10 Jahre Rojava: Errungenschaften und Irrwege

Robert Teller, Neue Internationale 267, September 2022

Im Juli 2012 übernahmen bewaffnete kurdische Kräfte die politische Kontrolle in den Regionen Kobanê, Afrin (Efrin) und al-Hasaka Nordsyriens – Zeit für eine kurze Bilanz der Errungenschaften in Rojava.

Syrische und kurdische Revolution

Der Übergang der Macht vom syrischen Regime in die Hände kurdischer Organisationen fand statt im Zuge der Syrischen Revolution von 2011. Im Juli 2012 hatte das Regime die Kontrolle über die drittgrößte Stadt Homs bereits verloren. Am 18. Juli 2012 gelang Aufständischen in Damaskus der bis dahin folgenreichste direkte Schlag gegen das syrische Regime, der den amtierenden und stellvertretenden Verteidigungsminister das Leben kostete. In Aleppo brach der Aufstand am 19. Juli offen aus. Das Regime der Baath-Partei schien zu dieser Zeit so geschwächt wie noch nie. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli übernahmen kurdische Kämpfer:innen, unterstützt von unbewaffneten Zivilist:innen, unblutig die Kontrolle in Kobanê.

Die Sicherheitskräfte des Regimes wurden entwaffnet und nach Hause geschickt. Ähnliches ereignete sich in den darauffolgenden Tagen an zahlreichen anderen Orten. Vereinzelt leisteten Assads Polizei und Militär Widerstand. Sie mussten jedoch bald einsehen, dass Verstärkung aus anderen Landesteilen nicht zu erwarten war. Der Gewaltapparat der Regierung war in anderen Teilen des Landes massiv unter Druck und nicht in der Lage einzugreifen. Für das syrische Regime wurde die Machtfrage vor allem in Damaskus, Homs und Aleppo entschieden – für die PYD (der syrische Zweig der PKK-Bewegung) aber allein in Rojava.

Dass letztere die politische Führungsrolle der Umwälzung in Rojava einnehmen konnte, lag nicht zuletzt an der Stärke der von ihr aufgestellten bewaffneten Verbände, die im Angesicht einer jederzeit drohenden gewaltsamen Zerschlagung durchaus wichtiger war als jede der utopischen Ideen, die erdacht wurden.

Die seitdem in Rojava errichtete autonome Administration ist heute die letzte demokratische Errungenschaft der Syrischen Revolution von 2011. Weltweit bekannt wurde Rojava während der Belagerung von Kobanê Ende 2014 durch den Islamischen Staat. Die Stadt war zeitweise durch IS-Kräfte und die geschlossene türkische Grenze von jeder Versorgung abgeschnitten, der IS kontrollierte bereits den Ostteil der Stadt. Dass er in dieser aussichtslos erscheinenden Lage letztendlich doch zurückgeschlagen werden konnte, verschaffte der syrischen PKK-Bewegung hohe Anerkennung unter den Massen. Die Verteidigung von Kobanê ist auch einer Welle von Solidarität zu verdanken. Vor allem Kurd:innen aus der Türkei leisteten Unterstützung. Doch auch aus Europa wurde durch Spendensammlungen erhebliche materielle Unterstützung geleistet. Aus Sicht der US-Regierung war die Schlacht um Kobanê die Feuertaufe ihres künftigen Verbündeten, der auserkoren wurde, das Fiasko der gescheiterten Irak-Besetzung einzugrenzen und den Zerfall der staatlichen Ordnung durch den Vormarsch des IS aufzuhalten.

Verteidigt Rojava!

Die seit 10 Jahren permanente Bedrohung einer gewaltsamen Zerschlagung Rojavas zeigt, wie prekär die Selbstverwaltung im Rahmen der gegenwärtigen Grenzen, unter Anerkennung der von imperialistischen Mächten auferlegten staatlichen Ordnung nur sein kann. Der Sieg über den IS hat die Bedrohung Rojavas nicht beseitigt, sondern einen neuen Krieg eröffnet, in dem der US-Imperialismus allerdings weitaus geringeres Interesse für die kurdische Seite zeigte. Der entscheidende Beitrag der kurdischen Kräfte in der US-geführten Militärkampagne schützte sie nicht vor den darauffolgenden türkischen Angriffen. Trotz der von der PYD immer wieder versicherten Anerkennung der syrischen Grenzen stellt die Autonomie in Rojava diese zur Disposition, wie die wiederholten türkischen Überfälle zeigen, die 2018 zur Zerschlagung Afrins und 2019 zur Einrichtung einer „Pufferzone“ entlang der türkischen Grenze geführt haben. Die Türkei hat wiederholt ihre Absicht erklärt, ihre Kontrolle entlang des Grenzverlaufs auszudehnen.

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie in der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Hierzu ist kein romantisierender Blick auf die kurdischen Freiheitskämpfer:innen notwendig. Die Anerkennung der arabischen, kurdischen und aramäischen Sprache als gleichberechtigt, die Gewährleistung politischer Repräsentanz für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Bewaffnung von Frauen und ihre Gleichstellung in rechtlichen Fragen, die Abschaffung der religiösen Gesetzgebung markieren einen Bruch mit der Herrschaft der Baath-Partei, die jahrzehntelang über die kurdischen Regionen mit systematischer wirtschaftlicher Vernachlässigung, Umsiedlungen, Enteignungen und Repressalien regiert hat wie eine Kolonialmacht.

Dass die Türkei die Drohungen der vergangenen Monate noch nicht wahrgemacht hat, liegt daran, dass der US- und russische Imperialismus aus jeweils eigenen Motiven bislang keine Rückendeckung für eine weitere Militäraktion ausgesprochen haben. Die USA befürchten durch die Schwächung Rojavas eine Rückkehr des IS und einen neuen Strudel der Destabilisierung in der Region. Russland argumentiert für das irakische Modell, die Reintegration in den syrischen Staat. In beiden Positionen drückt sich letztlich das Ziel einer geordneten Abwicklung jeder ernsthaften kurdischen Selbstbestimmung, einer konterrevolutionären Stabilisierung aus. Die Türkei arbeitet darauf hin, dass ihre Vermittlungsrolle im aktuellen imperialistischen Hauptkonflikt Ukraine mit einem Geschenk auf dem Nebenschauplatz Syrien honoriert wird.

Der dritte Weg?

Die neutralistische Position der PYD gegenüber der syrischen Revolution bestärkte 2012 die Entscheidung des Regimes, sich aus Rojava zurückzuziehen. Sie enthält aber einen grundsätzlichen politischen Widerspruch: objektiv Teil einer allgemeineren revolutionären Umwälzung zu sein, dieser aber politisch gleichgültig gegenüberzustehen. In den städtischen Zentren, wo die Machtfrage entschieden wurde, stand sie zwischen den Fronten und versuchte, die kurdischen Viertel vom Verlauf der Syrischen Revolution abzuschirmen.

Eine Folge dessen war, dass die syrische Arbeiter:innenklasse – auch deren große kurdische Minderheit mit Verbindungen nach Rojava – nicht zur Verteidigung Rojavas mobilisiert wurde. Unter den arabischen Oppositionskräften setzte sich die chauvinistische Ablehnung des kurdischen Selbstbestimmungsrechts durch, die auch die Herrschaft der Baath-Partei geprägt hat. Die Klassenbasis für ein autonomes Rojava wurde damit auf das ländliche Kleinbürger:innentum und die Kleinbäuerinnen/-bauern dieser Regionen reduziert. Unter diesen Bedingungen und durch das weitgehende Handelsembargo der Nachbarländer rückten die Selbstversorgung Rojavas mit Lebensmitteln und Grundbedarfsgütern, der Aufbau von Kooperativen und eine begrenzte Landreform der staatlichen Anbauflächen in den Mittelpunkt. Ob dies nun als Verwirklichung einer sozialen Utopie bezeichnet wird oder als pure Notwendigkeit in einer jahrzehntelang besonders schwer unterdrückten Region – an der Realität ändert es nichts.

In Teilen der Linken scheinen sich die Sympathien für die Revolution in Rojava gerade am Zauber ihrer Widersprüche zu entzünden: ein Staat, der keiner ist (obwohl er über Armee, Polizei, Regierung und Justiz verfügt); den Kapitalismus überwinden, ohne das Kapital zu enteignen; die Hymne der Nation singen, die als bereits überwunden gilt; Macht besitzen und zugleich verachten; Überwindung von Grenzen durch Rückzug ins Dorf; Bekämpfung des Patriarchats durch Rückbesinnung auf Tradition.

Diejenigen Teile der westlichen Linken, die Rojava nur als Quelle von Inspiration schätzen, blicken dort in einen Spiegel ihrer eigenen libertären Flausen: von der Wichtigkeit „reiner Demokratie“, vom Weg als Ziel, von der Falschheit jeder objektiven Wahrheit und der Wahrheit des Subjektiven. Die eigene Isolation im befreiten linken Zentrum erscheint dann doch als der goldrichtige Weg. Mit den richtigen utopischen Ideen könnte ja noch ein zweites Rojava draus werden.

Die in den 1990er Jahren politisch „gewendete“ PKK-Bewegung hat ganz ähnlich wie ein Teil der Globalisierungsgegner:innen Ende des Jahrtausends einen Rechtsruck vollzogen, indem die Macht der Unterdrückten als revolutionäres Potenzial gegen den Staat als „utopisch“ verworfen und durch die wirklich utopische Vorstellung ersetzt wurde, den Staat einfach überflüssig zu machen, indem man beginnt, das schöne Leben aufzubauen.

Im Fall der PKK beinhaltete dies auch eine Anpassung ihres Programms an das Scheitern ihres bisherigen bewaffneten Kampfes für einen unabhängigen Staat im türkischen Teil Kurdistans. Es erschien als realistischer, im Rahmen der bestehenden Ordnung graduelle Verbesserungen zu erkämpfen, die nicht mit der bestehenden staatlichen Ordnung in Konflikt geraten. Dass die PKK-Bewegung einmal unverhofft in eine Lage stolpern würde, wo sie die Machtfrage würde stellen müssen, ist eine Ironie der Geschichte. Dass sie dabei über ihr eigenes Programm des Machtverzichts hinausging, kann keine Grundlage für Kritik sein.

Natürlich muss im Angesicht einer drohenden gewaltsamen Zerschlagung der Selbstverwaltung die Verwirklichung von Basisdemokratie der militärischen Notwendigkeit untergeordnet sein. Erstere reduziert sich auf die Organisation einer lokalen Bedarfsökonomie. Die Schwächen des in libertäre Wolken gehüllten, eigentlich urreformistischen Programms der neuen PKK wurden so aber tendenziell verschleiert.

Diese Schwächen ändern zwar nichts am progressiven Charakter der demokratischen Errungenschaften in Rojava, die jede Unterstützung der Arbeiter:innen- und demokratischen Bewegungen anderer Länder erhalten sollten. Diese drohen aber, im Tausch gegen einen offiziellen Autonomiestatus im syrischen Staat unter den Tisch zu fallen. Eine Einigung zwischen dem syrischen und türkischen Regime dürfte dabei als erste Vorbedingung die Entwaffnung Rojavas zu erfüllen haben. Einem solchen reaktionären Deal hätte das heute isolierte Rojava nach den Siegen beider wenig entgegenzusetzen.Die Verteidigung Rojavas vor einer drohenden Zerschlagung oder Vereinnahmung kann aber auch Ausgangspunkt sein, diese zu durchbrechen und den Kampf mit der demokratischen und sozialen Frage in der Türkei, in Syrien und dem Irak zu verbinden. Die kurdische Selbstbestimmung kann nur im allgemeineren Kontext der permanenten Revolution im Nahen Osten weiter ausgebaut und verteidigt werden. Deren Haupthindernis ist wie auch in Rojava vor allem eine Führungskrise, das Fehlen einer revolutionären Partei, die die Massen für diese Verallgemeinerung des Befreiungskampfes gewinnt. Zwei programmatische Standpunkte sollten zentrale Lehren der vergangenen 10 Jahre sein: die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller unterdrückten Nationen, um diese als Verbündete für die Revolution zu gewinnen, und die Schaffung einer sozialistischen Föderation von Staaten im Nahen Osten, die Verknüpfung der demokratischen Revolution mit der Umwälzung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die in Widerspruch zu jeder demokratischen Errungenschaft geraten müssen.




Droht der Krieg in Syrien zum Flächenbrand zu werden?

Dilara Lorin/Martin Suchanek, Infomail 1092, 29. Februar 2020

Hunderttausende, wenn nicht Millionen,
befinden sich in Syrien auf der Flucht. Die Offensive der syrischen
Armee sowie ihrer russischen und iranischen Verbündeten sollte ein
weiteres blutiges Kapitel im Bürgerkrieg
zum Abschluss bringen – die Rückeroberung Idlibs samt Vertreibung
Hunderttausender, der Zerschlagung der oppositionellen bewaffneten
Gruppen – egal ob nur dschihadistisch, pro-westlich oder
verbliebene Restbestände der demokratischen Opposition.

Zweifellos kalkulierten das syrische
Regime wie auch seine Verbündeten, dass sie dieses mörderische
Unternehmen rasch durchziehen konnten. Protestnoten der zur
„Weltgemeinschaft“ hochstilisierten westlichen Mächte waren
einkalkuliert, ein Stillhalten der Türkei, der Russland (und damit
das Assad-Regime) wichtige Teile Nordsyriens und vor allem Rojavas
überlassen hatten, ebenfalls.

Doch wie schon in Libyen erweist sich
die Putin-Erdogan-Allianz als brüchig. Sie ist praktisch am Ende.
Beide Räuber, beide „Sieger“ wollen ihren Teil vom Kuchen. Das
Assad-Regime will erst recht nicht mehr auf die Türkei Rücksicht
nehmen.

Umgekehrt droht nun der Krieg, selbst
zu eskalieren, von einem StellvertreterInnenkrieg in einen heißen
Krieg umzuschlagen. Selbst wenn keine der Parteien diese Entwicklung
anstrebt, so spielen sie doch mit dem Feuer. Während Russland
weitere Kriegsschiffe ins Mittelmeer beordert, ruft die Türkei die
NATO-PartnerInnen an. Die Trump-Administration sieht die Chance
gekommen, verlorenen Einfluss wiederherzustellen, und verspricht
Unterstützung. Die NATO erklärt ihre Solidarität mit dem
Mitgliedsstaat, auch wenn sie noch offenlässt, welche praktischen
Formen diese annehmen soll. Bei allem Gerede von Besorgnis ob der
Eskalation könnte sich die Konfrontation in den nächsten Tagen
massiv zuspitzen, im extremsten Fall aus dem syrischen
BürgerInnenkrieg ein Krieg zwischen Russland und NATO werden.

Lage in der Türkei

Im Folgenden wollen wir die Lage in der
Türkei genauer betrachten.

In den vergangenen Tagen starben laut
türkischen Nachrichtenagenturen bis zu 33 Soldaten in Idlib, einer
Stadt im Nordwesten Syriens, durch syrische Luftangriffe. Laut der
kurdischen Nachrichtenagentur ANF (Firatnews Agency) sind bis zu 113
Soldaten ums Leben gekommen. Mehrere Videoaufnahmen kursieren im
Internet, die von mehreren hundert „Märtyrern“ sprechen, und
türkische Soldaten beklagen, „man komme aus Idlib nicht mehr
lebend heraus“.

Der Kurznachrichtendienst Twitter ist
seit gestern Abend in der Türkei geschlossen, um keine weiteren
Meldungen über den Krieg und die getöteten Soldaten zu verbreiten.
Aber die Grenzregion zu Syrien liegt lahm, die Krankenhäuser sind
überfüllt mit Leichen und das Gesundheitsministerium ruft die
Bevölkerung dazu auf, Blut zu spenden. Das deutet darauf hin, dass
die Opferzahlen wahrscheinlich viel höher sind als die 33.

Die Türkei führt gerade einen offenen
Krieg in Syrien gegen das Assad-Regime, faktisch auch einen gegen
seinen Verbündeten Russland. Dass die Türkei seit dem 27. Februar
ihre Grenzen nach Europa für syrische Geflüchtete geöffnet hat und
und diese nicht mehr darin hindert, dorthin auszureisen, bedeutet für
sie nur, die Geflüchteten als Spielball zu benutzen. Sie möchte
damit die EU unter Druck setzen und zwingen, im Krieg um Idlib auf
ihrer Seite einzugreifen oder jedenfalls Unterstützung zu gewähren.
Dies könnte auch zu einem Krieg zwischen Türkei, EU und Russland
führen.

Der türkische Außenminister Mevlüt
Çavuşoğlu steht im Telefonkontakt mit NATO-Generalsekretär Jens
Stoltenberg. Dieser verkündete am 28. Februar, dass die NATO die
Türkei auch militärisch unterstützen und die Luftverteidigung
stärken wird. Teile der NATO stellten sich schon vorher und während
des Manövers in Idlib auf die Seite der Türkei, welche mit
dschihadistischen Truppen wie der Division Sultan Murad und Ahrar
Al-Sharqiya (Freie Männer des Ostens) zusammen kämpft.

Das Leid der 3 bis 4 Millionen
ZivilistInnen in Idlib jedoch wird in der Türkei kaum gehört.
Mehrere tausende Menschen, welche vom syrischen Regime teils
zwangsumgesiedelt wurden, befinden sich in Idlib unter
türkisch-dschihadistischem und syrisch-russischem Beschuss.

Während Russland und Syrien, die
Türkei und USA Stellung beziehen und eine weitere Eskalation droht,
laviert die schwächelnde EU. Sie fordert ein Ende der
Kampfhandlungen, unterstützt zur gleichen Zeit den NATO-Verbündeten.
Mit der Türkei freilich hadert sie um die Frage der Geflüchteten,
denen sie auf keinen Fall helfen will.

Die Öffnung der türkischen Grenzen
bedeutet längst nicht, dass die Menschen, die fliehen, allzu weit
kommen. Frontex wurde in den letzten Jahren weiter aufgerüstet, an
die EU-Außengrenzen werden mehr und mehr Polizei und
Grenzschutzeinheiten beordert. Wird der Andrang zu groß, kann auch
nicht ausgeschlossen werden, dass der bewaffnete Arm der Frontex auf
Menschen an den Grenzen schießen wird. Es droht somit eine
humanitäre Krise der Menschen in Idlib und der Millionen Flüchtlinge
des Bürgerkriegs.

Aktuell sammeln sich größere Gruppen
von Geflüchteten vor Edirne, einer türkischen Grenzstadt nahe
Bulgarien und Griechenland, sowie in Izmir und anderen Hafenstädten
im Westen der Türkei und versuchen, der Hölle von Bürgerkrieg und
Vertreibung zu entkommen. Wir brauchen offene Grenzen für alle!
Jetzt sofort! Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass alle, die
nach Europa wollen, sichere Fluchtwege über Meer oder Land erhalten
und sich in den Ländern ihrer Wahl niederlassen, arbeiten und eine
Existenz aufbauen können.

Geostrategische Gründe

Der türkische Einmarsch in Syrien
erfolgte – wie die Intervention aller anderen Mächten – aus
geostrategischen Gründen. Ursprünglich ausgezogen, Assad selbst zu
stürzen, will Erdogan nun ein möglichst großes Stück von der
Beute, sprich die Neuordnung des Landes mitbestimmen. Den Einmarsch
türkischer Truppen, die Eroberung Afrins und anderer kurdischer
Städte stellt er als Akt der „Verteidigung“ des Landes dar, ganz
so wie Russland, Iran und Syrien die brutale Wiedererrichtung des
Assad-Regimes zum „Kampf gegen den Terrorismus“ verklären.

Doch der Krieg könnte für Erdogan
leicht zum Bumerang werden. Die Türkei befindet sich in einer
wirtschaftlich sehr schlechten Lage und ein Krieg trägt sicherlich
nicht zu einer Erholung bei. Im Gegenteil, die ArbeiterInnenklasse
wird zu den Kriegen einberufen und muss für die Interessen eines
Staates sterben, der vielen nicht einmal genug zum Überleben bieten
kann. Der Mindestlohn reicht kaum, um sich und seine Familie zu
ernähren. Die Lebensqualität sinkt mit jedem anbrechenden Tag und
nun werden junge Lohnabhängige auch noch zur Armee berufen, um in
einem Krieg zu sterben, der in keinster Weise ihren Interessen dient.

So wie die ArbeiterInnenklasse
Russlands oder Irans, so muss auch die türkische ArbeiterInnenklasse
„ihrer“ Regierung jede Unterstützung verweigern. Der Krieg
Erdogans ist nicht unser Krieg. Es hilft jedoch nicht, sich über den
Tod türkischer Truppen und Soldaten zu freuen, es kommt darauf an,
Erdogan und das Regime zum Rückzug aus Syrien zu zwingen – und
zwar nicht nur aus Idlib, sondern auch aus Rojava und allen anderen
Gebieten.

Ein Rückzug aus Idlib allein – ob
nun infolge syrisch-russischer Militärschläge oder durch ein
weiteres „Waffenstillstandsabkommen“ – würde schließlich
bedeuten, dass sie weiter Besatzungsmacht in Nordsyrien/Rojava
bleibt. So kontrolliert sie strategisch wichtige Verkehrsknotenpunkte
der nordsyrischen Region wie die Autobahn M14, die Antalya mit Mossul
verbindet, und dem türkischen Staat dienen soll, im arabischen Raum
besser Fuß zu fassen. Sie wird weiterhin Besatzungsarmee der
kurdischen Gebiete sein und dschihadistische Strukturen weiter
aufbauen, bewaffnen und unterstützen.

Nein zum Krieg! Abzug aller
imperialistischen Truppen und Regionalmächte!

In der Türkei, in Russland und den
NATO-Staaten brauchen wir eine breit aufgestellte Einheitsfront von
Organisationen, Gewerkschaften und Parteien der ArbeiterInnenklasse.
Denn nur die ArbeiterInnenklasse kann in internationaler Solidarität
mit den Geflüchteten, KurdInnen, der ArbeiterInnenklasse und
demokratischen Opposition in Syrien diesen Krieg stoppen! Wer soll
eingezogen werden, wenn wir streiken? Wie soll die Türkei weiter
Krieg führen, wenn die ArbeiterInnenklasse sich mit den bis zu vier
Millionen ZivilistInnen in Idlib und den drei Millionen KurdInnen in
Nordsyrien solidarisiert, auf die Barrikaden geht und einen
Generalstreik ausruft?

Alle Räder stehen still, wenn die
Klasse das auch will, und natürlich ist damit auch das Rad eines
Panzers gemeint!

Wir brauchen keine weiteren
imperialistischen AkteurInnen und Regionalmächte im Krieg in Syrien,
die allesamt nur für ihre eigenen Profite und strategischen
Interessen kämpfen. Es war schon ein richtiger Schritt, dass sich
viele türkische und internationale Linke gegen den Einmarsch der
Türkei in die kurdischen Gebiete in Syrien aussprachen und sich mit
den KurdInnen solidarisierten, aber Solidarität darf und kann nicht
bei Lippenbekenntnissen stehenbleiben! Es muss eine gemeinsame
Mobilisierung diskutiert und umgesetzt werden, um die drohende
Ausweitung des Kriegs zu verhindern und der Zivilbevölkerung in
Idlib beizustehen.

Die ArbeiterInnenklasse, die
Gewerkschaften müssen erkennen, dass die Intervention der Türkei in
Syrien nicht dem Schutz der Bevölkerung dient, sondern nur eigenen
Machtinteressen und der Verhinderung kurdischer Selbstbestimmung. Sie
muss erkennen, dass eine etwaige US-amerikanische oder
NATO-Intervention nur dazu führen, kann dass der Kampf um die
Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten eine militärische
Form annimmt, sich zu einem internationalen Flächenbrand ausweiten
kann. Daher: Nein zu jeder NATO-Intervention! Abzug aller deutschen,
französischen, US-amerikanischen Truppen, nein zu allen westlichen
imperialistischen Sanktionen! Öffnung der EU-Grenzen für die
Flüchtlinge! Sie muss aber auch erkennen, dass die Intervention
Russlands und Irans keinen Akt des „Anti-Imperialismus“, sondern
selbst nur nackte und brutale Verfolgung eigener geostrategischer
Interessen bedeutet. Sie muss erkennen, dass sie mit dem Assad-Regime
eine mörderische Kriegsmaschinerie am Leben hält, die für den Tod
Hunderttausender und die Vertreibung von Millionen verantwortlich
ist.

Ob sich der Krieg in Syrien zu einer
internationalen Konfrontation ausweitet oder ob er am
Verhandlungstisch auf dem Rücken der Bevölkerung“ befriedet”
wird – wir dürfen nicht auf die Assads und Erdogans, die Putins
und Trumps, aber auch nicht die Merkels und Macrons unsere Hoffnungen
setzen. Sie sind alle Teil des Problems.

Nur eine gemeinsame, internationale
Anti-Kriegsbewegung, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt,
kann in der Aktion verhindern, dass sich der syrische
BürgerInnenkrieg weiter ausweitet, ja zu einer Konfrontation
zwischen NATO und Russland wird.

  • Abzug aller imperialistischen Truppen und Regionalmächte aus Syrien, vor allem der türkischen, russischen und iranischen Truppen!
  • Nein zu jeder Intervention und Waffenlieferungen an Erdogan oder Assad!
  • Abzug aller NATO-Truppen aus der Region, Schließung der NATO-Basen in der Türkei!
  • Schluss mit dem EU-Türkei-Deal! Öffnung der europäischen Grenzen für alle Geflüchteten!
  • Unterstützung für Rojava sowie für die ArbeiterInnenklasse, die demokratische und sozialistische Opposition in Syrien!



Solidarität mit Rojava! Unterstützt den kurdischen Widerstand!

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 46, Oktober 2014

Seit nunmehr zwei Wochen steht die Stadt Kobanê in der Region Rojava im Zentrum des syrischen Bürgerkriegs. Truppen des islamo-faschistischen „Islamischen Staates“ (IS) sind diese Woche bis in die Stadt Kobanê vorgedrungen. Der IS will die selbstverwalteten Gebiete der KurdInnen zerschlagen.

Die Volksverteidigungskräfte der YPG und die Frauen-Bataillone der YPJ leisten heroischen Widerstand und verteidigen aufopferungsvoll ihre Stadt. Mehrere tausend KämpferInnen haben zuvor mehr als 100.000 ZivilistInnen evakuiert. Sie waren es auch, die für die Yeziden im Nordirak einen Fluchtkorridor erkämpft hatten, um sie vor den Massakern des IS zu schützen.

Seit dem 7. Oktober tobt der Straßenkampf in Kobanê und die kurdischen KämpferInnen, gemeinsam mit Bataillonen der FSA haben versprochen, dass Kobanê zu einem „Massengrab für den IS“ wird. Berichte von Selbstmordkommandos der Verteidiger gegen Panzer und Artillerie zeichnen ein deutliches Bild von der militärischen Lage in Kobanê.

Solidarität zeigen! Kein Vertrauen in USA und Türkei!

In vielen europäischen Hauptstädten sind in dieser Nacht und in den letzten Wochen zehntausende KurdInnen auf die Straße gegangen, um ihre Solidarität zu demonstrieren, aber auch, um der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass alle Versprechungen der imperialistischen Staaten und der Türkei im Kampf gegen den IS Schall und Rauch sind. Der Fall Kobanês wird vom Westen hingenommen und toleriert.

Sogar UN-Generalsekretär Ban ruft heute die Weltöffentlichkeit auf, den KämpferInnen und verbliebenen Zivilisten in Kobanê zu helfen. Alle, die die Mittel hätten, dies zu tun, sollten handeln,  hofft der Generalsekretär – aber seine Worte werden ungehört bleiben.

Als die USA mit ihrer „Koalition der Willigen“ gegen ISIS in den Krieg zog, hofften gewiss viele auf in ein schnelles Ende der ISIS, aber sie sehen sich bitter enttäuscht. Was bringen auch schon vereinzelte Luftschläge, die weit entfernt von der „chirurgischen Kriegsführung“ sind und sich hauptsächlich gegen Ölraffinerien richten? Die US-Luftwaffe hat zugesehen! Jetzt, da der IS in Kobanê eingerückt ist, bombardieren sie den Ostteil der Stadt. Wohngebiete und Infrastruktur zu zerstören, ist anscheinend einfacher, als Panzer und Geschütze.

Die Politik der USA und ihrer Verbündenten ist weder ein Zufall noch unerwartet. Den Imperialisten geht es im „Krieg gegen den IS“ nicht um Humanität, Selbstbestimmung oder Ähnliches. Im Gegenteil, die Barbarei der Djihadisten ist vielmehr ein Vorwand, die Intervention zur Errichtung einer „stabilen“ US-geführten Ordnung zu legitimieren. Die Luftschläge dienen genau diesen reaktionären Zielen – was sich auch darin ausdrückt, dass sie bislang weitgehend kosmetischen Charakter hatten.

Die KurdInnen von Kobanê, die YPG oder die PKK stören letztlich nur bei den Zielen der Imperialisten und ihrer lokalen Verbündeten (allen voran der Türkei), gerade weil sie sich auf reale Unterstützung durch die Massen stützen. Es zeigt daher auch, wie naiv und illusorisch es ist, sich Hilfe von imperialistischen Luftschlägen zu erwarten, von jenen Mächten, die seit Jahr und Tag die Bewaffnung fortschrittlicher Kräfte im Nahen Osten (der YPG, der FSA) praktisch verhindern.

Nahe der Grenze wartet schon die nächste hochgerüstete NATO-Macht, welche nicht imstande ist, gegen den IS zu kämpfen: die Türkei. Mit Panzern und Geschützen sind sie aufgefahren, denn sie wissen, dass der IS auf dem Boden besiegt werden muss. Schließlich ließ die Türkei die ISIS und die andere islamistische Fraktion im syrischen Bürgerkrieg, die al-Nusra Front, jahrelang von ihrem Territorium aus operieren inkl. der finanziellen und militärischen Unterstützung aus Saudi Arabien und Katar. Aber die Türkei wird den KurdInnen nicht helfen. Das erleben die vielen Flüchtlinge derzeit in der Grenzregion. Dort werden sie mit scharfer Munition und Tränengas auseinander getrieben. Die Türkei hat proklamiert, eine „Pufferzone“ errichten zu wollen. Diese Pufferzone würde genau dort installiert werden, wo heute die selbstverwalteten Gebiete der Region Rojava sind. Damit wird die türkische Invasion zum Sargnagel des kurdischen Widerstands.

Es ist durchaus möglich, dass die türkischen Truppen genau dann einmarschieren, wenn Kobanê gefallen ist. Dann wird der IS genügend Zeit haben, sich zurückzuziehen und die Türkei wird als Besatzungsmacht in Syrien einrücken. Das entspricht den Ambitionen Erdogans. Damit kann die Türkei weiterhin Einfluss auf den syrischen Bürgerkrieg nehmen.

Diese Taktiken von Erdogan und dem türkischen Militär werden bereits von der kurdischen Bevölkerung in der Türkei mit einem „Serhildan“ (Volksaufstand) beantwortet. Von Diyarbakir bis nach Istanbul gab es militante Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der PKK mit der Polizei und weiteren paramilitärischen Unterstützern des Regimes. Gegen die PKK können Erdogan und die AKP auch auf alle Teile der türkischen Elite zurückgreifen; die CHP unterstützt jede parlamentarische und militärische Vorlage; die Faschisten der MHP unterstützen die Polizei gegen die Kurden. Ebenfalls greifen islamistische Kräfte einer türkisch-kurdischen Hizbullah (nicht zu verwechseln mit libanesischer Hizbollah) Kundgebungen der KurdInnen und Parteigebäude der HDP an. Diese Hisbullah wurde in den 80er Jahren vom kemalistischen Staat aufgebaut und unterstützt, um die Vorherrschaft der PKK unter den KurdInnen zu brechen. Jetzt kann diese Truppe auf eine sechsstellige Anhängerschar bauen und unterstützt natürlich den IS in Syrien.

Für die türkische Linke und die HDP, die erstmals ein Projekt kurdischer Kräfte und der türkischen Linken darstellt, ist diese Situation eine große Herausforderung. Hier muss das Recht auf Selbstverteidigung der Kurden in Syrien behauptet, wie auch den Angriffen der Faschisten in der Türkei getrotzt werden. Dabei wird auch die HDP wieder akut von Verbotsdrohungen betroffen sein. Dies sollte aber nicht dazu führen, sich als Verhandlungskraft für die AKP Regierung anzubieten, sondern die HDP muss verstärkt die türkische Arbeiterklasse ansprechen und mobilisieren – dies darf kein Kampf der KurdInnen bleiben, die nationalistische Spaltung und Hetze muss bekämpft werden.

Differenzen zu PYD und PKK

Die Solidarität mit dem aktuellen heroischen Kampf heißt jedoch nicht, dass wir die Politik, das Programm und die Taktik der PYD in Syrien oder der PKK in der Türkei teilen. So hat die PYD sich anfangs der syrischen Revolution – beim Aufbau der FSA -de facto herausgehalten. Stattdessen gab es über weite Strecken praktisch ein Stillhalteabkommen mit dem Assad-Regime, wodurch dieses in den kurdischen Gebieten nichts zu befürchten hatte und mehr Einheiten gegen die FSA-Gebiete schicken konnte. Diese Taktik hat zu der Zeit sicherlich die syrische Revolution geschwächt. Auch wenn jetzt verstärkter YPG und FSA-Einheiten zusammen kämpfen, so ist die FSA heute sehr geschwächt im Vergleich zum Beginn.

Die in Rojava errungene kommunale Selbstverwaltung des kurdischen Volkes, die rechtliche Gleichstellung der Frauen, die Ablehnung jeder religiösen oder ethnischen Privilegierung sind zweifellos enorme demokratische Errungenschaften und markieren gesellschaftlichen Fortschritt, den es ohne Wenn und Aber zu verteidigen gilt. Dasselbe gilt für die Abschaffung des Großgrundbesitzes (nicht zuletzt weil die alten Grundbesitzer flohen).

Insbesondere deshalb, weil sie während eines Bürgerkrieges erkämpft wurde, müssen wir sie gegen die IS-Faschisten, den US Imperialismus, gegen die Türkei und gegen das Assad-Regime verteidigen. Der Aufbau von „Volksmilizen“, von Frauenmilizen, ist eine Errungenschaft der Menschen von Rojava.

Allerdings sind die „partizipative Demokratie“ und der „demokratische Konföderalismus“ kein Programm einer sozialistischen oder proletarischen Umwälzung. Im Gegenteil, PYD und PKK streben offen einen „Dritten Weg“ jenseits von Monopolkapitalismus und demokratischer Planwirtschaft an. Das ist eine kleinbürgerliche Utopie, die niemals zu einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft führen kann, sondern im Rahmen marktwirtschaftlicher Verhältnisse und des Privateigentums an Produktionsmitteln verbleiben muss.

Allein das beschränkt die „Räte“ in Rojava auf politische Verwaltungsorgane einer solchen „gemischten“ Wirtschaft. Der Klassencharakter der „Räte“ bleibt notwendig diffus, was sich nicht zuletzt in der utopischen Vorstellung ausdrückt, dass kein neuer Staat geschaffen werden soll. Wenn die Räte wirklich zu revolutionären Organen einer sozialistischen Umwälzung werden sollen, müssen sie aber zu den zentralen Macht- und Herrschaftsinstrumenten eines zukünftigen Arbeiterstaates, einer Arbeiter- und Bauernregierung werden, die die Wirtschaft auf Basis eines demokratischen Plans reorganisiert und den Kampf um die Befreiung des Kurdischen Volkes als Teil der permanenten Revolution im ganzen Nahen und Mittleren Osten begreift.

Eine über den bürgerlichen syrischen Staat hinausreichende Perspektive bietet die PYD nicht an, nicht einmal ein vereinigtes Kurdistan und schon gar kein sozialistisches. Wie sich ihre „befreite Zone“ inmitten des syrischen Bürgerkriegs, in einem zukünftigen Staat unter Assad oder anderen bürgerlichen Marionetten der einen oder anderen imperialistischen Mächte halten kann? Dazu kein Wort. Die Welt außerhalb Rojavas oder auch Kurdistans spielt eine Nebenrolle. Diese Politik ist Erbe sowohl des Stalinismus wie populistischer und libertärer Einflüsse.

Was die Linke tun kann

All das ändert nichts daran, dass Solidarität mit dem Befreiungskampf heute oberstes Gebot ist. Die deutsche „Linke“ bietet dabei wieder einmal ein blamables Bild zwischen dem Ruf nach UN-Intervention, also imperialistischer Befriedung mit noch mehr „humanitärer“ Verlogenheit. Die anderen frönen einen abstrakten Pazifismus, der darin gipfelt, dass dem kurdischen Volk zwar „Solidarität“ versichert wird – Waffen sollen es aber nicht erhalten.

Es gibt eine Alternative zur imperialistischen Intervention: Wir müssen uns mit dem kurdischen Widerstand solidarisieren. Dieser Kampf um Kobanê und Rojava ist nicht allein Sache der KurdInnen, dieser Kampf ist wichtig für alle Linken und internationalistischen Kräfte. Dabei helfen keine pazifistischen Flausen, die oft mit der Formulierung „es gibt genug Waffen in der Region“ daherkommen. Wir müssen das Selbstverteidigungsrecht der KurdInnen hier verteidigen – und dazu braucht es Waffen, internationale Solidarität und Unterstützung.

Unsere Solidarität gilt hier auch der kurdischen Widerstandsbewegung in der Türkei und den türkischen Linken, die wiederholt versucht haben, die Blockade Kobanês durch die türkische Polizei und Sondereinheiten zu durchbrechen, um so den kurdischen KämpferInnen Unterstützung  zu bringen. Politisch geht es darum, die Blockade Kobanês und der anderen kurdischen Gebiete in Syrien durch die Türkei zu brechen und ihnen den Weg für Nachschub, materielle Versorgung und schwere Waffen zu öffnen, so dass sie den Panzern und der Artillerie des IS nicht mehr nur mit Maschinengewehren entgegentreten müssen.

Auch die Arbeiterbewegung in Europa muss sich für materielle und militärische Hilfe ohne irgendwelche politischen Vorbedingungen einsetzen. Dazu gehört auch die Aufhebung des Verbots der PKK sowie zahlreicher anderer kurdischer Organisationen oder Symbole. Die PKK hat in der Türkei den „Friedensprozess“ abgebrochen, in vielen Städten gibt es militante Auseinandersetzungen mit der türkischen Polizei. Die PKK hat Freiwilligenkontingente aufgestellt, welche den Grenzdurchbruch schafften und nun mit den GenossInnen in Kobanê gegen die IS-Faschisten kämpfen. Bei aller Kritik, die wir an der Theorie und Praxis der PKK haben, müssen wir jetzt solidarisch für die Rechte der KurdInnen, für die Rechte der PKK kämpfen.

Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Kobanê – und damit der größte kurdische Bezirk in Syrien – steht kurz vor dem Fall. Eventuell fällt die Stadt nur kurz, nachdem wir diese Zeilen veröffentlicht haben. Ein Sieg des IS wäre eine Katastrophe nicht nur für das kurdische Volk, für tausende verbliebene BewohnerInnen und KämpferInnen, denen ein Massaker droht. Hunderttausende würden zu Flüchtlingen. Die Selbstverwaltungsstrukturen in Kobanê würden zerstört.

Der Gipfel des Zynismus der NATO-Mächte wäre wohl erreicht, wenn die Türkei nach dem Fall von Kobanê – womöglich mit der Duldung des Assad-Regimes – die Stadt vom IS „befreien“ würde, um so ihre eigene Position bei der Neuordnung des Nahen Ostens auszubauen. In jedem Fall wäre die Niederlage der KurdInnen auch ein brutaler Schlag für die verbliebenen fortschrittlichen, demokratischen Kräfte der syrischen Revolution und des Arabischen Frühlings.

Der heroische Widerstand in Kobanê und Rojava braucht daher JETZT unsere Unterstützung. Der Heldenmut der MärtyrerInnen, der Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ bezeugt aber auch eines: der Freiheitskampf der unterdrückten Völker, der ArbeiterInnen und Bauern ist lebendig. Selbst wenn sie unter ungünstigsten Bedingungen der Übermacht ihre Feinde, der Pogromisten des IS, der zynischen Politik von Regionalmächten, allen voran der Türkei, und der imperialistischen Großmächte – v.a. der USA – unterliegen mögen. Ihr Kampf bleibt uns Mahnung und Auftrag, es ihnen an Entschlossenheit gleichzutun!

Halte Stand, freies Kobanê!

Aufhebung der Blockade! Materielle Hilfe und Waffen für den kurdischen Widerstand!

Weg mit dem PKK Verbot!

Offene Grenzen für die Flüchtlinge!

Nein zu jeder imperialistischen Intervention!




Syrien: Assad erobert das Land als Friedhof zurück

Katie Pelikanou, Red Flag, Infomail 1007, 14. Juni 2018

Das syrische Regime unternimmt ein notdürftig verschleiertes juristisches Manöver, um die Millionen von Flüchtlingen, die vor dem Bürgerkrieg geflohen sind, zu bestrafen und die sektiererische Neuaufteilung Syriens durch Neubesitz ihrer Häuser zu festigen.

Die Regierung des Diktators Baschar al-Assad erließ dieses Gesetz, während die Überreste der syrischen Armee zusammen mit iranischen und Hisbollah-Milizen die Enklave Ghuta brutal liquidierten. Kurz darauf folgte eine Bombardierungskampagne gegen die PalästinenserInnen im Flüchtlingslager Jarmuk.

Gesetz 10

„Gesetz 10“ wurde am 2. April unterzeichnet und gab allen HausbesitzerInnen nur sechs Wochen Zeit, ihre Immobilien zu registrieren und den Eigentumsnachweis zu erbringen. Der Besitz derjenigen, die es nicht tun, wird vom Staat beschlagnahmt.

Die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist aus ihrer Heimat geflohen. Dieser Schritt ist ein klarer Versuch, das demografische Gleichgewicht dauerhaft zu verändern und die Autorität des Regimes wiederherzustellen, nachdem es die Hälfte seiner Bevölkerung zu Flüchtlingen gemacht hat. Angesichts der Situation vor Ort werden bis zu sechs Millionen Binnenvertriebene und fünf Millionen Flüchtlinge dauerhaft enteignet.

Wie bei den Eigentumsbeschlagnahmen auf dem Balkan in den 1990er Jahren und im Libanon nach dem Bürgerkrieg wird dies ganze Städte mit RegimeanhängerInnen aus höheren sozialen Schichten neu bevölkern. Aber dies ist nur eine administrative Maßnahme, um die wichtigsten Mittel zur Entvölkerung ganzer Städte und Regionen zu legalisieren: chemische Kriegsführung, Bomben- und Granatenangriffe, Hungersnöte, Requirieren von Brennstoff und medizinischer Hilfe – alles mit russischer Unterstützung und Passivität aus dem Westen.

Der Zeitrahmen ist ein klares Zeichen für die Absichten des Regimes. Um Eigentumsrechte zu begründen, hätten Einzelpersonen in die Region ihrer Habe zurückkehren müssen, um das Besitztum zu erklären – ein/e engeR Freund/in oder VerwandteR mit einer Vollmacht könnte dies tun, aber dieser Rechtsweg würde Monate dauern.

Natürlich ist dies eine unmögliche Aufgabe für diejenigen, die ohne praktische Mittel zur Rückkehr geflohen sind. Die legale Eigentumsübertragung wird denjenigen, die vor den wahllosen Angriffen Assads geflohen sind, nicht in den Sinn gekommen sein. Im Chaos des Krieges fehlen schätzungsweise mindestens 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge sogar grundlegende Ausweispapiere; nur wenige haben Eigentumsurkunden mitgenommen. Das Regime ist entschlossen, davon zu profitieren.

Hinzu kommt, dass die Rückkehr eine Sicherheitsfreigabe erfordert, eine erhebliche Abschreckung für diejenigen, die aus Regionen geflohen sind, die unter der Kontrolle der Opposition standen – oder deren Angehörige geblieben sind –, die zu Recht Vergeltung durch das Regime fürchten.

Unter dem Deckmantel des „Wiederaufbaus“ verlängert das syrische Regime das Dekret 66, eine 2012 erlassene „städtebauliche“ Maßnahme, die dem Regime das Recht einräumt, Eigentum zu beschlagnahmen. Dies führte zwischen 2012 und 2013 zu mehreren Großabbrüchen und Evakuierungen in Damaskus und Hama. Das laufende Retortenstadt-Projekt Marota City in Damaskus hat die Zwangsevakuierung der ArbeiterInnen- und unteren Mittelschichtgemeinschaften zur Folge, die weder eine Entschädigung noch eine Rückgabegarantie erhalten haben.

Dass dies ein Versuch ist, die demografische Landkarte Syriens neu zu ordnen, indem Rebellengebiete mit LoyalistInnen umbesiedelt werden, die an das Regime gebunden sind, erklärt sich von selbst. Dabei werden diese ausgewiesenen Sanierungsgebiete zu lukrativen Chancen für die neoliberalen KleptokratInnen der erweiterten Assad-Familie – und für die ausländischen Verbündeten, die ihren Beuteanteil verlangen werden. Wie beim Projekt Marota City werden damit die Menschen, die Syriens Friedhöfe in Goldminen verwandeln, finanziell erheblich entlohnt.

Ironischerweise ist das Gesetz 10 für ein Regime, das behauptet, die PalästinenserInnen zu verteidigen, eine Kopie des israelischen „Absentee Property Law“ (Gesetz zum Eigentum Nichtansässiger), das nach den Vertreibungen von 1948 erlassen wurde und es dem israelischen Staat ermöglicht, Eigentum von palästinensischen Flüchtlingen zu beschlagnahmen.

Neuaufteilung der Region

Während sich dies abspielt, hat die verächtliche Missachtung, die Frankreich, Großbritannien, Deutschland und die Vereinigten Staaten gegenüber den Opfern des siebenjährigen totalen Krieges in Syrien (einschließlich ihrer eigenen Bombardierung ziviler Gebiete) an den Tag legen, Millionen von Flüchtlingen einem unsicheren Schicksal in den Nachbarstaaten überlassen, die angesichts ihrer eigenen wirtschaftlichen und politischen Krisen weniger als geneigt sind, sich ihnen gegenüber wohlwollend zu verhalten.

Millionen von Flüchtlingen, die in höllischen Flüchtlingslagern festsitzen, stehen vor der Aussicht, jahrelang als Bauernopfer benutzt zu werden, da die Karte der Region von den SiegerInnen neu aufgeteilt wird. Der libanesische Präsident Michel Aoun hat den eine Million SyrerInnen in der Region unheilverkündend vorgeschlagen, in „sichere Gebiete“ zurückzukehren. Dies entspricht der deutschen Politik gegenüber afghanischen Geflüchteten. Unter dem diplomatischen Deckmantel, fast eine Million hauptsächlich syrische Flüchtlinge aufgenommen zu haben, deportiert die Regierung Angela Merkels nun afghanische Flüchtende in „sichere Gebiete“ eines Landes, das nach wie vor von Krieg und imperialistischer Besatzung heimgesucht wird.

Vom Jemen bis zur Türkei ist der Nahe Osten zu einem riesigen Flüchtlingslager unter freiem Himmel geworden, in dem Millionen von Refugees dazu verurteilt sind, ein elendes Dasein zu fristen, das von der Duldung der lokalen Regierungen und karitativen Organisationen abhängt.

Die PalästinenserInnen sind seit 70 Jahren Flüchtlinge in ihrem eigenen Land. Ohne einen grundlegenden Wandel in der wirtschaftlichen und politischen Organisation des Nahen Ostens werden sich ihnen in Jahrzehnten des Exils Millionen weiterer Geflüchteter aus allen Ländern der Region anschließen.

Das Ausmaß der Katastrophe und die Verschärfung des Krieges und der Großmachtrivalität schließen vereinfachende Lösungen aus.

Zunächst müssen die SozialistInnen im Westen von unseren Staaten verlangen, dass sie ihre Grenzen für Flüchtlinge öffnen und ihnen das Recht einräumen, hier zu arbeiten und zu leben. Zweitens müssen wir die Antikriegsbewegung wieder aufbauen, um den brutalen Besatzungen und der Unterstützung für DiktatorInnen ein Ende zu setzen, die sicherstellen, dass sie die imperialistischen Interessen unserer HerrscherInnen weiterhin verteidigen. Schließlich müssen wir die zentrale Bedeutung der Solidarität mit dem palästinensischen Volk und seinem legitimen Widerstand bekräftigen. Der Entschluss dazu kann die Kolonisierung und Unterordnung der gesamten Region durch den westlichen Imperialismus aus den Angeln heben.




Syrien: Zu den Luftangriffen von USA, Britannien und Frankreich

Stellungnahme des Internationalen Sekretariats der Liga für die Fünfte Internationale, 15. April 2018, Infomail 999, 17. April 2018

US-amerikanische, britische und französische Flugzeuge haben drei Ziele der syrischen Armee angegriffen. Die Regierungen behaupten, dass diese mit dem Chemiewaffenprogramm des Landes zusammenhängen. In einem weiteren seiner berüchtigten Tweets verkündete Donald Trump stolz „Mission erfüllt“. Die Wiederholung von George Bushs triumphaler Ankündigung des „Endsieges“ im Irak 2003 ist nicht nur angesichts der anhaltenden Barbarei des syrischen Bürgerkriegs, der Wahrscheinlichkeit einer weiteren Offensive gegen Idlib und der anhaltenden türkischen Kampagne gegen Rojava zynisch. Sie beinhaltet auch eine gewisse unbeabsichtigte Ironie. Bushs „Auftrag erfüllt“ folgte eine Serie demütigender Rückzüge und Niederlagen für den US-Imperialismus. Es ist klar, dass die USA in Bezug auf die strategische Lage, ihren Niedergang als globale Hegemonialmacht und ihr Ziel, den Wiederaufstieg Russlands als imperialistischer Rivale im Nahen Osten umzukehren, so gut wie nichts erreicht haben.

Ein begrenzter Luftschlag

Die Gefahr eines längeren, konzertierten US-Angriffs auf Syrien, als Trump am 11. April seine Drohungen gegen Assad und dessen UnterstützerInnen aussprach, schockierte Millionen deutlich. In einem Tweet, Trumps Version einer „diplomatischen Note“, die an die provokanten Reden und Interviews Kaiser Wilhelms II. erinnert, drohte er mit einem anhaltenden Angriff auf Assad, das „mit Gas tötende Tier“, die syrische Armee und ihre UnterstützerInnen. Am selben Tag stieß er auch eine Warnung an Russland aus: „Macht euch bereit, denn sie werden kommen, schön und neu und ‚intelligent’“.

Offensichtlich konnten das Weiße Haus, der US-Verteidigungsminister James Norman Mattis und die Armee diesen kriegstreiberischen Tweet schnell neu interpretieren. In Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien einigten sie sich auf einen weiteren begrenzten Luftangriff, ähnlich dem von 2017.

Während der Vorbereitung des Angriffs und während der Bombardierung selbst hatten sie mit dem russischen Militär in Kontakt gestanden, um sicherzustellen, dass die Lage in Syrien trotz der Äußerungen des Präsidenten nicht aus dem Ruder läuft. Wie viel Schaden an der Infrastruktur der syrischen Armee angerichtet wurde, wie viele Cruise Missiles (von Computern gelenkte Fernraketen) vom zur Verfügung gestellten russischen Verteidigungssystem abgeschossen wurden, sind nicht die entscheidenden Fragen. Klar ist, dass der Angriff das Kräftegleichgewicht in Syrien selbst nicht verändert hat und auch nicht dazu bestimmt war.

Das hindert natürlich nicht daran, dass sich beide Seiten als „siegreich“ präsentieren. Die USA, Großbritannien und Frankreich, aber auch ihre anderen imperialistischen Verbündeten wie Deutschland oder die NATO rechtfertigen und feiern die „angemessene Reaktion“. Auch die Türkei und Israel haben den Angriff bereits begrüßt.

Auf der anderen Seite hingegen bezeichneten Russland, Syrien und der Iran ihn nicht nur als Verletzung des „Völkerrechts“, sondern behaupten auch, dass der Angriff militärisch gescheitert und die syrische Luftverteidigung sehr effektiv sei.

Während letztere Behauptungen mit ziemlicher Sicherheit Übertreibungen sind, treffen die syrische Regierung und ihre Verbündeten einen Punkt: Die westliche Aggression war symbolisch. Die Errungenschaften, die Assad und vor allem der Iran, Russland und die Türkei in Syrien erzielt haben, können nicht durch begrenzte Luftangriffe, nicht einmal eine Reihe davon rückgängig gemacht werden.

Vorerst hat keine Seite ein Interesse daran, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Es war rational, dass die russische Seite keine Vergeltungsmaßnahmen ergreifen würde und die USA und ihre Verbündeten eine Verletzung des „russischen“ kontrollierten Luftraums vermeiden würden, ganz zu schweigen von russischen Truppen oder Stützpunkten. Das russische Regime seinerseits hat sich politisch auf eine Mischung aus Entschlossenheit und Mäßigung gegenüber Trumps Drohungen beschränkt und versucht, sich als Stimme der Vernunft in einer unvernünftigen, von den USA dominierten Welt zu präsentieren.

Diese Haltung drückt genau das Verhältnis der Kräfte vor Ort aus. Das syrische Regime, Russland und der Iran sind, zusammen mit der Türkei, dabei, zu gewinnen und das Land nach ihren Interessen neu zu ordnen. Die syrische Revolution ist besiegt, die kurdische Bewegung ist auf dem Rückzug und wird von ihren „Verbündeten“ verraten. Die siegreichen Kräfte wollen ihre Gewinne nicht gefährden, sondern Syrien „stabilisieren“, um die Früchte ihres Erfolges zu ernten.

Sich abzeichnende Widersprüche

Es wäre jedoch fatal, die Gefahren zu unterschätzen, die in dieser Konfrontation zum Ausdruck gekommen sind. Derzeit sind die USA nicht in der Lage, die Kräfteverhältnisse in Syrien umzukehren oder auch nur den wachsenden Einfluss des Iran im Irak zu stoppen. Der russische Sieg hat wieder einmal den relativen Niedergang des US-Imperialismus offenbart. Dieser, immer noch die stärkste globale Einzelmacht, ist nicht mehr der unangefochtene Hegemon und zur Zeit nicht mehr in der Lage, dem Nahen Osten seine Ordnung aufzuzwingen.

Die gegenwärtige Auseinandersetzung muss in diesem Kontext eines Kampfes um die Neuaufteilung des Nahen Ostens und tatsächlich der Welt gesehen werden. Der syrische Bürgerkrieg hat nicht nur dem Schlächter Assad erlaubt, seine Herrschaft aufrechtzuerhalten, er hat den russischen Imperialismus und auch den Iran als halbkolonialen, aber regional ambitionierten Akteur nicht nur in Syrien, sondern auch im Irak erheblich gestärkt. Die Türkei, ein NATO-Verbündeter der USA und der europäischen Mächte, arbeitet auch mit Russland und dem Iran zusammen, mit anderen Worten, sie manövriert zwischen den beiden Seiten.

Wenn die Türkei sich nun auf die Seite der USA und der westlichen Mächte schlüge und die USA ihre vorübergehenden kurdischen Verbündeten im „Austausch“ aufgäben, könnte dies das Kräftegleichgewicht vor Ort verändern und zu einer direkten Konfrontation zwischen den imperialistischen Mächten und ihren StellvertreterInnen im Land führen. Aber ein solches Szenario beinhaltet viele „Wenns“ und Erdogan wird für leere und völlig wirkungslose „Friedensinitiativen“ der UNO oder Deutschlands und Frankreichs nicht den „Astana-Prozess“ aufkündigen.

Sowohl die USA als auch die europäischen Mächte, insbesondere Frankreich und Großbritannien, die seit langem „historische“ Interessen in der Region als deren ehemalige Kolonialreiche verfolgen, wollen die russischen Errungenschaften umkehren. Zu diesem Zweck haben sie Saudi-Arabien in seinem kriminellen Krieg im Jemen freie Hand gelassen und die Augen vor den israelischen Massakern in Gaza verschlossen. Nichtsdestotrotz sind die französischen und britischen Beiträge zu dem Angriff vor allem dabei von Bedeutung, den USA eine gewisse Legitimität zu verleihen. Ihre Rolle wird letztlich durch Entscheidungen und politische Ziele in Washington bestimmt.

So werden das syrische Regime und seine UnterstützerInnen ihre barbarische Kampagne fortsetzen, um die Überreste der „Opposition“ auszurotten, deren Führung und bewaffnete Einheiten weitgehend zu islamistischen Strömungen oder türkischen Marionetten verkommen sind. Während Assad und seine Verbündeten wiederholt chemische Waffen eingesetzt haben, haben sie weitaus mehr „konventionelle“ Bomben, Raketen, Flugzeuge oder Artillerie eingesetzt, die Millionen Menschen ihr Zuhause genommen und sie zu Flüchtlingen gemacht haben, was zu Hunderttausenden von Todesopfern geführt hat. Ob das syrische Regime den chemischen Angriff am 7. April lanciert hat, kann man nicht mit Sicherheit beweisen. Es hat aber in der Vergangenheit eindeutig gezeigt, dass es keine moralischen oder sonstigen Schranken für sein Handelns kennt. Für Assad hätte ein solcher Angriff nicht nur den Fall von Duma selbst beschleunigt, sondern auch eine erschreckend klare Botschaft an die Flüchtlinge und Oppositionskräfte in Idlib ausgesandt: gebt auf oder ihr werdet Opfer ähnlicher Attacken sein!

Der Westen nahm die Behauptungen über den Einsatz chemischer Waffen als Vorwand für einen begrenzten Schlag, aber ihre „humanitären“ Anliegen sind nichts weiter als ein Farcenspiel, um die öffentliche Meinung zu täuschen. Sie rechtfertigen damit einen groben Verstoß gegen das „Völkerrecht“, das Macron, Merkel und May nach wie vor hochzuhalten vorgeben, solange er nicht von ihren israelischen oder saudischen Verbündeten oder gar durch die Durchsetzung der rassistischen und mörderischen Politik der EU gegen Flüchtlinge aus Syrien und durch ihre eigenen militärischen Interventionen gebrochen wird.

Längerfristig wollen die USA und ihre imperialistischen, aber auch ihre saudischen und israelischen Verbündeten die von Russland und dem Iran erzielten Gewinne umkehren. Diese Staaten sind das eigentliche Ziel der aktuellen Kampagne. All diese Faktoren deuten auf die Gefahr direkter Zusammenstöße zwischen den Mächten selbst und damit auf eines offene Krieges hin. Die derzeitigen Militärschläge sind zwar begrenzt und sollen nicht über darüber hinausgehen, aber solche Abenteuer bergen immer das Potenzial zur Eskalation, nicht zuletzt deshalb, weil sie davon unterstellen, dass beide Seiten nach den gleichen Regeln spielen würden.

Die historische Periode, in der wir leben, ist jedoch eine Periode, in der die internationale Ordnung, das heißt das etablierte Kräfteverhältnis zwischen den Weltmächten, bereits in Frage gestellt und untergraben wurde. Die Ohnmacht der UNO, die Ersetzung der „richtigen“ diplomatischen Kanäle durch Tweets mag als „Wahnsinn“ erscheinen, aber es ist ein „Wahnsinn“, der eine wirkliche Veränderung in der Welt widerspiegelt.

Der ständige Niedergang der US-Suprematie über die Welt und der Aufstieg Chinas als imperialistische Macht haben zu einer Spaltung innerhalb der herrschenden Klasse der USA geführt. Vor Trump versuchten die USA, die Welt über ein multilaterales System, über Institutionen wie die WTO, den IWF, die Weltbank und die NATO zu dominieren und wollten dies sogar in Verträgen wie TTIP und TTP festigen. Die globale Krise, der Aufstieg Chinas, die Reetablierung Russlands als Weltmacht und die „Kosten“ der Führung des westlichen Bündnisses haben jedoch dazu geführt, dass sich eine Fraktion des US-Kapitals für einen unilateralen Weg entschieden hat. Für sie sind „gute Vereinbarungen“ keine Abkommen am Runden Tisch mit anderen, sondern „Deals“ gegenüber schwächeren Staaten.

Im Moment hat der Niedergang der USA sie zur Beschränkung auf eine symbolische Intervention gezwungen, aber angesichts der gesamten Ausgestaltung eines neuen Kalten Krieges müssen die Errungenschaften Russlands im Nahen Osten angegangen werden. Die Verluste der USA in dieser Schlüsselregion der Welt sind für Washington viel bedeutender als der Kampf um die Ostukraine oder die Krim.

Diese Situation nährt auch das Abenteurertum. Dieses mag auch eine persönliche Eigenschaft Trumps sein, aber, was noch wichtiger ist, es fließt aus den inneren Widersprüchen der aktuellen Periode. Die „alten“, etablierten Beziehungen zwischen den Nationen werden mehr und mehr untergraben, neue oder verlorene geopolitische Grundlagen zurückzuerobern, erfordert „härtere“ Mittel, letztlich von allen Seiten. Der US-Präsident ist nicht der einzige „Hitzkopf“ und die USA sind nicht die einzige Macht, in der die inneren Widersprüche auf (außenpolitische) Abenteuer hinweisen. Der russische Imperialismus, aber auch die türkische, israelische und saudische Politik bringen solche Merkmale zum Ausdruck.

Die Gefahr eines „begrenzten Krieges“, der aus dem Ruder laufen könnte, die Ablösung der Diplomatie durch Tweets oder „starke Sprache“ sind ein Ergebnis der aktuellen Periode. Sie werden nicht durch Appelle an das „Völkerrecht“, die Stärkung der UNO oder die Rückkehr zur „Berufsdiplomatie“, wie es die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright gefordert hat, verschwinden. Das mag zwar „vernünftig“ klingen, aber es steht eigentlich mehr im Widerspruch zum aktuellen Stand der kapitalistischen Entwicklung als Trumps „Wahnsinn“. Die Forderung nach einer Rückkehr zu einer internationalen politischen und institutionellen Ordnung, die auf einem relativ stabilen Gleichgewicht der Kräfte und Beziehungen beruht, ist letztlich utopisch. Die Entwicklung der Weltwirtschaft selbst hat diese Ordnung untergraben und wird dies zwangsläufig auch weiterhin tun.

Die Linke

Nicht nur die Liberalen oder Konservativen, die auf die „gute alte Zeit“ zurückblicken, bleiben hinter dieser Entwicklung zurück, sondern auch große Teile der Linken und der ArbeiterInnenbewegung.

Einige verharmlosen die Gefahr eines Krieges oder, wie die rechte Sozialdemokratie und viele GewerkschaftsführerInnen, befürworten sogar Interventionen oder eine „härtere“ Politik gegenüber Russland oder China. Die deutsche Sozialdemokratie unterstützte den Angriff der USA, ebenso wie der rechte Flügel der britischen Labour-Partei sich auf die Seite „seiner“ Tory-Regierung stellen wird. Ein anderer Teil der Linken, oft mit stalinistischem Hintergrund, betrachtet die gegnerischen imperialistischen Mächte, Russland und China, als ein geringeres Übel oder sogar als potenzielle Verbündete.

Für die ArbeiterInnenbewegungen in den USA, in Deutschland, Großbritannien, Frankreich oder anderen westlichen Staaten ist der Hauptfeind natürlich ihre „eigene“ herrschende Klasse. Sie müssen gegen jede militärische oder diplomatische Intervention mobilisieren. Sie müssen Nein sagen zu allen Luftangriffen in Syrien, zur Entsendung von Truppen oder zu wirtschaftlichen oder diplomatischen Sanktionen. Sie müssen den sofortigen Rückzug aller Truppen und MilitärberaterInnen aus der gesamten Region fordern! Sie müssen gegen jede Unterstützung für die israelischen und saudischen Militärmaschinen kämpfen! Sie müssen den sofortigen Rückzug der türkischen Truppen und die Verteidigung des kurdischen Volkes fordern!

Aber das Gleiche gilt für Russland, China und ihre Verbündeten. Wir fordern den Rückzug der russischen Truppen und Verbündeten aus Syrien. Es stimmt zwar, dass die westlichen Mächte und insbesondere die USA China eindämmen wollen und einen neuen Kalten Krieg gegen Russland eröffnet haben, aber das ändert nichts daran, dass beide imperialistische Mächte selbst sind. Auch sie kämpfen für ebenso reaktionäre Ziele und sind der „Hauptfeind“ der russischen und chinesischen ArbeiterInnenklasse.

Wie das Beispiel Syrien zeigt, ist jede Form der imperialistischen Intervention, insbesondere in einer so wichtigen geopolitischen Region, nicht nur reaktionär an sich, sondern droht, „aus dem Ruder zu laufen“. Auch wenn die aktuellen Bedrohungen mit einem begrenzten, symbolischen Angriff endeten, sind der Aufbau von Spannungen zwischen den Mächten, die Bildung von rivalisierenden Allianzen und Blöcken und nicht zuletzt die Gewöhnung der Menschen an die Existenz einer „Kriegsdrohung“ alle sehr real. Die ganze Idee einer „Rückkehr“ zur Diplomatie und der Wiederherstellung des „Friedens“, die beispielsweise von Frankreich und Deutschland verbreitet wird, steht im Missklang zu den gegenwärtigen Realitäten. Auf jeden Fall sind diplomatische Manöver nur eine weitere Form des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt.

Dies muss der Ausgangspunkt für die Schaffung einer neuen, globalen Antikriegsbewegung sein, die antiimperialistisch und internationalistisch sein muss.




Türkei erobert Afrin: Die Konterrevolution auf dem Vormarsch

Robert Teller, Neue Internationale 227, April 2018

Am 18. März rückten die türkische Armee und von der türkischen Regierung kontrollierte FSA-Verbände ins Stadtzentrum von Afrin ein – zwei Monate nach Beginn des militärischen Überfalls auf den gleichnamigen kurdischen Kanton durch die „Operation Olivenzweig“. Wie auch in anderen von türkischen Truppen eroberten Ortschaften des Kantons war der militärische Siegeszug begleitet von Plünderungen und einem Massenexodus der dort lebenden BewohnerInnen. Ohne Zweifel ist der türkische Einmarsch ein weiterer Schlag der Konterrevolution im Nahen Osten, der die Zukunft von Rojava in Frage stellt.

Erdogan hat wiederholt erklärt, dass er bei Afrin nicht Halt machen wird, sondern die gesamte türkisch-syrische Grenze und sogar den Nordirak von kurdischen Verbänden „säubern“ will. Die Situation führt uns – wie bereits im Kampf gegen den IS/Daesch – einmal mehr vor Augen, dass keiner der beteiligten Akteure im Nahen Osten eine kurdische Selbstverwaltung akzeptieren wird, dass die dort bestehende staatliche Ordnung auf der nationalen Unterdrückung des kurdischen Volkes beruht. Zugleich werden die militärischen Erfolge Erdogans begleitet von einer Repressionswelle gegen KriegsgegnerInnen, und sein militärischer Erfolg wird den weiteren Abbau demokratischer Rechte und die Errichtung eines diktatorischen Regimes in der Türkei beschleunigen, was dort eine ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Krieg dringend erforderlich macht.

Deutsche Waffen

Die türkische Armee setzt bei ihrer Offensive deutsche Leopard-Panzer ein. Entgegen der anfänglichen Aussage Sigmar Gabriels, aufgrund des türkischen Angriffs auf Afrin zunächst keine Waffenexporte in dieses Land mehr zu genehmigen, wurden allein seit Beginn der Offensive insgesamt 20 Rüstungsexportgenehmigungen erteilt. Der militärische Angriff auf Rojava setzt für InternationalistInnen nicht nur die unmittelbare Unterstützung der kurdischen Verbände im Kampf gegen die türkischen Truppen auf die Tagesordnung. Er wirft auch die Frage auf, welche politische Strategie erforderlich ist, um die Errungenschaften in Rojava zu verteidigen.

Die kurdischen Verbände der YPG/YPJ haben als Teil der SDF (Syrian Democratic Forces) seit 2015 große militärische Erfolge gegen den IS/Daesch errungen und kontrollieren heute einen großen Teil der vom IS in Syrien zurückgelassenen Gebiete. Der größte militärische Erfolg war die Eroberung von ar-Raqqa im Oktober 2017. Die militärischen Erfolge beruhten auch auf der Unterstützung der SDF durch die USA in Form von Waffenlieferungen, Militärberatern und Luftangriffen, in geringerem Umfang auch auf russischer Unterstützung. Dank der militärischen Erfolge der SDF kontrolliert der IS/Daesch heute nur noch einige ländliche Gegenden im Osten Syriens, an der israelischen Grenze und das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus. Die kurdischen Verbände dagegen kontrollieren fast alle Gebiete östlich des Euphrat, etwa ein Viertel der Fläche Syriens. Seit Beginn der türkischen Intervention in Nordsyrien 2016 stellte Russland in den entsprechenden Gegenden Truppen in Pufferzonen bereit, die eine direkte Konfrontation der türkischen Armee mit den kurdischen Verbänden verhinderten. Vor Beginn des Angriffs auf Afrin zog Russland diese Truppen jedoch von dort zurück. Der türkische Angriff fand also mit der Duldung Russlands statt.

Nachdem 2014/2015 die Gefahr bestand, Rojava könnte vom IS militärisch zerschlagen werden, so scheint es heute gerade durch die zuletzt neu gewonnene militärische Stärke vor neuen Problemen zu stehen: nicht nur die Türkei, auch das syrische Regime und seine iranische Schutzmacht können einen unabhängigen kurdischen Staat als Teil einer Nachkriegsordnung in Syrien nicht akzeptieren. Assad hat wiederholt erklärt, dass er nicht bereit ist, eine Abspaltung Rojavas zu akzeptieren. Für die USA dagegen sind die kurdischen Kräfte zwar zentral für den Kampf gegen den IS – aber die militärische Niederlage des IS in Syrien wird die Grundlage dieser Kooperation in Frage stellen. Im Ringen um eine Nachkriegsordnung werden die USA Rojava mit in den Verhandlungstopf werfen, aus dem es neu zu verteilen gilt.

Als Folge des türkischen Angriffs wurden kurdische Verbände von der Front gegen den IS abgezogen und nach Afrin verlegt. Die Türkei hingegen zog zehntausende ihr loyale Rebellen aus der Provinz Idlib ab, um sie im Kampf gegen die kurdischen Verbände einzusetzen. Am 25. Januar forderte die kurdische Führung in Afrin das syrische Regime auf, Truppen zu seiner Verteidigung gegen den türkischen Einmarsch zu schicken. Am 19. Februar trafen Assad-treue Regierungsmilizen in Afrin ein und wurden von der türkischen Armee unter Beschuss genommen. Es gibt Berichte, dass das syrische Regime auch zur Entsendung der regulären Armee bereit gewesen wäre, dies aber durch eine Intervention Russlands verhindert wurde, das eine Eskalation zwischen dem syrischen Regime und der Türkei verhindern möchte. Als Teil einer Einigung zwischen der PYD und dem Regime übergab die PYD am 22. Februar die Kontrolle über den mehrheitlich kurdischen Stadtteil Sheikh Maqsoud und alle anderen von ihr in Aleppo kontrollierten Viertel an die Truppen des Regimes und erhielt dafür von selbigem die Erlaubnis, die von ihm kontrollierten Versorgungsrouten nach Afrin zu nutzen. Am 18.03. zogen sich die KämpferInnen der kurdischen Verbände aus der Stadt Afrin zurück, nachdem diese von den türkischen Truppen eingekesselt worden war.

Niederlagen und weitere Bedrohungen

Letztlich hat der türkische Angriff nicht nur zur Zerschlagung der Selbstverwaltung in Afrin geführt, sondern auch zur Wiederherstellung der Kontrolle des Assad-Regimes über ganz Aleppo und er hat die Bedingungen für seine Offensive in der Provinz Idlib verbessert. Die syrische und die türkische Regierung verfolgen zwar im syrischen Bürgerkrieg entgegengesetzte Ziele. Dennoch haben sie ein gemeinsames Interesse, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zu zerstören. Insofern ist der türkische Angriff Teil der konterrevolutionären Entwicklung in der Region und steht in einer Reihe mit den verbrecherischen Angriffen des Assad-Regimes in Ost-Ghuta und Idlib, um seine Kontrolle über diese Gebiete wiederherzustellen.

Die absehbare Niederlage des IS und die mögliche Niederlage der letzten Rebellenverbände in der Provinz Idlib und der Region Damaskus werden unter den verbliebenen Mächten – dem russischen Imperialismus und dem Iran als Schutzmacht Assads, der Türkei und den USA – die Frage nach einer Nachkriegsordnung auf die Tagesordnung setzen. Fast alle würden kein unabhängiges Rojava akzeptieren und auch die USA werden ihren zeitweiligen Verbündeten allenfalls als politisches Faustpfand verwenden (und gegebenenfalls fallenlassen).

Es droht somit, dass Rojava durch die Türkei militärisch zerschlagen oder aber in den syrischen Staat reintegriert wird. Die PYD hat ihrerseits erklärt, dass sie bereit ist, im Rahmen einer Autonomielösung die bestehenden nationalen Grenzen Syriens zu respektieren und mit dem Regime über eine Nachkriegslösung zu verhandeln. Hierbei werden aber sowohl die türkische als auch die syrische Regierung ihre Bedingungen gegenüber den Kurdinnen durchsetzen wollen. Die politische Selbstbestimmung der KurdInnen wird dabei als Erstes auf der Strecke bleiben.

Internationale Perspektive

Verhindert werden könnte eine solche Entwicklung nur auf internationaler Ebene. Die Geschichte Rojavas ist eng verbunden mit der syrischen Revolution und den Aufständen der KurdInnen in der Türkei. Die Entwicklungen im Nordirak zeigen, dass dort die Bevölkerung den Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit vertritt. Letztlich ist die ArbeiterInnenklasse in der Türkei die entscheidende Kraft, die die militärische Expansionspolitik Erdogans stoppen kann. Umgekehrt ist jede militärische Niederlage Erdogans auch eine politische Niederlage für die Errichtung seiner Präsidialdiktatur. Die nationale Frage der KurdInnen ist also verbunden mit der demokratischen Frage und dem Klassenkampf in der Türkei. Die Zukunft von Rojava wird am Ende davon abhängen, ob es gelingt, ein Bündnis mit den unterdrückten Massen der ganzen Region zu bilden. Ein solches Bündnis wäre zugleich auch die einzige Hoffnung auf ein Ende des Vormarsches von Reaktion, Konterrevolution und Imperialismus in Syrien oder im Irak. Die Siege des Assad-Regimes und der Türkei bedeuten für die Bevölkerung Massenvertreibung, Plünderungen, Vergewaltigungen und Elend. Die drohende Ausschaltung der KurdInnen und die Niederlage der syrischen Revolution bedeuten aber keineswegs eine Befriedung des Landes, sondern werden angesichts der verschärften internationalen Konfrontationen früher oder später zu einem weiteren Kampf zwischen den verschiedenen Mächten führen, die heute ganze Länder verwüsten.

RevolutionärInnen treten für die Niederlage und den Rückzug der türkischen Armee ein, die Verteidigung der bestehenden Selbstverwaltungsstrukturen und den Sieg der KurdInnen gegen die Invasoren. Wir fordern den Stopp der Waffenlieferungen an die Türkei und den Rückzug der Bundeswehr. Wir treten für den Abzug aller imperialistischen Truppen und aller Regionalmächte aus Syrien ein. Wir sollten als InternationalistInnen den kurdischen Verbänden jegliche mögliche Unterstützung für ihren Kampf zukommen lassen, ohne jedoch die nationalistische Politik ihrer Führung zu verteidigen, deren Utopie eines „Dritten Wegs“ die internationale Dimension des Befreiungskampfes negiert.




Syrien: Zur Lage in Ost-Ghouta

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 26. Februar 2018, Infomail 989, 28. Februar 2018

Das Abschlachten von ZivilistInnen setzte sich fort, auch als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schließlich die von Kuwait und Schweden vorgeschlagene Resolution verabschiedete, in der ein 30-tägiger Waffenstillstand in Ost-Ghouta gefordert wurde. Wenige glauben, dass sie umfassend oder vollständig sein wird, da der syrische Gesandte die Resolution mit einem Achselzucken abgetan hat, indem er das Recht seiner Regierung unterstrich, ihr Territorium zu verteidigen und weiterhin „den Terrorismus zu bekämpfen, wo immer er ist”. In den letzten Tagen in New York erlebte die Welt das entwürdigende Schauspiel, in dem die Botschafter der Vereinten Nationen, der Vereinigten Staaten und Russlands versuchten, sich gegenseitig die Schuld für die Verzögerung eines Waffenstillstands im Vorort von Damaskus zu geben, der seit 2013 von Regierungskräften belagert wird und in dem rund 400.000 Menschen leben.

Am 23. Februar berichtete das in Großbritannien ansässige syrische Beobachterzentrum für Menschenrechte, dass allein innerhalb von fünf Tagen 417 ZivilistInnen, darunter 96 Kinder und 61 Frauen, getötet wurden. Diese waren das Ergebnis von 564 Luftangriffen durch Kampfflugzeuge, während die Hubschrauber des Regimes mehr als 219 Fassbomben abwarfen. Diese massive Eskalation deutet darauf hin, dass sich das Assad-Regime in einem ähnlichen Endspiel sieht, in dem es eine Evakuierung von Kämpfer aus Ghouta erzwingen kann, wie es Ende 2016 in Ost-Aleppo der Fall war.

Russland drohte damit, sein Veto einzulegen, bis in die Resolution über den Waffenstillstand so viele Schlupflöcher gebohrt waren, dass sie ihnen und ihrem syrischen Verbündeten erlauben, ihren Angriff auf die hauptsächlich islamistischen Verteidiger der Enklave fortzusetzen. Das bedeutet, dass sie der Bevölkerung weiterhin „Kollateralschäden” zufügen, wie sie es seit Anfang des neuen Jahres getan haben.

Der kuwaitisch-schwedische Entwurf schloss bereits Hai’at Tahrir asch-Scham aus, ein Bündnis islamistischer Kräfte unter Führung der früheren al-Nusra-Front (jetzt: Dschabhat Fatah asch-Scham), der ehemaligen offiziellen al-Qaida-Tochter in Syrien. Der russische Außenminister Sergej Lawrow bestand darauf, dass auch „mit ihnen kooperierende Gruppen” ausgeschlossen werden sollten. Das sind die beiden größten Rebellentruppen: Dschaisch al-Islam und ihre Rivalin Faylaq al-Rahman. Sowohl das in Großbritannien ansässige syrische Beobachterzentrum für Menschenrechte als auch der erfahrene Nahost-Kommentator Robert Fisk, der oft in die Regimekräfte eingebettet ist, berichten über laufende Verhandlungen über den Rückzug von Tahrir asch-Scham-Kämpfern.

Der sog. Waffenstillstand

Dieser „Waffenstillstand” schließt daher Aktionen gegen die Hauptstreitkräfte aus, die sich gegen Assad und Putin wehren. Wie bei anderen Waffenstillständen der letzten Zeit ist es wahrscheinlich, dass die Raketen und Fassbomben weiterhin Krankenhäuser und Wohnkomplexe treffen werden. Natürlich muss man hoffen, dass die russischen und iranischen Streitkräfte im Interesse ihrer Gesichtswahrung die Versorgung mit Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern sowie die Evakuierung von Schwerverletzten und Traumatisierten zulassen.

Aber alle Bürgerkriege sind notwendigerweise brutal, da eine etablierte herrschende Klasse und ein solches Regime ihre Pfründe zu verteidigen und ihre Verbrechen zu verbergen haben. In Syrien, wie in weiten Teilen der Region, wurde dies durch sektiererischen Hass zwischen den Religionsgemeinschaften noch verschärft. Es handelt sich dabei nicht um „alte” Feindschaften, wie leicht beeinflussbare JournalistInnen und orientalische KommentatorInnen sagen. Vielmehr stammt der Konflikt aus der „Teile und Herrsche!“-Strategie der französischen und britischen Kolonialherren, die das Osmanische Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerrissen haben. Seither wird er auch von repressiven Regimen für ihre eigenen Zwecke geschürt.

Die Kämpfe im syrischen Bürgerkrieg wurden jedoch durch das Eingreifen der beiden rivalisierenden imperialistischen Mächte Russland und USA (plus deren Schildknappen Großbritannien und Frankreich) sowie der beiden wichtigen regionalen Mächte Türkei und Iran verlängert und doppelt bösartig gestaltet. Die ungleiche Bewaffnung der Kombattanten – Jagdbomber, schwere Artillerie, Hubschrauberfassbomben versus Seitenwaffen, Raketenwerfer und Mörser – verleiht dem Begriff der asymmetrischen Kriegsführung eine ganz neue Bedeutung. Hinzu kommen die „mittelalterlichen” Techniken des Aushungerns, des Unterbrechens der medizinischen und Wasserversorgung, und es gibt kaum Zweifel am Endergebnis.

Robert Fisk berichtet mit einem unangenehmen Ton der Genugtuung, dass „… riesige Mengen syrischer Rüstung entlang der Autobahnen zur Hauptstadt am helllichten Tag von Aleppo und Homs im Norden, von Dar’a im Süden und vom Land um Damaskus selbst brummen. Die syrischen Behörden wollen, dass sie gesehen werden, damit die islamistischen Rebellen von Ghouta wissen, wie ihr Kampf enden wird.“

Das Regime und seine russischen, iranischen und Hisbollah-Verbündeten wissen, dass ein weiterer entscheidender Sieg in greifbare Nähe gerückt ist und sie sich dann an die große Enklave Idlib im Norden und die verbleibenden Rebellengebiete im Süden wenden können, auch wenn sie dort mit einer israelischen Intervention rechnen müssen. Idlib ist ein militärisches Problem wegen der Intervention der Türkei und deren andauernden Angriffs auf die benachbarte kurdische Enklave Afrin, obwohl sie bisher nur 15-18 Prozent besetzen konnte. Es handelt sich auch um ein politisches Problem, denn es konzentriert eine große Zahl von entschlossenen Anti-Assad-Flüchtlingen aus anderen Rebellengebieten, die von Assad zurückerobert wurden. Ob der Diktator bereit oder in der Lage ist, sein totalitäres Regime wieder durchzusetzen, ist eine andere Frage.

In Syrien ist neben Baschar al-Assad und seinem Regime das Russland Wladimir Putins der Hauptkriminelle. Russland sollte in der Tat offen und lautstark für grobe Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden, bei der Belagerung von Ost-Aleppo in den Jahren 2012-16 und jetzt in Ghouta. Mit der unschätzbaren Unterstützung durch externe Verbündete, die ihm Truppenhilfe vor Ort leisteten, erholte sich Assad von einer Beinahe-Katastrophe in einem Bürgerkrieg, den er 2015 zu verlieren schien. Dank Putin, der nicht wollte, dass sein einziges Standbein im Mittelmeer verloren ging; dank seiner iranischen und libanesischen Verbündeten, die kein Syrien nach Assad unter saudischer oder türkischer Hegemonie wollten, ist er nun ausreichend stabil, die Konterrevolution zu vollenden.

Selbst dann wird sein Staat von ausländischen und privaten Militärs abhängig und es höchst unwahrscheinlich sein, dass es zu einer Rückkehr zum „stabilen” Status quo von vor der Revolution kommen wird. Vor allem wird er in vielen Städten mit einer unzufriedenen und feindlichen Bevölkerung sowie den Grundlagen für einen anhaltenden Guerillakrieg auf dem Land konfrontiert sein.

Der US-Imperialismus ist ein weiterer Katalysator der Konterrevolution, wenngleich nicht so offensichtlich, da Syrien selbst kein Gegenstand vitalen Interesses der USA ist und seine Intervention daher in begrenztem Umfang erfolgte. Obama und Hillary Clinton waren glücklich genug zu sehen, wie die Rebellenkräfte Druck auf Assad ausübten, ohne die gesamte Baath-Diktatur in Trümmer zu stürzen, wie es im Irak und in Gaddafis Libyen geschah. Das Chaos in beiden Ländern war eine schreckliche Lektion für den US-Imperialismus. Nichtsdestotrotz war es Teil des neuen Kalten Krieges, den die USA über die Ukraine und die Krim begonnen hatten, Russland und seine Verbündeten in Schwierigkeiten zu bringen.

Ein Nebenprodukt dieser Politik im Irak war der Aufstieg des so genannten islamischen Staates (IS), dessen Einnahme von Mossul reichlich Geld und US-Waffen mit sich brachte, und im Gefolge die Inbesitznahme eines riesigen Gebiets im Nordosten Syriens. Dies zwang die USA unter Obama, direkter zu intervenieren, als sie es wünschten. Ihre einzigen verfügbaren Verbündeten, die sich dem IS-Angriff auf Kobanê entgegengestellt und ihn heldenhaft zurückgeschlagen hatten, waren Rojava-KurdInnen (die PYD und ihre kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG). Sie bildeten dann eine Front mit syrischen Verbündeten in der Region: die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Das sind die „gemäßigten RebellInnen”, von denen Obama sprach.

Selbst nachdem Trump so viel wie möglich von Obamas Vermächtnis aufgegeben hatte, änderte sich die Politik der USA gegenüber Syrien kaum. Tatsächlich untermauerte er die Unterstützung für die KurdInnen mittels schwerer Luftangriffe auf IS-Hochburgen in Nordostsyrien und 2-3000 US-Sondereinheiten, die seither in Rojava stationiert sind. Dies erzürnte den zunehmend diktatorischen Recep Tayyip Erdoğan, der mit seinem Afrin-Abenteuer antwortete. Die US-Bombardierung hat zu entsetzlichen zivilen Verlusten geführt, die in den westlichen Medien nur als Fußnote erwähnt werden.

Doppelspiel

Inzwischen spielt Assad ein Doppelspiel, in dem er die YPG im Osten (wo die USA den Luftraum kontrollieren) angreift, während er ihnen erlaubt, Kräfte durch sein Territorium im Westen zu bewegen, obwohl er bisher davor Halt machte, sie in Afrin zu „entlasten”, zum einen, weil dies einen Zusammenstoß mit den Türken bedeuten könnte, zum anderen aber auch, weil er hofft, bedingungslos und völlig ungehindert in den Raum einzudringen, nachdem die KurdInnen besiegt wurden. Andererseits hat die YPG offenbar Tall Rifaat und Teile von Aleppo mit der Begründung, „ihre Truppen nach Afrin zu verlegen”, an Regimekräfte übergeben, in der Hoffnung, im Gegenzug dafür dort „Hilfe” zu erhalten. Die Politik der Doppelspiele zwischen den verschiedenen Kräften geht weiter – mit den fortschrittlichen Teilen, SyrerInnen und KurdInnen, als deren wahrscheinlichste VerliererInnen.

Trotz der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen Putins haben die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich kein Recht, sich als Verteidiger der Menschenrechte oder als Ankläger von Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszugeben. Die Gräueltaten, die sie bei ihrer Eroberung und Besatzung des Irak begangen haben (z. B. die beiden Belagerungen von Falludscha), waren ebenso groß wie die von Putin und Assad. Erst anlässlich der Belagerung und Eroberung von ar-Raqqa im Jahr 2017 haben US-Luftangriffe Berichten zufolge schwere zivile Opfer gefordert, für die sie wenig Sorge gezeigt haben.

Was die Ausübung des Vetorechts im UN-Sicherheitsrat anbelangt: Wer kann vergessen, wie oft die USA es benutzt haben, oder die Androhung davon, um eine Verurteilung, geschweige denn Sanktionen, gegen Israel wegen seiner Blitzkriegsbewegungen gegen Gaza, das bis heute eine verwüstete Landschaft ist, zu verhindern. Das sind Verbrechen, die denen von Putin und Assad gleichwertig sind. Darüber hinaus gibt Donald Trump wiederholt grünes Licht für weitere israelische Ausschreitungen, so dass Netanjahu wahrscheinlich die „Ablenkung” der Aufmerksamkeit der Welt auf Syrien nutzen wird, um Angriffe entweder im Libanon, in Südsyrien, im Gazastreifen oder in allen drei Gebieten auszuüben.

Frankreichs UN-Botschafter François Delattre sagte, dass die Unfähigkeit der UNO, syrischen ZivilistInnen zu helfen, zu einem verheerenden Verlust an Glaubwürdigkeit führen würde. „Syrien”, sagte er, „darf nicht auch ein Friedhof für die Vereinten Nationen werden”. Tatsächlich ist der UN-Sicherheitsrat, wie MarxistInnen immer gesagt haben, nichts anderes als eine Diebesküche, in der die großen Diebe, die USA, die europäischen Mächte, insbesondere Großbritannien und Frankreich, sowie Russland und China, die Welt teilen und neu aufteilen. Resolutionen und „Friedenspläne” kommen erst dann zustande, wenn sich diese Kräfte hinter den Kulissen geeinigt haben.

Dieses schmutzige Spiel der imperialistischen und regionalen Mächte ist eindeutig noch nicht zu Ende; die ArbeiterInnen und armen Ba(e)uerInnen Syriens sind dessen blutige Opfer. Die Agenturen der Vereinten Nationen, die Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen können die Schrecken bestenfalls offenbaren, aber nur die Hände über sie ringen.

Nur eine Revolution, die aus dem Arabischen Frühling hervorgegangen wäre, hätte sie retten können und eine solche es auch eines Tages ihr Werk verrichten, trotz der heutigen Schrecken. Die Ereignisse von 2011 – 13 waren die kritische Phase, in der die säkularen und demokratischen Kräfte gegenüber den islamistischen, sowohl salafistischen als auch „gemäßigten”, die von Mächten wie Katar, Saudi-Arabien und der Türkei finanziert wurden, im inneren Kräfteverhältnis schließlich unterlagen. Die USA und die EU machten freundliche verbale Geräusche, weigerten sich aber, die Rebellen mit Boden-Luftraketen zu bewaffnen, um sie gegen Assads Kampfflugzeuge und Fassbombenhubschrauber zu verteidigen.

Die islamistischen Kräfte innerhalb der Opposition gewannen erst Anfang 2013 endgültig die Oberhand, nachdem die FSA Mitte 2012 Damaskus und das westliche Aleppo nicht einnehmen konnte. Das war eine wahre Konterrevolution innerhalb der Revolution. Ein weiterer Faktor war das Scheitern der revolutionären Kräfte bei der Bewältigung der nationalen Frage. Der demokratische Widerstand agierte wie syrische NationalistInnen, ohne die Gerechtigkeit des Kampfes der kurdischen Bevölkerung um Selbstbestimmung anzuerkennen.

Andererseits hat die PYD an mehreren Stellen mit dem Regime zusammengearbeitet und im Kampf um den Sturz des Regimes keine Seite bezogen. Nur der Internationalismus hätte eine sichere Grundlage für die Vereinigung der größt-möglichen Kräfte gegen die Diktatur sein können. Letztendlich scheiterte die syrische Revolution daran, dass sie nicht früh genug erkannt hat, dass ein entwaffnetes Volk immer besiegt wird und es unerlässlich war, Assads soziale Basis unter den städtischen ArbeiterInnen und den verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten zu untergraben.

Die SozialistInnen und DemokratInnen außerhalb der Region, besonders in Europa und Nordamerika, müssen syrischen RevolutionärInnen helfen, ihre Kräfte neu zu sammeln, weil sich das Assad-Regime als alles andere als stabil erweisen wird. Nachdem einst die Auswirkungen purer Erschöpfung und materieller Entbehrungen, die demoralisierenden Effekte der Niederlage in der Bevölkerung dahingeschwunden sein werden, werden sich Widersprüche unter jenen auftun, die Assad unterstützt haben, und das Element „fremder Besatzung“ wird weitere Ressentiments beschleunigen. Die riesige syrische Diaspora, die anhaltenden Flüchtlingslager werden zur Saat des Widerstands geraten.

SozialistInnen in den imperialistischen Demokratien, in den Gewerkschaften, müssen ihren syrischen Schwestern und Brüdern helfen, indem sie zunächst Druck auf ihre Regierungen ausüben, allen Flüchtlingen Asyl zu gewähren, ohne ihre politischen Aktivitäten zu verbieten. Wie bei den russischen ExilantInnen im 19. und 20. Jahrhundert, wie später auch bei den PalästinenserInnen, kann das Exil genutzt werden, um die Lehren aus dem Konflikt zu ziehen und eine revolutionäre Partei aufzubauen, die auf einer Strategie für die Macht der ArbeiterInnenklasse basiert, nicht nur in Syrien, sondern im gesamten Nahen Osten.

Nicht zuletzt müssen wir verräterische und brutale Interventionen beider imperialistischen Lager, Moskaus wie Washingtons (plus Londons, Paris oder Berlins), aufdecken und dagegen mobilisieren. Solange ihre Übergriffe auf Syrien und ganz Nahost andauern, besteht die ernste Gefahr eines beiderseitigen Zusammenstoßes der imperialistischen Mächte. Zu schlechter Letzt nutzen diese gegenseitig ihre Verbrechen, um einen neuen Kalten Krieg und Rüstungswettlauf anzuheizen. Wenn er nicht schon morgen zur Realität werden wird, so bleibt doch die Aussicht auf einen innerimperialistischen Krieg nicht länger ein verrücktes linkes Hirngespinst.

Aus diesem Grund muss die Antikriegsbewegung, die in den Jahren 2000-2003 Massenbeteiligung erreicht hat, wiederbelebt werden. Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird dies voraussetzen, dass sie gegenüber imperialistischen Kriegszügen und Verbrechen entschlossen und gleichgerichtet vorgeht. Während wir alle davon ausgehen müssen, dass „unser Hauptfeind im eigenen Land steht”, bedeutet dies nicht, dass der Feind des Feindes unser Freund ist. In Großbritannien, den USA und Deutschland hat die lange Tradition, dass der Antiimperialismus bedeutet, zwar gegen die USA und gegen die NATO zu sein, aber zugleich zu den Verbrechen von Putin und Assad zu schweigen, als ob sie in irgendeiner Weise selbst antiimperialistisch wären.

Die rechten Flügel, die viele der Labour- und sozialdemokratischen Parteien dominieren, folgen ihren eigenen herrschenden Klassen, indem sie Forderungen nach „humanitären” Interventionen oder UN- bzw. US- oder europäischen Sanktionen gegenüber Russland äußern. Auch das muss aufgedeckt und bekämpft werden. Wir befinden uns in einer Periode, die geprägt ist von den Bestrebungen, die Welt unter den Lagern der imperialistischen Diebe neu aufzuteilen. Dagegen muss die ArbeiterInnenklasse ein internationales Lager des Widerstandes und der Revolution formieren.




Syrien: Assads und Putins Kriegsverbrechen in Idlib

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Sonntag, 4. Februar 18, Infomail 986, 6. Februar 2018

Das syrische Informationszentrum für Menschenrechte berichtet, dass Baschar Hafiz al-Assads Kampfflugzeuge, Artillerie und Hubschrauber einen Großangriff, unter anderem mit Fassbomben, auf die letzte große, von Rebellen besetzte Region Idlib gestartet haben, unterstützt von seinen russischen Verbündeten. Es ist wahrscheinlich, dass die Offensive darauf abzielt, die Bevölkerung auf einen winzigen Fleck zu konzentrieren, sie einer endgültigen Liquidation zu unterziehen oder aus der Region zu vertreiben.

Und das, obwohl die Region im Rahmen eines Abkommens, das im vergangenen Jahr von Russland, der Türkei und dem Iran vermittelt wurde, als „Deeskalationszone“ gedacht war. Auch trotz der grausamen Ironie, dass eine von Russland und der Türkei gesponsorte “Syrische Nationale Dialogkonferenz“ am Tag vor den jüngsten Luftangriffen auf Idlib in Sotschi eröffnete, die alle ernsthaften syrischen wie kurdischen Oppositionskräfte boykottiert haben.

Es gibt bereits schätzungsweise 1,1 Millionen Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens in Idlib, und die UNO berichtet, dass seit der im Januar begonnenen Offensive 212.000 Menschen vor den Kämpfen geflohen sind. Die Bedingungen für sie sind unsäglich schlecht, und die UNO-BeamtInnen haben für einen Waffenstillstand und für Hilfeleistungen plädiert, um das Leid der Menschen zu lindern, die ohne Zelte, Lebensmittel oder medizinische Versorgung sind.

Die in Großbritannien ansässige Beobachtergruppe berichtete auch über einen weiteren wahrscheinlichen Sarin-Giftgasangriff auf Chan Schaichun, wo, wie sie schilderte, 20 Kinder und 17 Frauen unter den toten ZivilistInnen waren. Filmmaterial zeigt erschütternde und atemberaubende Bilder von Opfern, die mit Wasser gelöscht und in Krankenwagen verladen werden, wobei die Körper von etwa einem Dutzend kleiner Kinder auf Decken in einem Pritschenwagen liegen. Das Krankenhaus, in dem die Opfer später behandelt wurden, wurde ebenfalls bombardiert.

Natürlich haben der britische Außenminister Boris Johnson und US-Präsident Donald Trump diese Gräueltat sofort verurteilt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat ebenfalls den Angriff auf Idlib verurteilt, aber da er sich mit seinem eigenen mörderischen Angriff auf die kurdische Enklave Afrin, angrenzend im Norden, beschäftigt, werden seine Proteste bei den TäterInnen wenig Gewicht haben. Was Großbritannien und die USA betrifft, ebenso abscheuliche TyrannInnen und so niederträchtig wie Assad, so werden ihre Worte auch keine Wirkung haben und keine Erleichterung bringen.

Die AmerikanerInnen selbst haben Idlib unter dem Vorwand bombardiert, dass sie die wichtigsten Miliztruppen von Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) angreifen, angeführt vom ehemaligen Al-Qaida-Ableger Dschabhat an-Nusra (al-Nusra-Front; jetzt: Dschabhat Fatah asch-Scham). Tatsächlich scheinen sie sich mit Assads Wiedergewinnung von Idlib versöhnt zu haben. Gleichzeitig hat US-Außenminister Rex Tillerson angedeutet, dass 2.000 US-Truppen für einige Zeit im Nordosten Syriens verbleiben werden; unter Berufung auf die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass sich der IS nicht erholt und dem Iran nicht erlaubt sein darf, eine dauerhafte Basis in Syrien zu errichten.

In Bezug auf Assads Herrschaft war er zweideutiger. „Ein Mörder seines eigenen Volkes kann nicht die für eine langfristige Stabilität erforderliche Unterstützung schaffen“, sagte er und fügte hinzu: „Ein stabiles, geeintes und unabhängiges Syrien erfordert letztendlich eine Führung nach Assads Regierungszeit, um erfolgreich zu sein.“ Man beachte das Wort „letztendlich“!

Tatsächlich sind alle in Syrien intervenierenden Staaten entweder imperialistische Mächte (USA, Russland, europäische Mächte) oder regionale repressive Regime, und alle haben ihre eigenen geostrategischen Ziele, die letztlich miteinander unvereinbar sind. Erdogan wünscht eine Pufferzone zwischen der Türkei (d. h. den kurdisch besiedelten Gebieten Ostanatoliens) und den kurdischen Regionen Nordsyriens, wenn er diese nicht überhaupt ollständig liquidieren kann. Er hofft, damit die Kurdische ArbeiterInnenpartei (PKK) dauerhaft zu zerschlagen.

Russland möchte Syrien unter Assad oder einem Regime-Nachfolger stabilisieren, der ein solider Verbündeter bleiben und eine Basis für russische Flugzeuge und Kriegsschiffe bilden wird, wobei es, wie auf der Krim, bewiesen hat, dass die USA es nicht aus wichtigen militärischen Positionen verdrängen können. Assad will natürlich die Macht behalten und die Kontrolle über das ganze Land wiederherstellen. Zusammen mit den Projekten der USA und des Iran sind diese Ziele auf Dauer unvereinbar und dürften sogar kurzfristig zu weiterem Aufflammen der Krise führen.

Wenn im Moment in der sprichwörtlichen Diebesküche über die Beute gefeilscht wird, heißt das nicht, dass die Messer in die Scheide geschoben, sondern nur unter dem Tisch versteckt sind.

Wenn jedoch Afrin an die Türkei und ihre syrischen Marionettenstreitkräfte und Idlib an Assad fällt, wird dies die endgültige Niederschlagung des syrischen Aufstands bedeuten außer vielleicht für die kurdischen Gebiete im Nordosten (Kobanê, Cizîrê‎), die auf jeden Fall immer Abstand zum Syrischen Frühling gehalten haben. Während die kurdischen Kräfte Washington dabei halfen, das IS-Kalifat zu liquidieren, und die US-Truppen immer noch in Ost-Rojava stationiert sind, wurden sie von ihrem „Beschützer“ in Afrin fallen gelassen – eine tragische Wiederholung eines Jahrzehnts an Illusionen in Bündnisse mit imperialistischen oder regionalen UnterdrückerInnen. Sie könnten sich durchaus zwischen dem „Hammer“ von Assad und Putin und dem „Amboss“ von Recep Tayyip Erdogan wiederfinden.

SozialistInnen auf der ganzen Welt sollten ein sofortiges Ende der Angriffe auf Idlib und auf Afrin, ein völliges Ende der Bombardierung und die sofortige Lieferung von Nahrungsmitteln, medizinischer Hilfe und warmen Unterkünften für die leidenden Menschen fordern. Sie müssen sich mit der mehr als eine Million Menschen starken Bevölkerung von Idlib und der umliegenden Region solidarisieren trotz der erzreaktionären Politik der islamistischen Kräfte und ihrer Verbrechen gegen die Massen.

Trotz der offenkundigen Scheinheiligkeit ihrer KritikerInnen müssen die wiederholten Kriegsverbrechen von Putin und Assad auch von der weltweiten ArbeiterInnenbewegung verurteilt werden, und wo immer dies möglich ist, sollten Sanktionen der ArbeiterInnen gegen sie verhängt werden. Diejenigen „KommunistInnen“, „AntiimperialistInnen“ und „AntikriegsaktivistInnen“, die zu diesen Verbrechen entweder oder sie gar entschuldigen, sind eine Schande für jede Form internationaler Solidarität.

Die kriminelle Bombardierung von Idlib und Ghuta könnte zusammen mit der türkischen Invasion auch die Eröffnung einer weiteren Runde reaktionärer Zusammenstöße zwischen regionalen und imperialistischen Mächten bedeuten und ein weiteres Kapitel im Alptraum des syrischen Volkes eröffnen.

Wir fordern den Rückzug aller imperialistischen Mächte aus Syrien und der gesamten Region – Russlands, der USA und auch der europäischen Mächte. Wir fordern das Ende aller Waffenlieferungen an die reaktionären Regime von Assad oder Erdogan, den Rückzug aller türkischen Truppen und Unterstützung der kurdischen Verteidigung gegen die Invasion.

Nicht nur die reaktionären Islamisten, pro-imperialistischen und nationalistischen FührerInnen der „Rebellengebiete“ und der FSA haben das Volk im Stich gelassen und die Massen in eine Sackgasse geleitet. Die PYD-Führung hat auch die kurdischen Massen in ein katastrophales Bündnis mit den US-ImperialistInnen geführt. Nur wenn die demokratischen und sozialistischen Kräfte und die national Unterdrückten mit einer solchen Politik brechen und sich auf revolutionärer Basis vereinen, kann die Welle der Reaktion gestoppt werden.




Syrische Frauen in der Türkei: Immer und immer auf der Flucht

Svenja Spunck, Frauenzeitung Nr. 4, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION, März 2016

Der syrische Bürgerkrieg ist mittlerweile der tödlichste Konflikt des 21. Jahrhunderts. Nicht nur die Getöteten sind dessen Opfer, sondern auch all jene, die ihre Heimat notgedrungen verlassen mussten, um am Leben zu bleiben. Die offizielle Zahl der syrischen Flüchtlinge im Nachbarland Türkei liegt bei 2 Millionen, die Dunkelziffer ist weitaus höher. Viele von ihnen sind minderjährig. Während sich der Staat notgedrungen um die vielen arbeits- und obdachlosen Syrer zu sorgen beginnt, wird eine Gruppe völlig ausgeblendet: geflüchtete syrische Frauen.

Berichte

Die Journalistin Mine Bekiroglu berichtet über deren Situation in Hatay, einer hauptsächlich arabisch-alevitischen Stadt im Süden der Türkei. Ein Geheimnis, das jeder kennt, ist der rasante Anstieg der sogenannten Imam-Ehen.

Das bedeutet, dass syrische Frauen an türkische Männer verheiratet werden, nicht offiziell vom Staat, sondern „nur“ vor einem Imam. Diese Ehe, genau so wie die Verheiratung von Minderjährigen, ist illegal. Die Frauen sind oft nicht die erste, sondern die zweite oder dritte Ehefrau eines türkischen Mannes. Der Grund, warum Syrerinnen oft Türkinnen vorgezogen werden, ist ein finanzieller. Während man vor 2 Jahren noch gut 10.000 Lira für eine Ehe bezahlte, sind jetzt schon 2.000 TL genug. Der Preis variiert je nach Aussehen und Alter der Mädchen.

Ganz offensichtlich wird hier die soziale Lage der geflüchteten syrischen Familien ausgenutzt. Wer weder Arbeit noch eine Unterkunft hat, erhofft sich durch das Verkaufen der Tochter finanzielle Verbesserung. Dieser Frauenhandel geschieht nicht heimlich. In Städten wie Sanliurfa ist er auf der Straße zu beobachten und der türkische Staat unternimmt nichts dagegen.

Die wenigsten Flüchtlinge sind in den offiziellen Flüchtlingslagern untergebracht. Diese sind zwar angeblich überdurchschnittlich gut ausgestattet, jedoch gibt es auch hier immer wieder Berichte über Vergewaltigungen, Prostitution und Frauenhandel.

Eine Umfrage der türkischen Regierung ergibt, dass 70% der Frauen ihre berufliche Qualifikation lediglich als „Hausfrau“ beschreiben, also keinen Ausbildungsberuf erlernt oder gar ein Studium absolviert haben. Ebenfalls sind rund 25% Analphabetinnen. Ohne oder mit nur geringer Schulbildung und ohne Aussicht auf eine solche in der Türkei ist für sie eine selbstständige Zukunft undenkbar. Doch wie auch die Broschüre schreibt, in der diese Umfrage veröffentlicht wurde, werden Flüchtlinge in der Türkei als „Gäste“ bezeichnet.

Dies ist keine freundliche Bezeichnung, die auf Gastfreundschaft hindeutet. Sie bezeichnet das traurige Schicksal, dass es für SyrerInnen keinen Geflüchtetenstatus gibt, sondern lediglich einen temporären Gaststatus. Das schließt sie vor allem auch von legaler Lohnarbeit aus, weshalb viele Frauen und Kinder Müllsammlerinnen auf Istanbuls Straßen werden. Soziale Absicherung und Zugang zu Bildung werden ihnen verweigert, da der Staat von ihrer baldigen Heimreise ausgeht.

Realität

Die Realität ist jedoch, dass viele der SyrerInnen in der Türkei bleiben werden, denn ein Ende des syrischen Bürgerkrieges und ein schneller Wiederaufbau des Landes sind nicht einmal in allerweitester Ferne zu erblicken. Den Menschen muss also in dem Land, in dem sie sich jetzt befinden, eine Zukunft ermöglicht werden. Dazu gehört an erster Stelle der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den gleichen Bedingungen wie für türkische StaatsbürgerInnen. Da diese ebenfalls unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, ist es die Aufgabe der Gewerkschaften, diese Frauen zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen.

Wie es nun einmal in der kapitalistischen Welt so ist, wird natürlich auch in der Türkei die Kinderversorgung als kostenlose Arbeit der Frauen betrachtet. Deshalb müssen die syrischen Kinder versorgt und vor allem auch gebildet werden. Die patriarchalen Verhältnisse, unter denen die Frauen leiden, gehören bekämpft und abgeschafft! An erster Stelle steht im Moment die Gewährleistung von Sicherheit für diese Frauen.

Die bedeutet Schutz vor Verheiratung, Vergewaltigung und Zwangsprostitution. Die Frauen müssen sich in den Lagern organisieren. Im besten Fall schließen sich auch Männer an, die Frauen als gleichwertige Menschen betrachten und für deren Unabhängigkeit eintreten. Der türkische Staat ignoriert die sozialen Probleme der SyrerInnen im Land, doch er wird es sich nicht mehr lange leisten können, die Augen davor zu verschließen. Es ist die Aufgabe von SozialistInnen, für die Integration und volle BürgerInnenrechte für Flüchtlinge einzutreten und vor allem auch Frauen zu verteidigen und in den Kampf gegen das Patriarchat einzubinden.




Hände weg von Afrin! Solidarität mit den KurdInnen!

Martin Suchanek, Infomail 983, 22. Januar 2018

Seit dem 20. Januar läuft die „Operation Olivenzweig“. Allein am letzten Wochenende flog die türkische Armee über hundert Laufeinsätze. Schon Tage zuvor beschoss sie mit schwerer Artillerie die Stellungen der kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ (deutsch: Volksverteidigungs-/Frauenverteidigungseinheiten). Seit Sonntag, den 21. Januar, dringen ihre Panzer und Infanterie, oft gestellt von Marionettentruppen türkisch gelenkter FSA-Verbände (Freie Syrische Armee) einschließlich zahlreicher islamistischer Ultrareaktionäre, in das von den KurdInnen gehaltene Gebiet um Afrin vor.

Es kämpft eine hochgerüstete NATO-Armee mit absoluter Lufthoheit gegen eine trotz US-Hilfen militärisch weit unterlegene Streitmacht. Erdogans Kriegziel ist dabei klar: Es geht darum, die Formen kurdischer Selbstbestimmung und Autonomie, die in den letzten Jahren etabliert wurden, zu zerschlagen. Er weiß sich darin einig mit der syrischen Regierung, den von ihm unterhaltenen Teilen der „Opposition“ und dem russischen Imperialismus. Formal drücken diese zwar ihre „Besorgnis“ aus, doch mehr oder minder offen lassen sie der Türkei und ihren Bodentruppen freie Hand – ein Teil der reaktionären Neuordnung des Landes nach Assads Sieg im Bürgerkrieg.

Die USA und der Westen, die sich der KurdInnen als Fußtruppen im Kampf gegen den islamischen Staat bedienten, lassen sie nun fallen wie eine heiße Kartoffel. Ihre Ankündigung, eine 30.000 KämpferInnen starke Grenztruppe im Verbund mit den kurdisch dominierten SDF (Demokratische Kräfte Syriens) zu schaffen, wurde als „Missverständnis“ dementiert. Am 21. Januar twitterte das US-Außenministerium: „Wir fordern die Türkei zur Zurückhaltung auf, um bei ihren militärischen Operationen zivile Opfer zu vermeiden.“ Im Klartext: Tote KämpferInnen der YPG/YPJ sind akzeptable Kollateralschäden einer an Zynismus kaum zu überbietenden US-Politik. Das deutsche Außenamt steht dem allerdings nicht viel nach, wenn es in diesem ungleichen Kampf „beide Seiten zur Zurückhaltung“ aufruft.

Während die Türkei ihren Einfluss als Regionalmacht mit dieser Operation festigen will und sie zugleich zur Abrechnung mit allen inneren „Feinden“ nutzt, so akzeptieren offenkundig die syrische Regierung, alle anderen Regionalmächte und die imperialistischen AkteurInnen die Invasion. Für die Rechte des national unterdrückten kurdischen Volkes will sich niemand die Finger verbrennen. Im Gegenteil: Alle hoffen, dass die türkische Offensive möglichst reibungslos vonstattengeht, dass sie rasch Fakten schafft. Daher mögen die KurdInnen zwar bedauert werden, vor allem aber sollen sie sich „mäßigen“, also gegen das zynische Spiel nicht aufbegehren.

Mit seiner Invasion hat das Land nicht nur der Bevölkerung von Afrin den Krieg erklärt. Auch der Krieg gegen das kurdische Volk und dessen Organisationen wie die HDP und die PKK wird verschärft. Die von der HDP ausgerufenen Proteste wurden mit brutaler Polizeigewalt im Keim erstickt. Unverhohlen droht Erdogan allen GegnerInnen, jedem demokratischen Protest mit brutaler Unterdrückung und Vernichtung: „Wir leiten gerade im Geiste der nationalen Einheit eine Operation gegen jene, die aus dem Ausland unsere Landesgrenzen bedrohen. Und ihr? Ihr versucht, uns von innen zu schlagen. So wie wir die einen aus ihren Höhlen in den Bergen herausgeholt haben, so werden wir auch euch niemals die Plätze und Straßen überlassen.“ (Tagesschau ARD, 21. Januar)

Der kurdische Widerstand gegen die türkische Invasion ist mehr als gerechtfertigt. Unabhängig von ihrer Haltung zur Politik der Führung der KurdInnen in Rojava und Afrin müssen alle Linken, die gesamte internationale ArbeiterInnenbewegung, alle Anti-ImperialistInnen die türkische Invasion verurteilen und deren sofortige Beendigung fordern.

Appelle an die Großmächte oder an die UNO werden dabei jedoch nicht weiterhelfen.

RevolutionärInnen unterstützen den berechtigten Widerstand des kurdischen Volkes in Rojava und in der Türkei. Wir treten für internationalistische Hilfe für die Kämpfenden ein, für deren materielle Unterstützung. Die kurdische Region im Nordirak muss ihre Grenzen für Rojava öffnen.

Wir rufen die ArbeiterInnenbewegung, alle linken Parteien, die Gewerkschaften, alle linken und anti-imperialistischen Kräfte auf, in Solidarität mit den KurdInnen auf die Straße zu gehen. Wir fordern die Öffnung der Grenzen für alle kurdischen Geflüchteten, die Aufhebung das Verbotes ihrer Organisationen, allen voran der PKK. Wir fordern die Einstellung aller Waffenlieferungen und Militärhilfe an die Türkei, den Abzug aller imperialistischen Truppen aus der Region!

Der Einmarsch türkischer Truppen droht, ein weiterer reaktionärer Schlag zur Neu-Aufteilung Syriens und vor allem gegen das kurdische Volk zu werden. Eine „Stabilisierung“ der Region wird er jedoch nicht bringen. Vielmehr wird er nur das Unrecht, die Unterdrückung festigen.

Die einzige Hoffnung liegt im Widerstand – nicht nur des kurdischen Volkes, sondern in der Vergeschwisterung der ArbeiterInnen und Ba(e)uerInnen, der städtischen und ländlichen Massen im gesamten Nahen Osten, der KurdInnen und PalästinenserInnen, der iranischen ArbeiterInnen und der wirklich demokratischen und sozialistischen Kräfte in Syrien, im Irak, in der Türkei.

Ein solche Politik – und auch das ist eine Lehre des kurdischen Kampfes und erst recht des Bürgerkriegs in Syrien – muss unabhängig von allen imperialistischen und reaktionären Kräften verfolgt werden. Sie muss die sozialen und demokratischen Fragen, den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht mit dem Kampf um eine sozialistische Umwälzung in der gesamten Region verbinden. Dazu braucht es ein Programm und eine politische Organisation, eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und Internationale.