München: Statement palästinasolidarischer und palästinensischer Gruppen zu den unwahren Vorwürfen mehrerer Stadtratsfraktionen zur Demonstration am 8. März 2024

Revolutionäre Internationalistische Organisation – Klasse Gegen Klasse; Palästina Spricht München; Queer Resistance; Gruppe Arbeiter:innenmacht München, Infomail 1248, 20. März 2024

Mit Empörung haben wir von dem fraktionsübergreifenden Offenen Brief der Münchner Stadtratsfraktionen von Die Grünen – Rosa Liste, SPD/Volt, FDP, Bayernpartei, ÖDP/München Liste und CSU mit Freie Wähler Kenntnis genommen. Wir halten dieses Statement mit dem Titel „Antisemitismus entschieden entgegentreten“ für den Versuch, feministische Rhetorik zu instrumentalisieren, um die Opposition gegen den Genozid in Gaza zum Schweigen zu bringen und jegliche Solidarität zu unterdrücken. Die in dem Statement erhobenen Vorwürfe entsprechen nicht den tatsächlichen Vorfällen.

Kein Mensch gleich welchen Geschlechts wurde auf der Kundgebung wegen Glaube oder Herkunft ausgeschlossen oder gar angegriffen, wie das Statement unterstellt. Das Statement der Stadtratsfraktionen versucht im Anschluss an einen hetzerischen Artikel in der „Bild“, einem der antifeministischsten Blätter der Bundesrepublik, einen Skandal zu konstruieren, wo es keinen gibt. Der eigentliche Skandal besteht in dem Versuch prozionistischer Kräfte, die das andauernde Massaker in Gaza mindestens billigen, wenn sie es nicht sogar gutheißen, eine feministische Veranstaltung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Als palästinasolidarische und palästinensische Organisationen haben wir an der Demonstration zum Internationalen feministischen Kampftag teilgenommen, um auszudrücken, dass ein Ende der sexistischen Unterdrückung weltweit auch das Ende kolonialer Unterdrückung bedeuten muss. Während Israel in Gaza mehr als zehntausend Frauen ermordet und hunderttausende mehr systematisch aushungert, den Zugang zu Gesundheitsversorgung verhindert und dadurch hohe Zahlen von Fehlgeburten verursacht hat und Palästinserinnen entführt, vergewaltigt und foltert, betrachten wir es als selbstverständliche Pflicht aller feministisch eingestellten Menschen, die Stimme zu erheben: Genozid ist auch Femizid. Wir sind überzeugt, dass die aktuelle Situation in Gaza ein zutiefst feministisches Thema ist und auch direkt mit der Situation von Frauen weltweit zu tun hat.

Das Statement der Stadtratsfraktionen geht hierauf mit keiner Silbe ein. Stattdessen wird hier bewusst der 7. Oktober als Ausgangspunkt der Gewalt genommen, während die jahrzehntelange Besatzung sowie sexualisierte Gewalt gegen palästinensische Frauen und Mädchen durch den israelischen Staat unerwähnt bleiben.

Dass sich die Teilnehmenden des sogenannten „Spaziergangs“ nicht der Demonstration zum Internationalen Feministischen Kampftag angeschlossen haben, finden wir richtig. Zu Bedrohungen und physischen Angriffen von Seiten unserer Organisationen kam es dabei nicht. Vielmehr versuchten insbesondere männliche Teilnehmer des „Spaziergangs“ unablässig Teilnehmer:innen der Kundgebung, allen voran palästinensische Frauen und ihre Unterstützerinnen, zu provozieren.Sie wurden laut Teilnehmenden verbal rassistisch und sexistisch angegriffen und ihnen wurde mehrfach Vergewaltigung und/oder andere Formen von Gewalt gewünscht. Das Statement der Stadtratsfraktionen behauptet, es seien Demonstrierende angegriffen worden. Das lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass sie bereits in der schieren Anwesenheit von Palästinenser:innen einen Angriff sehen.

Organisiert wurde der „Spaziergang“ von Guy Katz, einem langjährigen Spitzenfunktionär des „Jüdischen Nationalfonds“ (JNF-KKL). Diese Organisation ist seit über einhundert Jahren aktiv an der Vertreibung und Kolonisierung von Palästinenser:innen beteiligt. Unter anderem beteiligte sie sich maßgeblich an der Räumung von palästinensischen Familien in Sheikh Jarrah, einem Stadtteil in Jerusalem, und sammelt Geld für Siedlungsprojekte, unter anderem im zu den palästinensischen Gebieten gehörenden Westjordanland. Diese Siedlungen werden von der UN, der EU und vielen internationalen Organisationen als völkerrechtswidrig eingestuft. Damit ist der JNF-KKL direkt für die ethnische Säuberung der Palästinenser:innen mitverantwortlich.

Zudem war Katz Offizier der Israeli Defense Force (IDF), ebenjener Streitmacht, die derzeit den Genozid in Gaza verübt. Auf diese Zeit bezieht sich Katz bis heute positiv. Solche Akteur:innen haben auf einer Veranstaltung, die sich als fortschrittlich versteht, nichts verloren. In ihrem Statement behaupten die Stadtratsfraktionen, die Anhänger:innen dieser Organisation seien angegriffen worden und dies sei geschehen, weil sie jüdisch sind. Damit begehen sie selbst den antisemitischen Fehlschluss, Jüd:innen mit dem Zionismus gleichzusetzen. Gleichwohl ist festzuhalten, dass es zu keinen Angriffen auf diese Gruppe durch unsere Demonstrierenden gekommen ist. Etwaige Beweise haben weder die teilnehmenden Stadtratspolitiker:innen noch die Medien vorbringen können.

Das Statement der Stadtratsfraktionen fragt, warum Palästinaflaggen geschwenkt wurden, während die Demonstrant:innen des prozionistischen Blocks keine Flaggen zeigten. Die Antwort ist einfach. Die Fahne eines unterdrückerischen Kolonialstaats, der innerhalb weniger Monate Zehntausende ermordet hat und Hunderttausende mehr mit dem Tod bedroht, hat auf einer fortschrittlichen Veranstaltung nichts zu suchen. Die Solidarität mit den Unterdrückten hingegen ist eine grundlegende Selbstverständlichkeit eines Feminismus, der jede Form der Unterdrückung bekämpft.

Wir begrüßen, dass die Stadtratsfraktion DIE LINKE / Die PARTEI das Statement der anderen Fraktionen nicht unterzeichnet hat. Mit Bedauern stellen wir aber fest, dass auch sie sich dem Framing anschließen, „Anfeindungen gegen Teilnehmer*innen des ‚Run for Their Lives‘-Spazierganges“ zu verurteilen, offenkundig ohne sich ein umfassendes Bild des Geschehens gemacht zu haben. Die Kritik, die ihre Stellungnahme an dem Statement ihrer Kolleg:innen der anderen Fraktionen macht, ist deutlich, beschränkt sich aber auf die Form. Inhaltlich stimmt das Statement den anderen Fraktionen leider zu. Von einer Fraktion, die sich als fortschrittlich begreift, müssen wir erwarten können, dass sie offen an der Seite der Unterdrückten steht. Wir rufen DIE LINKE / DIE PARTEI auf, ihr ursprüngliches Statement fallen zu lassen und sich diesem Statement anzuschließen.

Zuletzt müssen wir fragen, wie es zu erklären ist, dass mit dem Statement der Stadtratsfraktionen Kräfte zusammengefunden haben, die weder mit einem tatsächlichen Kampf gegen Antisemitismus noch mit Feminismus etwas zu tun haben. Was haben CSU und Freie Wähler zu einer feministischen Demonstration am 8. März zu sagen, während sie unentwegt und Seite an Seite mit der AfD einen rechten, antifeministischen Kulturkampf führen? Gab es nicht in den Reihen der Freien Wähler erst vor wenigen Monaten einen echten Skandal um ein antisemitisches Flugblatt, der von CSU und FW möglichst rasch unter den Teppich gekehrt wurde? Treiben nicht auf der anderen Seite die Ampelparteien den Abbau der Gesundheitsversorgung in München und bundesweit voran, der besonders Frauen trifft? Wir müssen schlussendlich feststellen, dass die Einheit der Parteien vor allem darin besteht, Deutschland „kriegstüchtig“ machen zu wollen.

Laut Bayerischem Rundfunk überlegen die Organisator:innen des Bündnisses für den 8. März angeblich, künftig professionelle Securities für die Kundgebung anzuheuern. So etwas wurde im Bündnis nie besprochen und sollte das wahr sein, wäre es ein eklatanter Bruch des Demokonsens. Wir lehnen jede Art der Militarisierung der Demo zum 8. März ab. Die 8M-Demo kann sich sehr gut selbst schützen.

Zuletzt stellen wir uns gegen die Erzählweise, ein Konflikt zwischen proisraelischen und propalästinensischen Kräften lenke von Frauen ab. Bei der Solidarität mit Gaza geht es um Frauen. Sexualisierte Gewalt bekämpfen wir immer. Doch die Instrumentalisierung von sexualisierter Gewalt, um den Völkermord und Femizid in Gaza zu legitimieren, müssen alle Feminist:innen zurückweisen. Der Ausschuss rechter und militaristischer Kräfte von der 8M-Demo geschah in Einklang mit einer weltweiten jüdischen Bewegung für den Waffenstillstand und gegen den Genozid. Der Versuch von Springerpresse und Stadtratsparteien, Judentum und Zionismus gleichzusetzen, wird nicht gelingen.

Wir rufen auch alle gewerkschaftlichen Kräfte auf, sich gegen die Kriegsverbrecher und den Völkermord in Gaza mit den Palästinenser:innen zu solidarisieren, insbesondere die Frauenstrukturen in den Gewerkschaften, die sich für den 8. März engagieren. Damit würden sie den Beschlüssen der internationalen Gewerkschaftsverbände der Bildungsinternationale, der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF), des Industriegewerkschaftsverbands IndustriALL, der Bau- und Holzarbeiter-Internationale (BHI), der Internationalen der Öffentlichen Dienste (IÖD) und des Verbands UNI Global Union entsprechen, die nach dem vorläufigen Urteil des Internationalen Gerichtshofs über den Genozid in Gaza zum gemeinsamen Einsatz für einen Waffenstillstand aufrufen. Davon sollte nach dem erfolgreichen 8. März mit tausenden Teilnehmer:innen die Rede sein.

Freiheit für Palästina!

Unterzeichnende:

Revolutionäre Internationalistische Organisation – Klasse Gegen Klasse

Palästina Spricht München

Queer Resistance

GAM/Gruppe Arbeiter:innenmacht München




Der Kampf der Belutsch:innen gegen staatliche Morde und Ausbeutung

Minerwa Tahir, Gruppe Arbeiter:innemacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Ihr Land ist besetzt und Militärkontrollpunkte kontrollieren ihre Bewegungsfreiheit. Das Land ist reich an Gas, Mineralien und Öl, aber ihre Ressourcen werden ohne Entschädigung geplündert. Ihnen werden die grundlegenden sozialen und demokratischen Rechte vorenthalten. Sie werden häufig als „Terrorist:innen“ gebrandmarkt und entmenschlicht. Ähnlich wie die Palästinenser:innen sind die Belutsch:innen nicht länger bereit, ihr gewaltvolles Schicksal hinzunehmen.

Das Volk der Belutsch:innen lebt in der Region Belutschistan, die zwischen Pakistan und Iran aufgeteilt ist. Dies ist die Provinz mit der größten Fläche und der kleinsten Bevölkerung. Sie grenzt an den Iran und Afghanistan. In der Region gibt es seit Langem eine Aufstandsbewegung, die von Separatist:innen angeführt wird, die die Unabhängigkeit von Pakistan fordern. Andere Teile der nationalen Bewegung fordern eine größere Autonomie und/oder mehr Rechte innerhalb des pakistanischen Staatsgefüges.

Die jüngste Auseinandersetzung zwischen Belutsch:innen und pakistanischem Staat wurde durch die Ermordung des 24-jährigen Balach Mola Bakhsh und dreier weiterer Personen am 23. Oktober 2023 in der Stadt Turbat im Distrikt Kech in Belutschistan ausgelöst. Es kam zu einer Welle von Protesten, da die Belutsch:innen den Staat dafür anklagen, dass Bakhsh ein weiteres Opfer außergerichtlicher Tötungen sei. Die Proteste gipfelten in dem „Langen Marsch der Belutsch:innen“, eines über 1.000 Meilen durchgeführten Protestmarsches, der von Familienangehörigen, Freund:innen und anderen Aktivist:innen zu Fuß unternommen wurde. Während dessen gesamter Dauer führten die pakistanischen Behörden eine Desinformationskampagne gegen die Demonstrant:innen und setzten sie wiederholt Einschüchterungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen aus.

Hintergrund

Am 23. November 2023 meldete die pakistanische Abteilung für Terrorismusbekämpfung (CTD), dass sie in einer geheimdienstlichen Operation vier „Terrorist:innen“ getötet habe. Einer von ihnen wurde als Bakhsh identifiziert, nachdem die Leichen der örtlichen Polizei übergeben worden waren. Unterdessen begann die Familie von Bakhsh mit dem Leichnam eine Sitzdemonstration. Sie berichteten, dass Bakhsh vor einem Monat von der CTD verhaftet und dem örtlichen Gericht vorgeführt worden war, das ihn für 10 Tage in Polizeigewahrsam nahm.

Die Demonstrant:innen forderten die Verhaftung der CTD-Beamt:innen und die Einsetzung einer gerichtlichen Kommission zur Untersuchung der Morde. Nach Angaben der Familie wurden alle vier Opfer in Gewahrsam getötet. Ein Richter am Gericht von Turbat hatte die örtliche Polizei daraufhin sogar angewiesen, eine Anzeige gegen den für die Morde verantwortlichen Beamten zu erstatten. Doch das verläuft seither im Sand.

BLM: Langer Marsch der Belutsch:innen

Der Lange Marsch der Belutsch:innen (BLM) begann am 6. Dezember 2023, wird vom Baloch Yakjehti Committee (Baloch-Solidaritätskomitee) organisiert und von unbewaffneten Frauen und Kindern aus Belutschistan angeführt, die auf ihrem Weg von dort nach Islamabad schweren Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt waren. Diese Frauen haben jahrzehntelang unter Schmerzen und Ängsten gelitten, denn ihre Väter, Ehemänner, Brüder und Söhne sind „gewaltsam verschwunden“. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist eine jahrzehntelange Praxis, gegen die die Belutsch:innen immer wieder protestieren. Männer werden Berichten zufolge von staatlichen Behörden wegen Terrorismusverdachts festgenommen und „verschwinden“ dann. Am 16. Januar 2024 berichtete die Untersuchungskommission für gewaltsames Verschwindenlassen, dass sie seit 2011 insgesamt 10.078 Fälle registriert hat, davon 3.485 in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa und 2.752 in Belutschistan.

Zu den Forderungen der BLM gehörten nicht nur Gerechtigkeit für die vier Opfer der Morde vom Oktober, sondern auch ein Ende der barbarischen und undemokratischen Praktiken des Verschwindenlassens und Tötens.

Am 17. Dezember wurden 20 belutschische Demonstrant:innen verhaftet, als der lange Marsch über Dera Ghazi Khan in die Provinz Punjab (Pandschab) zu gelangen versuchte.

Als die unbewaffneten Demonstrant:innen in der Nähe von Islamabad ankamen, ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen sie vor, unter anderem mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern. Um ihnen den Weg nach Islamabad zu versperren, errichtete die Polizei Barrikaden rund um die Hauptstadt, schlug und verhaftete eine Reihe von Teilnehmer:innen. Gegen ältere Menschen und Minderjährige wurde brutale Gewalt angewandt, während Frauen von Männern in Uniform weggezerrt wurden.

Belutschische Frauen führen internationale Solidarität an

Der von Frauen angeführte Protest der Belutsch:innen musste aufgrund verschiedener Faktoren, die von extremer Kälte bis hin zu schweren staatlichen Repressionen reichten, abgebrochen werden. Dennoch bedeutet das nicht auf ein Ende der Bewegung hin. Es scheint vielmehr der Beginn der nächsten Phase der Bewegung zu sein, d. h. einer, die die Unterdrückten der Region zusammenführt. Am 21. Januar 2024 organisierte das Baloch Yakjehti Committee trotz aller staatlichen Hindernisse die erste Internationale Konferenz der Unterdrückten in Islamabad. Diese wurde mit dem Ziel organisiert, die Unterdrückten der Region zu vereinen und den „Völkermord an den Belutsch:innen“ aufzuklären. Dies ist natürlich eine positive Entwicklung, die der Bewegung gegen nationale Unterdrückung helfen wird, aus ihrer Isolation auszubrechen und Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung zu werden.

Der pakistanische Staat behauptet, die Vorwürfe über einen Völkermord an den Belutsch:innen seien übertrieben. Die Menschenrechtsaktivistin Mahrang Baloch verwies jedoch auf die Einrichtung eines Friedhofs mit unbekannten verstümmelten Leichen, auf Kinder, die auf der Straße nach ihren Vätern suchen, auf kollektive Tötungen und Massengräber als Beweis für den Ernst der Lage und forderte die internationale Gemeinschaft auf, diese Gräueltaten als eine Form des Völkermords anzuerkennen. Im Jahr 2014 wurden beispielsweise im Bezirk Khuzdar Massengräber gefunden.

Frauen wie Mahrang sind sich bewusst, dass sie nicht allein leiden. Auf der Internationalen Konferenz für unterdrückte Völker in Islamabad erhob sie ihre Stimme nicht nur gegen den  „Völkermord an den Belutsch:innen“, sondern auch gegen die Herausforderungen, mit denen Hazara, Sindhi, Muhajir, Paschtun:innen, Schiit:innen, Hindi, Christ:innen und andere unterdrückte Nationalitäten, aber auch religiöse Minderheiten in Pakistan zu kämpfen haben.

Das anhaltende Massaker an den Palästinenser:innen und die darauffolgende internationale Solidaritätsbewegung haben auch dazu geführt, dass es zumindest in einigen Staaten schwerer wird, die eigenen Gräueltaten zu vertuschen.

Es wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, die Ignoranz vieler Pakistaner:innen gegenüber dem Leiden der Belutsch:innen zu brechen. Das scheint jedenfalls ein Stück weit gelungen zu sein, was sich daran zeigt, dass die Mainstreammedien über den von Frauen geführten BLM berichtet haben wie nie zuvor.

Wir sehen, dass die Lehren, die die Bewegung der Belutsch:innen gegen die nationale Unterdrückung aus ihren Erfahrungen mit verschiedenen politischen Strömungen gezogen hat, ihnen mehr und mehr bewusst gemacht haben, dass ihre Befreiung mit der anderer unterdrückter Nationen zusammenhängt, einschließlich derer, die unter der indischen Besatzung in Dschammu und Kaschmir unter ähnlicher Unterdrückung leiden.

Wir solidarisieren uns klar mit dem Volk von Belutschistan in seinem Kampf gegen die nationale Unterdrückung. Das Volk der Belutsch:innen hat ebenso wie die Palästinenser:innen und die Kaschmiris das Recht auf Selbstbestimmung. Wir stehen an ihrer Seite, so wie wir an der Seite der Palästinenser:innen, der Kurd:innen, der Iraner:innen, der Afghan:innen, der Armenier:innen, der Kaschmiris, der Dalits und der Rom:nja und Sinti:zze stehen. Wir rufen die Arbeiter:innen und Unterdrückten der Welt auf, sich die Sache der Belutsch:innen zu eigen zu machen. Schließlich ist niemand von uns frei, solange wir nicht alle frei sind.

Letztendlich besteht die Bedeutung des BLM und der oft von Frauen geführten neu entstehenden Massenbewegung auch darin, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung selbst einer politischen und strategischen Neuausrichtung bedarf. Historisch ist er stark vom Gueriallismus und von einer Etappentheorie der Befreiung geprägt, derzufolge das strategische Ziel des Kampfes die Errichtung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse – entweder in Form eines eigenen Staates oder von mehr demokratischen Rechten für die Provinz im Rahmen des pakistanischen Staates – sein solle. In beiden Fällen wären jedoch die kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse davon nicht berührt.

Genau darin liegt eine entscheidende Schwäche der bisherigen Bewegung. In Wirklichkeit ist die Unterdrückung der Belutsch:innen eng mit Kapitalismus und Imperialismus verbunden. Belutschistan ist reich an Rohstoffen, die von der pakistanischen und imperialistischen Bourgeoisie ausgebeutet werden. Es hat eine wichtige geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung für die „Neue Seidenstraße“ Chinas (CPEC). Dies sind nur einige Beispiele dafür. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, eine Perspektive zu weisen, wie der Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem gegen die Ausbeutung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verbunden werden kann – in Belutschistan und ganz Pakistan. Nur eine Einheitsfront aller Organisationen unterdrückter Ethnien und Arbeiter:innen kann den pakistanischen Staat effektiv unter Druck setzen und ihn zwingen, das Morden zu stoppen. Die Nation der Belutsch:innen muss mithilfe demokratischer Rechte in der Lage sein, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden. Die führende Rolle von Frauen bei der Organisierung, Durchführung und öffentlichen Vertretung des BLM verweist darüber hinaus darauf, dass diese nicht nur eine führenden Rolle im Kampf für nationale Befreiung und sozialistische Umwälzung, sondern auch für den Kampf gegen das Patriarchat spielen können und werden.




Forderung nach Zwangsexmatrikulationen an Berliner Unis: Warum gerade jetzt?

Oda Lux, Infomail 1246, 4. März 2024

2021 wurde Zwangsexmatrikulation als Maßnahme aus dem Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) gestrichen. Zuvor wurde sie kaum noch angewandt. Doch als Reaktion auf den Angriff auf einen jüdischen Studenten der FU Berlin in einer Bar in Berlin Mitte gibt es Bestrebungen des Berliner Senats, diese Klausel wiedereinzuführen – und das im Eilverfahren. Als kritische Begleiter:innen der Politik und Geschehnisse der letzten Jahre müssen wir uns fragen: Warum gerade jetzt?

Die letzten zehn Jahre können wir eine Zunahme antisemitischer Angriff, in erster Linie von rechts, aber auch Islamist:innen beobachten. Warum? Weil diese Ideologien auf dem Vormarsch sind und an Fahrwasser gewonnen haben. Natürlich macht dieses Klima nicht vor Universitäten halt.

Der Attentäter von Wien, der im Jahr 2020 4 Menschen erschoss und wahrscheinlich ein Sympathisant des sog. Islamischen Staates war, war Student.

Burschenschaften mit Verbindungen zur Jungen Alternativen für Deutschland und der Identitären Bewegung, die als rechtsextrem eingestuft wurden, wandeln mehr oder weniger weniger sichtbar auf Campus im gesamten Land umher. Und dass, obwohl alle eine konservativ, rechtsnational bis rechtsextremistische Ideologie verfolgen, in Teilen Ausländer nicht aufnehmen und Frauen keinen Platz bei ihnen haben. Sucht man bei ihnen nach Verbindungen zu Gewalttaten, wird man ebenfalls schnell fündig.

Das sind nur zwei Beispiele. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, daraus den Schluss zu ziehen, dass man die Repression an Universitäten, und dann auch noch nur für Studierende, insgesamt erhöhen müsste. Diskriminierende Fälle, nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische, haben in den letzten Monaten stark zugenommen. Werden diese künftig auch mehr beachtet?

Die bürgerliche Justiz vs. die „Gerechtigkeit des Mobs“

Der Ruf nach Zwangsexmatrikulationen wirft viele Fragen auf: Für welche Taten sollen diese Mittel gelten: nur für Antisemitismus oder auch andere Hassverbrechen wie Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Hass auf Frauen? Geht es nur um aktuelle oder auch vergangene Taten in Berlin, Deutschland und darüber hinaus? Ist das ein Aufruf zur gegenseitigen Bespitzelung? Muss der oder die Angreifer:in handgreiflich geworden sein und wer richtet über diese Fälle: etwa die Universitäten selbst?

Die, vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus naheliegendste Antwort wäre: Gerichte müssen entscheiden. Doch das wollen jene, die laut nach raschen, drakonischen Verurteilungen rufen, offenkundig nicht. Die Debatten um den antisemitischen Angriff und die Novellierung des BerlHG haben gezeigt, dass nicht einmal jetzt, wo Zwangsexmatrikulationen illegal sind, gewartet wurde, bis bspw. überhaupt die Umstände geklärt waren, geschweige denn ein Gericht über Schuld und Unschuld gerichtet hätte. Bereits hier muss man hellhörig werden. In Zeiten von Fake News und einer, auch ohne den Krieg gegen Gaza, angespannten politischen Lage sind falsche Vorwürfe an der Tagesordnung. Der populistische Mob hatte unlängst gerichtet. Doch am Ende nützt ein solches Vorgehen nicht den Betroffenen, sondern in erster Linie rechten und populistischen Kräften. Und es stärkt die autoritären Tendenzen zur Aushebelung bürgerlich demokratischer Rechte.

Zurück zu den Zwangsexmatrikulationen: Folgt man dennoch dieser Vorgehensweise, würde man in erster Linie Zwangsexmatrikulationen bei Vorfällen auf den Weg bringen können, die zur Anzeige oder gar Verurteilung kamen. Doch Betroffene, die tagtäglich mit Hass konfrontiert werden, bringen Taten viel seltener zur Anzeige, als man denkt. Denn Übergriffe und Beleidigungen geschehen zu oft und sich zusätzlich noch Befragungen oder Gerichtsverhandlungen auszusetzen, frisst noch zusätzlich emotionale Kapazitäten. In vielen Fällen wird ihnen nicht geglaubt oder es kommt noch zusätzlich zu Polizeigewalt. Noch schwieriger ist es bei Hass und sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen und Queers. Für viele ist es schwierig, auch noch nach Monaten und Jahren überhaupt darüber zu sprechen. Wie realistisch ist es daher, dass gerade im Universitätskontext, wenn auch vor Gericht die Beweislast bei den Betroffenen liegt und die meisten Taten nur schwer zu beweisen sind, Menschen sich dieser Tortur aussetzen? Und vor allem für welches Ergebnis? Weder einen Rechtsbeistand noch einen Therapieplatz bekommt man im Gegenzug.

Zusätzlich bleiben Gerichte ein Mittel des bürgerlichen Staates und seiner Verteidigung. Spätestens wenn man versucht, Polizist:innen für rassistische Polizeigewalt zu verurteilen, sollte das auch noch dem/r letzten reformistischen Linken klar werden. Betroffene „gewinnen“ dabei also erstmal nichts und werden im schlimmsten Fall noch durch Unglauben gestraft.

Betroffene schützen, aber wie?

Die FU Berlin hat dem vermeintlichen Täter ein Hausverbot erteilt. Sicherlich gibt es Kontexte, in denen das ein sinnvolles Mittel ist, um Menschen von Veranstaltungen auszuschließen. Bedenkt man allerdings die Größe der meisten Universitäten, ist es einfach nur unrealistisch, dass Menschen tatsächlich so am Betreten von Gebäude gehindert werden können. Dieses Problem in der Umsetzung darf nicht zu einem Einfallstor für Sicherheitsdienste an Unis genutzt werden. An manchen Fakultäten gibt es sie bereits. Auch die FU hat einen beauftragt. Studierende haben hier berichtet, dass dieser u. a. rassistisch und obdachlosenfeindlich aufgetreten ist. Wenn solche Strukturen zum „Kampf gegen Diskriminierung“ eingesetzt werden, dann ist es daher viel wahrscheinlicher, dass der gegenteilige Effekt einsetzt und noch mehr „bedauerliche“ Einzelfälle produziert werden.

Die Handlungsmacht muss zurück in unsere Hände, die der Studierenden und Beschäftigten!

Unsere Devise heißt: Organisiert euch! Wir brauchen Strukturen, die einschreiten. Nicht nur für die politische Arbeit an der Uni als Lern- und Arbeitsort ist das wichtig. In diesem Rahmen können auch Schutzkonzepte erarbeitet werden – eine Form der Bildungsarbeit, die derzeit nicht geleistet wird. Allein der Ausschluss von Menschen entzieht Hass und Menschenfeindlichkeit nicht die Grundlage. Es braucht daher ein Umdenken. Des Weiteren suggeriert es Betroffenen, dass, wenn sie bestimmte Orte nicht bzw. diese von anderen nicht betreten werden dürfen, sie sicher vor Diskriminierung wären. Das ist weit von der Realität entfernt.

Warum darf man den Kampf gegen Antisemitismus nicht getrennt sehen?

Bei der Wiedereinführung von Zwangsexmatrikulationen geht es um viel mehr als einen antisemitischen Vorfall. Und auch bei denen, die immer wieder darauf rekurrieren, kann man sich die Frage stellen, inwiefern es je primär um Antisemitismus ging. Dieser ist tief in der Gesellschaft verankert. Das kann man nicht leugnen, ist allerdings nicht erst seit einer steigenden Anzahl Muslim:innen in Europa zu verzeichnen. Er war nie weg. Doch wo waren alle diese neuen Kämpfer:innen gegen Antisemitismus nach dem Anschlag in Halle? Was haben sie gegen den Anstieg der Vorfälle getan? Haben sie ihre Stimme erhoben? Haben sie sich organisiert? Demonstriert?

Erst mit dem Angriff der Hamas wurde dieser Kampf, den es ohne Frage zu gewinnen gilt, sodass Menschen ohne Angst in die Synagoge gehen oder sagen können, dass sie jüdisch sind, wieder populär. Und das ist nichts anderes als Heuchelei. Unter dem Label der Antisemitismusbekämpfung ist es derzeit einfach, Menschen zu diskreditieren, migrantischen Protest zu kriminalisieren oder Kritiker:innen, nicht nur im Kontext des Krieges in Gaza, zum Schweigen zu bringen. Es sind dieselben, die Bildungsarbeit zu Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus diskreditieren (hierzu empfehlen wir, die Anfragen im Abgeordnetenhaus von Berlin von FDP, CDU oder AfD zu studieren) oder gar Gelder dafür einstampfen wollen. Allein das zeigt, dass es sich um ein vorgeschobenes Argument handelt.

Viel wichtiger ist es allerdings, dass wir uns nicht nur der Heuchelei, sondern der materiellen Grundlage bewusst sind. Das bedeutet auch, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht losgelöst gesehen werden kann von dem gegen Rassismus oder Imperialismus. Klar hat es Diskriminierungsformen auch ohne Kapitalismus bereits gegeben. Dennoch ist der moderne Antisemitismus nicht deckungsgleich mit einem mittelalterlichen Antijudaismus. Rechte Hetze und faschistische Bewegungen spielen mit Abstiegs- und Existenzängsten. Die reaktionäre faschistische Bewegung nutzt Antisemitismus bewusst, um Klassengrenzen vermeintlich wegzuwischen. Ein vermeintliches deutsches, französischse usw. Volk wird einem Feind gegenübergestellt, den es zu bekämpfen gilt. In Europa und besonders in Deutschland, nicht zuletzt durch die NS-Zeit, führte das zur massenhaften Vernichtung von Juden und Jüdinnen. Doch als diese Verfolgungsmaschinerie erst einmal eingesetzt hatte, wurde die Gruppe der Verfolgten kontinuierlich größer.

Neuere Umvolkungsideen basieren auf ähnlichen Grundlagen, auch wenn sie sich vor allem auf Muslim:innen fokussieren. Allein diese Parallelen zeigen auf, dass wir nicht auf eine rassistische Front gegen Antisemitismus hereinfallen dürfen. Beide Ideologien haben dieselbe Grundlage. Ebenso wird auch in beiden Fällen vor allem das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum angesprochen. Schaut man sich die derzeitigen Proteste an, bestätigt sich diese These: Vorher nie was gegen Diskriminierung jeglicher Art gemacht, aber auf die Feindeserzählungen hereingefallen. Ja, nie wieder ist jetzt! Für uns bedeutet das, den Kern dieser Ideologien zu bekämpfen und eine politische Alternative dazustellen. Dabei stützen wir uns nicht auf die all zu schnell verführbaren Kleinbürger:innen.

Der Kampf gegen Repression ist jetzt!

Ein Ausschluss entzieht der ausgeschlossenen Person nicht nur ihr Recht auf Bildung und auf Verteidigung gegen den Vorwurf. Noch viel schlimmer ist, dass es überhaupt keinen Ansatz gibt, um nachhaltig Diskriminierung entgegenzuwirken. Nicht mal die Symptombekämpfung durch Bildungsarbeit spielt eine Rolle. Doch Rassismus und auch Antisemitismus sind nicht „eingeimpft“, sie sind Merkmale des kapitalistischen Systems. Gerade in Zeiten der Krise basiert der Kapitalismus darauf, sich nach und nach gewisser Gruppen zu entledigen. Wer vorher in den prekärsten Jobs schuften musste, wird durch die nächste Gruppe ersetzt, um letztlich doch wieder Profite zu erzielen. So ist es nicht verwunderlich, dass in Zeiten des Rechtsrucks nicht nur Antisemitismus oder Rassismus ansteigen, sondern auch der Hass auf Frauen.

Bei der Frage, ob Zwangsxmatrikulationen wieder eingeführt werden sollten, geht es eben nicht nur um einen vermeintlich antisemitischen Übergriff. Hier werden Weichen gestellt. Diese Debatte ist einerseits der Höhepunkt einer Repressionswelle und gleichzeitig der Anfang für ein neues Stadium der Kriminalisierung. Besonders Muslim:innen werden derzeit zu Sündenböcken gemacht, obwohl der Großteil antisemitischer Taten weiterhin von rechts kommt. Doch das will niemand aus dem „demokratischen“ Mainstream hören. Denn auch die Rhetorik in den Parlamenten besteht von Misstrauen bis zu offenen Deportationsplänen über Parteigrenzen hinweg gegen Ausländer:innen, Migrant:innen und Geflüchtete. Als Revolutionär:innen ist uns klar, dass die erste Phase der Repression vor allem Migrant:innen zum Ziel haben, es aber darüber hinaus auch insbesondere linke Gruppen treffen wird. Dieser Repressionsapparat darf gar nicht erst in Gang gesetzt werden. Wir müssen uns jetzt dagegen organisieren!

Unsere Staatsräson heißt: Sozialismus!

Wir sind Internationalist:innen. Natürlich sind uns Religion oder Herkunft einer Person egal, denn unsere Klasse kennt weder Ausländer:innen noch rassistische Trennung.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich halten wir von Sozialismus und Befreiung nur in einem Land nichts.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich interessiert uns die politische Situation und die Ausbeutung der Massen in einem Land nicht erst, wenn es in der deutschen Tagesschau Thema wird.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich ist unser Ziel eine weltweite Revolution der Arbeiter:innenklasse.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich sind wir uns der Diskriminierung auch innerhalb unserer eigenen Bewegung bewusst. Deswegen stehen wir nicht nur bei äußerer Bedrohung Seite an Seite, sondern geben unseren Mitgliedern Caucusse als Supportstrukturen.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich beginnt unser Kampf gegen Imperialismus im eigenen Land.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich müssen wir jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Unser Kampf dagegen steht jedoch nicht im Widerspruch zu unsere Palästinasolidarität. Für uns ist weder das eine noch das andere ein plötzliches Event. Unser Kampf gegen Diskriminierung, Ausbeutung und Imperialismus steht auf einer Klassenbasis, einer Analyse der materiellen Grundlage. Genau deswegen gehören der Kampf gegen antisemitische Parolen in- und außerhalb der eigenen Strukturen und der für ein freies Palästina zusammen.

Der Kampf in der Bewegung für ein revolutionäres und internationalistisches Programm und seine Anleitung durch es sind wichtiger denn je. Die derzeitige Dynamik zeigt uns, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt, wenn die AfD in Deutschland Erfolge erzielt, Antisemitismus und Rassismus seit Jahren zunehmen, Netanjahu in Israel den Krieg nicht nur gegen die Palästinenser:innen nutzt, sondern auch gegen die Opposition und jemand wie Erdogan als Bollwerk gegen Genozid eintritt, während er selbst Kurdistan bombardiert. Unsere Antwort auf die Krise heißt daher: Sozialismus jetzt!

Mehr zu unserer Position zu Palästina




AfD bekämpfen – aber wie?

Stefan Katzer, Infomail 1246, 23. Februar 2024

Seit Wochen gehen Menschen in ganz Deutschland auf die Straße, um gegen die AfD zu demonstrieren. Hunderttausende beteiligten sich an Kundgebungen in den großen Städten und auch in mittelgroßen und kleineren kam es zu Protesten. Die Teilnehmer:innen zeigen sich vielfach empört über die Deportationspläne, die auf einem Treffen zwischen Mitgliedern der AfD, der Werteunion und Vertreter:innen rechtsextremer Gruppierungen diskutiert und durch eine Recherche Anfang Januar bekanntwurden. Diese Pläne machen deutlich, was die AfD vorhat, sollte sie an die Regierung kommen. Sie stellt ohne jeden Zweifel eine reale Bedrohung dar, insbesondere für rassistisch unterdrückte Menschen. Sollte man sie deshalb verbieten? Diese Frage wird seitdem vermehrt diskutiert.

Bürgerlich-demokratische Heuchelei

Zunächst ist es jedoch wichtig festzuhalten, dass sich die Lage rassistisch unterdrückter Menschen bereits unter der regierenden Ampel-Koalition dramatisch verschlechtert hat. Während die AfD aufgrund ihrer Rolle als Oppositionspartei bisher nur davon träumen kann, Menschen massenweise abzuschieben, hat die Bundesregierung bereits vor einigen Wochen eine Abschiebeoffensive angekündigt. In diesem Zusammenhang hat sie das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz verabschiedet und die Repression gegenüber Geflüchteten massiv verschärft. Der Entscheidung vorausgegangen war eine monatelange Debatte, in der sowohl die regierenden Ampel-Parteien als auch die oppositionelle CDU/CSU das „Problem“ der „illegalen“ Migration immer weiter aufbauschten und der AfD damit in die Karten spielten. Sowohl die Ampel-Parteien wie auch die oppositionelle Union haben dadurch dem Rechtsruck und weiteren Aufstieg der AfD den Boden bereitet.

Nun aber, da die AfD in einigen ostdeutschen Bundesländern laut Umfragen stärkste Kraft zu werden droht, reihen sich diese Heuchler:innen in die Anti-AfD-Proteste ein und versuchen zugleich, sie für ihre eigenen Zwecke zu vereinnahmen. Dementsprechend handelt es sich bei der Bewegung, die in den letzten Wochen auf der Straße war, um ein breites, klassenübergreifendes Bündnis, das von sehr unterschiedlichen politischen Kräften und gesellschaftlichen Schichten getragen wird. Die Frage, die dabei im Raum steht, ist die, wie die AfD wirksam bekämpft werden kann.

Verbieten oder bekämpfen?

Ein Vorschlag, der in letzter Zeit vermehrt diskutiert wird, ist der nach einem Verbot der Partei. Eine Online-Petition, die ein solches Verbot fordert, konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt bereits hunderttausende Unterschriften sammeln. Die Befürworter:innen des Verbots beziehen sich dabei auf Artikel 21 des Grundgesetzes, wonach Parteien, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen, verfassungswidrig sind und daher verboten werden können.

Auch in linken Kreisen wird dieser Vorschlag vermehrt diskutiert. In der Zeitschrift „Analyse und Kritik“ argumentieren die Autor:innen des Artikels „Verboten faschistisch“, dass die Linke den Verbotsvorschlag aufgreifen und mit ihren eigenen Argumenten unterfüttern solle. Sie plädieren dafür, die Verbotsforderung gegenüber der AfD mit deren konkreter Politik zu begründen und nicht mit dem Hinweis darauf, dass diese „extremistisch“ sei. Dies ermögliche es der Linken, die Verbotsforderung gegenüber der AfD mit einer Kritik an anderen bürgerlichen Parteien und deren migrationsfeindlicher Politik zu verbinden und sich selbst aus der Schussbahn zu nehmen.

Es ist dabei keineswegs so, dass die Autor:innen das Verbot als Allheilmittel gegen Rechtsruck und Faschismus betrachten. Vielmehr begreifen sie es als eine Art Notwehrmaßnahme, um bestehende Handlungsspielräume für die eigene, linke Politik zu sichern. Laut den Autor:innen sei das Verbot der AfD derzeit „der einzige Vorschlag mit Hand und Fuß“ und daher unterstützenswert. Dem Einwand, dass sich eine solche Verbotsforderung auch gegen linke Organisationen richten könnte, messen sie gegenüber den Vorteilen eines Verbots weniger Gewicht bei.

Zwar sind auch die Autor:innen überzeugt, dass durch ein Verbot der AfD die rassistischen Einstellungen ihrer Anhänger:innen und Wähler:innen nicht einfach verschwinden würden, doch würde es „die politische Schlagkraft dieser Einstellungen durch parteipolitische Formierung, Sammlung und Finanzierung, einschränken.“

Von Böcken und Gärtnern: der bürgerliche Staat als antifaschistisches Bollwerk?

Allein: Bis zu einer Entscheidung über ein Verbot könnten Jahre vergehen. Es ist also keineswegs so, dass es, sollte es tatsächlich dazu kommen, kurzfristig den Aufstieg der Rechten stoppen könnte. Ein solches Verbot kann zudem nur vom Bundestag, dem Bundesrat oder der Bundesregierung beantragt werden. Die Entscheidungsbefugnis liegt dann beim Bundesverfassungsgericht. Der bürgerliche Staat wäre in dieser Strategie also der entscheidende Akteur, während die Bewegung gegen die AfD sich selbst in eine passive Rolle fügen würde. Der Kampf gegen Rechtsruck und Faschismus würde dadurch an eine bürgerliche Institution delegiert, welche die gesellschaftlichen Bedingungen, die dem Aufstieg der Rechten zugrunde liegen, im Zweifelsfall mit Gewalt verteidigt.

Was eine solche Strategie zudem in Bezug auf die Dynamik der Bewegung bedeuten könnte, kann man am Beispiel des Volksentscheids in Berlin zur Frage der Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. beobachten. Dort wurde die Bewegung für die Enteignung großer Immobilienkonzerne, die zwischenzeitlich massive Proteste organisierte, letztlich durch den Senat ausgebremst, der eine Entscheidung immer weiter hinauszögerte und der Bewegung damit den Wind aus den Segeln nahm. Zur Enteignung kam es dann trotz erfolgreichen Volksentscheids letztlich nicht – und die Bewegung erlahmte, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.

In Bezug auf das AfD-Verbot ergäben sich ähnliche Probleme. So ist es keinesfalls sicher, dass die AfD tatsächlich verboten würde, sollte es zu einem Verfahren gegen sie kommen. Zwar gibt es mit dem „Flügel“ um Björn Höcke eine einflussreiche Strömung innerhalb der Partei, die Verbindungen zu faschistischen Gruppierungen unterhält und auch vom sog. „Verfassungsschutz“ als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird. Doch ist die Partei als Ganze keineswegs faschistisch, wodurch ihr Verbot eher unwahrscheinlich erscheint.

Neben den geringen Erfolgsaussichten eines solchen Verbotsverfahrens und der Tatsache, dass sich Verbotsforderungen immer auch gegen linke Organisationen richten könnten, spricht vor allem dagegen, dass mit einem Verbot der Partei keineswegs die gesellschaftlichen Ursachen beseitigt würden, die den Aufstieg der AfD begünstigten. Ein erneuter Aufstieg der Rechten nach einem Verbot der Partei wäre wahrscheinlich, zumal die Krisen, die der Kapitalismus produziert, sich immer weiter zuspitzen. Dessen scheinen sich auch die Autor:innen des Artikels bewusst zu sein, wenn sie schreiben, dass ein Verbot der AfD der Linken lediglich eine Atempause verschaffen würde.

Über Ursachen und Strategien

Doch die entscheidende Frage, die sich daraus ergibt, stellen die Autor:innen erst gar nicht. Es ist die nach der strategischen Perspektive im Kampf gegen die AfD. Sie gilt es, zu diskutieren und praktisch zu beantworten. Hierfür muss man zuallererst die Ursachen ergründen, die den Aufstieg der AfD begünstigten.

Der Aufstieg der AfD und anderer rechter Kräfte steht in engem Zusammenhang mit der Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ja ist selbst Ausdruck dieser krisenhaften Entwicklung. Fallende Profitraten und die Überakkumulationskrise des Kapitals führen zu einer Verschärfung der Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalen wie zwischen den nationalen Gesamtkapitalen, die ihre Rivalität auf internationaler Bühne vermehrt mit kriegerischen Mitteln austragen. Die Verschärfung der Konkurrenz und der neu entbrannte Kampf um die Neuaufteilung der Welt aber bilden den Nährboden für Rassismus, Militarismus, Populismus, Autoritarismus und faschistische Tendenzen.

Die Rechten verleihen dabei dem Unbehagen kleinbürgerlicher Schichten, die durch die verstärkte Konkurrenz zunehmend an die Wand gedrückt werden, einen politischen Ausdruck, stehen aber auch insgesamt für eine andere Strategie von Teilen der Bourgeoisie, die weniger exportorientiert sind und stärker auf Protektionismus setzen. Angesichts des Fehlens einer revolutionären Alternative wirkt die Demagogie der Rechten zugleich anziehend auf Teile der Arbeiter:innenklasse, die aufgrund von Krise und Inflation ebenfalls immer stärker unter Druck gerät.

Begreift man den Aufstieg der Rechten aber als ein Krisenphänomen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wird klar, dass der Kampf dagegen in eine Gesamtstrategie zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus eingebettet werden muss. Die Linke darf somit den Kampf gegen Rechtsruck und Faschismus nicht isoliert betrachten und danach ausrichten, was unmittelbar als machbar erscheint, sondern muss ihn als integralen Bestandteil des internationalen Klassenkampfes begreifen und ihn mit den Kämpfen gegen Aufrüstung, Krieg und Sozialabbau verbinden.

Es greift hingegen zu kurz, im Kampf gegen die AfD zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie aufzurufen und die „Einheit aller Demokrat:innen“ zu beschwören. Zwar ist es richtig, demokratische Rechte zu verteidigen, doch darf eine Bewegung gegen den Rechtsruck vor einer Kritik an der bürgerlichen Demokratie nicht zurückschrecken. Das führt nur dazu, dass sich die AfD auch weiterhin als einzige Opposition zu den „Systemparteien“ positionieren kann.

Staat, Rechte, Klassenkampf

Verbot und Einheit der Demokrat:innen erlauben es der AfD und anderen, offen faschistischen Gruppierungen nicht nur, sich als Pseudoopposition darzustellen. Sie bilden zugleich auch eine politische Reserve für die herrschende Klasse, sollten neben der staatlichen Repression auch andere Mittel notwendig werden, um gegen Streiks und andere Widerstandsformen der Arbeiter:innenklasse vorzugehen. Daher wird jedes Verbot logischerweise immer inkonsequent bleiben müssen – und die „Vernetzung“ von extremer Rechter, AfD und (ehemaligen) Teilen der Union, wie sie bei den Enthüllungen von Korrektiv auch deutlich wurde, zeigt, dass Querverbindungen von Staat (inklusive Repressionsorganen), faschistischen und rechtsradikalen Kräften sowie „Wertkonservativen“ längst schon bestehen. Die krisenhafte Entwicklung der Gesellschaft wird dies weiter befördern.

Zweitens würde ein Verbot der AfD und anderer Rechter unwillkürlich nicht nur Illusionen in die Rolle des bürgerlichen Staates stärken, es würde vor allem auch dessen Machtmittel vergrößern. Dies ließe sich nur vermeiden, wenn das Verbot nicht durch wachsende Befugnisse von Polizei, Geheimdiensten und anderen Behörden sowie durch den Ausbau des Personals unterfüttert würde. In diesem Fall würde es nur auf dem Papier bestehen, wäre faktisch eine Fiktion. Würde es wirklich umgesetzt, so würde es zu einer Stärkung des repressiven Staatsapparates führen müssen, dessen Mittel „natürlich“ auch gegen alle anderen „Gefährder:innen“ „der Demokratie“ verwendet werden würden. Es würde also unwillkürlich die Tendenz zum Autoritarismus, zur Einschränkung demokratischer Rechte, deren Ursache selbst in der Krise und imperialistischen Konkurrenz liegt, zusätzlich stärken und legitimieren.

Drittens versetzt es die Arbeiter:innenklasse und die rassistisch Unterdrückten in eine passive, rein abwartende Rolle, die durch die scheinbare und fiktive Einheit von Arbeiter:innenklasse und „demokratischer“ Bourgeoisie auch ideologisch untermauert wird. Die Verbotslosung (wie ein umgesetztes Verbot) stärkt letztlich das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates, also der herrschenden Klasse, auch wenn es sich auf den ersten Blick ausnahmsweise auch gegen rechts zu richten scheint.

In Wirklichkeit entwaffnet es die Arbeiter:innenklasse politisch-ideologisch und materiell bzw. verfestigt die bestehende ideelle Entwaffnung, indem die Gewerkschaften, linke Parteien und auch Teil der „radikalen“ Linken politisch hinter bürgerlichen Kräften hertraben (auch wenn diese bei den Demonstrant:innen nur eine Minderheit sind). In Wirklichkeit müssen Revolutionär:innen und alle klassenkämpferischen und internationalistischen Kräfte daran arbeiten, die klassenübergreifenden „Einheit der Demokrat:innen“ aufzubrechen. In der Verbotslosung bündelt sich gewissermaßen diese Einheit zu einem zentralen Ziel. Wenn die AfD und rechte Organisationen auch legal verboten werden können, wozu braucht es dann noch Selbstverteidigungsorgane der Unterdrückten und der Arbeiter:innenklasse? Wozu müssen faschistische Aufmärsche und Organisationen militant bekämpft werden, wenn der Staat sie ohnedies verbietet?

Arbeiter:inneneinheitsfront statt „Einheit der Demokrat:innen“

Statt die Einheit mit den selbsternannten „Demokrat:innen“ zu suchen, muss die radikale Linke für die Einheit der Arbeiter:innenklasse kämpfen. Hierzu muss sie Druck auf die reformistischen Organisationen ausüben und sich darum bemühen, die Gewerkschaft in den Kampf hineinzuziehen. Innerhalb dieser Bewegung muss die radikale Linke für Forderungen kämpfen, die auf die Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse zielen, AfD, Nazis und staatlichen Rassismus bekämpfen! Zugleich muss sie in der Bewegung dafür argumentieren, dass dieser Kampf mit dem zur Überwindung des Kapitalismus und für die Errichtung der revolutionären Rätemacht des Proletariats verbunden werden muss.

So sollte die Linke innerhalb dieser Bewegung für den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees eintreten, die von Migrant:innen, Flüchtlingen, Linken und Gewerkschaften getragen werden, anstatt sich an den bürgerlichen Staat zu wenden. Diese Selbstverteidigungsorgane sind mögliche Keimformen von zukünftigen Milizen der Arbeiter:innenklasse, Kampforgane nicht nur gegen die Rechten, sondern auch gegen jede Form der Repression. Ihre Propagierung und Errichtung stellt  eine Brücke zum Kampf um die Rätemacht dar, wenn wir den Faschismus nicht nur bekämpfen, sondern im globalen Maßstab tatsächlich besiegen wollen. Dies kann die Linke nur, wenn sie mit dem imperialistischen Weltsystem zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen für die autoritär-reaktionären Formierungen bekämpft, die derzeit in vielen Teilen der Welt auf dem Vormarsch sind. Kein bürgerlicher Staat der Welt kann uns diese Aufgabe abnehmen.

  • Nein zu allen rassistischen Gesetzen! Stopp aller Abschiebungen! Offene Grenzen und volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die hier leben!

  • Nein zu allen Überwachungsmaßnahmen und zur Kriminalisierung von Migrant:innen und politischen Flüchtlingen!

  • AfD und Nazis organisiert entgegentreten! Gegen rechte Übergriffe und Angriffe: Selbstschutz von Migrant:innen und Gewerkschaften aufbauen!

  • Gemeinsamer Kampf gegen die gesellschaftlichen Wurzeln von Faschismus und Rassismus! Gemeinsamer Kampf gegen Inflation, Niedriglohn, Armut und Wohnungsnot!



Die französische Arbeiter:innenklasse muss sich gegen rassistische Gesetze wehren!

Marco Lassalle, Infomail 1240, 30. Dezember 2023

Am 19. Dezember hat das französische Parlament ein weiteres Einwanderungsgesetz verabschiedet – das 117. Gesetz zu diesem Thema seit 1945! Aber es ist viel schlimmer als alle vorherigen Gesetze. Es wurde von Innenminister Gérald Darmanin vorgeschlagen, von Präsident Emmanuel Macron unterstützt, von den rechten Senator:innen der Partei Les Républicains stark umgeschrieben und schließlich mit den Stimmen des von Marine Le Pen geführten Rassemblement National (RN) angenommen.

Es ist leicht zu verstehen, warum die rassistische und fremdenfeindliche RN für dieses Gesetz gestimmt und einen ideologischen Sieg errungen hat. Es enthält eine Reihe von Maßnahmen, die dazu führen, dass vielen Migrant:innen grundlegende Leistungen und Rechte vorenthalten werden. Es unterstützt das RN-Ziel der „nationalen Präferenz“ (wonach französische Staatsbürger:innen beim Zugang zu staatlichen Sozialleistungen Vorrang vor Ausländer:innen haben sollten) und wird weitgehend dazu beitragen, die reaktionären und falschen Ideen des RN zu verbreiten: dass Migrant:innen nur nach Frankreich kommen, um von Sozialmaßnahmen zu profitieren, sie für den Mangel an Wohnraum und Arbeitsplätzen verantwortlich, kriminell und gefährlich für die nationale Sicherheit sind. Kurz gesagt, es ist eine giftige Mischung aus Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, gespickt mit Lügen und Verleumdungen.

Maßnahmen

Hier einige der Maßnahmen, die das neue Gesetz vorsieht:

  • Staatliche Leistungen wie Wohnungs- oder Familienbeihilfen werden Migrant:innen erst nach einer Verzögerung (bis zu fünf Jahren) gewährt, je nachdem, ob sie arbeiten oder nicht (obwohl die meisten Migrant:innen bei ihrer Ankunft in Frankreich nicht arbeiten dürfen).

  • Das Gesetz sieht die Einführung von Quoten für Migration vor, und die Legalisierung von migrantischen Lohnabhängigen wird vom Wohlwollen des/der Präfekt:in (Vorsteher:in eines Amtsbezirks) abhängen.

  • Das Gesetz ist ein Schlag gegen den Grundsatz des „loi du sol“, das Recht der in Frankreich Geborenen, mit ihrer Volljährigkeit die französische Staatsbürger:innenschaft zu erlangen, und geht auf ein früheres zurück, das von dem erzreaktionären Charles Pasqua unterstützt wurde.

  • Ausländische Universitätsstudent:innen müssen eine „Kaution“ an den Staat zahlen, die erst bei der Ausreise am Ende des Studiums zurückerstattet wird.

  • Bürger:innen mit doppelter Staatsbürger:innenschaft verlieren die französische, wenn sie sich schwerer Straftaten schuldig machen.

Um die Unterstützung des rechten Flügels zu erhalten, musste die Regierung außerdem versprechen, dass Anfang 2024 AME, die staatliche medizinische Hilfe, mit der alle Einwander:innen dringende medizinische Versorgung erhalten können, „reformiert“, d. h. wahrscheinlich stark eingeschränkt oder abgeschafft wird.

Das Gesetz enthält Maßnahmen, die so schockierend reaktionär sind, dass sich die Regierung sogar an den Verfassungsrat wendet, um einige seiner Artikel außer Kraft zu setzen, da sie gegen die Präambel der Verfassung von 1946 verstoßen, die besagt, dass „niemand wegen seiner/ihrer Herkunft benachteiligt werden darf“.

Die Verabschiedung des Gesetzes war selbst in Macrons Lager ein großer Schock, da 59 Abgeordnete der Regierungspartei dagegen stimmten und ein Minister zurücktrat. Die Behauptung Macrons bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen, er sei ein Bollwerk gegen Marine Le Pen und ihre Ideen, hat sich als eine weitere Lüge erwiesen. Allerdings hat die Arbeiter:innenklasse von den „Linken“ innerhalb des Präsidentenlagers wenig zu erwarten, da sie viele andere Angriffe gegen die Arbeiter:innen akzeptiert oder sogar durchgeführt haben.

Der französische Kapitalismus und die Überausbeutung

Seit Jahrhunderten braucht der französische Kapitalismus billige überausgebeutete Arbeitskräfte. Zunächst in Form von Sklav:innen auf den karibischen Inseln, später als indigene Zwangsarbeiter:innen in seinem Kolonialreich und im letzten Jahrhundert als Migrant:innen, in den letzten Jahrzehnten vor allem aus dem Maghreb. Die demokratischen Rechte dieser Arbeiter:innen wurden systematisch negiert und diese Entrechtung erreichte während des algerischen Unabhängigkeitskrieges in den 1950er und 1960er Jahren ein hysterisches Niveau. Die rassistische Ideologie diente als Rechtfertigung für diese Diskriminierung, obwohl auf allen öffentlichen Gebäuden „Egalité“ (Gleichheit) steht. Ein rassistischer Polizei- und Staatsapparat, dessen Personal nach dem Zweiten Weltkrieg vom faschistischen Vichy-Regime übernommen wurde, war für Repressionen und Massaker an Arbeitsmigrant:innen verantwortlich. Die von Jean-Marie Le Pen gegründete Front National baute auf einer rassistischen Ideologie auf und wandte sich massiv an die Anhänger:innen der Front Algérie Française. Aber auch die traditionellen rechten Parteien haben rassistischem Gedankengut geschmeichelt, und das gilt selbst für die linken Parteien.

Die französische Bourgeoisie war schon immer mehr als bereit, migrantische Arbeitskräfte zu beschäftigen und auszubeuten, die meisten von ihnen aus den ehemaligen französischen Kolonien in Afrika, sowohl im Maghreb als auch in Westafrika. Die rassistische Unterdrückung ermöglicht es den Bossen, sie in schlecht bezahlten Jobs zu halten, wobei ihnen oft grundlegende Arbeits- und Gewerkschaftsrechte verweigert werden. Entgegen der Verleumdung, dass Migrant:innen auf der Suche nach staatlichen Beihilfen nach Frankreich strömen, arbeiten die meisten von ihnen lange Jahre im Verborgenen als Sans Papiers (Menschen ohne Ausweisdokumente), insbesondere im Bau- und Dienstleistungssektor. Sie sind weit davon entfernt, von der staatlichen Sozialhilfe zu profitieren, denn sie zahlen zwar die obligatorischen Sozialbeiträge, haben aber keinen Anspruch auf entsprechende Beihilfen. Trotz der rassistischen Hysterie nimmt der Anteil der Migrant:innen an der Bevölkerung des Landes kaum zu: 7,8 % im Jahr 2022, 6,5 % im Jahr 1975. Selbst der Vorsitzende des MEDEF, des wichtigsten Arbeit„geber“verbandes, schätzt den Bedarf der französischen Wirtschaft auf 3,9 Millionen zugewanderte Arbeitskräfte in den kommenden Jahrzehnten aufgrund der niedrigen Geburtenrate ein. Das französische Kapital will eine „kontrollierte“ Zuwanderung und zwingt die Migrant:innen weiterhin in extrem unsichere und übermäßig ausgebeutete Arbeitsverhältnisse.

Die extreme Rechte will noch weiter gehen. Bereits in den 1980er Jahren prägte Jean-Marie Le Pen den Slogan „eine Million Einwander:innen, eine Million Arbeitslose“ und suggerierte damit, dass die Ausweisung der Migrant:innen das Problem der Arbeitslosigkeit lösen würde. Marine Le Pen, die Tochter von Jean-Marie, propagiert das Konzept der „nationalen Präferenz“ und warnt vor der „Unterwanderung“ des französischen Volkes durch eine angebliche Migrationswelle. Ihre Ideen werden durch das neue Gesetz eindeutig legitimiert.

In dieser Hinsicht stellt das Gesetz einen Bruch mit früheren rassistischen Gesetzen dar. Während alle diese Angriffe gegen den Gleichheitsgrundsatz enthielten, stellt die schiere Menge an konzentrierten Schlägen gegen Migrant:innen dieses Gesetz eindeutig auf eine andere, viel gefährlichere Ebene. Es spiegelt die Verbreitung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der französischen Bevölkerung wider: Den Umfragen zufolge wird die Partei von Marine Le Pen bei den kommenden Europawahlen im Juni nächsten Jahres mit rund 28 % (und zusätzlich 6,5 % für ihre faschistische Nichte Marion Maréchal) die stimmenstärkste Partei in Frankreich sein, weit vor Macrons Partei „Renaissance“ mit 20 %.

Präsident Macron reklamiert mit dieser Zustimmung zum Gesetz, einen Sieg errungen zu haben, der zeigt, dass er keine „lahme Ente“ und in der Lage ist, Gesetze zu verabschieden, ohne die undemokratischen Tricks der französischen Verfassung der Fünften Republik anzuwenden. Auch Les Républicains beanspruchen einen Sieg für sich, da sie maßgeblich an der Verabschiedung des Gesetzes beteiligt waren und dessen Inhalt stark beeinflusst haben. Für beide wird sich dieser „Sieg“ bald als Pyrrhussieg erweisen. Rassistische Wähler:innen werden die konsequent rassistische Partei RN anderen Kräften vorziehen, die sie lediglich imitieren, und der ideologische Einfluss der RN-Ideen wird durch diese Maßnahme auf allen Ebenen nur vergrößert.

Arbeiter:innenklasse

Die französische Arbeiter:innenklasse befindet sich in einer schwierigen Situation. Sie ist durch den Sieg Macrons im Kampf um die Renten zu Beginn des Jahres bereits politisch geschwächt. Hinzu kommt, dass der Rassismus auch in der Klasse greift und eine mögliche Spaltung zwischen „französischen“ und migrantischen Arbeiter:innen droht sowie massiv verstärkte Repression gegenüber migrantischen Lohnabhängigen.

Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und La France insoumise lehnten das Gesetz allesamt ab. 32 von der Sozialistischen Partei geführte Departements erklärten, dass sie das Gesetz nicht anwenden werden, ebenso wie die Pariser Bürgermeisterin. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet erklärte: „Die CGT ruft zum zivilen Ungehorsam und zur Vervielfachung der Widerstandsaktionen gegen dieses Gesetz auf, das alle unsere republikanischen Prinzipien untergräbt und der extremen Rechten den Boden bereitet.“ Die CGT wird in den nächsten Wochen „massive Initiativen organisieren, damit diejenigen, die sich mit dem geleugneten Frankreich identifizieren, ihre Entschlossenheit zeigen können, damit die Werte der Solidarität respektiert werden“.

All dies ist richtig, aber man kann durchaus an der Wirksamkeit des Widerstands der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften zweifeln, da es ihnen nicht gelungen ist, die Rentenreform abzuwehren. Es besteht die reale Gefahr, dass die „massiven Initiativen“ der Reformist:innen zahnlose symbolische Aktionen bleiben werden. Die Lohnabhängigen sollten ihre Führungen auffordern, den wirksamsten Widerstand gegen das Gesetz vorzubereiten, und zwar nicht nur auf den bequemen Sitzen des Parlaments, sondern an den Arbeitsplätzen, in den Banlieues und auf den Straßen. Die Arbeiter:innen müssen bereit sein, diesen Widerstand mit den Waffen des Klassenkampfes durchzusetzen, ob die reformistischen Führungen damit einverstanden sind oder nicht. Der zivile Ungehorsam muss von Protesten und Massenstreiks zugunsten einer massiven Legalisierung von Sans Papiers sowie der Abschaffung aller rassistischen Gesetze der letzten Jahre begleitet werden. Migrant:innen, darunter auch Sans Papiers, sind in großem Umfang auf den Baustellen für die kommenden Olympischen Spiele 2024 beschäftigt und werden bei der Organisation dieses Ereignisses an vorderster Front stehen, im Transportwesen, bei der Sicherheit, in Hotels, Restaurants, bei der Reinigung usw. Die Arbeiter:innen müssen bereit sein, alle damit zusammenhängenden Aktivitäten zu blockieren, bis das Gesetz aufgehoben ist, und solche Aktionen müssen von allen Gewerkschaften, Parteien und Organisationen der Arbeiter:innenklasse unterstützt werden. Sie müssen durch organisierte Selbstverteidigung gegen mögliche Repressionen durch den Staat oder rechte bzw. sogar faschistische Kräfte verteidigt werden.

Die einzige Möglichkeit, die Ausbreitung rassistischer Ideen in den Reihen der Arbeiter:innenklasse zu stoppen, besteht darin, ein Aktionsprogramm vorzuschlagen, zu verbreiten und dafür zu kämpfen, das alle rassistischen Gesetze bekämpft und die wirklichen Ursachen für das Anwachsen der RN angeht: niedrige Löhne, Mangel an Arbeitsplätzen, Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. Der durch dieses Gesetz ausgelöste Schock sowie die Wut auf Macron und seine Regierung sollten in eine massive Streikwelle, einschließlich eines Generalstreiks, gegen die rassistische Diskriminierung und Unterdrückung sowie gegen die Regierung und das von ihr verteidigte System gebündelt werden.




Pakistan: Solidarität mit dem langen Marsch der Belutsch:innen!

Shahzad Arshad, Infomail 1240, 26. Dezember 2023

In der Nacht zum 21. Dezember wurden die Teilnehmer:innen des Langen Marsches der Belutsch:innen gegen das Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen in Islamabad von den staatlichen Kräften gnadenlos angegriffen, als sie die Hauptstadt erreichten. Eine große Zahl von Student:innen, darunter Frauen und ältere Menschen, wurde verhaftet. Die Regierung setzte alles daran, die verhafteten Frauen mit Gewalt nach Quetta (Provinzhauptstadt Belutschistans) zu bringen. Die Belutschinnen, die den Marsch angeführt hatten, leisteten trotz aller Gewalt und Drohungen Widerstand. In Belutschistan, aber auch in anderen Gebieten mit Belutsch:innen, begannen Proteste und Sitzstreiks gegen die Gewalt auf dem Langen Marsch, die sich in Radblockaden und Streiks an den Türen entluden.

Im ganzen Land, auch in Belutschistan, fanden in Städten und Distrikten wie Turbat, Panjgur (Pangor), Gwadar, Khuzdar, Mastung, Dalbandin, Quetta, Kohlu, Dera Bugti, Sibi, Rakhni, Barkhan, Logistikzentrum Awaran, Karatschi, Bela, Taunsa, Dera Ghazi Khan, Lahore, Islamabad, Bahawalpur, Multan und vielen anderen Proteste aus Solidarität mit den Angegriffenen statt.

Diese Gewalt in Belutschistan hat die Proteste nicht gebrochen, sondern vielmehr den Geist und den Mut des Kampfes der Bevölkerung gestärkt und die Angst allmählich überwunden. In diesen Gebieten entsteht eine neue politische Realität, die die bestehende so genannte politische Ordnung ins Wanken bringt. In dieser Situation hat das Gericht die Freilassung einiger verhafteter Personen angeordnet. Auch die Regierung hat Verhandlungen aufgenommen, und deshalb wird die Jirga (Versammlung der traditionellen Anführer:innen der Community) auch dazu benutzt, den politischen Kampf zu kontrollieren, der sich in allen Gebieten der Belutsch:innen ausgebreitet hat.

Am Beginn dieses Kampfes stand die brutale Ermordung von Balach Baloch in Turbat unter Gewahrsam der CTD (Counter Terrorism Department = Abteilung zur Terrorismusabwehr). Aber diese Bewegung ist auch das Ergebnis und die Fortsetzung vieler ähnlicher Bewegungen, die in den letzten Jahren immer wieder von belutschischen Student:innen und Frauen in verschiedenen Städten organisiert worden sind. Es wurden auch Solidaritätskomitees gebildet. Dadurch konnte die Angst in der belutschischen Bevölkerung überwunden werden, die der Staat durch schwere Zwangsgewalt, Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen und verstümmelte Leichen erzeugt hatte.

Es wurde eine Untersuchung gegen diejenigen eingeleitet, die der Ermordung von Balach Baloch beschuldigt werden, und anscheinend ist eine der Forderungen des Langen Marsches akzeptiert worden, aber die Hauptforderung des Langen Marsches ist derzeit die Beendigung der staatlichen Politik des gewaltsamen Verschwindenlassens und die Wiederkehr der so Verschwundenen. Dies ist eine legitime Forderung, die die gesamte Bevölkerung unterstützt und für die sie kämpft und die derzeit vom Langen Marsch unter der Schirmherrschaft des Belutsch:innen-Solidaritätskomitees unter der Leitung von Mahrang Baloch und anderen Aktivistinnen vertreten wird.

Die Haltung der staatlichen Institutionen gegenüber dem Langen Marsch hat die Politik des Staates gegenüber der Nation der Belutsch:innen verdeutlicht. Die Struktur des pakistanischen Staates basiert auf internem Kolonialismus, der diesem seine elementaren demokratischen Rechte verweigert hat. Was den Marsch angeht, hat sich der Staat verkalkuliert. Die Behörden wussten nicht, dass dieser eine so große Bewegung unter den Belutsch:innen auslösen würde, die trotz aller Gewalt, Verhaftungen und Einschränkungen nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Mit brutaler Gewalt wurde versucht zu verhindern, dass sich immer mehr Menschen dem Langen Marsch anchließen, bei dem auch belutschische Frauen, Mädchen und ältere Menschen verhaftet wurden.

Darüber hinaus wurden mehr als dreihundert Student:innen verhaftet, von denen bisher nur 167 wieder freigelassen wurden. Darüber hinaus sind mehrere Studierende bei der Niederschlagung des Langen Marsches gewaltsam „verschwunden“. Die Teilnehmer:innen des Langen Marsches protestieren derzeit vor dem Nationalen Presseclub in Islamabad. Sie haben deutlich gemacht, dass sie zu noch entschlosseneren Maßnahmen gezwungen sein werden, wenn die Student:innen nicht freigelassen werden oder noch mehr von ihnen gewaltsam verschwinden.

Der Lange Marsch, der vom Belutsch:innen-Solidaritätskomitee initiiert wurde, kam nach Islamabad in der Hoffnung, dass er den Staat unter dem Druck ihres Kampfes zwingen würde, seine Politik zu ändern und mehr vorgetäuschte Zusammenstöße und gewaltsames Verschwindenlassen zu beenden. Diese sollten gestoppt werden und die Nation der  Belutsch:innen sollte ihre demokratischen Rechte erhalten, damit sie über ihr eigenes Schicksal entscheiden kann. In diesem Sinne sollte der Lange Marsch einen erfolgreichen Kampf für seine Ziele fortsetzen.

Der Lange Marsch wird in großem Umfang von anderen unterdrückten Nationen unterstützt, darunter die PTM (Paschtunische Tahafuz-Bewegung) und andere Organisationen unterdrückter Ethnien. Zum ersten Mal hat der Lange Marsch in begrenztem Umfang Unterstützung im Punjab erhalten, und das Leiden des belutschischen Volkes und sein Schmerz sind spürbar. PTM, das Belutsch:innen-Solidaritätskomitee und die Parteien und Organisationen der Linken haben die Verantwortung, den Kampf der Belutsch:innen nicht nur zu unterstützen, sondern eine Einheitsfront zu bilden und diesen Kampf zur Arbeiter:innenklasse zu tragen. Es gilt, diesen demokratischen Kampf zu verbreiten und den Staat zu zwingen, die Serie des Verschwindenlassens und des Völkermordes zu beenden und dem Volk der Belutsch:innen volle demokratische Rechte zu gewähren.




Bundesverfassungsgericht bremst Haushalt aus – Fiskalkrise droht

Jürgen Roth, Infomail 1238, 1. Dezember 2023

Wegen der Notfallsituation in der Coronapandemie hatte der Bund seinen Etat 2021 per Kreditermächtigung um 60 Mrd. Euro aufgestockt. Da das Geld nicht gebraucht wurde, sorgte die Zustimmung des Bundestags ein Jahr später für die Aufstockung des Klimatransformationsfonds (KTF) um diese Summe. 197 Unionsabgeordnete reichten daraufhin Klage beim Bundesverfassungsgericht ein, weil sie dadurch die Ausnahmeregeln der sog. Schuldenbremse verletzt sahen. Dessen Zweiter Senat gab ihnen am 15. November recht.

Ende aller Schattenhaushalte?

Bis 2027 ist der KTF mit 211,8 Mrd. Euro ausgestattet. Unmittelbar dürfte sich die Lücke von 60 Mrd. nicht auswirken. Aus dem Fonds fließen Subventionen in Elektromobilität, Wasserstoffwirtschaft, Ausbau der Schienenwege, Ansiedlung von Halbleiterchipfabriken, Strompreisbremse und energetische Gebäudesanierung. Unionsfraktionschef Friedrich Merz kündigte aber bereits an, auch die Rechtmäßigkeit des Wirtschaftsstabilisierungsfonds zu prüfen. Allerdings müsste er das dann auch im Fall des 2022 von seiner Fraktion mit verabschiedeten Sondervermögens für die Bundeswehr hinterfragen. Die Staatsräson verbietet es ihm wohl.

Von Einsparungen im kommenden Haushaltsjahr bleibt denn auch lediglich Einzelplan 14 verschont. Im Gegenteil: Der Wehretat wurde um 1,7 Mrd. auf fast 52 Mrd. Euro erhöht, zuzüglich 19,2 Mrd. aus besagtem Sondervermögen, mit dem die Regierung ebenfalls die Schuldenbremse ausgetrickst hatte. Diese Summe von 71 Mrd. Euro ist fast doppelt so hoch wie nach dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation 2015. Im aktualisierten Haushaltsentwurf wurden die Mittel für die Ukraine-Waffenhilfe auf 8 Mrd. Euro verdoppelt. Vor dem Hintergrund, dass die USA – das mit Abstand größte Geberland – ihre Hilfe reduzieren müssen, weil Israel einen enormen Bedarf geltend macht und die Ukraine-Hilfe im eigenen Land immer unpopulärer wird, stockt auch Frankreich seine Unterstützungszahlungen auf, damit die Ukraine nicht weiterhin mehr Granaten verschießt als nachproduziert werden können.

Dass das BVerfG-Urteil „der gesamten Finanz- und Haushaltsplanung der Bundesregierung die Grundlage“ entziehe, gerät somit mehr zum Wunschdenken der Union. Gesine Lötzsch von der Linksfraktion vermutet denn auch, ihr sei es weniger um die Einhaltung der Schuldenbremse gegangen als um eine bessere Begründung für Sozialkürzungen, z. B. beim Bürgergeld.

Merz’ Einlassungen muten auch deshalb heuchlerisch an, weil er zu erwähnen „vergisst“, dass die vier Merkel-Kabinette über zwanzig Mal in die Trickkiste der Schattenhaushalte gegriffen haben.

Unmittelbare Konsequenzen aus dem Urteil

Das BVerfG hatte die Ampelkoalition gleich dreifach gerügt: Erstens habe die Bundesregierung unzureichend argumentiert, was Coronakrise, mit der die Haushaltsnotlage seinerzeit begründet wurde, und Klimaprogramme miteinander zu tun hätten; zweitens könne man Notlagenkredite nicht einfach für andere Zwecke umwidmen; drittens sei der Beschluss zu spät gekommen und es müsse vor Jahresende ein Nachtragshaushalt beschlossen werden.

In erster Konsequenz wurde die finale, sog. Bereinigungssitzung des Bundestagshaushaltsausschusses vom 1. Dezember 2023 um eine Woche verschoben. Da dem „Klimatopf“ vorerst bis 2027 nur weniger als ein Drittel der zugedachten Mittel fehlen, will das Kabinett Prioritäten setzen: 2024 werden wohl Gelder für den Austausch alter Heizungen ebenso zur Verfügung stehen wie für klimafreundlichen Neubau und die Wohneigentumsförderung für Familien. Klimapolitisch wären natürlich die Sanierung des Wohnbestands und der Wegfall des Neubaus von Einfamilienhäusern weit zweckmäßiger, aber darum geht es ja beim ganzen Zirkus nicht, sondern um die Subventionierung größtmöglichen Profits. Darum Neubau, darum technologische Vorherrschaft mittels Wasserstoffstrategie, darum kleinteilige Einzellösungen (Wärmepumpen, Wasserstoffheizung) statt gesamtgesellschaftlichem Plan (z. B. Ausbau von Fernwärme). Ab 2025 könnten dann einige Programme wegfallen oder gekürzt werden.

Weitreichendere Folgen? Vertagt!

Das Gericht prüft aktuell den Umgang mit Sondervermögen. Dem Prinzip der Jährigkeit zufolge dürfen sie nur bis zum Ende des Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden. Allein der Bund hält aktuell 29 (!) Schattenhaushalte im Volumen von mehreren 100 Mrd. Euro. Auch einige der Länder können diese Kriterien nicht einhalten und gelten somit als ebenfalls gefährdet.

Jüngst hat das Bundesfinanzministerium die sog. Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden Jahre gesperrt. Zweifelhaft bleibt, ob unter diesen Umständen die Halbleiterchipfabriken in Dresden und Magdeburg errichtet werden. Es erheben sich bereits mahnende Stimmen, so die von Jens Südekum (Uni Düsseldorf), der die schon vor dem Urteil existierende „Investitionskrise“ angesichts der Alterung der Gesellschaft und der Wirtschaftspolitik der USA, die riesige Investitionen am eigenen Standort fördere (Inflation Reduction Act), ins Blickfeld rückte. Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Lars P. Feld hält für 2023 die Notlage gerechtfertigt. DIW-Expertin Claudia Kemfert bevorzugt einen „Dreiklang“ der Transformation: „Ausgaben in Nicht-Zukunftsbereichen kürzen. Ausgaben des KTF auf den Prüfstand stellen. Schuldenbremse aussetzen.“

Unter dem Eindruck auch dieser Debatten beschloss die Ampel vor Wochenfrist die Vertagung des Haushalts für 2024. Sie will ihn rechtssicher machen, bevor es zur Verabschiedung kommt – möglicherweise nicht mehr im laufenden Jahr. Liegt zu Jahresbeginn keiner vor, wären nur Ausgaben für die Aufrechterhaltung der Verwaltung und die Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen möglich. Lindners Ressort kann in der Praxis jedoch weitere Mittel bewilligen. Kurzfristig sehen viele bürgerliche Ökonom:innen darin kein Problem. Mittelfristig teilen sich aber die Meinungen zwischen Anhänger:innen einer Reform der Schuldenbremse und Verankerung von Sonderfonds und Sparaposteln wie Merz, der zum Verzicht auf Kindergrundsicherung, Heizungsgesetz und höheres Bürgergeld auffordert.

Lindner will den Nachtragshaushalt für 2023 bis Ende nächster Woche vorlegen. Um in diesem Jahr bereits benutzte Kredite rechtlich nachträglich abzusichern, wird die Bundesregierung dem Parlament zügig vorschlagen, eine außergewöhnliche Notlage zu erklären. Darunter fallen ca. 45 Mrd. Euro für die Energiepreisbremse aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (43,2 Mrd.) und Flutopfer aus dem Ahrtal (1,6 Mrd.). Voraussetzung bleibt, dass der Bundestag zum vierten Mal nacheinander die Schuldenbremse aussetzt. Dies wurde in den vergangenen Jahren mit den Auswirkungen der Coronakrise und des Ukrainekrieges auf die deutschen Staatsfinanzen begründet. In diesem Jahr entdeckte das Kabinett die Notlage allerdings erst, als es vom Verfassungsgericht mit der Nase auf seine eigenen Unzulänglichkeiten gestoßen wurde.

Zerrüttete Staatsfinanzen: Was geht uns das an?

Anfang des neuen Jahres werden wir einen fiskalischen Streit erleben, der an US-amerikanische Verhältnisse erinnert. Zur Mehrfachkrise aus Krieg, Rezession, Inflation, Klimawandel und Migrationsabwehr kann sich also eine der Staatsfinanzen hinzugesellen. Dass dies nicht ohne Auswirkung auf den Sozialetat bleiben wird, deutet sich schon an. Ebenfalls wird sich das Gejammer über leere Kassen der Länderhaushalte durch die vom BVerfG ausgelöste Fiskalkrise in der laufenden Tarifrunde für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Bundesländer zum Wutgeheul seitens der Herrschenden steigern. Insofern können klassenbewussten Arbeiter:innen Ursachen und Gegenmaßnahmen der Haushaltsmisere nicht egal bleiben. Sie müssen sich dabei aber von Anfang an vom Grundsatz leiten lassen: Wir zahlen nicht für eure Krise!

Doch wie stehen wir zu grundsätzlichen Vorschlägen aus dem bürgerlichen Lager, was die Schuldenbremse betrifft? Ist sie eine selbstgemachte Schranke fürs Florieren der Wirtschaft? Kann sie mit einem parlamentarischen Akt nichtig gemacht werden? Was bedeutet das weltwirtschaftliche Umfeld des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt für die Staatshaushalte und sonstige Verschuldung? Und wie stehen eigentlich die Spitzen der Gewerkschaften, von SPD und DIE LINKE zur Schuldenbremse?

Im zweiten Teil dieses Artikels wollen wir uns mit diesen Fragen befassen und ein Aktionsprogramm zur Gegenwehr skizzieren.




Der Vizekanzler erklärt die Staatsräson

Martin Suchanek, Infomail 1236, 8. November 2023

Robert Habecks „Rede zu Israel und Antisemitismus“ vom 1. November wurde mittlerweile millionenfach gehört oder gelesen. Regierung und Opposition feiern sie als „Meisterleistung“, als politisches Feuerwerk. Der ehemalige Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt twittert von „moralischer Klarheit, rhetorischer Brillanz und vor allem tief berührender, aufrichtiger Empathie“, die FAZ spricht von der heißersehnten „Kanzlerrede des Vizekanzlers“.

So viel Zuspruch erhielt ein Vertreter der Ampel-Koalition lange nicht. Boulevard- und Qualitätsjournalismus, Regierung und Opposition sind endlich geeint, wenn es um die seit Jahrzehnten zur Staatsräson erklärte „Solidarität mit Israel“ geht. Dabei enthält die Rede Habecks nichts wirklich Neues, stellt aber den Versuch einer Gesamtdarstellung und Begründung der Feststellung „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ dar.

Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus

Am Beginn seiner Ausführungen verweist Habeck darauf, dass die Solidarität mit Israel aus der Verantwortung für die eigene deutsche Geschichte erwachse. Die Verantwortung des deutschen Faschismus und Imperialismus für die Shoa, für den industriellen Massenmord an 6 Millionen Juden und Jüdinnen, zieht er heran, um daraus ein Schutzversprechen für den Staat Israel abzuleiten.

Diese Gleichsetzung des Kampfes gegen Antisemitismus mit der Verteidigung Israels und seiner Politik bildet seit Jahrzehnten den ideologischen Begründungszusammenhang der zur Staatsräson erhobenen Nahostpolitik. Dem entspricht die Gleichsetzung von Antizionismus und Israelkritik mit Antisemitismus. Zwar gesteht Habeck zu, dass Kritik an der Siedlerbewegung in der Westbank und Empathie mit getöteten Palästinenser:innen gerechtfertigt und erlaubt seien – jedoch nur, solange sie nicht an die Ursachen des Leides gehen, nur solange sie die systematische Vertreibung der Palästinenser:innen und den rassistischen Charakter des Staates Israel ausklammern. Schon die Forderung nach einem gemeinsamen binationalen, säkularen Staat, in dem alle das Recht auf Rückkehr haben, in dem Jüd:innen und Palästinenser:innen gleichberechtigt zusammenleben, der also kein Privileg für eine Nation mehr kennt, gilt schon als „antisemitisch“, weil „israelfeindlich“.

Israel habe, so Habeck, ein Recht auf „Selbstverteidigung“ – ein Codewort für Jahrzehnte der Landnahme, Vertreibung, Siedlungspolitik und Militärschläge gegen die Palästinenser:innen in Gaza und der Westbank. Mit diesem „Recht“ steckt der Minister zugleich auch ab, welche Kritik an Israels Luftangriffen und der beginnenden Bodeninvasion erlaubt sei – und welche nicht. Das Einfordern des Kriegsrechts und internationaler Standards gesteht Habeck zu, eine grundsätzliche Kritik am Angriff Israels ginge aber nicht. Schließlich dürfe das Existenzrecht Israels nicht „relativiert“ werden. Folgerichtig wird die Unterstützung Israels im Krieg gegen Gaza zum Lackmustest, ob es jemand mit der Solidarität wirklich erst meint und über die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus zum Prüfstein, ob jemand antisemitisch ist oder nicht.

Verkehrung der Realität

Ganz im Sinne dieser Setzung durchzieht Habecks Rede eine eng damit verknüpfte Schwarz-Weiß-Malerei. So verweist er auf die Angst jüdischer Menschen in Deutschland vor antisemitischen Übergriffen und betont die Notwendigkeit, diesen entgegenzutreten. Zugleich verharmlost er den massiv ansteigenden Rassismus und behauptet: „Während es schnell große Solidaritätswellen gibt, etwa wenn es zu rassistischen Angriffen kommt, ist die Solidarität bei Israel rasch brüchig.“

Von den „Solidaritätswellen“ haben die meisten Opfer rassistischer Angriffe bisher wohl wenig mitbekommen. Im Gegenteil: AfD, Freie Wähler, CDU/CSU, aber natürlich auch FDP, SPD und Grüne werden seit Monaten nicht müde, Flüchtlinge und Migrant:innen rassistisch zu stigmatisieren, immer neue Angriffe auf die Rechte von Migrant:innen und Geflüchteten zu fordern und auf den Weg zu bringen. Das Asylrecht oder, genauer, dessen Restbestände stehen unter Dauerbeschuss. Migration muss „kontrolliert“, also eingeschränkt werden. Dafür werden Tausende Tote im Mittelmeer billigend in Kauf genommen, dafür sollen der EU vorgelagerte „Asylzentren“, also Abschiebelager aufgebaut werden.

In diesen Chor stimmen Habeck und seine vorgebliche Menschenrechtspartei, die Grünen, längst ein. Ganz auf dieser Linie geht es auch in seiner Rede zu. Während er verbal Kritik an Israel noch zulässt, ergeht an jede reale Empörung, die sich auf der Straße zeigt, eine Kampfansage. So heißt es wörtlich: „Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner. Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und in weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort.“

Offenkundig weiß der Minister besser, wer sich an den vielen kriminalisierten wie auch an den schließlich doch erzwungenen, legalen Demonstrationen beteiligt hat, als Zehntausende Menschen, die dort lautstark ihre Solidarität mit Palästina zum Ausdruck gebracht haben. Alle einigermaßen objektiven Beobachter:innen wissen, dass die große Masse diese Aktionen keine „islamistischen Demonstrationen“ waren und sie wissen auch, dass sich diese Manifestationen klar gegen Antisemitismus wandten. Sie wandten sich aber auch gegen den Zionismus, die israelischen Bombardements und solidarisierten sich mit dem Recht der Palästinenser:innen auf Widerstand, auf Selbstverteidigung.

Hier zeigt sich auch der reale Kern der Staatsräson im Nahen Osten. Deutschland steht auf Seite einer Kriegspartei, nämlich des Aggressors, des Unterdrücker:innenstaates Israel, dessen Existenz auf der Vertreibung der Palästinenser:innen und seiner Funktion als Vorposten zur Sicherung der Interessen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten, darunter Deutschland, fußt. Und diese ökonomischen und geostrategischen Interessen sind der eigentliche materielle Gehalt der Staatsräson, für deren Begründung die Shoa instrumentalisiert wird.

Damit rechtfertigt er nicht nur die Unterdrückung. Er setzt nicht nur die Verteidigung Israels mit der Verteidigung der jüdischen Bevölkerung fälschlich gleich, er spricht zugleich den Palästinenser:innen ihr Recht auf Selbstverteidigung ab, indem er sie faktisch mit der Hamas gleichsetzt und diese wiederum auf eine „Terrororganisation“ reduziert. Folglich sind für Habeck alle Palästinenser:innen, ja implizit alle Muslim:innen und alle arabischen Migrant:innen der Hamas-Unterstützung und des Antisemitismus verdächtig, sofern sie nicht die von der Regierung und den deutschen Medien geforderten Bekenntnisse zum Selbstverteidigungsrecht Israels ablegen.

Natürlich dürfen bei Habecks Rede kritische Bemerkungen an zur AfD, zum deutschstämmigen Antisemitismus und zu Putin-Versteher:innen nicht fehlen. Diese ideologische Abgrenzung stellt aber wenig mehr als eine rituelle Floskel des Menschenrechtsimperialismus dar, der vor etwas mehr als einem Jahr erst „humanitäre“ Öl- und Gaslieferungen mit Katar als Ersatz für „schmutziges“ russisches Öl und Gas vereinbarte. Und dies ist nur ein Beispiel für eine Außenpolitik, die sich im Kampf um die Neuaufteilung der Welt gegenüber China und Russland mit einem gigantischen Aufrüstungsprogramm ins Zeug legt und die von ihrer „zivilisatorischen Überlegenheit“ in Afghanistan und jüngst in Mali Zeugnis abgelegt hat.

Und davon wird es noch mehr geben müssen, wenn Deutschland und die EU im Sinne des Kapitals erfolgreich sein sollen. Das weiß auch Habeck.

Zivilisationsbruch

Und natürlich weiß auch er, dass schon jetzt rund 10.000 Palästinser:innen – die Mehrheit Zivilist:innen, darunter Tausende Kinder – in Gaza infolge der Angriffe der IDF getötet wurden. Und er weiß, dass diese Zahl noch massiv steigen wird, möglicherweise ein Großteil der Bevölkerung Gazas vertrieben werden soll, wenn es nach den Vorstellungen der Notstandsregierung Netanjahu geht. Und natürlich lehnt der „Humanist“ Habeck selbst einen Waffenstillstand ab, allenfalls kurzfristige „Pausen“ soll es bei Bombardements und Beschuss geben.

Zur Begründung dieser Aggression, die, wie selbst die UNO nicht müde wird zu betonen, mit permanenten Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen einhergeht, greift er auf eine weitere argumentative Figur zurück: „Kontextualisierung aber darf nicht zu Rechtfertigung führen.“

Er meint damit den Angriff der Hamas vom 7. Oktober und die Ermordung hunderter unschuldiger Zivilist:innen. In der Tat ist Letztere nicht zu rechtfertigen. Die Gruppe Arbeiter:innenmacht, aber auch praktisch alle Aufrufenden zu den verschiedenen Demonstrationen in Solidarität mit Palästina haben die willküriche Tötung von Zivilist:innen wiederholt kritisiert. Doch darum geht es Habeck nicht. Mit der Forderung meint er etwas ganz anderes. Die Geschichte Israels und Palästinas, die Vertreibung der Palästinenser:innen und deren nationale Unterdrückung durch den zionistischen Staat, die Politik der israelischen und imperialistischen Regierungen der letzten Jahre dürften überhaupt keine Rolle für das Begreifen und Bewerten der Aktionen der Hamas und andere palästinensischer Organisationen spielen.

Der gesamte politische, ökonomische und historische Kontext, vor dessen Hintergrund der 7. Oktober eigentlich erst begriffen und verstanden werden kann, müsse vielmehr zurücktreten, ja ausgeblendet werden. Das Ins-Verhältnis-Setzen, ohne das keine geschichtliche Tat als solche begriffen werden kann, wird unter den Generalverdacht einer „Relativierung“ gestellt.

Diese Enthistorisierung bildet zugleich ein entscheidendes Element in Habecks Rechtfertigung der deutschen Staatsräson und der Verteidigung Israels. Indem die Taten der Hamas als „Zivilisationsbruch“, als eine unbegreifliche Aktion, als Entäußerung eines absolut Bösen, eines „reinen“ Vernichtungswillens interpretiert werden, wird der geschichtliche Kontext sekundär, wenn nicht irrelevant. Wird die Tat der Hamas einmal so gesetzt, kann jeder Verweis auf den realen Kontext auch nur als Verharmlosung einer singulären, scheinbar außerhalb der Geschichte und gesellschaftlicher Verhältnisse stehenden Tat abgebügelt werden. Beim so verstandenen „Zivilisationsbruch“ gibt es letztlich nichts zu verstehen, zu begreifen oder herzuleiten. Es gilt zu glauben. Diese Figur ist dem religiösen, idealistischen Denken entlehnt, wo ansonsten das absolut Böse beheimatet ist.

Mit dem absolut Bösen – der Hamas in diesem Fall – tritt natürlich auch das Gute auf die Weltbühne oder zumindest in der Rede Habecks: Israel.

Natürlich ist Habeck nicht so blöde, dieses als makellos Gutes auszumalen. Aber er kontrastiert es wohlwollend gegenüber dem Widerstand der Palästinenser:innen und natürlich der Hamas. Israel wäre schließlich gerade dabei gewesen, mit arabischen Regimen eine „Normalisierung“ herbeizuführen. Dass diese auf Kosten der Palästinenser:innen gegangen wäre, verschweigt er bei seiner selektiven „Kontextualisierung“.

Die Hamas und ihrer Unterstützer:innen, allen voran der Iran, würden keine Zweistaatenlösung wollen, erklärt Habeck, verschweigt jedoch, dass diese seit Jahrzehnten von der israelischen Rechten und insbesondere der Regierung Netanjahu sabotiert und praktisch ad acta gelegt wurde. Die Mordtaten der Hamas zielten auf eine Verhinderung des Friedens, erklärt Habeck. Und die 10.000 Toten, die seit dem 7. Oktober auf das Konto der israelischen Armee gehen? Lt. Habeck ein Beitrag zur Selbstverteidigung und zum Frieden – mit Friedhofsruhe.

Der Krieg zwischen Israel und den Palästinenser:innen wird aus seinem historischen Kontext gerissen. Selbst schon die Thematisierung seiner Wurzeln in der Errichtung eines kolonialistischen Siedler:innenstaates wird tabuisiert. Den Kampf von Unterdrücker:innen und Unterdrückten auch nur zu benennen, wird als antisemitisch diffamiert. Habeck und die bürgerliche Öffentlichkeit preisen seine Rede und sein Ableitungen als „vernünftig“ und „demokratisch“.

In Wirklichkeit stellt die Tabuisierung des geschichtlichen, politischen und ökonomischen Kontextes eine Form der Vernunftfeindlichkeit und des Irrationalismus dar, den Rückgriff auf eine quasi religiöse Argumentationsfigur.

Ist der 7. Oktober einmal als Entäußerung des absolut Bösen bestimmt, so bedürfen die Mittel des Kampfes gegen dieses keiner weiteren Rechtfertigung. Dass sich Israel ans Völkerrecht halte, sei zwar wünschenswert, letztlich jedoch zweitrangig. Wem nach 10.000 Toten Bedenken kommen, dem kann jederzeit „Relativierung“ vorgehalten werden.

Diese irrationale Form der Rechtfertigung jeder Israelsolidarität entspricht nicht nur dem Zeitgeist, sie dient auch dazu, die Bevölkerung auf „Durchhalten“ einzustimmen, wenn noch viel mehr Menschen sterben, wenn der Krieg Formen des Genozids annimmt oder Hunderttausende, wenn nicht Millionen Palästinenser:innen vertrieben werden sollten.

Wenn die Taten der Hamas keine Kontextualisierung, keine „Relativierung“ kennen dürfen, so gibt es auch bei den Vergeltungsmaßnahmen letztlich kein „Maß“, ist letztlich alles erlaubt. Eine solches Rechtfertigungsmuster dient nicht nur der Entschuldigung der Angriffe Israels, es bildet zugleich auch eine Blaupause für zukünftige Einsätze des deutschen Imperialismus gegen seine zum „Bösen“, zu „Zivilisationsbrecher:innen“ stilisierten Feind:innen.

Und sie dient auch gegen die „inneren Feind:innen“, gegen palästinensische und arabische Migrant:innen, gegen die antiimperialistische und antikolonialistische Linke und auch gegen alle Lohnabhängigen, die sich belgische und britische Gewerkschaften zum Vorbild nehmen, die beschlossen haben, die Lieferung von Kriegsgerät an Israel zu blockieren. Auch sie würde die Staatsräson mit aller Härte treffen, daran lässt Habeck keinen Zweifel.

Der Minister verwendet zwar religiöse Argumentationsfiguren zur Begründung der Staatsräson und Israelsolidarität. Aber er wandelt nicht im Himmel, sondern auf Erden und verfolgt durchaus profane Ziele. So kommt seine Rede auch nicht ohne die Drohung aus, dass ein Verstoß gegen die Staatsräson strafbar ist: „Wer Deutscher ist, wird sich dafür vor Gericht verantworten müssen, wer kein Deutscher ist, riskiert außerdem seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert damit einen Grund, abgeschoben zu werden.“

Diese Drohung müssen wir ernst nehmen und uns gemeinsam gegen die weitere Einschränkung demokratischer Rechte zur Wehr setzen und eine breite, klassenkämpferische Palästinasolidaritätsbewegung aufbauen.




Bundestag auf Kriegskurs – Nein zur Kriminalisierung der Palästina-Solidarität!

Martin Suchanek, Infomail 1233, 14. Oktober 2023

Einstimmig beschloss der deutsche Bundestag am 12. Oktober den von SPD, Grünen, FPD und CDU/CSU vorgelegten Antrag zur Lage in Israel. Davor erklärte Olaf Scholz in einer Regierungserklärung. „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Auch die Fraktionen von AfD und DIE LINKE applaudierten und stimmten dem Antrag zu. Wenn es um die Staatsräson des deutschen Imperialismus geht, will im Bundestag offenkundig niemand beiseitestehen.

Bedingungslose Solidarität mit Israel …

Dabei läuft der Beschluss auf nichts weniger hinaus als eine Unterstützung der Bombardierung Gazas und der bevorstehenden Bodeninvasion durch die israelische Armee. Die Absicht der israelischen Regierung und des neu ernannten Notstandskabinetts, Gaza faktisch dem Erdboden gleichzumachen und keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, ficht den deutschen Bundestag nicht an. Für die Toten der Bombardements durch die israelische Luftwaffe und durch Bodentruppen wird einfach die Hamas als verantwortlich erklärt.

Und diesmal sollen, so Regierung und Opposition in seltener Einmütigkeit, den Worten auch Taten folgen. Zivile Tote in Gaza seien, so erklärt Außenministerin Baerbock, leider unvermeidlich – und zwar aufgrund der „perfiden“ Taktik der Hamas (und aller anderen palästinensischen Organisationen), ihre Kämpfer:innen nicht auf offenem Feld zum Abschuss aufzustellen, sondern sich zu verschanzen. Geflissentlich ignoriert sie dabei das Offenkundige, dass in jedem Krieg besonders die verteidigende oder die militärisch unterlegende Seite im Schutz der eigenen Bevölkerung agiert.

Das hat auch seinen Grund. Der Bundestag, die Regierung, die gesamte Opposition und sämtliche „etablierten“ Medien missbrauchen die Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Ausbruchs der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung, der zur Vernichtung jedes Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

… bedingungslose Unterstützung des Krieges

Parallel zur Debatte im Bundestag untermauert das Verteidigungsministerium die Solidarität mit Israel. So will Deutschland Munition für Kriegsschiffe liefern, Drohnen zur Verfügung stellen und Schutzausrüstung für die IDF schicken. Israel, so heißt es in der Entschließung, sei im Krieg „jedwede Unterstützung zu gewähren.“ Dass die Regierung, die Unionsparteien, die AfD zustimmen, verwundert niemanden. Doch auch sämtliche anwesenden Abgeordneten, alle Flügel der „Friedenspartei“ DIE LINKE wollen sich an diesem Tag der Staatsräson nicht entziehen und stimmen für einen Krieg im Nahen Osten, der „Frieden“ durch die Vernichtung jedweden Widerstandspotentials der Palästinenser:innen bringen soll. „Jedes Hamas-Mitglied ist ein toter Mann“, verkündet Netanjahu. Die neu geformte israelische Notstandsregierung verwendet dabei Hamas als Codewort für alle Palästinenser:innen, die Widerstand gegen die Besatzung und Vertreibung leisten und weiter leisten wollen.

Daher zielt die israelische Strategie auf die Säuberung und Vertreibung der gesamten Bevölkerung von Gaza-Stadt. Innerhalb von 24 Stunden sollen diese den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – eine unverhohlene Drohung mit dem Mord an Tausenden und Abertausenden.

Verdrehung der Ursachen

Mit den Stimmen der Linkspartei verdreht der Bundestag einmal mehr die Ursachen des sog. „Nahostkonflikts“, indem die führende Rolle der islamistischen Hamas in Gaza zur Ursache des „Konflikts“ uminterpretiert, so getan wird, als bestünde das zentrale Hindernis für „Frieden“ im „Terrorismus“ der Hamas, des Islamischen Dschihad, von PFLP und DFLP oder anderen palästinensischen Gruppierungen. Würden diese vernichtet, wäre alles wieder gut und die israelische „Demokratie“ müsste nur auf die Palästinenser:innen ausgedehnt werden, die dann – jedenfalls in der Traumwelt des Bundestages – sogar einen eigenen Staat kriegen könnten, auf dem Gebiet, das noch nicht voll von Israel übernommen und kontrolliert ist.

In Wirklichkeit bildet die Ideologie der Hamas eben nicht den Kern des Problems. Als Revolutionär:innen haben wir diese immer abgelehnt. Wir treten für ein Programm der permanenten Revolution ein, für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln.

Der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert, ist mit einer solchen Lösung jedoch unvereinbar. Solange dieser Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben. Letztlich wird das Gebiet auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihres Regimes in Gaza. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von Zivilist:innen ab. Diese erleichtert es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und aller, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehören auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der Ausbruch der Palästinenser:innen am 7. Oktober war ein verzweifelter Aufstandsversuch Gazas nach Jahrzehnten der Isolierung, Aushungerung, Entrechtung, von Bombardements und Vertreibung. Er war und ist Teil des palästinensischen Widerstandes.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen daher keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Solidarität mit Palästina!

Dies setzt aber voraus, dass sich Revolutionär:innen angesichts des israelischen Angriffs und in einer Situation, in der die gesamte palästinensische Nation und jeder Widerstand dämonisiert wird, klar auf die Seite der Unterdrückten stellen. So notwendig eine linke Kritik an der Hamas als reaktionärer, islamistischer, antisemitischer Kraft ist, so wichtig ist es auch, ihrer medialen Dämonisierung entgegenzutreten. Es ist zionistische und westliche Kriegspropaganda, die Hamas und deren Agieren in Gaza mit dem Islamischen Staat gleichzusetzen. Die Hamas ist weder eine faschistische Kraft noch hat sie in Gaza ein „faschistisches“ Regime errichtet.

Das ändert nichts an ihrem zutiefst reaktionären Charakter. Natürlich haben ihre Führungen und Funktionär:innen die Verwaltung des Mangels unter ihrer Regie auch zur Bereicherung benutzt. Das unterscheidet sie aber nicht von anderen klerikalen und nationalistischen „Regimen“. Die Hamas ging natürlich auch repressiv gegen die eigene Bevölkerung vor – aber sie gestattete auch andere Gruppierungen des Widerstandes auf ihrer rechten wie linken (PFLP, DFLP) Seite.

Mit der Dämonisierung der Hamas sollen ein barbarischer Angriffskrieg – des Tötens bis zum letzten Mann! – und massive Repression in Ländern wie Deutschland legitimiert werden. Dabei werden alle Kämpfenden, alle Palästinenser:innen, die auch nur ihre Stimme erheben, pauschal zu „Hamas“ oder „Hamasunterstützer:innen“ erklärt.

Die Existenz anderer politischer Kräfte, insbesondere der palästinensischen Linken, wird solcherart dementiert. Auch sie erscheinen nur noch als „Hamas“. Nachdem alle Kämpfer:innen Hamas sind, werden alle auch gleich zu Dschihadisten und „Terroristen“ im Stile des Islamischen Staates. Der nationale Befreiungskampf wird so zu einem religiösen uminterpretiert, die palästinensische Bevölkerung wird rassistisch als „unzivilisierte“, „barbarische“ Meute diffamiert.

Eine erste Aufgabe von Internationalist:innen und Antiimperialist:innen in Deutschland und allen westlichen Ländern besteht angesichts der konzertierten Hetze darin, sich dieser demokratisch-imperialistischen Ideologie und Verkehrung entgegenzustellen.

Nein zur rassistischen Kriminalisierung!

Eine zweite, damit verbundene besteht in der Solidarität mit den Palästinenser:innen und ihrem Widerstand gegen dessen Kriminalisierung. Bundestag und Regierung unterstützen Israel im Krieg nicht nur mit Waffen und Propagandalügen, sie verschärfen auch die Repression.

Das ist natürlich nicht neu. Schon seit Jahren finden sich palästinensische Organisationen auf den „Terrorlisten“ der EU und Deutschlands, sind ihre Organisationen verboten, ihre demokratischen Rechte – wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und Organisationsfreiheit – massiv eingeschränkt. Sie können nicht offen auftreten, ihre Politik, Programmatik und Strategie darlegen oder verteidigen, sondern sind vielmehr gezwungen, in einer Art Sklav:innensprache ihre Überzeugungen verklausuliert vorzutragen.

Regelmäßig werden außerdem seit Jahren in Berlin und anderen Städten propalästinensische Demonstrationen und Kundgebungen über Wochen verboten; willkürlich werden Aktivist:innen festgenommen.

All das zielt schon seit Jahren darauf, alle politischen Strömungen des palästinensischen Volkes – insbesondere auch die Linken – zum Schweigen zu bringen.

Nun stehen wir, angesichts des Krieges gegen Gaza, vor einer neuen dramatischen Eskalation der Diffamierung und Repression.

  • Gegen Hamas soll ein Betätigungs- und gegen das Gefangenenhilfsnetzwerk Samidoun ein Vereinsverbot vom Innenministerium verhängt werden. So kann jede weitere organisatorisch-politische Tätigkeit unter Strafe gestellt werden.

  • In zahlreichen Städten wurden alle Demonstrationen und Kundgebungen, die in Solidarität mit Palästina stehen könnten, verboten. Hunderte Teilnehmer:innen wurden in den letzten Tagen festgenommen. Eine Verlängerung ist durchaus möglich und könnte über Wochen andauern.

  • Verboten sind außerdem auch zahlreiche Parolen des Befreiungskampfes, die als „antisemitisch“ diffamiert werden. Auch das Zeigen der palästinensischen Fahne wird kriminalisiert. Generell wird jede „israelkritische“ Äußerung als „Antisemitismus“ gebrandmarkt oder in dessen Nähe gerückt.

  • An Berliner Schulen wurde das Tragen der Kufiya, das Zeigen von Aufklebern und Stickern mit Aufschriften wie „Free Palestine“ oder einer Landkarte von Israel in den Farben Palästinas verboten.

  • Nachrichtendienste und Provokateur:innen werden verstärkt gegen alle Unterstützer:innen Palästinas eingesetzt werden.

  • Palästinenser:innen, Araber:innen und Muslimen, die keine deutschen Pässe haben, droht die Abschiebung bei antizionistischer oder antiimperialistischer Aktivität. Der antiislamische Rassismus tritt neuerdings unter dem Deckmantel der Solidarität mit Israel auf – und verharmlost zugleich den Antisemitismus der Rechten und imperialistischen, weißen Chauvinismus.

Und die deutsche Linke und Arbeiter:innenbewegung?

Bis auf recht wenige internationalistische und antiimperialistische Gruppierungen ergreift die deutsche Linke und bürokratisch geführte Arbeiter:innenbewegung, wenn auch wenig verwunderlich, die Seite des Unterdrückers. Wie SPD und LINKE stimmen auch die Gewerkschaftsspitzen in den Chor der Israelsolidarität ein und unterstützen das Massaker an den Palästinenser:innen.

Der Aushebelung demokratischer Rechte, Demonstrationsverboten und der Bespitzelung durch die Geheimdienste stimmen sie entweder zu oder sie hüllen sich in vornehmes Schweigen oder Relativierungen von Unterdrückten und Unterdrückenden.

Gegen den Strom!

In der aktuellen Lage müssen wir gegen den Strom von Hetze und Diffamierung ankämpfen. Das heißt, klare Kante gegen alle Vereins- und Versammlungsverbote zu zeigen und gegen den immer offeneren antipalästinensischen und antimuslimischen Rassismus in Deutschland Stellung zu beziehen. Wir unterstützen alle Aktionen und Kampagnen der linken und antiimperialistischen Kräfte, gemeinsam und koordiniert dagegen Protest und Widerstand zu organisieren.

  • Nein zu allen Demonstrationsverboten! Nein zum Verbot palästinensischer Organisationen und Vereine, ihrer Fahnen und Symbole! Nein zu allen Verboten an Schulen und im öffentlichen Raum!

  • Schluss mit der Kriminalisierung von Menschen, die für Palästina demonstrieren! Einstellung aller Verfahren und aller Überwachungs- und Bespitzelungsmaßnahmen!

Dies muss Teil des Kampfs für eine breite, auch von der Arbeiter:innenbewegung unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina sein. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass die proisraelische Stimmungslage in Deutschland nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.




Pakistan: Stoppt den rassistischen Krieg gegen afghanische Flüchtlinge!

Minerwa Tahir, Infomail 1233, 13. Oktober 2023

Am 1. Oktober stellte die pakistanische Regierung schätzungsweise 1,7 Millionen afghanischen Flüchtlingen, von denen viele vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen sind, ein Ultimatum, innerhalb eines Monats die Landesgrenzen zu verlassen. Denjenigen, die dies nicht tun würden, drohten Haft und Abschiebung. Bis zum 9. Oktober hatten die Behörden der Provinz Sindh bereits 1.700 Afghan:innen, die sich „illegal“ in Karatschi aufhielten, festgenommen. Die Entscheidung wurde in einer Sitzung des Apex-Komitees (des Nationalen Aktionsplans) unter der Leitung des geschäftsführenden Premierministers Anwar ul Haq Kakar getroffen, an der u. a. der Generalstabschef der Armee, General Asim Munir, Bundesminister:innen und die Ministerpräsident:innen der Provinzen teilnahmen.

Die Regierung beschloss, dass für den Grenzverkehr zwischen Pakistan und Afghanistan Pässe und Visa erforderlich sind und die elektronischen afghanischen Personalausweise, die so genannten E-Tazkiras, nach dem 31. Oktober nicht mehr akzeptiert werden. Nach Ablauf dieser Frist würde eine Operation beginnen, die sich gegen illegale Immobilien und Unternehmen richtet, die Migrant:innen gehören oder in Zusammenarbeit mit pakistanischen Staatsangehörigen betrieben werden. Offensichtlich hat die Regierung die Frist nicht abgewartet und mit Maßnahmen gegen eine bereits vertriebene Bevölkerung begonnen.

Die Lage in Afghanistan

In Afghanistan hat die Übernahme von Kabul durch die Taliban nach dem Abzug der US-geführten Truppen im August 2021 die ohnehin schon große Instabilität und Gewalt im Land noch verstärkt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mindestens 8,2 Millionen Afghan:innen durch Konflikte, Gewalt und Armut vertrieben worden und haben in 103 verschiedenen Ländern Zuflucht gesucht. Nach Syrer:innen und Ukrainer:innen stellen die Afghan:innen die drittgrößte vertriebene Bevölkerungsgruppe der Welt. Pakistan und der Iran beherbergen derzeit die größte Zahl der Vertriebenen. Im Gegensatz zu den ukrainischen Flüchtlingen ist diese Lebensweise für die afghanischen nicht neu, da ihre Region seit vier Jahrzehnten von Konflikten und Instabilität geprägt ist. Hunger, Auszehrung und Menschenrechtsverletzungen nehmen zu.

Im Jahr 2023 sind 20 Millionen Afghan:innen von akutem Hunger bedroht, wobei 6 Millionen Menschen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt sind. Eine Rekordzahl von 28,3 Millionen Bewohner:innen benötigt im Jahr 2023 humanitäre Hilfe und Schutz, was einen drastischen Anstieg gegenüber 24,4 Millionen im Jahr 2022 und 18,4 Millionen Anfang 2021 darstellt. In Afghanistan hat die Verschuldung zugenommen, sowohl was die Zahl der verschuldeten Personen (82 Prozent aller Haushalte) als auch die Höhe der Schulden (etwa 11 Prozent mehr als im Vorjahr) betrifft. Darüber hinaus hat die fundamentalistische Regierung dafür gesorgt, dass Afghanistan für niemanden mehr eine Heimat ist, der/die seinen/ihren Töchtern das gleiche Leben wie seinen/ihren Söhnen bieten möchte. Erschwerend kommt hinzu, dass Naturkatastrophen ihren Teil zum Elend beigetragen haben. Im Juni 2022 wurden bei dem schwersten Erdbeben, das das Land in den letzten 20 Jahren heimgesucht hat, mindestens 1.000 Menschen getötet und viele weitere verletzt. In diesem Jahr sind bereits über 2.400 Einwohner:innen ums Leben gekommen, und viele weitere sterben noch immer, da der Westen Afghanistans von einem weiteren schweren Erdbeben heimgesucht wurde.

Man würde erwarten, dass die Berichte über die erneut zu Tausenden vertriebenen Afghan:innen die Haltung der pakistanischen Regierung, wenn auch nur vorübergehend, aufweichen würden. Doch nichts davon ist geschehen. Obwohl die Vereinten Nationen das Regime in Islamabad dringend aufforderten, die Risiken einer Zwangsrückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan zu bedenken, hielt die pakistanische Regierung an ihrer Entscheidung fest. Während die pakistanischen Beweggründe für sich genommen reaktionär sind, verfolgen die imperialistischen Staaten, die die UNO dominieren, ihre eigenen Ziele, wenn sie Pakistan drängen, die Afghan:innen zu behalten. Schließlich will keines der imperialistischen Zentren afghanische Flüchtlinge aufnehmen, die vor den Folgen eines jahrzehntelangen Krieges fliehen, für den diese Staaten direkt verantwortlich sind.

Die Argumentation der pakistanischen Regierung und die Reaktion der Taliban

Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen sind rund 1,3 Millionen Afghan:innen als Flüchtlinge in Pakistan registriert und weitere 880.000 verfügen über einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Regierung behauptet jedoch, dass sich weitere 1,73 Millionen aus dem Nachbarland illegal in Pakistan aufhalten. Nach Angaben des Innenministers der geschäftsführenden Regierung, Sarfraz Bugti, beläuft sich die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan auf insgesamt 4,4 Millionen. Er erklärte, die Regierung habe die Entscheidung, afghanische Flüchtlinge auszuweisen, angesichts der zunehmenden Angriffe militanter Islamisten getroffen.

Die Ausweisungen sollen in mehreren Phasen erfolgen. „In der ersten Phase werden illegal ansässige Personen, in der zweiten Phase solche mit afghanischer Staatsbürgerschaft und in der dritten Phase mit nachgewiesener Aufenthaltsgenehmigung ausgewiesen“, heißt es in dem Bericht, der hinzufügt, dass diese Ausländer:innen „eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit Pakistans darstellen“.

Bugti erklärte, dass „das Wohlergehen und die Sicherheit eines/r Pakistaner:in für uns wichtiger sind als jedes andere Land oder dessen Politik. Die erste Entscheidung, die wir getroffen haben, betrifft unsere illegalen Einwanderer:innen, die sich auf illegale Weise in Pakistan aufhalten. Wir haben ihnen eine Frist bis zum 1. November gesetzt, um freiwillig in ihre Länder zurückzukehren, und wenn sie das nicht tun, werden alle Strafverfolgungsbehörden des Staates und der Provinzen sie abschieben.“ Bugti fügte hinzu, dass die Einreise ohne Pass oder Visum in kein anderes Land der Welt erlaubt sei.

Die Regierung teilte außerdem mit, dass eine universelle Notrufnummer und ein Webportal eingerichtet werden, über die Bürger:innen anonym Informationen über illegale Ausweise, illegale Migration und andere illegale Praktiken wie Schmuggel und Horten von Geld weitergeben können. Im Rahmen eines solchen Programms würden auch Belohnungen für diese Denunziation festgelegt werden. Man kann sich gut vorstellen, was für eine rassistische Katastrophe dies in einem Land wäre, in dem die meisten mit hungrigen Mägen schlafen! Es könnte außerdem auch dazu benutzt werden, persönliche Rechnungen zu begleichen.

Bugti behauptete, dass seit Januar 24 Selbstmordattentate verübt wurden, davon 14 von afghanischen Staatsangehörigen, darunter die jüngsten Anschläge auf eine Polizeistation und die dazugehörige Moschee im Distrikt Hangu in Khyber-Pakhtunkhwa, bei denen fünf Menschen getötet wurden, sowie die Explosion in einer Moschee in Peschawar auf einem Hochsicherheitsgelände, auf dem sich u. a. das Hauptquartier der Provinzpolizei und eine Abteilung für Terrorismusbekämpfung befinden, bei der 59 Menschen getötet wurden.

Am nächsten Tag schrieb der Pressesprecher der afghanischen Taliban, Zabiullah Mudschahid, auf X (früher: Twitter), dass Pakistans Verhalten „gegen afghanische Flüchtlinge inakzeptabel“ sei. Er fügte hinzu: „Die pakistanische Seite sollte ihren Plan noch einmal überdenken. Die afghanischen Flüchtlinge sind nicht in die Sicherheitsprobleme Pakistans verwickelt. Bis sie Pakistan freiwillig verlassen, sollte das Land sie tolerieren.“

Auch die Vereinten Nationen stellen sich nicht hinter die pakistanische Regierung. Sie haben angeboten, Pakistan bei der Einrichtung eines Systems zur Überwachung und Erfassung von Personen, die innerhalb seiner Grenzen internationalen Schutz suchen, zu unterstützen und „spezifische Schwachstellen“ zu beseitigen. Inzwischen haben Afghan:innen berichtet, dass sie wahllos verhaftet werden.

Warum jetzt?

Jahrelang hat Pakistan die Taliban als beste Option für Pakistan als Herrscher Afghanistans favorisiert, aber die Beziehungen haben sich in den letzten Jahren abgenutzt. Der Hauptvorwurf des pakistanischen Staates lautet, dass die Islamisten, die den pakistanischen Staat bekämpfen, ihre Operationen von afghanischem Boden aus durchführen, wo ihre Kämpfer ausgebildet und Anschläge in Pakistan geplant werden. Die Taliban bestreiten diese Anschuldigungen und behaupten, dass Pakistans Sicherheitsprobleme hausgemacht sind. Unterdessen hat die Tehrik-i-Taliban Pakistan (Bewegung der pakistanischen Taliban; TTP), eine sunnitische militante Hardlinergruppe, ihren Waffenstillstand mit der pakistanischen Regierung im November letzten Jahres beendet.

Seitdem hat die Gewalt in Pakistan einen ungewöhnlichen Aufschwung erlebt. Tatsache ist, dass alle Akteure in der Region, seien es die Halbkolonien wie Pakistan, Indien, Afghanistan und Iran oder imperialistische Mächte wie die USA, Russland und China, häufig die eine oder andere islamistische oder anderweitig militante Gruppe in der Region unterstützen. Es ist ein offenes Geheimnis, denn die Führer:innen fast aller Länder haben dies zu einem bestimmten Zeitpunkt zugegeben. Das Problem besteht darin, dass a) die gesamte Bevölkerung eines Landes in einen Topf geworfen wird und b) diese Zugehörigkeiten nur zu bestimmten Zeitpunkten zum Problem geraten, nämlich dann, wenn sie lästig werden.

Pakistan wird derzeit von einer geschäftsführenden Regierung verwaltet, die seit August im Amt ist, um die bevorstehenden Wahlen zu überwachen. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, die in Pakistan herrscht, konnte das Militär in der gegenwärtigen Situation noch mehr Einfluss als üblich ausüben. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und seine Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Covidpandemie, die Überschwemmungen von 2022, die allgemeine Verschuldung bei den imperialistischen Gendarmen IWF und Weltbank und deren neoliberales Diktat, eine abwertende Währung und ein allgemeiner Anstieg der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Terroranschläge sind alles Faktoren, die die Massen des verarmten Landes in einen Zustand schweren Leidens und Aufruhrs versetzt haben.

Selbst die Mittelschicht kämpft ums Überleben, da Lebens- und Grundnahrungsmittel unerschwinglich und unzugänglich geworden sind. In dieser Situation liegt es im Interesse der herrschenden Klassen, die Massen vom Klassenkampf abzulenken, der der Kern ihres Leidens ist, und sie in eine fremdenfeindliche Kampagne gegen ein leichtes Ziel zu verwickeln. Afghan:innen sind seit langem in der pakistanischen Region präsent. Historisch gesehen gab es während der Kolonialzeit viele Bewegungen auf der Suche nach Arbeit. Aufgrund des imperialistischen Krieges und des damit verbundenen Leids nahm diese Bewegung um ein Vielfaches zu. Pakistan war einer der Hauptakteure im so genannten Krieg gegen den Terror und erhielt zudem massive Finanzmittel von den imperialistischen Mächten. Das Mindeste, was es dann tun sollte, war die Aufnahme von Tausenden, die vor Verfolgung und Krieg flohen. Nach dem 11. September kamen afghanische Flüchtlinge massenhaft nach Pakistan und stützten sich dabei auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen über die poröse, gebirgige Grenze.

Heute leben sie zumeist entweder als Kleinunternehmer:innen – vor allem als Betreiber:innen von Teeläden und als Leiter:innen von Bustransitstrecken neben anderen ähnlichen Berufen – oder als Gelegenheitsarbeiter:innen oder als obdachlose Bettler:innen. Inzwischen hat auch eine Reihe von Angehörigen der Intelligenz in Pakistan Zuflucht gesucht, in der Hoffnung, dass imperialistische Mächte wie das Vereinigte Königreich und Deutschland ihre Versprechen einlösen und ihnen, auf pakistanischem Boden angelangt, Visa gewähren würden. Angesichts der Tatsache, dass Afghan:innen in der Vergangenheit keinen Teil des Großkapitals in Pakistan ausmachten, ist es nicht verwunderlich, dass sie heute der Sündenbock für eine herrschende Klasse sind, die darum kämpft, so zu herrschen, wie sie früher herrschte.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die pakistanische Wut gegenüber Afghanistan ist der Transithandel durch Pakistan. Laut der Tageszeitung Dawn „wurde der afghanische Transithandel schon immer von Händler:innen beider Länder zum Schmuggel missbraucht. Berichten zufolge werden Transitladungen oft von den Häfen direkt auf pakistanische Märkte umgeleitet, bevor sie die Grenze überqueren.“ Der Leitartikel fügt hinzu, dass der Wert dieses afghanischen Transithandels von vier Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf 6,7 Milliarden in diesem Jahr gestiegen ist und der Wert der im Rahmen der Transitfracht geschmuggelten Güter um 63 Prozent auf 3,7 Milliarden zugenommen hat. Da die pakistanische Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist Pakistan natürlich nicht glücklich über die Milliarden, die der afghanische Handel angeblich eingebracht hat.

Der vielleicht wichtigste Grund ist jedoch, dass der pakistanische Staat gehofft hatte, Afghanistan auf der geopolitischen Ebene in seinem Einflussbereich zu halten, und nun die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge als Strafmaßnahme gegen seinen widerspenstigen Nachbarn einsetzt, von dem er befürchtet, dass er mit einem Bein in Indiens Boot sitzt. Die wachsende Annäherung Afghanistans an Indien hat in Pakistan einen saueren Beigeschmack hinterlassen. Das von den Taliban beherrschte Afghanistan hat den Kaschmirkonflikt als bilaterale Angelegenheit zwischen Indien und Pakistan bezeichnet und zu den Gräueltaten in dem überwiegend muslimischen Tal geschwiegen. In diesem Jahr lieferte Indien über den iranischen Hafen Tschahbahar am Golf von Oman 20.000 Tonnen Weizen in das eingeschlossene Land, das mit einer extremen Nahrungsmittelkrise zu kämpfen hat, gefolgt von 40.000 Tonnen, die im vergangenen Jahr über die pakistanischen Landwege verschickt wurden. Indien schickte auch medizinische Hilfsgüter nach Afghanistan und hat auch sein diplomatisches Engagement gegenüber der Talibanregierung fortgesetzt und seine Botschaft in Kabul wiedereröffnet. Indien hat in seinem Haushalt 2023-24 25 Millionen US-Dollar für Entwicklungshilfe für Afghanistan vorgesehen, was von den Taliban begrüßt wird.

Es versteht sich von selbst, dass die islamfeindliche Hindutva-Regierung in Delhi eine ausgewogene Nähe zur islamistisch-fundamentalistischen Regierung in Kabul in erster Linie auf der Grundlage regionaler Interessen pflegt. (Dies wird umso deutlicher, wenn man sieht, wie Indien nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht nur keine Visa mehr an afghanische Student:innen ausstellt, sondern am 25. August 2021 auch die Visa derjenigen annullierte, die zwar ein Visum erhalten hatten, sich aber nicht in Indien aufhielten.) Bei diesen Interessen geht es nicht nur darum, den Einflussbereich Pakistans auszuschalten, sondern vor allem auch den des weitaus stärkeren Rivalen China. Chinas Botschafter in Kabul, Zhao Xing, wurde im vergangenen Monat von den Taliban sehr herzlich empfangen, und beide Länder haben den gegenseitigen Wunsch nach engeren Beziehungen, vor allem geschäftlichen, geäußert. Dies bedroht Indiens Investitionen in Afghanistan, die es während der Herrschaft der Marionettenregierung von Aschraf Ghani getätigt hatte, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass Indien sich so aufführen musste, dass es die Islamophobie beiseiteschob und mit Kabul über Geschäfte sprechen musste.

Dennoch zeigt sich Islamabad nicht begeistert. Es ist sich auch bewusst, dass die Wirtschaft Afghanistans mit seiner international immer noch nicht anerkannten Regierung, den eingefrorenen Vermögenswerten, der hungerähnlichen Situation und der hohen Verschuldung die Last der Rückkehr von einer Million Flüchtlingen nicht tragen könnte. Das zeigt auch die Reaktion des Talibansprechers auf die Entscheidung aus Pakistan.

Was das für afghanische Flüchtlinge bedeutet

Die Schikanen gegenüber afghanischen Flüchtlingen sind in Pakistan nichts Neues, sie tragen jetzt nur einen rechtlichen Deckmantel. Am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, forderte Amnesty International die pakistanische Regierung auf, die willkürliche Verhaftung und Schikanen gegen afghanische Flüchtlinge und Asylsuchende einzustellen. Nach der Machtübernahme der Taliban floh eine große Zahl von Flüchtlingen nach Pakistan. Angaben von Amnesty International zufolge kamen viele von ihnen mit regulären Visa nach Pakistan, die inzwischen abgelaufen sind (und um sie zu verlängern, müssen sie erneut nach Afghanistan einreisen), und wegen erheblicher Verzögerungen im Registrierungsverfahren sind die meisten nicht im Besitz einer „Registrierungsachweiskarte“, dem Ausweis, der afghanische Flüchtlinge zu einem regulären Aufenthalt in Pakistan berechtigt. Neben der Beteuerung freundschaftlicher nachbarschaftlicher Beziehungen, um seinen Einflussbereich zu erweitern, hat Pakistan diese Flüchtlinge wahrscheinlich auch in der Hoffnung auf internationale Hilfe aufgenommen.

Seit ihrer massenhaften Ankunft im August 2021 sind die Afghan:innen nicht nur Schikanen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, sondern auch Erpressung und Arbeitslosigkeit. Ohne Dokumente, mit denen sie ihren Rechtsstatus nachweisen können, ist es für die Behörden leichter, nach oder unter Androhung einer willkürlichen Verhaftung Geld von ihnen zu erpressen. Ebenso führt das Fehlen von Dokumenten dazu, dass sie in schlecht bezahlten prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen, da eine formelle Beschäftigung keine Option ist. Ohne einen Registrierungsnachweis können sie keine Bankkonten einrichten oder ihre SIM-Karten registrieren lassen. Auch Vermieter:innen und Immobilienmakler:innen nutzen das Fehlen eines Nachweises über ihren regulären Status aus.

Die Verlängerung eines abgelaufenen Visums bedeutet, dass die Afghan:innen erneut nach Afghanistan einreisen müssen, um ein neues zu erhalten. Für viele, insbesondere Frauen und geschlechtliche Minderheiten, Journalist:innen, Aktivist:innen, Schiit:innen, Musiker:innen und fortschrittliche Menschen, ist dies keine Option. Daher haben sie sich dafür entschieden, unterzutauchen und in Pakistan ein Leben in prekären Verhältnissen zu führen.

Da Pakistan die Flüchtlingskonvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 nicht angenommen hat, das laut der in Karatschi ansässigen Anwältin Moniza Kakar „Staaten daran hindert, Menschen zu bestrafen, die illegal in ein Land einreisen“, kann es sich auf das inländische Ausländergesetz von 1946 berufen, um Afghan:innen, die sich illegal in Pakistan aufhalten, zu bestrafen und auszuweisen. Offensichtlich steckt Pakistan immer noch in der Barbarei der Kolonialzeit fest!

In ganz Pakistan, vor allem aber an den Gerichten Sindhs, herrscht die Meinung vor, dass Afghan:innen keine humanitäre Hilfe verdienen, weil sie „Kriminelle“ sind und in „terroristische Aktivitäten“ verwickelt. Dieses rassistische Schema gilt nicht nur für Afghan:innen, auch ihre paschtunischen Cousin:innen werden nicht verschont. Die Motivation für die Ermordung von Naqeebullah Mehsud, die die Pashtun Tahaffuz Movement (Bewegung zum Schutz der Paschtun:innen) ausgelöst hat, war genau dieselbe. Diese rassistische Diskriminierung und Feindseligkeit ist in allen pakistanischen Einrichtungen weit verbreitet – in Krankenhäusern, an Schulen, Hochschulen und Universitäten, am Arbeitsplatz, in den Stadtvierteln, vor Gericht und auf den Polizeistationen.

Deshalb müssen wir gegen alle derartigen Ressentiments ankämpfen. Afghan:innen, die vor der reaktionären Talibanregierung Asyl suchen, haben keinen Grund, sich in Selbstmordwesten in die Luft zu sprengen. Sie sind Opfer von Verfolgung und fliehen aus ihrer Heimat, um Zuflucht und Schutz zu finden. Die Vorstellung, dass sie ihre Heimat nur verlassen haben, um Pakistan bombardieren zu können, ist bizarr. Das Leid der großen Mehrheit der vertriebenen Afghan:innen, die erst durch den imperialistischen Krieg in ihrem Land, dann durch die Taliban und jetzt durch Pakistan und andere Aufnahmeländer bestraft wurden, muss jetzt ein Ende haben. Länder wie Deutschland haben auch nicht gerade eine andere Rolle gespielt. Die Dringlichkeit, die bei der Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge an den Tag gelegt wurde, fehlte eindeutig im Fall der Afghan:innen. Das Verfahren, um Flüchtlinge von dort über Pakistan nach Deutschland zu bringen, war von vornherein so mühsam und kompliziert, wie für Migrant:innen mit muslimischem Hintergrund fast alles ist, was die Einwanderungsbürokratie betrifft. Bei anderen imperialistischen Ländern liegt der Fall nicht viel anders.

Aufgaben und Forderungen

Der pakistanische Staat sieht sich selbst als Fackelträger islamischer Prinzipien und ist gekränkt, wenn Muslim:innen in Palästina oder Indien leiden müssen. Interessant ist jedoch, dass diese Sichtweise nicht auf die große Mehrheit der Muslim:innen in Afghanistan angewandt wird.

Kurz gesagt, die afghanischen Flüchtlinge befinden sich in einem ähnlichen Dilemma wie die Menschen im Gazastreifen heute. Sie können nirgendwo hin. Außerdem will sie kein Land aufnehmen, und die meisten von ihnen können einfach nicht in ihr Heimatland zurückkehren, solange die Taliban an der Macht sind. Die Aufgaben, die sich aus der gegebenen Situation für die Sozialist:innen ergeben, sind daher zweifach. Wir haben nicht nur die Pflicht, das Recht der armen afghanischen Flüchtlingsfamilien zu verteidigen, in den Nachbarländern zu bleiben, d. h. in Pakistan, China, Indien, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sowie in Europa, Nordamerika und Australien.

Wir stehen auch vor der Aufgabe, unseren fortschrittlichen Brüdern und Schwestern, insbesondere den mutigen Frauen in Afghanistan, internationale Solidarität und praktische Unterstützung zu gewähren, damit sie das reaktionäre Regime der Taliban stürzen können. Für eine solche Unterstützung ist es notwendig, die Grenzen nicht zu verstärken, sondern abzubauen. Das liegt auch im Interesse der werktätigen Massen in allen Nachbarländern Afghanistans. Der Schlachtruf für die Verwirklichung dieser permanenten Revolution wird lauten: „Sagt es laut, sagt es deutlich, alle Afghan:innen sind hier willkommen“. Die folgenden Forderungen können einen Ausgangspunkt für ein Aktionsprogramm zur Überwindung der gegenwärtigen Situation bilden:

  • Afghan:innen müssen in jedem Land, in dem sie sich aufhalten, die gleichen Bürger:innenrechte erhalten! Nein zur Diskriminierung von Flüchtlingen, die durch imperialistischen Krieg, Hunger und Talibanherrschaft vertrieben wurden!

  • Die europäischen und nordamerikanischen imperialistischen Zentren, die jahrzehntelang direkt in den Krieg in Afghanistan verwickelt waren, haben das Leben und die Infrastruktur in Afghanistan massiv zerstört. Sie müssen jetzt Reparationen zahlen, um das Land wieder aufzubauen!

  • Die imperialistischen Mächte müssen allen Afghan:innen, die in der ganzen Welt vertrieben wurden, sofort die Staatsbürger:innenschaft und gleiche Rechte gewähren! Sie haben es nicht verdient, ein Leben im Elend in halbkolonialen Slums zu führen, nachdem sie durch Kriege vertrieben wurden, die diese Mächte selbst verursacht und von denen sie profitiert haben!

  • Die imperialistischen Mächte, die die afghanischen Reserven eingefroren haben, sind direkt für das Aushungern der afghanischen Massen verantwortlich. Gebt die Reserven der afghanischen Zentralbank jetzt frei!

  • Verschuldung ist eine koloniale Falle. Streicht die Schulden von Afghanistan, Pakistan und allen halbkolonialen Ländern jetzt!