Neue DGB-Vorsitzende: Aufbruch in eine neue Zukunft?

Helga Müller, Infomail 1188, 17. Mai 2022

Yasmin Fahimi, SPD-Mitglied, Bundestagsabgeordnete und Partnerin des Vorsitzenden der sozialpartnerschaftlich orientierten IG BCE, Vassiliadis, wird auf dem DGB Kongress in Berlin mit überwältigender Mehrheit als Nachfolgerin von Rainer Hoffmann gewählt. Zum ersten Mal steht eine Frau an der Spitze des DGB. Schon wird das als Meilenstein in der Gewerkschafts-Historie bezeichnet, gar als Aufbruch zu einem moderneren Erscheinungsbildes gefeiert, auch, um dem zunehmenden Mitgliederschwund entgegenzuwirken.

In ihrer Rede nennt sie als einen ihrer Schwerpunkte die Gleichstellung von Frauen und anderen aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung diskriminierten Menschen. Auch wolle sie die neue Ampelregierung unter Kanzler Olaf Scholz, ihrem Parteifreund, „kritisch“ begleiten. In ihrer Antrittsrede fordert sie neben der Frage der Gleichberechtigung, die Schuldenbremse, die Finanzminister Lindner spätestens 2023 wieder wirken lassen will, nicht wieder einzuführen und mehr soziale Rechte.

Doch ob sie eine wirkliche Opposition gegen die Ampelregierung anführen wird, darf man getrost in Frage stellen. Schon die Aufstellung der Kandidat:innen für die Wahl des neuen Vorsitz selbst – nachdem sowohl ver.di Chef Wernecke als auch IG BCE Chef Vassiliadis die Nominierung im Vorfeld ablehnten oder nicht mehr kandidieren sollten – spielte sich im Rahmen der alten Sozialpartnerschaftspolitik der Führung der DGB-Gewerkschaften ab.

Natürlich war Fahimi wie alle bisherigen DGB-Vorsitzenden eine „Kompromisskandidatin“. Das kann aber in einem DGB, dessen Politik, Linie und Führungspersonal selbst nur Ausdruck eines Übereinkommens zwischen den Bürokratien der großen Einzelgewerkschaften sind, auch gar nicht anders sein. Die Machtzentrale der deutschen Gewerkschaftsbewegung bilden schließlich nicht die DGB-Führung, sondern die Vorstände und Apparate von IG Metall, ver.di und IG BCE sowie der wichtigsten Betriebsräte in den Großkonzernen.

Dem entspricht auch eine „Demokratie“, die auf einen Formalismus reduziert ist, bei der die Masse der Gewerkschaftsmitglieder nicht mitzureden hat. Die Auswahl der Kandidat:innen findet statt, ohne dass die Gewerkschaftsmitglieder auch nur befragt würden. Die Delegierten zum DGB-Kongress, selbst schon von der Masse der einfachen Mitglieder weit entfernt, dürfen schließlich die Kandidatin formal bestätigen, damit auch alles sein statuarische Ordnung hat.

Reaktionen

Mit ihrer Wahl sind, wie zu erwarten war, nicht nur die Führungen der Einzelgewerkschaften hochzufrieden. Auch die Reaktionen einiger SPD-Politiker:innen verdeutlichen wie nahe sich SPD- und DGB-Spitze sind. So meinte die SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, dass sie sich „auf die Fortsetzung der guten Zusammenarbeit“ freue (zitiert nach sueddeutsche.de, 9.5.2022). Ähnlich äußerte sich der SPD-Ministerpräsident vom VW-Land Niedersachsen, Stephan Weil.

Die Aussage, dem Aufrüstungsprogramm der neuen Bundesregierung „kritisch“ gegenüberzustehen, ist nicht mehr als ein unverbindliches Lippenbekenntnis, um den „linken“ Apparat zufriedenzustellen und zugleich der Regierung zu signalisieren, dass daraus nichts folgt. Die Zustimmung der neuen Vorsitzenden zu Waffenlieferungen – auch von schweren Waffen – in die Ukraine bezeugt hingegen, dass sich unter Fahimi kein Kurswechsel oer gar Kampf gegen die kommenden Angriffe auf die sozialen und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innenschaft, Rentner:innen, Jugendlichen und Geflüchteten anbahnt.

Das Gegenteil ist zu erwarten. Beschlüsse, die es im DGB und seinen Gewerkschaften gegen Waffenlieferungen in Krisenregionen und gegen die Aufrüstung der Bundeswehr gibt, werden von ihr kurzerhand über Bord geworfen, mit dem Argument, „dass diese Zeit neue Antworten braucht“ (zit. nach: sueddeutsche.de, 9.5.2022) und biedert sich gerade dem Paradigmenwechsel der SPD-geführten Ampelregierung in der Kriegs- und Aufrüstungsfrage an!

Natürlich dürfen einige Versprechungen und markige Wort nicht fehlen. So heißt es gegenüber der Süddeutschen Zeitung: „Wir wollen einen grundlegenden Umbau unserer Wirtschaft“(…) „Nötig seien Gemeinwohlorientierung und gute Daseinsvorsorge“ und „mehr soziale Rechte.“ „Ganze Familien säßen in Armutsfallen fest…“ „Ohne diese sozialen Rechte bleiben viel zu viele Menschen Bittsteller.“ Außerdem fordert sie eine „dynamische Investitionsstrategie der öffentlichen Haushalte“. Scholz wisse, dass er „keinen Schmusekurs“ kriege.

Diese und ähnliche Äußerungen gehören für DGB-Vorsitzende wie Fahimi zum üblichen sozialpartnerschaftlichen Gepräge. Sicher hat der Kanzler andere Sorgen als ein paar Sprüche einer Gewerkschaftsführung, die sich seit Jahren als verlässliche Stütze der SPD an der Regierung bewährt hat – und auf die sich die Sozialdemokratie weiter verlassen kann.

Solange der DGB und vor allem die DGB-Gewerkschaften nur die Lage allenfalls anders kommentieren, wird sich daran nichts ändern. Im Gegenteil, die Spitzen passen sich sogar immer enger dem Regierungskurs an.

Opposition

Doch dieser Kurs wird gerade in der aktuellen Periode, angesichts von Krieg, Preissteigerung und weiteren Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse immer prekärer. Der rapide zunehmende Mitgliederschwund und der damit verbundene politische Machtverlust werden so nicht gestoppt werden können. Eine notwendige Kursumkehr ist von Fahimi und von der gesamten sozialdemokratisch kontrollierten Bürokratie nicht zu erwarten.

Dabei wäre dieser im Kampf gegen Aufrüstung, Krieg und Sozialabbau dringend nötig. Eine Interessensvertretung der Arbeiter:innenschaft muss gerade in der heute zugespitzten Situation klar Stellung beziehen und benennen, was die Regierung tut. Sie betreibt ein gigantisches Aufrüstungsprogramm im Interessen der großen Konzerne und Banken im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, im Kampf um Ressourcen und neue Absatzmärkte. Diese immer stärkere Unterordnung unter Kapitalinteressen werden die Massen zahlen müssen mit Angriffen, die die Bundesrepublik noch nie gesehen hat.

Und dagegen helfen nicht gute ausgewählte, völlig leere Sprüche oder Schulterklopfen mit SPD-Verantwortlichen in der Regierung, sondern nur die Mittel des Klassenkampfes: Massendemonstrationen, Besetzungen, Blockaden Streiks bis hin zu politischen Massenstreiks. Doch dazu braucht es auch eine organisierte oppositionelle Kraft in den Gewerkschaften, die für einen solchen Kurs kämpft – eine antibürokratische, klassenkämpferische Basisbewegung.




DGB am Ersten Mai 2022 – Proteste gegen nationalen Schulterschluss

Susanne Kühn, Infomail 1187, 3. Mai 2022

203.500 Menschen beteiligten sich lt. DGB an den Demonstrationen und Kundgebungen der Gewerkschaften am 1. Mai 2022. Nach zwei Jahren Corona-Pause fällt auf, dass die Mobilisierung weit unter den Zahlen von 2019 liegt, als der DGB von 381.500 sprach.

Allein diese Zahlen sollten in den Gewerkschaftszentralen Anlass zur Sorge – und auch zur politischen Selbstkritik – bieten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Spitzen der DGB-Einzelgewerkschaften und deren Redner:innen loben sich vor allem selbst.

Die Botschaft des DGB

Während der Pandemie hätten sie für Gesundheitsschutz gesorgt und für fairen Lastenausgleich. Kein Wort davon, dass sie gegen mangelnde Schutzmaßnahmen und den Notstand im Gesundheitswesen nicht gekämpft, vielmehr Streiks, Aktionen und ganze Tarifrunden abbliesen und verschoben haben. Kein Wort davon, dass die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahren massive reale Einkommensverluste hinnehmen musste, während die Preis z. B. am Wohnungsmarkt weiter anzogen. Kein Wort davon, dass sie alles getan haben, um vorübergehenden Schließungen in der Großindustrie zu verhindern, die Interessen der Lohnabhängigen und den Gesundheitsschutz über zwei Jahre den kurzfristigen Profitinteressen des Kapitals untergeordnet haben.

Auf den nationalen Schulterschluss während der Pandemie soll nun offenbar der Burgfrieden während des Kriegs um die Ukraine folgen. So stimmt DGB-Chef Hoffmann in das bürgerliche Narrativ ein. Der reaktionäre Angriff des russischen Imperialismus auf die Ukraine wird nicht als Teil eines größeren, globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt begriffen, sondern als einer auf „unsere“ Werte: „Dieser menschenverachtende Krieg ist ein Angriff auf die europäische Friedensordnung und auf unsere Demokratie.“

Nachdem der eigenen herrschenden Klasse eine grundsätzliche Unterstützung versichert wurde, dürfen natürlich einige „friedenspolitische“ Phrasen nicht fehlen: „Wir sagen Nein zu Militarisierung und massiver Aufrüstung. Wir brauchen dieses Geld für Zukunftsinvestitionen in die Transformation. Und wir brauchen es für die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaats. Militärische Friedenssicherung darf niemals zulasten des sozialen Friedens erkauft werden.“

Daher soll die Anhebung des Rüstungsetats nicht dauerhaft erfolgen, sondern nach dem Waffengang mit Russland beendet werden. Solange der aber noch nicht zu „unseren“ Gunsten entschieden ist, geht die Aufrüstung in Ordnung, sofern sie nicht „zulasten des sozialen Friedens“ erkauft würde. Der Verweis darf keinesfalls als Kritik an der Regierung missverstanden werden. Vielmehr soll er daran erinnern, dass die Gewerkschaftsführung für die Burgfriedenspolitik auch Entgegenkommen, also einen sozialchauvinistischen Bonus, erwartet.

Pfiffe und Eier für SPD-Prominenz

Um die Nähe zur Regierung und damit zum Staat des Kapitals auch am Ersten Mai zu demonstrieren, durften neben der DGB-Prominenz die Redner:innen aus der „Politik“, vornehmlich aus der SPD, nicht fehlen. So hatte Kanzler Scholz seinen Auftritt in Düsseldorf, in München war Oberbürgermeister Reiter, in Berlin Franziska Giffey geladen.

Dass führende SPD-Politiker:innen, zumal solche mit Regierungsfunktionen, auf den Ersten-Mai-Kundgebungen als zentrale Redner:innen auftreten dürfen, gehört zum üblichen Ritual einer Gewerkschaft, die sozialdemokratisch geprägt und dominiert ist.

Neu – und positiv – war jedoch, dass die Teilnehmer:innen wichtiger Kundgebungen wie in Düsseldorf, Berlin und München das Gedöns der sozialdemokratischen Regierungsleute nicht einfach über sich ergehen ließen, sondern mit Sprechchören, Pfeifkonzerten, Buhrufen ihre Kritik und Ablehnung der Kriegspolitik der Regierung und der klassenfeindlichen Politik in Bund, Ländern und Kommunen zum Ausdruck brachten.

Olaf Scholz wurde zu Recht für seine Milliardenaufrüstung, Sanktionen und Waffenlieferungen angegriffen, die Deutschland als NATO-Staat faktisch zu einer Kriegspartei in der Ukraine machen.

In München wurde Oberbürgermeister Reiter ausgepfiffen, weil sich der SPD-Politiker gegen den Erzieher:innenstreik in seiner Stadt gestellt hatte. Linke Gewerkschafter:innen enthüllten Schilder gegen den Krieg.

Berlin

Einen Höhepunkt der Aktionen erlebten wir in Berlin. Schon DGB-Chef Hoffmann wurde bei seiner Rede immer da von Sprechchören unterbrochen, wo er offen oder implizit die Kriegs- und Rüstungspläne der NATO, der EU oder der Bundesregierung unterstützte.

Eine gebührenden Empfang bereiteten mehrere Hundert Unterstützer:innen des klassenkämpferischen Blocks bei der Abschlusskundgebung in Berlin der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey. Sie kann auf eine lange unrühmliche Geschichte zurückblicken, sei es als Unterstützerin rassistischer Abschiebungen, von Privatisierungen und zahlreichen anderen arbeiter:innenfeindlichen Maßnahmen.

In den letzten Jahren und als Regierungschefin eines angeblich linken rot-grün-roten Senats steht die Verhinderung der Enteignung der Immobilienkonzerne ganz oben auf ihrer Agenda. Statt dem Votum einer klaren Mehrheit von über einer Millionen Berliner:innen, die für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. gestimmt haben, zu folgen, will Giffey dieses zur Zeit in einer sog. Expert:innenkommission politisch entsorgen.

Dennoch sollte sie als eine Hauptrednerin die Leute mit leeren Phrasen einseifen. Doch dazu kam es nicht. Nicht nur die Genoss:innen der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und der Klassenkämpferische Block, den auch die Gruppe Arbeiter:innenmacht und REVOLUTION mitorganisierten, sorgten für lautstarken Protest und intonierten Sprechchöre wie „Volksentscheid – umsetzen“ und „Enteignung – jetzt!“ Auch viele andere Gewerkschafter:innen unterstützten die Rufe und das Pfeifkonzert. Als schließlich ein Ei Richtung Giffey flog, brach sie ihre Rede ab.

Nachträglich entrüstet sich Giffey über dieses „undemokratische“ Vorgehen und den „tätlichen Angriff“. Dabei sollte doch eher die Frage gestellt werden, was der Wurf eines Eis im Vergleich zum Rauswurf all der Mieter:innen, die nach Zwangsräumungen ihre Wohnung verloren, darstellt.

Ver.di Berlin entrüstet sich in einer Pressemitteilung vom 2. Mai über den „verabscheuenswürdigen“ Angriff. Schließlich sei der „Dialog mit demokratischen Parteien und der politischen Führung der Stadt sehr wertvoll.“

Dass eine Person, die einen Volksentscheid zur Enteignung der Immobilienkonzerne hintertreibt, Geflüchtete abschieben lässt, die S-Bahn privatisieren will und auch ansonsten dem Kapital den roten Teppich ausrollt, ausgerecht bei der Mai-Demonstration der Gewerkschaften eine zentrale Rede halten sollte, verdeutlicht die Krise der Gewerkschaften in Deutschland.

Klassenkämpferische Basisbewegung

Die Krise hat gleich mehrere Namen: Sozialpartner:innenschaft und nationale Einheit mit der Regierung sind nur zwei davon. Diese Politik der Klassenzusammenarbeit dient nicht den Lohnabhängigen, sondern dem Kapital und seiner Regierung. Die schrumpfenden Demonstrationen sind nur ein numerischer, alarmierender Ausdruck einer Politik, die seit Jahren zum weiteren Niedergang der Gewerkschaften geführt hat und diese an die herrschende Klasse und die Regierung kettet.

Die Proteste gegen Scholz, Reiter, Giffey verdeutlichen jedoch, dass sich Widerstand, Opposition gegen den sozialpartnerschaftlichen Kurs und die Unterstützung der Kriegspolitik der Regierung regt. Die Tatsache, dass sie nirgendwo ernsthaft vom Apparat verhindert werden konnten, sondern bei vielen Gewerkschafter:innen, darunter auch Kolleg:innen aus der Sozialdemokratie, auf ein positives Echo stießen, zeigt, dass die reformistischen Apparate in Zeiten der Krise, der „Zeitenwende“ auch Risse bekommen, Risse, die wir vertiefen müssen.

Wir brauchen keine Politik der falschen Toleranz gegenüber Leuten wie Giffey. Wir brauchen keinen Kuschelkurs mit den politischen Vertreter:innen des Kapitals, selbst wenn sie sich „arbeiter:innenfreundlich“ geben. Stattdessen benötigen wir einen Bruch mit der Politik der Unterordnung unter das „nationale“ Interesse, unter die imperialistische Politik des deutschen Staates und unter die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals. Wir brauchen keine Politik des „sozialen Friedens“, sondern eines des Klassenkampfes.

Das heißt aber auch, dass wir in den Betrieben und Gewerkschaften eine oppositionelle, antibürokratische Kraft aufbauen müssen, die eine politische Alternative zum Apparat und zur reformistischen Führung liefert – eine klassenkämpferische Basisbewegung. Der Aufbau der VKG in den einzelnen Städten, die Gewinnung weiterer Strömungen in den Gewerkschaften und von kämpferischen Aktivist:innen stellen einen nächsten wichtigen Schritt in diese Richtung dar.




Ampelkoalition: rechts abbiegen erlaubt!

Jürgen Roth, Infomail 1172, 8. Dezember 2021

Nun ist es amtlich: Seit dem Nikolaustag steht die Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Die Grünen hatten als letzte Partei gleichfarbiges Licht gegeben und der neue Kanzler, Olaf Scholz, präsentierte die MinisterInnenriege seiner Partei. Ob und welche Geschenke seine Riege auf den Gabenteller legen wird, wollen wir im Folgenden untersuchen.

Rahmenbedingungen

Eines drängt sich bereits jetzt auf: Dass es auf Bundesebene – erst zum 2. Mal nach dem Kabinett Adenauer I – jetzt einer Dreierkoalition zum Regieren bedarf, ist an sich schon ein Zeichen für die schwindende Stabilität der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie. Dahinter steckt der schwere Seegang einer immer rauer werdenden Konkurrenz um Weltmarktanteile.

Dieser wird erst recht Flutwellen zeitigen im Fall einer künftigen Rezession in Kombination mit den Rechnungen, die Klima- und Coronakrise, die Krise der EU und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt ebenso unerbittlich für die arbeitenden Klassen ausstellen werden. Wir können also damit rechnen, dass das Regierungsschiff alles andere als eine klare See durchqueren muss und dabei auch vom Kentern bedroht ist. Ein Überdauern der Legislaturperiode kann daher keineswegs als sicher vorausgesetzt werden.

Bewährungsprobe Coronavirus

Von einem klaren Kurs ist die Scholz-Crew kaum weniger weit entfernt als die geschäftsführende Bundesregierung. Zwar wurde die Frist für Notmaßnahmen über den 15. Dezember hinaus verlängert, wird über eine Impfpflicht vermehrt nachgedacht, aber grundsätzlich wird an der Erwartung eines baldigen Endes der Pandemie festgehalten. Die Strategie schlingert zwischen Impfkampagnen und bewusster Durchseuchung der jungen Bevölkerung (siehe dazu den Artikel „Mit der Impfpflicht gegen die vierte Welle?“ von Christian Gebhardt in dieser Ausgabe) hin und her.

Die oberste Maxime bildet die Abwendung eines Lockdowns für das Großkapital, gefolgt von einer Vermeidung der Überlastung von Intensivstationen und Krankenhäusern. Eine irrsinnig umständliche Logistik führt zur Impfstoffknappheit. Vor gerade eben erst geschlossenen Impfzentren formen sich jetzt lange Schlangen in der Kälte Wartender. Ebenfalls verlässt man sich auf weltweite Lieferketten im Fall der Testkits. Eigene Kapazitäten wurden trotz negativer Erfahrungen seit 2020 nicht aufgebaut. Resultat auch hier: Es herrscht Knappheit. Dem Wirrwarr unterschiedlicher und sich widersprechender Regelungen arbeitet bisher auch kein zentralisierter Krisenstab aus ExpertInnen entgegen. Coronapolitik findet v. a. in Talkshows statt.

Queerpolitischer Aufbruch?

In der Geschlechter- und Familienpolitik kündigt das Koalitionspapier umfassende Reformen an. Vorweg: Es handelt sich hierbei tatsächlich um das fortschrittlichste Kapitel. Bis 2030 soll die Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht sein. Frauen sollen besser vor Gewalt geschützt werden und der Gender Pay Gap, die geschlechtlich geprägte Lohndifferenz soll überwunden werden. Dazu will man das Entgelttransparenzgesetz weiterentwickeln und den Klageweg vereinfachen. Warum das reichen soll, um diesen Ausdruck systematischer Frauenunterdrückung zu überwinden, steht in den Sternen. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird jedenfalls nicht angekratzt. Eher ist das Gegenteil zu erwarten.

Der neue und alte Arbeitsminister, Hubertus Heil, will Familien, die „AltagshelferInnen“ in Anspruch nehmen, 40 % Zuschuss gewähren. Dies dürfte v. a. GutverdienerInnen zugute kommen, die noch zusätzlich durch die Erhöhung der Minijobobergrenze (siehe unten) in die Lage versetzt werden, die Hausarbeit auf schlecht bezahlte migrantische Frauen abzuwälzen.

Unter „Gleichstellung“ werden zwar nur Frauen und Männer angesprochen, doch enthält wohl zum 1. Mal ein Koalitionsvertrag ein Unterkapitel „Queeres Leben“. Ein „Nationaler Aktionsplan“ soll für Akzeptanz und Schutz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt sorgen. Hasskriminalität aufgrund des Geschlechts und gegen queere Personen soll zukünftig separat erfasst werden.

Das Werbeverbot für Abtreibungen (§ 219a) soll abgeschafft, Schwangerschaftsabbruch in die ärztliche Ausbildung aufgenommen werden. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen zahlen. Ob das dazu beitragen wird, dass nicht wie bisher nur wenige ÄrztInnen Abtreibungen durchführen, bleibt indes fraglich, wenn weiterhin § 218 solche Eingriffe verbietet.

Das reaktionäre Transsexuellengesetz wird durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt, dem zufolge Selbstauskunft für eine Änderung des Eintrags im Personenregister genügt. Die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen bezahlt die GKV. Trans- und Interpersonen, die aufgrund früheren Rechts von Zwangsoperationen betroffen waren, sollen entschädigt, Schutzlücken im OP-Verbot bei intergeschlechtlichen Kindern geschlossen werden.

Das neue Familien- und Abstammungsrecht bringt auch Fortschritte bei Kindern in Ehen von 2 Frauen, die jetzt beide automatisch als Eltern anerkannt werden. Vorher galt das nur für Ehen unter Männern. Elternschaftsanerkennung außerhalb der Ehe und unabhängig vom Geschlecht soll ebenso möglich sein, wie das „kleine Sorgerecht“ auf bis zu 2 Personen neben den rechtlichen Eltern erweitert wird. Eine „Verantwortungsgemeinschaft“ jenseits von Liebe und Ehe von 2 oder mehr Personen soll rechtliche Kindesverantwortung übernehmen können.

Diese Verbesserungen sind zweifellos zu begrüßen, sprengen sie doch die an biologische Abstammung gekoppelte Sorge für die nachwachsende Generation, tragen somit ein Stück weit zur Sozialisierung dieser Art bisher intimer Nahbeziehungen bei. Diese sollte auch zur Erleichterung von Adoptionen führen, die in der BRD unnötig schwer gestaltet werden. Mit Ausnahme der genannten Mängel stellen auch die anderen geschlechter- und familienpolitischen Reformen einen Fortschritt dar. Deren Finanzierung steht aber auf einem anderen Blatt (vgl. Sparmaßnahmen bei Frauenhäusern) und wird ein notwendiges Kampffeld für die Umsetzung der fortschrittlichen Regeln für die ArbeiterInnenklasse und geschlechtlich Unterdrückten markieren.

Gemeinnützigkeits- und Bürgerrecht

Dieser Abschnitt klingt besser, als er ist. Dahinter verbergen sich schließlich auch Fragen der Überwachungsbefugnisse des Staates – also eigentlich die Einschränkung von Bürgerrechten.

Innerhalb ihrer steuerbegünstigten Zwecke sowie tagespolitisch gelegentlich darüber hinaus sollen gemeinnützige Organisationen agieren dürfen, ohne ihr Steuerprivileg (Abzugsfähigkeit von Spenden) zu verlieren. Transparenzpflicht und Regeln zur Offenlegung der Spendenstruktur und Finanzierung sollen handhabbar gemacht werden. Das klingt zwar gut, aber wenn zugleich die staatliche Überwachung zunimmt und die Gemeinnützigkeit linker Vereine weiter kassiert wird?

Weitere Themen aus dem Katalog der Bürgerrechte und Demokratieförderung drehen sich um die Überwachungspraktiken. Die Sicherheitsgesetze sollen bis Ende 2023 überprüft werden („Überwachungsgesamtrechnung“). Eine „Freiheitskommission“ wird verantwortliche Stellen bei Gesetzesvorhaben beraten. Videoüberwachung soll nur an „Kriminalitätsschwerpunkten“ stattfinden – deren Festlegung unterliegt jedoch weiter dem Staat. Sowohl Vorratsdatenspeicherung als auch Bundestrojaner werden weiter mit zusätzlichen geringfügigen Auflagen („Login-Falle“) zum Einsatz kommen dürfen. Das Demokratieförderungsgesetz soll bis 2023 eine Stärkung der „Zivilgesellschaft“ bewirken. Doch das Zwangsbekenntnis zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ entpuppt sich bei näherer Betrachtung als möglicher Einstieg zu einer „Extremismusklausel“ (z. B. Antisemitismusvorwürfe ggü. BDS). Mit keinem Wort geht das Koalitionspapier auf die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses ein.

Die Bundespolizei soll einer Kennzeichnungspflicht für ihre BeamtInnen unterliegen. Beschwerden nimmt ein/e beim Bundestag angesiedelte/r Polizeibeauftragte/r entgegen.

Die letzten 30 Jahre waren durch ungebremste Verschärfung der Kriminalitätspolitik geprägt. Die angekündigte „Effizienzsteigerung“ in Strafverfahren lässt die Fortführung dieser Kontinuität vermuten. Die Koalition will indes den Eigengebrauch von Cannabis vorsichtig legalisieren und die Sicherheitsgesetze auf Vereinbarkeit mit den Bürgerrechten prüfen. Noch im November 2020 hatte die Große Koalition die seit 2002 geltenden Terrorismusbekämpfungs- und Überwachungsgesetze, die auf den damaligen Innenminister Otto Schily („Otto-Katalog“) zurückgehen, entfristet. Eine Überarbeitung des Strafrechtssystems (Ersatzfreiheitsstrafe, Maßregelvollzug) und seine Entrümpelung in puncto Entkriminalisierung von Bagatelldelikten (Schwarzfahren, Cannabisnutzung, Ladendiebstahl, Unterschlagung geringwertiger Sachen) und Abschaffung von Sonderregeln (gegen Genitalverstümmelung, die sowieso als schwere Körperverletzung gilt) stehen an.

Insgesamt dürfen aber einige kleine Verbesserungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kurs auf eine Ausweitung der staatlichen Repressionsrechte fortgesetzt wird, wenn auch von einigem konservativen Ballast entrümpelt.

Mindestlohn

Er soll auf 12 Euro/Stunde steigen. Das stellt zwar einen nicht zu unterschätzenden Schritt nach vorn dar und eine materielle Verbesserung für Millionen. Lt. Hans-Böckler-Stiftung verdienen zur Zeit 8,6 Millionen Beschäftigte weniger als 12 Euro/Stunde. Aber es bleibt ungewiss, ob die Anhebung schnell eingeführt wird. Sollte er lt. Sondierungspapier noch im 1. Jahr erhöht werden, schweigt sich der Koalitionsvertrag über Fristen aus. Ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens wird allerdings auch die Minijobobergrenze von 450 auf 520 Euro steigen.

Die meisten Verstöße gegen den Mindestlohn gibt es aber gerade hier, sagen ArbeitsmarktforscherInnen. MinijobberInnen erhalten meist keinen bezahlten Urlaub, keine Lohnfortzahlung bei Krankheit. 77 % bekamen zuletzt weniger als 11,50 Euro Stundenlohn, ohne dass berücksichtigt wird, dass sie keinen bezahlten Urlaub genießen. Der Staat subventioniert diesen prekären Sektor zudem. Insgesamt fallen nur 28 % statt 40 % Sozialbeiträge an. 2014 belief sich der geschätzte Ausfall für die Sozialversicherungen auf 3 Mrd. Euro. 6,9 Millionen Menschen hatten im Frühjahr einen Minijob – 18 % aller abhängig Beschäftigten! Lt. IAB-Studie vom Oktober 2021 verdrängen sie in Kleinbetrieben bis zu 500.000 sozialversicherungspflichtige Stellen. Für Arbeitslose bilden diese eher ein Ghetto als eine Brücke zur Sozialversicherungspflicht. In der Pandemie wurden viele entlassen. Anspruch auf KurzarbeiterInnengeld haben sie nicht. StudentInnen, RentnerInnen, Beschäftigte mit Zweitjobs bessern so ihre Einkünfte auf. Leben kann man davon nicht. Insbesondere verheiratete Frauen mit einem/r berufstätigen PartnerIn müssten brutto doppelt so viel verdienen, um netto auf gleiche Einkünfte zu kommen – Ehe förderndem Steuerrecht und Minijobsubvention durch den Staat sei Dank.

Außer der Tariftreue für öffentliche Aufträge hat sich die Ampeltroika darüber hinaus wenig vorgenommen. Eine einfachere Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Tarifverträge ist nicht geplant. Die Talfahrt bei der Tarifbindung wird sich fortsetzen. So droht selbst die Anhebung des Mindestlohns – des einzigen handfesten Versprechens für die Lohnabhängigen – durch weitere Deregulierung, Umstrukturierung und Inflation aufgefressen zu werden.

MieterInnenschutz

Die Bundesampel will das vom Bundesverwaltungsgericht gekippte kommunale Vorkaufsrecht nur prüfen. Auch eine Öffnungsklausel, die den Bundesländern die Einführung eines Mietendeckels erlauben würde, ist nicht vorgesehen. Wir erinnern uns: Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Mietenregulierung des Landes Berlin jüngst abgelehnt. Die weitgehend wirkungslose Mietenbremse wird nicht nachgezogen. Erhöhungsmöglichkeiten für bestehende Mietverhältnisse werden geringfügig von 15 % auf 11 % für einen Zeitraum von 3 Jahren beschnitten. Die geplante Einführung einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit bleibt einziger Trost. SPD und Grüne hatten noch im Wahlkampf für „Mietenstopp“ geworben. Ein neoliberaler Kurs im Wohnungsbausektor wird allenfalls notdürftig durch das Beschwören – vor allem privaten! – Neubaus übertüncht. Der Ampelvertrag enthält fast ausschließlich Verschlechterungen.

Gesundheit und Pflege

Lauterbachs Posten ist der ungeliebteste in  der Regierung. In der Altenpflege sollen die Eigenanteile der Pflegebedürftigen gesenkt und die Soziale Pflegeversicherung von „versicherungsfremden Leistungen“ entlastet werden. In den Krankenhäusern soll kurzfristig eine verbindliche Personalbemessung, zunächst in Gestalt der von ver.di, Deutschem Pflegerat und Krankenhausgesellschaft erarbeiteten Pflegepersonalregelung 2.0, gelten. Ferner soll die Grenze zwischen ambulantem und stationärem Sektor durchlässiger werden (Hybridpauschalen, niedrigschwellige Präventions- und Behandlungsangebote in der Fläche, finnisches Modell Gesundheitskiosk, GemeindepflegerInnen, GesundheitslotsInnen). Der Bund wird allerdings die Länder bei ihren Investitionen im Rahmen der dualen Finanzierung nicht unterstützen, wie es vor und im Wahlkampf hier und da aus den Reihen von SPD und Grünen noch anklang.

Aufzupassen gilt es vor allem bei 2 Punkten: Die Herausnahme der Pflege aus den Fallpauschalen seit Januar 2020 führte nicht zum automatischen Personalaufbau. 2021 gibt es sogar deutschlandweit 4 000 Intensivbetten weniger als 2020. Die Pflegekräfte werden seitdem zusehends mit Aufgaben belastet, die vorher sog. Hilfskräfte ausübten. Auf deren Kosten erfolgt also z. T. die Finanzierung dieses an sich begrüßenswerten Schritts. Insbesondere sind wir aber misstrauisch ggü. den Plänen zur Verzahnung des ambulanten Sektors mit dem stationären. So sehr ein integriertes und durchlässiges Gesundheitssystem an sich erstrebenswert ist, so muss bei der neuen Koalition davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht um Vorhaben zur Stärkung des öffentlichen auf Kosten des privaten Bereichs der niedergelassenen ÄrztInnen handelt. Es gilt, vor Plänen in der Schublade zu warnen, die eine weitere Ausdünnung der Krankenhäuser anstreben, die auf dem Land zum Wegfall der stationären, flächendeckenden Grundversorgung durch schäbigen ambulanten Ersatz führen könnten.

Vor allem aber: Alles steht letztlich unter Finanzierungsvorbehalt. Im Gesundheitswesen fehlt es an 130 000 Beschäftigten. Zu den notwendigen Mitteln, um den Pflegenotstand und die Überlastung der Krankenhäuser zu beenden, finden sich allenfalls vage Zusagen. Die Fortsetzung der Misere ist solcherart vorprogrammiert.

Migration

Auch hier finden sich einige an sich begrüßenswerte Absichtserklärungen. Geduldete mit stets nur kurzfristig verlängerten Aufenthaltsgenehmigungen („Kettenduldungen“) sollen mehr Chancen auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen. Geflüchtete mit Schutzstatus dürfen ihre Angehörigen nachholen. Nicht straffällige, Deutsch lernende, abgelehnte AsylbewerberInnen mit Arbeitseinkommen sollen dauerhaftes Bleiberecht erlangen können. Erleichterungen wird es auch für Menschen ohne Papiere geben (eidesstattliche Versicherung über die eigene Identität), folglich eine Bleibeperspektive.

So weit die Versprechungen. Die Einführung eines Punktesystems („Chancenkarte“) soll im Einwanderungsrecht eine 2. Säule etablieren. Wird nett verpackt, soll aber letztlich vor allem dazu beitragen, die Anwerbung jener migrantischen Arbeitskräfte zu erleichtern, die vom Kapital gebraucht werden – und im Umkehrschluss die Abweisung jener, die nicht verwertet werden können. Die Segregation unter MigrantInnen wird also neu organisiert – nicht zuletzt, um so eine langjährige Forderung der Unternehmerverbände nach mehr Fachkräften zu befriedigen.

Zugleich plant die neue Bundesregierung eine „Rückführungsoffensive“, also beschleunigte Abschiebungen abgelehnter AsylbewerberInnen, neben einer Reduzierung „irregulärer Migration“. Die Außenfestung der EU wird so weiter gestärkt.

Finanz-, Steuer- und Verteidigungspolitik

Nicht zufällig bekleidet FDP-Chef Lindner den Posten des Finanzministers. Die Schuldenbremse soll ab übernächstem Jahr wieder eingeführt werden. Steuererhöhungen soll es nicht geben. Alles Gerede über Reichensteuer bei Grünen und insbes. SPD, seien es Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Vermögensteuer usw., erweist sich als Makulatur. Woher die nötigen Investitionen in z. B. Energiewende und Digitalisierung kommen sollen, wird die Masse der Bevölkerung recht bald im eigenen Portemonnaie merken.

Die Schuldenbremse ist ein Erbe der Finanzkrise und wurde 2009 in der BRD eingeführt, 2012 über den EU-Fiskalpakt ausgeweitet. Durch drastische Sparsamkeit sollte die Eurozone wieder zu einem attraktiven Ziel für die Finanzmarkthaie werden. In den letzten 10 Jahren stiegen die deutschen Staatsausgaben stärker als in deren Rest. Gleichzeitig diente der Fiskalpakt als Hebel, um den Druck auf die Partnerstaaten aufrechtzuerhalten.

Angesichts der Corona- und Umbaukosten befindet sich die Ampel in einer Zwickmühle, also folgerichtig auf Gelb: Das Gesamtkapital gilt es zu erneuern bei gleichzeitigem Sparzwang. Auf nationaler Ebene sollen es kreative Maßnahmen richten: mehr Kredite durch die Förderbank KfW und mehr Schulden für staatliche Gesellschaften wie die DB AG, Rückzahlungen werden gestreckt. Der EU-Aufbaufonds NGEU gilt zwar als zeitlich und in der Höhe befristet, aber das ist ja etwas anderes als eine einmalige Sache.

Während die Koalition das große Kapital und dessen Restrukturierung im Namen von Modernisierung, Digitalisierung und ökologischer Wende fördern wird, werden mit der Schuldenbremse im öffentlichen Sektor die Daumenschrauben angezogen. Wie soll der Ausbau von Bildung, Schulen und Unis so erreicht werden? Durch private InvestorInnen. Die neoliberale Seite der Ampel lässt grüßen.

Im Koalitionsvertrag findet sich kein wörtliches Bekenntnis zum Ziel, 2 % des BIP für Verteidigung auszugeben. Doch der Beschaffung bewaffneter Drohnen – nur für garantiert demokratische Tötungen zugelassen – wird ebenso zugestimmt, wie der Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotentials – inkl. nuklearer Teilhabe Deutschlands, versteht sich –, weltweiten Militäroperationen und Beteiligung an der Konfrontationspolitik der USA das geschriebene Wort gegönnt wird. Außenministerin-Baerbock-Grün oder Kanzler-Adenauer-Schwarz, die transatlantische Waffengeschwisterschaft wird mit Aggressionsdrohungen bekräftigt. Auch wenn das Bundesverteidigungsministerium in die Hände der SPD fällt – Struck lässt von der „Verteidigung am Hindukusch“ aus grüßen.

Diese Kernressorts der Regierung offenbaren, was droht – Verschlechterungen auf ganzer Linie.

Grundsicherung und Umweltpolitik

Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld. Forderten die Grünen noch im Wahlkampf einen um 50 Euro höheren Regelsatz und ein Ende der Sanktionen, so bleibt es bei 3 Euro ab 2022. Mitwirkungspflichtig bleiben auch die BürgergeldbezieherInnen. Winzige Brosamen stellen dar: befristeter Bonus für Teilnahme an Fördermaßnahmen; Sanktionen, die einen Fall unters Existenzminimum zur Folge hätten, werden 1 Jahr ausgesetzt; Prüfung von Schonvermögen und  Wohnung entfällt, aber nur in den ersten 2 Jahren nach Antragstellung; das Schonvermögen fällt nach 2 Jahren höher aus als bisher; übersteigt die Wohnung eine „angemessene“ Größe, muss der Umzug nicht mehr sofort erfolgen; Einkommen und Verdienste von Kindern neben Studium oder Schule sowie von Pflege- und Heimkindern werden nicht mehr angerechnet. Als Pferdefüße könnten sich pauschale, regionalspezifische Auszahlungen der Kosten für Unterkunft und Heizung sowie die Einführung der Kindergrundsicherung erweisen. Bei Letzterer würden Regelsatz, kostenfreies Mittagessen und Zuschüsse für Schulbedarf und Klassenfahrten wegfallen. Erstere würde Menschen mit alten Heizungsanlagen und in Wohnungen mit schlechter Wärmedämmung benachteiligen. Zudem will Rot-Grün-Gelb den einzelnen Jobcentern mehr „Gestaltungsspielräume“ dadurch verschaffen. Im nicht heuchlerischen normalen Sprachgebrauch bedeutet das: Arme Gemeinden werden ihre Bürgergeldklientel mehr schurigeln!

Apropos Wärme: Da war doch was mit der Erde? Wird der wackere Ritter Robert Habeck mit seinem neuen Superministerium für Wirtschaft und Umwelt eine Lanze für die Natur brechen? Antwort: eher einen Zahnstocher! Beim Kohleausstieg ist die schwammige Formel des Sondierungspapiers übernommen worden: „idealerweise bis 2030“ statt 2038. Der CO2-Zertifikatepreis – eine „sozial ungerechte“, indirekte, nicht progressive Massensteuer – soll nicht unter 60 Euro/t sinken. Seit August 2021 liegt er im EU-Emissionshandel über dieser magischen Grenze. Die Kohlekraftwerke laufen munter weiter. Ihr Strom wird nämlich zuerst abgerufen, da das in der Treibhausgasbilanz günstigere Erdgas teurer ist. Bis 2030 sieht der Koalitionsvertrag einen Anteil erneuerbarer Energien am Strommarkt von 80 % vor. In 9 Jahren müsste die Erzeugung von Ökostrom dann aber verdoppelt werden. Am ehrgeizigsten fallen die Ziele bei der Windenergie auf See aus. Hier mischen ja auch die großen Konzerne am meisten mit. Im gewerblichen Neubau soll eine Solardachpflicht kommen, bei neuen Privathäusern sollen Solarzellen zur Regel werden. Neue Gaskraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung werden forciert. Sinn machen diese aber v. a. erst dann, wenn sie von durch erneuerbare Energien produziertem Erdgas betrieben werden. Letzteres könnte auch einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Speicherproblematik leisten. Dafür hat das Flickwerk, das sich Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) nennt, aber keinen Plan. Vor allem im Verkehr, der in der BRD zu mehr als 1/5 zur Treibhausgasemission beiträgt, sieht’s noch finsterer aus. Ein Ende der Steuerfreiheit für Kerosin und der Subventionen für Diesel ist außer Sicht. Neuer Autominister wird der FDPler Wissing.

Fazit

„Mehr Fortschritt wagen“, „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“: Diese süffisanten Formeln aus dem Arsenal der Volksverdummungsindustrie namens Werbung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Masse der Lohnabhängigen gerade angesichts der eingangs geschilderten internationalen Rahmenbedingungen sich nachhaltig warm anziehen muss. Das Geschenkpaket, das Ersatznikolaus Onkel Olaf seinen Untertanenkindern aus dem Schuh gezaubert hat, erweist sich in großen Teilen als vergifteter Köder.

Vor allem Fortschrittlichen steht stets Lindner, der das nötige Kleingeld für die Blütenträume unserer bunten Dreifaltigkeit genehmigen muss. Der hat die Hand an einem entscheidenden Machthebel. Das rechtfertigt das Urteil, das letztlich die rechteste Partei in der VorturnerInnenriege, die FDP, sich am besten bei den Koalitionsverhandlungen in Szene setzen konnte. Schritte zur Rentenfinanzierung, mehr private Investitionen, Lockerungen der Arbeitszeitregeln untermauern diese Einschätzung. Schließlich sei noch angemerkt: Ostdeutschland mit seinen speziellen Problemen wird nur einmal auf 178 Seiten erwähnt.

Beinahekanzlerin Annalena Baerbock wird als Außenministerin in die ausgetretenen Fußstapfen ihres grünen Vorgängers, „Jugoslawienbomber“ Joschka Fischer, treten und in transatlantischer Nibelungentreue einen verschärft konfrontativen Kurs gegen China und Russland (Ukraine, Gaspipeline Nord Stream 2) mitfahren.

Der unmittelbar größte Druck auf die neue Regierung wird angesichts der Schwäche der organisierten ArbeiterInnenschaft, insbesondere der Linkspartei, eindeutig von rechts ausgeübt werden. Grüne und SPD drohen, sich zu verschleißen angesichts hoher Ansprüche (Grüne) bzw. deren Gegenteils (SPD). Die FDP könnte sich als Gewinnerin erweisen: Sie kann sich mit gewissen fortschrittlichen Regelungen (Senkung des Wahlalters, Cannabislegalisierung, Abschaffung des § 219a), aber auch Klima- und Umweltfragen sowie der Digitalisierung) freiheitlich-modern schmücken, ohne gegen ihren neoliberalen Kern zu verstoßen.

Darum: Kein Vertrauensvorschuss für die Ampel! Bereitet den Widerstand gegen die zu erwartenden Angriffe vor, beginnend mit einer Aktionskonferenz aller Parteien und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung! Dafür müssen wir auch alle von SPD und Grünen enttäuschten Teile der Krankenhaus- und Umweltbewegung, der MigrantInnen und gesellschaftlich Unterdrückten mit an Bord holen.




Bundestagswahl 2021 – Nach der Wahl ist vor dem Kampf

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Die Spannung eines Thrillers konnte der deutsche Wahlkampf sicherlich nicht mit sich bringen, insbesondere, wenn man sich das Kopf-an-Kopf-Rennen der Stimmenauszählung in den USA in Erinnerung ruft. Dennoch, hätte man vor 6 Monaten gesagt, dass die SPD mit dem eher unscheinbaren Olaf Scholz das Rennen macht, so hätten viele gelacht. Und viele, sicherlich nicht nur AnhängerInnen der Union, fragen sich: Wie konnte das passieren? Dies wollen wir im Folgenden näher erläutern und gleichzeitig betrachten, was die Wahlergebnisse für die Arbeiter:innenklasse bedeuten.

Weltlage und 16 Jahre Merkel

Die aktuelle Wahl lässt sich nicht verstehen, wenn wir nicht einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen. Denn in den 16 Jahren, in denen Angela Merkel das Land regiert hat, hat sich viel verändert. Wenn die bürgerlichen Medien ihre Regierungszeit Revue passieren lassen, dann fällt vor allem ein Wort häufig: Stabilität. Das kommt nicht von ungefähr. Nach der Finanzkrise 07/08 und der darauf folgenden tiefen Rezession konnte sich der deutsche Imperialismus relativ schnell erholen.

Verglichen mit anderen Ländern ging es schnell bergauf dank der Konkurrenzfähigkeit des Exportkapitals und Vorarbeit durch die Agenda 2010. In der EU wurde an Griechenland ein Exempel statuiert, das zum sozialen Ausbluten der griechischen Bevölkerung führte. Merkel wurde so verdientermaßen zum Hassobjekt in Südeuropa. Im Inneren setzte sie auf SozialpartnerInnenschaft und gemeinsame Regulierung der Krise mit den Gewerkschaften, um die Exportindustrie rasch wieder flottzubekommen. So konnte sie als erfolgreiche Krisenmanagerin und sich Kümmernde auftreten. International war es zu diesem Zeitpunkt noch möglich, auf Gipfeln wie dem G7 die Kosten der Krise gemeinsam zu verwalten.

Die Folgen der Krise machten sich in Deutschland erst später bemerkbar. In jedem Fall stärkte die Niederlage der ArbeiterInnenklasse in Griechenland das deutsche Kapital – und die zentrifugalen Tendenzen in der EU. Doch die EU- und noch viel mehr die sog. Flüchtlingskrise verschärften auch die Gegensätze im bürgerlichen Lager. Mit dem Rechtsruck kam der Aufstieg der rassistischen AfD, der auch den Grad der Zersplitterung des bürgerlichen Lagers markierte. Die ach so stabile Große Koalition unter Merkel fing an zu kriseln.

Verschärft wurde die Situation mit der Präsidentschaft Trumps und der Wende zum Unilateralismus einerseits und dem Aufstieg Chinas zur zweitgrößten und -wichtigsten imperialistischen Macht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfte sich. Die EU fiel aufgrund eigener Widersprüche, wie sie am deutlichsten im Brexit zum Ausdruck kamen, zurück. Sie scheint hilflos zwischen USA und China zu dümpeln. Die Coronapandemie warf sie noch weiter zurück und zeigte auf, wie weit sie davon entfernt ist, den USA und China auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.

So ist die Richtung des deutschen Imperialismus in den letzten 16 Jahren immer unklarer geworden. Die deutsche Bourgeoisie (und die EU selbst) befinden sich in einer strategischen Krise, Hin und her gerissen zwischen der Frage einer transatlantischen oder stärker eigenständigen imperialistischen Ausrichtung, zwischen Konjunktur- und Investitionsprogrammen zur Neuaufstellung des deutschen und europäischen Kapitals einerseits und zwischen Neoliberalismus und Austeritätspolitik andererseits.

Merkels Lavieren zwischen unterschiedlichen AkteurInnen ist mit Zunahme der Krise und des Rechtsrucks, vor allem aber auch dem Aufstieg Chinas und der Neuausrichtung der USA nicht nur schwieriger, sondern vor allem immer aussichtsloser geworden.

Die Aufgabe einer neuen Regierung wäre vom Standpunkt des deutschen Gesamtkapitals, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Vormachtstellung innerhalb der EU erhalten bleibt und kein weiterer Mitgliedsstaat aus der Reihe tanzt. Es geht auch darum, die EU selbst zu einem Block zu formieren, der im Kampf um die Neuordnung der Welt mitspielen kann. Dazu bedarf es aber eines Plans und einer Strategie, wie man mit dem aufstrebenden chinesischen Imperialismus und dem verbündeten Rivalen USA umgehen möchte. Und es braucht auch eine Lösung der Führungsfrage, also der strategischen Ausrichtung innerhalb Deutschlands und der EU. Über eine solche verfügt die herrschende Klasse nicht – und wird ohne innere Friktionen und Kämpfe auch in der nächsten Periode, egal ob unter einer Ampel oder Jamaika nur schwer herzustellen sein. Umgekehrt wird jede Regierung von der herrschenden Klasse genau daran gemessen werden.

Zersplitterung des bürgerlichen Lagers

Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers und die Krise der CDU/CSU sind Ausdruck dieser strategischen Paralyse und Unklarheit, die von Merkel noch notdürftig überdeckt wurde.

Anfangs dachte man innerhalb der Union noch, dass selbst Laschets Schlaftablettenauftritte gegen Scholz Bestand hätten, nachdem man bei den Grünen Baerbock das Fell über die Ohren gezogen hatte. Das allein hilft aber nicht. Ein Ministerpräsident, der nicht den Eindruck erwecken kann, dass er sich in seinem eigenen Bundesland gut um eine Flutkatastrophe kümmert, ist als Kanzlerkandidat wenig vertrauenerweckend. Auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie konnte er wenig glänzen. Als Befürworter der schnellen Öffnungen schoss er in der Ministerpräsidentensitzung gegen die eigene Regierung, wurde aber in seiner Autorität und Weisheit von der 2. Welle überrollt.

Hinzu kommt, dass er die inneren Probleme der Union nach außen hin nicht ausgleichen konnte. Schließlich ist er nicht allein für das historisch schlechteste Ergebnis der Union von 24,1 %  verantwortlich. Der Streit innerhalb der Union fing schon früher an.

Merkel selbst wurde zum frühen Rückzug vom Parteivorsitz gezwungen, ihre Wunschnachfolgerin Kramp-Karrenbauer demontiert. Damit war der Diadochenkampf eröffnet. Merz, Laschet und Spahn kandidierten für den Parteivorsitz – und der Kandidat des Establishments, Laschet, gewann knapp. Doch damit war die Unzufriedenheit, die sich zusammengebraut hatte, nicht beseitigt. Auch nicht, als sich Laschet gegen Söder in der Kanzlerfrage durchsetzte.

Je länger der Wahlkampf dauerte, desto deutlicher wurde: Laschet hätte es lassen sollen. Weder Bevölkerung noch eigene Partei konnten vom Kandidaten überzeugt werden.

Wie so oft in der Geschichte wirkte eine Kette von zufälligen, nebensächlichen Pannen als Katalysator, um eine sich längst vorbereitende Krise offen hervortreten zu lassen, den Zersetzungsprozess der politischen Hauptpartei der deutschen Bourgeoisie.

So kam es dazu, dass die SPD bei diesen Bundestagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Hessen an der CDU vorbeizog und über 1,5 Millionen Stimmen von den Unionsparteien einsackte. Diese Wahlniederlage wird die Risse innerhalb der Union weiter vergrößern. Nachdem sich am Wahlabend noch große Teile des Parteiestablishments hinter Laschet gestellt hatten, werden die Rücktrittsforderungen, der Ruf nach Aufarbeitung der katastrophalen Niederlage und Neuausrichtung der Partei lauter. Je mehr sich diese Gegensätze zu regelrechten innerparteilichen Gräben vertiefen, desto schwerer wird es, dass CDU/CSU eine Regierung mit Grünen und FDP zustande kriegen, selbst wenn es nicht nur bei den Liberalen viele gibt, die für eine solche Koalition eintreten. Doch eine solche Regierung wäre wahrscheinlich so instabil wie die Unionsfraktion und Laschet traut wohl kaum jemand zu, die inneren Gegensätze wirklich überbrücken zu können. Umgekehrt wäre eine solche schwarz-grün-gelbe Regierung (Jamaika) nicht nur ein deutliches Signal für einen aggressiveren Kurs zur ökonomischen Neuformierung der EU unter deutscher Führung, sondern auch zu einem aggressiveren inneren, wenn es darum geht, die Kosten der Pandemie und der Wirtschaftskrise auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen.

FDP als eine Königsmacherin

Sonnig sieht’s hingegen bei den Liberalen aus. Die FDP hat mit 11,5  % eines ihrer historisch besten Ergebnisse eingefahren mit einem Imagewahlkampf, bei dem nur noch das Gesicht von Christian Lindner auf der Freiheitsstatue gefehlt hat. Profitieren konnte sie vom Schwächeln der Union und gewann rund 1.320.000 Stimmen von dieser, da sie während der Pandemie als „besonnene“ Vertretung der CoronskeptikerInnen und „FreiheitskämpferInnen“ aus dem Kleinunternehmertum auftreten konnte. Auch unter NichtwählerInnen mobilisierte sie 400.000 Stimmen und unter den ErstwählerInnen wurde sie mit 400.000 Stimmen zweitstärkste Kraft. Die Hochburg der Zweitstimmen stellt dabei Baden-Württemberg dar.

Dass sich die FDP, die 2017 gerade mal so den Sprung in den Bundestag schaffte, erneut aufgerappelt hat, stellt eine Kehrseite der Krise der Unionsparteien dar. Die FPD erscheint nicht nur der jungen Generation als glaubwürdigere Vertreterin des freien Marktes und individueller bürgerlicher Freiheit. Für die Regierungsbildung wird sie gemeinsam mit den Grünen eine entscheidende Rolle spielen als Blockade aller weitergehenden sozialen Forderungen und jeder Umverteilung und auf weitere Deregulierung und Angriffe auf die Lohnabhängigen drängen.

Die Grünen und das Klima

Es hätte so gut werden können für die Grünen. Obwohl sie ihr historisches bestes Ergebnis einfuhren, erscheinen sie fast wie kleine VerliererInnen. Während sie sich Anfang des Jahres im Höhenflug bei 30 % befanden, landeten sie schließlich bei 14,8 %. Sicherlich, dass Annalena neben Armin und Olaf so schlecht weggekommen ist, hat viel mit Sexismus zu tun. Als entscheidende Erklärung für den Sturzflug ist das jedoch zu kurz gegriffen.

Der wohl wichtigste Grund, warum die Grünen „nur“ drittstärkste Partei wurden, liegt darin, dass sich von ihrem Programm wichtige Teile der Bevölkerung nicht ansprechen lassen. Das zeigten auch die vergangenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Die Erhöhung des Benzinpreises oder eine CO2-Steuer für Individuen werden bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht dadurch ausgeglichen, dass es fürs trendige Lastenrad einen Zuschuss geben soll.

Die Abwälzung der Kosten der Klimakrise auf die Einzelnen macht die Grünen für einen Teil der Bevölkerung nicht besonders attraktiv. Es ist daher kein Wunder, dass sie vor allem bei einkommensstärkeren Lohnabhängigen und Mittelschichten punkten konnten. Trotzdem: Rund 460.000 NeuwählerInnen, 510.000 NichtwählerInnen konnten mobilisiert werden, insgesamt rund eine Millionen Menschen wechselten von CDU und SPD zu den Grünen. Hinzu kommt, dass mittlerweile auch sie einen Teil des Kapitals (nicht nur aus dem Ökobereich) zu ihren UnterstützerInnen zählen können.

So werden die Grünen – wie die FDP – bei der Regierungsbildung eine wichtige Rolle als KönigsmacherInnen spielen. Während die Liberalen grundsätzlich eine unionsgeführte Koalition vorziehen, sind die Grünen in dieser Frage gespalten, ja neigen eher der SPD zu, die ebenfalls für einen Green Deal in Europa und Deutschland eintritt. Der FDP würde dabei die Rolle zufallen, dafür zu sorgen, dass er die Bourgeoisie und sog. LeistungsträgerInnen nichts kostet.

Der rechte Rand

Bevor wir zum Wahlsieger SPD und zur Linkspartei kommen, noch kurz zum rechten Rand des bürgerlichen Spektrums. Zum zweiten Mal zieht die AfD in den Bundestag ein. Zwar hat diese an Stimmen verloren, sich insgesamt aber konsolidieren können. Die meisten Stimmenverluste machten die NichtwählerInnen aus (rund 810.000) aus. Dies war sicherlich innerparteilichen Streitigkeiten geschuldet. Die weiteren größeren Verluste an SPD (260.000) und FDP (210.000) dürften wohl darauf zurückzuführen sein, dass diesen WählerInnen die Regierungsfrage wichtiger war als die „Treue“ zum Rechtspopulismus.

Dennoch: Die knappen 10,3 % für die RechtspopulistInnen zeugen wohl kaum vom von den Konservativen beschworenen Linksruck. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass gerade die abgehängten Schichten der ArbeiterInnenklasse keine wirkliche Alternative geboten bekommen. Von den Protesten der CoronaleugnerInnen konnte sie jedoch kaum profitieren. Der Verlust der Linkspartei an die AfD ist zwar geringer ausgefallen als bei den Landtagswahlen der letzten Jahre, mit 110.000 Stimmen aber auch nicht unerheblich. So ist es auch nicht wenig überraschend, dass die Hochburg der Partei weiterhin im Osten liegt. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist sie nach der SPD in fast allen Wahlkreisen die zweitstärkste Kraft und in Thüringen konnte sie gleich mehrere Direktmandate gewinnen, in Sachsen fast alle.

Anders als 2017 stimmten die meisten AfD-WählerInnen wegen ihres Programms, also aus Überzeugung für diese Partei – wegen ihres völkischen Rassismus, nicht trotz dessen. Dies bedeutet, dass sich eine radikale, reaktionäre kleinbürgerliche Kraft konsolidiert, die bei einer Zuspitzung der Klassenkämpfe und einem Auseinanderfallen der EU als Reserve für das deutsche Kapital und auch Regierungsbildungen zur Verfügung steht.

Totgeglaubte leben länger – die SPD

Wie oben bereits geschrieben: Kaum eine/r hätte vor einem Jahr geglaubt, dass die SPD über die 20 %-Marke kommt, noch weniger, dass jemand mit dem Charisma eines Olaf Scholz den Karren aus der drohenden Bedeutungslosigkeit ziehen kann. Das Image war ja schließlich schon mehr als ramponiert.

Über 100 Jahre Klassenverrat fallen bei dem aktuellen Bewusstseinsstand leider nicht so ins Gewicht, wie man es sich wünschen würde. Vielmehr sind es die Streitigkeiten von Esken & Co. sowie die Zugeständnisse innerhalb der Großen Koalition gewesen, die der SPD lange zu schaffen machten. Im Wahlkampf selber wurde sich lange nur auf Laschet und Baerbock konzentriert. Es wirkte fast, als ob es den SPD-Kandidaten nicht gäbe. Aber wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte und auch deshalb konnte Olaf an den beiden vorbeiziehen. Brechmittelskandal, Verstrickungen in die Wirecard-Affäre und der Prügeleinsatz zu G20 in Hamburg: alles perlte an ihm ab.

Aber warum? Während Baerbock sich auf die Klimakatastrophe fokussierte und Laschet in jedes Fettnäpfchen trat, das er finden konnte, hat Scholz es geschafft, am ehesten was von jener Stabilität zu verkörpern, die man Merkel zugesprochen hatte. Entscheidend ist aber, dass sich der SPD-Kandidat bei den Lohnabhängigen glaubwürdiger als seine Konkurrenz als Kandidat des sozialen Ausgleichs präsentieren konnte.

Rund 44 % der SPD-WählerInnen gaben an, dass soziale Gerechtigkeit eine maßgebliche Rolle bei ihrer Entscheidung spielte. Ebenso konnte die SPD den mit Abstand größten Zuspruch bei  GewerkschafterInnen verzeichnen, lt. Erhebungen des DGB 33,1 %, also fast 8 % mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Sicherung der Arbeitsplätze, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, eine sichere Rente und eine stärkere Besteuerung der Reichen waren Versprechungen, die sich im Zuge der Pandemie gut anhören. Dass Scholz dabei glaubwürdiger wirkte als seine Konkurrenz, spiegelt letztlich auch das historische Erbe der Sozialdemokratie, ihre organische Verankerung in der ArbeiterInnenklasse als bürgerliche ArbeiterInnenpartei wider. Sicherlich versprechen sich die meisten WählerInnen keine Großtaten von der SPD, wohl aber, dass eine von Scholz geführte Regierung mehr Schutz vor den kommenden Umstrukturierungen, mehr soziale Abfederung beim ökologischen Wandel bringt als ein von Laschet geführtes Kabinett.

Sollte die SPD die nächste Regierung anführen, werden selbst diese Hoffnungen extrem auf die Probe gestellt werden. Allein die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um gerade 3,- Euro unter der Großen Koalition zeigt, wie wenig der Sozialdemokratie die Ärmsten der Armen im Zweifelsfall bedeuten. In jedem Fall ist aber klar, dass die ohnedies schon wackelige Bindung zwischen SPD und organisierten Lohnabhängigen in der kommenden Periode weiter auf den Prüfstand geraten wird – und dies müssen wir vorantreiben.

Schlaftablette Linkspartei

4,9 %! Es tut fast weh, das Ergebnis laut vorzulesen. Durch die 3 Direktmandate kann sich die Linkspartei gerade noch 39 Plätze im Parlament sichern. Dennoch ist es mehr als bedrückend, es ist desaströs. Zwar hat DIE LINKE an sich das beste Klimaprogramm, verglichen mit den anderen Parteien, doch hat sie im gesamten Wahlkampf Chancen verpasst und war kaum sichtbar. Dies hat mehrere Gründe. Der andauernde Richtungsstreit lähmt sie, der unklare Ausgang in der Debatte um Sarha Wagenknecht führt dazu, dass weder deren Fans noch die antirassistischen AktivistInnen zufriedengestellt werden konnten. Dieses Vakuum der Nicht-Entscheidung welchen Kurs man einschlagen will, rächt sich. Auch in der Frage der Regierungsbeteiligung. Durch das Sofortprogramm, was nach Mitregieren lechzte, hat die Linkspartei sich selber geschadet. Denn weder seitens der SPD und schon gar nicht von den Grünen wurden sie als ernsthafte Koalitionspartnerin beachtet. So wurde also auf das rot-rot-grüne Gespenst gesetzt und vor lauter Kuschelkurs vergessen, sich abzugrenzen. Das sieht man auch an den Zahlen: Die größte WählerInnenwanderschaft gab es zur SPD mit 640.000 Stimmen, es folgen die Grünen mit 480.000. Mehr als 1 Millionen Stimmen sind also verloren gegangen, weil WählerInnen geglaubt haben, der Unterschied zur SPD sei nicht zu groß, und um Laschet zu verhindern, müsse man jetzt eben bei Scholz den Haken machen. Das macht deutlich: Gerade, was die soziale Gerechtigkeit angeht, dem eigentlichen Kernthema der Linkspartei, machen WählerInnen taktisch Zugeständnisse. Ein indirektes Zeugnis, dass es der Partei an Überzeugung und Abgrenzung mangelt.

Das ist aber auch nachvollziehbar. Wo ist DIE LINKE gewesen, die als Partei sich gegen den Pflegenotstand während der Pandemie einsetzte? Während andere nur wohlwollend klatschen, hätte es betriebliche Aktionen und Demonstrationen gebraucht, die sich für eine Aufstockung im Pflegebereich einsetzen. Auch hätte die Linkspartei gegenüber den Gewerkschaften klare Worte verlieren müssen: Ein flächendeckender Tarifvertrag in der Pflege und im Handel muss her, gerade in Zeiten der Krise. Und wo ist DIE LINKE, die Streitgespräche mit den Grünen sucht? Der kostenlose öffentliche Nahverkehr oder der bundesweite Mietendeckel sind gute Forderungen. Allerdings gehören die nicht nur auf Plakate gedruckt, sondern müssen mit Nachdruck auch auf die Straße getragen werden.

Aber nicht nur das. Anstatt sich mit Wagenknechts billigen Polemiken zu beschäftigen, hätte gezeigt werden müssen: Wir verstehen uns als KämpferInnen der ArbeiterInnenklasse. Und die ist nun mal multiethnisch und voller „skurriler Minderheiten“. Der Kampf für einen höheren Mindestlohn, Mindestrente oder bezahlbaren Wohnraum schließt Klimaschutz, LGBTIAQ-Rechte und Antirassismus nicht aus, sondern ein. Kernproblematik ist aber das Verständnis von Bewegungen, und wie diese entstehen. Selber versteht sich DIE LINKE als Bewegungspartei. Statt aber Bewegung zu initiieren, trabt sie einfach nur dem Geschehen hinterher. Und genau das fällt ihr auf die Füße und führt dazu, dass sich keine neue StammwählerInnenschaft herausbildet, während sich unterschiedliche Generationen von AktivistInnen innerhalb der Partei um die Richtung streiten. Einen Haken hat das Ganze jedoch: Würde man tatsächlich Kämpfe führen, Streiks und Solidaritätsdemos organisieren, führt das natürlich dazu, dass der Druck größer wird und Kräfte wie die Grünen oder die SPD sich distanzieren. Die Chance mitzuregieren würde in die Ferne rücken. Dafür würde aber deutlich werden, dass die Linkspartei eine Kraft wäre, die für ihre Forderungen tatsächlich kämpft. Solange sich die Partei jedoch der vorgeblich besseren Verwaltung des Kapitalismus verschreibt, wird sie diesen Widerspruch nicht überwinden können, wird sie immer wieder beim Nachtrab hinter SPD und Grünen landen.

Was kommt auf uns zu?

Auch wenn eine Vielzahl an Regierungskoalitionen denkbar ist, so zeichnen sich im Moment nur zwei Optionen ab: die Ampel (SPD/FDP/Grüne) und Jamaika (Union/Grüne/FDP). Entscheidend dafür, welche Regierung es werden wird, sind unmittelbar zwei Faktoren:

a) ob die Unionsparteien ihre inneren Konflikte im Zaum halten können;

b) die Sondierungsgespräche zwischen Grünen und FDP.

In jedem Fall stehen für eine zukünftige Regierung mehrere Baustellen an, um den deutschen Kapitalismus in der internationalen Konkurrenz aufzustellen. Angesichts der notwendigen Einbindung der FDP in jede Regierung und aufgrund des Drucks des Kapitals können wir davon ausgehen, dass folgende Politik zu erwarten ist:

  • Festhalten an der Schuldenbremse und Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt.
  • Das bedeutet weitere Einsparungen im öffentlichen Dienst, einschließlich weiterer Privatisierungen und marktwirtschaftlicher Reformen, mögen diese auch mit einem grünen oder sozialen Sahnehäubchen verkauft werden. Die Krise im Erziehungs- und Bildungswesen, im Gesundheitssektor wird prolongiert, im Bereich der sozialen Vorsorge und insbesondere der Renten werden neue Kürzungen als Reformen verkauft werden.
  • Prekarisierung, Niedriglohnsektor, Krise auf dem Wohnungsmarkt werden allenfalls mit einigen kosmetischen Reformen angegangen, im Grunde bleibt die Misere erhalten.
  • Abwälzung der Kosten für die Infrastrukturprojekte, ökologische Wende, Digitalisierung auf die Masse der Lohnabhängigen.
  • Inflation und Preissteigerungen verringern die Kaufkraft der Massen.
  • Entlassungen, Kürzungen, Schließungen im Zuge des industriellen Umbaus, die allenfalls mit SozialpartnerInnenschaft und Sozialplänen begleitet werden.
  • Erneuter Versuch, die Krise der Europäischen Union zu überwinden. Der Green Deal der EU-Kommission wird zur gemeinsamen Formel, hinter der sich jedoch unterschiedliche Ausrichtungen verbergen.
  • Abschottung der EU gegen Geflüchtete; Schwerpunkt auf Nahost und Afrika als Interessensphären der EU-Mächte außerhalb ihres eigenen Gebietes.
  • Aggressivere EU-Außen- und -Militärpolitik (Stichwort: Verantwortung übernehmen).
  • Massives Aufstocken des Rüstungsetats und Aufrüstung der Bundeswehr sowie Schritte in Richtung einer EU-Eingreiftruppe (um von den USA unabhängiger agieren zu können).

Wie schnell diese Angriffe erfolgen, hängt natürlich von der Regierungsbildung wie auch der konjunkturellen Entwicklung ab. Sicher ist aber: Sie werden kommen. Die UnternehmerInnenverbände drängen schon jetzt auf eine rasche Regierungsbildung, weil all diese Projekte vorangebracht werden sollen.

Eine Jamaika-Koalition wäre für dieses Vorhaben natürlich ein Traum. Andererseits hat eine SPD-geführte Regierung den Vorteil, dass sie besser die Gewerkschaften sozialpartnerschaftlich einbinden kann.

Was müssen RevolutionärInnen tun?

Wahlen sind bekanntlich auch immer ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers setzt sich weiter fort und damit auch die Probleme des deutschen Imperialismus auf Weltebene. Zu klein, um wirklich mitzumischen, zu groß, um gar keine Ansprüche geltend machen zu wollen, muss es weiter irgendwie versuchen, die Krise der EU zu lösen oder nach einer alternativen Ausrichtung suchen.

Der Rechtsruck, den es 2016 gegeben hat, ist verfestigt. Nichtsdestotrotz  bleibt der Reformismus innerhalb der ArbeiterInnenklasse weiterhin präsent, vor allem in Form der SPD, aber auch einer geschwächten Linkspartei. Welchen Einfluss das auf die Gewerkschaften hat – also ob man im Sinne der guten Sozialpartnerschaft sowie Standortborniertheit schön weiter alles mitverwaltet oder versucht, tatsächlich dagegen zu kämpfen, das hängt zum einen an der Frage der Regierungsbeteiligung der SPD. Zum anderen stellt sich aber auch die, ob es gelingt, eine klassenkämpferische Bewegung in den Gewerkschaften aufzubauen, deren Ziel es ist, statt selber in der Bürokratie zu vermodern, diese durch Wähl- und Abwählbarkeit sowie Rechenschaftspflicht zu  ersetzen und zu kämpfen. Die laufenden Arbeitskämpfe und kommende Tarifrunden können dazu einen wichtigen Ansatz bieten.

Ebenso braucht es eine Aktionskonferenz aller Organisationen der ArbeiterInnenklasse und linker Kräfte, um sich für die kommenden Angriffe zu wappnen. Denn klar ist, dass versucht wird, die Kosten der Krise auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Das Wahlergebnis der Linkspartei zeigt jedoch, dass man nicht nur auf Angriffe warten darf, sondern sich selber in die Offensive bringen muss. Der Berliner Volksentscheid zu „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ist der beste Beweis dafür. Statt zu verharren und zu warten, wer an die Regierung tritt, müssen wir uns organisieren und diskutieren, wie man diese Initiative bundesweit ausweiten kann. Ebenso wichtig ist die Frage, wer die politische Führung in den Gewerkschaften innehat, insbesondere wenn es darum geht, kommende Arbeitskämpfe zu führen. Statt darauf zu hoffen, dass andere gegen Klimawandel oder soziale Angriffe, gegen Rassismus und Militarismus kämpfen, müssen wir das selber in die Hand nehmen!




Vonovia übernimmt Deutsche Wohnen – Enteignung bleibt alternativlos

Jürgen Roth, Infomail 1151, 28. Mai 2021

Am Dienstag, den 25. Mai 2021, herrschte bei der Pressekonferenz im Berliner Roten Rathaus eitel Freude. „Gemeinsam nach vorne blicken“ wollten der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), sein Parteifreund und Finanzsenator, Matthias Kollatz, und die beiden Konzernchefs, Rolf Buch (Vonovia) und Michael Zahn (DW). Einhellig wünschten sich alle Beteiligten ein „Ende der Konfrontation“.

Neuer Anlauf

Zuvor waren Fusionsversuche der beiden Immobilienkonzerne gescheitert. Diesmal anders als bei vorherigen Angeboten waren sowohl Vorstand als auch Aufsichtsrat der DW in die Pläne einbezogen und begrüßten die Übernahme. Eine Grundsatzvereinbarung ist bereits unterzeichnet. Die Kartellbehörden müssen der Fusion vor Ablauf der Annahmefrist des Übernahmeangebots noch zustimmen. Außerdem gibt es den Vorbehalt einer Mindestannahmequote von 50 % aller ausstehenden DW-Aktien. Zuvor waren Vonovias Übernahmeangebote an der mangelnden Bereitschaft der AktionärInnen gescheitert, ihre Aktien anzubieten.

Vonovia, schon jetzt Nummer eins in Europa, will die Nummer zwei auf dem deutschen Wohnungsmarkt schlucken. Dieser Immobilienelefant käme auf einen Börsenwert von 48 Milliarden Euro und verfügte dann über einen Wohnungsbestand von 570.000 Einheiten. Das Angebot von 18 Mrd. Euro spiegele den „inneren Wert“ von DW wider.

Bundesweit käme der gewachsene Superkonzern auf einen Marktanteil von 2,4 %, seine dann rund 150.000 Wohnungen in der Hauptstadt entsprächen 10 %. Die Genehmigung durchs Bundeskartellamt gilt als Formsache.

Versprechen

Die Mieten im Bestand sollen bis 2024 nur um 1 % steigen, anschließend bis 2026 nur um die Inflationsrate. Da versprechen die Konzernchefs mehr, als nach dem Fall des Mietendeckels die landeseigenen Wohnungsgesellschaften halten, deren Bestandsmieten ab Oktober diesen Jahres um bis zu 2 % jährlich angehoben werden dürfen. Allerdings muss dieses Vorhaben nach Einspruch der Grünen und der Linkspartei am 1. Juni wieder im Senat vorgelegt werden.

Zudem plant die Stadt die weitere Übernahme von 20.000 Wohnungen von Vonovia und DW v. a. in sozialen Brennpunkten am Stadtrand (Falkenhagener Feld im Nordwesten, Thermometersiedlung im Süden), aber auch eine vierstellige Zahl in Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Bei Letzteren dürfte es sich v. a. um Bestände am Kottbusser Tor handeln, wo die Initiative Kotti & Co aktiv ist, die mit Fug und Recht als Keimzelle des MieterInnenprotests der vergangenen Jahre in Berlin bezeichnet werden kann. Die Rekommunalisierung war ein Wahlkampfversprechen von Linke, SPD und Grünen aus dem Jahr 2016. Damit würden die städtischen Bestände durch Ankauf in 2021 genauso stark zunehmen wie seit Beginn der Legislaturperiode bis Ende 2020. Doch macht dieser den Verlust durch Privatisierungen ab den 1990er Jahren längst nicht wett. Einen Großteil der Verkäufe haben SPD und DIE LINKE/PDS zu verantworten.

Kollatz machte darauf aufmerksam, dass Basis der Käufe der Mietenertragswert sein müsse, nicht der spekulative Verkehrswert. Dann könnten die sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften den Erwerb über Kredite finanzieren, die durch Mieteinnahmen getilgt werden könnten. Somit müssten keine Haushaltsgelder fließen. Nimmt man als Preisbasis die 920 Millionen Euro, die 2019 die landeseigene Gewobag für den Erwerb von 6.000 Wohnungen des Immobilienkonzerns Ado aufgewendet hat, käme der geplante Deal auf ca. 3 Mrd. Euro.

Bis Ende 2023 sollen auch betriebsbedingte Kündigungen der Beschäftigten infolge der Übernahme ausgeschlossen werden.

Einwände

Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Grünen für die Landtagswahlen 2021, will sich mit Vonovia zusammensetzen, um über Mieterhöhungsstopp, bezahlbaren Neubau und stärker gemeinwohlorientierten Wohnungsmarkt zu reden. Kultursenator und Vizesenatschef Klaus Lederer (Linke) begrüßt die Zugeständnisse der Konzerne, doch diese änderten nichts Grundsätzliches am Geschäftsmodell der börsennotierten Immobilienunternehmen.

Rouzbeh Taheri, einer der SprecherInnen der Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE), führt die Zugeständnisse auf den Druck des Volksbegehrens zurück. Durch einen Namenswechsel würden sich die BerlinerInnen aber nicht täuschen lassen und das Abkommen als Mogelpackung entlarven. Initiativensprecher Michael Prütz kritisierte, Müller habe sich mit der gemeinsamen Pressekonferenz als „Genosse der Bosse“ präsentiert. Die DWE-Aktivistin Jenny Stupka verwies auf die Vermietungspraktiken Vonovias, insbesondere die überhöhten Nebenkostenabrechnungen durch Tochterfirmen ohne prüffähige Rechnungen.

Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbundes (DMB) nannte die Konzernankündigungen zu Mietpreisbegrenzungen eine „verbale Flucht nach vorn“ angesichts wachsender MieterInnenproteste und klagte eine bundesweite, wirksame, lückenlose Mietpreisbremse ein. Das Geschäftsmodell ändere sich schließlich nicht. Nach umfassenden Modernisierungen unterlägen Neuvertragsmieten keiner Preisregulierung. Die Zusagen, über gesetzliche Vorgaben hinaus Modernisierungskosten auf max. 2 Euro/m2 zu begrenzen, seien Augenwischerei. Bei Ausgangsmieten bis zu 7 Euro/m2, die viele Vonovia-Bestandswohnungen nicht überschritten, stünde diese Deckelung im Gesetz. Somit könne von einer freiwilligen sozialen Wohltat keine Rede sein.

Der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild, merkt an, dass durch die Refinanzierung des Kaufpreises von 18 Mrd. Euro der Druck auf die Mieten zunähme. Hierin erweist er sich als besserer ökonomischer Realist als die beschwichtigenden Aussagen dazu seitens des Finanzsenators. Der versprochene Zukunfts- und Sozialpakt sei weitgehend „heiße Luft“. Laut Vonovia-Geschäftsbericht lägen die jährlich generierten Mietsteigerungen bei unter 1 %. Durch den großen Anteil am Berliner Wohnungsmarkt würde zudem eine für die Stadtentwicklung problematische Marktmacht herauskristallisiert, zumindest in einzelnen Stadtteilen.

Immobilienbranche sattelt auf, SPD hält die Steigbügel

„Bauen, kaufen, deckeln“, so lautet der SPD-Dreiklang. Diesen Akkord stimmen jetzt auch die Chefs der Branchenriesen an und gerieren sich selbstgefällig. Ein gutes Signal an die BerlinerInnen und an „die Politik“ für eine andere Art der Zusammenarbeit sei das.

Doch dieser Musikantenstadel wird von in die Enge gedrängten AkteurInnen inszeniert. Offenbar hat das DWE-Volksbegehren Wirkung gezeigt, so dass DW unter den Rock des Vonovia-Kolosses flüchten und ein politisch günstiges Geschäft abwickeln will. Gleichwohl ist es übertrieben, damit zu prahlen, man habe „einen Dax-Konzern in die Knie gezwungen“ (Taheri). Schließlich stellt die Übernahme von DW durch Vonovia vor allem eine weitere Stärkung des größten Players auf dem Immobilienmarkt dar und eine dementsprechende weitere Konzentration des Kapitals in einer Hand.

Die Schönrednerin des Deals, die gute, alte Tante SPD, dümpelt derweil tief im Umfragekeller. Ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit bei den MieterInnen haben gelitten. Statt den vom Bundesverfassungsgericht abgeschafften Mietendeckel zu verteidigen, kam sie im Einklang mit ihren Koalitionspartnerinnen bisher nicht darüber hinaus, einen Ausgleichsfonds für Mietnachzahlungen infolge des Urteils zu versprechen und auf eine wirksamere Bundesmietpreisbremse zu vertrösten. Als weiterer Trumpf reichen ihr vage soziale Versprechen der Vonovia- und DW-Chefs von Mietpreisstopp, Verkauf von 20.000 Wohneinheiten und, jetzt auch ernsthaft in den Neubau einzusteigen. Dieser als „Sozialpakt“ verkaufte Schmusekurs, das Einläuten eines Endes der bisherigen Konfrontation sollten die MieterInnen nicht täuschen. De facto verbrämt die SPD ihre Zustimmung zur Bildung eines riesigen Betongoldkolosses und damit die Herausbildung eines Megamonopols mit immensem Druck auf den Mietwohnungssektor als Wohltat für die Massen. Das tapfere Sozialschneiderlein ist bei diesem Geschäft aber nur der nützliche Idiot, ein Steigbügelhalter für noch größere Konzernmacht. Sozialwohnungen mit Instandhaltungsrückstand werden an das Land verkauft. Mietzusagen gelten nicht für Neuvermietungen. Dafür soll der Kampf für mehr Gemeinwohlorientierung aufhören? Das ist nicht sozial, sondern Verrat!

  • Kein Vertrauen in die Allianz Vonovia/DW und SPD! Unterschreibt fürs Volksbegehren! Für entschädigungslose Enteignung der Großkonzerne mit über 3.000 Wohnungen beim Volksentscheid! Bildet Mietkontrollkomitees für Mietpreisstopp und Boykott der Mieterhöhungen/-nachzahlungen! Für einen bundesweiten Mietendeckel nach Berliner Vorbild, das es zu verteidigen gilt!



Berliner Erster Mai – Eine Stellungnahme des Enteignungsblocks

Enteignungsblock, 2. Mai 2021, Infomail 1148, 3. Mai 2021

Im Kampf gegen den Kapitalismus muss es auch darum gehen, demokratische Rechte unserer Bewegungen zu verteidigen. Es ist ganz deutlich, dass die Polizeigewalt am Abend der Ersten-Mai-Demonstration politisch motiviert war.

Sie war die größte Demonstration des Tages. Sie war aber auch am 1. Mai die inhaltliche Zusammenkunft diverser Proteste unserer Bewegung. Mehr als 20.000 TeilnehmerInnen hatten sich versammelt. Sie war durch ihren politischen Ausdruck geprägt. Die Forderung nach Enteignung der großen Banken, GrundbesitzerInnen und Konzerne sowie der Kampf gegen Rassismus und Imperialismus prägten die Reden. Daher war der Angriff der Polizei nicht nur ein Übergriff gegen eine einzelne Demonstration, sondern die linke Bewegung als Ganzes.

Die Demonstration bot mehr als nur eine Bühne für berechtigte Wut und Empörung über unser tägliches Leid. Sie bot auch Perspektiven, wie wir dieses Leid von rassistischen Polizeikontrollen, Wohnungsverlust, Armut und kapitalistischem Elend gemeinsam bekämpfen können.

Die Stellungnahmen von einzelnen Mitgliedern und Pressemitteilungen der gesamten Polizei im Vorhinein der Demonstration stellten bereits fest, dass sie diese Perspektive mehr als alles andere fürchteten. Eine der größten Gefahren der Demonstration ginge laut Polizei davon aus, dass sie den Kampf gegen Rassismus und Wohnungsnot verbinde.

Sie machte damit deutlich, dass sie sich als das Instrument eines rassistischen und kapitalistischen Systems sieht. Sie begeht täglich rassistische Gewalt. Sie schmeißt tagtäglich Arme aus überteuerten Wohnungen. Dann ist es nur konsequent, wenn sie auf einer antirassistischen und antikapitalistischen Demonstration das Blaue vom Himmel prügelt.

Dies wurde mit einer lachhaften Konstruktion gerechtfertigt. Die Demonstration, die von Beginn an von ihr eingeengt wurde, womit sie konsequent verhinderte, dass Abstände eingehalten werden konnten, wurde dann von ihr unter dem Vorwand der Nichteinhaltung von Abständen aufgelöst.

Die gleiche Polizei trug zu einem Großteil weder FFP2- noch überhaupt Masken – ganz im Gegensatz zu den DemonstrantInnen. Jene, die von ihr in die Gefangenensammelstellen verschleppt wurden, berichteten davon, dass BeamtInnen ihre Masken in geschlossenen Räumen und auf engstem Abstand absetzten. Zum Teil taten sie dies umso energischer auf Bitten hin, die Masken sachgemäß zu tragen.

Wenn Menschen für einen besseren und effektiveren Kampf gegen die Pandemie auf die Straße gehen, weil sie es nicht mehr ertragen können, dass nach wie vor auf engstem Raum in den Werk- und Lagerhallen unter katastrophalen Bedingungen geschuftet wird, wird geprügelt. Gleichzeitig werden aber BesitzerInnen ebenjener Hallen wie Amazon hofiert.

Die Polizei ging gar so weit, die Lüge in die Welt zu setzen, die Demonstration wäre vom Anmelder aufgelöst worden, weil dieser von DemonstrantInnen angegriffen wurde. Dies ist eine Falschmeldung. Wer angriff, war die Polizei. Die Verbindung zum Anmelder kappte diese komplett, bevor sie zuschlug. Von wegen ausgestreckte Hand – durchgezogene Faust war das Motto der Polizei an diesem Abend.

Die größte Gewalt des Tages verkörperte aber die Hofberichterstattung etlicher Medien und ihrer ChefredakteurInnen, die unkritisch solche dreisten Lügen der Polizei übernahmen – ohne jegliche Gegenprüfung.

Dies alles zeigt den politisch motivierten Charakter, mit dem die Revolutionäre-Erste-Mai-Demonstration und das Demonstrationsrecht überhaupt angegriffen wurden.

Proteste, die nur Proteste bleiben, sind duldbar. Aber Massenproteste, die Perspektiven für Veränderung aufwerfen und unterschiedliche Kämpfe zusammenführen, stellen eine zu große Gefahr dar. Die Polizei schlug zu.

Ebenso teilten etliche Pressehäuser aus, die der Meinung waren, dass eine brennende Holzpalette auf der Sonnenallee relevanter sei als die Inhalte einer Demonstration mit mehr als 20.000 TeilnehmerInnen. Zumindest die Tatsache, dass eine friedliche Massendemonstration gewaltsam auseinandergejagt wurde, hätte wohl einem/r ehrlichen DemokratIn eine Erwähnung wert sein müssen.

Doch die „Gewalt“ einer brennenden Palette ist für diese rückgratlosen Schreiberlinge berichtenswerter als die Inhalte eines Protestes, der sich beispielsweise gegen die reale Gewalt stellt, der sich aktuell 1,5 Millionen MieterInnen Berlins nach dem Kassieren des Mietendeckels ausgesetzt sehen und die selbst laut Schätzungen des Senats 40.000 Menschen mit Obdachlosigkeit oder Bankrott bedroht. Es ist letztlich egal, ob dieses Gegeifer aus bewusstem Wunsch zur  Verunglimpfung oder Effekthascherei heraus geschah.

Dass Innensenator Geisel, der ein bekannter Freund der Immobilienlobby ist, nach der Gewalttat der Polizei dieser dankte, zeigt auf wessen Seite er letztlich steht. Auf der anderen! Auf der Seite der Reichen und Mächtigen, deren Stiefel uns noch viel gewaltsamer im Nacken stehen als die der Polizei am Ersten Mai.

In der Verteidigung selbst simpler bürgerlich demokratischer Rechte kann man sich scheinbar nicht auf diese „DemokratInnen“ des Zwielichts verlassen. Wir müssen sie selbst in die Hand nehmen. Der erste Schritt hierbei muss eine breite Aufklärung über die Lügen der Polizei und ihrer scheinbar untergeordneten „Vierten Gewalt“ sein. Der nächste Schritt muss darin bestehen, die Solidarität und die Strukturen, die durch die Mobilisierung der diesjährigen Demonstration geschaffen wurden, auszubauen, um unser Ziel zu erreichen: die EnteignerInnen zu enteignen und die RassistInnen zu entmachten!




Die Landtagswahlen und der Absturz der CDU

Robert Teller, Neue Internationale 254, April 2021

Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg galten im Vorfeld der bürgerlichen Öffentlichkeit als Indikatoren für die kommende Bundestagswahl. Noch vor wenigen Wochen schien es sicher, dass CDU/CSU den nächsten Kanzler stellen würden. Offen schien nur die Frage nach dem Spitzenkandidaten und der Koalition, auf die er sich stützen würde.

Das Ergebnis zeigt in beiden Ländern eine schwere Niederlage für die CDU, eine Kräfteverschiebung im bürgerlichen Lager, die reale Möglichkeit eine Ampel-Koalition und trotz des SPD-Wahlsiegs in Rheinland-Pfalz schlechte Aussichten für diese.

Wahlergebnisse in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg sind die Grünen (wie bereits 2016) stärkste Kraft geworden, haben ihren Vorsprung vor der CDU aber auf 8,5 % ausbauen können. Vor allem Stimmen von CDU und SPD sind zu den Grünen gewandert.

Die CDU steht nicht nur im Vergleich zu den Grünen schlechter da. In absoluten Zahlen hat sie gegenüber 2016 knapp 20 % verloren, allerdings bei einer (um 6,6 %) ebenfalls gefallenen Wahlbeteiligung, sodass ihr Stimmenanteil von 27,0 % auf 24,1 % fällt. Vor einigen Monaten war nach den Umfragen noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen möglich. Das Wahlergebnis stellt eine schwere Niederlage für die CDU dar, die im Bundesland vor 2011 nie unter 35 % lag und sich lange Zeit gar am Erreichen absoluter Mehrheiten messen ließ. Die CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann konnte sich im Wahlkampf nicht gegenüber Kretschmann durchsetzen. Als Kultusministerin hat sie sich gegen Fernunterricht gestemmt und die erneute Schulöffnung bereits im Februar durchgesetzt, wofür sie viel Kritik einstecken musste. Die Grünen gewannen nicht nur in Eisenmanns Wahlkreis haushoch, sondern die CDU-Spitzenkandidatin verfehlte auch ein Zweitstimmenmandat und gehört dem Landtag nicht mehr an.

Die SPD, die bis 2011 stabil auf dem zweiten Platz nach der CDU gelegen hatte, hat ihren Negativrekord von 2016 (12,7 %) nun nochmals unterboten und liegt bei 11 % (gefolgt von FDP mit 10,5 % und AfD mit 9,7 %). SPD-Spitzenkandidat Andreas Stoch sieht aber selbst bei diesem katastrophalen Ergebnis noch Luft nach unten und freut sich: das Ergebnis sei „immerhin deutlich besser, als man es uns prophezeit hatte“. Olaf Scholz verkündet, dass eine Regierung ohne CDU in Deutschland wieder möglich geworden ist – nur, ein Verdienst der SPD ist das nicht!

Die FDP ist bei einem für sie guten Ergebnis gelandet (+2,2 % gegenüber 2016) und sieht sich deutlich gestärkt. Gewonnen hat sie Stimmen v. a. von früheren CDU- und AfD-WählerInnen. Sie hat einerseits mit „vernünftigen“ (d. h. nicht offen wissenschaftsleugnenden) lockdown-kritischen Positionen KleinbürgerInnen eingefangen, die sich von der Krise bedroht fühlen, was der AfD nicht gelungen ist. Andererseits liegt ihre Bedeutungszunahme nicht nur in ihrem Stimmenzuwachs begründet, sondern mehr noch in der Schwäche der CDU. Nach der Bundestagswahl bräuchten Grüne und SPD die Liberalen zur Bildung einer Ampelkoalition. Ihr Spitzenkandidat bringt sich daher schon in Stellung für Koalitionsverhandlungen – und treibt den Preis für eine liberale Regierungsbeteiligung nach oben.

Die AfD verliert 5,4 %, außerdem die beiden Direktmandate, die sie 2016 in Pforzheim und Mannheim geholt hatte. In diesem Ergebnis drückt sich ihre innere Zerrissenheit aus, einerseits die neue „CDU der 1950er Jahre“ zu sein und gleichzeitig rechtspopulistische „Bewegungspartei“ mit faschistischer Flanke. Die Flügel in der AfD haben sich im vergangenen Jahr verfestigt, ohne dass eine Lösung absehbar ist. In der Lockdown-Politik hat sie eine Position eingenommen, dass sie in der ersten Phase die Regierungslinie, natürlich mit dem üblichen extrem rassistischen Genörgel, vertreten hat, dann, als die QuerdenkerInnen in Erscheinung traten, schwenkte sie fix um und leugnet nun die Gefahr der Pandemie weitgehend, was von breiten klassisch bürgerlichen WählerInnenschichten abgelehnt wird. In den Querdenken-Protesten hat die AfD aber trotz ihrer inhaltlichen Bezugnahme keine tonangebende Rolle erobern können. Ein Teil ihrer Verluste mag zu den rechtspopulistischen Neugründungen „Die Basis“ und „W2020“ abgewandert sein, die beide auf die „Querdenken“-Bewegung zurückgehen und bei ihren jeweiligen AnhängerInnen nun als die „echte“ Alternative gelten, wohingegen die AfD in deren Augen bei den „Systemparteien“ angekommen ist. Es muss aber festgehalten werden, dass die AfD trotz ihrer Verluste über eine verlässliche WählerInnenbasis im rechten Spektrum neben CDU und FDP verfügt und bis zu den Bundestagswahlen eine größere Sogwirkung als rassistische, rechte Massenpartei entfalten kann.

Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz

Die Ergebnisse in Rheinland Pfalz weisen in dieselbe Richtung wie in Baden-Württemberg, wenn auch mit länderspezifischen Unterschieden. In diesem Bundesland konnte die SPD mit 35,7 % ihr letztes Ergebnis mit geringen Verlusten halten. Die CDU verliert ähnlich wie in BW und kommt auf 27,7 % (-4,1 %), wovon die Grünen profitieren, die auf 9,3 % (+4,0 %) kommen. Die AfD verliert in ähnlicher Größenordnung wie in Baden-Württemberg und erreicht 8,3 % (-4,3 %). Die FDP verliert leicht, dafür gewinnen die „Freien Wähler“ und ziehen in den Landtag ein.

Im Wesentlichen findet also auch in Rheinland-Pfalz eine Verschiebung innerhalb des offen bürgerlichen Lagers statt. SPD und Linkspartei verzeichnen zwar Wählerwanderungen, ihr Ergebnis verändert sich aber wenig. Von der Krise der CDU profitieren in beiden Ländern vor allem die Grünen. Das Gewicht der FDP erhöht sich, obwohl sie in Rheinland-Pfalz eigentlich zu den Verliererinnen der Wahl gehört. Für die AfD gilt im Grunde dasselbe wie in Baden-Württemberg.

Linkspartei

DIE LINKE hat in beiden Bundesländern ein gegenüber 2016 fast unverändertes Ergebnis erreicht: In Baden-Württemberg steigt sie von 2,9 % auf 3,6 %, in Rheinland-Pfalz verlor sie gar 0,3 % und liegt nun bei 2,5 %. In beiden Bundesländern scheitert sie an der 5 %-Hürde, die zweifellos ein großes Hindernis für den Wahlkampf kleinerer Parteien darstellt. Zum anderen zeigt dies für beide Länder, dass die Linkspartei trotz der katastrophalen Regierungspolitik, trotz der kapitalistischen Krise und trotz der Erosion der Sozialdemokratie keine bedeutende Anziehungskraft auf die ArbeiterInnenklasse ausübt. Sicherlich hatte die Linkspartei in beiden Bundesländern ähnlich wie in Bayern immer schon schwierigere Ausgangsbedingungen. Das erklärt aber nicht die Stagnation über Jahre.

Diese liegt vielmehr darin begründet, dass sie sich in keiner Phase der Krise und der Pandemie als glaubwürdige und radikale Alternative zur Regierung und als Opposition zum Kapital präsentieren konnte.

Bis zum Herbst 2020 wurde der Kurs der Regierung Merkel im Wesentlichen mitgetragen. Dann wurden zwar Forderungen nach Besteuerung der Reichen erhoben, aber das blieb ein v. a. parlamentarischer Vorschlag der Partei.

Hinzu kommt, dass sich ihre Politik in den Landesregierungen (Berlin, Thüringen, Bremen) faktisch nicht von anderen unterschied. Auch sie ordneten den Gesundheitsschutz den Kapitalinteressen v. a. im industriellen und Finanzsektor unter. Ein Teil der Partei sympathisiert zwar mit #ZeroCovid und einer entschiedenen Bekämpfung der Pandemie im Interesse der ArbeiterInnenklasse. Ein dritter Teil wiederum hält eine linke, entschlossene Bekämpfung der Pandemie für unmöglich und hofft, dass wir uns nach überstandener Gesundheitsgefahr wieder den „eigentlichen“ sozialen Fragen widmen könnten.

Um die Einheit der Partei zu wahren, werden einerseits Formelkompromisse in die Welt gesetzt, andererseits machen die RegierungssozialistInnen in den Kabinetten weiter wie bisher. Dass die Linkspartei mit einer solchen Konzeption keine Zugkraft entwickelt, sollte niemanden wundern.

Reaktionen und Bedeutung bundesweit

Der Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg mit 8,5 % Vorsprung vor der CDU ist für letztere eine Demütigung. Dabei ist es einerlei, ob Kretschmann nun die grün-schwarze Koalition mit einer eindeutig klaren Führungsrolle fortsetzen oder gar eine Ampelkoalition ohne CDU bilden wird. In beiden Fällen wird die Erkenntnis der Wahl sein, dass auf Bundesebene für die CDU an den Grünen kaum ein Weg vorbeiführt – und das auch in dem Sinne, dass sich Kretschmanns Grüne gewissermaßen als die bessere CDU von heute zu präsentieren vermögen: eine „wirtschaftsfreundliche“ Staatspartei für das Kapital, aber ohne unproduktive, schädliche Debattenschauplätze wie auf dem rechten Flügel der CDU. Für die Grünen stellt sich nun die Frage, ob sie durch Fortsetzung von Grün-Schwarz auch den Weg für Schwarz-Grün auf Bundesebene freimachen oder mit der Ampelkoalition die FDP aufwerten wollen.

Die Wahlergebnisse mögen auch mit der Popularität von Kretschmann und Dreyer erklärt werden bzw. mit der Schwäche ihrer HerausforderInnen. Das mag die Niederlage für die CDU etwas relativieren, nicht aber deren Bedeutung für die Bundestagswahl, wo der CDU/CSU noch ein Flügelkampf um die Kanzlerkandidatur bevorsteht. Der „Amtsbonus“ mag vor allem Kretschmann zugutekommen, der nicht nur an die CDU-Tradition eines von politischen Sprüchen befreiten Personenwahlkampfs anknüpft, sondern sich auch quasi als Merkels verlässlichster Verbündeter beim Krisenmanagement erwiesen hat.

Der CDU hingegen hat bei beiden Wahlen nicht geholfen, dass sie auf Bundesebene an den Schalthebeln sitzt, und auch die bundesweiten Umfrageergebnisse zeigen für sie einen steten Abwärtstrend. Merkel scheint mit ihrem Abtritt ein Machtvakuum zu hinterlassen, das kein bekannter Bewerber um die Nachfolge füllen kann. Die Annahme fetter „Provisionen“ durch CDU-Abgeordnete für die Vermittlung von Masken wurde bereits vor der Wahl bekannt, aber in ihrem aktuellen Ergebnis ist die Maskenaffäre noch nicht einmal vollständig eingepreist, da mehr als zwei Drittel der WählerInnen in Baden-Württemberg und auch ein großer Teil in Rheinland-Pfalz ihre Stimme bereits vorab per Briefwahl abgegeben hatten.

Die Landtagswahlen sollten für die CDU der Meilenstein vor den Bundestagswahlen sein, nach dem über die Kanzlerkandidatur entschieden wird. Die wesentliche Erkenntnis der Landtagswahlen ist nun, dass ein CDU-Kanzler nicht gesichert und eine Ampelkoalition als Möglichkeit auf Bundesebene eine reale Option geworden ist. Dies könnte den Grünen weiterhin Auftrieb verleihen. Zugleich könnte die Wahlniederlage der CDU in der Diskussion über die Kanzlerkandidatur Söder ermutigen, sich stärker gegen Laschet in Stellung zu bringen.

Obwohl die FDP gestärkt ist, reagiert sie auf Bundesebene zurückhaltend zur Frage der Regierungsbeteiligung in Baden-Württemberg. Aber wenn Lindner nicht über Ampeln, sondern über Inhalte sprechen will, ist das alles andere als ein Dementi. Die FDP wird sich im Zweifelsfall einer Ampelkoalition kaum verweigern können, nachdem ihr Platzenlassen der Jamaika-Koalition 2017 zu schweren internen Auseinandersetzungen geführt hatte. Auf Bundesebene ist eine Ampelkoalition aus heutiger Sicht die realistische Regierungsoption für die FDP. Das ist wiederum ein Problem für die CDU und könnte ihre Flügelkämpfe verschärfen – zwischen dem rechten Flügel, der einen Lagerwahlkampf gegen einen befürchteten „Linksruck“ in der BRD führen, und dem um Merkel/Laschet, der sich alle Optionen offenhalten möchte. Dennoch möchte die FDP sich nicht auf die Perspektive der Ampelkoalition festlegen, um nicht vermeidbar als Erfüllungsgehilfin einer rot/grünen Regierungsbeteiligung zu gelten.

Wie auch immer die taktischen Wendungen der WahlstrategInnen aller Parteien und ihre Raffinessen aussehen: Die starken Verluste der beiden Volksparteien vor allem den aktuellen Umständen, wie dem Masken-„Provisionen“-Skandal in der CDU/CSU, dem schlechten Corona-Krisen-Management der GroKo oder dem inkompetenten Personal der Führungsriegen der Parteien anzulasten, greift zu kurz.

Schon seit den 1990er Jahren ist zu beobachten, dass die soziale Bindungskraft der sog. Volksparteien nachlässt, um nicht zu sagen zerbröselt, weil Kompromisse, die für alle was übrig lassen, immer schwerer zu finden sind. Nach dem Krieg nahmen SPD und Union für sich in Anspruch, die Interessen aller Schichten und Klassen der Gesellschaft zu vertreten: vom Wirtschafts- über den Mittelstands- bis zum Arbeit„nehmer“Innenflügel. Natürlich war das immer eine Ideologie. Beide Volksparteien stützen sich geschichtlich, sozial und organisch auf unterschiedliche Klassen der Gesellschaft. Die SPD monopolisierte als bürgerliche ArbeiterInnenpartei über Jahrzehnte faktisch die gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnenklasse. CDU/CSU bildeten die Vertretung des deutschen Kapitals, auch wenn sie als christliche Massenparteien das KleinbürgerInnentum und auch v. a. katholische ArbeiterInnenschichten an sich banden. Die SPD wiederum präsentierte sich als reformistische, d. h. ihrem Wesen nach bürgerliche Partei immer auch als bessere Sachwalterin der Gesamtinteressen des Kapitals.

Entscheidend ist, dass dieses System für einige Jahrzehnte funktionierte, seit den 1970er Jahren jedoch zunehmend erodiert. Seit dem Ende von Rot/Grün und mit der Agenda-Politik unter Schröder hat sich dieser Prozess bescheunigt und vertieft, was zuerst vor allem die SPD traf. Die zunehmende Unfähigkeit der Volksparteien, ihre Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit zu erfüllen, hat seine Ursachen in der zunehmenden Krisenhaftigkeit des globalen Kapitalismus, die schon seit Mitte der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts zu beobachten ist.

Sinkende Kapitalrenditen führten zu einem verschärften Konkurrenzkampf. Die Folge ist eine zunehmende Konzentration des Kapitals: Die großen Kapitale fressen die kleinen. Die kleinen sind der ach so umsorgte Mittelstand, die Bauern/Bäuerinnen und im verstärken Maße die bessergestellten Schichten abhängig Beschäftigter. Der verstärkte Zwang, Kosten zu sparen, um konkurrenzfähig zu bleiben, befeuert Rationalisierungen wie die sog. Digitalisierung, Deregulierung und Intensivierung der Arbeit in allen Bereichen der Gesellschaft und damit gleichzeitig die Verarmung immer größerer Schichten der Lohnabhängigen.

Dem nach 1945 etablierten politischen System und dessen Hauptparteien wird somit die Geschäftsgrundlage entzogen. „Weimarer Verhältnisse“, denen die Volksparteien laut ihrer Ideologie vorbeugen sollten, werden zwangsweise wieder zu erwarten sein. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr politischer Herrschaftsmechanismus werden zur Zeit nicht durch ihre FeindInnen unterminiert, sondern durch die heiligen Marktgesetze des Kapitalismus. Daran kann keine Regierung der Welt und kein Parlament etwas ändern.

Welche Perspektive?

Wohl aber erhebt sich die Frage, welche Klasse, welche gesellschaftliche Kraft eine Antwort auf diese Krise zu geben vermag. Auch wenn die AfD bei den Landtagswahlen Niederlagen einfahren musste, so bilden die Bewegung der Corona-LeugnerInnen, die Krise und damit die Entwurzelung des KleinbürgerInnentums einen Nährboden für wachsenden Irrationalismus und Rechtspopulismus. Diese Bewegung steht bereit, wenn die „normale“ bürgerliche Politik keine Lösung für die Krise des Kapitalismus zu bieten vermag.

Zweifellos bildet die aktuelle, katastrophale und inkompetente Regierungspolitik eine unmittelbare Ursache der Wahlniederlagen der CDU. Aber das Problem der Unionsparteien besteht auch darin, dass unter der Oberfläche der Regierung Merkel verschiedene Kräfte um die politische Ausrichtung kämpfen. Wie auch der knappe Sieg von Laschet gegen Merz im Kampf um den Parteivorsitz zeigte, ist der Richtungsstreit in der Union keineswegs gelöst. Er droht vielmehr, an kritischen Punkten immer wieder aufzubrechen. Die Grünen vertreten im Gegensatz dazu eine bestimmte Kapitalstrategie, den Green New Deal. Die Regierung Kretschmann hat in Baden-Württemberg, einem der wichtigsten Standorte des deutschen Exportkapitals, über mehrere Legislaturperioden bewiesen, dass sich die herrschende Klasse davor nicht zu fürchten braucht, sondern dass die Grünen ihre Interessen recht konsequent, aber ohne wertkonservativen Plunder vertreten.

Die Ergebnisse von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben jedenfalls dazu geführt, dass mit den Bundestagswahlen zwei Regierungskoalitionen möglich erscheinen: Schwarz-Grün oder die Ampel. Nachdem die SPD jahrelang ihre eigene Partei in der Großen Koalition verschlissen hat, bewirbt sich Olaf Scholz nun als Vizekanzler unter Grün-Rot-Gelb. Die ArbeiterInnenklasse hat von einer solchen „Linkswende“ allerdings nichts zu erwarten.

Während vor den Landtagswahlen noch in der Linkspartei und linken SPD-Kreisen von einer möglichen grün-rot-roten Koalition die Rede war, so ist es um diese neoreformistische Phantasie still geworden. Die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokratie wollten von dieser Träumerei ohnedies nie etwas wissen. Die „linke“ SPD-Führung setzt natürlich auch auf eine grün-rot-gelbe Regierung ohne Unionsparteien. Hatte die SPD im Verbund mit den Gewerkschaftsspitzen die ArbeiterInnenklasse über Jahre durch die Große Koalition ans deutsche Kapital gebunden, so soll die  Klassenzusammenarbeit neu gefärbt werden. Bleibt nur noch die Linkspartei und die Frage, ob sie sich von den Illusionen in eine Regierungsbeteiligung verabschiedet oder weiter darauf hofft.

Um das gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ändern und um die ArbeiterInnenklasse aus der doppelten Umklammerung an SozialpartnerInnenschaft und Großer Koalition zu lösen, führt kein Weg an einer unabhängigen Klassenpolitik vorbei – am Kampf für eine Aktionskonferenz und ein Aktionsbündnis gegen die kapitalistische Krise und Pandemie einerseits und am Aufbau einer revolutionären Alternative zum Reformismus andererseits.




Olaf Scholz als Zugpferd?

Jürgen Roth, Infomail 1113, 14. August 2020

Stolz präsentierten sie Scholz. Am Montag, dem 10. August, verkündeten der Bundesfinanzminister und die SPD-Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass man sich auf einen Spitzenkandidaten für die nächste Bundestagswahl geeinigt habe. Dass der Parteitag die Entscheidung absegnen wird, gilt als sicher.

Die beiden Vorsitzenden und der Vizekanzler präsentierten sich nicht nur in trauter Eintracht. Sie waren sogar etwas stolz darauf, dass sie vor allen anderen Parteien einen Spitzenkandidaten vorzuweisen haben und dass von diesem „Coup“ vorab nichts an die Presse gedrungen sei. Einigkeit beginnt in der SPD mit Schnauze Halten.

Absichtsbekundungen

Auch wenn die Umfragen im Keller sind, so gibt sich die SPD ambitioniert. Bis zur nächsten Bundestagswahl wolle sie natürlich verlässlich die Arbeit der Großen Koalition fortsetzen, dann aber solle ein „echter“ Politikwechsel mit einer linken „Reformkoalition“ folgen. Der kategorische Ausschluss einer Koalition mit der Linkspartei auf Bundesebene wurde nebenbei offiziell begraben – womit sich die politischen Zuggeständnisse von Scholz und Co. an die Vorsitzenden auch schon erledigt haben. Alle anderen „Brüche“ mit neo-liberalen doktrinären Marotten wie der „Schwarzen Null“ wurden nicht aus besserer Überzeugung, sondern aus pragmatischer Akzeptanz des Notwendigen angesichts einer historischen Krise des Kapitalismus und einer globalen Pandemie vollzogen.

Scholz gab als Ziel aus, die Umfragewerte der Partei zu steigern (aktuell zwischen 14 und 15 %) und die nächste Regierung anzuführen. Da er sich im gleichen Atemzug von DIE LINKE distanzierte wegen deren Ablehnung der NATO, stellt sich die Frage, wie das funktionieren soll, sofern die Linkspartei – was sicher nicht auszuschließen ist – nicht noch weitere Abstriche und Verrenkungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr macht.

Da natürlich auch zweifelhaft ist, ob die SPD überhaupt vor den Grünen landen wird, hat die Vorsitzende Esken in einem ARD-Interview schon erklärt, die Sozialdemokratie sei bereit, auch unter einer grünen KanzlerInnenschaft „Verantwortung“ zu übernehmen. Walter-Borjans mutmaßte, Scholz genieße hohes Ansehen in der Bevölkerung wegen seiner Fähigkeit, Krisen zu meistern. Deshalb wurde er auch einstimmig (!) von Vorstand und Präsidium nominiert.

Reaktion der Parteilinken

Doch nur Teile des linken SPD-Flügels zeigten sich angesichts dieser Personalentscheidung ratlos oder gar ablehnend. So Hilde Mattheis (Vorsitzende des Vereins Forum DL 21): „Warum versuchen wir, mit der immer gleichen Methode ein anderes Ergebnis zu erwarten?“ Andrea Ypsilanti zog den Schluss, dass die SPD als „transformatorische Kraft im Zusammenspiel mit Bewegungen“ ausfalle. Einigkeit sieht anders aus! Aber diese Kritik teilt auch nur eine Minderheit der Parteilinken. Die meisten tun so, als wäre die Entscheidung für Scholz keine politische Weichenstellung, als hätte sich der Architekt von Agenda 2010 nach links bewegt, nur weil er auch Kanzler werden wolle.

Viele Parteilinke verteidigen jedenfalls die Nominierung. Annika Klose, Berliner Juso-Vorsitzende, hofft auf Rot-Rot-Grün unter dem SPD-Spitzenkandidaten. Pragmatismus und Regierungserfahrung seien ein Vorteil und der Wahlkampf werde als Team geführt. Die Konjunkturprogramme in der Corona-Krise seien mit den Parteivorsitzenden und dem Juso-Bundeschef Kühnert abgesprochen, Schuldenaufnahme, Mehrwertsteuersenkung, Grundrente und die im Sozialstaatspapier versprochene Abkehr von Hartz IV hätten linke Akzente in der Großen Koalition markiert. Sie setzte ihre Hoffnung auf mehr Umverteilung, Schließen von Steuerschlupflöchern, Wiederbelebung der Vermögenssteuer und Änderungen bei der Erbschaftssteuer und auf diesbezügliche Unterstützung durch die EU. Hoffnung machte ihr auch, dass Olaf Scholz eine Regierungsbeteiligung ohne die Union haben möchte. Wiederum: mit wem? Fastnamensvetter Schulz hatte Ähnliches nach der verlorenen letzten Bundestagswahl verkündet – das Ergebnis ist bekannt.

Auch Fraktionsvize Miersch, seines Zeichen Sprecher der Parlamentarischen Linken, und Kevin Kühnert äußerten sich ähnlich. Letzterer gibt seinen Juso-Vorsitz im Herbst auf und kandidiert für den Bundestag. Dafür hat er gleich eine Eintrittskarte ins Scholz’sche (Schatten-)Kabinett gelöst und die Unterstützung der Parteijugend zugesagt. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren marschierten Topleader und Jusos in eine gemeinsame Richtung! Gleichzeitig warnte er seine GenossInnen vom linken SPD-Flügel vor „destruktiver Kritik“.

In diesen Worten schwingt nicht unberechtigte Sorge mit. Schließlich sehen Teile der Parteibasis – und erst recht Millionen Lohnabhängige – Scholz als Architekten von Agenda 2010 und der Rente mit 67. Hilde Mattheis kritisierte, dass die SPD sich mit der Wahl der beiden neuen Parteivorsitzenden eigentlich von ihrer Politik der vergangenen Jahre verabschieden wollte. „Eigentlich“ wollte man schon vor 3 Jahren die Große Koalition aufkündigen und noch „eigentlicher“ erwiesen sich die „linken“ HoffnungsträgerInnen als SteigbügelhalterInnen für das Zurück zur Politik der vergangenen Jahre!

Bröckelt die Basis?

Einige linke BasisaktivistInnen verlassen die SPD, so der Vorsitzende des Vereins NoGroKo, Steve Hudson. Er und viele Tausende hätten Esken und Walter-Borjans gewählt, damit sie die SPD-Basis gegen die Politik und Person Scholz vertreten, die im Wahlgang eine heftige Schlappe erlitten habe, nur um gestärkter denn je dazustehen. Er monierte auch, dass der Kandidat weder von einem Parteitag noch von den Mitgliedern gewählt wurde. Scholz habe die derzeitigen Zustände mit erschaffen, mit verteidigt und argumentiere für sie bis heute.

Innerhalb der organisierten Parteilinken hat sich im Vergleich zur Gemengelage vor 3 Jahren die Situation weitgehend geklärt. Nur noch in DL 21 versammeln sich SozialdemokratInnen, die auf eine personelle und inhaltliche Linkswende der SPD hoffen. Doch sie üben keinen Einfluss auf die Programmatik aus. Sie werden das auch weiterhin nicht tun, wenn sie nicht den Kampf innerhalb der Gewerkschaften um eine andere Führung aufnehmen. Schließlich ist die Bindung an die und die Kontrolle der Gewerkschaften  das einzige übriggebliebene organische Bindeglied zur organisierten ArbeiterInnenklasse, andere (Genossenschaftswesen, Kultur, Sport, ArbeiterInneneinfluss auf die Ortsvereine, Vorfeldorganisationen wie Jusos, Falken, ArbeiterInnensamariterbund, AWO, Mietervereine …) existieren entweder nicht mehr oder sind geschwächt und sind vor allem zum Tummelplatz reiner KarrieristInnen geworden.

Grüne und DIE LINKE

Die SPD ist schwer angeschlagen nach einer langen Serie von Wahlniederlagen und Personalquerelen. Die Grünen legen sich nicht fest und schielen auch auf Union und FDP. DIE LINKE profitiert nicht davon.

Am Wochenende, 8./9. August, noch vor der Verkündung von Scholz‘ Kandidatur erklärte die SPD ihre Bereitschaft zur Regierungszusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund – nach 30 Jahren Unvereinbarkeitspose gegenüber PDS/DIE LINKE! Wir haben oben ausgeführt, von welchen Widersprüchen die SPD derzeit geprägt ist. Hier wird ein weiterer hinzugefügt. Es ist zu bezweifeln, ob mehr dahintersteckt, als sich viele Optionen für eine ungewisse Zukunft offenzuhalten.

Doch auch DIE LINKE wird nicht um die Frage herumkommen, wie sie mit ihrer bisherigen Rolle gegenüber der SPD umgehen will. Parteichef Bernd Riexinger sieht als entscheidend an, ob es inhaltliche Übereinstimmungen gibt. Er findet an den Aussagen vom vergangenen Wochenende interessant, dass die SPD das Hartz-IV-System überwinden, Sanktionen abschaffen, einen deutlich höheren Mindestlohn und Reiche stärker besteuern wolle. Offen bleibe die Frage der Friedenspolitik wie eines sozial-ökologischen Umbaus. Mit der LINKEN seien Kampfeinsätze der Bundeswehr nicht zu machen. Und was ist mit der NATO, Genosse Riexinger? Dass die Linke im Mai 2020 Gregor Gysi einstimmig zum außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion gewählt hat, zeigt, dass die Parteispitze und der Apparat eine Koalition mit SPD und Grünen nicht abgeneigt sind und sie faktisch vorbereiten.

Natürlich beteuert DIE LINKE weiter, dass sie keinen Koalitionswahlkampf betreiben werde, sondern eigene Positionen durch starke Unterstützung aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Sozialverbänden verankern wolle. Doch das kann sie leicht verkünden, einen „Koalitionswahlkampf“ verlangt von ihr ohnedies niemand, zumal sie über andere Regierungsoptionen eh nicht verfügt.

Um den Willen zur Regierung auszudrücken, reicht es schon, wenn Riexinger erklärt, dass die CDU als Regierungspartei abgelöst gehöre. Momentan erschweren zweifellos eher die Grünen einen solchen „Politikwechsel“, sollte es denn die parlamentarischen Mehrheiten dafür geben. Diese haben sich schließlich der CDU schon seit längerem angenähert und erwägen, wie die Interviews des ehemaligen „Linken“ Trittin zeigen, eher eine Koalition mit der Union als eine Regierung mit SPD und Linkspartei.

Genau diese Umorientierung der Grünen mag aber andererseits dazu führen, dass sich auch die Linkspartei „härter“ in ihren Bedingungen gibt. Warum soll sie gleich alle politischen Positionen für ein Projekt fallenlassen, das auch mit ihrer Zustimmung ungewiss, wenn nicht unwahrscheinlich ist?

Dass die SPD ein mögliches rot-rot-grünes Projekt in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen wird, hängt daher nur bedingt damit zusammen, dass sie wirklich daran glaubt. Sie hat vielmehr kein anderes, mit dem die Partei überhaupt „geeint“ antreten kann. Man kann so auch viel leichter so tun, also ob sie nicht nur für einen Bruch mit der Großen Koalition, sondern auch für eine nicht näher definierte „andere“ Politik stünde.

Wahlkampf-Konstellation wie 1998?

Ein Vorteil der frühzeitigen Kandidaten„wahl“ besteht darin, dass Scholz sich von jetzt an profilieren kann. Er hat mehr Zeit, ein Programm und ein Team aufzubauen, als die KonkurrentInnen. Der zweite „Vorteil“ besteht für die Partei darin, eine Richtungsdebatte, wie zuletzt 2017 geführt, vermieden zu haben – unter Komplizenschaft großer Teile des „linken“ Flügels wie seitens der Jusos und der Vorsitzenden!

Die Geschichte der ersten rot-grünen Bundesregierung 1998 liefert einige Parallelen zur heutigen Lage. Es waren immer Leute der Mitte, wenn nicht sogar vom rechten Flügel, die neuen Machtkonstellationen auf der linken Flanke des traditionellen Parteiensystems den Boden bereitet haben (Börner in Hessen Mitte der 1980er Jahre, Schröder 1998 im Bund), während linke Kräfte wie Ypsilanti 2008 dabei scheiterten. 1998 hatte Langzeitkanzler Kohl seinen Zenit überschritten, Langzeitkanzlerin Merkel will 2021 nicht mehr antreten. 1998 kandidierte mit Schröder ein erfahrener Landespolitiker als Gesicht für die Massen im Gespann mit dem linken Parteichef Lafontaine als programmatischer Kopf.

Anders als 1997/98 gibt es heute aber keine ernsthafte gesellschaftliche Bewegung, die eine (rot-)rot-grüne Option stärken und tragen könnte, wie es damals in Massenaktionen gegen die Angriffe der Kohl-Regierung und in der Erfurter Erklärung zum Ausdruck kam. Die Wahl des Duos Schröder-Lafontaine bildete den Auftakt zu einer sozialdemokratischen Tragödie samt Kriegseinsätzen und Agenda 2010. Mit dem Trio Esken, Scholz und Walter-Borjans wiederholt sie sich – als politische Farce.




Abwrackprämie: Sozis beißen sich

Mattis Molde, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Wenn SozialdemokratInnen sich gegenseitig vorwerfen, die AfD zu fördern, politische GeisterfahrerInnen zu sein und die Interessen der Beschäftigten zu verraten, lässt das aufhorchen. Die SPD, diese Verkörperung von Zahnlosigkeit, hat schon lange niemand mehr richtig wehgetan. Woher als plötzlich diese Bissigkeit?

Es geht um die Kaufprämie für Pkws. Die Auto-Bosse hatten diese auch für „schadstoffarme“ Verbrenner gefordert und in ihrem Schlepptau hatte die IG Metall sich mit breiter Brust dahinter gestellt. Die Bundesregierung mit der daran beteiligten SPD verfügte wenigstens über so viel politisches Gespür, dass die Einführung einer solchen Prämie ein PR-Desaster bedeutet hätte.

Gespür?

Die ganzen Versprechen für eine CO2-Reduktion, die nirgendwo so unverwirklicht sind wie im Verkehrssektor, wären noch schneller noch unglaubwürdiger geworden. Diese Prämie zur fortgesetzten Luftverschmutzung hätte alle anderen Branchen auf den Plan gerufen, die ähnliches gefordert hätten – Kohle, Luftverkehr, Energie, Landwirtschaft vorneweg.

Nicht dass die Autokanzlerin und ihr Gefolge dem Auto abgeschworen hätten. Es gibt keinen Anlass zur Freude für UmweltschützerInnen. Die Mehrwertsteuersenkung von 3 % bringt den KäuferInnen von Oberklassenschlitten etwa so viel wie die Abwrackprämie von 2009, die 2500 Euro betrug. Die Kaufanreize für E-Autos wurden erhöht. Die Autoindustrie bekommt ohnedies jede Menge an Subventionen und sackt auch den Löwenanteil an Forschungsförderung ein.

All das stärkt nicht nur die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt, es bietet auch die Basis für die Integration bedeutender Teile der ArbeiterInnenklasse und die „Sozialpartnerschaft“, also die Unterordnung der Gesamtinteressen der ArbeiterInnenklasse unter jene des Kapitals. Die Löhne der Stammbelegschaften der Autoindustrie betragen mit allen Zulagen und Prämien im Durchschnitt satt das Doppelte anderer Lohnabhängiger. Es wäre für die Millionen Menschen, insbesondere für diejenigen, die in Krankenhäusern, Kindertagesstätten, im Handel oder öffentlichen Verkehr mit zusätzlichen Belastungen und Risiken gearbeitet haben, völlig unverständlich gewesen, warum NeuwagenkäuferInnen, zu denen die wenigsten dieser Menschen im Moment gehören, mehr Geld für einen Autokauf bekommen sollen, als sie als Corona-Prämie für 3 Monate Zusatzbelastung vage in Aussicht gestellt bekommen haben.

Wenn diese Gelder, die letztlich Geschenke für die großen Exportkapitale sind, im Namen der Sicherung von Arbeitsplätzen fließen würden, zu einer Zeit, wo auch zehntausende Arbeitsplätze in anderen Branchen gestrichen werden oder heftig gefährdet sind, was hätten da die VerkäuferInnen von Kaufhof-Karstadt gesagt?

Geisterfahrt?

Selbst dieses politische Gespür, das die SPD-Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans wenigstens vorweisen können, geht Hofmann und dem ganzen IG-Metall-Vorstand ab.

„Man darf die für Deutschland so wichtige Branche mit direkt und indirekt über zwei Millionen Beschäftigten nicht in einer industriepolitischen Geisterfahrt gegen die Wand fahren“, erklärt Hofmann.

Das verkündet der Chef der stärksten Industriegewerkschaft der Welt, der zulässt, dass in dieser so wichtigen Branche bereits zehntausende Arbeitsplätze gestrichen, verlagert wurden oder noch werden und zehntausende LeiharbeiterInnen und befristet Beschäftigte schon arbeitslos geworden sind. Das alles ohne jegliche soziale Abfederung, derer sich die Gewerkschaftsspitze und die BetriebsratsfürstInnen so gerne rühmen, wenn sie damit die Abbaupläne „begleiten“. Gerade die Entlassung der prekär Beschäftigten ist Hofmann nicht mal ein Zucken im Mundwinkel wert gewesen.

Es gab auch keinen Widerstand in den betroffenen Betrieben, der über Aktionstage oder Proteste hinausgegangen wäre. Solche Aktionen verstehen Hofmann und die ganze Metall-Bürokratie als „Verhandlungsbegleitung“, was nichts anders bedeutet, als dass die Konfrontation mit dem Kapital und seinen Plänen erst gar nicht gesucht wird. Allenfalls sollen die KonzernchefInnen und Unternehmerverbände daran erinnert werden, dass sie die IG Metall und die Betriebsräte weiter als „PartnerInnen“ brauchen.
Am besten zeigt dies auch für Branchenfremde der Streik beim Getriebebauer Voith in Sonthofen. Während die Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb geschlossen in diesen Kampf gingen, organisierte die IG Metall nicht eine Solidaritätsaktion in den anderen Konzernniederlassungen. Die GewerkschaftsvertreterInnen im Aufsichtsrat stimmten der Schließung zu und der Streik wurde mit etwas besseren Abfindungen beendet.

Industriepolitik

„Industriepolitik“ fordert Hofmann ein. Ein sehr sozialdemokratischer Begriff, mit dem man die Unterordnung unter die Wünsche des Kapitals im Namen der Beschäftigten, des „Standortes“, der Region oder „Deutschlands“ gerne begründet. Diese Industriepolitik machen SozialdemokratInnen bis zur Selbstaufgabe: von der Umwidmung von Naturschutzgebieten, der Übernahme von Erschließungskosten auf lokaler Ebene bis zur Agenda 2010 und der damit erzielten Einrichtung eines riesigen Niedriglohnsektors und der generellen Senkung der Reallöhne.

Solange Porsche im Naturschutzgebiet ein Parkhaus bauen darf und Daimler in den Rheinauen ein Autowerk, solange die niedrigen Löhne vor allem den Dienstleistungsbereich betreffen, solange die Jugend nie etwas anderes gesehen hat und sehen soll und die „Ossis“ und die MigrantInnen froh sein sollen, dass sie überhaupt was kriegen, solange haben SozialdemokratInnen keine großen Konflikte über „Industriepolitik“.

Aber die „Industriepolitik“ wird immer mehr zur Klientel-Politik, zur Vertretung eines bestimmten Teils des Kapitals, und zwar je mehr die Krise zu nimmt, je weniger es zu verteilen gibt und je erbärmlicher die Hoffnung wird, dass durch das Anschieben eines Teils der Wirtschaft das Ganze wieder wundersam in Bewegung gerät. Im Kern geht es beim Konflikt zwischen der IG-Metall-Führung und der SPD-Spitze und ihren Kabinettsmitgliedern genau darum. Die „Industriepolitik“ der Gewerkschaftsbürokratie und der Betriebsräte geht vom Standpunkt des Einzelkapitals, allenfalls noch der Branche aus. Die SPD versucht sich als Anwältin des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und längerfristiger Interessen, was auch Konflikte mit den unmittelbaren Profitinteressen des Einzelkapitals inkludieren kann.

Während die SPD daher für die gesamte Klasse einzelne Reformversprechungen ausgibt (Rente, Mindestlohn, Einschränkung von Subunternehmen, …) und diese in ein ökologisches und soziales Modernisierungsprojekt des Gesamtkapitals einzubetten verspricht, beschränken sich die Gewerkschaftsapparate und Konzernbetriebsräte immer offener auf das unmittelbare Interesse ihrer „Kernklientel“ und der Branchen, in denen sie beschäftigt sind. Politisch laufen beide nicht nur auf die Quadratur des Kreises hinaus. Sie verschärfen auch die Entsolidarisierung zwischen verschiedenen Teilen der ArbeiterInnenklasse, den Beschäftigtengruppen unterschiedlicher Branchen, ja letztlich auch konkurrierender Unternehmen oder gar Standorte. Mit der Unterstützung der Auto-Bosse durch die IG Metall bei der Frage Kaufprämie für Verbrennungsmotoren hat es die Gewerkschaft nicht nur geschafft, die SPD rechts zu überholen. Der Konflikt offenbart auch die innere, reaktionäre Logik der Sozialpartnerschaft und Standortpolitik – einer Politik, der kämpferische GewerkschafterInnen den Kampf ansagen müssen. Ohne Wenn und Aber.




Hamburger Bürgerschaftswahlen: Himbeerpudding mit grüner Soße

Bruno Tesch, Infomail 1091, 24. Februar 2020

Das Ergebnis der Bürgerschaftswahlen in Hamburg 2020 überraschte angesichts der Umfragen niemanden wirklich. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen fand doch nicht statt. Die SPD lag am Ende mit 39,2 % klar vorn. An zweiter Stelle kam die Partei Die Grünen mit 24,2 % und ebenso deutlichem Abstand zur CDU (11,2 %) über die Wahlziellinie, während die Partei Die Linke mit 9,1 % einlief. Die AfD schaffte mit 5,3 % gerade noch die Fünf-Prozent-Hürde. Die FDP folg laut vorläufigem Ergebnis vom 24. Februar mit 4,9 % aus der Bürgerschaft.

SPD und
Grünen-Erfolg

Die
sozialdemokratische Spitze zeigte sich hochzufrieden. Der Erste Bürgermeister
Tschentscher sprach von einem „großartigen Abend“ und die öffentlichen Medien
legten ihm beim ersten Interview das Stichwort „Trendwende“ gegen die
Bundestendenz auf den Phrasenteller. Schauen wir uns das Wahlresultat genauer
an, sprechen die Zahlen einen anderen Schnack. Die „glänzende Siegerin“ war
gegenüber dem Ausgang der letzten Wahlen die Partei mit den höchsten
Stimmeneinbußen (- 6,4 %). Die SPD verlor allein an die Grünen etwa 32.000
Stimmen, an die Linke rund 3.000. Sie kompensiert ihre nicht ganz unbegründeten
Ängste vor dem Mehrheitsverlust durch das Schulterklopfen für den Einsatz und
die Geschlossenheit der Partei im Wahlkampf, die schließlich den Erfolg gebracht
hätten. Immerhin konnte sie auch 27.000 NichtwählerInnen zum Urnengang bewegen.

Aufwind bekam
sie auch im letzten Monat durch die Medien, die Tschentscher bspw. 2 Tage vor
der Wahl zur besten Sendezeit im Hamburg Journal (NDR) Gelegenheit gaben,
kräftig Propaganda zu betreiben. Dort behauptete er u. a., die SPD sei
erwiesenermaßen nicht in die Affäre um Cum-Ex-Geschäfte der Warburg-Bank
verstrickt, bei der die hamburgische Finanzbehörde auf die Zahlung von 47 Millionen
Euro verzichtet habe. Selbst wenn dies stimmen sollte, bleiben doch Zweifel am
staatlichen Umgang gerade mit Banken, denn bereits für die „Rettung“ der
HSH-Nordbank hat der Senat die SteuerzahlerInnen bluten lassen.

Gefeiert wurde
auch, dass der Erfolg aus „eigener Kraft“ errungen worden sei, d. h. das
neue Chef-Duo der Bundespartei wurde nicht zur Unterstützung für den Hamburger
Wahlkampf eingeladen – ein offener Affront und ein Zeichen, dass die Einheit
und der Kurs der SPD auf Bundesebene keineswegs klar vorgegeben sind.

Vom Ergebnis her
scheint eine Fortsetzung der bisherigen Koalition aus SPD und Grünen
vorgezeichnet. Die grüne Partei hat jedoch die Gewichtung zu ihren Gunsten
verschieben können. Sie verdoppelte ihren Stimmenanteil gegenüber 2015 auf 24,2 %
und profitierte v. a. vom Thema des letzten Jahres, der Sensibilisierung
für die Umweltfrage, was sich in sehr großen Demonstrationen und einer in
Hamburg sehr grünenfreundlichen „Fridays for Future“-Bewegung nicht zuletzt 2 Tage
vor der Wahl niederschlug.

Konnte die SPD
sich auf ihre Bastionen in der ArbeiterInnenschaft (40 %) stützen,
herausragend jedoch der Anteil von RentnerInnen mit absoluter Mehrheit (58 %),
erhielten die Grünen hauptsächlich das Votum von höheren Angestellten und Selbstständigen
(ca. 28 %).

CDU und FDP hatten beide mit dem Nachbeben der Thüringen-Wahl zu kämpfen. Die CDU heimste mit 11,2 % ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis in der Hansestadt ein. Rein rechnerisch könnte die SPD zwar mit der Union eine Regierung bilden (69 von 123 Sitzen), SPD und Grüne verfügen aber mit 87 Abgeordneten nicht nur über eine satte Majorität, sondern konnten als Koalition auch noch zulegen. Alles andere als eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition ist praktisch ausgeschlossen.

Für einen
Verbleib in der Opposition hatte sich die Linkspartei schon vor der Wahl
erklärt. Sie konnte leicht um 0,6 % zulegen. Ihr vergleichsweise gutes
Abschneiden resultiert im Wesentlichen aus ihrem Engagement für bezahlbaren
Wohnraum, was sich auch im überdurchschnittlichen Zuspruch aus der
ArbeiterInnenklasse (11 %) zeigt.

Stabile
Verhältnisse?

Alle bürgerlichen und konformen Medien und ParteienvertreterInnen äußerten sich befriedigt über den Wahlausgang, der scheinbar klare Verhältnisse geschaffen hat. Dass CDU und FDP abgestraft wurden, dürfte angesichts der guten Erfahrungen der Hamburger UnternehmerInnenschaft mit der bisherigen Regierungskoalition die geringste Sorge der herrschenden Klasse sein. Rot-Grün hat sich bekanntlich recht „pragmatisch“, also willfährig gezeigt, wenn es um die Geschäftsinteressen des Hamburger BürgerInnentums ging.

Als es nach den ersten Hochrechnungen so schien, dass die AfD den Einzug ins Parlament verpasst hätte, konnte von SPD, Grünen und Linkspartei auch noch ein Sieg über Rechtspopulismus, Faschismus und Rassismus verkündet werden. Auf parlamentarischer Ebene konnte sich der Rechtspopulismus schließlich doch noch halten, wenn auch mit empfindlichen Verlusten (-0,8 %). Immerhin scheiterte die FDP – gewissermaßen als Trostpreis für den Verbleib der AfD.

Dass mit deren
Wahlverlusten die Gefahr des Rechtspopulismus gebannt und der Charakter der
„weltoffenen Stadt“ gewahrt wäre, gehört freilich ins Reich rot-grüner
Legendenbildung. Sie ist pure Augenwischerei, denn die rassistische Politik des
Senats gegenüber Flüchtlingen und Menschen mit Migrationshintergrund hat sich
in der Vergangenheit mehrfach auf verschiedenen Ebenen gezeigt (Abschiebungen,
Wohnraum, Fördermittelstreichung). Wenn jetzt jubiliert wird, dass endlich
wieder durchregiert werden kann und keine Lähmungen bei Regierungsbildung zu
befürchten sind, so könnte sich bei Einbrüchen der stark außenwirtschaftlich
ausgerichteten Hamburger Wirtschaft bald zeigen, dass die vollmundigen
Versprechungen von SPD und Grünen über Projekte des Hafen- und
Wohnviertelausbaus, des öffentlichen Nahverkehrs und der Klimaverträglichkeit
in der Planungsphase versanden.

Die
ArbeiterInnenklasse muss bei allen Brennpunkten das Heft des Handelns in eigener
Organisierung an sich bringen: Krankenhäuser, Schulen, Mieten, Rassismus von
Staat und Rechten. Die Linkspartei darf sich nicht mit parlamentarischer
Opposition begnügen, sondern muss die Forderungen der ArbeiterInnen und Armen
aufgreifen und die kommenden Kämpfe unterstützen. Die Gewerkschaften dürfen
sich nicht zurücklehnen und Rot-Grün die Mauer machen. Dasselbe gilt für die
Spitze von „Fridays for Future“.

Um die
Lohnabhängigen, die Unterdrückten, die Jugend und die Umweltbewegung gegen
Angriffe und faule Kompromisse von Rot-Grün auf die Straße zu bringen, dürfen
wir uns nicht auf die Führungen von Linkspartei, Gewerkschaften, „Fridays for
Future“ oder gar sozialdemokratische Linke verlassen – wir müssen dazu selbst
Aktionsbündnisse in Betrieben und im Stadtteilen aufbauen.