Sport: zum Beispiel Beckenbauer

Bruno Tesch, Infomail 1241, 9. August 2023

Die Todesnachricht von Franz Beckenbauer verdrängte am 8. Januar 2024 die brisanten politischen Schlagzeilen der Treckerblockaden unerwartet vom Nachrichtenplatz eins. Vor 15 Jahren kannte ihn noch jedes Kind. Inzwischen war seine Jahrzehnte währende mediale Präsenz jäh abgestürzt.

Im Rahmen des Untersuchungsberichts seiner Antikorruptionskommission tauchten Vorwürfe gegen den Deutschen Fußballbund (DFB) über Schmiergeldzahlungen bei Stimmenkauf für die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 auf. In diesem Zusammenhang schlugen die Vorwürfe gegen den „Kaiser“ wie eine Bombe ein. Der Name Beckenbauers, bislang ein begehrter Werbeträger, verlor seinen Glanz ebenso wie seine Reputation als maßgeblicher DFB-Repräsentant. Er war damals Inbegriff eines unverzichtbaren Zugpferdes des Sports, seine Autorität und Weltgeltung als Sportpersönlichkeit bildeten eine scheinbar sichere Erfolgsgarantie.

V. a. die Sensationspresse hatte ihn zur Ikone hochgeschrieben und jedes seiner Worte als bedeutendes Statement gefeiert. Gelegentliche Kritik aus liberaleren Medien, z. B. an seiner Leugnung von sklavenähnlichen Ausbeutungsverhältnissen bei den Bauten für die Weltmeisterschaft in Katar, konnte ihm noch 2013 nichts wirklich anhaben.

In den letzten zehn Jahren aber wandte sich die Medienwelt brüsk von ihm ab. Vorwürfe der Steuerhinterziehung, Millionenbeträge für ein Ehrenamt kassiert zu haben, standen im Raum. Er, der das Wort eigene Fehler sonst nicht kannte, gestand Verfehlungen nunmehr ein. Die Angriffe gegen ihn konnte er nicht verkraften. Er zog sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurück und erkrankte in den letzten Lebensjahren. Die „Lichtgestalt des deutschen Fußballs“ trat in den Schatten.

Die Karriere des Franz Beckenbauer weist in seinen Stationen jedoch über ein sportliches Einzelschicksal hinaus und vollzog sich vor dem Hintergrund einer Entwicklung, die namentlich den deutschen Fußballsport kennzeichnete.

Groß geworden in den 1950er und frühen 1960er Jahren in eher proletarischem Milieu erlebte er seinen Aufstieg in einer Zeit des Umbruchs. Der DFB vollzog mit der Einführung einer zentralen obersten Spielklasse, der Bundesliga, 1963 einen längst überfälligen Schritt hinaus aus der provinziellen Enge eines föderal verschachtelten Systems. Dies geschah mit der vordergründigen Absicht, im sportlichen Konkurrenzkampf auf internationaler Ebene nicht zurückzufallen. Diese Maßnahme bewirkte sportpolitisch jedoch auch eine Einschränkung der Verbandshoheit und v. a. stellte sie neuen Hierarchien und Eigenständigkeit auf Vereinsebene die Weichen.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Statuten über Spielergehälter und Geschäftsgrundlagen von Vereinen aufweichten. Einem dieser Vereine gehörte auch Franz Beckenbauer an, der als knapp 20-Jähriger mit Bayern München in die Bundesliga einzog. Schnell machte sich bezahlt, einen Klub im Rücken zu haben, der seinen Spielern die besten Annehmlichkeiten in Form von Übungsstätten, sportlicher und medizinischer Betreuung bieten konnte. Franz Beckenbauer trug bald nicht nur den Bayerndress, sondern auch das Trikot der BRD-Auswahl, die er als Kapitän später zu Weltmeisterehren  anführen sollte.

1974 war bereits das Trikotwerbeverbot für Fußballvereine und damit ein weiterer Dominostein auf dem Wege der Durchkapitalisierung des deutschen Fußballs gefallen.

Längst konnten die Vereine ihre Unkosten nicht mehr durch den Erlös aus Stadioneintrittsgeldern für die Spielrunden oder Zuwendungen wohlwollender Mäzen:innen decken, sie mussten andere Einnahmequellen anzapfen. Zunächst wich man auf den Verkauf von Fan-Artikeln aus, doch dies erforderte auch einen erhöhten Personalaufwand.

Feste Werbeverträge mit potenten Geschäftspartner:innen waren gefragt. Neben den Vereinen konnten auch Aktive, falls sie denn sportliche Erfolge und Repräsentanz vorzuweisen hatten, sich auf die Art existenziell arrondieren. Franz Beckenbauer durch Vereinsmeister- und DFB-Auswahltitel war prädestiniert für diese Rolle. Er wäre wahrscheinlich auch Weltfußballer geworden, wenn es diese Auszeichnung denn zu seiner Aktivenzeit bereits gegeben hätte. Im Laufe seiner Karriere generierte er mehr Einnahmen als jeder andere deutsche Fußballer.

Nach dem Ende seiner spielerischen Laufbahn war er eher begleitend tätig und bewegte sich bald in den einflussreichen Kreisen der Arrivierten, auch des Fußballweltverbandes FIFA. Franz Beckenbauer hatte es nicht nötig, sich bspw. im Trainergeschäft zu verbrennen, und dennoch, als die Weltmeisterschaft 1990 anstand, schuf der DFB ihm, der längst nur noch mit dem Beinamen „Kaiser“ apostrophiert wurde, eigens einen in der DFB-Satzung nicht vorgesehenen Posten als „Teamchef“. Er wurde als Macher des Titelgewinns gefeiert, ebenso wie ihm später zugeschrieben wurde, die Weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland geholt zu haben.

Beckenbauer signalisierte auch den Umbruch in der öffentlichen Wahrnehmung einer Sportart. Gegründet als Mannschaftssport, der ihm weltweit den proletarischen Massenanhang beschert hat, klafft eine immer größere Dimension zwischen dem Schein des Identifikationsanreizes, dem Zusammenhalt, der Solidarität im Verein, in einer Mann-/Frauschaft und dem Starkult um Einzelpersonen, der ein völlig anderes, aber gleichermaßen Trugbild im Spitzensport vermittelt.

Franz Beckenbauer betrieb zum Schluss mit Vorliebe einen der Nähe zum Proletariat gänzlich unverdächtigen Einzelsport – Golf. Symbolisch steht dies für seinen Werdegang. Als Sohn eines mittleren Postbeamten schaffte er den Aufstieg und den damit verbundenen Ausstieg aus der Lohnarbeiter:innenklasse zum mehrfachen Millionär, zur Lichtgestalt des deutschen Fußballs – ein Aufstiegsversprechen, das heute mehr und mehr abgenützt ist und gerade deshalb täglich anhand kleiner Beckenbauers bei Sport und Spielen wiederholt wird. Noch als Kaiser war Beckenbauer zugleich seine eigene Kopie, Lichtgestalt und deren unfreiwillige Parodie zugleich. Doch trug er als Kunstfigur noch einen gewissen Schein der Einzigartigkeit mit sich. Heute sind die Idole längst zur Massenware geworden. Ihre inszenierte Individualität ist letztlich nur die Erscheinungsform des Immergleichen. Angesichts der immer größer geworden kommerziellen Sportmaschinerie erscheint der verstorbene Beckenbauer, der lange als ihr Vorreiter galt, wie aus der Zeit gefallen, ein bloß noch nostalgisches Überbleibsel einer vergangenen Periode.




Katar: Politikum Fußballweltmeisterschaft

Bruno Tesch, Neue International 269, November 2022

Die Sportart Fußball genießt einen hohen Aufmerksamkeitsgrad. Die vom 20. November bis 18. Dezember 2022 in Katar stattfindende Weltmeisterschaft männlicher Teilnehmer erhitzt nicht nur die Gemüter der milliardenfachen Fangemeinde, sondern sorgt sogar für politischen Gesprächsstoff.

Fouls

Die Vita dieses Massenphänomens ist durchzogen von zahllosen sportlichen Höhepunkten, jedoch auch von den Niederungen der Gesellschaftsordnung, in der es entstanden ist. Die Bandbreite der hässlichen Begleiterscheinungen erstreckt sich von Homophobie, Frauenunterdrückung (z. B. Verbot weiblicher Fußballvereine seitens des DFB von 1955 – 1970), sexuellem Missbrauch über Rassismus, Chauvinismus bis hin zu offenen Gewaltausbrüchen wie jüngst in Indonesien. Korruptionsaffären, die Herausbildung einer Sportwetten- und Spielervermittlungsmafia gehören ebenso zum Alltagsbild dieses Showgeschäfts.

Dies sind jedoch keine Auswüchse, die mittelfristig zu beseitigen wären und den Organismus des Sports gesunden lassen könnten. Nein, das Krebsgeschwür des Kapitalismus hat sich längst tief in den Körper hineingefressen.

Von Beginn an, seit Ende des 19. Jahrhunderts, als der Fußball in Großbritannien professionalisiert wurde, erhob sich bereits die Klassenfrage in dieser Sportart. Sie fand rasch Massenanhang im Proletariat als Akteure auf dem Spielfeld und den Zuschauer:innenrängen. Die Geschäftsführung in Vereinen und überörtlichen Verbänden lag jedoch stets in bürgerlichen Händen.

Die Arbeiter:innensportbewegung, v. a. in Deutschland, durchbrach kurzzeitig die bourgeoise Dominanz, baute u. a. einen eigenen Spielbetrieb auf und setzte dem reaktionären Boykott gegen die junge Sowjetunion, der sich auch im Sport manifestierte, eine tätige Solidarität entgegen. Der Faschismus zerschlug auch die Arbeiter:innensportvereine. Nach dem 2. Weltkrieg kapitulierten die reformistischen Arbeiterverräter:innen wieder und überließen dem Klassenfeind einen durch und durch verbürgerlichten Sportbetrieb.

FIFA

Auf Landesebene konstituierte sich 1900 in Leipzig mit dem Deutschen Fußballbund (DFB) ein (einfluss)reicher Sportverband. Er ist der größte auf der Welt und mit weiteren 210 nationalen Verbänden Mitglied der FIFA (Féderation Internationale de Football). Dieses Konstrukt ist in der Schweiz als steuerbegünstigter gemeinnütziger Verein eingetragen und übt die Aufsichtsfunktion über den Fußball in all seinen Belangen aus.

Die nationalen Organisationen treten auf einem Kongress zusammen, entscheiden über statuarische Fragen und wählen den FIFA-Präsidenten. Da jedes Mitgliedsland eine gleichberechtigte Stimme hat, scheint dies bürgerlich-demokratischen Kriterien zu genügen. Doch der Präsident hatte bis 2016 weitreichende Machtbefugnisse und Managementkompetenzen. Trotz Reformen und Verlagerung des operativen Geschäfts auf den Generalsekretär hat sich nicht wirklich etwas geändert.

Die FIFA unterhält nach wie vor ein undurchsichtiges Gestrüpp von Subunternehmen, Beraterverträgen und Anwaltskanzleien und agiert wie ein kapitalistisches Großunternehmen. Das System von Löhnen, Aufwandsentschädigungen und Boni etwa in Höhe von 100 Millionen US-Dollar sowie der Finanzfluss an Einzelmitglieder im Vorfeld von Abstimmungen ähnelt einer verschlossenen Auster (Quelle: https://netzwerkrecherche.org/stipendien-preise/verschlossene-auster/verschlossene-auster-2012-fuer-die-fifa/). Dieses Geschäftsgebaren rief 2015 und 2016 sogar die schweizerische Bundesstaatsanwaltschaft auf den Plan, die das FIFA-Hauptquartier durchsuchte, letztlich jedoch ohne bindende strafrechtliche Konsequenzen.

Ihren Umsatz, allein 2021 waren dies rund 766 Millionen US-Dollar (Quelle:  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160262/umfrage/ertraege-der-fifa/), generiert die FIFA zur Hauptsache durch Verkäufe von Medienübertragungs- und Marketingrechten: Verantworten muss sich die Organisation praktisch nur gegenüber ihren Sponsor:innen und großen Konzernen. Letztere können sogar den (zeitweiligen) Ausschluss oder Sanktionen für nationale Verbände erwirken, wenn nicht die genehmigte Sportkleidung oder entsprechende Logos getragen werden. So wurden Kamerun 2004 während der WM-Qualifikation im Zuge des berühmten Trikotstreits zwischen Adidas und Puma 6 Punkte abgezogen (Quelle: https://www.spiegel.de/sport/fussball/trikotstreit-kamerun-fordert-die-fifa-heraus-a-300077.html).

Weiterhin gehören zu den Aufgaben der FIFA auch die Vergabe und Oberaufsicht von Fußballweltmeisterschaften. Für 2022 fiel die Wahl auf Katar.

Katar

Katar, als koloniales Erbe des britischen Imperialismus erst vor 50 Jahren in die Unabhängigkeit entlassen, ist als Staat nur überlebensfähig durch große Vorkommen von fossilen Energieträgern wie Erdöl und Erdgas. Es ist weltweit für den höchsten CO2-Ausstoß pro Kopf verantwortlich und trägt damit zur globalen Erderwärmung bei. Die Rohstoffe, Lieferung petrochemischer Produkte (Düngemittel) sowie die Anbindung an den US-Imperialismus durch den Sitz des Hauptquartiers der US-Truppen im Nahen Osten machen Katar zu einem unverzichtbaren Anlauf- und Stützpunkt für die US-Außenpolitik. Atmosphärische Störungen wegen Vorwürfen der Unterstützung von Terrorismus, wie unter Trump geäußert, wurden von der Biden-Administration wieder beigelegt.

Regiert wird die Halbinsel am Persischen Golf ohne Wahlen und Parteien von einer islamischen Scheichdynastie, die nur etwa 10 % der Bevölkerung repräsentiert. Diese Elite verfügt über 90 % des Einkommens. Den Hauptanteil an Lohnabhängigen stellen Arbeitsmigrant:innen aus Ländern Süd- und Südostasiens dar, denen Rechte wie Gewerkschaftsgründung oder Streiks versagt werden. Frauen ist der freie Arbeitsmarkt kaum zugänglich. Sie sind durch die herrschende Scharia rechtlich am stärksten benachteiligt.

Durch die Stadien- und Unterkunftsbauten für die Weltmeisterschaft, die praktisch alle neu aus dem Boden gestampft werden mussten, stieg der Bedarf an Arbeitskräften zusätzlich. Dies führte dazu, dass in den letzten 10 Jahren der vermehrten Bautätigkeit viele Arbeitsmigrant:innen aus Südasien nach dem sogenannten Kefala-System angeheuert wurden. Dieses beinhaltet, dass jede(r) ausländische Beschäftigte eine/n einheimische/n Bürg:in benötigt – in der Regel handelt es sich dabei um den/die (Sub-)Unternehmer:in. Meist werden hier sämtliche Arbeitsrechte und -schutzbestimmungen missachtet. Viele Arbeiter:innen mussten ihre Pässe abgeben. Ihnen wurden teilweise monatelang Lohnzahlungen vorenthalten. Etliche verunglückten auf den Baustellen und über 6.500 mussten ihren Einsatz gar mit dem Leben bezahlen (Quelle: https://www.tagesschau.de/ausland/fifa-wm-katar-menschenrechtsverstoesse-101.html). Die Angehörigen der Opfer bekamen oft erst nach internationalen Protesten almosenhafte Entschädigungen.

Kritik

Bereits mit Bekanntgabe der Vergabe der Weltmeisterschaft an Katar regte sich Kritik, die sich mit Herannahen des Ereignisses noch deutlich verstärkt hat. Die bürgerlich-liberale Tonart hob zumeist das Prozedere hervor, die offensichtlich erkaufte Entscheidung, die zum Zuschlag an einen Staat geführt habe, der sowohl sachlich (fußballerisch nicht verankert) wie politisch (Menschenrechte nicht beachtend) nicht auf die Werteagenda der nördlichen Halbkugel gehöre. In der Empörung dieser Kommentator:innen schwingt eine gehörige Prise Selbstgerechtigkeit und auch rassistischer Unterton („Fußballentwicklungsland“) mit. Dieselben Figuren, die die Entscheidung aus diesem Blickwinkel verdammen, vollführen einen „Salto mor(t)ale“; sie haben anscheinend vergessen, dass auch das deutsche „Sommermärchen“ von 2006 nur durch Schmiergelder ergaunert worden ist. Zudem akzeptieren sie den Deal der deutschen Regierung zum Erdgasimport mit Katar wiederum als realpolitisch gerechtfertigt, das Wort „Menschenrechte“ darf dann beiläufig erwähnt werden.

Auch vorgeblich linke Vorschläge zum Protest gegen diese „WM der Schande“ bleiben hilflos bzw. bestenfalls in kleinbürgerlichem Aktionismus stecken. Appelle an Sendeanstalten, die Spiele nicht zu übertragen, verhallen ungehört. Die Weigerung von Gastwirtschaften, während der Weltmeisterschaften für ihre Gäste Fernsehapparate einzuschalten, kann auf der Ebene eines individuellen Boykotts nur eine wirkungslose Geste bedeuten.

Viel zur kurz greift auch eine bürgerliche Parole, welche fordert „Fußball ja – Ausbeutung nein“, reißt sie doch einen Zusammenhang auseinander, den der moderne Profifußball mit seinen Ingredienzien Menschenhandel und Sportinvaliditätsrisiko längst hergestellt hat.

Was also tun?

Eine fortschrittliche Kritik muss unmittelbar an den Zuständen ansetzen, denen die Arbeiter:innen in Katar ausgesetzt sind:

  • Zerschlagung des Kefala-Systems

  • Entschädigungslose Enteignung aller Firmen, die dieses angewendet haben oder weiter anwenden

  • Angleichung der Mindestlöhne an internationale Standards und die aktuelle Inflationsrate

  • Entschädigung für die Angehörigen der Verunglückten aus den Taschen der reichen Elite, der Ausbeuter:innenfirmen und den Fonds der FIFA

  • Volle gewerkschaftliche und arbeitsrechtliche Standards für Arbeiter:innen in Katar und in den übrigen Anrainerstaaten

  • Volle unbeschränkte Aufenthalts- und Staatsbürger:innenrechte für Arbeitsmigrant:innen einschließlich Zuzug ihrer Familien

  • Gewerkschaftlich organisierte Kampfmaßnahmen z. B. in Form von Arbeiter:innenstreiks, um drohende Spielausfälle zur Durchsetzung ihrer Forderungen zu nutzen. Solche Maßnahmen könnten durch Boykott der Spiele bspw. durch Techniker:innen und Kameraleute von Sendeanstalten verstärkt werden. Diesen könnten sich Fanprojekte im Rahmen einer internationalen Solidaritätskampagne mit den Beschäftigten in Katar anschließen.



„Neutrale“ UEFA verbietet Regenbogenfarben

Susanne Kühn, Infomail 1153, 22. Juni 2021

Doppelmoral und Doppelbödigkeit dürfen in der Welt des Profifußballs offenbar nicht fehlen. Den jüngsten Akt in diesem Kapitel schrieb die Union der Europäischen Fußballverbände (UEFA) jüngst im Rahmen der EM.

Beim Spiel zwischen Deutschland und Ungarn darf die Münchner Allianz-Arena nicht in den Regenbogenfarben beleuchtet werden. Wörtlich heißt es: „Angesichts des politischen Kontextes dieses speziellen Antrags – eine Botschaft, die auf eine Entscheidung des ungarischen nationalen Parlaments abzielt – muss die UEFA diesen Antrag ablehnen.“

Schließlich, so der Verband weiter, sei man „politisch und religiös neutral“. Die Herren – Frauen sind in den Entscheidungsgremien der UEFA praktisch nicht vertreten – halten das vielleicht sogar für eine Art Entschuldigung. Jedoch, die „Überparteilichkeit“ der UEFA erweist sich als Unterstützung für die rechte Orbán-Regierung. Selbst symbolische Kritik an der extrem homophoben Gesetzgebung des ungarischen Parlaments und der Regierung wird auf ihr Geheiß unterbunden.

Das reaktionäre Gesetz

Dabei hat es das am 15. Juni gebilligte Gesetz gegen sog. Homosexuellenpropaganda in sich. Filme, Bücher sowie andere Medien und Darstellungen dürfen Minderjährigen grundsätzlich nicht mehr zugänglich gemacht werden. Dies umfasst nicht nur  Darstellungen in öffentlichen und privaten Medien, sondern im Grunde auch in Bibliotheken. Darüber hinaus wird Aufklärung im Schulunterricht tendenziell illegalisiert. Vorträge zu den Themen Homosexualität und Geschlechtsumwandlungen dürfen in Zukunft nur noch von Organisationen gehalten werden, die von der Regierung ausgewählt werden.

Das Werbeverbot gegen Homosexualität und Geschlechtsumwandlungen ist im Gesetz außerdem so weit gefasst, dass theoretisch selbst das Tragen der Regenbogenfahne als „Werbung“ interpretiert und bestraft werden kann. Schließlich werden bewusst Strafverschärfungen für Pädophilie, Kinderschutz und ein Verbot der Propagierung von Homosexualität bei Minderjährigen vermengt, um so dem Ganzen den Anstrich eines vorgeblichen Kinder- und Jugendschutzes zu verleihen.

Schöne Fußballwelt?

Die Einheit der schönen heilen Fußballwelt geht den geschäftstüchtigen Bossen des europäischen Profi(t)fußballs offenkundig über alles. Da passt selbst eine Geste der Stadt München nicht ins Bild. Da wird schon eine Kapitänsbinde in Regenbogenfarben, wie sie der Torwart Neuer trägt, zu einer umstrittenen Sache und Anlass für Ermittlungen.

Die Entscheidung der UEFA wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf den Profisport im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen. Schließlich sind Homophobie, Rassismus oder Sexismus leider keine Besonderheit, sondern gehören zum Sport- und Stadionalltag. Ein Coming Out stellt bis heute für viele homosexuelle SportlerInnen, ob Profis oder AmateurInnen, einen angstbesetzten Schritt oder gar einen Spießrutenlauf dar – und zwar nicht nur in Ungarn.

Dass sich viele Spieler des EM-Teams, Spielerinnen des Frauen-Nationalteams, Profis anderer Länder oder KommentatorInnen gegen Homophobie (und auch gegen Rassismus und Sexismus) positionieren wollen, bedeutet zweifellos einen Fortschritt gegenüber den gar nicht allzu lange zurückliegenden Zeiten, als das Thema Homosexualität im Sport vollkommen tabuisiert und unter den Teppich gekehrt wurde.

Da der Fußball wie jede große Sportart vor allem ein gigantisches Milliardengeschäft mit astronomischen Werbeeinnahmen ist, sind auch viele KritikerInnen der UEFA-Entscheidung nicht frei von Doppelmoral, zumal wenn sie aus der Sportwelt, Vereinsvorständen oder gar dem Sponsoring kommen.

So schön ein Beleuchten deutscher Stadien in den Regenbogenfarben auch sein mag, allzu weit über Symbolik hinaus soll der Protest gegen rechte Politik, Homo- und Transphobie, Sexismus und Rassismus nun auch nicht gehen. Schließlich folgt auf die EM die WM 2022 – in Katar. Dort sitzen nicht nur reaktionäre, despotische Machthaber, dort werden nicht nur Frauen, Schwule, Lesben, Transpersonen brutal unterdrückt. In dem Land sitzen auch einige der wichtigsten SponsorInnen und EigentümerInnen des europäischen Vereinsfußballs. Vor allem aber, die WM will sich auch kaum eine/r der Orbán-KritikerInnen entgehen lassen. 2022 will keiner von den verantwortlichen Fußballbossen, keine TV-Anstalt, aber auch keiner der Profis fehlen. Von einer Absage der WM, von einem Boykott mag niemand etwas wissen, auch wenn alle Stadien durch moderne Sklavenarbeit erbaut wurden.

Fans und Vereinsmitglieder

Wenn wir Homophobie, Sexismus Rassismus, Überausbeutung beim Stadienbau und andere Erscheinungen des modernen Profisports wirklich bekämpfen wollen, so dürfen wir uns dabei nicht auf jene verlassen, die gegen Homophobie und andere reaktionäre Verhaltensweisen nur solange einschreiten, als es ihre Geschäftsinteressen nicht schädigt. D. h. wir müssen jene gegen Diskriminierung, Rassismus, Sexismus und Ausbeutung beim Bau von Sportanlagen organisieren, die keine Geschäfts- und Gewinnabsicht mit dem Sport verfolgen – die Millionen lohnabhängiger Fans und Vereinsmitglieder. Natürlich finden sich auch bei diesen oft reaktionäre Ideen, gegen die linke und fortschrittliche Fans organisiert, aufklärend und offensiv angehen müssen. Aber im Unterschied zu Vereinsbossen und anderen, die beim Milliardengeschäft Profifußball mit absahnen, hat diese Masse kein materielles Interesse an der Aufrechterhaltung einer Profitmacherei, die untrennbar mit Ausbeutung, Unterdrückung und Doppelmoral verbunden ist.




Der „Fall Özil“ ist ein Fall von Rassismus

Martin Suchanek, Infomail 1013, 24. Juli 2018

Verlogenheit und Chauvinismus liegen offenkundig eng beisammen. Selten hat eine politische Geste von Fußballspielern für solche Aufregung und Entrüstung gesorgt wie der Fototermin von Özil und Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Natürlich war das ein reaktionäres politisches Statement.

Inmitten der illustren Welt des Fußballs wie überhaupt im Profisport ist das jedoch die Regel und nicht die Ausnahme. Wer weiß überhaupt, wie vielen Potentaten der deutsche „Fußballkaiser“ Beckenbauer die Hand gereicht hat? Anstoß daran hat niemand genommen – schließlich war „der Franz“ immer in deutscher Mission unterwegs, um für sein Land (und natürlich auch für sich selbst) das Beste rauszuholen.

Die Gesprächs- und Fototermine von einstigen Sportgrößen wie dem „Ehrenspielführer“ der Nationalmannschaft, Lothar Matthäus, mit lupenreinen Demokraten wie Putin hat die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen.

Ganz anders beim Foto von Özil und Gündogan. Hier zeigte die deutsche Demokratie ihre Entrüstung. Das Abendland ging zwar nicht unter. Özil wurde jedoch nicht nur zu einem Sündenbock für das verdiente Ausscheiden der Nationalmannschaft. Nicht am schlechten Spiel, am mangelnden Patriotismus und „Durchgreifen“ der Mannschaftsführung wegen des Interviews hätte es gelegen.

Die AfD sieht darin ganz im Sinne ihrer zunehmend völkisch-nationalistischen Ausrichtung den Beweis dafür, dass Integration selbst im Fußball nicht funktionieren könne. Wenn schon Millionäre, so die Logik der Rechten, keine „echten Deutschen“ werden könnten, müsse die Überwindung nationaler Gegensätze unter der Masse der Bevölkerung erst recht unmöglich sein.

Der Mainstream der bürgerlichen Politik will von diesen ultra-reaktionären Schlussfolgerungen zwar nichts wissen – Ausdruck des gesellschaftlichen und politischen Rechtsrucks wie des wachsenden staatlichen Rassismus soll die Anmache von Özil freilich auch nicht sein.

Vielmehr habe es am „schlechten Krisenmanagement“ von DFB-Präsident und CDU-Rechtsaußen Reinhard Grindel gelegen, der unsere „Integrationsbemühungen“ um Jahre zurückgeworfen hätte. Natürlich haben Grindel und auch der DFB-Sportdirektor Bierhoff Özil nach den verlogenen rassistischen Vorwürfen wegen seines Termins mit Erdogan im Stich gelassen.

Die „Integrationsbemühungen“ des deutschen Kapitalismus haben sie jedoch schlecht zunichtemachen können. Vielmehr geht die Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft im deutschen (und generell im marktwirtschaftlichen) Modell mit der systematischen nationalistischen und rassistischen Spaltung einher. Wirkliche, gesellschaftliche Gleichheit ist nicht vorgesehen und auch nicht Ziel der bürgerlichen Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Gesellschaftspolitik. Eine gemäß den Erfordernissen der Kapitalverwertung kontrollierte „Einwanderungspolitik“, wie sie sich Bundesregierung, Kapital und auch der größte Teil der parlamentarischen Opposition auf die Fahnen schreiben, sieht nicht den freien Zuzug, Gleichbehandlung und Integration vor, sondern fortgesetzte nationale oder rassistische Einteilung der Arbeitskräfte. Werden diese nicht mehr gebraucht, sollen sie auch wieder „abgebaut“, also zwangsweise in ihre „Heimat“ zurückgeschickt werden können. Diejenigen, die trotz Diskriminierung bleiben, werden weiter als „AusländerInnen“ behandelt. Gerade die rassistische Aufteilung des Arbeitsmarktes und dessen Reproduktion ist für die Ausbeutung und Spaltung der Lohnabhängigen funktional.

Abbild des Rechtsrucks

In den letzten Jahren haben wir zudem einen massiven Rechtsruck erlebt, der die Spaltung zwischen MigrantInnen und „Einheimischen“ verschärft. Die Flüchtlingspolitik der EU beschließt von Gipfel zu Gipfel neue barbarische Maßnahmen zur Sicherung der Festung Europa. Nicht Erdogan oder Putin, sondern die „demokratische“ EU und ihre nationalistischen ScharfmacherInnen machen das Mittelmeer zum Massengrab.

Geraden wenn Menschen Özil zu Recht seine politische Unterstützung Erdogans vorwerfen, so müssen sie sich auch die Frage stellen, warum sich niemand über Fototermine mit Söder oder Seehofer entrüstet? Warum ist der politische Schulterschluss mit dem Autokraten einer Regionalmacht wie der Türkei so viel verwerflicher als eine Einladung an Rassisten wie Kurz oder Salvini? Warum gilt ein Fototermin mit Merkel und Steinmeier, immerhin Kanzlerin und Präsident der wichtigsten imperialistischen Macht in der EU, nicht als kritikwürdig? Ganz einfach. Weil es vom deutschen nationalistischen Standpunkt aus als ganz normal, ja als Zeichen „gelungener Integration“ erscheint, auf Du und Du mit der Kanzlerin zu stehen.

In einem rassistisch geprägten, imperialistischen Land stehen Menschen mit „Migrationshintergrund“ permanent unter dem Verdacht, keine „echten“ Deutschen zu sein – auch wenn sie sich „Verdienste um das Land“ erworben, es also scheinbar „geschafft“ haben. Die spezifisch deutsche Ausprägung des Nationsbegriffs, diesen aus einer mehr oder minder mythologisierten gemeinsamen „Abstimmung“ herzuleiten, verschärft diese allen imperialistischen Staaten innewohnende Tendenz noch weiter.

Auch wenn Rassismus vor allem die ArbeiterInnen und Armen trifft, so zeigt das Beispiel Özil auch, dass auch Millionäre davon nicht ausgenommen sind. Hinzu kommt die veränderte gesellschaftliche Situation.

Özil traf sich bekanntlich schon Anfang des Jahrzehnts einige Male mit Erdogan. Das kümmerte damals aber nur wenige. Bei der Fußball-WM 2014 wurde er als Musterbeispiel gelungener Integration präsentiert, was sicherlich durch sein politisches Nahverhältnis zu Angela Merkel und zum Konservativismus erleichtert wurde.

Nun trifft ihn, was viele schwarze oder migrantische SportlerInnen immer wieder erleben mussten und bis heute erleben müssen. Mögen sie bei Siegen umjubelt und gefeiert werden, so sind sie bei Niederlagen rasch Zielscheibe rassistischer Schmähungen und Hetze. Üblicherweise wird das von SportfunktionärInnen als Problem „rabiater“, meist aus den „Unterschichten“ kommender Fans dargestellt. Die aktuelle Diskussion enthüllt jedoch, dass Rassismus im Fußball oder generell im Sport keineswegs nur ein Problem der Masse der zahlenden Fans, sondern vor allem auch der kassierenden FunktionärInnen und der bürgerlichen Öffentlichkeit ist.

2014, als Deutschland Fußballweltmeister wurde, präsentierte sich nicht nur die Nationalmannschaft, sondern auch der deutsche Imperialismus als „weltoffen“, als Exportnation, die mit allen und jedem ins Geschäft kommen will. Daher versuchten die Sportfunktionäre auch, allzu offene Häme gegenüber der geschlagenen Gegnern Brasilien und Argentinien zu unterbinden. Deutschland versuchte, sich als „fairer Sieger“ zu präsentierten.

Nun fällt Fairness SiegerInnen immer leichter als VerliererInnen. Die rassistischen Ressentiments und die Verlogenheit, die in den letzten Wochen an die Oberfläche drangen, haben jedoch letztlich mit dem Sport als solchem nichts zu tun. Sie verdeutlichen vielmehr eine veränderte gesellschaftliche Situation. Die AfD feuert eine rassistische Hassbotschaft nach der anderen ab. Sie nimmt Özil ins Visier und meint ganz unverhohlen alle TürkInnen, ja alle MigrantInnen und Geflüchteten. Sportfunktionäre wie der unvermeidliche Uli Höneß freuen sich darüber, dass der „Spuk“ Özil jetzt vorbei sei, und stützen die Rechten.

Die bürgerliche Mitte setzt dem eine Mischung aus Entrüstung, Allerweltsweisheiten und Doppelmoral entgegen. Sie beschwört die „Integration“ und Weltoffenheit – und beschönigt zugleich jene Verhältnisse, die sie tagtäglich mit Füßen tritt.

Kein Wunder, dass sie unfähig ist, auch nur eine einfache Wahrheit auszusprechen: Der „Fall Özil“ ist kein „Fall Özil“. Es ist Rassismus.