Die strategische Krise der palästinensischen Linken

Martin Suchanek, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Seit Jahrzehnten bildet die palästinensische Linke eine zentrale Kraft des Befreiungskampfs gegen die zionistische Vertreibung, die Kolonisierung und imperialistische Ordnung. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den 1960er und 1970er Jahren; auch in der ersten Intifada 1987 – 1993 spielte sie eine bedeutende, teilweise führende Rolle.

Doch seither ging ihr Einfluss unter den palästinensischen Massen zurück. Die Krise praktisch aller organisierten Strömungen ist seit Jahrzehnten unleugbar. Die Faktoren für diesen Niedergang sind vielfältig.

Etliche Gruppierungen der palästinensischen Linken passten sich Anfang der 1990er Jahre der PLO-Führung an und unterstützten mehr oder weniger das Osloer Abkommen mit Israel. Im Gegenzug erhielten sie einen, wenn auch kleineren, Anteil an den Pfründen der Autonomiebehörde. Politisch diskreditierten sich aber, weil sie letztlich zu politischen Helfershelfer:innen eben dieser Behörde und ihrer Politik verkamen.

Andere Organisationen des Widerstandes – vor allem die PFLP und auch die Mehrheit der DFLP – lehnten das reaktionäre Osloabkommen, das zu einer Befriedung unter Anerkennung des Siedlerkolonialismus und eines schon 1993 kaum lebensfähigen Palästinenserstaates hätte führen sollen, zu Recht von Beginn an ab. Ihre Kritik am Ausverkauf an Imperialismus und Zionismus sollte sich innerhalb nur weniger Jahre als historisch und politisch richtig erweisen. Dennoch verloren auch diese Strömungen an Einfluss.

Zweifellos waren diese konsequent antizionistischen Teile der palästinensischen Linken wie auch oppositionelle Kräfte um die Fatah viel stärker der Repression durch die Besatzungstruppen ausgeliefert (und zeitweise auch durch die Autonomiebehörde). Doch dies erklärt letztlich nicht, warum beispielsweise PFLP und DFLP nicht vom immer offensichtlicheren Scheitern der Politik der PLO-Mehrheit und der Fatah profitieren konnten, sondern selbst durch den Antagonismus zwischen Fatah und Hamas an den politischen Rand des Geschehens gedrückt wurden.

Hinzu kam auch, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der palästinensischen Linken in eine ideologische Konfusion stürzte, teilweise auch in eine finanzielle Krise. Neben der UdSSR brachen „antiwestliche“ reaktionäre arabische Regime , die bisher einen gewissen Schutz für die palästinensische Linke darstellten (und an die sich diese opportunistisch angepasst hatte), entweder zusammen oder vollzogen einen mehr oder weniger spektakulären Kurswechsel, um so ihre Haut zu retten. Selbst Syrien, das der einzige konstante Rückzugspunkt für die Auslandsführungen der palästinensischen Linken blieb, vollzog eine Wende zur USA und unterstützte diese 1991 im ersten Irakkrieg mit rund 17.000 Soldat:innen.

Diese Faktoren stellen eine wichtige, aber letztlich nicht die entscheidende Ursache für die Krise der palästinensischen Linken dar. Zweifellos spielte eine wichtige Rolle für diese, dass sie sich als unfähig erwies, ihre Strategie und Politik den veränderten Bedingungen des Befreiungskampfes nach der ersten Intifada anzupassen. Diese vollzog sie eher empirisch-taktisch, nicht jedoch, indem sie ihre eigentliche politische Strategie, die in den 1960er Jahren entwickelt worden war, selbst auf den Prüfstand stellte.

Das betrifft insbesondere auf die PFLP zu, auf deren Strategie, Taktik und Programmatik wir uns im folgenden Artikel aus mehreren Gründen konzentrieren werden. Erstens war sie über Jahrzehnte die größte und in vieler Hinsicht maßgebliche Organisation der palästinensischen Linken, die für einen konsequenten Kampf gegen die zionistische Besatzung und für die Befreiung ganz Palästinas mit revolutionären Mitteln eintrat.

Zweitens – und damit verbunden – entwickelte sie eine eigene Konzeption der Revolution in Palästina. Das 1969 auf ihrem zweiten Kongress angenommene Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“[i] legt umfassend ihre Analyse und politischen Schlussfolgerungen dar. Eine kritische Beschäftigung und Bewertung ist für Revolutionär:innen unerlässlich, die zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie und Programmatik für den Befreiungskampf beitragen wollen. Das Dokument legt eine Linie und Einschätzung nicht nur für die Vergangenheit fest, sondern die PFLP verweist in der Einleitung zur Veröffentlichung des Textes im Jahr 2017 selbst darauf, dass „dieses Dokument die grundlegenden Auffassungen und Analysen der PFLP in Bezug auf die Kolonialisierung Palästinas, die Kräfte der Revolution und die gegen das palästinensische Volk gerichteten Kräfte darlegt.“[ii]

Auch wenn seit 1969 viele wichtige Veränderungen stattgefunden haben, hält die Organisation fest: „ … die hier dargelegte grundlegende Analyse bleibt der leitende politische Rahmen für einen linken, revolutionären Ansatz zur Befreiung Palästinas – ein Ansatz, den wir als grundlegend notwendig betrachten, um den Sieg und die Befreiung in Palästina zu erreichen.“[iii]

Von der Nakba zur Dominanz des panarabischen Nationalismus

Bevor wir uns diesem Dokument und der Politik der PFLP zuwenden, wollen wir kurz verschiedene Stadien des Befreiungskampfes seit der Nakba (Katastrophe) 1948 bis zur Gründung der PFLP skizzieren, um so den Hintergrund für die Entwicklung der palästinensischen Linken darzulegen. Nach einer Behandlung dieses Dokumentes werden wir uns mit der weiteren Entwicklung des Kampfes und der Politik der PFLP beschäftigen.

Die Gründung Israel geht bekanntlich mit der Vertreibung von rund 750.000 bis 800.000 Palästinenser:innen, mehr als der Hälfe des Volkes zu diesem Zeitpunkt, einher. Diese Katastrophe stellt nicht nur eine historische Niederlage dar und ein zentrales Ereignis für die Etablierung einer neuen, imperialistischen Ordnung des Nahen Ostens. Die schmachvolle Niederlage der arabischen Staaten und ihrer militärischen Kräfte, der Arabischen Legion, warf auch die Frage nach deren Ursachen auf. Insbesondere an der Universität von Beirut entwickelte und vertiefte das eine kritische Diskussion, der zufolge man auch als Ursachen für die Niederlage die Schwächen der arabischen Staaten und ihrer Führungen in den Blick nehmen müsse.

Die Uneinheit und Zersplitterung des Nahen Ostens in zahlreiche arabische Staaten sowie deren ökonomische und soziale Rückständigkeit wären verantwortlich für die Niederlage. Notwendig wären Einheit und Modernisierung der arabischen Gesellschaften. Auch wenn diese Punkte auf die Klassenbasis der jeweiligen Regime verweisen, so waren die Diskurse unter den arabischen Intellektuellen der 1950er Jahre im Grunde von einem radikalen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Nationalismus bestimmt.

Zugleich jedoch verschoben sich die Verhältnisse in den arabischen Staaten selbst mit dem Erstarken des panarabischen Nationalismus. 1952 bringt der Putsch der „Freien Offiziere“ in Ägypten Nasser an die Macht. Er verbreitert über eine Landreform seine soziale Basis über Schichten der Intelligenz, der Offizierskaste und der Mittelschichten hinaus und etabliert ein bonapartistisches Regime.

Im Kampf gegen den britischen Imperialismus um die Kontrolle des Suezkanals nähert sich der Nasserismus stärker der Sowjetunion an. Der Bau des Assuanstaudamms, die Verstaatlichung des Suezkanals und weitere staatskapitalistische Reformen spitzen den Konflikt mit dem Imperialismus zu.

In der Suezkrise 1956 – 1957 geht Ägypten als Sieger gegen Britannien, Frankreich und Israel hervor, die von den USA nicht unterstützt wurden, weil diese eine Großkonfrontation mit Sowjetunion vermeiden wollte. Dieser politische Erfolg steigert das Prestige des Nasserismus enorm. Der panarabische Nationalismus ergreift Syrien, den Irak und andere Länder und wird zu einer mächtigen politisch-ideologischen Strömung. Zugleich vertieft sich auch die Spaltung des arabischen Lagers, wo die Golfmonarchien stramm aufseiten der USA stehen.

BdAN und Fatah

In dieser Phase werden zwei für den palästinensischen Befreiungskampf wesentliche Organisationen gegründet. Um das Jahr 1952 formierte sich der Bund der Arabischen Nationalist:innen (BdAN), der vor allem in Jordanien stark anwuchs und rasch in anderen Staaten Ableger gründete. Der BdAN war zu Beginn eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die sich jedoch unter dem Einfluss des Nasserismus nach links bewegte und von Beginn an eine Form der Etappentheorie der Revolution vertrat. In den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre entwickelte er sich unter dem Einfluss von jüngeren Militanten wie George Habasch und Nayef Hawatmeh nach links, hin zum „Marxismus-Leninismus“, wenn auch in stalinistischer und maoistischer Prägung.

Die andere Organisation, die schon ab 1965 eine führende Rolle in der PLO übernehmen sollte, war Fatah, die 1957 in Kuwait gegründet worden war. Anders als der Panarabismus, der die palästinensische Revolution als Teil der gesamten arabischen Revolution begriff, vertrat Fatah früh das Primat des Kampfes um Palästina. Dieser sollte sich auf die eigene Nation konzentrieren und sich aus den inneren Kämpfen aller arabischen Staaten heraushalten (so wie diese im Gegenzug aus den politischen Auseinandersetzungen der Palästinenser:innen). Politisch war Fatah eine bürgerlich-nationalistische Befreiungsorganisation, die jedoch von Beginn an alle möglichen ideologischen Strömungen einschloss (inklusive solcher, die sich als marxistisch betrachteten). Sie setzte früher als andere auf den Guerillakrieg gegen den zionistischen Staat, was ihr enormes Prestige unter der palästinensischen Jugend einbrachte, einen massiven Zulauf an Kämpfer:innen und politische Unterstützung. Der Heroismus der Fatahkämpfer:innen bei der Schlacht um Karame am 21. März 1968 führte endgültig dazu, dass sich die Gruppierung  als populärste und stärkste Kraft im Widerstand etablierte, so dass sie 1968 die Führung der PLO übernehmen konnte.

Die Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg 1967 markierte einen weiteren politischen Wendepunkt. Israel besetzte die Golanhöhen, die Westbank und die Halbinsel Sinai. Das stellte jedoch nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch eine vernichtende Niederlage für Panarabismus und Nasserismus dar. Auch wenn die Allianz aus Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten 1973 im Jom-Kippur-Krieg anfängliche Erfolge erzielen konnte, so drängte die israelischen Armee die syrischen Streitkräfte wieder zurück und konnte den Vormarsch ägyptischer Truppen stoppen. Dies erlaubte im Gegensatz zu 1967 eine „ehrenvolle“ Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ebnete letztlich den Weg für einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und die Rückgabe Sinais.

Die Niederlage im Sechstagekrieg führte auch dazu, dass der BdAN unter den Palästinenser:innen gegenüber der Fatah politisch weit ins Hintertreffen geriet. Die Gründung der PFLP 1968 (u. a. aus Teilen des BdAN) war eine Reaktion sowohl auf das Scheitern Ägyptens und Syriens wie auch auf die politische Dominanz von Fatah.

Bevor wir uns jedoch deren Strategie im Detail zuwenden, wollen wir mit unserer Skizze des Befreiungskampfes fortfahren.

Guerillakampf als Hauptform

Die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre waren von der Dominanz des Guerillakampfes bestimmt. Auch wenn einzelne Gruppierungen wie die 1982 aus der jordanischen KP hervorgegangene Palästinensische Kommunistische Partei (heute Palästinensische Volkspartei) immer den bewaffneten Kampf ablehnten, so fristeten diese ein reformistisches Dasein, zumal die israelische Besatzung und Militärherrschaft den legalen und damit auch gewerkschaftlichen Spielraum in den besetzten Gebieten extrem einschränkten, da alle palästinensischen Organisationen verboten waren.

Doch die Konzentration auf den Guerillakampf hatte für die Befreiungsbewegung wie die Linke weitreichende Folgen. Erstens bildet faktisch nur die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern außerhalb der von Israel kontrollierten Gebiete – und das hieß nach dem verlorenen Sechstagekrieg auch außerhalb von Westbank und Gaza – das Rekrutierungsfeld für den Widerstand, die im Kampf aktive Basis. Die Guerillastrategie führte zudem bei allen – Fatah wie Linken – zu einer weiteren Verengung der eigentlich kämpfenden Kräfte, nämlich auf jene, die sich für die Guerilla, also für einen professionellen bewaffneten Kampf, rekrutieren ließen.

Die „restliche“ Bevölkerung, also die große Mehrheit der vertriebenen oder unter Besatzung lebenden Arbeiter:innen und Bäuer:innen fungierte letztlich als passive Unterstützer:innen des Kampfes, die ihm bloß materiell, moralisch und politisch Hilfe leisten konnten.

Auch wenn Leninist:innen keine Kampfform per se ausschließen, wie Lenin selbst in „Der Partisanenkrieg“[iv] darlegt, so muss dieser immer nur als eine letztlich untergeordnete Form im Zusammenspiel mit anderen Formen des Klassenkampfes begriffen werden.

Die bürgerliche Führung um Arafat wie auch die palästinensische Linke erklärten sie jedoch – durchaus auch aufgrund einer berechtigten Abgrenzung zum Legalismus und Mechanismus der meisten stalinistischen KPen im arabischen Raum – zur Hauptform des Kampfes um Befreiung. Die Überlegenheit der „marxistisch-leninistischen“ Partei würde sich demzufolge daran erweisen, dass sie den Guerillakampf entschiedener und entschlossener als bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte führen würde und daher zur Führung der Revolution berufen sei.

Dies führt auch dazu, dass neben den Guerillakampf, also bewaffneten Angriffen auf israelische Einheiten aus angrenzenden Staaten (vor allem Libanon, Syrien und bis zum schwarzen September Jordanien), bei der palästinensischen Linken vor allem am Beginn der 1970er Jahre der individuelle Terrorismus als Kampfform trat, mit allen schon von Lenin und Trotzki kategorisch kritisierten Folgen. Eine bestand darin, dass bis in die 1980er Jahre die Organisierungsarbeit in den besetzten Gebieten vernachlässigt wurde, obwohl es auch dort immer wieder zu Massenprotesten gegen die Siedlungspolitik, Steuererhöhung, Raub von Land und Ressourcen (v. a. Wasser) kam. Doch diese hätte andere Kampfmethoden erfordert als die Fokussierung auf die Rekrutierung für kleine, illegale Guerillaeinheiten.

Analyse und Strategie der PFLP

Das Grundproblem der palästinensischen Linken bestand darin, dass sie ironischer Weise mit der Fatah einig war bezüglich des Charakters der Revolution, nämlich dass diese eine national-demokratische wäre. Daher könne ihr Ziel nur in der Errichtung eines einheitlichen, demokratischen Staates Palästina bestehen. Dieser würde durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innenschaft und Kleinbürger:innentum erreicht werden, als dessen politische Repräsentation die PLO-Führung betrachtet wurde.

In ihrem zentralen Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“ (1969) hält die PFLP zu Recht fest, dass Revolutionär:innen ein klares Verständnis des Charakters der Revolution, der verschiedenen Klassen, ihrer Ziele, Feind:innen, Verbündeten brauchen und dies selbst nur auf Basis des wissenschaftlichen Sozialismus, einer revolutionären Theorie möglich ist.

Dieser Anspruch stellt zweifellos einen richtigen Ausgangspunkt dar, der die PFLP (wie auch andere „traditionelle“ Organisationen der palästinensischen Linken) wohltuend von aktuellen, „postmarxistischen“ oder postmodern inspirierten letztlich kleinbürgerlichen politischen Strömungen unterscheidet. Wir teilen auch grundsätzlich die Position, dass jede Revolution, will sie erfolgreich sein, einer revolutionären politischen Führung, einer Partei bedarf, die auf dieser Grundlage handelt (und natürlich diese Konzeption im Lichte der Erfahrung des Klassenkampfes selbst immer wieder einer Prüfung unterzieht).

Doch der Marxismus der PFLP – und damit auch ihre Strategie, ihr Programm und ihre Vorstellung von revolutionärer Partei – ist wie der des Großteils der palästinensischen Linken vom Stalinismus und besonders auch vom Maoismus geprägt.

Etappentheorie

Von diesen übernimmt sie die Etappentheorie der Revolution, der zufolge sich die palästinensische im national-demokratischen Stadium befände. Dabei polemisiert die PFLP zwar gegen die falsche Auffassung, dass der nationale Befreiungskampf kein Klassenkampf sei, aber sie hält daran fest, dass die aktuelle Phase keine sozialistische sei.

„Die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase der nationalen Befreiung und nicht der sozialistischen Revolution, bezieht sich auf die Frage, welche Klassen in den Kampf verwickelt sind, welche von ihnen für und welche gegen die Revolution in jeder ihrer Phasen sind, beseitigt aber nicht die Klassenfrage oder die Frage nach dem Klassenkampf.

Nationale Befreiungskämpfe sind auch Klassenkämpfe. Sie sind Kämpfe zwischen dem Kolonialismus und der feudalen und kapitalistischen Klasse, deren Interessen mit denen der Kolonialisten verbunden sind, auf der einen Seite und den anderen Klassen des Volkes, die den größten Teil der Nation repräsentieren, auf der anderen Seite.“[v]

Und weiter: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Klassensicht auf die Kräfte der palästinensischen Revolution den besonderen Charakter der Klassensituation in unterentwickelten Gesellschaften und die Tatsache, dass unser Kampf ein Kampf der nationalen Befreiung ist, sowie den besonderen Charakter der zionistischen Gefahr berücksichtigen muss.“[vi]

Die Aufgabe der revolutionären Kräfte bestünde daher darin, den nationalen Befreiungskampf ins Zentrum zu stellen. Diese Etappe muss zuerst abgeschlossen werden, um dann zur sozialistischen Revolution voranzuschreiten.

Für die PFLP bedeutet dies jedoch keinesfalls, dass alle Klassen gleichermaßen für die Revolution kämpfen oder deren Rückgrat stellen. Die Arbeiter:innenklasse ist für sie die letztlich revolutionäre Klasse. Aber im Stadium der nationalen Revolution sind ihre Interessen deckungsgleich mit jenen der Bäuer:innenschaft. Daher tauchen in ihrer strategischen Orientierung auch immer Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern, die Klasse der Lohnabhängigen und von Land besitzenden oder landlosen Kleineigentümer:innen an Produktionsmitteln als die zentrale Kraft der Revolution auf. In den Worten der PFLP:

„Das Material der palästinensischen Revolution, ihre Hauptstütze und ihre grundlegenden Kräfte sind die Arbeiter und Bauern. Diese Klassen bilden die Mehrheit des palästinensischen Volkes und füllen physisch alle Lager, Dörfer und armen Stadtviertel.

Hier liegen die Kräfte der Revolution … die Kräfte der Veränderung.“[vii]

Der PFLP ist also sehr wohl bewusst, dass es sich bei Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern um zwei verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Klasseninteressen handelt. Allein in der demokratischen Etappe der Revolution treten diese nicht hervor. Folglich ist die revolutionären Kraft der Befreiung, als die sich die PFLP selbst vorstellt, auch keine Organisation oder Partei der Arbeiter:innenklasse, sondern eine revolutionäre  Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei.

Diese Sicht wird von Anhänger:innen der Etappentheorie bis heute verteidigt, indem sie einen qualitativen Unterschied des Charakters und der Aufgaben der Revolution in den entwickelten kapitalistischen (imperialistischen) Ländern und der halbkolonialen oder kolonisierten Welt behaupten. So Samar Al-Saleh in ihrer Verteidigung der PFLP-Strategy unter dem Titel „The Palestinian Left Will Not Be Hijacked – A Critique of Palestine: A Socialist Introduction“[viii]: „Der verstorbene marxistisch-leninistische Philosoph Domenico Losurdo relativiert die in nationalen Befreiungskämpfen verfolgte frontale Strategie, indem er schreibt: ‚Während das Proletariat der Träger des emanzipatorischen Prozesses ist, der die Ketten der kapitalistischen Herrschaft sprengt, ist das Bündnis, das erforderlich ist, um die Fesseln der nationalen Unterdrückung zu sprengen, breiter angelegt.’“[ix]

Mit dieser und ähnlichen Formulierungen ist keineswegs nur gemeint, dass die Arbeiter:innenklasse versuchen muss, möglich breite Schichten des ländlichen und städtischen Kleinbürger:innentums als führende revolutionären Kraft für sich zu gewinnen. Vielmehr geht es um eine strategische Allianz der „revolutionären Klassen“ mit allen Kräften, die sich dem Kolonialismus und Imperialismus entgegenstellen. Dies umfasst vor allem das städtische Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, aber ggf. auch jene Teile der kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht mit denen der Kolonialist:innen/Imperialist:innen verbunden sind.

Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die Frage stellen, welche Produktionsweise, welche Klasse unter einem Regime herrschen würde, das eine solche nationale Revolution an die Macht bringt. Es kann nur eine kapitalistische Produktionsweise sein. Auch wenn das Personal eines solchen Regimes weitgehend aus dem Kleinbürger:Innentum, den Mittelschichten käme, so würde es doch eine Herrschaftsform des Kapitals, nicht der Arbeiter:innen darstellen. Dazu müsste es nämlich über die bloß demokratische Revolution hinausgehen, das Kapital enteignen, für Schlüsselsektoren der Ökonomie eine demokratische Planwirtschaft errichten usw.

Es ist dies keine Seltenheit in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen, dass ihre entschlossensten Vorkämpfer:innen nur aus einer Minderheit der bürgerlichen Klasse stammten und sich oft aus dem Kleinbürger:innentum (v. a. aus der Intelligenz) rekrutierten. Einmal an der Macht müssen sie aber zwangsläufig ein bürgerliches Regime – in welcher politischen Form (Bonapartismus, Demokratie, Theokratie …) errichten –, weil eine kleinbürgerliche Produktionsweise nie die vorherrschende sein kann.

Diese Frage des Klassencharakters des Regimes, das eine Revolution hervorbringen wird, bleibt bei der PFLP jedoch entweder vage oder wird ganz im Sinne der Etappentheorie so beantwortet, dass der Kampf um eine sozialistische Umwälzung erst nach erfolgreicher antikolonialer oder nationaler Revolution in den Vordergrund treten kann.

Daher braucht es auch keine gesonderte Arbeiter:innenpartei, sondern die Volksfront kann sich auf zwei Klassen mit verschiedenen Interessen stützen. Die revolutionäre Partei, die jetzt gebildet werden soll, ist selbst eine klassenübergreifende, weil die unterschiedlichen Interessen von Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft in der demokratischen Revolution keine entscheidende Rolle spielten.

Auch wenn die Ideologie der PFLP ein Stück weit an die falsche Vorstellung vom Charakter der Russischen Revolution 1905 als demokratischer Revolution anknüpft, so fällt sie weit hinter diesen frühen Bolschewismus zurück. Dieser hatte immer jeden Versuch entschieden bekämpft, eine gemeinsame Partei der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu schaffen, sondern diesen vielmehr als Aufgabe des Klassenstandpunkts in der demokratischen Revolution kritisiert. Eine solche klassenübergreifende Partei wäre nämlich nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse die Verfolgung ihrer eigenen spezifischen Klasseninteressen – sowohl ihrer unmittelbaren ökonomischen wie vor allem ihrer historischen, langfristigen – hinanstellt. Und da die Vertreter:innen der Bourgeoisie, aber auch des Kleinbürger:innentums, mögen sie ansonsten auch noch so borniert und kurzsichtig sein, über einen verlässlichen Klasseninstinkt bezüglich der Eigentumsfrage verfügen, werden sie von den Vertreter:innen des Proletariats nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch Taten einfordern, die beweisen, dass sie keine radikale Arbeiter:innenpolitik betreiben.

Eine gemeinsame Partei von Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stellt also notwendigerweise eine Fessel für das Proletariat dar – aber sie erscheint nicht als solche, wenn man Revolution gegen Zionismus und Imperialismus im Sinne der Etappentheorie begreift. In Wirklichkeit muss sie wie die gesamte Etappentheorie jedoch zur politischen Unterordnung des Proletariats führen und dazu, dass dieses nicht zur hegemonialen Kraft im Befreiungskampf werden kann.

Strategische und taktische Bündnisse

Ganz im Sinne der Etappentheorie befürwortet die PFLP ein strategisches Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum. „Strategy for the Liberation of Palestine“ analysiert nicht nur Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft, sondern auch die anderen Klassen der palästinensischen Gesellschaft:

Die Bourgeoisie stellt nicht nur einen sehr kleinen Teil der palästinensischen Nation dar (0,5 – 1 % der Gemeinschaft), sondern lebt auch unter ganz anderen Bedingungen. Auch wenn einzelne von ihnen den bewaffneten Kampf unterstützen mögen, so hat die Bourgeoisie, die vorwiegend im Exil und dort auch nicht in den Flüchtlingslagern lebt, zum größten Teil ihren Frieden mit dem Zionismus, Imperialismus und mit reaktionären Regimen gemacht. So sei z. B. die palästinensische Bourgeoisie in Jordanien, wie die PFLP in späteren Analysen durchaus treffend hervorhebt, zu einem untergeordneten Teil der dortigen Kapitalist:innenklasse geworden.

Faktisch, so die PFLP, könne die palästinensische Bourgeoisie für die Revolution abgeschrieben werden.

Anders das Kleinbürger:innentum. Dieses stelle wie in anderen Halbkolonien eine recht große, heterogene Klasse dar: Kleinunternehmer:innen, Handwerker:innen, Studierende, Lehrer:innen, Anwält:innen, Ingenieur:innen, Mediziner:innen und viele andere Vertreter:innen der „gebildeten Schichten“.

Auch wenn es unter gänzlich anderen, privilegierten Bedingungen als die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern lebe, so stelle es trotz seiner Schwankungen einen strategischen Verbündeten in der Revolution dar.

Die Fatah repräsentiert bis zu den Osloer Verträgen dieses kämpfende, wenn auch schwankende Kleinbürger:innentum, die PLO die gemeinsame Befreiungsfront oder Organisation. Das Verhältnis zur PLO-Führung gestaltete sich für die PFLP allerdings auch vor dem Osloabkommen immer wieder konflikthaft, bis hin zur Formierung eigener „linker“ Bündnisse, um Druck auf sie auszuüben (z. B. die Nationale Rettungsfront in den 1980er Jahren). Aber der Kampf um die Einheit der PLO bildete immer eine Konstante der PFLP-Politik, der verhindern sollte, dass die schwankende Fatah ins Feindeslager überläuft oder zu viele Zugeständnisse macht. So machte George Habasch 1985 in einem Interview deutlich, dass es gegenüber rechten Kräften in der PLO darum gehe, diese auf Kurs zu halten:

„Kurz gesagt, wir verlassen uns auf die historische und strategische Allianz der Revolution.“[x] Und im selben Interview: „In dieser Hinsicht gehen wir von der starken Überzeugung in die Notwendigkeit aus, dass die PLO zu ihrer nationalen Linie zurückkehrt, so dass sie ein Rahmen für die Einheit des palästinensischen Volkes bleibt und als deren einziger legitimer Repräsentant agiert.“[xi]

Diese Einheit bedeutet aber, selbst wenn sie durchgesetzt wird, nur die auf Basis des Programms der PLO und ihrer führenden Organisation. Für die Fatah bedeutet Einheit immer auch offen die Einheit aller Klassen der palästinensischen Nation. Ideologisiert wurde dies zeitweise auch durch die Vorstellung, dass Nakba und israelische Besatzung auch alle Klassenunterschiede nivelliert hätten. Diese Sicht bildet letztlich nur den ideellen Kitt dafür, dass Fatah – und damit der von ihr dominierten PLO – immer ein bürgerliches, kapitalistisches, demokratisches Palästina vorschwebt, also eines, in dem die palästinensische Bourgeoisie herrschen würde.

Wenn die PFLP davon spricht, dass die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die führende Kräfte der Revolution wären, so heißt das nur, dass sie die nationale Befreiung konsequent führen, am entschiedensten kämpfen würden, während die Bourgeoisie im Voraus verrät und kleinbürgerliche Kräfte schwanken. Das heißt, die Frage, welche Klasse, die Revolution führen soll, beschränkt sich auf die, welche am entschiedensten den Kampf für ein bürgerlich-demokratisches Palästina vonantreibt. Auf sozioökonomischem Gebiet, hinsichtlich der Gesellschaftsordnung erkennt die PFLP im Voraus die Unvermeidlichkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums Palästinas nach der Revolution an. Das heißt aber, es für unvermeidlich zu halten, dass die Revolution die Kapitalist:innenklassen an die Macht bringt und den Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern eine untergeordnete Stellung als ausgebeutete Klasse zuweist.

Dies ist das unvermeidliche Resultat jeder Etappentheorie – zumal wenn man an ihr, wie die PFLP, sehr konsequent festhält.

Guerillastrategie, Nationalismus und internationale Politik

Für die PFLP stellt bis zur ersten Intifada der bewaffnete Kampf, genauer der Guerillakampf, das entscheidende, strategische Mittel gegen Zionismus und Imperialismus dar. Bis Ende der 1980er Jahre befindet sie sich darin, wenn auch mit einer anderen theoretischen Begründung, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der PLO-Charta und der Fatah.

Für die PFLP bildeten im Unterschied zur Fatah jedoch die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die zentrale Kraft des bewaffneten Kampfes, genauer die Fedajin in den Flüchtlingslagern in Jordanien (bis Anfang der 1970er Jahre), in Syrien und im Libanon.

Die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern in Israel bzw. in den besetzten Gebieten bildeten bis zur 1. Intifada keine zentrale Kraft der Revolution. Die israelische Militärherrschaft (und nach dem Schwarzen September 1970 die jordanische Armee) verunmöglichten dort faktisch den Guerillakampf, so dass der Fokus auf die Rekrutierung auf Libanon und Syrien lag, wo die PFLP eine reale Basis aufbauen konnte. Als zweitgrößte Fraktion in der PLO hatte sie außerdem auch immer einen gewissen ideologisch-politischen Einfluss unter den Palästinenser:innen sowohl in den besetzten Gebieten wie in der Diaspora.

Da die PFLP (und auch die meisten anderen Strömungen der palästinensischen Linken) keine andere Zielsetzung der palästinensischen Revolution in ihrer national-demokratischen Etappe verfolgen als die Fatah, konnte sie sich nur auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes als die eigentlich zur Führung des Volkes berufene Kraft erweisen.

Das stellte sich jedoch von Beginn an als Unmöglichkeit heraus. Die Fatah hatte den Guerillakampf früher als BdAN und PFLP begonnen. Sie verfügte über größere finanzielle Mittel zur Ausbildung und Bewaffnung der Guerilla und nach der Schlacht um Karame über eine enormes Prestige.

Die PFLP – und andere Organisationen – versuchten das, durch eine Wende zum individuellen Terrorismus (den allerdings auch die PLO selbst mit professionelleren Mitteln vollzog), zu Anschlägen und Entführungen auszugleichen. Diese bis ca. 1972 dauernde Wende zeitigte zwar alle Nachteile des individuellen Terrorismus, brachte die PFLP (wie andere Organisationen, die weit länger an dieser Kampfmethode festhielten und diese komplett fetischisierten) in ihrer Konkurrenz zur Fatah nicht weiter.

Vielmehr erwies sich in den 1970er und 1980er Jahren die Guerillastrategie faktisch immer mehr als Sackgasse. Es wurde immer klarer, dass die Befreiung Palästinas durch einen noch so aufopfernden Guerillakampf, der sich auf die Rekrut:innen aus den Lagern stützte, Israel zwar in Aufregung versetzen, aber keineswegs den Zionismus stürzen konnte. Hinzu kam, dass die arabischen Regime nach 1967 militärisch eine Katastrophe erlitten und nach 1973 mehr und mehr dazu übergingen, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Vor allem aber zeigte die Guerillastrategie von Beginn an ihre Grenzen hinsichtlich der aktiven Basis der Revolution. Letztlich kämpfen in der Guerilla nur jene, die sich für ein Leben als professionelle, bewaffneten Kämpfer:innen entscheiden bzw. dafür rekrutiert werden. Die Masse der Arbeiter:innen, des städtischen und ländlichen Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten sind an der proklamierten (oder auch faktischen) Hauptform des Kampfes nicht beteiligt, sondern vielmehr in die Rolle von passiven Unterstützer:innen gedrängt.

Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur leninistischen Position zum Partisanenkampf oder zur Guerilla. Wie Lenin zeigt, kann diese vom Marxismus unter bestimmten Bedingungen als eine Kampfform nicht ausgeschlossen werden, ja sogar einen Aufschwung von Massenaktionen (z. B. der Bäuerinnen und Bauern) signalisieren. Aber seine Rolle muss vor dem Hintergrund der Gesamtbewegung des Klassenkampfes verstanden werden, als letztlich untergeordnetes Moment.

Die Erhebung des Guerillakampfes zum strategischen Hauptmittel hingegen reflektiert im Grunde den Klassencharakter der führenden Kräfte des palästinensischen Befreiungskampfes der 1960er bis 1980er Jahre – des revolutionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalismus. Die Fatah steht für den bürgerlichen, die PFLP für den radikal-kleinbürgerlichen Flügel der Bewegung.

Nationalismus und Marxismus

Dies drückt sich auch im Verhältnis der PFLP zum Nationalismus aus. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Marxismus und Nationalismus. Oder in George Habaschs Worten: „Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein arabischer Nationalist und ein echter Sozialist zu sein.“[xii]

Dies ist keine zufällige Differenz zur marxistischen Position, wie sie z. B. Lenin in „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ betont:

„Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, (…)“[xiii]

Gerade weil der Nationalismus untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, muss der Marxismus ihn als grundlegendes Phänomen verstehen und begreifen. Dazu gehört auch das Begreifen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und die Unterstützung des berechtigen Kampfes gegen nationale Unterdrückung. Nur durch das konsequente Vertreten dieser bürgerlich-demokratischen Forderung kann das Programm der sozialistischen Revolution – Verschmelzung der Nationen zu eine höheren Einheit – dereinst Realität werden. Um diesem Ziel den Weg zu bereiten, muss die Arbeiter:innenklasse bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation anerkennen, daher muss ihre Arbeiter:innenklasse diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, ja unter bestimmten Bedingungen um die Führung kämpfen, versuchen, selbst zur hegemonialen Kraft zu werden. Doch genau deshalb dürfen die Revolutionär:innen der unterdrückten Nation selbst niemals auf den Standpunkt des Nationalismus herabsinken, wie Lenin betont: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die ‚nationale Kultur’ schlechthin – unbedingt nein.“[xiv]

Im Grunde reflektiert die falsche Auffassung von Habasch und der PFLP zur Nation ihre Vorstellung vom demokratischen Charakter der Revolution und strategischen Bündnis mit der Fatah in Form der PLO.

Internationale Strategie?

Doch damit nicht genug, die PFLP verfolgt von Beginn an auch eine problematische internationale Strategie. Dabei kritisiert sie zu Recht die Weigerung der Fatah, die untrennbare Verbindung des palästinensischen Befreiungskampfs mit der antiimperialistischen Revolution in den arabischen Staaten anzuerkennen. Dies führe dazu, dass die Führung um Arafat immer wieder nach falschen Verbündeten im imperialistischen Lage suche und eine opportunistische Politik der „Nichteinmischung“ gegenüber den reaktionären arabischen Regimen betrieben hat, wie z. B. Saudi-Arabien oder Ägypten unter Sadat.

Dem hält die PFLP ein Bündnis der „revolutionären Kräfte“ im globalen Maßstab entgegen. Doch wer sind diese? Die Arbeiter:innenklasse, die armen Bäuerinnen und Bauern weltweit? Nein. Vielmehr spricht „The Strategy for the Liberation of Palestine“ von der VR China, der UdSSR, Kuba und den anderen „sozialististischen Staaten“, also bürokratisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Auch wenn der PFLP natürlich bewusst ist, dass die UdSSR die Gründung Israels noch vor den westlichen Staaten anerkannte und keinesfalls immer konsequent handelte, so wird sie letztlich nicht nur als Verbündete, sondern als die führende Kraft im Kampf der „revolutionären Kräfte“ bezeichnet.[xv]

Neben den „sozialistischen Staaten“ gehörten dazu auch sog. progressive, antiimperialistische oder patriotische arabische Regime – vor allem Ägypten unter Nasser, Nordjemen und Syrien. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus, der Volksrepublik Jemen und dem Überlaufen Ägyptens ins US-Lager, blieb über die Jahre nur Syrien als enger Verbündeter übrig, dem die PFLP unter Assad auch während der syrischen Revolution treu blieb. Hinzu kommt heute außerdem der Iran.

Im gesamten geostrategischen Denken der PFLP, im Kampf im Weltmaßstab stehen einander letztlich nicht zwei Klassen, nicht Bourgeoisie und Proletariat, gegenüber, sondern zwei „Lager“. Auch wenn die PFLP häufig vom Internationalismus spricht, so unterscheidet sich ihre Politik grundlegend vom proletarischem Internationalismus. Dieser geht nämlich vom Klassenkampf als internationalem aus – und damit von der Einheit der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist diese nie spontan gegeben – und kann es auch gar nicht sein – sondern sie muss vielmehr durch die bewusste Tat, das bewusste, theoretisch und programmatisch geleitete Eingreifen von Revolutionär:innen errungen werden, indem aus durchaus vorhandenen spontanen Tendenzen eine bewusste Bewegung wird. Deren höchster und für die internationale Revolution auch unerlässlicher Ausdruck ist die revolutionäre Arbeiter:inneninternationale – nicht eine Sammlung von nationalrevolutionären Bewegungen und staatskapitalistischen, bonapartistischen Regimen!

Diese stellt das direkte Gegenteil einer Arbeiter:inneninternationale dar, was sich besonders tragisch zeigt, wenn sich Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft dieser Länder gegen deren angeblich „progressiven“ Regime erheben. Die PFLP steht dann vor der Frage, sich entweder gegen die vorgeblich antiimperialistischen Regime zu wenden – oder diese und damit die konterrevolutionäre Unterdrückung der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.

Ihre eigene strategische Konzeption verweist genau in diese Richtung. Die Anpassung an die bonapartischen, kapitalistischen Regime zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Geschichte der PFLP. Sie folgt logisch aus einer falschen Analyse und Strategie, der Etappentheorie.

Die 1. Intifada

Doch mehr noch als alles andere hat im Grunde der bisherige Höhepunkt des Kampfes der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel die Politik der PFLP wie aller palästinensischen Organisationen auf den Prüfstand gestellt.

Die 1. Intifada brach Ende 1987 aus, nachdem die israelischen Streitkräfte vier Jugendliche im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza ermordet hatten. Zweifellos trug sie – wie alle Massenerhebungen – Züge eines spontanen Aufstandes, einer Massenrevolution, die alle Beteiligten in ihrem Umfang überraschte.

Doch es wäre eine verkürzte Analyse, die Intifada als Ausdruck „reiner Spontaneität“ zu begreifen. Erstens erschütterten seit 1967 immer wieder massive Aufstände, Streiks von Arbeiter:innen und Ladenbesitzer:innen die Westbank und Gaza. Zweitens wandte sich die Befreiungsbewegung schon vor der Intifada stärker der Bevölkerung in diesen Gebieten zu, auch weil die Guerillastrategie faktisch an ihre Grenzen stieß. Die  hatte als erste verstärkt illegale und halblegale Arbeit unter den Massen begonnen. Doch auch die PLO-Organisationen (Fatah, PFLP, DFPL) wandten sich dieser Arbeit schon vor der Intifada stärker zu.[xvi]

„Spätestens 1987 existierte überall in den besetzten Gebieten ein ganzes Netzwerk lokaler Organisationen, die in ihrer Gesamtheit eine komplette Infrastruktur bildeten: Gewerkschaften, Studentenbewegung, Frauenkomitees, medizinische Hilfskomitees etc. Alle PLO-Organisationen waren beteiligt. In der Frauen- und Arbeiterbewegung waren DFLP, PFLP und  führend, während Fatah ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Shabiba-Bewegung (eine Jugendbewegung) gelegt hatte. Offensichtlich gab es 1987 kaum ein Dorf, Lager oder Stadtviertel, wo die Shabiba nicht vertreten war.“[xvii]

Sowohl die Fatah als auch PFLP, DFLP und  genossen eine massive Unterstützung unter der aufständischen Bevölkerung. Deren Kader wurden von Beginn als deren Führung anerkannt. Im Januar 1988 bildeten diese vier Organisationen die „Vereinigte Nationale Führung der Intifada“ (VNFI), die in den folgenden Jahren die koordinierende, leitende Rolle übernahm.

Allerdings hatten die in den besetzten Gebieten arbeitenden Kräfte der PFLP (wie auch der DFLP, tw. auch der Fatah) einen weit größeren Spielraum gegenüber ihren Exilführungen. Auch die VNFI darf man sich keineswegs als „von außen“, also der PLO-Führung komplett gesteuert vorstellen. Die erste Intifada und die vorbereitende Organisationsarbeit brachten nicht nur Massenorganisationen hervor, sondern auch eine Führung der Bewegung, die zwar mit viel Respekt auf die Exilführungen blickte, aber auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit besaß.

Hinzu kam, dass sich in der ersten Intifada auch Komitees in verschiedenen Bereichen bildeten, die Aktionen koordinierten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung während der Generalstreiks und Ausstände sicherstellen sollten und so embryonale alternative staatliche Strukturen darstellten. Die Illegalisierung aller dieser Strukturen durch die israelische Besetzung im August 1988 stellte zweifellos einen bedeutenden Schlag gegen diese dar.

Im Grunde trug die Intifada alle Kennzeichen einer revolutionären Situation, sie war ein revolutionärer Massenaufstand. Doch es zeigten sich zugleich auch die politischen Schwächen der palästinensischen Linken.

Auch wenn PFLP (und DFLP) in den besetzten Gebieten wichtige Organisationsarbeit geleistet hatte, so widersprach die Intifada dem Revolutionsschema dieser Organisationen, die die Guerilla zur Hauptform des Kampfes erklärt hatten. Im Gegensatz dazu stellte die Intifada eine Bewegung dar, die alle Schichten der Bevölkerung – und auch die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel – im Kampf vereinte. Diese Tatsache erkannte im Nachhinein auch die PFLP-Führung selbst.

„Was den bewaffneten Kampf betrifft, so hat die PFLP ihn bis zur Intifada befürwortet. Beim bewaffneten Kampf sind es die Fedajin, die kämpfen, aber bei der Intifada ist es das ganze palästinensische Volk – Kinder, Frauen, Künstler, alle. Mit der Intifada hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es möglich ist, in einem Teil Palästinas Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.“[xviii]

Habasch bringt hier eigentlich eine der realen Grenzen der Guerillastrategie – die Verengung der Basis der Kämpfenden – auf den Punkt. Aber er und die PFLP bleiben beim Konstatieren der Fakten und einer Einstellung des Guerillakampfes stehen. Sie unterziehen jedoch die Gesamtstrategie der Organisation keiner kritischen Überprüfung und verzichten daher auf eine wirkliche Neubestimmung ihre Politik bis heute.

Verschärft wird dieses Problem durch das Festhalten an der Etappentheorie durch alle Strömungen der stalinistisch geprägten palästinensischen Linken hindurch, egal ob sie nun den bewaffneten Kampf führten oder nicht. In der Intifada treten deren politisch entwaffnende Konsequenzen besonders deutlich hervor. Die Bewegung eint ein Ziel, das Ende der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ostjerusalem.

Doch dieses wirft nicht nur die Frage auf, in welchem Verhältnis es zur Befreiung ganz Palästinas steht, sondern auch, welche Klasse in diesen befreiten Gebieten die Macht übernimmt, sollte der Abzug der zionistischen Besatzung erzwungen werden. Für die Fatah war die Frage immer klar. Es würde sich um ein bürgerliches Regime handeln und die Fatah hat auch seit Beginn der 1980er Jahre das besitzende Kleinbürger:innentum und die Kleinbourgeoisie aus den besetzten Gebieten erfolgreich für sich gewonnen.

Hinsichtlich des Klassencharakters des Regimes eines zukünftigen Palästina hatten PFLP, DFLP und  der Fatah jedoch nichts entgegenzusetzen, erklärten sie doch selbst, dass sich die Revolution zuerst auf die Lösung der nationalen Frage zu konzentrieren hätte, der alle anderen untergeordnet wären.

Daher verabsäumte es die palästinensische Linke, obwohl sie über Massenrückhalt und eine gut organisierte Bewegung verfügte, eine eigenständige Klassenpolitik in der Intifada zu verfolgen. Damit das Proletariat nämlich zur führenden Klasse werden kann, hätte es seine spezifischen Klasseninteressen offen verfolgen und vor allem darauf vorbereitet werden müssen, die Machtfrage in seinem Sinne durch die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu lösen. Ob diese in ganz Palästina oder zuerst nur in einzelnen Teilen möglich ist, ist dabei eine Frage des Kräfteverhältnisses, ebenso, wie prekär eine solche Form angesichts der Besatzung auch hätte sein mögen.

Doch die palästinensische Linke lehnte bewusst die direkte Verbindung des Kampfes um nationale Befreiung mit dem für ein sozialistisches Palästina ab, hielt an der Etappentheorie fest, statt sich ein Programm der permanenten Revolution zu eigen zu machen.

Diese führte auch mit dazu, dass sie schlecht auf den historischen Verrat der PLO-Führung unter Arafat vorbereitet war. Die  unterstützte das Osloer Abkommen, die DFLP spaltete sich entlang diese Frage. Die PFLP lehnte es korrekterweise von Beginn ab. Aber sie verfolgte selbst auch keine alternative politische Zielsetzung.

Das Osloer Abkommen und seine Folgen

So endet die erste Intifada schließlich im politischen Ausverkauf. Das erste Osloer Abkommen wurde 1993 vom damaligen PLO-Außenminister Abbas (nicht von der PLO selbst) ratifiziert. Es enthält die allgemeine, aber unkonkrete Vereinbarung, dass die Palästinenser:innen Westjordanland und Gaza als Staat übertragen kriegen sollten im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Der Status Jerusalems blieb ungeklärt und die Frage der Rückkehr der Vertriebenen sowie der Siedlungen im Westjordanland sollte bei zukünftigen Verhandlungen geklärt werden.

1995 folgte das zweite Osloer Abkommen, dem zufolge das Westjordanland in verschiedene Stufen der „Autonomie“ aufgeteilt wird, ins sog. A-Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, in B-Gebiete mit geteilter Kontrolle und C-Gebiete, die weiter direkt von der israelischen Besatzung kontrolliert werden.

Das Abkommen erwies sich schon in den 1990er Jahren als politisches Desaster. Die zionistische Rechte machte mit der Ermordung Rabins deutlich, dass sie selbst einen von Israel abhängigen, selbstständig nicht überlebensfähigen Reststaat Palästina nicht akzeptieren will. Die zionistische Regierung deckte den Siedlungsbau und Landraub weiter. Allein bis 2000 entstanden rund 200.000 weitere Siedlungen in der Westbank.

Von 2000 bis 2005 folgte als Reaktion auf diese Entwicklung und Provokationen durch Sharon die 2. Intifada, die jedoch ohne sichtbares Resultat für die Palästinenser:innen endete. Am Aufstand beteiligen sich PFLP, DFLP, der linke Flügel der Fatah (al-Aqsa-Märtyrerbrigaden) sowie Hamas und Islamischer Dschihad, die Fatahmehrheit und die Autonomiebehörde hingegen nicht. Faktisch gerieten sie zu einem verlängerten Arm der Besatzung und des Imperialismus.

Vom strategischen Bündnis mit Fatah zum Bündnis mit Hamas

Doch die Jahre brachten auch eine massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den Palästinenser:innen mit sich, wie die Wahlen 2006 deutlich machten. Die islamistische Hamas erringt dort eine Mehrheit von 74 der 132 Sitze, Fatah 45. Die palästinensische Linke erleidet ebenfalls eine Niederlage, die PFLP erhält 3 Sitze (4,2 % der Stimmen), das Bündnis aus DFLP, PVP (Palästinensische Volkspartei; ehemals: PKP) und FIDA (Palästinensische Demokratische Union) 2 Sitze.

Die Linke wird in der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas faktisch an den Rand gedrängt – und das ändert sich auch nach 2006, nach der faktischen Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht. Die Hamas gelangt aber zur führenden Kraft des nationalen Widerstandes.

Auf diese Entwicklung reagiert die PFLP (und im Grund auch die DFLP) durch eine Neuadjustierung der Etappentheorie und eines strategischen Bündnisses mit dem „Kleinbürger:innentum“. Während die Fatah weitgehend für den Befreiungskampf ausfällt (auch wenn die PFLP weiter in der Fatah-geführten PLO bleibt), tritt nun die Hamas als strategische Partnerin ins Rampenlicht. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die PFLP in einem, wie sie es selbst nennt, „strategischen Bündnis“ mit der Hamas.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Die Ablehnungsfront ist dabei keineswegs nur auf Organisationen in Palästina beschränkt. Sie erstreckt sich auch seit Jahren auf ein Bündnis mit den „antiimperialistischen“ Regimen in Damaskus und Teheran. Darin wird das islamistische Regime zu einem verlässlichen Verbündeten im Befreiungskampf verklärt, z. B. bei einem Treffen von PFLP und Hamas mit Vertreter:innen des Iran im Jahr 2017:

„Während viele Länder der Region versuchen, ihre Beziehungen zum zionistischen Regime zu normalisieren, ist der Iran der Vorkämpfer im Kampf gegen Israel und für die Befreiung Palästinas.“[xix]

Die PFLP und die DFPL bilden seit Jahren mit Iran, Syrien, Hamas und libanesischer Hisbollah die sog. „Achse des Widerstandes“. Am Beginn der syrischen Revolution bröckelte diese, da sich die Hamas auf die Seite der Aufständischen gegen Assad stellte. Nicht so die palästinensische Linke, sie hielt ihren Verbündeten die Treue und denunzierte die syrische Revolution als zionististische Verschwörung.

„Die linken und nationalistischen Strömungen der palästinensischen politischen Elite – wie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) – hielten an ihrer Unterstützung für Damaskus fest und erklärten, die syrische Revolution sei eine zionistische Verschwörung.“[xx]

Dementsprechend begrüßte die PFLP auch die Eroberung Aleppos durch die Truppen des Assadregimes als „bedeutenden Sieg“. Gegenüber The New Arab erklärte das Mitglied des PFLP-Politbüros, Kayed al-Ghoul, die Position seiner Organisation folgendermaßen: „Syrien zu unterstützen und die Ereignisse in Aleppo und anderen Städten als Teil einer Verschwörung zur Zersplitterung des syrischen Staates zu betrachten.“[xxi]

Diese Position stellt ohne Zweifel einen, wenn nicht den politischen Tiefpunkt der Politik der PFLP dar. Die willfährige Unterstützung der syrischen Konterrevolution folgt jedoch nicht nur einer obskuren Verschwörungstheorie, sondern auch der reaktionären Logik, die globale Auseinandersetzung als Kampf von „Lagern“ und nicht als internationalen Klassenkampf zu begreifen.

So wichtig und notwendig es daher ist, sich mit den Kämpfer:innen der PFLP und der gesamten Befreiungsbewegung gegen den zionistischen Staat zu solidarisieren und gegen ihre Kriminalisierung zu kämpfen, so unabdingbar ist aber auch eine marxistische, revolutionäre Kritik ihrer politischen Analyse, ihrer Programmatik, ihrer Strategie und Taktik. Nur ein Bruch mit der Etappentheorie und eine Politik, die sich auf Theorie und Programm der permanenten Revolution stützt, kann einen Ausweg weisen aus der Führungskrise der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.


Endnoten

[i] PFLP, The Strategy for the Liberation of Palestine, Foreign Language Press, 1917, Utrecht, ISBN 9781545142660

[ii] Ebenda, S. 7

[iii] Ebenda, S. 10

[iv] Lenin, Der Partisanenkrieg, in: LW 11, Seite S. 202 – 213

[v] Strategy, S. 44

[vi] Ebenda, S. 45

[vii] Ebenda, S. 47

[viii] https://viewpointmag.com/2021/12/11/the-palestinian-left-will-not-be-hijacked-a-critique-of-palestine-a-socialist-introduction/

[ix] Ebenda

[x] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 6

[xi] Ebenda, S. 8

[xii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 92

[xiii] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Lenin, Werke, Bd. 20, S. 19

[xiv] Ebenda, S. 20

[xv] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 5

[xvi] Siehe dazu auch Helga Baumgarten, Befreiung in den Staat. Palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/Main 1991, S. 270 – 310

[xvii] Ebenda, S. 289

[xviii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 93

[xix] https://en.irna.ir/news/82617068/Hamas-PFLP-thank-Iran-for-supporting-Palestinian-cause

[xx] https://www.aljazeera.com/opinions/2018/10/20/how-do-palestinians-see-the-syrian-war

[xxi] https://www.newarab.com/opinion/divisions-exposed-pro-hizballah-leftist-palestinians-hail-assads-victory




Linksradikale Bündnispolitik zwischen Sektierertum und Pragmatismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 281, April 2024

Auf den ersten Blick scheint Bündnispolitik eine einfache Sache zu sein. Zwei oder mehr Gruppierungen, Parteien, Organisationen schließlich sich für einen bestimmen gemeinsamen Zweck zusammen. Doch welchen Zweck verfolgen diese Bündnisse eigentlich? Geht es darum, ein bestimmtes gemeinsames Ziel durchzusetzen? Oder darum, eine längerfristige Einheit von „Revolutionär:innen“ in Form eines „revolutionären Bündnisses“ zu schaffen? Mit wem können diese eingegangen werden? Nur mit „Linken“? Mit welchen Klassenkräften? Nur mit der Basis oder auch mit der Führung reformistischer (bürgerlicher) Arbeiter:innenorganisationen? Oder sind für bestimmte Aktivitäten – z. B. im Kampf gegen den Faschismus – für uns sogar alle „Demokrat:innen“ Bündnispartner:innen? Wie weit kann sich ein solches Bündnis erstrecken? Nur für bestimmte Aktionen oder auch den Eintritt in eine Regierung?

Auf diese Fragen geben die verschiedenen Organisationen der deutschen Linken fast ebenso viele Antworten. Auf sich alleine gestellt kann keine linke Kraft etwas durchsetzen. Diese Binsenweisheit betrifft nicht nur die radikale Linke, sondern auch die reformistischen Organisationen (z. B. die Linkspartei), populistische Kräfte wie BSW, linke Sozialdemokrat:innen. Kein Wunder also, dass die Frage nach gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit in der „radikalen“ Linken, die selbst politisch, programmatisch und hinsichtlich ihres Klassenstandpunktes überaus heterogen ist, eng an „Bündnispolitik“ gekoppelt ist.

Und das durchaus mit Recht. Schließlich erfordern die Abwehr grundlegender politischer und wirtschaftlicher Angriffe wie auch die Erringung von Verbesserungen (Reformen) Massenkräfte, über die die radikale Linke schlichtweg nicht verfügt. Ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit stellt im Grunde kein Rätsel dar – und die Lösung desselben besteht nicht darin, dass die „radikale“ Linke für sich stark genug wird, etwas „alleine“ durchzusetzen.

Keine Bündnispolitik ist auch keine Lösung

Der Charme dieser Vorstellung, sofern man davon überhaupt sprechen kann, besteht wohl darin, dass man sich damit sämtliche Fragen von Bündnispolitik mit „nicht-revolutionären“, nicht „antikapitalistischen“ Kräften spart, diese allenfalls auf episodische Aktionen beschränkt und ansonsten hofft, irgendwann einmal so stark zu sein, wenn schon nicht die Welt selbst aus den Angeln heben, so doch seinen eigenen „Freiraum“ oder „Space“ verteidigen zu können.

Ironischerweise ähnelt diese linksradikale Vorstellung dem sozialdemokratischen Gradualismus mehr, als ihr lieb sein kann. So gingen die Parteien der Zweiten Internationale vor dem Ersten Weltkrieg davon aus, dass der Aufbau der eigenen, einheitlichen Arbeiter:innenbewegung schrittweise, aber faktisch unaufhaltsam so vorangehen würde, bis eine expandierende Gewerkschaftsbewegung, eine parlamentarisch und organisatorisch immer stärkere Partei sowie zahlreiche Vorfeldorganisationen dereinst so stark würden, dass  ihnen bei einer tiefen Krise der Gesellschaft die Macht als Mehrheit der Gesellschaft zufiele.

Die Vorstellung, sich selbst durch den Aufbau eigener „Gegenstrukturen“, durch eine „autonome“ Gegenwelt, Kiezarbeit oder den Aufbau „eigener“ Gewerkschaften, unabhängig von existierenden, wenn auch verbürokratisierten und sozialdemokratisch geprägten, aufzubauen und schließlich mehr und mehr „Gebiete“ für sich zu erringen, weiter zu expandieren, reproduziert im Grunde den sozialdemokratischen Gradualismus, wenn auch mit viel verbalradikalem Glitzern.

In beiden Fällen erscheint die Frage der Bündnispolitik und damit des Verhältnisses zu anderen Kräften der Arbeiter:innenbewegung, der gesellschaftlich Unterdrückten wie auch gegenüber klassenübergreifenden Bewegungen, die oft von kleinbürgerlichen oder gar bürgerlichen Kräften dominiert sind, allenfalls als Nebenfrage. „Revolutionäre“ oder „linksradikale“ Politik ist in diesem Kontext letztlich wesentlich selbstreferentiell, fokussiert sich im Grunde auf die Ausdehnung des eigenen Milieus, der eigenen Kiezstrukturen oder, im Falle des Anarchosyndikalismus, der eigenen Gewerkschaft.

Veränderte Lage und Fehler

Doch die Erfahrung zeigt, dass die Angriffe der herrschenden Klasse und der Rechtsruck diese „eigenen“ Strukturen mehr und mehr zurückdrängen. Dies führte dazu, dass viele linksradikale Gruppierungen einen Kurs auf eine „flexiblere“ Bündnispolitik eingeschlagen haben, wobei dann oft genug das selbstreferentielle Sektierertum in sein Gegenteil, nämlich Pragmatismus und Opportunismus, umschlägt. Häufig erleben wir zudem eine Mischung aus beiden Phänomenen.

So stellen sich gerade deutsche Linke, die Bündnisse schmieden wollen, oft nicht so sehr die Frage, welche Kräfte für eine bestimmte gemeinsame Aktion, eine Demonstration gewonnen werden können, sondern wer als möglicher Partner erst gar nicht infrage kommt. Andere wiederum gehen davon aus, dass Bündnisse beinhalten, dass die teilnehmenden Organisationen ihre Differenzen zumindest für dessen Dauer hintanstellen, ihre Partner:innen nicht öffentlich kritisieren.

Zumeist treten diese beiden Fehler kombiniert auf – und zwar nicht nur bei gesellschaftlich wenig relevanten Kleinstaktionen, sondern auch in den wenigen Fällen, wo die radikale Linke wirklich relevante Kampagnen auf die Beine stellt. So z. B. in Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Einerseits verteidigte die politisch maßgebliche Interventionistische Linke dort jahrelang eine Politik, die die Linkspartei nicht nur richtigerweise als Verbündete ins Boot holte, sondern zugleich auch vor jeder Kritik abschirmte. Sie verhielt sich opportunistisch gegenüber dem Reformismus. Gegenüber revolutionären Organisationen wie der Gruppe Arbeiter:innenmacht verhielt sie sich hingegen sektiererisch und führte einen regelrechten Kleinkrieg, um Diskussionen und demokratische Debatten über die Strategie von DWe abzuwürgen. Diese Politik war letztlich mitverantwortlich dafür, dass DWe trotz eines riesigen Abstimmungserfolges und einer breiten Aktivist:innenbasis keine Antwort auf die Taktik des rot-rot-grünen Senats (einschließlich der Linkspartei) hatte, die den Volksentscheid in einer sog. Expert:innenkommission politisch entsorgte.

Bedeutung

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Frage einer korrekten Bündnispolitik keineswegs nur eine von theoretischen Diskussionen ist, sondern trotz der Marginalisierung und geringen Größe der „radikalen Linken“ eine aktuelle darstellt. Daraus folgt die Notwendigkeit, diesen Themenkomplex systematischer zu diskutieren und fassen.

Es zeigt sich dabei, dass der Begriff „Bündnispolitik“ selbst ein oberflächlicher ist. Die Frage nach einer revolutionären Politik gegenüber anderen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung kann letztlich nur beantwortet werden, wenn wir sie im Rahmen des Klassenkampfes, des Kampfes um die sozialistische Revolution und Transformation der Gesellschaft begreifen.

Für Revolutionär:innen folgen die Prinzipien einer korrekten Bündnispolitik aus dem Verständnis des Klassenkampfes sowie des Verhältnisses zu anderen Organisationen der Bewegung der Lohnabhängigen, zu Parteien und Gewerkschaften.

Klasse und revolutionäre Organisation

Die Arbeiter:innenklasse tritt in den Klassenkampf immer schon als historisch geformte. Sie ist nie einheitlich, sondern schon aufgrund der Kapitalbewegung, die ihrer eigenen Formierung den Stempel aufdrückt, in sich differenziert. Hinzu kommt, dass das gesellschaftlich grundlegende Klassenverhältnis immer mit anderen Unterdrückungsverhältnissen verwoben ist und mit diesen reproduziert wird.

Schließlich ist jede Klasse auch ideologisch, politisch und gewerkschaftlich sowie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Klassen geformt. In Deutschland z. B. prägten (und prägen bis heute) der Reformismus der Sozialdemokratie, den die Linkspartei letztlich nur „links“ kopiert, sowie die Gewerkschaftsbürokratie die Arbeiter:innenklasse. Dies beinhaltet auch eine spezifische Form der Trennung zwischen ökonomischen und politischem Kampf. Die radikale Linke war gegenüber diesen Kräften über Jahrzehnte weitestgehend marginalisiert, was auch die relative Stärke kleinbürgerlicher Ideologien in ihren Organisationen erklärt.

Uns geht es an dieser Stelle jedoch nicht um eine detaillierte Analyse der deutschen Arbeiter:innenklasse, sondern vor allem um ein alle kapitalistischen Gesellschaften charakterisierendes Phänomen. Die Lohnabhängigen selbst sind politisch-ideologisch gespalten. Der Kampf gegen das Kapital und für politische Reformen (ganz zu schweigen von der Revolution) erfordert aber in allen seinen Formen eine größtmögliche Einheit. Das wird in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen unmittelbar nachvollziehbar. Kein Streik ist lange durchhaltbar, wenn ihm eine Mehrheit der Arbeiter:innen feindlich gegenübersteht.

Doch wie entsteht diese Einheit? Wären alle oder jedenfalls die überwiegende Mehrheit der Arbeiter:innen in einer revolutionären Partei vereinigt, so würde sich die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Organisationen nicht stellen. Aber diese Phase der alle Lohnabhängigen umfassenden Arbeiter:innenbewegung gab es allenfalls in Ansätzen in der vorimperialistischen Epoche. Mit der grundlegenden und historisch unwiderruflichen Trennung von revolutionär-kommunistischer Arbeiter:innenbewegung und Reformismus als bürgerlicher Kraft in der Arbeiter:innenbewegung, dessen Wurzeln selbst in der imperialistischen Ordnung liegen, ist diese Phase unwiederbringlich vorbei. Die langfristige, strategische Einheit von Revolutionär:innen und Reformist:innen ist in der imperialistischen Epoche utopisch und reaktionär, weil beide letztlich gegensätzliche Klassenstandpunkte vertreten – den Sturz des Kapitalismus oder dessen Verwaltung. Der Reformismus ist nicht einfach ein langsamerer Weg zum sozialistischen Ziel, sondern verteidigt vielmehr in allen entscheidenden großen Klassenkämpfen die bestehende Ordnung.

Doch revolutionäre Politik, also die kommunistischer Parteien (oder von Organisationen, die eine solche aufbauen wollen), kann ihr strategisches Ziel – die sozialistische Revolution und die Errichtung der Diktatur des Proletariats – letztlich nur erreichen, wenn sie die nicht-kommunistischen Arbeiter:innen für den gemeinsamen Kampf gegen das Kapital gewinnt, ihnen praktisch den bürgerlichen Charakter der Politik ihrer reformistischen Führungen vor Augen führt und so deren verräterische Praxis entlarvt.

Strategie und Taktik

Die Kommunistische Internationale hat diese Fragen der „Bündnispolitik“ unter Führung Lenins und Trotzkis beim Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale unter dem Begriff Arbeiter:inneneinheitsfront systematisiert. Dabei überwand sie zahlreiche linksradikale Fehler und Irrtümer, die sich jedoch mit der Degeneration der KI unter Sinowjew sowie unter Stalin wiederholten (z. B. in der sog. Dritten Periode), um schließlich durch die opportunistische Politik der Volksfront ersetzt zu werden.

Für das Verständnis der Einheitsfrontpolitik stellen die Debatten und Beschlüsse der ersten vier Kongresse der KI, Lenins Polemiken gegen den „Linksradikalismus“ sowie Trotzkis Arbeiten zur Einheitsfront (z. B. in den „Schriften über Deutschland“) einen unschätzbaren Fundus dar.

Dabei sind mehrere Punkte von entscheidender Bedeutung. In der KI wurden – anders als in der Zweiten Internationale – Fragen der Taktik im Rahmen der kommunistischen Strategie der Machteroberung des Proletariats systematisch behandelt. Dabei bleibt natürlich die Taktik immer der Strategie untergeordnet, was aber keineswegs bedeutet, dass taktische Fragen einen nebensächlichen Charakter trügen. Vielmehr bleibt das strategische Ziel unerreichbar, wenn der Weg dahin nicht durch eine korrekte Durchführung kommunistischer Taktiken beschritten wird. Ohne diese Konkretisierung und Vermittlung hängt die strategische Zielsetzung im luftleeren Raum, verkommt zu einem bloßen Bekenntnis.

Ziele der Einheitsfront

Für die KI verfolgt die Einheitsfronttaktik zwei Ziele. Einerseits die Herstellung der größtmöglichen Kampfeinheit aller Arbeiter:innenorganisationen. Andererseits die Entlarvung der reformistischen, kleinbürgerlichen, bürokratischen Führungen dieser Organisationen als Agent:innen der Bourgeoisie, die unfähig sind, das Proletariat zum Sieg zu führen.

Eine korrekte Anwendung der Einheitsfronttaktik darf dabei keines der beiden Ziele zum „eigentlichen“ oder gar alleinigen verklären. Eine Einheitsfronttaktik, die nur auf die Denunziation des Reformismus zielt, beispielsweise indem Forderungen zur Vorbedingung für den gemeinsamen Kampf gemacht werden, die reformistische Arbeiter:innen und Führer:innen ablehnen, weil sie Reformist:innen sind, ist nutzlos und schadet mehr, als sie nützt. So macht es keinen Sinn, die reformistischen Führungen dadurch vorzuführen zu wollen, dass man den Kampf für die Diktatur des Proletariats oder sozialistische Revolution zum „Programm der Einheitsfront“ machen will. Dies wird vielmehr von Führung wie Basis des Reformismus als Ultimatum begriffen werden. Es macht das Ziel der Einheitsfronttaktik – nämlich die reformistischen Arbeiter:innen durch die gemeinsame Aktion oder das Angebot dafür von der Untauglichkeit des Reformismus zu überzeugen – letztlich zur Vorbedingung für die Einheitsfront.

Ein umgekehrter Fehler bestände jedoch darin, einen Einheitsfrontvorschlag immer nur darauf zu begrenzen, was für die reformistischen Führungen annehmbar ist. So wäre es z. B. ein schwerer Fehler gewesen, im Kampf gegen die Rentenreform Macrons, einen Generalangriff auf die gesamte Arbeiter:innenklasse, dessen Abwehr einen Generalstreik erfordert hätte, auf die Generalstreiklosung zu verzichten oder diese nicht an die Führungen der Gewerkschaften zu richten, weil diese ja ohnehin dagegen wären. Kommunist:innen müssen vielmehr einen Einheitsfrontvorschlag für ein bestimmtes Ziel – in diesem Fall die Abwehr der Rentenkürzungen – damit verbinden, Kampfmethoden vorzuschlagen, die für sein Erreichen notwendig sind.

Es geht also nicht darum, immer die radikalste Aktionsform vorzuschlagen, sondern eine, die einem bestimmten Ziel angemessen ist. So wäre es z. B. albern, in jedem Tarifkampf auch gleich den Generalstreik zu fordern. Damit würden nicht die Bürokrat:innen entlarvt. Vielmehr erschienen die Revolutionär:innen in den Augen der Arbeiter:innen nur als Maulheld:innen und unverantwortliche Abenteuer:innen.

Führung und Basis

In jedem Fall ist es aber von grundlegender Bedeutung, Einheitsfrontangebote und Forderungen nicht nur an die Führungen der reformistischen Arbeiter:innenorganisationen, sondern auch an deren Basis zu richten. Umgekehrt stellt ein Vorschlag, der sich nur an die Basis richtet, die sog. „Einheitsfront von unten“, selbst einen ultimatistischen Bruch mit der gesamten Taktik dar. Ähnlich wie rein denunziatorische „Angebote“ setzt die Forderung an die Mitglieder der Linkspartei oder der SPD oder jeder anderen bürgerlichen Arbeiter:innenorganisation, ohne ihre Führung, ohne ihre Partei in ein Bündnis einzutreten, im Grunde den Bruch mit ihrer Organisation voraus.

Schließlich geht es auch darum, der jeweiligen Einheitsfront angemessene Formen zur Organisierung des Kampfes vorzuschlagen. So wäre es z. B. bei Streikkämpfen immer notwendig, die Frage von Belegschafts- und Abteilungsversammlungen sowie der Wahl und Abwählbarkeit von Streikkomitees aufzuwerfen, gewissermaßen der Basisstrukturen der Einheitsfront.

Unterschiedliche Formen

Da die Arbeiter:inneneinheitsfront sehr viele Formen annehmen kann, von einmaligen Aktionen (z. B. eine Solidaritätsdemonstration) bis hin zu längerfristig angelegten Formen (z. B. die Arbeiter:inneneinheitsfront gegen Faschismus, Aufbau von Selbstverteidigungsorganen) und sie zudem in sehr verschiedenen Klassenkampfsituationen angewandt wird, gibt es kein festgelegtes Programm dafür. Um welche Forderungen eine solche gebildet werden soll und was dabei im Vordergrund steht, hängt vielmehr von der Klassenkampfsituation ab. In jedem Fall sollten Revolutionär:innen die Einheitsfront auf den Kampf um klar umrissene, konkrete Ziele und Forderungen konzentrieren, ja beschränken.

Das Ziel der Einheitsfront bzw. der Anwendung der Einheitsfronttaktik besteht nicht darin, einen möglichst langen Katalog gemeinsamer Ziele zu formulieren, sondern darin, eine verbindliche und überprüfbare Aktion durchzuführen. Weniger ist hier in der Regel besser. Lange Forderungskataloge, die neben den eigentlichen Aktionszielen zahlreiche andere an sich wünschenswerte, gar radikale, antikapitalistische Formulierungen enthalten, bringen die Aktion nicht weiter. Entweder liefern sie den Reformist:innen einen Vorwand, sich nicht zu beteiligen. Oder sie erlauben ihnen, sich durch verbale Bekenntnisse als linker hinzustellen, als sie sind. Hier schlägt die Absicht, einen radikalen Aufruf zu verbreiten, ungewollt in eine politische Hilfeleistung für den Reformismus um.

Massenorganisationen

Entscheidend bei der Einheitsfronttaktik ist schließlich auch, dass sie sich an Massenorganisationen richtet. Für die KI bezog sie sich vor allem auf die reformistischen, sozialchauvinistischen Parteien und die von ihnen geführten Gewerkschaften. Die Einheitsfront ist ausdrücklich kein Personenbündnis oder eine Sammlung möglichst vieler Individuen. Die Tatsache, dass die Einheitsfront auch erklärten Feind:innen der Revolution vorgeschlagen wird und mit ihnen eingegangen werden kann und soll, führte und führt immer wieder zu Vorbehalten gegenüber dieser Taktik. Schließlich hatte die deutsche Sozialdemokratie nicht nur den imperialistischen Krieg unterstützt, sondern maßgeblich zur Niederschlagung der Revolution samt der Ermordung von Luxemburg, Liebknecht und Tausender revolutionärer Arbeiter:innen beigetragen. Diese Kritik, so die KI, dürfen Revolutionär:innen natürlich nie verschweigen. Aber die Frage der Einheitsfront, die, so Lenin, auch mit des Teufels Großmutter möglich wäre, wenn sie eine verbürgerlichte, proimperialistische Arbeiter:innenpartei führen würde, bezieht sich letztlich darauf, wie Kommunist:innen die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und vor allem ihren reformistischen Teil für ihre Programmatik gewinnen können. Wie lange die Taktik notwendig bleibt, hängt nicht davon ab, wie viele Verbrechen die reformistischen Führungen schon begangen haben, sondern davon, wie lange sie sich einen Einfluss über einen bedeutenden Teil der Arbeiter:innenklasse bewahren können.

Wenn wir diese historischen Lehren heute anwenden wollen, so müssen wir auch verstehen, dass die Grundprinzipien der Einheitsfrontmethode für kommunistische Parteien, nicht für Propagandagruppen entwickelt wurden. Eine Arbeiter:inneneinheitsfront im eigentlichen Sinn ist ein Abkommen zwischen revolutionären und reformistischen Massenorganisationen, nicht zwischen kleinen Gruppen. Denn nur Erstere sind in der Lage, auch wirklich die gemeinsamen Ziele gegenüber dem Klassenfeind durchzusetzen, weil sie – im Gegensatz zu kleinen Gruppen – über die dazu nötigen Machtmittel verfügen.

Der KI war darüber hinaus bewusst, dass die Reformist:innen in der großen Mehrzahl der Fälle eine Einheitsfront erst gar nicht eingehen würden, dass ihre Führungen es vorziehen, den Kampf zu hintertreiben oder mit offen bürgerlichen Kräften zu paktieren, statt mit den Kommunist:innen gemeinsame Sache zu machen. Darin drückt sich die vom reformistischen Standpunkt aus durchaus nachvollziehbare, antirevolutionäre Position aus, dass der gemeinsame Kampf mit Kommunist:innen die reformistischen Arbeiter:innen deren Argumenten stärker aussetzt, die Kommunist:innen den Unmut der reformistischen Arbeiter:innen aufgreifen. Daher antworteten sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaftsführungen in der Geschichte oft ablehnend auf kommunistische Einheitsfrontangebote. Doch dieses Nichtzustandekommen macht die Taktik keineswegs nutzlos, vielmehr erstreckt sie sich auch auf diesen vorbereitenden Weg. Lehnen nämlich die reformistischen Führer:innen einen in den Augen der reformistischen Arbeiter:innen vernünftigen und ernsthaften Vorschlag ab (oder gehen sie gar repressiv gegen Mitglieder vor, die für die Einheitsfront eintreten), so nützt auch das den Kommunist:innen.

Umgekehrt kann eine Einheitsfront von Kommunist:innen auf keinen Fall zurückgewiesen werden, weil die Reformist:innen bei einem erfolgreichen Kampf auch an Einfluss gewinnen könnten. In manchen Fällen mag das durchaus der Fall sein. Doch kommt dies einem klassenpolitischen Tunnelblick gleich, zumal in Krisenperioden. Nehmen wir einmal an, die Gewerkschaftsbürokratie würde unter dem Druck von unten und einer sich formierenden klassenkämpferischen Opposition einen erfolgreichen Streik führen müssen und echte Lohnzuwächse oder eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich erzielen. Das Prestige dieser Führung würde steigen, eventuell auch die Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems, weil man ja eine erfolgreiche Reform durchgesetzt hat.

Aber es würde auch das Selbstvertrauen und -bewusstsein der Arbeiter:innen in diesem Wirtschaftszweig sowie der gesamten Klasse heben. Gleichzeitig würde sich die herrschende Klasse, die ohnedies unter verschärfter globaler Konkurrenz steht, mit einem solchen Abkommen nicht abfinden wollen, sondern möglichst rasch versuchen, den Erfolg rückgängig zu machen und den Arbeiter:innen eine Niederlage beizufügen. Die reformistischen Führer:innen würden so von allen Seiten unter Druck geraten und die Aufgabe der Revolutionär:innen bestünde darin, diesen durch eine systematische Einheitsfrontpolitik zu verstärken und die Arbeiter:innen auf die nächste Runde des Kampfes vorzubereiten. Denn auch wenn reformistische und bürokratische Führungen durchaus an der Spitze erfolgreicher Teilkämpfe stehen können, so lässt die aktuelle Lage nicht zu, dass sich ein längerfristiges System des sozialpartnerschaftlichen „Klassenausgleichs“ wieder stabilisiert.

Und genau darin – diese Teilkämpfe als Teil eines längerfristigen Ringens um den Sozialismus zu begreifen und führen – unterscheidet sich die revolutionäre von der reformistischen Strategie. In diesem Kontext bildet die Einheitsfronttaktik historisch wie aktuell ein unerlässliches Mittel des Kampfes für die Revolution.

Zu Recht wurde die Einheitsfrontmethode oft mit der militärischen Metapher „Getrennt marschieren – vereint schlagen!“ zusammengefasst. Sie stellt eine flexible, sehr variantenreiche Taktik der gemeinsamen, einheitlichen Aktion gegen den Klassenfeind dar. Zugleich erfordert sie jedoch unbedingt, dass Revolutionär:innen in keiner Phase – auch nicht in der gemeinsamen Aktion – ihre eigentlichen Ziele vor den Massen verbergen und auf die notwendige und berechtigte Kritik an nicht-revolutionären Verbündeten verzichten. Einheitsfront und Propagandafreiheit müssen vielmehr Hand in Hand gehen. Nur so können die beiden Ziele dieser Taktik – größtmögliche Einheit gegen das Kapital und Entlarvung der reformistischen Führungen – erreicht werden. Nur so kann die Taktik als unerlässliches Werkzeug zum Aufbau einer revolutionären Partei fungieren.

Anhang: Einheitsfront und Propagandagruppen

Die Einheitsfronttaktik im eigentlichen Sinn ist die einer kommunistischen Partei gegenüber Massenorganisationen. In Deutschland befindet sich die radikale Linke seit Jahren in einem Zustand der Marginalisierung, der es ihr in der Regel verunmöglicht, Massenorganisationen unter Druck zu setzen oder gar zur Aktion zu zwingen. Dies ist allenfalls möglich, wenn es größere gesellschaftliche Bewegungen gibt und kleinere Gruppen ihre Kräfte bündeln, um Druck auf Massenorganisationen für bestimmte, spezifische Forderungen auszuüben.

Unabhängig davon besteht für Vorformen revolutionärer Organisationen auch immer die Pflicht zu skizzieren, welche Taktiken, welche Bündnisse, welche Forderungen und Aktionsformen notwendig wären, um zentrale gesellschaftliche Kämpfe zum Erfolg zu führen. Das schließt notwendigerweise die Propagierung der Einheitsfronttaktik ein, d. h. eine Skizze, welche Massenkräfte in Bewegung gesetzt, welche Forderungen gegenüber bestehenden Massenorganisationen erhoben werden müssen, um diese in Bewegung zu bringen. Ansonsten bleibt die Propaganda letztlich abstrakt. Die Erarbeitung und Herleitung eines richtigen Verständnisses der Einheitsfrontpolitik ist selbst ein unerlässlicher Bestandteil dieser Arbeit.

Die deutsche radikale Linke will davon in der Regel jedoch nichts wissen. Das spiegelt selbst die Isolierung von der Arbeiter:innenklasse wider, die sich nicht nur auf politischer, sondern auch auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene offenbart. Hinzu kommt, dass ein Teil der Linken dieses Problem durch Anpassung an die Apparate (Entrismus in DIE LINKE, Posten in den unteren Rängen der Gewerkschaftsbürokratie, Versorgungsposten in der akademischen Welt) löst. Dies gilt anderen Teilen der Linken durchaus nachvollziehbar als abschreckendes Beispiel.

Daher verfällt ein anderer, scheinbar radikalerer Teil der deutschen Linken auf den ultralinken Fehler, am liebsten Bündnisse mit sich selbst zu machen, bis hin zu sog. „revolutionären Bündnissen“. Für die Tradition der KI stellen diese eigentlich ein Unding dar, bezieht sich doch das eigentliche Problem der gesamten Einheitsfrontpolitik auf das Verhältnis von revolutionären zu nicht-revolutionären, bürgerlichen, letztlich oft konterrevolutionären Arbeiter:innenorganisationen.

Nehmen wir das „revolutionäre“, „linksradikale“ Bündnis beim Wort, so handelt es sich um keine Einheitsfront. Sollte sich ein solches Bündnis als revolutionär bezeichnen, so wirft das unmittelbar die Frage auf, was eigentlich „revolutionär“ bedeutet. Sollte es wirklich so viele Gemeinsamkeiten geben, dass Übereinstimmung nicht nur bezüglich des allgemeinen Zieles, sondern auch zu vielen grundlegenden theoretischen Fragen, zur Einschätzung der Weltlage, zu programmatischen und taktischen Schlüsselfragen (Krieg, Krise, Taktik gegenüber Gewerkschaften und anderen Arbeiter:innenorganisationen, sozialer Unterdrückung, Übergangsmethode usw.) besteht, so müssten sich die in einem solchen Bündnis versammelten Gruppen nicht die Frage nach einem Bündnis, sondern nach einer programmatischen Diskussion mit den Ziel der revolutionären Vereinigung stellen.

Ein Blick auf die meisten „radikalen“ oder „antikapitalistischen“ Bündnisse zeigt aber, dass die Gruppen darin im Grund nur ein Bekenntnis zur „Revolution“ oder einer „anderen Gesellschaft“ eint, ansonsten aber grundlegende Differenzen vorherrschen. Es handelt sich um eine Pseudoeinheit, die weder für den konkreten Kampf hilfreich ist noch zur politischen Klärung beiträgt. Im schlimmsten Fall ist es ein politisches Stillhalteabkommen, bei dem falsche Programmatik und Politik der „Bündnispartner:innen“ nicht weiter kritisiert werden.

Im Grunde legen alle solche Bündnisse immer eine Tendenz zu einem Propagandablock und politischen Stillhalteabkommen politisch-ideologisch weit entfernter oder gar gegensätzlicher Gruppen an den Tag. Sie werden direkt kontraproduktiv für den Klassenkampf und daher für Kommunist:innen unzulässig, wenn sie sich als Alternative zur Gewinnung von Massenorganisationen für den Kampf betrachten.

Bündnisse und Initiativen auch kleiner linker Gruppen können jedoch eine fortschrittliche Rolle spielen, wenn sie nicht einfach das bleiben wollen, was sie sind. So waren verschiedene kleinere linke Gruppen und die Gewerkschaftslinke Anfang des Jahrhunderts im Anschluss an die Bewegung gegen Hartz IV in Aktionskonferenzen in der Lage, große Proteste gegen die Angriffe der Regierung Schröder/Fischer zu organisieren. Diese mündeten in einer bundesweiten Demo gegen Sozialabbau mit 100.000 Teilnehmer:innen, die ihrerseits den DGB zu regionalen Demonstrationen mit weit über eine halben Million Gewerkschafter:innen zwang, wenn auch nur einmalig. Auch die Bildungsstreikbewegung ging ursprünglich von kleineren Gruppen und Bündnissen aus, zwang aber Student:innenvertretungen und größere Organisationen zu Mobilisierungen, an denen sich bundesweit weit mehr als 100.000 Jugendliche beteiligten.

Ein weiteres, wenn auch weniger spektakuläres Beispiel dafür sind klassenkämpferische Blöcke am Ersten Mai. Sie stellen Mittel dar, um einen gewissen Einfluss auf gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen zu nehmen und diese mit einer weitergehenden Perspektive zu konfrontieren. Daher arbeiten wir auch in der VKG, die selbst sowohl Züge eines linken Bündnisses trägt, zugleich aber den Keim einer klassenkämpferischen Basisbewegung, einer Art Einheitsfront gegen die Bürokratie in den Betrieben und Gewerkschaften darstellt. In dem Maße, in dem sie die Gewinnung der Massenorganisationen der Arbeiter:innen für die jeweiligen Ziele des Kampfes in den Vordergrund rücken und, wie im Falle der VKG, die klassenkämpferische, antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften, können auch Bündnisse von Propagandagruppen als Formen der Einheitsfront verstanden werden. Es muss aber immer bewusst sein, dass diese Miniaturfronten nur einen schwachen Keim dafür pflanzen können. Unter dieser Voraussetzung aber können sie zum wirklichen Mittel geraten, damit auch kleine Gruppierungen in der Lage sind, Massenkräfte in die Aktion zu zwingen, sodass die Keimform zum Mittel wird, wirkliche Einheitsfronten der Arbeiter:innen und Unterdrückten herzustellen. Dadurch können auch kämpfende Propagandagruppen einen Faktor bei größeren Mobilisierungen darstellen und eine aktive Rolle darin spielen.




Den Rechtsruck aufhalten – aber wie?

Emilia Sommer, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 12, März 2024

Die Umfragewerte der AfD sind so hoch wie nie. Sie stellt zum ersten Mal Bürgermeister:innen und plant auf Geheimtreffen massenhafte Abschiebungen. Gleichzeitig verabschiedete die Regierung ein Rückführungsgesetz, welchen ebendies erleichtert, und der  deutsche Staat geht mit extremer Gewalt gegen palästinasolidarische Meenschen vor, führt Razzien durch und kriminalisiert Aktivist:innen. Auch wenn sie sich aktuell medienwirksam auf den Anti-AfD-Protesten zeigt, ist klar, dass die Ampel-Regierung mit ihrer Umsetzung rechter Forderungen den Rechtsruck aktiv befeuert und den Aufstieg von AfD & Co mitermöglicht.

Ein internationales Problem

Auch international ist der Rechtsruck nicht zu übersehen: Ob Fratelli d’Italia in Italien, Geert Wilders in den Niederlanden, Milei in Argentinien oder die rechtspopulistischen „Schwedendemokraten“, alle zeigen, dass rechte Regierungen auf dem Vormarsch sind und eine kämpferische linke Perspektive noch immer auf sich warten lässt. Dabei schüren sie nicht nur Rassismus, sondern bringen auch für Frauen und Queers einen Rollback mit sich. So erließ  2020 das polnische oberste Gericht ein nahezu vollständiges Verbot von  Schwangerschaftsabbrüchen, viele US-amerikanische Bundesstaaten zogen nach und auch, wenn es in Deutschland seit knapp zwei Jahren nicht mehr strafbar ist, warten wir vergeblich auf Streichung des § 218, der diese nach wie vor kriminalisiert und lediglich duldet trotz großer Ankündigungen der Ampel. Doch die Liste geht noch weiter: In Italien stellte die Regierung kürzlich die Geburtsurkunden von Kindern in Regenbogenfamilien in Frage – also gleichgeschlechtlicher Eltern. Das Ziel: Nur der „leibliche“ Elternteil soll anerkannt bleiben. Dem oder der Partner:in wird demnach der Elternstatus entzogen. Das ungarische Parlament geht sogar so weit, ein Gesetz zu erlassen, welches dazu ermuntert, gleichgeschlechtliche Eltern wegen Verletzung der „verfassungsrechtlich anerkannten Rolle von Ehe und Familie“ bei den örtlichen Strafverfolgungsbehörden zu melden. Neben der Anzeige von Regenbogenfamilien erlaubt das Gesetz auch die anonyme Anzeige von „jedem/r, der/die die wahre Bedeutung von Familien, die in der ungarischen Verfassung definiert ist, leugnet oder ändert“.  All das führt uns zu der Frage: Was tun? So weitergehen kann es schließlich nicht. Doch bevor wir dazu kommen, müssen wir zuerst kurz anschauen, woher der Rechtsruck kommt und warum aktuell so viele rechts wählen.

Krise und Rechtsruck: die Ursache kennen

Dazu müssen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen: Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 hat sich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalisten:innen und ihren Staaten verschärft. Es kam zu einer massiven Konzentration von Kapital. Gerade die größeren Monopole konnten davon profitieren, während kleinere Unternehmen nicht mithalten konnten. Kleinere Unternehmer:innen, auch gerne als Mittelstand bezeichnet, haben Angst, ihre Stellung zu verlieren und pleitezugehen. Getrieben von der Angst vor sozialem Abstieg fangen sie an, laut herumzubrüllen: Protektionismus, Nationalchauvinismus, Standortborniertheit, das sind ihre Argumente, um sich zu schützen. Kurz gesagt: Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen, um nicht ihren Reichtum zu verlieren. Sie wollen den globalen Kapitalismus also auf reaktionäre Art bekämpfen. Mit der Fokussierung auf Nationalstaat und Protektionismus geht auch einher, dass das Ideal der „bürgerlichen Familie“ gestärkt werden muss. Denn im Kapitalismus ist die Arbeiter:innenfamilie der Ort, wo unbezahlte Reproduktionsarbeit stattfindet. Ob nun Kindererziehung, Altenpflege, Waschen oder Kochen – all das reproduziert die Arbeitskraft der einzelnen Arbeiter:innen und sorgt gleichzeitig dafür, dass dem Kapital die Arbeitskraft nicht ausgeht. Oftmals wird diese unbezahlte Hausarbeit von Frauen verrichtet. Diese Arbeitsteilung wird dadurch gefestigt, dass sie weniger Lohn als Männer erhalten und sie somit nach einer Schwangerschaft eher zu Hause bleiben. So verdienen sie beispielsweise im Schnitt immer noch weniger als Männer trotz öffentlichem Diskurses über den Gender Pay Gap, machen deutlich mehr der Beschäftigten in sozialen Berufen aus und arbeiten immer noch doppelt so lang im Haushalt wie Männer. Im Kontrast dazu stehen erkämpfte Rechte von Frauen und LGBTIAs. Ob nun Legalisierung von Homosexualität, die Gleichstellungsgesetze, das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper – all das lehnen die Rechten mit aller Macht ab. Das traditionelle Bild der Frau als Mutter, emotionale Versorgerin und Pflegende trägt also aktiv zur Profitmaximierung bei, Sexismus hat eine materielle Grundlage und queere Partner:innenschaften, Identitäten und Familien stellen dieses klassische Bild infrage.

Warum wählen aktuell so viele Menschen rechts?

Natürlich gibt es dafür mehrere Gründe. An dieser Stelle wollen wir uns jedoch auf einen konzentrieren – die Finanzkrise 2007/2008. Im Rahmen dieser nahm nicht nur die Konkurrenz zwischen einzelnen Kapitalfraktionen zu. Es kam auch zu einer wachsenden Verelendung der Arbeiter:innenklasse. Damals wurden die Kosten der Krise auf diese abgewälzt: Viele wurden entlassen, vielerorts sind Löhne nicht gestiegen, während zugleich die Lebenshaltungskosten in die Höhe kletterten. Dagegen passiert ist nicht viel. Massenproteste wurden im Namen der Sozialpartnerschaft klein gehalten oder konnten nicht gewonnen werden wie in Griechenland. Das hat viele enttäuscht und so wendeten sie sich beispielsweise der AfD zu, die sich als Alternative zu den etablierten Parteien mittels Ablehnung der EU und rassistischer Hetze darstellen konnte. Doch statt dem was entgegenzusetzen, gab es eine Verschiebung nach rechts. Viele Parteien haben sich vor den Karren spannen lassen. Während Rechtspopulist:innen hetzten, verabschiedeten sie Gesetze und stimmten in den Chor mit ein. Vorbei ist die Willkommenskultur, jetzt haben wir einen Olaf Scholz der sagt „Wir müssen endlich konsequent abschieben”. Das ist kein Zufall: Getrieben von der Angst vor Wähler:innenverlusten bildet Rassismus gleichzeitig ein gutes Mittel, um von Einsparungen und fehlenden Lohnerhöhungen abzulenken. Migrant:innen werden zum Problem gemacht, nicht nicht die Unterordnung aller politischen Ziele unter die Interessen des Kapitals. Die Krise im Zuge der Pandemie befeuerte diese Entwicklung erneut. Doch so abgefuckt diese Entwicklung ist: Es liegt in unseren Händen, etwas dagegen zu tun. Aber was braucht es, um den Rechtsruck aufzuhalten?

Gemeinsam gegen den Rechtsruck!

Um den Vormarsch der Rechten zu stoppen, müssen wir eine Bewegung aufbauen. Dabei braucht es nicht nur einzelne Mobilisierungen, bei denen sich Regierungsvertreter:innen, die letzten Endes den Aufstieg der AfD mit zu verantworten haben, ggenseitig auf die Schultern klopfen können ganz nach dem Motto: „Jetzt waren wir auch im Widerstand!”, während sie einen Atemzug später Gesetze verabschieden, die mehr von uns abschieben. Wir brauchen mehr:

1. Raus aus der Defensive: Gegen  Sparpolitik und soziale Unterdrückung!

Statt sich einfach nur an den Rechten abzuarbeiten und auf diese zu reagieren, müssen wir konkrete Verbesserungen erkämpfen. Das heißt, wir sind nicht nur gegen Abschiebungen, sondern für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle. Wir fordern nicht nur Abrüstung, sondern lehnen jede Finanzierung des staatlichen Gewaltmonopols, also der Polizei und Bundeswehr, getreu dem Motto, „Keinen Cent für Militarismus und Repression“ ab. Auch treten wir nicht nur gegen die zahlreichen Sparmaßnahmen, sondern für den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus, die Enteignung der Wohnungsspekulation, der großen Banken und Konzerne ein, für die Finanzierung unseres Gesundheits- und Bildungssystems durch Besteuerung von Profit und Vermögen der Reichen – unter Kontrolle der Arbeiter:innen, Mieter:innen, Lehrenden und Lernenden. Dabei ist es zentral, daran anzusetzen, was den Rechtsruck befeuert: Sparpolitik und Sozialpartnerschaft. Allerdings darf man auch nicht der Illusion verfallen, dass es nur ausreicht, die „sozialen Fragen“ zu betonen. Diese Forderungen müssen konsequent mit Antirassismus und -sexismus verbunden werden, denn nur in praktischen Kämpfen kann man den sich etablierenden Rassismus zu beseitigen anfangen. Widmet man sich in der jetzigen Situation nur den sozialen Fragen, vergisst man, dass soziale Unterdrückung spaltet, und kann sie schlechter bekämpfen:

  • Investitionen in Bildung, Gesundheit und Soziales, finanziert durch die Gewinne der Reichen, die aktuell noch einmal so richtig Gewinn aus der Krise ziehen!
  • Massive Lohnerhöhung und automatischer Inflationsausgleich in Form einer gleitende Lohnskala!

2. Druck ausüben und klaren Klassenstandpunkt beziehen

Breite Proteste, wie wir sie mit #wirsinddiebrandmauer sehen, scheinen auf den ersten Blick wünschenswert. Doch die große Einheit, die die scheinbar größte Stärke des Protestes ist, macht gleichzeitig ihre größte Schwäche aus. Doch uns helfen weder Versammlung aller linken Kleinstgruppen, die die besten Forderungen aufwerfen, aber keine reale Verankerung auf die Straße bringen, noch riesige Proteste, die nur abstrakte, verwaschene Parolen wie „Menschenwürde” und „Toleranz” vor sich her tragen.

Deswegen treten wir für ein Bündnis vor allem aus den Organisationen der Arbeiter:innenklasse, also Gewerkschaften, Sozialdemokratie und linken Reformist:innen, ein. Diese in Bewegung zu setzen, ist zentral, da sie einen Großteil der organisierten Arbeiter:innen hinter sich herführen. Das ist ein entscheidender Punkt, wenn es darum geht, Verbesserungen zu erkämpfen. Dies wird nicht nur mittels Demonstrationen passieren, sondern man muss beispielsweise mittels Streiks Druck ausüben. Das heißt nicht, dass Kräfte wie die Grünen nicht mitlaufen können – nur sollte man für deren Beteiligung keine Kompromisse eingehen. Denn Rassismus und Sexismus sind nicht einfach nur beschissen. Sie schwächen auch das objektive Interesse aller Arbeiter:innen. Anstatt zusammen für eine bessere Lebensgrundlageeinzutreten, bekämpft man sich gegenseitig („Teile und herrsche!“). Doch diese in Bewegung zu setzen, ist gar nicht so einfach. Deswegen muss man versuchen, in bestehenden Proteste zu intervenieren, und klar aufzeigen: Ihr wollt den Rechtsruck aufhalten? Dann lasst uns Verbesserungen für alle erkämpfen und mobilisiert richtig dafür! Wir brauchen nicht nur Floskeln, sondern konkrete Aktionen!

Um das zu ermöglichen, setzen wir uns im Rahmen solcher Bündnisse – auch Einheitsfronent genannt – für volle Kritik- und Propagandafreiheit ein. Denn es muss möglich sein, gemeinsam Proteste zu organisieren und gleichzeitig Unterschiede sowie Differenzen zu äußern, damit auch innerhalb der gesamten Bewegung politische Vorschläge diskutiert werden.

3. Rein in den Alltag: Für eine Basisbewegung an Schulen, Unis und in Betrieben!

Große Demonstrationen und Kundgebungen sind gut, aber reichen bei weitem nicht aus. Sie mögen vielleicht jenen, die schon überzeugt sind, Kraft geben. Aber das Ziel bleibt jedoch, mehr Menschen zu erreichen und überzeugen. Stattfinden kann das, indem man Kämpfe um reale Verbesserungen für alle organisieren hilft und diese an jene Orte trägt, wo wir uns tagtäglich aufhalten müssen: Schulen, Unis und Betriebe. Demonstrationen oder Kundgebungen können als Aufhängerinnen genutzt werden, um Vollversammlungen vor Ort zu organisieren, Aktionskomittees zu bilden, die die Forderungen der Bewegung erklären und gleichzeitig mit Problemen vor Ort verbinden. Deswegen ist es zentral, dass Organisationen, die den Protest unterstützen, nicht nur einen Aufruf unterzeichnen, Geld spenden und eine Pressemitteilung herausgeben, sondern auch ihre Mitgliedschaft dazu aufrufen, aktiv an Schulen, Unis und in Betrieben zu mobilisieren.

4. International is’ Muss!

Der Rechtsruck ist nicht nur ein deutsches, sondern internationales Problem. Hinzu kommt, dass mit Deals zwischen unterschiedlichen Ländern oder gemeinsamen „Initiativen“ wie Frontex vor allem imperialistische Länder versuchen, sich die Probleme der Geflüchteten vom Leib zu halten. Wenn wir uns dem Rechtsruck entgegenstellen, Festungen wie die Europas erfolgreich einreißen wollen, bedarf es mehr als einer Bewegung in einem Land. Deswegen müssen wir das Ziel verfolgen, gemeinsame Forderungen und Aktionen über die nationalen Grenzen hinaus aufzustellen. Das kann anfangen, indem man gemeinsame Aktionstage plant und schließlich gemeinsame Strategie- und Aktionskonferenzen organisiert, in denen Aktivist:innen gemeinsam über die Perspektive der Bewegung entscheiden.

Bewegung alleine reicht nicht!

Doch die Aufgabenliste endet für uns damit nicht: Bewegung alleine reicht nicht aus. Sie kann es  nicht schaffen, die Wurzeln von sozialer Unterdrückung wie Rassismus, Sexismus oder LGBTIA+-Diskriminierung auszureißen, da diese mit dem kapitalistischen System verwoben sind. Deswegen besteht die Aufgabe für Revolutionär:innen innerhalb dieser Bewegung darin, einen klaren antikapitalistischen, internationalistischen Pol zu bilden und eine deutliche Perspektive aufzuzeigen. Wir treten für Verbesserungen im Hier und Jetzt ein, müssen aber gleichzeitig den Weg aufzeigen, wie wir zu einer sozialistischen Gesellschaft kommen. Deswegen werfen wir auf, dass bei Finanzierungsfragen dies durch Besteuerung der Reichen oder Enteignung passieren muss sowie die Kontrolle über Verbesserungen und, wie diese umgesetzt werden, bei Arbeiter:innen und Unterdrückten liegen sollte. Um dies zu realisieren, braucht es unserer Meinung nach eine internationale Organisation mit einem revolutionären Programm, das deutlich macht, dass es keine Spaltung aufgrund Herkunft, Geschlecht, Alter oder Sexualität geben darf, und das aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Nur so können wir unserer Unterdrückung auch in der Arbeiter:innenbewegung selbst entgegentreten und gleichzeitig dem Rechtsruck die Stirn bieten.

Wir fordern deshalb:

  • Aufbau einer antifaschistischen und internationalen Einheitsfront aus allen linken Organisationen und solchen der Arbeiter:innenklasse! Offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle!
  • Kampf dem Rechtsruck heißt Kampf dem Kapital: Für ein revolutionäres Programm der Jugend und der Arbeiter:innenklasse!



Kritik des transnationalen Feminismus

Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Transnationaler Feminismus? Viele, insbesondere im deutschsprachigen Raum, haben diesen Begriff wahrscheinlich noch nicht gehört. Doch Autorinnen wie Arruza, Bhattacharya und Fraser, die „Feminismus für die 99%“ verfasst haben oder Verónica Gago, die in„How to change everything“ einen Vorschlag für eine feministische Internationale skizziert – sie alle sind  von theoretischen Konzeptionen des transnationalen Feminismus geprägt. Daher durchziehen diese Ideen auch die Frauen-/Fem*Streikbewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern am 8. März viele Personen auf die Straße bringen konnten.

Feministische Streikwelle

Die Streiks haben ihren Ursprung 2016 in Lateinamerika im Rahmen der ursprünglich argentinischen Bewegung #Ni Una Menos (Nicht eine mehr), welche sich vor allem auf die vielzähligen Femizide bezog, und breiteten sich bis 2019 weltweit aus. So gingen am 8. März 2018 in über 177 Ländern Menschen für die Rechte der Frauen auf die Straße. Allein in Spanien streikten 2018 und 2019 6 Millionen Frauen gegen sexuelle Gewalt, für gleiche Löhne und das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In der Türkei demonstrierten mehrere Tausende trotz starker Repression seitens des Erdogan-Regimes. In Pakistan beteiligten sich am Aurat-Marsch in den größeren Städten wie Lahore, Karatschi, Hyderabad und Islamabad ebenfalls Tausende an den Aufmärschen. Doch Pandemie und daraus resultierende Einschränkungen von Protestmöglichkeiten haben scheinbar zu einem Abflachen der Bewegung geführt. Es folgten Solidarisierungen mit dem Protest iranischer Frauen sowie lokale Streiks, welche über das Jahr verteilt stattfanden, wie in der Schweiz, Baskenland oder in Island (siehe Artikel dazu in dieser Ausgabe).

Doch die immense Kraft des internationaler Frauen-/ Fem*Streiks konnte auf lokaler Ebene nicht derartig reproduziert werden. Denn wenngleich sich die Organisator:innen immer wieder auch auf Frauen in anderen Ländern und deren Kämpfe bezogen, das Ausbleiben von internationaler Absprache und Koordinierung, die diese Streikbewegung auf ein höheres Level heben könnten, blieb aus.

Die Potenziale und die ursprüngliche Anziehungskraft, die die Frauen-/Fem*Streikbewegung ausübte, wurden also nicht genutzt. Im Folgenden wollen wir uns deswegen anschauen, welche Rolle der transnationale Feminismus dabei spielt. Dafür wollen wir zuerst betrachten, was diesen überhaupt ausmacht, wie er entstehen und sich etablieren konnte, und gehen dann über in eine Kritik der theoretischen Ansätze. Im letzten Teil wollen wir dann aufzeigen, was unserer Meinung nach stattdessen notwendig ist, um den Imperialismus und seine patriarchalen Strukturen weltweit zu schlagen.

Was ist überhaupt transnationaler Feminismus?

Wie bei den meisten politischen Strömungen, gibt es auch im transnationalen Feminismus unterschiedliche Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen. Den gemeinsamen Kern bildet jedoch die Ablehnung einer globalen, international zusammenhängenden und koordinierten feministischen Bewegung. Dies entspringt aus der Annahme, dass nicht alle Frauen auf die gleiche Weise und aus gleichen Gründen unterdrückt werden. Somit haben und können sie auch  keine gleichen Interessen vertreten. Die Ausmaße dieser Ablehnung sind von Theoretiker:in zu Theoretiker:in unterschiedlich stark ausgeprägt. So fordern fordern manche durchaus eine lose Zusammenarbeit, eine gegenseitige Bezugnahme und einen Erfahrungsaustausch, wie sie auch in der Frauen-/Fem*Streikbewegung stellenweise umgesetzt wurden.

Dem zugrundeliegende Idee ist die Ablehnung der „globalen Schwesternschaft“, die vom westlichen Feminismus propagiert wird. Das schließt auch ein, dass feministische Ideale oder Werte, wie sie von westlichen Feminist:innen auf Frauen aus Halbkolonien projiziert werden, als eurozentrisch, unangebracht sowie paternalistisch verstanden werden. Das Leben in der westlichen Welt solle als Ideal übergestülpt werden – obwohl es komischerweise auch dort noch Frauenunterdrückung gibt. Ein nachvollziehbares Beispiel sind Vertreter:innen wie Alice Schwarzer, die der Meinung sind, Frauen aus Halbkolonien müssten in erster Linie gegen religiöse Unterdrückung kämpfen und wären frei, sobald sie beispielsweise das Kopftuch ablegen „dürften“ – ganz egal ob diese vielleicht ganz andere Probleme für ihre Unterdrückung als Frau identifizieren (zum Beispiel imperialistische Ausbeutung und Abhängigkeiten). Oftmals geht dies damit einher, Frauen aus Halbkolinien in eine Opferrolle zu drängen. Schließlich müssen die „erstmal über ihre Rechte aufgeklärt werden“. Gleichzeitig gehen Teile des transnationalen Feminismus (z. B. Spivak, Mitbegründerin der postkolonialen Theorie) sogar von einer Kompliz:innenschaft westlicher Frauen mit dem westlichen Imperialismus aus, weswegen das Ziel von Spivak nicht darin besteht, Gemeinsamkeiten in ihrer Lage als unterdrückte Frauen zu erkennen, sondern die Verbindung („linkage“) zu begreifen. Daraus resultiert auch eine Ablehnung von  generalisierenden Theorien wie etwa der marxistischen über Imperialismus oder eines Klassenbegriffs, da diese den Blick von den spezifischen lokalen Zusammenhängen ablenken würden.

Zuerst das Positive: Eine Kritik am Begriff der „globalen Schwesternschaft“ ist mehr als notwendig und berechtigt. Es gibt zwar Probleme, die alle Frauen treffen, aber eben nicht auf die gleiche Art und Weise – sei es beim Kampf gegen Gewalt an Frauen, Selbstbestimmung über den eigenen Körper oder der Ungleichverteilung der Hausarbeit. Das erzeugt letzten Endes trotzdem die Illusion von Frauen als Gesamtheit. Nachvollziehbar ist das am besten am Beispiel der „Girlboss“-Mentalität. Während auf der ganzen Welt Frauen in schlechten, zumeist informellen Arbeitsbedingungen angestellt sind sowie der Gender Pay Gap ein reales Problem ist, wird oftmals der Fokus auf Forderungen wie „Frauenquote in Führungsetagen“ gelegt oder die Förderung von Frauen als Unternehmerinnen, ganz nach dem Motto „Representation matters“. Sind diese jedoch in der Führungsriege angekommen, liegt es – Überraschung! – nicht in ihrem Interesse, dass  Löhne steigen, denn das könnte den Profiten schaden. Sie werden nicht zugunsten der „globalen Schwesternschaft“ anfangen, höhere Löhne zu zahlen oder  unbefristete Verträge auszustellen. Das würde ihre eigene Position innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz gefährden. (Und wenn sie es tun, würden sie aufgrund dieser untergehen.) Somit hilft die Girlboss-Mentalität der Mehrheit der Frauen der Arbeiter:innenklasse sowohl in imperialistischen Staaten als auch in Halbkolonien kein Stück. Für sie ist es letzten Endes egal, wer in der Führungsetage sitzt, wenn es darum geht, ob man vom Lohn das Leben bestreiten kann. Dabei muss angemerkt werden, dass die Lage der Arbeiterinnen nicht komplett gleich ist. In den imperialistischen Staaten ist die Arbeiter:innenklasse natürlich privilegierter als die in Halbkolonien. Doch auf diese Frage wollen wir später noch einmal zurückkommen.

Herauszustellen ist, dass auch wir die Idee des bürgerlichen Feminismus ablehnen, es würde eine globale klassenübergreifende Schwesternschaft geben. Ein damit einhergehendes Problem ist nämlich auch, dass die bürgerlichen Feminismen keine Antwort darauf haben, wie Frauenunterdrückung eigentlich überwunden werden kann. Sie setzen sich nur für Reformen und somit für die Festigung ihrer eigenen Stellung ein und da sie daher den Imperialismus nicht angreifen (wollen), müssen sie sich auch umso mehr aufklärerisch und eurozentristisch gegenüber Frauen in Halbkolonien verhalten. Somit basiert der weiße bürgerliche Feminismus auch auf der Überausbeutung der Frauen in Halbkolonien. Dies entspringt jedoch nicht aus kulturellen Unterschieden, einer  „besonderen Psychologie“ der Frauen in den Halbkolonien oder einer grundsätzlichen, klassenunabhängigen Kompliz:innenschaft westlicher Frauen. Das Problem liegt woanders und zwar in der Klassengesellschaft und im Imperialismus selbst. Diese benötigen die doppelte Ausbeutung der Arbeiterin, da diese einerseits Mehrwert in der Produktion erwirtschaftet und andererseits die unentlohnte Reproduktion der Ware Arbeitskraft in der Arbeiter:innenfamilie verrichtet. Hier sehen wir also den Grund, warum es keine globale Schwesternschaft gibt: Die Interessen der Frauen verschiedener Klassen unterscheiden sich genauso wie die konkrete Lage der Frauen in imperialistischen Staaten und in Halbkolonien. Doch gleichzeitig hegen Frauen der Arbeiter:innenklasse international nicht nur ein gemeinsames objektives Interesse, die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung, den Kapitalismus, zu überwinden; sondern auch die Fähigkeit dazu aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess.

Wie ist der transnationale Feminismus entstanden und wie hat er sich entwickelt?

Verfasst wurden die Grundlagen des transnationalen Feminismus bereits in den 1970er, 1980er Jahren und stellen eine Reaktion auf das Fehlen eines internationationalistischen Programms dar, das weder bürgerliche Feminist:innen aufgrund ihres Fehlschlusses der globalen Schwesternschaft geben konnten noch die damalige Arbeiter:innenbwegung, in der Reformismus sowie Stalinismus die führenden Kräfte darstellten. So gewann diese Strömung mit dem Zusammenbruch des Stalinismus sowie  der Veränderung der Weltlage – dem Beginn der Globalisierung – schließlich mehr Relevanz in den 1990er Jahren. Diesen Prozess wollen wir im Folgenden skizzieren, um für die kommende Auseinandersetzung mit den Theoretiker:innen eine Grundlage zu schaffen.

a) Verrat und Zerfall des Stalinismus

So wie der transnationale Feminismus eine Strömung innerhalb des feministischen Spektrums ist, so der Stalinismus eine der Arbeiter:innenbewegung, die noch dazu als Marxismus auftritt. Einen vollen Abriss der Entwicklung können wir an dieser Stelle nicht geben, jedoch halten wir es für notwendig, auf eine Punkte einzugehen, um aufzuzeigen, warum einige Kritikpunkte seitens der transnationalen Feminist:innen berechtigt sind – aber letzten Endes nicht den Marxismus, wohl aber seine stalinistischen und reformistischen, verfälschenden Lesarten treffen. Dabei können wir an dieser Stelle nicht auf alle Kritikpunkte eingehen. Für den Gegenstand relevant sind jedoch vor allem zwei Punkte: Die dem Stalinismus zugrundeliegende Etappentheorie sorgte für fehlerhafte politische Außenpolitik, da sie zur illusionären Strategie der globalen „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus führt. So wurden Initiativen der Arbeiter:innenklasse wie in Griechenland oder Polen und Revolution wie in Spanien und anderen Ländern verraten, da Unterstützung nur in in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus stattfand. Zudem spielte in den 1980er Jahren die UdSSR beispielsweise in Afghanistan eine konterrevolutionäre Rolle sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus. Auch die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen Analphabetismus unter Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiss zu kommen. Doch der Stalinismus verriet die Interessen der proletarischen Frauen auch auf anderer Ebene: Während es nach der Oktoberrevolution 1917 diverse Anstrengungen gab, die Hausarbeit zu vergesellschaften und Rechte auf körperliche Selbstbestimmung umzusetzen, drängte der Stalinismus darauf, die sogenannte „neue Familie“ umzusetzen, letztendlich auch nichts anderes als das Ideal der bürgerlichen Familie mit sowjetischem Anstrich, bei dem die Mutterrolle auf eine reaktionäre Art und Weise stark unterstrichen und die Frau somit wieder in die häusliche private Reproduktionsarbeit gedrängt wurde. Auch die Mangelwirtschaft der UdSSR fiel insbesondere den Frauen zur Last, da sie nicht die Möglichkeit hatten, Küchengeräte zu nutzen, die in imperialistischen Ländern längst Einzug gehalten hatten und dort die Intensität der Hausarbeit massiv verkürzten. Auch die Nahrungsmittelknappheit fiel vor allem Frauen zur Last. Die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. blieben außerdem auch eine Domäne der Männer. Es gab zwar auch diverse Errungenschaften, aber nicht im Ansatz genügend, was notwendig gewesen wäre, um die Frauenbefreiung wirklich voranzutreiben. Im Angesicht dieser Politik ist es nicht verwunderlich, dass diese, unter dem Label des Marxismus betrieben, kein Mittel zur Befreiung sein kann – ob nun für Frauen insgesamt oder in der halbkolonialen Welt.

Die Restauration des Kapitalismus in Russland, China und Osteuropa stellt zwar auch eine Niederlage der Arbeiter:innenbewegung dar und wurde von vielen als Beweis betrachtet, dass sich gezeigt habe, dass der Marxismus nicht siegen könne und gescheitert wäre. Somit kehrten viele ihm den Rücken zu und suchten nach anderen Ideen und Theorien, die „moderner“ erscheinen sowie die Fehler des angeblichen Marxismus nicht wiederholen sollten – z. B. Theorien des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus. Auch der Queerfeminismus von Butler entspringt dieser Zeit.

b) Aufkommen der Globalisierung

Gleichzeitig kam es unter anderem aufgrund dessen, dass kein Systemantagonismus mehr bestand, zu einer Periode der Globalisierung. Die USA mussten sich als Hegemon beweisen, um der ganzen Welt eine einheitliche ökonomische Politik aufzuzwingen. Gleichzeitig mussten sie die Überakkumulation mitsamt den immer weiter fallenden Profitraten in der heimischen Wirtschaft vorerst versuchen zu kompensieren. Dafür stülpten sie ihr Wirtschaftssystem immer größeren Teilen der Welt über und dehnten ihre Konzerne ebenso in diese Regionen aus. Die Unternehmen hatten zwar bereits früher zweitrangige Niederlassungen in Halbkolonien, doch sie wurden nun wirklich multinational. Ein bedeutender Teil der Warenproduktion selbst wurde weg aus den imperialistischen Staaten in die Halbkolonien ausgelagert, da billigere Arbeitskraft und generell die geringeren Produktionskosten dort höhere Profite versprachen. Das ging auch mit dem Anspruch auf Steuererleichterungen und diverse Sonderrechte gegenüber den Regierungen der Halbkolonien einher. Die Folge davon sind „Löhne“ am absoluten Existenzminimum, hochgefährliche Arbeitsplätze (z. B. hinsichtlich des Feuer- oder Gesundheitsschutzes), Sklaverei und Kinderarbeit. Ebenso wurden Freihandelszonen errichtet. Zusätzlich wurden staatliche Vermögen von diesen Unternehmen aufgekauft und wurde Geld von ausländischen Regierungen geliehen. Somit spitzte sich auch der Imperialismus immer weiter zu, da die Arbeiter:innen der halbkolonialen Staaten nun in Teilen direkt von der westlichen Bourgeoisie ausgebeutet und auch die Regierungen und die regionale Bourgeoisie immer abhängiger vom USA-Finanzkapital wurden. Durch die sich verschärfende Situation in den Halbkolonien gewann die Idee des transnationalen Feminismus an Bedeutung und die Kämpfe bezogen sich nun explizit auf die Ausbeutung von Frauen in dortigen multinationalen Unternehmen, antikoloniale sowie Kämpfe indigener Bevölkerungen gegen Vertreibung und Zerstörung bzw. Landgrabbing ihrer Landflächen durch imperialistische Konzerne.

Zu einem besonderen Höhepunkt kam es während der Invasion der USA in Afghanistan: Durch die Instrumentalisierung von Frauenrechten im Kampf gegen die Taliban versuchten die USA, ihre geopolitischen Interessen in diesem Krieg zu verstecken. Westliche Feminist:innen beteiligten sich an dieser Stimmungsmache, wo die andere Kultur allgemein rassistisch verunglimpft wurde und sie als barbarisch im Gegensatz zur eigenen, zivilisierten dargestellt werden sollte. Ähnliches passierte beim Irakkrieg: Die Rechte der Irakerinnen wurden auf einmal zu einem wichtigen Ansatzpunkt der USA während der Invasion, während man sich davor jedoch gar nicht um sie scherte. Insbesondere diese Ereignisse verliehen der Theorie des transnationalen Feminismus mehr Bedeutung innerhalb der feministischen Debatten.

Dekonstruktivistische Elemente und Ablehnung von Generalisierungen

Im Gegensatz zur marxistischen Zielsetzung der Überwindung der materiellen Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung liegt das Ziel transnationaler Feminist:innen darin, den westlichen Feminismus auf einer postkolonialen, antiimperialistischen und intersektionalen Ebene zu kritisieren und daraus Schlüsse für das lokale Vorgehen in feministischen Kämpfen zu ziehen. Dafür bedienen sie sich in gewissem Maß des Dekonstruktivismus, wie bereits im „transnational“ zu erkennen ist: Die Vorsilbe „trans“ soll hier darauf hinweisen, dass nicht nur  nationalstaatliche Grenzen überwunden werden sollen und der Kampf auch in „Sphären“ außerhalb staatlicher Strukturen geführt werden (zum Beispiel in der Nachbarschaft, der Familie, der Freund:innengruppe), sondern auch, dass die Nation an sich als Kategorie in Frage gestellt werden soll. Somit werden Nationalstaaten nicht als „real existierende Gebilde“ angesehen, welche eine wichtige Funktion für Kapitalismus und Imperialismus erfüllen und die es natürlich durchaus zu kritisieren und zu überwinden gilt, sondern eher als Narrative, die subjektive Meinungen widerspiegeln würden und mit anderen Ideen anstatt mit tatsächlich radikalem Handeln bekämpft werden müssten.

Ein weiteres Element des Dekonstruktivismus im transnationalen Feminismus ist die bereits erwähnte Annahme, dass es keine generalisierenden Theorien geben könne. Damit einher geht die Idee, es würde keine außerhalb des Diskurses existierende, objektive Wahrheit geben. Jede Erfahrung von Unterdrückung ist somit grundsätzlich anders und die Verbindungen müssen alle berücksichtigt werden, um sie nachvollziehen zu können. In diesem Fall soll allerdings der subjektive Idealismus dieser Annahme dadurch verschleiert werden, dass es sich bei den Betroffenen nicht um Einzelpersonen handelt und sie in einem regionalen Kollektiv zusammengeschlossen werden können. Trotzdem sei diese regionale Erfahrung völlig anders als jede andere und könne nicht kategorisiert werden. Solch eine Auffassung nimmt offensichtlich den Nährboden für jegliche objektive Analyse weg und vor allem für eine gemeinsame Praxis der Unterdrückten für gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Sie ist einerseits idealistisch und andererseits rückschrittlich, da sie verhindert aufzuzeigen, woher gemeinsame, aber auch unterschiedliche  Unterdrückungserscheinungen kommen. Im Gegensatz dazu gibt es im Marxismus durchaus die Möglichkeit einer Überwindung von reiner Subjektivität: das revolutionäre Bewusstsein, welches von den geschichts- und erkenntnisstiftenden Elementen in der gesellschaftlichen Arbeit und ihren Wandlungen im historischen Materialismus getragen wird und der Anerkennung dessen, dass es durchaus eine objektive, materialistische Realität gibt, die dafür sichtbar gemacht werden muss. Warum dies notwendig ist, um kollektive Befreiung zu erreichen, wollen wir um Folgenden argumentieren, indem wir uns mit verschiedenen Theoretiker:innen näher auseinandersetzen.

Khaders Kritik am westlichen Feminismus

Die transnational-feministische Theoretikerin Serene Khader bezeichnet den westlichen Feminismus auch als missionarisch, da die westlichen Feminist:innen von ihrer ideologischen Vormacht überzeugt seien. Sie bezieht sich hierbei auf ihre folgenden Werte:

1. die westliche Überlegenheit, legitimiert durch das quasi theologische Paradigma der Aufklärung, und damit einhergehend:

2. der Unabhängigkeitsindividualismus, was bedeutet, dass es als Ideal gilt, wenn Frauen in keinerlei Abhängigkeit zur Familie und Beziehungspersonen stehen,

3. Aufklärungsfreiheit, was das Infragestellen von Traditionen und religiösen Überzeugungen zu einem Ideal macht, und

4. der Ansatz, dass Genderrollen Geschlechtergerechtigkeit verhindern und für die Befreiung von sexistischer und sexueller Unterdrückung aufgehoben werden müssen.

Diese Werte und daraus hervorgehenden Lebensarten würden imperialistische Strukturen festigen, da sie zur Idealisierung westlicher Werte und Verschleierung des Einflusses der imperialistischen Ausbeutung auf die Halbkolonien beitragen würden. Um diese Probleme zu überwinden, seien Ansätze notwendig, die Wertschätzung der Beziehungsabhängigkeiten, Tradition, Religion und Geschlechterrollen ermöglichen sollen. Deswegen sei es nötig, die spezifischen Kontexte in Betracht zu ziehen und eine konkrete Praxis anstelle idealistischer, abstrakter Moralvorstellungen zu etablieren. Denn bei einer Generalisierung könne es sonst dazu kommen, dass die Unterdrückung in den lokalen Unterschieden und nicht im imperialistischen System verortet wird. Des Weiteren solle der Widerstand gegen antifeministische Praktiken nur von den Betroffenen selber kommen und keine Intervention von außen erfolgen, um sie nicht zu entmündigen. Erstmal ist es natürlich völlig richtig, den westlichen bürgerlichen Feminismus und seinen Überlegenheitsanspruch in Frage zu stellen. Jedoch sollte hier differenziert werden, denn manche seiner Ideen und Forderungen stellen zumindest keinen falschen Ausgangspunkt dar.

a) Fortschritt und Entwicklung im historischen Materialismus

Die Grundsätze der Aufklärung wie Kritik der Kirche als Institution, Fokus auf Vernunft und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Bürger:innenrechte stellen – auch wenn sie bürgerliche Errungenschaften sind –  innerhalb der historischen Entwicklung einen Fortschritt dar. Zwar dienten sie zur Legitimation der bürgerlichen Herrschaft gegenüber dem Feudalsystem, also letztendlich des Kapitalismus, verkörperten aber gleichzeitig eine Verbesserung gegenüber dem religiös geprägten Austausch. Zudem ist die Behauptung, die Aufklärung sei eine rein westliche Erfindung bereits eine Rückkehr zum Orientalismus, den die postkolonialen Theorien, auf die sich der transnationale Feminismus bezieht, eigentlich kritisiert hatten. So gab es auch beispielsweise im Osmanischen Reich vergleichbare Ansätze und der Bezug auf Rationalität und Naturwissenschaftlichkeit ist kein rein „europäisches Phänomen“.

Wichtig ist, dass der Fortschritt einer einzelnen Gesellschaftsformation nicht als „ewig“, starr und unantastbar gelten darf, sondern im Verhältnis zu seinen eigenen Potentialen und auch Entwicklungshemmnissen beurteilt werden muss. Denn jede dieser von Widersprüchen geprägten Gesellschaftsform verliert irgendwann ihren fortschrittlichen Charakter und muss sich ihrer Fesseln entledigen (oder fällt zurück). Das heißt, dass es nur Brüche und Umwälzungen der Produktionsformen sind, die einen wirklichen Fortschritt bringen können, nicht die unaufhörliche Weiterentwicklung der jeweiligen Gesellschaftsform. Sichtbar kann das zum Beispiel werden, wenn wir die rückschrittlichen Tendenzen des Kapitalismus in seinem aktuellen Stadium betrachten: Er ist zu einer Fessel des Fortschritts und der Befreiung der Menschheit geraten.

Demnach ist es jedoch völlig richtig, im Rahmen der Imperialismustheorie die halbkolonialen Staaten als unterentwickelt zu betrachten. Das soll keine Herabwürdigung darstellen, sondern beschreibt ihr materialistisches, dialektisches Verhältnis zu den imperialistischen Staaten. Halbkolonien sind gar nicht in der Lage, sich gleichsam wie diese zu entwickeln, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit die Entwicklung nicht aufholen können. Es ist sogar ein erklärtes Ziel der imperialistischen Staaten, sie unterentwickelt zu halten, auch wenn mit „Entwicklungshilfe“ etwas anderes suggeriert werden soll. Das darf jedoch nicht in eine ideologische Vormachtstellung insofern umschlagen, als dass man die Unterdrückten selbst auch als „unterentwickelt“ einschätzt und sie somit rassistisch abwertet, ihnen die eigene Perspektive aufzwingt oder dies zur Legitimierung des bestehenden Systems nutzt.

Gleichsam darf man nicht zur Schlussfolgerung kommen, wie sie auch Stalinist:innen entwickelten, es sei erst eine bürgerliche Revolution in den Halbkolonien notwendig, um dann diese noch einmal erneut überwinden zu müssen. Sehr wohl müssen aber die bürgerlich-demokratischen Aufgaben vollendet werden, was einen wichtigen Ansatzpunkt für revolutionäre Kräfte darstellt. Dazu aber  später mehr. Erstmal stellt sich hier natürlich die Frage nach der Notwendigkeit des Bruches mit der vorkapitalistischen Ausbeuter:innenordnung: Dieser ist nicht notwendig, da die Halbkolonien bereits in das imperialistische Weltsystem und dessen grenzenlosen Drang nach Wertschöpfung integriert sind. So haben bereits gemäß Trotzkis Gesetz der kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung die fortschrittlichen Technologien in den Halbkolonien Einzug erhalten, denn die Produktivkräfte kennen den nationalen Rahmen nicht und müssen nicht in jeder Region neu erfunden werden. Das äußert sich auch darin, dass die Entwicklung in den Branchen, welche für die Kapitalbewegung interessant sind, vorangetrieben wird. Daher breitet sich zum Beispiel die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien immer weiter aus, während gleichzeitig die rückschrittlichen Produktionsformen und -techniken trotzdem weiterhin gefestigt werden, zum Beispiel in der Landwirtschaft, um die Reproduktionskosten und damit das Lohnniveau weiterhin so günstig wie möglich zu halten. Was könnte eine bürgerliche Revolution nun ändern? Vermutlich wenig. Denn die lokale Bourgeoisie kann sich aufgrund ihrer geringen Größe und ihres unbedeutenden Einflusses nicht von den internationalen Investor:innen lossagen und fürchtet die Rebellion der eigenen Bevölkerung viel mehr. Vor allem aber stellen diese rückständigeren Formen im modernen Kapitalismus im Wesentlichen keinen „störenden Überrest“ einer vorhergehenden Produktionsweise dar, sondern wurden in das kapitalistische Gesamtsystem integriert.

Auch in den Halbkolonien müssen Traditionen, kulturelle Praktiken und Religionen Kritiken unterzogen werden, um einen gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten zu können, da sie oftmals reaktionäre Elemente enthalten, die sich schon über Jahrhunderte entwickelten. So übte beispielsweise auch Marx Religionskritik aus, da er davon ausging, dass diese in jeder Klassengesellschaftsformation zur Verschleierung der materiellen Lage und Ausbeutung dient. Eine Kritik der Religion ist demnach notwendig, um die wahren Ursachen – die Klassengegensätze – zu Tage zu bringen. Das heißt, dass Religion nicht die Basis der Unterdrückung liefert, sondern ihren Überbau, der benötigt wird, um sie aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Herleitend ist es also sogar im Sinne der Bourgeoisie, diese beizubehalten, da so die imperialistischen und neokolonialen Unterdrückungsmechanismen mystifiziert werden können. Letztendlich stellt sich die Behauptung Khaders, man müsse Konzepte entwickeln, die Religion und Co wertschätzen, genau in diesen Dienst der Imperialist:innen. Da Marxist:innen erkennen, dass die Religion eine materielle Basis in den bestehenden Verhältnissen hat, jedoch auch, dass diese wie jede andere bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologie nicht „abgeschafft“ werden kann, solange die Verhältnisse weiter bestehen, die sie hervorbringen.

Daher ist es falsch, von Frauen in Halbkolonien grundsätzliche Ablehnung ihrer Religion zu fordern, um ihre antisexistische Emanzipation voranzutreiben oder es gar zu einer Bedingung für den gemeinsamen Kampf zu machen. Jedoch ist der gegen theokratischen Regime fortschrittlich, denn diese errichten i. d. R. Diktaturen zum Leidwesen von Frauen, LGBTIA*-Personen, nationalen Minderheiten sowie der gesamten Arbeiter:innenklasse. Demnach können die Forderungen im Sinne der permanenten Revolution Trotzkis nach bürgerlichen Rechten wie Demokratie, gleichen Persönlichkeitsrechten für alle, Befreiung von feudalistischen und anderen vorkapitalistischen Rückständen, Frieden und Wohlstand jedoch als revolutionäres Vehikel funktionieren. Denn es ist klar, dass sie sich eben unterm Kapitalismus für Halbkolonien nicht erfüllen lassen, sondern die Strukturen der Klassengesellschaft überwunden werden müssen, um gleiche Rechte für alle und wirkliche Demokratie gewährleisten zu können. Ebenso dürfen diese Kämpfe nicht im nationalen Rahmen stehenbleiben, sondern müssen so viele Gebiete wie möglich umfassen und zu einer Weltrevolution werden.

b) Unabhängigkeitsindividualismus und Geschlechterrollen

Auch dieser Punkt an Khaders Kritik bedarf einer näheren Betrachtung. Für sie stellt der westliche Feminismus die unabhängige Karrierefrau in den Mittelpunkt, die keine Zeit für Familie, Kinder und Haushalt hat. Daraus resultiert, dass sie die Reproduktionsarbeit, die ihr durch die Geschlechterrollen als Frau aufgehalst werden würde, anders lösen muss: nämlich, indem sie andere Frauen dafür einstellt. Somit kann man sagen, dass die Reproduktionsarbeit auch im Kapitalismus schon in einer gewissen Hinsicht vergesellschaftet ist, allerdings unter dem Vorzeichen der herrschenden Klasse. Wer sich die Auslagerung von Reproduktionsarbeit leisten kann, hat Glück. Hierbei wird vor allem deutlich: Es handelt sich nicht um „den westlichen“ Feminismus per se, sondern um bürgerlichen Feminismus. Denn auch in halbkolonialen Ländern ist diese Form der Auslagerung für Frauen aus der herrschenden Klasse und Teile der Mittelschicht möglich.

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit kann also im Kapitalismus nicht wirklich für alle Beteiligten zufriedenstellend aufgelöst werden. Es ist zwar richtig, dass durch den Kapitalismus eine Entfremdung von der Gemeinschaft, die vorher in einer gewissen Hinsicht z. B. im Feudalismus existierte, ausgelöst wurde, das kann jedoch in den jetzigen Strukturen nicht überwunden werden, da sie auf der aktuellen Produktionsweise beruht. Angebliche Konzepte vorkapitalistischer Gemeinschaft und der Abhängigkeit fördern nicht die Frauenbefreiung. Ökonomische Abhängigkeiten sorgen oftmals dafür, dass Frauen eben nicht ihrem gewalttätigen Mann entfliehen können, da sie in ihrem Job aufgrund ihrer Verpflichtungen zur Reproduktionsarbeit, die ihnen mithilfe der Geschlechterrollen auferlegt wurden, zu wenig verdienen, um wirklich unabhängig zu leben. Das trifft natürlich auch Frauen, die gar nicht berufstätig sein dürfen (sei es aufgrund des Verbots durch Mann oder Staat). Es ist aber auch so, dass zum Beispiel alleinerziehende Mütter, die keine gesellschaftliche Unterstützung erfahren, auch nicht unbedingt bessere Lebensbedingungen haben. Um ihre Kinder großziehen zu können, sind sie oftmals auf flexible Arbeitsstellen mit Schichtarbeit angewiesen, damit sie alles unter einen Hut bekommen können. Flexible Jobs sind meistens auch im Niedriglohnsektor angesiedelt. Jedoch ist ihre Lage genauso darin zu verorten, dass die Reproduktionsarbeit ins Private verschoben wurde, anstatt eine gemeinschaftliche Pflege und Erziehung von Kindern bzw. Alten zu gewährleisten. Auch die Abhängigkeit von der eigenen Verwandtschaft geht sehr wohl mit patriarchaler Unterdrückung einher, wenn es zum Beispiel um Konzepte von Familienehre oder Zwangsheirat geht.

Natürlich sollte das Ziel nicht darin liegen, ein einsames zurückgezogenes Leben zu führen, um jeglicher Abhängigkeit zu entfliehen und alleine erfolgreich zu sein oder sich zumindest gerade so über Wasser halten zu können.

Der zentrale Punkt ist jedoch, dass für die Aufhebung der Strukturen, die Frauen in die Abhängigkeit drängen, wie das Ideal der bürgerlichen Familie, die der damit einhergehenden Geschlechterrollen und der ins Private gedrängten Reproduktionsarbeit den Schlüssel darstellen und nicht eine Illusion von spirituellen Gemeinschaften und traditionsreichen Abhängigkeiten. Denn diese stellen nur den ideologischen Ausdruck (den Überbau) der Frauenunterdrückung dar. Auch eine bloße Kritik der Geschlechterrollen kann keine Befreiung herbeiführen. Erst die Überwindung des Kapitalismus und die Kollektivierung von Produktion und Reproduktion können die aktuelle Entfremdung überwinden und zu einer neuen Gemeinschaft führen, die geprägt von vielerlei zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Die Annahme, Geschlechterverhältnisse seien in Halbkolonien grundsätzlich anders und hätten auch einen anderen Ursprung als in imperialistischen Staaten, entbehrt jeder Logik. Der ideologische Überbau und der Grad der sozialen Unterdrückung können sich zwar unterscheiden, aber zum Beispiel fortschrittlichere Gesetzgebungen können in imperialistischen Staaten auch wieder zurückgenommen werden, wie man an Abtreibungsrechten in den USA oder der Aberkennung von Rechten queerer Eltern in Italien in den letzten Jahren sieht. Gleichstellung auf dem Papier heißt nicht, dass diese wirklich konsequent umgesetzt und verfolgt wird, wie man  an der Anzahl der Femizide und sexualisierter Gewalt auch in imperialistischen Staaten feststellen kann.

Es mag in Halbkolonien vielleicht Strukturen geben, wo Gemeinschaft und Hausarbeit anders gelebt und geleistet werden, als das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie suggerieren soll. Das überschreitet aber trotzdem meistens nicht den Rahmen einer Familie und beschreibt dann eher die Zusammenarbeit von Frauen aus verschiedenen Generationen innerhalb ihrer, wie es auch in feudalen und anderen vorkapitalistischen Verhältnissen üblich war. Diese Umstände werden auch in manchen Fällen von den Imperialist:innen bewusst gefördert oder zumindest unangerührt gelassen. Es mag auch indigene Völker geben, deren Gesellschaftsstruktur mehr noch der des „Urkommunismus“ ähnelt, trotzdem stellen sie eine Seltenheit dar. Somit bleibt die Hausarbeit in den Halbkolonien also trotzdem im Privaten. Des Weiteren ist die Klasse der Lohnarbeiter:innen auch mittlerweile so ausgedehnt, dass die Notwendigkeit der Reproduktion im privaten Bereich dort ebenso besteht und ausgeführt wird. Die Grundlage der Unterdrückung der Frau bleibt also dieselbe: die Klassengesellschaft.

c) Entstehung des Bewusstseins

Die Annahme, es dürfe im Kampf gegen Antisexismus keine Interventionen von „außen“ geben, geht ebenso auf die bereits erwähnte Idee zurück, dass es keine objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit geben könne und lediglich die subjektiven Wahrnehmungen der Betroffenen ihnen Erkenntnisse über ihre individuelle Situation bringen könnten. Das heißt also, ausschließlich die Frauen in der jeweiligen Halbkolonie haben die Möglichkeit zu erkennen, warum sie unterdrückt werden, da sie die Betroffenen sind.

Erst einmal kommt niemand zum Bewusstsein, nur weil die Person unterdrückt wird. Sonst würde es bereits jetzt keinen Kapitalismus mehr geben. Natürlich kann die eigene Betroffenheit eine Anregung sein, um sich tiefergehender mit Hintergründen zu beschäftigen und Ideen dagegen zu entwickeln. Aber man kann genauso auch komplett falsch in seiner Analyse liegen. Denn das Bewusstsein ist eine kollektive Frage, welche ihre Grundlage und ihren Gradmesser von Wahrheit zwar in den ökonomischen Strukturen und im gemeinsamen Kampf gegen diese hat, jedoch auch mit theoretischen Erkenntnissen verknüpft werden muss, welche von außen in die Klasse getragen werden müssen. Das gilt auch für eine proletarische Frauenbewegung. Das soll natürlich nicht heißen, dass westliche Feminist:innen alles bestimmen, jedoch, dass es neben gemeinsamen Kämpfen auch eine gemeinsame internationalde Analyse der Welt braucht, wobei Internationalismus das Fundament bilden muss, um zu gewährleisten, dass die objektive Lage auch erfasst wird und nicht von nationalistischen Ideen bzw. imperialistischem Chauvinismus geprägt ist. Darauf aufbauend kann es dann Diskussionen über die gemeinsame Ausrichtung geben. Außerdem ist es auch notwendig, dass aus Erfolgen und Misserfolgen von Arbeiter:innen- und Frauenbewegungen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. Denn wenn jede:r Unterdrückte erst einmal unbehelligt wieder denselben Fehler machen soll, nur um nicht bevormundet zu werden, sieht es für unsere klassenlose und befreite Zukunft wahrscheinlich eher düster aus. Aber das darf natürlich keineswegs eine Einbahnstraße sein. Genauso muss der westliche Feminismus mitsamt seinen neoliberalen und individualisierenden Tendenzen scharf kritisiert werden, damit eine sinnvolle klassenkämpferische Einheit gegen Frauenunterdrückung gebildet werden kann, die sich auch wirklich Antiimperialismus und Antikapitalismus auf die Fahne schreiben kann und erfolgversprechend ist.

Kritik des Marxismus von Kaplan, Grewal und Spivak

Ein Blick auf die transnationalen Feministinnen Kaplan und Grewal zeigt jedoch, dass solch ein Ansatz nicht im Sinne des transnationalen Feminismus ist. Sie stellen in ihrem Text „Transnational Feminist Cultural Studies: Beyond the Marxism/Poststructuralism/Feminism Divides (1994)“ hauptsächlich infrage, dass es ein homogenes Weltproletariat gibt, und wollen damit beweisen, dass die marxistische Theorie veraltet sei. So würde es bei Anwendung eines Klassenbegriffes zu einer Gemeinmachung von Mann und Frau kommen, sowie würden soziale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung nicht beachtet werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass das Kapital heutzutage keine Konformität mehr produziert, also kein generalisiertes revolutionäres Subjekt, sondern, es die Personen in ihrem zugrundeliegenden kulturellen Kontext anspricht. Communities anstatt Klassen produzieren Bewusstsein, insbesondere durch den Versuch, mit Diversität die Ausbeutung zu verschleiern. Mit Bezugnahme auf Spivak argumentieren sie, es würde durch die imperialistische Wertschöpfungskette nicht nur der Wohlstand für die imperialistischen Staaten, sondern auch gleich die Möglichkeit zur kulturellen Selbstrepräsentation von den Halbkolonien produziert werden. Spivak geht davon aus, dass die Marx’sche Wertschöpfungstheorie nicht genügend erklären kann, wie soziale Unterdrückung entsteht. Sie schlussfolgert, dass kulturelle Dominanz und Ausbeutung Hand in Hand gehen und sich gegenseitig formen. Daraus herleitend lehnen Kaplan und Grewal jegliche generalisierenden Theorien und Kategorien ab, da diese nicht in der Lage seien, die Komplexität zu erfassen. Sie schlagen Solidarität und Koalitionen vor, aber keinen konkreten gemeinsamen Kampf oder gar gemeinsame Organisierung.

a) Zur Frage des Weltproletariats

Zuerst einmal ist es keine falsche Annahme, dass es kein homogenes Weltproletariat gibt. Der marxistische Klassenbegriff ist keine starre Kategorie, die die Arbeiter:innenklasse an ihrem monatlichen Einkommen misst, sondern argumentiert, dass die Arbeiter:innenklasse im Verhältnis zur Kapitalist:innenklasse und zu den Produktionsmitteln existiert. Der Weltmarkt schuf internationale Wertschöpfungsketten. Im Zuge der Globalisierung wurden vor allem in Asien, aber auch in weiteren Teilen der Welt Millionen in diesen integriert – als Arbeiter:innen, Landlose oder Arbeitslose ohne Zugang zu Produktionsmitteln. Die Kapitalbewegung bestimmt hier die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse und die konkrete Form der Ausbeutung, welche in Zeiten des Aufschwungs durchaus etwas liberaler oder bequemer ausgestaltet sein kann. In Zeiten von Krisen hingegen nehmen die Unterschiede zwischen der Lage der Klasse in imperialistischen Staaten und in den Halbkolonien immer weiter massiv zu. Die Arbeiter:innen der imperialistischen Staaten sind zweifelsohne privilegiert gegenüber denen in den halbkolonialen Staaten, aber sie bleiben dennoch die Ausgebeuteten, sie werden nicht selbst zur herrschenden Klasse. Abgeleitet aus diesen Punkten muss man schon die Existenz einer internationalen Arbeiter:innenklasse an sich gegen diese Annahme sprechen. Diese ist jedoch – wie bereits geschrieben – nicht homogen und es gibt Hindernisse, die dazu führen dass sie nicht als Klasse für sich auf internationaler Ebene agiert.

Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Schicht der Arbeiter:innenklasse, die wir als Arbeiter:innenaristokratie bezeichnen. Sie stellt in den imperialistischen Kernzentren einen privilegierten Teil dar – finanziert aus den Extraprofiten, d. h. der Überausbeutung der Arbeiter:innen der halbkolonialen Welt, und ist teilweise durch Kampfkraft entstanden, teilweise weil sie an einer derartig relevanten Stelle im Wertschöpfungsprozess angesiedelt ist, dass diese Schichten aus Mitteln der imperialistischen Überausbeutung heraus sozial befriedet wurden. Bedeutend ist diese Schicht, weil sie die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft bildet, die die Politik der Sozialpartnerschaft stützt. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist historisch zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt – als politische Polizei, verlängerter Arm des Staatsapparats. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das ist der Kern der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter:innenbürokratie bindet die Klasse somit an die Lohnform, selbst verschleierter Ausdruck des Klassengegensatzes. Sie ist in diesem Sinne ein strategisches Hindernis für Revolutionär:innen, die sich der Aufgabe stellen, den alltäglichen Widerstand (von Teilen) der Arbeiter:innenklasse in unerbitterlichen Widerspruch gegen die Klassengesellschaft zu bringen. Nicht nur, weil das Programm der Sozialpartnerschaft verhindert, dass Kämpfe in imperialistischen Zentren erfolgreich geführt werden, sondern weil die Idee der „Standortlogik“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit“ eine reale Hürde für die Herausbildung eines internationalistischen Standpunkts ausmachen und die Klasse spalten. Deswegen ist es auch zentral, diesem ein politisches Programm entgegenzustellen, anstatt die Unterschiede zwischen Arbeiter:innen in imperialistischen Ländern und Halbkolonien als gegeben hinzunehmen. Dies naturalisiert letzten Endes die vorhandene Spaltung.

Denn gleichzeitig sind die Privilegien der Arbeiter:innenaristrokatie nicht automatisch dauerhaft. Während diese Schicht selbst immer kleiner wird, wie man an Ländern wie Deutschland sehen kann, findet paralell eine fortschreitende Fragmentierung der Klasse in ihrer Gesamtheit statt. Das heißt: Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors nehmen Prekarisierung sowie Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zu und der Unterschied zwischen der Arbeiter:innnenaristokratie und den Arbeiter:innen der Niedriglohnsektoren in den imperialistischen Kernzentren wird größer. Auch die doppelte Ausbeutung in Produktion und Reproduktion der Arbeiterin werden in einer marxistischen Analyse nicht unter den Teppich gekehrt.

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dass die Arbeiter:innenklasse von der Überausbeutung ihrer Kolleg:innen in den Halbkolonien profitiert, so liegt es letzten Endes nicht in ihrem objektiven Interesse, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Dies kann letztlich nur auf einer internationalen Ebene erfolgreich sein oder ist zum Scheitern verurteilt. Um das zu gewährleisten, müssen Forderungen aufgestellt werden, die sich gegen die Auswirkungen des Imperialismus stellen – sei es beispielsweise im Falle von imperialistischen Interventionen, Sanktionen, der Auslagerung umweltschädlicher Produktion oder Ausbeutung. Dies ist möglich, da die entscheidende Gemeinsamkeit in der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft besteht. Demnach vereint diese auch das objektive Interesse, diese Ausbeutung zu überwinden und ermöglicht, es gemeinsame Kämpfe zu führen. Doch die postkoloniale Tradition des transnationalen Feminismus stellt hier die Differenz zwischen Ländern anstatt zwischen Klassen in den Vordergrund.

b) Kulturelle Vorherrschaft und Mehrwertschöpfung

Auch kann nicht behauptet werden, dass die kulturelle Vorherrschaft durch die Wertschöpfungsketten gleich mitproduziert wird, so wie von Spivak behauptet. Es handelt sich hierbei um ein völlig falsches Verständnis von Mehrwertschöpfung und Kapital. Die kulturelle Vorherrschaft dient dem Imperialismus als Begründung und Verschleierung der Ausbeutung, sie bildet einen Teil des gesellschaftlichen Überbaus. Hiermit wird die Spaltung der Klasse vertieft, werden Lohndumping und Differenzen begründet und die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern im Geiste „kultureller“ oder „rassischer“ Überlegenheit erzogen.

Im Endeffekt ist es zwar überhaupt nicht im objektiven Interesse des westlichen Proletariats, aber diese reaktionäre Ideologie stellt eine extrem wichtige Waffe in den Händen der herrschenden Klasse zur Sicherung ihrer globalen Herrschaft dar. Diese wird durch die Privilegien verstärkt, die die Lohnabhängigen – hier vor allem die Arbeiter:innenaristokratie – der imperialistischen Nationen im Verhältnis zu jenen der Halbkolonien genießen. Aber längerfristig und vom historischen Interesse der Lohnabhängigen aus betrachtet, bieten diese nicht nur keine Perspektive zur Überwindung der Ausbeutung, sondern stellten vielmehr eine Fessel für die Arbeiter:innenklasse auch in den imperialistischen Ländern dar, die sie an ihre Ausbeuter:innen bindet.

Diese Annahmen der kulturellen Vorherrschaft kritisieren zwar Spivak, Kaplan und Grewal zu Recht und der Kampf gegen diesen Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus muss in der Arbeiter:innnenklasse und ihren Organisationen entschlossen geführt werden – und zwar sowohl im Hier und Jetzt wie sicher auch nach erfolgreicher Revolution, denn selbst dann werden rückständige, über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte fest verankerte Ideen und Verhaltensweisen nicht ohne bewussten Kampf dagegen verschwinden. Die Theorie kritisiert zwar reaktionäres Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder – sie kapituliert aber letztlich davor, dieses zu bekämpfen. Direkt reaktionär ist ihre Ideologisierung rückständiger Bewusstseinsformen, z. B. religiöser Ideen in der Arbeiter:innenklasse der halbkolonialen Länder. Diese sind letztlich nichts anders als Mittel, mit denen die herrschende Klasse der Halbkolonien „ihre“ Arbeiter:innen (und armen Bauern/Bäuerinnen) politisch-ideologisch an eine kapitalistische Ordnung bindet. Hier zeigt sich der Klassencharakter dieser Theorien (wie postkolonialer Theorie). Scheinbar springen sie den „rückständigen“ Massen der Halbkolonien gegen „eurozentristische“ oder „universalistische“ Kritik bei. In Wirklichkeit zementriert ihr bürgerlicher Paternalismus ideologisch die Unterordnung und Ausbeutung der Lohnabhängigen in der halbkolonialen Welt.

Gagos Vorschlag einer feministischen Internationale: nichts Halbes, nichts Ganzes

Zum Schluss wollen wir uns noch Verónica Gago als zeitgenössische Vertreterin des transnationalen Feminismus kurz näher anschauen. Sie kann als Theoretikerin der mehr oder weniger aktuellen Frauen-/Fem*streikbewegung verstanden werden. Dabei ist herauszustellen, dass die Vernetzung und eine Gleichzeitigkeit der Aktionen am 8. März einen Fortschritt darstellen. Das beweist auch der anfängliche Erfolg der Bewegung, der in der Einleitung beschrieben wurde. Allerdings sind es die theoretischen sowie strategischen Mängel, die dafür sorgten, dass es nicht so bahnbrechend weitergehen konnte, wie die Bewegung begann. In der Tradition des transnationalen Feminismus lehnt Gago natürlich jegliche Homogenisierung der Bewegung durch ein gemeinsames Programm ab. Es ist zwar richtig, dass ein solches auf die unterschiedliche Lage von imperialistischen Staaten und Halbkolonien eingehen muss, jedoch kann es dennoch zwangsläufig einen gemeinsamen Kampf und ein gemeinsames Ziel geben. Schließlich sind die Gegenspieler, die imperialistischen Kapitale, auch dieselben Feinde, die nur in der Masse geschlagen werden können. Stattdessen kann die feministische Internationale Gagos überall praktiziert werden, sei es im Bett, auf derArbeit oder Straße.

Die Annahme, dass ein Streik außerhalb der Lohnarbeit genauso effektiv sein kann, und sei er noch so klein, wie zum Beispiel auf ein Lächeln zu verzichten, geht auch aus dem neuen Klassenbegriff von Gago hervor, welcher Arbeiter:innen, das Bäuerinnen-/Bauerntum und das niedere Kleinbürger:innentum zusammenschließen will, als ob diese in irgendeiner Form wirklich ein gemeinsames objektives Klasseninteresse hätten. Natürlich sollten Marxist:innen versuchen, auch diese Klassen und Schichten auf die Seite der Arbeiter:innenklasse zu ziehen, aber dennoch formen diese oft selbstständige Zwischenklassen, da sie durchaus Produktionsmittel besitzen, sich aber selber ausbeuten müssen und Gefahr laufen, zwischen dem Hauptklassenantagonismus zerrieben zu werden. Trotzdem ist die grundsätzliche Generalisierung nicht unproblematisch und verhindert in gewisser Hinsicht auch, ein konkretes Programm aufzustellen. Denn das revolutionäre Subjekt ist weiterhin die Arbeiter:innenklasse, da nur sie das objektive Klasseninteresse hat, den Kapitalismus zu stürzen, um sich von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, und insbesondere da sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess auch die Möglichkeit hat, diese gesellschaftliche Macht als Kollektiv zu entfalten.

Die Ablehnung von Strategie, Taktik und Programm und das Setzen auf spontane Erhebungen, wie Gago es beschreibt, bezieht sich auf die Annahme, das Bewusstsein der feministischen Bewegung würde spontan entstehen können. Es stellt in gewisser Weise eine Übertragung des Ökonomismus auf Frauen- und LGBTIA* -Kämpfe dar. Aber die Geschichte hat schon oft genug bewiesen, wie zum Beispiel beim Arabischen Frühling, dass spontanes Bewusstsein eben nicht einfach so entsteht und auch kein Programm ersetzen kann, wenn der Aufstand oder die Bewegung erfolgreich sein will. Ein loser Zusammenhang ohne Diskussionen und Debatten über konkrete Forderungen, Taktiken und Strategien führt nicht zur anhaltenden Wirkung der Bewegung.

Was wir stattdessen brauchen

Es braucht eine länderübergreifende Organisierung, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame und koordinierte Handeln verfolgt. Hierbei können nicht die Unterschiede zwischen der gemeinsamen Lage im Vordergrund stehen, wie es zum Beispiel Spivak forderte. Diese müssen anerkannt werden und Raum finden, doch angesichts der globalen Krisen und des Rollbacks gegenüber Frauen (sowie LGBTIA*-Personen) und des Rechtsrucks bleibt unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbezug in den Produktionsprozess!

Auch wenn es als positiv dargestellt worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zum Mann.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine wesentliche Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Diese kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Vom Frauen-/Fem*streik zur proletarischen Frauenbewegung

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da die patriarchalen Strukturen und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße cis Frau“ geht, wie es zurecht vom transnationalen Feminismus kritisiert wurde. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrücken in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden bspw. mit der Organisierung und den Streiks in der Pflege, der Umweltbewegung oder der gegen Rassismus. Beispielsweise könnte gerade der gemeinsame Kampf mit Pflegekräften und betroffenen Frauen im Rahmen der Abtreibungsproteste relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung  ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen zu führen. Jedoch darf es nicht nur bei diesen alltäglichen Forderungen bleiben, sie müssen in ein umfangreiches Aktions- und letztendlich in ein revolutionäres Übergangsprogramm eingeschlossen werden, um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft aufweisen zu können. Für dieses müssen revolutionäre Frauen kämpfen, ebenso wie sie auch für Solidaritätsstreiks der gesamten Arbeiter:innnenklasse agitieren müssen.

Entscheidend ist demnach, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und kommunistische Führung kämpfen.

Eng damit verbunden ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Das hängt eng zusammen mit der notwendigen Zerschlagung des imperialistischen Weltsystems. Denn wer keinen Plan dafür hat und davon ausgeht, dass das sowieso dann alles spontan funktioniert, nimmt in Kauf, dass Leute sich nach dem Misserfolg der Bewegung demoralisiert abwenden, was keine Seltenheit ist. Die stalinistische Idee des „Sozialismus in einem Land“ ist im 21. Jahrhundert noch deutlich illusorischer, als sie es im 20. Jahrhundert war, und bereits hier hat der Stalinismus durch Umsetzung dieser Idee schon Millionen von Arbeiter:innen verraten und dafür gesorgt, dass der Marxismus als gescheitert angesehen wird. Gleichzeitig sind aber durch die internationalisierten Produktionsketten und aufgrund der enormen Fortschritte in der Geschwindigkeit des Austausches und der Kommunikation die Bedingungen für internationale Solidarität um einiges einfacher geworden. Antworten auf diese Fragen und, wie die Kämpfe zu gewinnen sind, können wir nur ausreichend beantworten (und vor allem umsetzen), wenn wir an allen Orten der Welt die fortschrittlichsten Arbeiter:innen, Frauen und Jugendlichen organisieren und für die Perspektive des antikapitalistischen Kampfes gewinnen. Außerdem braucht eine Bewegung nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen-/Fem*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in den Frauen-/Fem*streiks und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen. Auch jene Kräfte, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, müssen wir zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen adressieren, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen. So kann nicht nur die aktuelle Schwäche der Frauen-/Fem*streikbewegung überwunden werden.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Neujahrserklärung der Chinesischen Revolutionären Sozialist:innen (Trotzkist:innen)

Chinesische Revolutionäre Sozialist:innen (Trotzkist:innen), 30. Dezember 2023, Infomail 1240, 1. Januar 2024

Wir veröffentlichen die folgende Erklärung in Solidarität mit ihren Verfasser:innen und als Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Gruppen in China.

Das Jahr 2023 geht zu Ende und die Welt steht vor einer Krise, die möglicherweise tiefer ist als die Finanzkrise von 2008. Der russisch-ukrainische Krieg ist noch nicht beendet. Der Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse in den europäischen und amerikanischen Ländern ist von der höchsten Inflation seit Jahrzehnten betroffen. Der palästinensisch-israelische Konflikt droht den gesamten Nahen Osten in einen Krieg zu stürzen, während die ohnehin schon schwachen Volkswirtschaften der meisten Länder der Dritten Welt unter dem Doppelschlag von Pandemien und geopolitischen Rivalitäten am Rande des Bankrotts stehen.

In China verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, und das parteistaatliche System steuert stetig auf Instabilität zu. Die zwangsläufig ungleiche Entwicklung des Kapitals innerhalb Chinas in Verbindung mit den Verzerrungen der bürokratischen Kontrolle haben nicht nur zu sinkenden Wachstumsraten, sondern auch zu Spaltungen innerhalb der herrschenden bürokratischen Kaste geführt. Zu einem solchen historischen Zeitpunkt ist es nach Ansicht der chinesischen Trotzkist:innen an der Zeit, ihre Ansichten, Grundsätze und Positionen zur chinesischen Revolution öffentlich zu machen, sich von den Programmen der Maoist:innen (Mao-Linken) und der Liberalen abzugrenzen und die Strategie und Taktik für die bevorstehende Massenbewegung zu klären.

Als aufrichtige Marxist:innen-Leninist:innen halten wir diese Wahrheit für selbstverständlich, dass aufeinanderfolgende Produktionsweisen die menschliche Produktivität bis zu dem Punkt gesteigert haben, an dem ihre eigenen sozialen Strukturen eine weitere Entwicklung unmöglich machten. Damit die Produktion ein höheres Niveau erreichen konnte, mussten diese sozialen Strukturen in einer sozialen Revolution umgestürzt werden. Der Kapitalismus, der die Produktivkräfte bis zu einem globalen System der wirtschaftlichen Produktion entwickelt hat, hat nun den Punkt erreicht, an dem seine soziale Struktur die Gesellschaft vor die Alternative Sozialismus oder Barbarei stellt. Das Ziel des Sozialismus ist Freiheit, Gleichheit und die nachhaltige Entwicklung der Menschheit, und um diesem Ziel zu dienen, soll die Arbeiter:innenklasse, die selbst das Produkt des modernen Kapitalismus ist, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen Arbeiter:innenstaat ersetzen, um das kapitalistische System zur Erzielung von Profit zu stürzen und es durch eine Planwirtschaft zur Befriedigung der Bedürfnisse zu ersetzen, die den Weg zu einer staatenlosen und klassenlosen kommunistischen Gesellschaft ebnet.

Die Herrschaft von demokratisch rechenschaftspflichtigen Arbeiter:innenräten ist das entscheidende Merkmal eines Arbeiter:innenstaates, der den Weg zum Sozialismus und Kommunismus eröffnen kann. Dieses grundlegende Axiom des Marxismus wurde erstmals aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 formuliert und von den Bolschewiki in der Russischen Revolution von 1917 weiterentwickelt. Es wurde durch die Erfahrungen der Sowjetunion, Chinas und der anderen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und von denen keiner in der Lage war, seine Wirtschaft auf ein höheres Niveau als die fortgeschrittenen imperialistischen Staaten zu entwickeln, auf der negativen Seite bestätigt.

Die Kommunistische Partei Chinas (im Folgenden KPCh) war bei ihrer Gründung 1921 eine echte revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Dennoch sah sich die KPCh infolge der falschen Führung durch die stalinistische Dritte Internationale und der historischen Niederlage des chinesischen Proletariats im Jahr 1927 mit ungeheuer harten Bedingungen konfrontiert, als alle städtischen Arbeiter:innenorganisationen und die Vorhut vernichtet wurden. Weit davon entfernt, ihre soziale Basis in der Arbeiter:innenklasse aufrechtzuerhalten, war die KPCh gezwungen, auf dem konservativen und rückständigen Land zu überleben, und rekrutierte ihre Soldat:innen aus der revolutionären Bauern- und Bäuerinnenschaft. Der Klassencharakter der Partei änderte sich allmählich in qualitativer Hinsicht. Als Mao Zedong und die Rote Armee 1936 in Yan’an (Yenan) eintrafen, war die KPCh bereits zu einer konterrevolutionären Partei einer militärisch-bürokratischen Kaste geworden, die bereit war, ihre Macht um jeden Preis zu verteidigen. Hier entstand der Maoismus, der „Stalinismus mit chinesischen Merkmalen“.

1949 kam die KPCh an der Spitze einer Volksfront an die Macht, deren ursprüngliches Programm eine längere Periode der kapitalistischen Entwicklung vorsah. Als sich dies als unmöglich erwies, stürzte die KPCh, die in der Staatsbürokratie verwurzelt war, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und schuf einen degenerierten Arbeiter:innenstaat. Obwohl die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durch bürokratische Maßnahmen umgestürzt worden waren, wurde der Fortschritt hin zu qualitativ höheren Produktionsniveaus und sozialer Gleichheit durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste verhindert. Der Übergang zum Sozialismus erforderte daher den Sturz der KPCh durch eine politische Revolution.

Heute, 30 Jahre nach dem Beschluss der KPCh von 1992, den Kapitalismus wiederherzustellen, hat sich der Klassencharakter Chinas von einem kapitalistischen Land zu einem imperialistischen kapitalistischen Land mit globalen Ambitionen entwickelt. Die Aufgabe des chinesischen Proletariats ist daher nicht mehr die politische Revolution, sondern die soziale Revolution – mit anderen Worten, die proletarische Revolution müsste sowohl der Einparteiendiktatur als auch den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, die vom Parteistaat verteidigt und gefördert werden, ein Ende setzen.

In der Epoche des Imperialismus – dem höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus – sind die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution überall auf der Welt reif. Die Geschichte zeigt jedoch immer wieder, dass die subjektiven Bedingungen für eine Revolution ebenso wichtig sind wie die objektiven. Deshalb verkünden wir, die chinesischen Trotzkist:innen, auf der Grundlage der Prinzipien und Erfahrungen des Bundes der Kommunist:innen, der Ersten Internationale, des linken Flügels der Zweiten Internationale, der Dritten Internationale in der Ära Lenins und der Vierten Internationale in der Ära Trotzkis den Bürger:innen in China und der Welt die folgenden 10 Punkte als unsere Haltung:

1. Nieder mit der bürokratischen Diktatur! Abschaffung der „führenden Rolle“ der KPCh.

China ist ein kapitalistisches Land, wir fordern die sofortige Anerkennung aller demokratischen Forderungen, die mit dem Kapitalismus vereinbar sind, wie Vereinigungs-, Rede-, Bewegungsfreiheit, das Recht, unabhängige Gewerkschaften und Parteien zu bilden. Die öffentliche Verwaltung ist notwendig, aber die bürokratische Herrschaft ist es nicht: Alle Parteikomitees und Posten der KPCh in allen Bereichen des Lebens, in der Wirtschaft, in der Politik und im sozialen Bereich müssen aufgelöst werden. Die bürokratische Herrschaft hat die grundlegende Spaltung der Gesellschaft zwischen den Arbeiter:innen und der Kapitalist:innenklasse verschleiert, die die bürokratische Herrschaft unterstützt, solange sie die Kapitalakkumulation garantiert. Kein Vertrauen in die Kapitalist:innen und ihre Verbündeten im Kampf für die Rechte der Arbeiter:innen.

2. Für die Wahl von Betriebsausschüssen, die dann als Grundlage für Arbeiter:innenräte sich aus abwählbaren Delegierten zusammensetzen.

Aufgrund des Charakters des stalinistischen Regimes würde jede unabhängige Organisierung der Arbeiter:innenklasse sofort in Konflikt mit dem Staatsapparat geraten, welches Problem auch immer ihre Mobilisierung auslösen mag. In allen Betrieben und Fabriken sind die demokratisch gewählten betrieblichen Ausschüsse aller Arbeiter:innen die oberste Instanz. Die im Betriebsrat sitzenden Abgeordneten müssen jederzeit von einer Vollversammlung abberufen werden können. Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, Offenlegung aller Management-Informationssysteme, Bücher und Konten zur Kontrolle durch die Arbeiter:innendeputierten.

Fabrikausschüsse sollen die Arbeiter:innenkontrolle in allen Aspekten der Produktion durchsetzen, einschließlich der Gewährleistung des Streikrechts und des Vetorechts gegen Entscheidungen der Unternehmensleitung – ob es um Löhne, Arbeitsbedingungen oder Entlassungen geht. Gegen die Privatisierung des Bankwesens und der staatlichen Monopolindustrien! Für Arbeiter:innenkontrolle über die People’s Bank of China (Chinesische Zentralbank), die Enteignung aller Geschäftsbanken und ihre Zusammenlegung zu einer einzigen Staatsbank, ein wesentlicher Schritt zur Einführung einer demokratischen Planung, die von einem staatlichen Planungsrat überwacht wird, wie es sowohl Lenin als auch die sowjetische linke Opposition in den frühen 1920er Jahren vorschlugen! Für Arbeiter:innenkontrolle über die staatlichen Industrien, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Energie, Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Eisenbahn, Luftfahrt und Mineralien.

3. Außerhalb des Arbeitsplatzes muss das Proletariat unabhängige Gewerkschaften als zentrales Element seiner Klassenorganisation haben.

Entweder durch die Umgestaltung der bestehenden „staatlichen“ Gewerkschaften oder Schaffung neuer Gewerkschaften in der demokratischen Bewegung müssen unabhängige Gewerkschaften ihren Mitgliedern gegenüber rechenschaftspflichtig sein und von ihnen kontrolliert werden. Gewerkschaftsfunktionär:innen müssen von den Gewerkschaftsmitgliedern direkt gewählt und abwählbar sein; die „führende Rolle der Partei“ wird abgeschafft; Gewerkschaftsfunktionär:innen erhalten das Durchschnittsgehalt ihrer Mitglieder.

4. Gegen die Zensurgesetze der KPCh-Bürokratie sollten die Lohnabhängigen selbst entscheiden, was sie veröffentlichen wollen.

Unterstützung der freien Verbreitung aller literarischen und künstlerischen Werke. Öffnung des Zugangs zu Presse, Zeitungen, Radio und Fernsehen für alle Arbeiter:innenorganisationen und unabhängigen Gewerkschaften. Beseitigung der Zensur in den sozialen Medien und Abschaffung der Internetzensur Great Firewall. Die Arbeiter:innen sollen das Recht haben, ohne staatliche Einmischung über jede Art von Gesetzgebung zu diskutieren. Wahl von Richter:innen und Prozessen an Arbeiter:innengerichten.

5. Die Freiheit aller werktätigen Schichten, politische Parteien zu gründen, das Recht jeder Gruppe von Arbeiter:innen und Klein:bäuerinnen, bei jeder Wahl ihre eigenen Kandidat:innen aufzustellen.

Alle Einwohnner:innen haben das Recht, politische Parteien zu gründen, die die demokratischen Rechte respektieren (und damit die Faschist:innen ausschließen). Transparente Wahl der jederzeit abberufbaren Dorfbevollmächtigten. Offenlegung der Buchführung und Konten jedes Dorfes. Vollständige Entschädigung der Opfer von Landbeschlagnahmungen und illegalen Landverkäufen. Wahl ländlicher Räte, die von einer bäuerlichen Miliz bewacht werden und die über die Nutzung der kollektiven Landressourcen, das Verkehrswesen, den Betrieb öffentlicher Einrichtungen und den Umweltschutz entscheiden werden. Widerstand gegen die Privatisierung von Grund und Boden in den Städten und auf dem Land. Forderung nach kostenlosen Krediten für Landwirt:innen zum Kauf von Maschinen und Düngemitteln sowie nach Anreizen für einzelne Bewirtschafter:innen, sich Genossenschaften sowie Versorgungs- und Vermarktungsgemeinschaften anzuschließen. Kontrolle großer kapitalisierter Unternehmen durch die Beschäftigten, die sich seit der Privatisierung der Kolchosen und Produktionsgenossenschaften im Zuge der Reform von Deng Xiaoping entwickelt haben. Aufbau moderner staatlicher Großbetriebe als Modell für die freiwillige Umstellung der individuellen/familiären Landwirtschaft. Massive Investitionen zur Verbesserung der kostenlosen Gesundheitsversorgung, des Verkehrswesens und der kulturellen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten. Bereitstellung von kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Landlose. Schrittweise Beseitigung des Stadt-Land-Gefälles durch die „Kombination von Land- und Industriearbeit“. Abschaffung des Systems der „Landfinanzierung“ und entschädigungslose Verstaatlichung des Immobiliensektors. Bereitstellung von angemessenem und kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen.

6. Im Zuge der Revolution werden die Polizei, die bewaffnete Polizei und die nationale Sicherheitsbehörde aufgelöst und durch ein Komitee für öffentliche Sicherheit nach dem Vorbild der Tscheka in der frühen Sowjetära ersetzt.

Wie die Erfahrungen des Arabischen Frühlings zeigen, werden Revolutionen in autoritären Ländern mit demokratischen Forderungen beginnen, können aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie über das demokratische Stadium hinausgehen, die Soldat:innen von ihrem Oberkommando lösen und Teile von ihnen für die Revolution gewinnen. Das Massaker von Tian’anmen hat auch gezeigt, dass selbst bei einer Spaltung innerhalb der Bürokratie, wenn die dominierende Fraktion noch immer die Streitkräfte kontrolliert, diese zur Abwehr von Volksaufständen eingesetzt werden. In dieser Hinsicht besteht der Kern des revolutionären Programms daher darin, die Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit der Soldat:innen zu unterstützen und ihre eigenen Befehlshaber:innen in Soldat:innenausschüsse zu wählen, die dann zum Soldat:innenrat werden.

Alle Arbeiter:innen erhalten eine militärische Ausbildung, bewaffnen sich und organisieren sich in betriebseigenen Milizen als Hüter:innen von Arbeiter:innenräten. Aufhebung des Gesetzes über die nationale Sicherheit in Hongkong. Sofortige Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Einberufung verfassunggebender Versammlungen sowohl auf Provinz- als auch auf nationaler Ebene. Die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Beziehungen zwischen der Region Hongkong und den Zentralbehörden werden der verfassunggebenden Nationalversammlung zur Überprüfung oder Änderung vorgelegt. Abschaffung der Todesstrafe. Für die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen.

7. Für die Rätedemokratie.

Um die bürokratische Diktatur zu stürzen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre eigenen Mittel zur Ausübung der Staatsgewalt schaffen. Die unabhängigen Organisationen, die im Kampf gegen die Bürokratie entstanden sind, die Fabrikkomitees, müssen zu Arbeiter:innenräten (Sowjets) zusammengefasst werden. Die Sowjets werden die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten aus der armen Landbevölkerung organisieren, um einen Massenaufstand gegen den bürgerlichen Staat durchzuführen. Der Arbeiter:innenrat hat sowohl exekutive als auch legislative Funktionen. Der Arbeiter:innenrat und der Soldat:innenrat werden zusammengelegt, um die Sowjetregierung (Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung) als Form der proletarischen Diktatur zu bilden. Die Sowjetregierung setzt ein Preisüberwachungskomitee ein, das die Qualität und die Preise von Konsumgütern überwacht und die gleitende Skala der Löhne sicherstellt. Schaffung einer landesweiten Arbeitslosengewerkschaft, um den Arbeitslosen eine Berufsausbildung zu ermöglichen und die vorhandenen Arbeitsplätze anteilig auf die gesamte Erwerbsbevölkerung aufzuteilen.

8. Nieder mit jeder Art von sozialer Unterdrückung.

Ein typisches Merkmal der stalinistischen Regime ist, dass die Frauenbewegung und die Bewegung zur Befreiung der Homosexuellen tagtäglich von der Bürokratie unterdrückt und sogar verfolgt werden. In der Sowjetunion bedeutete die politische Konterrevolution der 1920er Jahre nicht nur die Errichtung einer bürokratischen Diktatur über Wirtschaft und Politik, sondern auch die Rückgängigmachung der nach 1917 eingeführten Reformen zur Bekämpfung der sozialen Unterdrückung. Der enorme Beitrag der Oktoberrevolution zur Befreiung der Homosexuellen und Frauen ist seit langem völlig zunichtegemacht worden. Reaktionäre Gesetze und Moralvorstellungen wurden wieder eingeführt. Überall in China verstärkte die stalinistische Bürokratie das bürgerliche Familienkonzept und diktierte weiterhin die Größe der Familie nach den unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnissen. Die Restauration des Kapitalismus und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen seit den 1990er Jahren haben die Unterdrückung der Frauen erheblich verschärft, und die chinesischen Frauen sind gezwungen, die dreifache Last von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung zu tragen. Gleichzeitig wird die Jugend in Schulen und Klassenzimmern mit dem „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen in der neuen Ära von Xi Jinping“ indoktriniert, und sie wird nicht nur durch eine reaktionäre patriotische Moral getäuscht, sondern auch ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt. In diesem Zusammenhang sollten wir die folgenden Forderungen aufstellen:

  • Sozialisierung der Hausarbeit und Einrichtung von 24-Stunden-Kinderkrippen. Verbot der geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei Einstellungen und Zulassungen. Kampf für eine unabhängige proletarische Frauenliga. Umfangreiche Investitionen und Ausbau von Frauenhäusern, Waisenhäusern, öffentlichen Kantinen und Wäschereien, kostenlosen Kliniken usw.

  • Aufhebung aller aufgezwungenen Familienpläne. Abschaffung der „Bedenkzeit für die Scheidung“ und vollständige Freigabe des Scheidungsrechts. Härtere Strafen für Unzucht mit Kindern, Frauen- und Kinderhandel und Vergewaltigung.

  • Gleichstellung von LGBTIAQ-Personen. Gegen Belästigung und Gewalt aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung.

  • Unterstützung der demokratischen Kontrolle von Schulen und Bildungssystemen durch Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und Psycholog:innen. Erhöhung der Investitionen in die Bildung durch Erlass aller Studiengebühren, Honorare und Kosten für Unterkunft und Verpflegung von der Grundschule bis zur Universität, unabhängig von der Nationalität. Jugendverbände werden von keiner politischen Partei reguliert und üben die Kontrolle über ihre eigenen Kultur-, Verlags- und Verbreitungsorgane aus.

  • Abschaffung der Zensur, die der Jugend den Zugang zum bestehenden kulturellen Erbe der Welt verwehrt. Dies wird nur ihren Intellekt und ihren Kampfgeist schwächen und sie zum Opfer reaktionärer Ideen machen.

  • Abschaffung der Diskriminierung junger Menschen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Auszubildende, Zeitarbeiter:innen und Festangestellte.

9. Das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung ist ein absolutes und unbedingtes demokratisches Recht, das die Stalin-Maoist:innen jedoch ständig leugneten.

Trotz des föderalen Charakters Sowjetrusslands seit seiner Gründung behielt der Stalinismus, wie auch bezüglich anderer Aspekte der politischen Praxis der bolschewistischen Partei, die Form bei und beraubte sie ihres revolutionären Inhalts. In der Sowjetunion und in allen degenerierten Arbeiterstaaten, die folgten, waren weder der föderale Charakter (UdSSR und Jugoslawien) noch der Einheitsstaat (China) unter dem Deckmantel der „autonomen Regionen“ eine freiwillige Föderation der Völker, sondern ein gemeinsames Gefängnis für alle Völker.

Der Marxismus vertritt die Auffassung, dass die Nation ein neuzeitliches politisches Konzept ist, das aus der Bildung eines gemeinsamen Marktes im Prozess der kapitalistischen Entwicklung unter Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren wie Geographie, Sprache, religiöse Überzeugungen usw. hervorgegangen ist. Daher bildet das Territorium Chinas während der dynastischen Periode ungeachtet seiner Grenzstreitigkeiten und historischen Veränderungen keine Quelle der Legitimität für den Anspruch auf „souveräne Integrität“. Im 19. und 20. Jahrhundert, in dieser kritischen Phase der nationalen Formierung in der kapitalistischen Entwicklung, haben Xinjiang (Sinkiang), Tibet und Taiwan entweder ihre Unabhängigkeit erklärt oder sich für lange Zeit von China abgespalten und sollten unter den Bedingungen der nationalen Formierung das Recht auf Selbstbestimmung genießen.

Nachdem die KPCh 1949 an die Macht gekommen war, marschierte die Volksbefreiungsarmee in Xinjiang und Tibet ein und beraubte die beiden ethnischen Gruppen ihres Selbstbestimmungsrechts. Seit den 1990er Jahren erlebten die Gebiete der ethnischen Minderheiten aufgrund der sozialen Konterrevolution, die durch die Restauration des Kapitalismus ausgelöst wurde, den Aufstieg religiöser Ideologien und Nationalismen. Wie die sozialen Gegenrevolutionen, die in anderen Bereichen des nationalen Lebens stattfanden, führte die Wiederherstellung des Kapitalismus einerseits zu separatistischen Gefühlen und andererseits zu eskalierenden Konflikten zwischen der von der KPCh unterstützten Han-Bevölkerung und den ethnischen Minderheiten. In den letzten Jahren ist Xinjiang zum typischsten Fall geworden.

Die proletarische Revolution muss zunächst das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Bevölkerung in Xinjiang und Tibet anerkennen, was das Recht auf Abspaltung durch ein Referendum einschließt. Vor allem, welche Form der Selbstbestimmung das sein könnte und ob sie dieses Recht ausüben wollen, hängt vom Willen der Indigenen ab. Dies ist nicht nur prinzipiell richtig, sondern auch in der Praxis die einzige Möglichkeit, die Spannungen zwischen der Han-Mehrheit und ethnischen Minderheiten aufgrund staatlicher Unterdrückung abzubauen. Daher ist die nationale Selbstbestimmung der einzige Weg, um die Unterstützung des Proletariats der nationalen Minderheiten für die chinesische Revolution zu gewinnen.

In der Zwischenzeit müssen alle Sozialist:innen, ob Han-Chines:innen oder ethnische Minderheiten, die Bildung einer sozialistischen Föderation Asiens fordern, der die Mitgliedsstaaten freiwillig beitreten und wieder austreten können, und dass Han-Chines:innen, die sich im Rahmen des staatlichen Kolonialprogramms in Xinjiang und Tibet niedergelassen haben, das Recht haben zu wählen, ob sie bleiben und sich gemeinsam mit den ethnischen Minderheiten entwickeln oder in ihre Heimat im chinesischen Stammland zurückkehren wollen, unabhängig von der Zukunft von Xinjiang und Tibet.

Die Forderungen der Sozialist:innen lauten:

  • Auflösung des Produktions- und Baukorps von Xinjiang.

  • Abzug der in Tibet stationierten Truppen.

  • Freilassung aller Uigur:innen und Abschaffung der „Umerziehungslager“.

  • Für Religionsfreiheit, Freiheit der einheimischen Sprachen und Kultur.

  • Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

  • Lang lebe eine Föderation der asiatischen Arbeiter:innenstaaten!

10. Eine Rückkehr zum proletarischen Internationalismus von Lenin und Trotzki.

Westliche Sozialist:innen haben die Auflösung der NATO, der Weltbank und des IWF gefordert, während chinesische Sozialist:innen die Auflösung der Asiatischen Infrastrukturinvestitionsbank (AIIB), den Erlass aller Schulden der Entwicklungsländer, die Abschaffung der Gürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) und die kostenlose Schenkung von Infrastrukturprojekten in Afrika und Südostasien an die lokale Bevölkerung fordern. In Ländern, die zu Halbkolonien des chinesischen Imperialismus geworden sind (z. B. Pakistan), sollten alle Truppen von den Militärbasen in Übersee abgezogen, alle ungleichen Privilegien abgeschafft und ein Plan zur Kompensation der durch die Verlagerung von Produktionskapazitäten verursachten Umweltschäden angekündigt werden. Anerkennung der Souveränität eines Arbeiter:innenstaates bei der Festlegung der Kontrolle und Entwicklung der chinesischen Unternehmen in Übersee. Abschaffung der Geheimdiplomatie. Offenlegung aller mit dem Ausland abgeschlossenen Geheimverträge. Verurteilung des vom russischen Imperialismus geführten Krieges in der Ukraine. Hände weg von Taiwan. Aufhebung aller Sanktionen oder Gegensanktionen. Ablehnung aller Militärausgaben des Parteienstaates. Verurteilung des israelischen Siedlerkolonialismus und Unterstützung eines einheitlichen, säkularen und sozialistischen Staats in Palästina. Stopp der offiziellen Fremdenfeindlichkeitspropaganda und der militärischen Aufrüstung mit nuklearen oder konventionellen Waffen. Volle und gleiche Rechte für ausländische Einwohner:innen. Abgabe der revolutionären Erklärung an die Regierungen aller Länder und Aufruf zur Weltrevolution.

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Am Vorabend der Amerikanischen Revolution im Jahr 1776 schrieb Thomas Paine: „Die Sache Amerikas ist in hohem Maße die Sache der gesamten Menschheit. Viele Umstände sind eingetreten und werden eintreten, die nicht lokal, sondern universell sind und durch die die Prinzipien aller Menschenfreund:innen betroffen werden und an deren Zustandekommen ihre Zuneigung interessiert ist.“ Heute ist die Sache des chinesischen Proletariats in erster Linie auch die Sache der gesamten Menschheit, weil der internationale Charakter einer proletarischen Revolution natürlich die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaates überwindet und die chinesische Revolution ein Glied in der Weltrevolution und im Übergang zu einer sozialistischen Weltföderation sein wird. Obwohl die chinesische Bourgeoisie derzeit ihre eigenen Gründe hat, sich dem Parteistaat zu widersetzen, und die Republik China als Banner für eine „demokratische Revolution“ benutzen kann, kann die chinesische Revolution eine echte Revolution sein, wenn und nur wenn sie in einer Machtergreifung durch das Proletariat endet.

Trotzki hat bei der Erläuterung des philosophischen Denkens von Marx und Engels einmal darauf hingewiesen: „Die Menschheit hat die dunklen spontanen Kräfte aus der Sphäre der Produktion und der Ideologie vertrieben und die barbarischen Konventionen durch Wissenschaft und Technik ersetzt. Die Ersetzung der Religion durch die Wissenschaft, die zur Renaissance und Reformation des 15. und 16. Jahrhunderts führte, war das Streben nach intellektueller Rationalität; und dann vertrieb die Menschheit das Unbewusste aus der Politik und stürzte die Monarchie und die Hierarchie durch ein demokratisches, rein rationalistisches parlamentarisches System und dann ein völlig transparentes Sowjetsystem. Es war das Streben nach politischer Rationalität, das mit den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts begann und in der Oktoberrevolution kulminierte; und schließlich schlugen die blinden, spontanen Kräfte die tiefsten Wurzeln in den wirtschaftlichen Verhältnissen – aber dort trieb die Menschheit diese mit der sozialistischen Wirtschaftsorganisation aus, was alles ermöglichte, die wirtschaftliche Rationalität zu erreichen.“

Das Besondere an China ist, dass es ein Land ist, in dem keine der drei Rationalitäten – ideologisch, politisch, wirtschaftlich – verwirklicht wurde, und daher muss die Mission der proletarischen Revolution die Kombination aller drei sein.

Folglich müssen alle Revolutionär:innen, die die oben genannten Forderungen unterstützen, zunächst in einer einzigen Partei organisiert werden. Eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei muss demokratischen Zentralismus praktizieren – „ein Mitglied – eine Stimme“ für ihre Mitglieder und volle Freiheit in der Diskussion, wobei die Minderheit der Mehrheit gehorchen muss, Demokratie in der Entscheidungsfindung und absolute Disziplin in der Durchführung von Aktionen. Wie Lenin betonte, muss eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei als Vorhut der Arbeiter:innenklasse den Organisationsgrad, die Moral und das Bewusstsein des Proletariats durch jeden einzelnen Kampf anheben, bis sie in der Lage ist, die gesamte Klasse durch einen Aufstand zum Sturz des bürgerlichen Staates zu führen und eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung einzusetzen. Jede Arbeiter:innenpartei darf daher ihre Regierung nur durch die Erringung der Mehrheit der Sitze im Arbeiter:innen- und Soldat:innenrat bilden und niemals den Parteiapparat selbst als Regierungsmacht betrachten. Um die revolutionären Bewegungen jenseits der Grenzen zu fördern, zu koordinieren und zu vereinigen, rufen wir schließlich zu einer neuen Revolutionären Internationale auf, die auf dem demokratischen Zentralismus basiert, als Weltpartei für die sozialistische Revolution.

Obwohl wir derzeit eine winzige Minderheit innerhalb des chinesischen Proletariats von insgesamt 400 Millionen sind, obwohl wir der Feindschaft der zweitgrößten imperialistischen Macht und eines völlig totalitären KPCh-Staates gegenüberstehen, glauben wir, dass das chinesische Proletariat in seiner gerechten Macht den absoluten Sieg davontragen wird. Am Vorabend des Neujahrs 2024 bitten wir die kämpferischen Arbeiter:innen zu Hause und in der ganzen Welt, unseren Forderungen Gehör zu schenken und unseren Aktionen zu folgen.

  • Arbeiter :innen und Unterdrückte aller Länder, vereinigt euch!

  • Lang lebe die chinesische Revolution!

  • Lang lebe die Weltrevolution!



Schäuble – ein deutscher imperialistischer Politiker

Martin Suchanek, Infomail 1240, 29. Dezember 2023

Wolfgang Schäuble verstarb am 26. Dezember. Obwohl er selbst nie Bundeskanzler war, prägte er die Politik des deutschen Imperialismus über Jahrzehnte wie kaum ein anderer, gehörte zu den führenden bürgerlich-kapitalistischen Strateg:innen.

Werdegang

Auch wenn er nach seinem Jurastudium als Finanzbeamter tätig war, so führte er im Grunde Zeit seines Lebens das Dasein eines Berufspolitikers. Von 1972 bis zu seinem Tod gehörte er ununterbrochen dem deutschen Bundestag an. Von 1984 bis 1991 fungierte er in den Regierungen Kohl als Minister, zuerst als Chef des Kanzleramtes, dann als Innenminister. 1991 wurde er Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und damit eine zentrale Stütze der Regierung. Vor der kapitalistischen Wiedervereinigung gehörte Schäuble zudem zu den wichtigsten Stützen Kohls gegen die innere Opposition in der CDU (Geißler, Späth, Süssmuth).

Schäuble war maßgeblich an der zur „geistig moralischen Wende“ verklärten konservativ-(neo)liberalen schwarz-gelben Regierungspolitik und am Wiedervereinigungsvertrag beteiligt, wobei er sich als verlässlicher Vertreter der Interessen des deutschen Gesamtkapitals und dessen führender Konzerne erwies.

Kein Wunder also, dass der „Kanzler der Einheit“ Schäuble zu seinem Nachfolger auserkoren hatte, der als Parteivorsitzender und auch als Kanzler „übernehmen“ sollte. Doch Kohls Wahlniederlage gegen Schröder vereitelte die für 2002 anvisierte „Übergabe“ im Kanzleramt. Auch Schäubles Zeit als CDU-Vorsitzender währte nur kurz. 1999 wurden nämlich die Dimensionen der CDU-Spendenaffäre immer deutlicher. Über gut zwei Jahrzehnte hatte die Partei Millionen DM auf Schattenkonten gehortet. Wie so viele andere in die „Affäre“ verstrickte CDU-Politiker:innen bestritt auch der Ehrenmann Schäuble zunächst alle Vorwürfe. Doch die Beweise wurden immer erdrückender. Kohl mutierte vom Ehrenvorsitzenden zur Altlast, Schäuble trat schließlich vom Parteivorsitz zurück, blieb aber Abgeordneter.

An seine Stelle trat Angela Merkel. Ursprünglich als Zwischenlösung betrachtet, wurde sie schließlich 16 Jahre lange Kanzlerin. Und Schäuble machte sich daran, seinem Land wieder als Innenminister zu dienen, als Law-and-Order-Mann, der sich auch mit Schwarzgeldkonten auskannte. Von 2009 bis 2017 erlebte Schäuble seinen internationalen Durchbruch als Finanzminister und neoliberaler Hardliner. Im Rahmen der Troika und der EU setzte er drakonische Bedingungen für das infolge der globalen Krise vor dem Bankrott stehende Griechenland durch, das er mehr oder weniger offen eigentlich aus dem Euro-Raum treiben wollte (was jedoch von Merkel abgelehnt und verhindert wurde). Schäuble, der bis dahin vor allem im deutsch-deutschen Verhältnis (bis 1990) und innenpolitisch hervorgetreten war, machte sich nun einen Namen als beinharter, neoliberaler Einpeitscher und finanzpolitischer Zuchtmeister des deutschen Imperialismus gegenüber seinen untergeordneten europäischen „Partner:innen“. Schäuble gab einen Vorgeschmack darauf, was „deutsche Führung“, deren angeblicher Mangel andernorts gern beklagt wurde, realiter bedeutet.

Von 2017 bis 2021 fungierte er als scheinbar über allen Parteien stehender Bundestagspräsident und – weniger über allen Parteien stehend – als elder statesman der CDU und Quasi-Berater von Friedrich Merz.

Schäubles Bedeutung

Aus der Masse der deutschen Politiker:innen aller, von der herrschenden Klasse als staatstragend anerkannter Parteien – ob nun CDU/CSU, FDP, SPD oder Grünen – stach Schäuble jedoch heraus. Und zwar nicht, weil er besonders exzentrisch oder persönlich bedeutend gewesen wäre. Was das betrifft, unterscheidet er sich wohl wenig von anderen konservativen, aus einer christlichen CDU-Familie stammenden Funktionär:innen seiner Partei.

Was ihn von der für den bürgerlichen Politikbetrieb kennzeichnenden geistig-intellektuellen Mittelmäßigkeit, die charakteristisch für die große Masse der Abgeordneten und Funktionär:innen sämtlicher bürgerlicher Parteien (letztlich auch der AfD und der Linkspartei) ist, unterschied, war jedoch die Tatsache, dass er nicht einfach ein weiterer Parteigänger des Kapitals war, sondern einer seiner strategisch agierenden Vertreter:innen. Geistig-intellektuell war er Kohl, dem Parteivorsitzenden und Kanzler, dem er rund zwei Jahrzehnte diente, sicher überlegen und freilich konnte er sich auf diesem Gebiet mit Merkel messen.

Anders als einige Möchtegern-Geistesgrößen der CDU, die sich mit Kohl oder Merkel überwarfen und daraufhin vom aktiven politischen Geschehen zurückzogen, fungierte Schäuble unter beiden als wichtiger Minister oder Fraktionschef in Schlüsselfunktionen für die eigene Partei, aber auch den Kurs der herrschenden Klasse. Somit wurde er selbst zu einer prägenden Figur, die gewissermaßen zu einer Institution wurde.

Schon früh stand Schäuble für eine, wenn auch auf deutsche Verhältnisse angepasste neoliberale Wirtschafts- und eine rigide Finanzpolitik. Zweifellos reflektiert das auch seine Herkunft aus dem spießigen schwäbisch-protestantischen Bildungsbürger:innentum, seit jeher eine Bastion des deutschen Konservativismus. Vor allem aber ging es ihm dabei immer darum, die Wirtschaftsmacht Deutschlands voranzubringen. Dies schloss durchaus – siehe die Kosten der Wiedervereinigung – auch Schulden für das große Ganze des deutschen Imperialismus ein. Aber bei allen anderen – ob nur den Millionen griechischer Arbeiter:innen und Arbeitsloser, den Lohnabhängigen in Deutschland oder den zahlreichen Gegenreformen, die er als Minister mit vorantrieb – kannte Schäuble keine Rücksicht. Dort betätigte er sich vorzugsweise als „Spardiktator“. Er war zwar wie fast alle Vertreter:innen des deutschen Imperialismus nach 1945 „bekennender Europäer“, also einer von Deutschland und Frankreich geführten EU. An diese wollte er sogar zeitweilig mehr nationale Kompetenzen abgeben und auch die Wahl der Kommission demokratisieren, aber zugleich wollte er eine „strenge“, von Deutschland diktierte Finanz- und Haushaltspolitik garantiert haben.

Diesen inneren Widerspruch bürgerlicher Europapolitik konnte auch Schäuble nicht auflösen. Im Gegenteil, das von ihm maßgeblich vorangetriebene Austeritätsdiktat gegenüber Griechenland war zwar insofern erfolgreich, als es die griechische Regierung vorführte und domestizierte – es offenbarte zugleich aber auch die zentrifugale, die EU und die Euro-Zone selbst auseinander treibende Logik dieser Politik.

Mehr als Kohl und Merkel (und erst recht Schröder) war Schäuble schon immer Transatlantiker und sehr viel enger am Bündnis mit den USA orientiert. Nichtsdestotrotz musste eine erfolgreiche Stärkung der EU und der Euro-Zone unvermeidlich auch die gegensätzlichen Interessen zu den USA hervorbringen. Hier stand Schäuble nach dem Maidan 2014 und damals im Gegensatz zu Merkel und Steinmeier für jenen Flügel des deutschen Imperialismus, der die einzige Chance zur geostrategischen Stärkung der EU und Deutschlands in der Anbindung an die USA als deren Führungsmacht sieht. Daher war seine Unterstützung für Merz im Kampf um die Merkel-Nachfolge in der CDU keineswegs nur Ausdruck einer „Männerfreundschaft“, sondern beruhte auf einer wirklichen geostrategischen Überstimmung.

Die Bedeutung der Strategie

Politische Strategie ist im Klassenkampf für jede Klasse von herausragender Bedeutung. Schließlich ergibt sich ein langfristiges Handeln im Rahmen der immer schärfer ausgetragenen wirtschaftlichen und geostrategischen Konkurrenz auch für die herrschende Klasse nicht „spontan“ oder automatisch, sondern formt sich selbst erst über die Austragung ideologisch-strategischer Auseinandersetzungen und den Klassenkampf.

In den letzten 50 Jahren prägte Schäuble die Politik des deutschen Imperialismus entscheidend mit, er trug maßgeblich zu wichtigen Siegen der herrschenden Klasse – allen voran die kapitalistische Wiedervereinigung – bei. Er vermochte jedoch ebenso wenig wie Kohl, Schröder oder Merkel, die inneren Widersprüche zu überwinden, die den Weltmachtambitionen des deutschen Imperialismus bis heute Grenzen setzen. Doch es ist unvermeidlich, dass diese im Kontext des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt auch die bürgerlich-imperialistische Politik vor immer neue, immer schärfe Alternativen (z. B. verstärkte europäische Integration oder Europa der zwei Geschwindigkeiten, Aufrüstung der EU zu einer Militärmacht, die mit den Großmächten mithalten kann oder militärisch und politisch zurückfällt) stellen werden.

Das heißt, die politisch-strategischen Weichenstellungen, die die Ampel-Regierung mit dem Terminus der Zeitenwende halb anerkennt, zugleich aber auch halb zu dementieren versucht, werden immer mehr in den Vordergrund treten müssen. Die deutsche Bourgeoisie verfügt dabei zur Zeit über keine wirkliche, längerfristige strategische Ausrichtung. Vielmehr befindet sie sich einem inneren Widerstreit, was grundsätzlich die politischen Schwankungen und Instabilität fördert, auch wenn in den letzten Jahren davon fast ausschließlich die Rechte profitierte.

Und das wird auch so bleiben, wenn die Arbeiter:innenklasse, wenn die Linke selbst nicht die Frage nach grundlegenden programmatischen und strategischen Lösungen für die aktuelle Krise beantwortet. Mit Schäuble hat die deutsche Bourgeoisie einen Strategen verloren, der ihre Politik prägte. Das Problem der Arbeiter:innenklasse besteht darin, dass sie über keine revolutionären Strateg:innen verfügt, die ihre Politik prägen.




Wieso, weshalb, warum? Eine Antwort an:  Wir // Jetzt // Hier

Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1237, 22. November 2023

Nach dem Parteitag der Linkspartei in Augsburg veröffentlichen „Linke aus verschiedenen Teilen der Zivilgesellschaft“ den Beitrag „Wir // Jetzt // Hier“ und kündigen ihren Eintritt in DIE LINKE an.

Wer im letzten Jahrzehnt die Politik der radikalen Linken in Deutschland verfolgen musste, den erinnern darin viele Formulierungen und Inhalte an die Interventionistische Linke und andere postautonome Gruppierungen. Diese ist seit Corona erstaunlich stumm, zum Ukrainekrieg lässt sie sich kaum blicken und zu Palästina hat sie praktisch nichts zu sagen.

Aber es bleibt letztlich nur eine Mutmaßung, woher die Autor:innen genau kommen, die schreiben. In einer Telegram-Gruppe haben die Initiator:innen über 500 Menschen gesammelt, am 20. November sollten möglich alle in die Partei eintreten. Doch das Schreiben wirft in vielerlei Hinsicht mehr Fragen auf, als es klärt. Deswegen fragen wir zurück und freuen uns auf eine Antwort.

Wieso?

Die stetig voranschreitende Klimakrise, der scheinbar unaufhaltsame Rechtsruck – all das scheint unerträglich ohne eine linke Alternative, insbesondere für Aktivist:innen, die „sich der parlamentarischen Politik nie verbunden gefühlt haben.“ Stattdessen haben sie „protestiert, blockiert, gestreikt und Politik und Kultur von unten“ organisiert. So weit so verständlich.

Im späteren kommt dann die weitere Erklärung: „Durch den Abgang des Wagenknecht-Lagers kann sie sich entweder als eine solche verbindende Organisation neu aufstellen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken.“ Aber schreibt der Abgang von Wagenknecht wirklich die Geschichte der Linkspartei neu?

Weshalb?

Nein, eigentlich nicht. Denn Wagenknecht sitzt nicht in Thüringen, Bremen oder Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung und schiebt dort auch nicht ab. Wagenknecht war auch nicht dafür verantwortlich, dass es keine Kampagne für offene Grenzen gegeben und man nicht versucht hat, mit den Gewerkschaftsmitgliedern der Partei dafür zu kämpfen, dass Geflüchtete in diese aufgenommen werden, man dort gemeinsam Arbeitskämpfe führen könnte, die rassistische Vorurteile abbauen und Verbesserungen für alle mit sich bringen.

Dass das nicht stattgefunden hat, ist vor allem das Werk des Flügels der Regierungssozialist:innen. Mit diesen hat kein Bruch stattgefunden, vielmehr hat sich die Bewegungslinke aus Angst vor dem Untergang an ihn geklammert und selbst angefangen, „Rebellisches Regieren“ auf ihre Fahne zu schreiben. Doch das wisst ihr selber. Deswegen schreibt ihr: „Es gibt kein ,rebellisches Regieren‘ mit SPD und Grünen. Das zeigt die zunehmende Abschiebepraxis in Thüringen ebenso wie die Blockade des Volksentscheids ,Deutsche Wohnen & Co enteignen‘ unter Rot-Rot-Grün in Berlin“ und „DIE LINKE hat sich mit diesen Regierungsprojekten für eine Koalitionsfähigkeit verbogen und sich zur Komplizin des rot-grünen Mitte-Extremismus gemacht.“

Das wollt ihr stoppen, das wollt ihr verändern und deswegen tretet ihr nun in die Partei ein. Aber wie genau das vonstattengehen soll, das verschweigt ihr. Mit dieser Entscheidung und ohne Plan lauft ihr Gefahr, einfach nur die neue Bewegungslinke zu werden. Ihr nehmt den Streit, der seit Gründung der Linkspartei stattfindet, auf. Aber bei Deutsche Wohnen & Co enteignen, da hattet ihr selber keinen Plan, wie man die Bewegung voranbringt, Druck auf die Linkspartei ausübt, damit sie nicht ihre eigene Regierungsbeteiligung über den Erfolg der Bewegung stellt. Was macht euch so sicher, dass es jetzt ganz anders läuft? Denn es war nicht Wagenknecht, die in Berlin den Volksentscheid blockiert hat.

Für eine Partei der Arbeiter:innen?

Die Forderungen nach einem durchschnittlichen Facharbeiter:innengehalt und auch nach begrenzten Amtszeiten für Abgeordnete sind super. Wir unterstützen diese. Aber eine Partei für Arbeiter:innen macht mehr aus, als dass Mandatsträger:innen Arbeiter:innen sind und einen Teil ihrer Gehälter abgeben. Das ist ein Mittel, das verhindern soll, dass eine Schicht von Fuktionär:innen entsteht, die sich verselbständigt und im Interesse ihrer eigenen ökonomischen Stellung handelt. Das reicht aber nicht aus.

Mandatsträger:innen müssen ihrer Basis gegenüber auch rechenschaftspflichtig – und zur Not auch abwählbar – sein. Passiert das nicht, können sich Bundestagsabgeordnete mit ihrem Mandat nicht nur aus dem Staub machen, sondern Mandatsträger:innen können soziale Bewegungen und Arbeiter:innenkämpfe verraten, ohne unmittelbar Konsequenzen zu tragen.

Und auch das reicht nicht, um eine Partei der Arbeiter:innen zu sein. Busfahrer:innen und Krankenpflegende können im Bundestag sitzen – das ist cool und notwendig –, aber inhaltlich trotzdem keine Politik machen, die den Kapitalismus überwindet. Darum geht’s doch hoffentlich. Das ist eine Annahme, denn ja, es ist wichtig, wie ihr schreibt, „eine radikale, linke Sprache der Gegenwart zu entwickeln“. Aber es hilft nicht, alles scheinbar Angestaubte zu ersetzen, wenn man niemand mehr weiß, ob man denn nun transformieren, zerschlagen oder doch nur reformieren will. Klare Inhalte und Vorhaben einfach verständlich zu kommunizieren, findet nicht dadurch statt, dass man schöne Umschreibungen für Worte wie „Arbeiter:innenklasse“ oder „Sozialismus“ findet. Es geht um konkrete Ideen, die man mit entsprechender Politik umsetzen will. Denn das Wort „Enteignung“ hat z. B. die Mehrheit der Berliner Bevölkerung beim Volksentscheid auch nicht verschreckt.

Warum?

Mit der Krise der Interventionistischen Linken ist es still um weite Teile der postautonomen Linken geworden. Dabei war ihre Stagnation ein Resultat der Krise der Linkspartei. Über Jahre ging dieser Teil der „radikalen Linken“ eine Art Arbeitsteilung mit ihr ein, die Luxemburg-Stiftung und andere Finanzquellen dienten als Verbindungsstück. Nun steht dieses Verhältnis in Frage, denn wenn DIE LINKE aus dem Bundestag und den Landesparlamenten verschwindet, versiegen auch diese Geldquellen. Und das trifft ganz offenkundig auch Linke, die sich ansonsten die Hände nicht schmutzig machen wollten im parlamentarischen Geschäft, wenn es heißt: „Soziale und ökologische Bewegungen brauchen ein ökonomisches Zuhause.“

Deswegen überrascht es nicht, dass Teile aus diesem Spektrum sich entscheiden, das was sie letzten Endes immer gewesen sind, nun auch zu formalisieren. Es ist keine große, neue Veränderung, sondern eine Konsolidierung der alten Kräfte. Eventpolitik kann nun unter einem neuen Banner betrieben werden – und das hält zusammen. Das ist schade, denn die Krise der Linkspartei muss genutzt werden, um über Strategien zu reden und aus vergangenen Fehlern zu lernen.

Denn für sozialistische Politik in der Linkspartei zu kämpfen, das haben schon andere versucht in den letzten Jahren. Die Resultate sind bescheiden: marx21 hat sich im Oktober in mehrere Teile gespalten, die SAV letztes Jahr, wenn auch aus anderen Gründen. Die Antikapitalistische Linke ist kaum wahrnehmbar. Also was ist es, was euch unterscheidet? Was ist es, das verspricht, dass ihr es tatsächlich besser macht? Was ist der Plan? Wenn ihr diese Fragen nicht genügend beantworten könnt, werdet ihr nur ein neues linkes Feigenblatt für eine Partei, die vielleicht dynamischer wird, ein paar schöne Kampagnen fährt – aber letzten Endes schweigt, wenn es darum geht, Deutsche Wohnen & Co zu enteignen.

Euer Aufruf fällt dabei hinter die Einschätzungen oben genannter Gruppierungen zur Linkspartei weit zurück. So heißt es: „Für alle, die es ernst meinen mit dem Klimaschutz, dem Feminismus, dem Antirassismus sowie dem Kampf gegen Antisemitismus, für LGBTIQA+-Rechte und andere umwelt- und gesellschaftspolitisch fortschrittliche Anliegen kann dieses Zuhause nur in einer antikapitalistischen Partei liegen. Die Parteispitze hat ihren Willen zu einer Erneuerung der Partei und einer Öffnung hin zu den sozialökologischen Bewegungen wiederholt deutlich gemacht.“

So weit her ist es mit dem Antikapitalismus der Linkspartei bekanntlich nicht. Und den Willen zur Erneuerung? Worin besteht der? Bloße „Öffnung“ und Wachstumspläne ändern am Inhalt, Programm und an der seit Jahren eingeübten bürgerlichen Reformpolitik in Parlamenten, Kommunen, Stadträten, von Landesregierungen und Bürgermeister:innen nichts.

Was also tun?

Keine linke Alternative zu haben, während die Rechten immer stärken werden, macht Angst. Die Klimakrise und Kriege tun ihr Restliches dazu und man fühlt sich ohnmächtig. Aber diese Angst sollte nicht dazu führen, dass der „Kampf für Demokratie“ und eine „Transformation“, unter der sich alle vorstellen können, was sie gerade wollen, wichtiger ist als der für Sozialismus. Wer das anders sieht, der hat nicht verstanden, warum die AfD immer stärker geworden ist und weiß letztlich keinen Ausweg, wenn es darum geht, den Rechtsruck zu bekämpfen.

Denn die aktuelle Hetze, die wir erleben, kommt nicht nur von der AfD, sondern wird von allen ach so demokratischen Kräften mitgetragen. Sie ist Ausdruck einer sich international verschärfenden Konkurrenz, die den Kampf um die gewaltvolle Neuaufteilung der Welt vorbereitet und gleichzeitig die Sparmaßnahmen im Innern zu übertünchen versucht.

Um effektiv dagegen vorzugehen, kann man nicht sagen: „Hey, wir brauchen eine Linke, weil es eine Rechte gibt, wir müssen diffus über Umverteilung reden und für eine geile Sozialpolitik eintreten!“ Denn die aktuelle Situation lässt nicht zu, dass genügend Geld für eine geile Sozialpolitik einfach da ist. Selbst für solche Umverteilungsforderungen muss man den Klassenkampf mit Streiks forcieren und diese mit der Eigentumsfrage verbinden. Dementsprechend müssen Kämpfe für Lohnerhöhung, Verbesserungen der Lebensbedingungen immer mit einer Perspektive zur Überwindung des kapitalistischen Systems aktiv und deutlich verbunden werden. Ansonsten rennen wir ins Leere, erfahren Niederlagen und schaffen es nicht, eine gesellschaftlich linke Perspektive sichtbar zu machen.

Das heißt nicht, dass man sagen soll: „Hey, lass‘ für höhere Löhne kämpfen und ach, vergiss nicht, gegen den Kapitalismus musst du auch sein!“ sondern, dass man es schafft, Forderungen aufzustellen, die eine Brücke weisen vom Kampf für unmittelbare Ziele zu dem gegen das System, welches diese in Frage stellen. Beispielsweise „Hey, lass uns für höhere Löhne kämpfen, die automatisch an die Inflation angepasst werden und deren Erhöhung von den Lohnabhängigen selbst kontrolliert wird. Das ist doch besser, als bei jeder Schwankung streiken zu müssen und zu hoffen, dass man dann ein bisschen was abbekommt. Und sinnvoll ist auch, dass ihr dann ein Komitee gründet, was kontrolliert, dass das auch umgesetzt wird.“ Das kann man nur durchsetzen, wenn man eine gewerkschaftliche Basisopposition gegen die Bürokratie organisiert, Bewegungen so aufbaut, dass sie Selbstermächtigungsorgane der Klasse (Komitees an Schulen, Unis und Betrieben, Vorformen von Räten also) schafft und in diesen für eine Politik der Zuspitzung, der gesellschaftlichen Veränderung eintritt.

Und irgendwie bleibt beim Lesen des Textes, das Gefühl, dass es eher die Angst vor rechts ist, die euch planlos in DIE LINKE treibt, ohne Weg zurück.  Also, was ist euer Plan?




Deutscher Oktober 1923 – Parteidebatte um die Niederlage

Bruno Tesch, Neue Internationale 278, November 2023

Die KPD offenbarte nach dem Oktober 1923 bei der Ursachenbetrachtung der Niederlage tiefe Unterschiede in der Gewichtung und vor allem auch im Verständnis der Einheitsfronttaktik und setzte damit ihre nach wie vor bestehenden ungeklärten Differenzen fort.

Selbst bei der scheinbaren Einigkeit über die Einschätzung der deutschen Situation „als objektiv revolutionär“ sind Zweifel angebracht. Festgemacht wurde dies in erster Linie am Grad der Zerrüttung der bürgerlichen Demokratie und der Polarisierung in ein klar reaktionäres, gestützt auf kleinbürgerliche Bewegungen und Militär, und ein revolutionäres Lager. Dessen Zusammensetzung und das Kräfteverhältnis zum feindlichen Pol wurden jedoch unterschiedlich interpretiert.

In der Debatte zeichneten sich drei Flügel ab: Linke, Mitte und Rechte. Wir untersuchen und bewerten im Folgenden ebenso deren Antworten wie jene aus dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI). Dabei beschränken wir uns aus Platzgründen auf Sinowjews Buch und die im Ergänzungsheft 1 der „Internationale“ (Januar 1924) geführte Debatte und liefern diese sowie weitere Quellen am Schluss.

Unterschiedliche Lehren: in Parteiführung … 

In ihren „Thesen zur Oktoberniederlage und zur gegenwärtigen Lage“ hielten Thalheimer und Brandler fest:

„1. Der Oktoberrückzug war unvermeidlich und richtig.

2. Die grundlegenden Ursachen der Oktoberniederlage sind objektiver Art und nicht wesentlichen taktischen Fehlern der KPD geschuldet. Die entscheidende Ursache ist der noch zu starke hemmende Einfluss der Sozialdemokratie. Die Mehrheit der Arbeiterklasse war nicht mehr bereit, für die Novemberdemokratie zu kämpfen, die ihnen bereits materiell nichts mehr gab, und noch nicht bereit, für die Rätediktatur und den Sozialismus zu kämpfen. Oder anders ausgedrückt: Die Mehrheit der Arbeiterklasse war noch nicht für den Kommunismus gewonnen.

3. Der gemeinsame Fehler der Exekutive (der Komintern) wie der Zentrale der KPD war die falsche Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Arbeiterklasse, zwischen SPD und KPD. Die KPD, hat in dieser Beziehung sich kritisch gegenüber der Exekutive verhalten, aber nicht genügend energisch. Die Exekutive hat dieser Kritik nicht das genügende Gewicht beigelegt.

4. Die Folgen dieser falschen Beurteilung des Kräfteverhältnisses waren:

a) ein zu früher Termin des Endkampfes

b) die Vernachlässigung der Teilkämpfe und der politischen Vorbereitung

c) infolge der mangelnden Verbindung zwischen politischer und technischer Vorbereitung litt auch die militärisch-technische Vorbereitung

5. Mängel zweiter und dritter Ordnung waren:

a) in Sachsen und Thüringen nicht genügende Ausnützung der gegebenen Positionen sowohl in Bezug auf Zersetzung der SPD und Heranziehung der SPD-Arbeiter an die KPD, wie auch in Bezug auf die Organisation der militärischen Abwehr.

b) Schwerfälligkeit der organisatorischen Umstellung der Partei für den Bürgerkrieg.

6. All diese Fehler und Mängel ändern nichts Wesentliches an dem grundlegenden Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse.“

In „Zur gegenwärtigen Lage“ stellten sie aber eine Militärdiktatur fest, mithin ein scharfes Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Der Einfluss der Oktoberniederlage auf Stimmung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und Zustimmung zur KPD fand keinen Niederschlag, auch nicht in den nachfolgenden erläuternden Gedankengängen von Thalheimer zu den Thesen.

Brandler sprach in seinem Beitrag jedoch davon, dass der kampflose Sieg der Reichsexekutive, der Truppen des Generalleutnants Müller, der in Sachsen Befehlsgewalt hatte, demoralisierend auf die Arbeiter:innenklasse und Teile der Partei gewirkt habe – ein Schwächezustand, der durch die Umstellung auf die Illegalität in Verbindung mit dem Oktoberrückzug die Aktivität lähmte.

Zur Frage, warum die linkssozialdemokratisch beeinflussten Arbeiter:innen doch der passiven Regierungsführung in Sachsen/Thüringen gefolgt sind, führte Thalheimer aus:

„Wir haben nicht geglaubt, dass die linken SPD-Führer kämpfen wollten, aber dass die linken SPD-Arbeiter zum Kampf bereit waren. Es hat sich gezeigt, dass die Wirkung des organisatorischen Bandes viel stärker ist, als wir annahmen.“ Zur Festigung der Position in Sachsen und Thüringen bemerkte Thalheimer:

„Der bürgerliche Staatsapparat war unseren Genossen in Sachsen und Thüringen sehr wenig vertraut. [ … ] Es zeigte sich in der Praxis die Notwendigkeit der sofortigen Zerschlagung und völligen Neubaus dieses Apparates.“

Brandler wies eine Schuld durch taktische Fehler der Partei zurück und lastete sie dem Verrat der SPD an. Der Fehler bestände nur in der Unterschätzung der Zähigkeit der konterrevolutionären Fraktion der SPD und in der Überschätzung der eigenen Kräfte.

Er sah in „Lehren der Oktoberniederniederlage“ drei Fehlerquellen bei der falschen Beurteilung der Kräfteverhältnisse: zum einem habe die Außerachtlassung der gesamten internationalen Situation, das Verbot der proletarischen Hundertschaften und Kontrollausschüsse in Preußen sowie in Rheinland-Westfalen durch die Okkupationsarmee den Ausbau der proletarischen Klassenorgane gehemmt.

… und Parteigliederungen: Abrücken von der Mehrheitslinie

Andere Stimmen aus den Reihen der Parteimehrheit konstatierten eine Krise der Partei und verwiesen darauf, dass bereits bei den Kämpfen in den Bergbauregionen im Frühjahr Vorbereitungsarbeit auf entscheidende Kämpfe hätte geleistet werden sollen, und hielten eine Weiterführung von Teilkämpfen zur Deckung des Rückzugs der Partei für erforderlich.

Einen kritischen Schritt weiter gingen Genoss:innen, die von der Parteiführung (in einem namentlich nicht gezeichneten Beitrag „Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“) abrückten und der Partei vorhielten, dass sie In den Länderregierungen die Kampfpositionen nicht genügend ausgenutzt hätte, um die Mobilisierung der Massen zum organisierten Widerstand durchzuführen.

„Der Kardinalfehler der strategischen Einstellung war, dass die Partei sich auf einen ,Endkampf’ zur Eroberung der politischen Macht vorbereitete und die Einleitung von Teilkämpfen, Kämpfen mit Teilforderungen und weniger aggressiven Mitteln und Kampfmethoden ablehnte und verhinderte.

Nur aus der Verteidigung der mitteldeutschen Position zum entscheidenden Kampf überzugehen, war falsch. Nach Einzug der Weißen in Mitteldeutschland trat deshalb überall eine starke Desorientierung ein.

Der kampflose Rückzug war falsch, dem aktiven Teil des Proletariats unverständlich, Vertrauen auch der sympathisierenden Sektoren in die Partei geschwächt.“

Weitere Argumente (H. Lemann: „Um den proletarischen Machtkampf) wurden mit dem Hinweis vorgebracht:

„Statt über den Weg der Konzentration auf die regionalen Regierungen als Machtbasis für den sogenannten Endkampf hätte die Kampfaufnahme bedeutet: Generalstreik über das Reichsgebiet mit dem politischen Ziel, zunächst die Regierung und die Staatsgewalt unter Druck zu setzen und die Truppentransporte nach Sachsen zu verhindern. Zugleich mit dem Generalstreik konnte man auf bewaffnete Erhebungen unter Förderung und Führung der revolutionären Vorhut rechnen. Erst aus diesen Kämpfen mit Minimalzielen hätte man prüfen müssen, ob weitere Ziele erreichbar sind.“

Schlussfolgerungen der Parteiopposition

Noch grundlegendere Vorwürfe erhob A. Kleine in seinem Aufsatz „ Die Oktoberniederlage des Proletariats und die Aufgaben der KPD“, v. a. im Abschnitt „Die Fehler der Partei“.

Er bestritt die Aussage: „Es hat sich herausgestellt, dass der europäische Menschewismus viel tiefere Wurzeln in der Arbeitermasse hat, als wir es annehmen konnten.“ Kleine verwies in dem Zusammenhang auf Trotzkis „Anti-Kautsky“ („Terrorismus und Kommunismus“) und folgerte: „Die Partei konnte nicht das wahre Kräfteverhältnis erkennen, weil sie jeden anwachsenden Kampf der Massen abzubremsen versuchte, um ihn in den Rahmen des von der Partei vorbereiteten Widerstand einzugliedern.“

Kein Organ der Partei, keine Hundertschaft, kein Kontrollausschuss, kein Minister hätten trotz der gespannten Lage die Vereinbarungen mit der SPD durchbrochen, obwohl die reformistischen Führer:innen den gemeinsamen Kampf gegen die drohende „weiße“ Gefahr hintertrieben. In Berlin waren breitere Teile des Proletariats als in dem Anti-Cuno-Streik zum Kampfe bereit. „Was hat die Partei diesen Massen gesagt? Wir werden nicht siegen! Der Feind ist stärker, die Zeit arbeitet für uns; lasst ihn die Macht übernehmen. In dieser Situation war der Oktoberrückzug falsch.“ Die Mehrheit der Klasse war nur gewinnbar, wenn die Partei ihre Kampfbereitschaft auch beweisen konnte, wie das Hamburger Beispiel es vorgeführt hätte. Der Nichteinbezug der Massen in die Kampfvorbereitung zeigte, dass die Partei, v. a. die Leitung, ein unzulängliches Verständnis für die Verhältnisse zwischen ihr und den Massen und die Rolle der Partei im Kampfe um die Einheitsfront bewiesen hat.

Fehler waren schon vor dem Streik gegen die Regierung absehbar. Betriebsrätebewegung und militärische Vorbereitung hätten gestärkt werden müssen. Dass dies unterblieb, war als Ausdruck der Unterschätzung der Rolle der KPD in einer Epoche des Kampfes um die Einheitsfront des Proletariats zu werten. Die Partei hat im Großen und Ganzen das Vertrauen in die linken Führer:innen der SPD gestärkt. Die Hoffnung auf die Chemnitzer Konferenz, um diese Führung in den Kampf hineinzuziehen, trog. Das Stillhalten der KPD in der Regierung rächte sich. Kleine räumte allerdings ein, dass sich große Teile noch keine Kampferfahrung erworben hatten. Auch die Betriebsräte in Berlin hatten zum Oktober Teile ihres Einflusses eingebüßt.

Noch schärfer ging Max Albert in dem Artikel „Alles oder nichts“ mit der Parteiführung ins Gericht. Er stellte die Situation als ununterbrochenen Aufstieg und gewaltige Stärkung der revolutionären Bewegung des Proletariats dar und verwies auf Zersetzungserscheinungen im Lager der Arbeiter:innenfeinde – Schwarze Reichswehr, monarchistische (Kronprinz-)Truppe, Deutschnationale, katholische Gruppen –, die hätten genutzt werden sollen, um selbst nach dem Einmarsch in Sachsen aktive Gegenwehr zu leisten.

Die Unterschätzung der eigenen Kräfte – in Hamburg wurden die linken sozialdemokratischen Arbeiter:innen nicht eingeweiht und führten keinen synchronisierten Aufstand durch – und Überschätzung der gegnerischen wären der schwerste Fehler in der Oktoberniederlage gewesen. Albert beschuldigte aber beide Flügel, Parteiführung und „linke“ Opposition, eine falsche Vorstellung von Bürgerkrieg gehabt zu haben. Dieser könne nicht mit „Entscheidungskämpfen“ beginnen, was sich auf die falsche Alternative Sieg oder Niederlage zuspitzen würde. Die Vertagung des Kampfes führte zu einer schweren Niederlage nicht nur der KPD, die zu einer des deutschen, ja internationalen Proletariats geriet. Ebenso im Debakel endete die Einschätzung, den Kampf leicht gewinnen zu können.

Die Ankündigung wirtschaftlicher Maßnahmen wie Lebensmittelverteilung wären kein Mittel zur Mobilisierung des sächsischen Proletariats angesichts des drohenden Reichswehreinmarschs gewesen. So wurde im Gegenteil das Gefühl geweckt, als sei eine Besserung ihrer Lebenslage auch ohne Kampf möglich, als könnten ein paar sächsische Minister für sie die Revolution machen. Wenn am Ende der Chemnitzer Konferenz plötzlich die Parole: Generalstreik, die gleichzeitig bewaffneter Endkampf heißen sollte, „wie ein Dachziegel in die Versammlung flog, soll man sich doch nicht darüber wundern, wenn diese Parole nicht sofort mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.“

Albert erblickte auch Fehler darin, dass in der Periode der Kampfvorbereitung die politische Arbeit durch die militärischen Vorkehrungen sehr stark verdrängt wurde. Bewaffnung von Kadern reichte nicht, sie musste vielmehr aus der Massenbewegung heraus entwickelt werden.

Strategiekritik des linken Flügels

Der Flügel, der sich v. a. um Parteikräfte in Berlin und Brandenburg gruppiert hatte, stand von Beginn an in Fragen von Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung in Opposition zur Parteimehrheit. Die einzige scheinbare Gemeinsamkeit eines situativen Fixpunktes bestand in der Ausrichtung auf den „Endkampf“, der auch von den Oppositionellen als richtig erachtet wurde, wie in der „Skizze zu den Thesen über die politische Situation und über die Lage der Partei“ durch die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg festgehalten wurde. Die Wegbeschreibung und Einschätzungen über die notwendige Politik unterschieden sich jedoch diametral. In diesem Papier hieß es, die Situation sei objektiv reif für die Machteroberung des Proletariats, die Siegesaussichten der KPD im Oktober seien groß gewesen. Den Kampf hätte die Partei wagen müssen. Die Parteileitung hätte jedoch im August eine Perspektive linkssozialdemokratischer, rein gewerkschaftlicher Regierung verbreitet und durch eine Popularisierung der linken SPD durch Einheitsfront und Bündnis, deutlich geworden in den Regierungen Sachsen und Thüringen, ein falsches Bild von Arbeiter:innenregierung erzeugt. Die KPD-Führung habe die Schwächung der Position des Proletariats und der Partei zu verantworten.

Ruth Fischer, die führende Feder des Flügels, schrieb dazu ausführlicher in: „Zur Lage in Deutschland und zur Taktik der Partei“ über die Taktik der KPD in Sachsen. Sie kreidete der Parteiführung eine

„- falsche Einschätzung der Kräfteverhältnisse

– falsche Anwendung der Einheitsfronttaktik, u. a. in Regierungsbeteiligung Sachsen und Thüringen

– reformistische Betrachtung der Regierungsbeteiligung, des Staates, der Staatsmacht und der ,Ausnützung des Staatsapparates’“ an.

In Sachsen sei die KPD nicht so stark wie behauptet, sondern politisch unselbstständig, schwankend gewesen. Dies zeigte sich bei Wahlen zum Metallarbeiter:innenverband, beim Antifaschistischen Tag, Auguststreik und während der Regierungsbeteiligung besonders zum Ende. Die Stärke der sächsischen Hundertschaften wurde übertrieben.

In der Einheitsfrontpolitik sei der „ehrliche[r] Wille, zusammen mit der linken SPD, Arbeiterpolitik im Rahmen der Demokratie zu betreiben“, betont worden. Jedes Wort dieses Leitsatzes unserer sächsischen Politik war ein prinzipieller wie taktischer Fehler, Betonung auf der Unfähigkeit der SPD, Arbeiter:innenpolitik (d. h. revolutionäre Politik) zu treiben, notwendig. Ziel musste sein, die Einheitsfront mit ihnen zu vernichten. Jede Zusammenarbeit mit diesen Führer:innen habe ihnen Kredit verschafft, gefolgert aus der These des Leipziger Parteitags, „dass auch die Sozialdemokratie revolutionäre Kämpfe führen“ könne.

Fischer kritisierte ferner: „Unsere Einheitsfronttaktik bestand in einigen Spitzenverhandlungen und parlamentarischen Kombinationen unter bewusstem Verzicht auf Betriebsrätekongresse. Selbst nach Ermordungen von Arbeitern im Frühjahr und Generalstreiksabotage während Regierungsbeteiligung ist die Front nicht gesprengt worden. Stattdessen hätten klare Signale durch mobilisierende Aktivität zu einem echten Fundament für eine Einheitsfront mit den Massen gelegt werden können, um sie von unseren revolutionären Kampfeswillen und Zielen zu überzeugen. Durch unsere Taktik in Sachsen haben wir die Entwicklung der KPD aufgehalten, die Zersetzung der SPD gehemmt, ihren ‚linken Flügel‘, die gefährlichste Barriere für die Revolution, konsolidiert und die besten revolutionären Elemente der eigenen Partei wie des Proletariats der KPD gegenüber misstrauisch gemacht. Jede bürgerliche Regierung mit einem intakten Staatsapparat und einer Spitze, die aus Personen mit sozialdemokratischem (oder auch kommunistischem) Mitgliedsbuch in der Tasche besteht, ist eine bürgerliche Regierung und handelt als und ist eine solche. Eintritt in diese Regierung konnte nur den Sinn haben, den Apparat zu sprengen, einen proletarischen an seine Stelle zu setzen und den Angriff gegen die Bourgeoisie zu beginnen. Voraussetzung hierzu war: Massenmobilisierung, Rätekongress, Beginn der Bewaffnung. Eine Änderung des Staatstyps in einen proletarischen, ohne den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, ist praktischer Revisionismus der Staatstheorie.“

Auch in der Praxis der Regierungsbeteiligung hätten sich viele skandalöse Fehler ereignet, z. B. die Mitverantwortung für ein Regierungsprojekt, das in Zeiten höchster Hungerkrise dem ehemaligen Königshaus ungeheure Wertobjekte schenkt, Verzicht auf selbstständige Aktionen zur Verteidigung der Regierung. Hamburg, so meinte Fischer, hätte trotz Niederlage und personeller Verluste mehr genützt als geschadet, den Kommunist:innen eher einen Prestigegewinn verschafft.

Diese Zusammenschau der Sichtweisen auf das Revolutionsjahr 1923 und die Rolle der KPD darin drückt gravierend große Gräben innerhalb der Partei aus, wobei die Brandler/Thalheimer-Führung deutlich angeschlagen aus der Niederlage der Revolution hervorging.

Sinowjews Haltung

Rückenwind erhielt der linke KPD-Flügel durch Sinowjew, der als Vorsitzender des Exekutivausschusses der Kommunistischen Internationale (EKKI) an exponierter Stelle stand, zumal er die treibende Kraft bei der Festlegung eines bewaffneten Aufstands im Herbst 1923 war. Seiner Beurteilung, die er in „Probleme der deutschen Revolution“ niederlegte, kam besonderes Gewicht zu. Rückblickend hielt er die Taktik der KPD in Sachsen für richtig, sie konnte und durfte eine Teilnahme an einer Koalition mit der SPD nicht ablehnen. Es gab keinen Grund zur Reue über das sächsische Experiment, weil dort ein Bankrott der linken Sozialdemokratie offenbart worden wäre. Im Nachwort revidierte er jedoch diese pauschale Absegnung:

„Der Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung war gedacht als militärisch-politische Episode, mit dem Zwecke, für die kämpfende Avantgarde einen Stützpunkt zu schaffen. Dieses Ziel ist nicht erreicht worden. Die ganze Episode begann, einer banalen parlamentarischen Zusammenarbeit der Kommunisten mit den sogenannten ‚linken‘ Sozialdemokraten zu ähneln. Um diesen Versuch erfolgreich zu gestalten, hätte man sofort einige Zehntausend Arbeiter bewaffnen müssen. Man hätte die Frage der Nationalisierung der Großindustrie auf die Tagesordnung setzen müssen. Man hätte die Fabrikanten verhaften müssen, die die Arbeiter aussperren. Man hätte sofort die Schaffung von Arbeiterräten in Angriff nehmen müssen.“ Die sich dem widersetzende Sozialdemokratie hätte von Anfang an dafür an den Pranger gestellt werden müssen. „Das alles geschah nicht. Und darin besteht der größte Fehler der Partei.“ 

In der Frage der Einheitsfront vollzog Sinowjew eine Kehrtwendung, weg von den Kominternbeschlüssen auf dem 4. Weltkongress, die eine Einheitsfront von Kommunist:innen mit reformistischen Organisationen auf allen Ebenen befürwortete. Er sagte nun:

„Die Taktik der Einheitsfront ist in eine neue Phase eingetreten. Als Lehre muss nun gelten: ,Wir verzichten auf jegliche Verhandlungen mit dem Zentralkomitee der Sozialdemokratie und mit der Zentralleitung der deutschen Gewerkschaften. Einheit von unten heraus – das ist unsere Losung.’“ Lokale Verhandlungen mit linken Sozialdemokrat:innen seien allerdings möglich und notwendig.

Aus der Erfahrung mit dem Hamburger Aufstand folgerte er: „Ihre Schattenseite besteht darin, dass sie die organisatorischen Mängel unserer Partei erbarmungslos aufdeckte und deutlich hervorhob, dass vorläufig noch eine elementare technische Ausbildung nicht vorhanden ist.“ Es habe sich aber auch gezeigt, „dass die Sympathie bedeutender Schichten der Kleinbourgeoisie für das revolutionäre Proletariat gesichert ist.“

Sinowjew kritisierte die KPD an dem Punkt, „dass in den Tagen des Bestehens der Arbeiterregierung in Sachsen niemand von den Kommunisten an die Schaffung von Räten gedacht hat“, auch in Hamburg vor der Aktion nicht. Er propagierte auch die Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“, die er für „unveränderlich“ und „ewig“ erklärte und die „in der allgemeinen Form auch für das heutige Deutschland“ tauge. Er bediente sich dabei einer fragwürdigen Übertragung der Verhältnisse in der SU (Klassenbündnis, -zusammenschluss Smytschka), auf Deutschland und überging die Unterschiede der bäuerlichen ökonomischen Schichtung und politischen Tradition in beiden Ländern. Sinowjew beschwor die Einheit der Partei, zu der jedoch weder sein noch das eher Laisser-faire- und dann überstürzte Verhalten der gesamten KI zur Lage in Deutschland 1923 beigetragen hatte. Sinowjews Resümee nach dem Oktober brachte den Klärungsprozess der KPD nicht wirklich weiter.

Die Lage nach der Niederlage

Auch mit seiner Prognose zur Weiterentwicklung der Lage saß er einer Fehleinschätzung auf.

Sinowjew glaubte nach den Vorkommnissen noch an einen Aufschwung der revolutionären Bewegung. „Das dringende Bedürfnis der Arbeiter, sich zu bewaffnen, erhält erst jetzt Massencharakter. Die Entscheidungskämpfe werden für einige Zeit verschoben.“ Er war der Meinung, dass die Arbeiter:innen nun zu der Einsicht gelangen werden, die linken Führer:innen der SPD seien nur ein Anhängsel der konterrevolutionären rechten Mehrheit. 

Sinowjew ging auch davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands noch weiter verschlechtern würde.

Dem war jedoch nicht so. Die im November 1923 erfolgte einschneidende Währungsreform und der im April 1924 vorgelegte Dawes-Finanzierungsplan, der im August 1924 im Reichstag angenommen wurde, bewirkten eine Revision der Reparationsleistungen des deutschen Reichs gegenüber den alliierten Kriegssiegermächten und bereiteten den Weg für eine Stabilisierung der v. a. durch Inflation und ungeregelte Reparationsforderungen aus dem Lot geratenen kapitalistischen Wirtschaft und stützten auch die politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Dies verfehlte auch nicht seine Auswirkungen auf die Arbeiter:innenschaft, deren Kampfmüdigkeit sich nach dem Oktober 1923 nicht mehr erholte. Die Anzahl der Streiks ging im Laufe des Folgejahres deutlich zurück, und sie blieben auch räumlich begrenzt, so z. B. bei den Remscheider Metallbetrieben um die Verkürzung der Arbeitszeit im Januar 1924. Der seit 1919 geltende Achtstundentag war von der Unternehmer:innenschaft während der Inflationsperiode durchlöchert worden. Hier hätte die KPD bspw. wieder einen Anknüpfungspunkt gehabt, um die Streikbewegung zu verbreitern und zu politisieren, aber ihr waren die Hände gebunden, denn:

Der Preis, den die KPD zahlen musste, bestand im Parteiverbot von November 1923 – März 1924. Die proletarischen Hundertschaften wurden aufgelöst. Der noch anfängliche Wahlerfolg im Mai 1924 (12,9 % Stimmanteil mit 62 Reichstagsmandaten) verflog im Dezember 1924 jedoch auf nur noch 9 %.

Politische Folgen

Stalin konnte sich scheinbar damit rühmen, frühzeitig die Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Aufstands vorausgesehen zu haben. Sein erst später veröffentlichter Warnbrief als einzige bekanntgewordene Stellungnahme und seine ansonsten indifferente Haltung während der gesamten Phase der deutschen Entwicklung 1923 wiesen in Wirklichkeit jedoch bereits darauf hin, dass es ihm weniger darum zu tun war, die Weltrevolution zu fördern, als Machtpositionen im eigenen Land zu stärken.

Statt einer ernsthaften Aufarbeitung der Lehren des Oktobers 1923 gerade in der Frage von Einheitsfrontpolitik und Anwendung der Arbeiter:innenregierungstaktik wurde innerhalb der Komintern in erster Linie Kritik an der KPD-Führung geübt. Der linke Flügel ging zunächst personell gestärkt hervor. Im April 1924 wurde eine neue Parteiführung aus seinen Reihen gebildet. Trotzki nahm nach dem Oktober 1923 die alte KPD-Leitung insofern in Schutz, als er Sinowjews und Stalins alleinige Schuldzuweisung an Brandler für die Niederlage der deutschen Revolution als Ablenkungsmanöver von den eigenen Fehlern erachtete, denn der KI-Führung kam ein wesentlich höheres Maß an Verantwortung für dieses weltpolitisch markante Fiasko zu.

Weder das EKKI noch die KPD hatten die Einheitsfrontpolitik, insbesondere in der Frage der Arbeiter:innenregierung, im Geiste der entsprechenden Thesen und Resolutionen des III. und IV. Weltkongresses im entscheidenden Moment beherzigt, sondern schwankten zwischen rechtszentristischer, opportunistischer und linkszentristischer Auslegung (Einheitsfront nur von unten). Beide Linien traten schon zuvor auf: die ultralinke in der Märzaktion 1921 und die opportunistische in der Rathenaukampagne 1922, die sich auf den Aufruf zur Republikanisierung der Reichswehr durch Hinauswurf der monarchistischen Elemente beschränkte, aber von Arbeiter:innenbewaffnung und -regierung schwieg. Unsere Synopse legt nahe, dass sich Elemente richtiger Kritik und Perspektiven v. a. bei Anhänger:innen einer mittleren Opposition finden („Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“, Lemann). Splitter richtiger Einsichten finden sich auch bei Kleine und dem linken Flügel der Parteimehrheit, der die Untätigkeit der Leitung während und nach der Ruhrbesatzung betonte.

Die politischen Folgen waren in mehrfacher Hinsicht verheerend. Das Scheitern der Revolution 1923 erleichterte zumindest Stalins Bestrebungen, den Sowjetstaat zu bürokratisieren. Die schwankende Linie in der Arbeiter:inneneinheitsfrontpolitik mit deren übelstem Auswuchs, der Sozialfaschismusdoktrin gegenüber der Sozialdemokratie, mündete dann 10 Jahre später in ein noch maßloseres Verhängnis für das Proletariat, die Niederlage gegenüber dem Faschismus.

Namen und Pseudonyme

Max Albert (Pseudonym für Hugo Eberlein)

August Kleine (Pseudonym: Samuel Guralski)

H. Lemann (Pseudonym: wahrscheinlich Ernst Meyer)

Quellen

Sinowjew: Probleme der deutschen Revolution, Verlag Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1923

Ergänzungsheft Nr. 1, Jahrgang 6, Januar 1924; in: Die Internationale. Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, Band 4, Reprint: Verlag Neue Kritik KG, Frankfurt/M. 1971 (darin u. a. Aufsätze von H. Brandler, A. Thalheimer, Karl Berger, H. Lemann, A. Kleine, Max Albert, Ruth Fischer)

Jahrgang 7, 28. März 1924; in: Die Internationale, a. a. O., Band 5, S. 33 – 152 (darin u. a. Aufsätze von Sinowjew, Edwin Hörnle, Wilhelm Koenen, St. Stefan, A. Maslow, Ruth Fischer, Sommer, Heinrich Brandler, August Thalheimer

Die Kommunistische Internationale Nr. 31 – 32, 5. Jahrgang, Band 7, Reprint: POLITLADEN ERLANGEN, Gaiganz 1974, S. 143 – 232 (darin u. a. Aufsätze von H. Remmele, A. Maslow, G. Sinowjew)




1923: Niederlage der Revolution

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

1923 ergab sich in Deutschland nach 1918 die zweite große Möglichkeit, das Blatt der Geschichte zu wenden und durch eine siegreiche Arbeiter:innenrevolution sogar den Lauf der Weltgeschichte zu verändern. Dass dies nicht eintrat und welche Implikationen hierbei zu beachten waren, soll Gegenstand des folgenden Beitrags sein.

Revolutionäre Zuspitzung

Mitte 1923 haben wir in Deutschland alle zentralen Elemente einer revolutionären Situation: eine kapitalistische Ökonomie im Hyperinflationskollaps, Hungerrevolten und spontane Emeuten, eine schwere politische Krise auf Regierungsebene und eine gut organisierte revolutionäre KPD, die tatsächlich auf dem Sprung war, die jahrzehntelange Vorherrschaft der SPD über die deutsche Arbeiter:innenklasse zu beenden.

In Sachsen und Thüringen bildete die linke SPD mit Duldung der KPD eine Regierung, welche die Bildung bewaffneter Arbeitermilizen zuließ. Auf der anderen Seite der Barrikade stand die bewaffnete Reaktion zum Losschlagen bereit.

Einerseits wartete der Oberbefehlshaber der Reichswehr, von Seekt, auf die Ausrufung des Notstands durch den Reichspräsidenten Ebert (SPD), um eine Militärdiktatur zu errichten. Andererseits war der Notstand in Bayern schon vollzogen und ein autoritäres Regime errichtet, das sich unabhängig von der Reichsregierung erklärte. Hinter diesem Notstandsregime in Bayern versammelten sich auch offen faschistische Kampftruppen um Hitler und Ludendorff, die auf das Signal zum „Marsch auf Berlin“ (in Analogie zur Machtergreifung der Faschist:innen in Italien) warteten. Im Herbst 1923 marschierten bayrische Reichswehrverbände in Nordbayern auf. Alles lief auf eine Entscheidungsschlacht zwischen der revolutionären Arbeiter:innenschaft und der Reichswehr und den Faschist:innen hinaus.

Rückblickend ist die Zuspitzung der Situation, die nur als revolutionäre bezeichnet werden kann, seit August 1923 mit dem Sturz der Cuno-Regierung klar (siehe hierzu NI 276). Es ist daher lächerlich, wenn heute vielfach behauptet wird, die KPD habe sich auf Drängen der Komintern im Herbst 1923 auf ein „putschistisches Abenteuer“ eingelassen, in Deutschland wäre nie so etwas wie ein russischer Oktober denkbar gewesen.

Generalstreik und neue Regierung

Im Grunde erreichte die Krise nicht erst im Oktober, sondern im Sommer 1923 ihren ersten Höhepunkt. Die Kämpfe verdichten sich zum Generalstreik gegen die verhasste Cuno-Regierung im August 1923. Der Streik begann am 10. des Monats in Berlin mit dem Ziel, die rechtskonservative Reichsregierung zu stürzen. Dieses wurde erreicht, das Kabinett unter Cuno demissionierte am folgenden Tag. Der Streikaufruf hatte inzwischen etliche Arbeiter:innenzentren des Reichs erfasst.

Am selben Tag noch, dem 11. August, erfolgte der Ausruf einer neuen Regierung unter der Kanzlerschaft Stresemanns, der der liberal-konservativen Deutschen Volkspartei vorstand, die eine Koalition mit den bürgerlichen Partnerinnen Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei und der reformistischen Arbeiter:innenpartei SPD einging. Der Generalstreik flaute praktisch schon gegen Abend des darauffolgenden Tages, dem 12. August, ab.

Mit dem erzwungenen Rücktritt der alten Regierung hatte die Arbeiter:innenbewegung nur scheinbar triumphiert. Der Generalstreik war zwar von einer Reihe von Forderungen und der nach Bildung einer Arbeiter:innenregierung begleitet, aber die entscheidende Frage, wer konkret bereitstand, um diese Verantwortung zu übernehmen, wurde nicht gestellt. Sie beantwortete stattdessen die herrschende Klasse. Dass dies im Handumdrehen geschah, kann kein spontaner Zufall, sondern muss vorbereitet gewesen sein.

Der Bourgeoisie war längst klar geworden, dass das wirtschaftspolitische Steuer herumgerissen werden musste. In der Frage der Reparationszahlungen mussten neue Verhandlungen aufgenommen und die Politik des „passiven Widerstands“, die von der alten Regierung ausgegeben worden war, beendet werden. In der Währungspolitik musste möglichst bald die Reißleine gegen die Hyperinflation gezogen werden, selbst auf Kosten des Ruins großer Teile des Kleinbürger:innentums. Nicht zuletzt auch deswegen, weil aufgrund der Teuerung und Lebensmittelknappheit die Arbeiter:innenklasse sich seit dem Frühsommer 1923 zu einer herrschaftsbedrohlichen Bewegung emporgeschwungen hatte. Um aber diese einzubremsen und den neuen Kurs durchzusetzen, brauchte sie zwei verlässliche Kräfte, auf die sie sich stützen konnte, denn politisch war sie stark fraktioniert und angezählt: die Schaltstellen der Reichswehr als Garantin für die staatliche Ordnung, auch gegen partikularistische Bestrebungen in Bayern, und die Sozialdemokratie als politische Flankendeckung.

Faktor Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratische Partei hatte sich im September 1922 durch die Fusion mit dem Rest der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zahlenmäßig stärken können, damit aber linkere Elemente in ihre Reihen aufgenommen, die oft in Betrieben besser verankert waren. Im Laufe des Jahres 1923, v. a. zum Sommer hin, verschob sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Kommunistischen Partei, die gerade in industriellen Zentren mit gezielter beharrlicher Einheitsfrontpolitik die SPD ein- und überholen konnte, weil sie Arbeiter:inneninteressen besonders durch Kampfmaßnahmen entschlossener und politisch pointierter wahrzunehmen wusste. Die KPD zog neben parteilosen, z. B. syndikalistischen Arbeiter:innen, auch ehemalige USPD-Anhänger:innen an.

Dies drückte sich bspw. auch in Wahlergebnissen auf parlamentarischer wie gewerkschaftlicher und Betriebsräteebene aus. Diese günstigen Zahlenverhältnisse – teilweise sogar mit Zweidrittelmehrheit gegenüber der SPD – dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sozialdemokratische Parteiapparat weiterhin fest in der Hand der Kräfte lag, die 1918/1919 bereits die demokratische Konterrevolution erfolgreich gesteuert hatten. Nicht von ungefähr kam der Rückzug aus einer sozialdemokratischen Streikunterstützung bei der Beratung der Kommission der Berliner Gewerkschaften durch Intervention führender Parteivertreter:innen um Wels zustande.

Die SPD-Führung verfolgte offensichtlich das Ziel, durch einen raschen Eintritt in eine neue Regierungskonstellation der KPD zuvorzukommen und deren Bestrebung, die revolutionäre Bewegung in Richtung einer proletarischen Machteroberung voranzutreiben, zu unterbinden, und muss aus diesem Grund bereits frühzeitig Fühlung mit den möglichen bürgerlichen Koalitionspartner:innen für die unverzügliche Bildung einer neuen Regierung aufgenommen haben. Trotz ihrer schwindenden Dominanz spekulierte die SPD darauf, die Massen mit Sofortmaßnahmen wirtschaftlicher Art wie Herbeischaffung von Lebensmitteln und dem Versprechen, die gleitende Skala der Löhne gegen die Teuerung einzuführen, beschwichtigen zu können. Die Situation brachte sie in die Position, der Bourgeoisie diese Zugeständnisse abzuringen.

Aufstand

Nach der Regierungsumbildung ebbte die revolutionäre Bewegung deutlich ab. Dennoch konnten die Maßnahmen der Stresemann-Regierung, insbesondere gegen die Inflation, die sogar immer mehr an Fahrt aufnahm, nicht schlagartig greifen. Die Klassengegensätze wurden nicht eingeebnet, sondern spitzten sich weiter zu, insofern sich auch am rechten Rand der bürgerlichen Gesellschaft heterogene Teile von separatistischen, monarchistischen bis zu rechtsradikalen Kreisen formierten, die auch militärisch gerüstet waren.

Aus dieser Lage erwuchs die Einschätzung, dass Deutschland auf einen Bürger:innenkrieg zusteuern würde. Dazu musste sich die Arbeiter:innenbewegung rüsten. In dem Zusammenhang erhob sich unvermeidlich die Machtfrage. Die Exekutive der Kommunistischen Internationale rief Brandler vom Parteivorstand der KPD Mitte August zu sich und drängte auf die militärische Vorbereitung eines Aufstands, um die reaktionäre Gefahr abzuwenden, die Macht zu ergreifen und die Diktatur des Proletariats errichten zu können.

Der Anweisung kam die Parteizentrale, obwohl nicht wirklich davon überzeugt, nach und bereitete sich, da diese entscheidende Auseinandersetzung heranzunahen schien, für den Oktober auf den bewaffneten Aufstand vor. Der Erstschlag sollte in Sachsen geführt werden.

Dort hatte die KPD ein Hilfsersuchen der SPD-Landesregierung befolgt, die bereits im März 1923 als Ausdruck einer Linksentwicklung in der dortigen SPD gebildet worden war. Die Regierung Zeigner fürchtete den Einmarsch von reaktionären Verbänden aus der bayerischen Nachbarprovinz, der auch der ebenfalls von einer linkeren SPD geführten Regierung in Thüringen galt.

Gegen diese Bedrohung richtete sich auch der Appell im sächsischen Landtag zur Bewaffnung der Arbeiter:innen. Um einem eigenmächtigen Vorstoß aus Bayern zuvorzukommen und eine revolutionäre Bewegung im Keim zu ersticken, schickte der SPD-Reichspräsident Ebert zur Wiederherstellung der Ordnung die Reichswehrexekutive nach Sachsen.

Auf Anraten der Komintern-Exekutive war die KPD am 10. Oktober in die beiden Landesregierungen eingetreten. Dies spielte in der Aufstandsstrategie eine tragende Rolle. Die Länderregierungen sollten als Bastionen der Arbeiter:inneneinheitsfront  bewaffnet verteidigt werden und davon sollte eine Signalwirkung für das ganze Reich ausgehen.

Die KPD-Führung wollte jedoch noch das Votum einer Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21.10. einholen. Doch ihr dort – einen Tag vor dem festgelegten Aufstandsdatum! – zur Abstimmung gestellter Aufruf zum Generalstreik und zum Aufstand stieß sogar bei den eigenen anwesenden KPD-Genoss:innen auf Ablehnung. Daraufhin sagte die Zentrale den Waffengang ab.

Dennoch kam es in Hamburg, weil dort diese Absage nicht rechtzeitig eintraf, zum Aufstand. Dieser wurde durch Polizei niedergeschlagen. In Sachsen rückten die Reichswehrtruppen des Generalleutnants Müller ohne Gegenwehr ein, brachten die Landesregierung zu Fall, in der sich die KPD in Koalition mit der SPD befand, und übernahmen die Exekutivgewalt. Das Gleiche geschah in Thüringen. Die KPD trat den Rückzug an, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.

Politische Fehler

Die Hintergründe der Niederlage erschöpften sich nicht im organisatorischen Aspekt, sondern reichten wesentlich weiter zurück, sind politisch-strategischer Natur und hängen eng mit der Geschichte der Partei, aber auch mit ihrer Wahrnehmung durch die Komintern zusammen.

Schon in der Zeit der Ruhrbesetzung zeigte die KPD ein janusköpfiges politisches Antlitz. Während die Frontseite der Öffentlichkeit ein glattes, gesundes Bild durch Wachstum und Aktionsreichtum bot, das die scheinbare Einheitlichkeit der Partei nach außen unterstrich, war die Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge auf anderen Seite durch andauernde Auseinandersetzungen zwischen im wesentlichen zwei Fraktionen entstellt.

Die Parteiführung um Brandler und Thalheimer, nach dem Märzabenteuer 1921 im Amt, befand sich im ständigen Widerstreit mit dem linken Flügel über Lageeinschätzung und Art des Vorgehens, setzte ihre Linie des steten Aufbaus durch Anwendung der Einheitsfronttaktik fort, reagierte jedoch nicht wendig auf die sich wandelnde politische Lage. Ihre Zielstrebigkeit beschränkte sich auf den Ausbau von Positionen v. a. in Betrieben und Gewerkschaften. Was die Parteizentrale an Möglichkeiten der Offensive unterschätzte, das überschätzte der linke Flügel tendenziell im Vertrauen auf die eigene Kraft und die Stimmung der Massen. Die entstandenen Kampforgane wie  die roten Hundertschaften, Fabrikausschüsse, Preiskontrollkomitees waren nur teilweise kommunistisch dominiert und nicht zentral organisiert.

Die Verantwortlichen der Komintern waren eher geneigt, den Berichten des linken Flügels der KPD über die Situation in Deutschland Glauben zu schenken, deren objektiv revolutionäre Reife gewiss unbestreitbar war, deren subjektive Voraussetzungen zum Zeitpunkt des anvisierten Aufstandes jedoch zu instabil waren und zu optimistisch beurteilt wurden.

Die von der KP-Führung landesweit gesetzten Aktionsakzente, namentlich der sogenannte Antifaschistische Tag Ende Juni und der Generalstreik gegen die Cuno-Regierung, waren  nicht Ergebnis einer vorbereiteten Kampagne und blieben auf halbem Wege stecken.

Die Forderung nach Machteroberung der Arbeiter:innenklasse als Konsequenz aus einem Programm von Übergangsforderungen tauchte gerade im Generalstreik erst nach dem Streikaufruf durch die Berliner Drucker:innen auf.

Diese inkonsequente Haltung äußerte sich schließlich noch in der Vorbereitung des Aufstands, wobei man nur die eigenen Genoss:innen bewaffnete und die Planung aus Furcht vor staatlichen Organen im Geheimen vor sich ging, da man wie schon bei den anderen Ereignissen vorzeitigen Zusammenstößen mit den Klassenfeind:innen aus dem Wege gehen wollte. Dies ging natürlich zu Lasten des Versuchs, einen großen Teil der Arbeiter:innenschaft im gesamten Reich zu mobilisieren. Als besonders fatal erwies sich, sich vom Zustandekommen einer sächsischen Betriebsrätekonferenz kurz vor dem festgelegten Aufstandstag abhängig zu machen.

Zusammengefasst kann gesagt werden: Der entscheidende Faktor für die Niederlage von 1923 war nicht eine „verräterische Führung“ oder eine mangelnde Kampfbereitschaft der Arbeiter:nnen. Entscheidend waren schwerwiegende Fehler in der politischen Einschätzung der Lage und Schwierigkeiten des Übergangs von einer defensiven, lange Zeit erfolgreichen Einheitsfrontpolitik zu einer offensiven Konfrontation mit der Reaktion. Nur in der Parteiführung einen solchen Beschluss zu fällen und konspirative Umsturzpläne zu schmieden, bedeutete auch einen Bruch mit der Politik, den gewonnenen Einfluss in den Basisorganisationen der Klasse für deren Mobilisierung zur Konfrontation zu nutzen. Fabrikkomitees, Regionalkonferenzen, proletarische Hundertschaften etc. hätten schon lange vor dem Oktober entsprechende Beschlüsse und Schritte diskutieren und beschließen müssen.

Eine solche Diskussion über einen entscheidenden Schritt zu einem Arbeiter:innenstaat hätte mit einer breiten Kampagne auf der Grundlage eines Programms für den Weg zur Machteroberung der Arbeiter:innenklasse verbunden sein und politisch zentralisierte Organe hätten frühzeitig formiert werden müssen.

Infolgedessen fehlte der Übernahme der Führung des Aufstands in Deutschland eine entsprechende Fundierung in Rätestrukturen in der Arbeiter:innenschaft. So blieb der KPD nur noch der mehr oder weniger geordnete Rückzug.

Manche Revolutionen werden nicht verraten – die Revolution von 1923 wurde schlicht verpasst und durch schwere politische Fehler in den Sand gesetzt. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die Beschäftigung mit diesen historischen Ereignissen heute noch wichtig für RevolutionärInnen ist. Sie zeigt klar die Bedeutung von revolutionären Organisationen und ihrer Führungen in sozialistischen Revolutionen, genauso wie die Möglichkeiten und Grenzen  der Einheitsfrontpolitik.




Oktober 1923: Die Debatte um die Arbeiter:innenregierung und ihre Anwendung

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Wie ein roter Faden zog sich die Einheitsfrontpolitik als Leitgedanke durch die Tätigkeit der KPD und fand in dem Zusammenhang ihren Ausdruck in der besonderen Behandlung der Losung der Arbeiter:innenregierung. Ihre Bereicherung des taktischen Arsenals, aber auch ihre Grenzen kamen in der Situation der Aufstandsvorbereitung zum Vorschein.

Um diese taktische und strategische Kernfrage zu behandeln, kann nicht erst bei den Vorkommnissen des Jahres 1923 begonnen werden, sondern man muss weiter zurückgehen bis ins Jahr 1921, in dem die Thesen zur Taktik der Einheitsfront auf dem 3. Weltkongress der III. Internationale verabschiedet wurden.

Der Einheitsfrontgedanke entsprang der Situation, dass die kommunistischen Parteien sich bei ihrer Formierung außerhalb der Sowjetunion einer Mehrheit von reformistischen, in den meisten Ländern sozialdemokratischen Organisationen gegenübersahen, die entscheidenden Einfluss auf die Arbeiter:innenklasse ausübten. Sie mussten nach Wegen suchen, diesen Einfluss zurückzudrängen, um stärkeren Zugang zu den Massen zu finden. Dazu waren Angebote auch an andere Arbeiter:innenorganisationen zur Einheit in der Aktion als gemeinsame Front gegen die Klassenfeind:innen notwendig. Unumstrittene Grundbedingung für ein vereintes Handeln war allerdings die vollständige Wahrung der organisatorischen Unabhängigkeit und die Freiheit der Kritik an den Bündnispartner:innen. Die Einheitsfront als umfassendes taktisches Mittel konnte und sollte sich auch in verschiedenen Stufen ausdrücken, die in einer Form gipfelten, die in der kommunistischen Bewegung debattiert und entfaltet wurde: die Taktik der Arbeiter:innenregierung.

Die Jahre 1921 und 1922 waren prägend für die Ausarbeitung der Strategie und Taktik der KPD in Bezug auf Einheitsfront und deren besondere Form der Arbeiter:innenregierung. Im Folgenden sollen wichtige Stationen auf dem Weg der Präzisierung der Losung und ihrer Anwendung nachgezeichnet werden.

Duldung von sozialdemokratischen Regierungen

Zunächst ging es im Herbst 1921 um die Politik gegenüber „sozialistischen“ (gemeint waren sozialdemokratisch geführte) Arbeiter:innenregierungen, zu denen das neu gewählte Politbüro der KPD eine elastischere Haltung einnehmen wollte, um die Aktionseinheit zu fördern. Im Mittelpunkt standen dabei Abstimmungen über die Steuerfrage, in der die KPD es von der politischen Situation abhängig machte, ob diese Regierungen gestützt oder gestürzt werden sollten. Die Mehrheit der Parteimitglieder sprach sich auf jeden Fall gegen einen Eintritt in solche Regierungen aus.

Die Partei richtete nach dem Jenaer Parteitag (22. – 26.8.1921) eine parlamentarische Zentralstelle als besondere Abteilung des Politbüros ein, deren erste Stellungnahme zur Bildung einer „sozialistischen“ Regierung nach den thüringischen Landtagswahlen vom 11.9.1921 erfolgte. Die KPD, die sich zum ersten Mal nach den Märzkämpfen den Wähler:innen stellte, gewann 6 Mandate. Es entstand im Landtag eine sozialdemokratisch-kommunistische Sitzmehrheit. Eine Mehrzahl der SPD und USPD-Abgeordneten trat für Verhandlungen mit der KPD über eine Regierungsbildung ein. Das Politbüro der KPD lehnte dies zwar ab, wollte aber die Wahl eines Ministerpräsidenten aus den Reihen von SPD bzw. USPD ermöglichen und die Regierung bei „konsequent proletarischer Politik“ unterstützen.

Gegen den Widerstand der thüringischen Parteiorganisation setzte die Zentrale durch, auch im Interesse der Bewegung im Reich nichts unternehmen zu wollen, „was der SPD erleichtern könnte, eine Koalition nach rechts einzugehen“.

Auf dem Parteitag der SPD (24.9.1921) stimmten nach der politischen rechtsradikalen Bedrohung auch gegen bürgerlich-liberale Kreise (Ermordung von Erzberger) über 70 % der Delegierten für eine Erweiterung der Reichsregierungskoalition nach rechts unter Einschluss der Deutschen Volkspartei. Hingegen wurde eine Einheitsfront mit den Kommunist:innen abgelehnt. Das neue Parteiprogramm sagte sich vom Klassenkampf los hin zur Klassenkollaboration.

Im November 1921 legte der Zentralausschuss der KPD Thesen über das Verhältnis der Kommunistischen Partei zu den sogenannten sozialistischen Regierungen vor. Darin wurden die sozialdemokratischen Auffassungen von Arbeiter:innenregierungen als „Schutzwall der Bourgeoisie gegen die proletarischen Massen“ bezeichnet. Die Bildung solcher Regierungen ohne eigene Beteiligung sollte aber zugelassen werden, weil sie eine „revolutionierende“ Rolle „als klassische Schule zur Überwindung bürgerlich-demokratischer Illusionen“ spielen könnten. Aber die KPD sollte sich von solchen Regierungsbildungen fernhalten und stattdessen den Kampf für die Eroberung der Staatsmacht und Aufrichtung der proletarischen Diktatur durch die Räteordnung führen.

Erste Anzeichen veränderter Taktik

Die Erwartung einer Räterepublik in den Thesen wurde von Radek, dem Verbindungsmann zum EKKI, kritisiert, der die Arbeiter:innenregierung als derzeit günstigste Etappe bezeichnete. Da SPD und USPD nicht wirklich die Absicht hegten, eine „sozialistische“ Regierung zu bilden, müsse anders an die Sache herangegangen werden. Die Partei solle vielmehr die Massen für eine Arbeiter:innenregierung beeinflussen. Diese müsse auf parlamentarischem Wege „zum Ansatzpunkt zu neuen siegreichen revolutionären Kämpfen werden.“ Konkret könne eine Kampagne den Hebel bilden, die gemeinsame Forderung nach Erfassung der Sachwerte in Gold durchzusetzen und in einem Kampfabkommen die Massen gegen eine „Stinnes-Koalition“ (bürgerliche Rechtserweiterung) zu mobilisieren.

Der KPD-Zentralausschuss lehnte es ab, die Losung der Arbeiter:innenregierung in den Mittelpunkt einer Kampagne zu stellen, und hielt fest, dass die Aufstellung von sachlichen, politischen und wirtschaftlichen Zielen geeigneter sei, den Kampf der Massen zu entfesseln. Bendler, der „Erfinder“ des Begriffs „sozialistische Regierung“ hatte sie nicht als Einheitsfrontlosung gedacht, sondern meinte, das Angebot an die sozialdemokratischen Parteiführer:innen wäre „das Gefährlichste in der ganzen Taktik der sozialistischen Regierung“ und würde „sie ihres revolutionären Massencharakters entkleiden und zu einem parlamentarischen Gaukelspiel werden lassen.“

Jedoch zeigten sich verschiedene Auffassungen in der Partei über die Frage der Taktik gegenüber der Sozialdemokratie auf politisch parlamentarischer Ebene. Die Opposition wandte sich auch gegen die Unterstützung der sozialdemokratischen Länderregierungen und forderte, Steuern in den Landtagen abzulehnen und damit Regierungen stürzen zu lassen. Böttcher, der Mehrheit zuzurechnen, meinte: „Wir werden die sozialistische Regierung unterstützen, parlamentarisch und außerparlamentarisch, wenn sie sich gegenüber der Bourgeoisie im Angriff befindet“.

Thalheimer hob hervor, dass günstige Möglichkeiten durch die am 15.November 1921 aufgestellten zehn Mindestforderungen der Gewerkschaften (ADGB und Angestelltenbund) zur Steuer- und Wirtschaftspolitik geschaffen worden wären, worin sie ein Eingreifen der Regierung zur Kontrolle der Privatwirtschaft und Sozialisierung des Kohlebergbaus, Erfassung der Sachwerte, Exportdevisen und eine grundsätzliche Neuordnung der Steuerpolitik forderten. Die Zentrale schlug vor, eigene weitergehende Forderungen zugunsten einer gemeinsamen Kampffront zurückzustellen.

Konkretisierung und Paradigmenwechsel

Noch im November 1921 berieten die Landtagsfraktionen von Sachsen, Thüringen und Braunschweig, wo  sich die KPD in Opposition zu von SPD und USPD geführten Regierungen befand, über ein abgestimmtes Vorgehen, z. B. Abstimmung gegen ein Misstrauensvotum aus dem reaktionären Lager, was letztlich von der Zentrale gebilligt wurde.

Im Dezember traf die Parteiführung eine weiter reichende Entscheidung, indem sie nunmehr feststellte: „Der Drang nach der Einheitsfront muss seinen politischen Ausdruck in einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung finden, die den Koalitionsregierungen gegenüberzustellen ist. (…) Die KPD muss den Arbeiter:innen sagen, dass sie bereit ist, das Zustandekommen einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln zu fördern, und dass sie bereit ist, in solch eine Regierung einzutreten, wenn sie die Gewähr haben wird, dass diese Regierung im Kampfe gegen die Bourgeoisie die Interessen und Forderungen der Arbeiter:innenschaft vertreten, die Sachwerte erfassen, die Kappverbrecher:innen verfolgen, die revolutionären Arbeiter:innen aus den Gefängnissen befreien wird …“. Alles sollte getan werden, um die linken Flügel der SPD und USPD, die sich gegen die Koalition (mit den bürgerlichen Parteien) wendeten, zu stärken.

Die Exekutive der KI riet der KPD, öffentlich ihre Bereitschaft zu erklären, in eine Arbeiter:innenregierung des Kampfes gegen die Bourgeoisie einzutreten, und verwies darauf, dass an einer Koalition der Arbeiter:innenorganisationen im Prinzip auch nichtsozialistische Parteien teilnehmen könnten. Die Terminologie müsse sich von „sozialistische Regierung“ in „Arbeiter:innenregierung“ ändern, um die sozialdemokratischen Parteien nicht fälschlicherweise als sozialistisch zu bezeichnen und zu zeigen, dass die ganze Klasse ohne Rücksicht auf politische und weltanschauliche Differenzen zusammengefasst werden sollte. 

Nach Einwänden wurde in den Brief eingefügt, dass der Eintritt der KPD in die Landesregierungen nicht als unmittelbar bevorstehender Schritt zu betrachten sei.

Die Zentralausschusssitzung der KP im Januar 1922 dämpfte vorschnelle Erwartungen über die Herstellung einer Einheitsfront. In der Auseinandersetzung mit der rechten Opposition KAG (Levi), die den Vorhutanspruch der Partei bestritt und in Gegensatz zum Einheitsfrontgedanken bringen wollte, wurde dies abgewiesen, denn erst die revolutionäre Partei könne der Einheitsfront die entscheidenden Kampfanstöße und -perspektiven verleihen.

Die linke Opposition bemängelte, dass die Einheitsfront zu starr und unbefristet ausgelegt werde, da sie als Taktik zu verstehen sei und ein Festhalten daran, wenn sich die Umstände ändern, eine ungünstige Wirkung haben könne und deshalb nicht zum Programm gemacht werden dürfe. Dies führe dazu, die revolutionären Ziele aufzugeben und das Hineinwachsen in den Reformismus zu fördern. Der Vorwurf ging auch an die Adresse des III. KI-Weltkongresses, der den Klärungsprozess in den Mitgliedschaften gehemmt habe. Die Linken stießen sich auch an dem Begriff „Arbeiter:innenregierung“ und wollten ihn durch „sozialistische Regierung“ ersetzt wissen. Rosenberg drückte die Position der Opposition so aus: „Der Begriff ‚Arbeiter:innenregierung‘ darf nicht mit der ‚rein sozialistischen‘ (d. h. sozialdemokratischen) vermengt werden. Unter ‚Arbeiter:innenregierung‘  verstehen wir eine solche Regierung von Vertrauensleuten des Proletariats, die sich nicht auf  eine parlamentarische Zufallsmehrheit, sondern auf die Arbeiterorganisationen außerhalb der Parlamente stützt.“ (zit. nach Reisberg, Arnold: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik – Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921 bis 1922, Band II, S. 634)

Regierungseintritt als taktische Option

Aufgrund der Diskussionen in der Partei und Einlassungen der KI über den Charakter von Arbeiter:innenregierung und deren möglicher Dynamik zur Mobilisierung der Arbeiter:innenmassen wurde die Resolution „Zur politischen Lage und zur Politik der KPD“ im Punkt Arbeiter:innenregierung im Frühjahr 1922 nachgebessert und lautete nun: „In der Erkenntnis, dass eine Arbeiter:innenregierung gegenüber einer offenen oder verkappten Stinnes-Regierung die Möglichkeit einer politischen Machterweiterung des Proletariats bedeutet (z. B. durch Auflösung der legalen und illegalen gegenrevolutionären Verbände, Umwandlung der Polizei und Justiz zu Klassenorganen des Proletariats, Freilassung der verurteilten Revolutionär:innen, Erweiterung der Rechte der Betriebsräte usw.), ist die KPD bereit, unter bestimmten Voraussetzungen in eine Arbeiter:innenregierung, sei es im Reiche, sei es in den Ländern, einzutreten. Der Eintritt der Kommunist:innen in eine solche Arbeiter:innenregierung hängt ab von dem Kampfwillen der Arbeiter:innenmassen und der sich auf diese Massen stützenden Parteien sowie von den realen Möglichkeiten, die gegeben sind, um die Arbeiter:innenmacht zu befestigen und auszudehnen“.  Die Formulierung von der Arbeiter:innenregierung als Schutzwall der Bourgeoisie wurde fallengelassen.

Dieser Beschluss beseitigte jedoch nicht die Differenzen bei der konkreten Anwendung in den Landtagen, z. B. bei der Bewilligung von Haushaltsvorlagen. Im April 1922 musste eine weitere Parlamentarierbesprechung, diesmal aus dem ganzen Reich, einberufen werden, bei der „Richtlinien über ein gemeinsames Vorgehen in den Ländern mit sozialistischen Regierungen, auch unter dem Gesichtswinkel der Schaffung eines roten Blocks gegenüber der reaktionären Reichspolitik und gegenüber Bayern“ erarbeitet wurden. Zur Haushaltsfrage einigte man sich lediglich auf „schärfstes Vorgehen gegen die Entstaatlichung der Betriebe“.

Als die rechtskonservative DNVP ein Volksbegehren zur Auflösung des sächsischen Landtages einleiten wollte, setzten sich einige Parteivertreter:innen für den bedingungslosen Eintritt der Kommunist:innen in die sächsische Regierung ein, um den reaktionären Streich zu stoppen. Dem widersprach das Politbüro und bezeichnete es als „opportunistische Haltung“ ebenso wie denjenigen, die sich prinzipiell gegen jede Regierungsbeteiligung aussprachen, was als KAPD-Tendenz betrachtet wurde.

Zu ersten Verhandlungen zwischen den  drei Arbeiter:innenorganisationen kam es Ende April 1922 auf Vorschlag der KPD, durch Neuwahlen Voraussetzungen für „eine einheitliche Klassenfront herzustellen“, die jedoch scheiterten, wie auch weitere Anläufe,

die die KPD stets an Grundbedingungen knüpfte, erst recht nach der Fusion von SPD und USPD. Auf der ergebnislosen Berliner Konferenz der drei Internationalen im Februar war bereits absehbar gewesen, dass es auf großer Bühne keine verbindlichen Abmachungen zur Einheitsfront geben würde.

Aber die KP-Zentrale erklärte im Mai 1922: Der Schritt einer Regierungsbeteiligung, der in der ganzen Kommunistischen Internationale  noch nicht praktiziert worden war, sollte er umsetzbar sein, wäre dann auch wegweisend über Sachsen hinaus. Die Zentrale schlug deswegen vor, dass sich alle Länder mit Arbeiter:innenregierungen zu einem Block zusammenschließen, um gegen den reaktionären Kurs im Reich Stellung zu nehmen und ihn zu durchkreuzen. Die  Lösung der Aufgaben der proletarischen Revolution könne von einer Landesregierung nicht erwartet werden, sie könne aber ein Stützpunkt für die Revolution sein.

Internationale Diskussion

Vom 7. – 11.6.1922 trat die zweite Erweiterte Exekutive der Kommunistische Internationale mit Abordnungen aus allen Gliedsektionen zu Beratungen über Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung zusammen.. Neben Deutschland stand dies auch in der Tschechoslowakei auf der Tagesordnung. Die tschechoslowakische KP bejahte  nicht nur die Frage der Bereitschaft zur Unterstützung, nach Teilnahme an  einer Arbeiter:innenregierung, sondern zur Verantwortungsübernahme sogar im Falle der Möglichkeit einer Minderheitsregierung, bei gegebener Lage von Arbeitermassenmobilisierung. Ihr Abgeordneter Smeral sagte, dass zwischen den Alltagsforderungen, von denen die Aktion der Partei ausgehe, und dem Endziel der Machteroberung des Proletariats die Notwendigkeit eines Bindeglieds in Form der Losung der Arbeiter:innenregierung bestehe. Dies verfehlte nicht seinen Einfluss auf die Diskussion in der deutschen Sektion. Die Losung der Arbeiter:innenregierung wurde bis auf die italienische und Teile der französischen Delegation einvernehmlich als Krönung der Einheitsfront betrachtet.

Kennzeichen einer ungenügenden Wahrnehmung der Frage der Arbeiter:innenregierung war es jedoch, dass im November 1922 die Entscheidung über den Eintritt in die sächsische Landesregierung, ob dies von der KP-Bedingung, Gesetze einer Betriebsrätekonferenz vorzulegen, abhängig gemacht werden sollte oder nicht, von der Exekutive der KI bzw. der KPD-Parteizentrale wieder auf den sächsischen Landesparteitag zurückverwiesen worden war, der dann an der Bedingung festhielt. Das Politbüro billigte dessen Beschluss, aber die Landtagsfraktion sollte auf jeden Fall den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten mitwählen.

Parteitag Januar 1923

Es herrschte weiter Uneinigkeit über die unterschiedlichen Konzeptionen in der Partei zur Einheitsfront und zur Arbeiter:innenregierung.  Der 8. Parteitag vom 28.1. – 1.2. 1923 war anberaumt worden, um eine Klärung herbeizuführen. In Brandlers Hauptreferat für den Parteivorstand über Einheitsfront wies er die Einheitsfront nur von unten als undialektisch zurück. Er erklärte: „Die Arbeiter:innenregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiter:innenpolitik zu treiben“. Zu den Anforderungen an eine Arbeiter:innenregierung gehörten neben wirtschaftlicher Existenzsicherung der arbeitenden Klassen auch die gewaltsame „Niederkämpfung der gesamten Widerstände der Bourgeoisie gegen die Arbeiter:innenregierung und ihr Programm. (…) In diesen Kämpfen (…) wird die Arbeiter:innenregierung gezwungen werden, den Rahmen der Demokratie zu überschreiten, zu diktatorischen Maßnahmen überzugehen“.

Auch die Beteiligung der Kommunist:innen an einer Arbeiter:innenregierung im Reich wurde prinzipiell bejaht. Länderregierungen sollten als Stützpunkte im Kampf darum dienen. Zur Arbeiter:innenregierung zählte er auch die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, die bisher „der linke Flügel der Bourgeoisie war, jetzt der rechte Flügel der Arbeiter:innenregierung werden soll“.

Über diese Vorlage kam es zur Kampfabstimmung gegen die linke Opposition, die eine Arbeiter:innenregierung ohne vorherige Schaffung von ‚Räteorganen‘ und „ohne Aufrollen der Waffenfrage durch die Arbeiter:innenschaft“ verwarf. Die Abstimmung  ergab eine Zweidrittelmehrheit für den Thesenentwurf der Zentrale über die „Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiter:innenregierung“.

Im März 1923  schienen sich die günstigen Vorzeichen für die Kommunist:innen zu mehren, als sich linkere sozialdemokratische Landesregierungen in Sachsen und Thüringen formierten, die auch bewaffnete Organe wie die proletarischen Hundertschaften zuließen. Der tatsächliche Regierungseintritt der KPD im Oktober folgte spät, aber nicht überraschend. Dies und das nicht einmal zweiwöchiges Dasein der Landesregierungen führten nach dem Eklat erneut zu heftigen Diskussionen in Partei und Internationale.

Opportunistische und sektiererische Konzepte über Einheitsfrontpolitik und die Vorstellung von Arbeiter:innenregierung waren aber schon lange vorher aufeinandergeprallt und gingen eine verhängnisvolle kontraproduktive Wechselwirkung ein. Auf der einen Seite verfestigte sich aus der Erkenntnis, dass die Klasse eine Regierung aus Arbeiter:innenparteien als Errungenschaft betrachtet, der Glaube, sie für deren Verteidigung mobilisieren zu können und damit die Basis zu legen für einen allgemeinen Aufstand, ohne jedoch die entsprechend zentralisierten Klassenorgane ins Feld führen zu können, zugleich aber die Vorbereitung auf den Entscheidungskampf gegen den Klassenfeind unter Ausschluss der Massen und im Geheimen durchzuführen. Es war somit kein Zufall, dass die entscheidende Phase der Ereignisse 1923 in der Frage der Arbeiter:innenregierung kulminierte und auf tragische Weise die Niederlage der Revolution besiegelte.