Spanien – Vorreiter im Abtreibungs- und Sexualstrafrecht?

Leonie Schmidt, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Die seit 2020 amtierende neoreformistische Regierung im spanischen Staat, bestehend aus sozialdemokratischer PSOE und linkspopulistischer Podemos, hat in diesem Jahr einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht, die verschiedenste Bereiche der geschlechtsspezifischen Unterdrückung betreffen und künftig für mehr reproduktive Rechte und härtere Strafen bei geschlechtsspezifischer Gewalt führen sollen.

Spanien scheint von außen oft eher konservativ und wird auch zuweilen als Macho-Land abgetan, zumal die katholische Kirche gesellschaftlich auch noch sehr präsent ist. In Sachen Antisexismus gibt es jedoch schon seit einiger Zeit ein Umdenken in den Parlamenten. Doch die fortschrittlichen Gesetze kommen nicht von irgendwo her, sie wurden erkämpft.

Was ändert sich?

Besonders auffällig ist das gelockerte Abtreibungsgesetz: So dürfen Schwangere schon ab 16 Jahren ohne elterliches Einverständnis abtreiben, Abtreibungen sind bis zur 14. Woche legal und die 3-tägige Bedenkzeit soll ebenso abgeschafft werden. Außerdem müssen öffentliche Krankenhäuser mit gynäkologischer Abteilung über fachkundiges Personal verfügen, welches einen Abort durchführen kann.

Ferner wurde das Sexualstrafrecht verschärft, und zwar gilt nun „Nur Ja heißt Ja“, was eine fortschrittlichere Regelung ist als „Nein heißt Nein“, da nun auch Täter für eine Vergewaltigung verurteilt werden können, deren Betroffene sich nicht wehren oder äußern konnten, sei es aus Schockstarre und Angst oder Bewusstlosigkeit. Dies fiel vorher lediglich unter den Straftatbestand der sexuellen Belästigung. Konkret heißt es nun im neuen Gesetzesentwurf: Alle Handlungen, die „die sexuelle Freiheit einer anderen Person verletzen“, gelten als Vergewaltigung und können für die Täter bis zu 15 Jahre Gefängnis bedeuten. Konservative kritisieren, dass es nun keine Unterscheidung mehr zwischen Übergriffen und Vergewaltigungen gebe und sehen die Unschuldsvermutung in Gefahr. Auch Catcalling wird nun strafbar insofern, als jegliche Annäherungen in Form eines Flirts von allen Beteiligten gewollt werden müssen und andernfalls als Straftatbestand gelten.

Neben diesen Verschärfungen wurde der sogenannte Periodenurlaub von bis zu 3 Tagen monatlich nun eingeführt. Wenngleich das eine gute Idee ist, ist der Name doch etwas missverständlich, denn in Spanien war es bisher erst möglich, ab 4 Tagen Krankheit eine Lohnfortzahlung vom Unternehmen zu erhalten. Daher wurde hier nur eine Lücke geschlossen. Spanien hat somit als erstes europäisches Land den Periodenurlaub eingeführt. Bisher existieren derartige Regelungen vor allem im asiatischem Raum, bspw. in Taiwan, Südkorea und China. Außerdem soll es nun endlich Verordnungen zur Prostitution in Spanien geben. Diese ist nämlich weder verboten noch legal, was vielen ein Dorn im Auge ist.

Wie kam es dazu?

Wie konnte es nun zu solchen fortschrittlichen Zugeständnissen kommen, während weltweit ein extremes Rollback gegen Frauen und LGBTIA-Personen im vollen Gange ist, insbesondere Abtreibungsrechte reihenweise verschärft werden – siehe Polen und die USA. Hierfür sind mehrere Gründe verantwortlich. Einerseits, wie bereits eingangs erwähnt, wurden die Gesetzesänderungen maßgeblich durch die Frauenbewegung in Spanien erkämpft. Diese ist ziemlich stark, zu den 8.-März-Protesten gehen landesweit Millionen Menschen auf die Straße. Alleine in Barcelona waren es 2021 über 100.000 Personen.

Die Größe der Bewegung ist insbesondere historisch bedingt, denn während in den späten 1960er und 1970er Jahren in den westlichen Industrieländern der Kampf um Gleichberechtigung und sexuelle Befreiung erstarkte, war in Spanien noch das halbfaschistische Regime Francos an der Macht, in welchem Frauen zu Kinder, Küche, Kirche verbannt waren. Erst 1978 wurde ein Gesetzantrag zur Gleichstellung von Mann und Frau erwirkt, das Recht auf Scheidung gibt es erst seit 1981. Das kollektive Trauma dieser Zeit besteht fort und sorgt auch heute noch für größeres und kämpferischeres Bewusstsein. Bereits in den späten 1990er Jahren konnte ein Gesetz durch Massenproteste ins Rollen gebracht werden.

Diese formierten sich 1997 nach einem Femizid an einer Frau, Ana Orantes, deren Mann sie ermordete, weil sie in einem Fernsehinterview über die 40 Jahre häuslichen Missbrauchs durch ihn an ihr und den gemeinsamen Kindern sprach. Sie hatte sich zuvor sogar an die Polizei gewandt, 15 Anzeigen gestellt. Doch diese wollte ihr nicht helfen, da es keine entsprechenden Gesetze gab, die Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützten. Als die Scheidung nach über 10 Jahren endlich durchkam, musste sie dennoch weiter mit ihm zusammen wohnen.

Die damals konservative Regierung unter der Partido Popular, einer rechtskonservativen Volkspartei, sprach von einem Einzelfall, was nicht unbeantwortet blieb. Unter dem Motto „ Wir sind alle Ana“ gingen damals Tausende auf die Straßen. Im Anschluss wurde 2004 ein erstes Gesetz auf die Beine gestellt, welches weitreichend gegen häusliche Gewalt ankämpfen sollte. Alleine schon die Benennung der geschlechtsspezifischen Gewalt stellte einen großen Schritt nach vorn dar. Außerdem wurden Spezialgerichte für die Verfolgung der Straftaten eingerichtet und Männer, die Frauen Gewalt antun, werden nun durch das Gesetz stärker bestraft als Frauen, die Männern etwas antun, oder Männer, die anderen Männern etwas antun. Seit 2007 wird auch jegliche geschlechtsspezifische Gewalttat statistisch erfasst, was in Deutschland bspw. erst seit 2015 der Fall ist.

Das „Ja heißt Ja“-Gesetz kam vor einem ähnlichen Hintergrund zustande: Nach einer Gruppenvergewaltigung an einer 18-Jährigen durch 5 Männer (welche ihr Opfer zusätzlich filmten) wurden die Täter nur wegen sexueller Belästigung verurteilt, da sie das Opfer nicht schlugen oder bedrohten, und sie sich nicht wehrte. Sie bekamen somit nur 9 Jahre Haft. Jedoch mobilisierten auch 2016 erneut die spanischen Feminist:innen gegen dieses milde Urteil und erzwangen somit dessen Revision. Die Täter wurden nun doch wegen Vergewaltigung verurteilt und sitzen eine 15-jährige Haftstrafe ab. Das neue Gesetz soll auch zukünftig ähnliche Gerichtsurteile ermöglichen und wurde somit de facto durch die Frauenbewegung in Spanien erkämpft. Außerdem wirkte sich positiv aus, dass auch die Gewerkschaften mit der feministischen Bewegung wahrhaft vernetzt sind und es sich bei vielen 8M-Protesten wirklich um Frauenstreiks handelte, welche mit Streikposten einhergingen und nicht wie bspw. in Deutschland einen rein symbolischen Charakter trugen.

Einige Politikerinnen und Ministerinnen der Regierung PSOE/Podemos entstammen ebenfalls einer Tradition feministischer Proteste und haben sich auch deswegen für diese Belange eingesetzt. Generell ist die reformistische Regierung natürlich auch ein Grund für die Durchsetzung. In Krisenzeiten gibt es zwar klassischer Weise Rollbacks gegen Frauen und LGBTIA-Personen, aber irgendwas muss die linke Koalition trotzdem der mobilisierten Wähler:innenschaft anbieten. Dass es im Rahmen von Krieg, Krise, Umweltkatastrophe und Pandemie nur wenig Spielraum gibt, ist klar. Denn ansonsten ist die Regierung eher weniger linksorientiert, als es eventuell scheinen mag. Die Politik, die gefahren wird, ist durchaus arbeiter:innenfeindlich. So werden bspw. Streiks im Auftrag der Regierung durch Polizei und Militär brutal niedergeschlagen. Insbesondere während der Pandemie zeigten die Politiker:innen ihr wahres Gesicht. So sperrten sie die Arbeiter:innen in ihren Stadtvierteln ein, diese durften sie nur verlassen, wenn sie zur Arbeit fuhren.

Kritik an der Gesetzesänderung

Kritik gab es einige, sowohl aus feministischen Kreisen als auch von rechts. Die Feminist:innen in Spanien sind stark beeinflusst von Andrea Dworkin, welche als Radikalfeministin insbesondere eine abolitionistische Position gegenüber der Prostitution einnahm. Sie sahen sich und das Anliegen eines Sexkaufverbots in den neuen Entwürfen nicht gehört, denn das nordische Modell wurde anfangs nicht eingeplant. Prostitution wurde 1995 in Spanien entkriminalisiert, Zuhälterei ist allerdings strafbar. Anfang Juni wurde jedoch ein Entwurf ins Rollen gebracht, der einem Sexkaufverbot gleichkommt: Das vorgeschlagene Gesetz soll diejenigen bestrafen, die Prostituierte finanziell ausbeuten, für ihre Dienste bezahlen oder wissentlich Räumlichkeiten für die Ausübung der Prostitution zur Verfügung stellen. Wenngleich die PSOE in Spanien sich für dieses, vom „nordischen Modell“ inspirierte Gesetz ausspricht, so ist es alles andere als sicher für die betroffenen Sexarbeiter:innen, denn so werden sie in noch unsicherere Arbeitsverhältnisse gedrängt (ausführlicher Artikel zur Frage siehe Neue Internationale 257, Juli/August 2021). Beibehaltung der Entkriminalisierung, die Möglichkeit für sichere und kostenlose Umschulungen zum Ausstieg sowie gewerkschaftliche Organisation der Sexarbeiter:innen wären aus einer marxistischen Perspektive die deutlich sinnvolleren Mittel gewesen.

Interessant ist auch, dass diese Frage zu einer Spaltung innerhalb der Koalition geführt hat. Die PSOE arbeitet nun bzgl. des Gesetzesentwurfs mit der rechtspopulistischen PP (Partido Popular) zusammen, während sich Podemos dagegen stellt, da er zu moralisierend wäre. Für die feministische Partei Spaniens ist der Vorschlag von PSOE und PP aber dennoch zu unkonkret, sie fordert umfassendere Maßnahmen. Außerdem gab es Proteste mit bis zu 7.000 Frauen, die sich für ein abolitionistisches Gesetz aussprachen.

Auch wenn der Gesetzentwurf ansonsten einen wichtigen Schritt darstellt, so bleibt Sexismus eine strukturelle Unterdrückung im Kapitalismus, welche sich nicht einfach durch Gesetze wegreformieren lassen kann und so auch in Spanien unter der linken Regierung bestehen bleibt: Reproduktionsarbeit wird auch hier weiterhin vornehmlich von Frauen ausgeführt.

Zugleich gibt es natürlich auch Kritik von rechts und aus konservativen Kreisen. Die rechtsradikale VOX, drittstärkste Partei im Parlament, möchte das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt aus dem Jahr 2004 schon länger abschaffen. Sie ist außerdem gegen die Legalisierung von Abtreibung. Gegen die Veränderung des Abtreibungsgesetzes gingen auch 100.000 Konservative auf die Straße, unter anderem angestachelt durch die Aufhebung von Wade vs. Roe in den USA.

Wie weiter?

Auch wenn in Spanien wichtige gesetzliche Verbesserungen errungen werden konnten, so ist der Kampf längst nicht vorbei. Einerseits findet auch innerhalb der Bewegung ein Kampf zwischen fortschrittlichen und reaktionären Richtungen (siehe die Frage der Prostitution) statt. Die PSOE, aber auch wichtige Strömungen des Feminismus schrecken dabei auch vor einer Zusammenarbeit mit den Konservativen nicht zurück. Andererseits macht die extreme und konservative Rechte gegen alle fortschrittlichen Verbesserungen weiter mobil, wie die Massendemonstrationen der VOX verdeutlichen.

Die enge Verbindung zwischen den feministischen Streiks und der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innenklasse war jedoch nicht nur entscheidend dafür, warum wichtige Verbesserungen überhaupt durchgesetzt werden konnten. Sie ist auch der einzige Weg zur Verteidigung und Ausweitung dieser Errungenschaften und zur Schaffung einer proletarischen Frauenbewegung – nicht nur in Spanien, sondern international.




Spanien: Hält die Verbindung der SozialistInnen mit den PopulistInnen?

Dave Stockton, Infomail 1078, 25. November 2019

Die
Parlamentswahlen vom 10. November, die zweiten in diesem Jahr und die vierten
seit 2015, haben wieder einmal ein instabiles Parlament ohne absolute Mehrheit
für eine Partei hervorgebracht. Sie markierten auch einen Rechtsruck, so wie
bei den Wahlen im April ein Linksruck stattgefunden hatte. Dies ist
unvermeidlich, wenn die reformistischen Parteien der Linken ein Ergebnis
verplempern und ihre opportunistische Linie, sowohl politisch als auch
wirtschaftlich, fortsetzen.

Katalonien und
die Forderung der EU nach anhaltender Sparpolitik werden über einem neuen
Ministerium wie ein Damoklesschwert hängen. Unterdessen sollte der Aufstieg der
extremen Rechten, in Form von Santiago Abascals Vox, die immer noch mächtigen
linken Kräfte im spanischen Staat anspornen, aufzustehen und zu erkennen, dass
direkte Massenaktionen, der Klassenkampf auf den Straßen und an den
Arbeitsplätzen, der einzige Weg sind, eine Katastrophe zu vermeiden.

Pedro Sánchez‘
Sozialistische Partei PSOE ist mit 120 Sitzen immer noch die größte Partei im
Kongress und hat beschlossen, eine Koalition mit Pablo Iglesias‘ Unidas
Podemos, UP, zu bilden, obwohl Sánchez dies seit den Wahlen im April vermieden
hatte. Jetzt, da die PSOE jedoch 3 Sitze und UP 7 verloren und Vox ihre Sitze
mehr als verdoppelt hat, von 24 auf 52, sieht Sánchez keine Alternative.

Aber auch
gemeinsam wissen die beiden Parteien nur 155 Mitglieder des Kongresses hinter
sich, und 176 Sitze werden für eine absolute Mehrheit benötigt. Darüber hinaus
verfügt die PSOE über einen bedeutenden rechten Flügel, der die Idee einer
Verbindung mit Podemos verabscheut und sich ein Bündnis mit Parteien der
Rechten oder rechten Mitte wie Ciudadanos (BürgerInnen) gewünscht hätte. Diese
Option verflüchtigte sich mit dem Zusammenbruch von Ciudadanos von 57 auf nur
10 Sitze. Ihr Führer und Gründer, Albert Rivera, legte nicht nur seine Parteimitgliedschaft,
sondern auch seinen Sitz im Parlament nieder, um ins Privatleben
zurückzukehren.

Eine Ehe im
Himmel … oder in der Hölle?

Die
theatralische Umarmung, mit der Sánchez und Iglesias ihren Regierungspakt feierten,
war offensichtlich von Iglesias’ Seite her herzlicher. Gegen den Widerstand
sowohl von Sánchez als auch von der antikapitalistischen Linken in Podemos
hatte er sich für einen Vorwahlpakt mit der PSOE eingesetzt. Jetzt ist klar,
dass er bereit ist, mit der PSOE den ganzen Weg zu gehen.

„Sánchez weiß,
dass er auf unsere absolute Loyalität zählen kann. Es ist an der Zeit, alle Kritikpunkte
hinter sich zu lassen … und Seite an Seite an der historischen und spannenden
Aufgabe zu arbeiten, die vor uns liegt.“ Seine Ausrede für das Abstreifen der
früheren ätzenden Kritik von Podemos war, dass eine von PSOE und Podemos
geführte Regierung „der beste Impfstoff gegen die extreme Rechte“ sein würde.

Der hohe Preis,
der gezahlt werden müsste, um Vizepremier zu werden, war im September klar.
Damals sagte Iglesias, wenn der Oberste Gerichtshof eine schwere Strafe gegen
die katalanischen UnabhängigkeitsführerInnen verhängen würde: „Offensichtlich
haben wir bereits gesagt, dass wir, obwohl wir eine Position des Dialogs
bezogen, das Gesetz und die Führungsposition der PSOE akzeptieren werden“.

Kein Wunder,
dass Sánchez nach ihrer Umarmung sagte: „Danke für die Großzügigkeit.“

Beide Führer
läuteten die Bedeutungsveränderungen für das Wort „progressiv“ ein. Sánchez
betonte: „Es wird in jedem Fall eine progressive Regierung sein. Eine
progressive Regierung, die aus fortschrittlichen Kräften besteht, die sich für
den Fortschritt einsetzen werden.“

Iglesias
seinerseits schwärmte: „Ich freue mich, heute zusammen mit Pedro Sánchez
bekanntzugeben, dass wir eine vorläufige Einigung über die Bildung einer
fortschrittlichen Koalitionsregierung erzielt haben, die die Erfahrung der PSOE
mit dem Mut von Unidas Podemos verbindet“.

Doch selbst dann
wird diese Koalition im 350-sitzigen Kongress, der unteren Kammer der Cortes,
des spanischen Zweikammernsystems, keine Mehrheit finden.

Sowohl die
SozialistInnen als auch Podemos wurden durch die Wahl tatsächlich geschwächt.
Die Partei von Iglesias litt unter der Konkurrenz durch ihren Mitbegründer und
Hauptideologen Íñigo Errejón. Seine Partei Más País, (Mehr Land), die
Podemos-IU bereits bei den Madrider Stadtwahlen im Mai niedergedrückt hatte,
gewann im November drei Sitze. Errejón begrüßte auch den Koalitionsvertrag und
sagte, seine drei Abgeordneten würden für die Amtseinsetzung von Pedro Sánchez
im Kongress stimmen.

Tatsächlich war
die Seifenblase der linken PopulistInnen, die Idee, dass sie sowohl die PSOE
als auch die rechte Partido Popular, PP, die Parteien von la Casta, die Kaste,
wie sie das korrupte politische Establishment nannten, hinwegfegen könnten,
längst zerplatzt. In den vergangenen sechs Monaten hatte Sánchez Iglesias‘
Aufruf zur Bildung einer Koalition abgelehnt und gesagt, dass ihm der bloße
Gedanke Alpträume bescherte. Alptraum für den einen – ist ein Traum für den
anderen wahr geworden? Wir werden es in den kommenden Monaten sehen.

Katalonien, das
größte Hindernis

In ihrer Koalitionsvereinbarung
erklären die beiden linken Parteien: „Die spanische Regierung wird der
Gewährleistung des sozialen Friedens in Katalonien und der Normalisierung des
politischen Lebens Priorität einräumen. Zu diesem Zweck wird sie den Dialog in
Katalonien organisieren und nach Formulierungen suchen, die zu einem
gemeinsamen Verständnis und zur Versöhnung führen, immer im Rahmen der
Verfassung.“

Die gemeinsamen
Versprechen von Dialog und Gehorsam gegenüber der Verfassung stehen im
Mittelpunkt der widersprüchlichen Lage, der sich die RegierungspartnerInnen
gegenübersehen.

Um seine
Amtseinführung sicherzustellen und eine Regierung zu bilden, braucht Sánchez
die Unterstützung der regionalen nationalistischen Parteien. Die Baskische
Nationalpartei hat 6 Sitze und die EH Bildu, Baskenland versammelt, fünf.
Selbst mit ihrer Unterstützung reicht dies nicht aus, um eine stabile Regierung
zu bilden. Sánchez braucht die KatalanInnen oder zumindest die größten ihrer
Gruppen. Hier stellt reaktionäre Tradition der PSOE, die Partido Popular und
die Verfolgung und Unterdrückung der Unabhängigkeitsparteien, die nun 23 Sitze
im Kongress einnehmen, durch den Obersten Gerichtshof zu unterstützen, die
Partei vor ein Dilemma.

In Katalonien
gibt es die beiden wichtigsten nationalistischen Parteien, die Esquerra
Republicana, Republikanische Linke von Katalonien-Souveränität, ERC-S, mit 13
Sitzen und Junts pro Katalonien, Gemeinsam für Katalonien, JxCat, mit 8. Die
Esquerra möchte eindeutig eine PSOE-U-Podemos-Regierung unterstützen, hat aber
unter dem Druck von JxCat die Bedingung gestellt, dass die Koalition eine
moderierte Diskussion mit den katalanischen Parteien auf die Tagesordnung
setzt. Sánchez hat es oft abgelehnt, dass die Selbstbestimmung auf der
Tagesordnung steht. Darüber hinaus führt Esquerra eine Abstimmung ihrer
Mitglieder zu diesem Thema durch, und die linke CUP mit zwei Sitzen will eine
einheitliche Front, um jegliche Verhandlungen mit Sánchez abzulehnen.

Zur Zeit sind
weder die PSOE noch die U-Podemos bereit, den Zorn des Obersten Gerichtshofs
oder ihres eigenen rechten Flügel zu riskieren, indem sie den KatalanInnen
etwas Wesentliches anbieten. Selbst wenn sie es täten, würde die reaktionäre Justiz
des spanischen Staates schnell eingreifen und dies für verfassungswidrig
erklären.

Carles
Puigdemont, ehemaliger Präsident der Katalanischen Generalitat (Gesamtheit der
politischen Selbstverwaltungsinstitutionen), bleibt im Exil, weil die Madrider
Gerichte versuchen, ihn nach Spanien ausliefern zu lassen. Am 14. Oktober
verurteilte der Oberste Gerichtshof von Madrid neun der für das Unabhängigkeitsreferendum
verantwortlichen AnführerInnen und von Madrid im Oktober 2017 abgesetzten
MinisterInnen zu Gefängnisstrafen von 9 bis 13 Jahren.

Dazu gehören der
Vizepräsident Oriol Junqueras, Außenminister Raül Romeva und Innenminister
Joaquim Forn. Zu ähnlichen Strafsätzen verurteilt wurden auch Carme Forcadell,
Präsidentin des katalanischen Parlaments und die „zwei Jordis“, Jordi Sànchez
von der katalanischen Nationalversammlung und Jordi Cuixart von Òmnium
Cultural, deren Organisationen für die Massendemonstrationen und Streiks um das
Referendum verantwortlich gemacht wurden.

Die Verkündigung
dieser Urteile führte zu dreiwöchigen Massenprotesten mit gewalttätigen
Zusammenstößen zwischen Polizei und jungen DemonstrantInnen, die in den größten
Städten Kataloniens Barrikaden errichteten. Ein Generalstreik brachte eine
halbe Million Menschen auf die Straßen von Barcelona. Die Polizei feuerte
Gummigeschosse ab und setzte Gaskanister und Wasserwerfer ein. Dutzende wurden
verhaftet und verletzt.

Der derzeitige
Präsident der Generalitat, Quim Torra, verurteilte die Gewalt der
DemonstrantInnen und forderte deren Einstellung. Pedro Sánchez weigerte sich
jedoch, mit Torra zu sprechen, und behauptete, dessen Verurteilung sei nicht
eindeutig genug. Damit setzte die PSOE ihre Linie fort, die polizeiliche
Repression zu unterstützen und sich zu weigern, mit den katalanischen AnführerInnen
zu verhandeln, wenn sie nicht auf die Hauptforderungen ihrer AnhängerInnen
verzichteten.

Der Oberste
Gerichtshof erhöhte den Druck und rief Torra auf, am 18. November wegen
„Ungehorsams“ vor ihm zu erscheinen, nämlich wegen seiner Langsamkeit, gelbe
Bänder von öffentlichen Gebäuden zu entfernen, die Symbole der Solidarität mit
den inhaftierten AnführerInnen der Unabhängigkeitsbewegung sind. Die
RichterInnen konnten ihn verurteilen, damit er entlassen und vom Amt
ausgeschlossen wird.

Auch wenn die
bürgerlichen katalanischen NationalistInnen es verabscheuen würden, den Weg zu
einer rechten Koalition zu öffnen oder eine große Koalition aus PSOE und PPS zu
sehen, könnten sie die Regierung kaum lange unterstützen, da ihre AnführerInnen
im Gefängnis schmachten und die von Diktator Franco geschaffene Militärpolizei
Guardia Civil regelmäßig auf DemonstrantInnen auf den Straßen von Barcelona,
Girona, Lleida (Lérida) und Tarragona losging.

Andererseits ist
es sicher, dass der mächtige rechte Flügel der PSOE, wenn Sánchez versucht, sie
zu begnadigen, geschweige denn dem Antrag auf ein legales Referendum über die
Selbstbestimmung stattzugeben, sich auflehnen würde, um es zu verhindern. Ganz
zu schweigen von den Eingriffen des Obersten Gerichtshofs und von König Felipe
VI., der in der Verfassung die „unauflösliche Einheit und Beständigkeit“ des
spanischen Staates verkörpert. Es gäbe auch die „Kleinigkeit“ der
Massenmobilisierungen durch Vox und die extreme Rechte.

Die
Vox-Mitglieder sind offene BewunderInnen von Franco und seiner blutigen
Unterdrückung, beschuldigen muslimische Migranten, hinter einer Welle von
Bandenvergewaltigungen in Südspanien zu stecken, wollen alle sezessionistischen
Parteien ächten, die Autonomieregierung für Katalonien beenden und die
Todesstrafe für Verrat, einschließlich des Strebens nach Unabhängigkeit,
wiederherstellen. Der Aufstieg von Vox ist die spanische Version der
rechtspopulistischen Welle in Polen, Italien, Frankreich, Ungarn, Deutschland
und natürlich in Brexit-Großbritannien.

Kampf gegen die
Sparpolitik

Seit der Großen
Rezession 2008 und der Staatsschuldenkrise ist Spanien wie andere
Mittelmeerstaaten der Europäischen Union zu massiven Einschnitten bei den
Sozialausgaben gezwungen und litt unter einer strafenden Arbeitslosigkeit, die
2013 auf einen Höchstwert von 26,95 Prozent stieg und bei der die
Jugendarbeitslosigkeit 50 Prozent erreichte. Eine große Zahl junger
SpanierInnen ist auf der Suche nach Arbeit in andere EU-Länder gegangen. Erst
2017 erreichte das spanische Bruttoinlandsprodukt das Niveau vor 2008, jedoch
scheint sich das Wachstum nun wieder zu verlangsamen.

Die Vereinbarung
zwischen der PSOE und U-Podemos verpflichtet eine neue Regierung, an einer
„ausgeglichenen Haushaltspolitik“ festzuhalten, bei der neue Sozialprogramme
aus höheren Einnahmen bezahlt werden müssen. Das Wahlmanifest von Podemos hatte
umfangreiche Regierungshaushalte zugesagt, um ein Jahrzehnt wilder Sparpolitik
umzukehren. Da Brüssel eine strenge Finanzpolitik forderte und Spanien nach
fünf Jahren der Erholung eine wirtschaftliche Verlangsamung erfuhr, bestand
Sánchez darauf, in Gestalt der stellvertretenden Wirtschaftsministerin Nadia
Calviño, einer ehemaligen hochrangigen Beamtin der Europäischen Kommission, die
Geschicke in „sichere Hände“ zu übergeben, wie es die EU wünschte.

Ein weiteres
Dilemma ist die Forderung der beiden größten spanischen Gewerkschaftsverbände,
der Comisiones Obreras, CCOO, ArbeiterInnenkommissionen, und der Unión General
de Trabajadores, UGT, der Allgemeinen ArbeiterInnenunion, nach der Aufhebung
der Arbeitsreform 2012 von PP-Premier Mariano Rajoy, die den Weg zu einem
weiteren Rückgang der Reallöhne und unsicheren Teilzeit- und
Zeitarbeitsverträgen für ArbeiterInnen, insbesondere für Jugendliche, ebnete.
Vor allem auf dieser Basis ist die Arbeitslosigkeit auf rund 15 Prozent
gesunken.

Es bedarf einer
massiven Mobilisierung der ArbeiterInnen, um eine Koalitionsregierung zu
zwingen, den Forderungen der ArbeiterInnenschaft nachzukommen.

Für das Recht
auf Selbstbestimmung

Das derzeit
brennendste demokratische Recht ist das Recht der KatalanInnen auf
Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf ein Referendum, das die
Möglichkeit beinhaltet, sich vom spanischen Staat zu trennen. Bisher zeigen
Meinungsumfragen, dass die Mehrheit der katalanischen BürgerInnen trotz oder
wegen der Repressionen aus Madrid dies nicht wünscht. Nur eine freie
Abstimmung, bei der beide Seiten ohne Unterdrückung ihre Sache verfechten
können, könnte dies entscheiden. Zu diesem Zweck sollten die Guardia Civil und
alle „spanischen“ Polizeikräfte zurückgezogen und ein gleichberechtigter Zugang
zu den Medien gewährleistet werden.

Es ist ein
Skandal, dass die PSOE den Obersten Gerichtshof und das bestehende verfassungsmäßige
Verbot der katalanischen Selbstbestimmung unterstützt, und offenbart, wie weit
von der Demokratie, geschweige denn vom Sozialismus entfernt die Partei ist und
wie wenig sie das Vertrauen der ArbeiterInnen verdient, dass die Partei sie gegen
die sozialen und wirtschaftlichen Angriffe des Großkapitals verteidigen wird.
Obwohl Podemos die Definition Spaniens als plurinationalen Staat, die
verfassungsmäßige Definition Kataloniens als Nation und das Recht auf ein
Unabhängigkeitsreferendum unterstützt, behaupten die PopulistInnen ausweichend,
dass dies nur beratend der Fall sein sollte.

Dennoch sollten
RevolutionärInnen sich nicht für die Abspaltung der autonomen Region einsetzen,
es sei denn, eine Mehrheit hat ihren Willen dazu bekundet. Katalonien, als der
am weitesten entwickelte Teil des spanischen Staates, ist keine wirtschaftlich
ausgebeutete Kolonie oder Halbkolonie. Die NationalistInnen, die sich darüber
beklagen, dass die Steuern der Region den unterentwickelten Teilen des
spanischen Staates zugutekommen, zeigen lediglich ihren Appetit, ihre eigene
Kapitalakkumulation zu maximieren.

Der Hauptgrund
für die Ablehnung der Unabhängigkeit besteht darin, dass sie die Einheit der
ArbeiterInnenklasse auf der gesamten Halbinsel und sogar in Katalonien selbst
schwächen würde, wo eine Mehrheit in soliden ArbeiterInnenklassengebieten gegen
eine Trennung ist. Nicht zuletzt wird es den Kampf gegen die Überreste des
Francoismus und des spanischen Imperialismus schwächen.

Neben der
nationalen Frage beinhaltet der Kampf für Demokratie die Notwendigkeit, das
gesamte schmutzige Erbe der Franco-Diktatur zu beseitigen, das 1978 von den
reformistischen Parteien im Moncloa-Pakt akzeptiert und in die Verfassung
eingebettet wurde, einschließlich der Monarchie, des Senats und des Obersten
Gerichtshofs. Die Kommunistische Partei Spaniens (PCE) und die PSOE haben
dieses Verfassungssystem mitverantwortet, und letztere hat es unter den
Ministerpräsidenten Felipe González (1982-1996) und José Luis Zapatero
(2004-2011) erhalten.

Dieser gesamte
reaktionäre Schrott muss weggefegt werden, aber dazu bedarf es revolutionärer
Massenaktionen, nicht nur Wahlen. Es sollten Wahlen zu einer souveränen
verfassunggebenden Versammlung abgehalten werden, die auf einem
Verhältniswahlsystem ohne Mindestschwelle und mit Stimmen für alle Personen
über 16 Jahre basieren. Die Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien sollten
solche Wahlen überwachen und Kampagnen führen für eine ArbeiterInnenregierung
auf der Grundlage der ArbeiterInnenorganisationen, die ihnen gegenüber
rechenschaftspflichtig ist.

Nicht zuletzt
mit dem Aufstieg von Vox besteht eindeutig die Notwendigkeit, andere
demokratische Rechte zu verteidigen und zu erweitern, darunter das Recht der
Frauen auf Schwangerschaftsabbruch, Gleichstellung von LGBTQ+ und der
Geschlechter auf staatlicher und regionaler Ebene. Es muss eine
antifaschistische Einheitsfront der ArbeiterInnenklasse, einschließlich
Verteidigungsgruppen, gebildet werden, um ArbeiterInnen im Kampf oder MigrantInnen
unter Beschuss zu schützen.




PODEMOS – populistische Falle oder Alternative für die ArbeiterInnenklasse?

Christian Gebhardt, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Innerhalb Europas stellt PODEMOS neben SYRIZA wohl als eines der Projekte dar, die mit der größten Ausstrahlungskraft in die europäische Linke aufwarten können. Mit diesem Artikel wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die Entwicklung von PODEMOS zu analysieren sowie Antworten auf die folgenden Fragen zu geben: Welchen Charakter besitzt PODEMOS? Was ist die Bedeutung des Projektes mit Hinblick auf die Frage, wie die ArbeiterInnenklasse ihre Führungskrise überwinden kann? Darüber hinaus wollen wir uns der Frage widmen, welche praktischen Erfahrungen PODEMOS in seiner jungen Geschichte gemacht hat und welche Schlussfolgerungen für die radikale Linke innerhalb und außerhalb von PODEMOS gezogen werden können.

PODEMOS, der Ausdruck einer sogenannten „neuen Politik“ in Spanien, ist ein noch recht junges politisches Projekt innerhalb der spanischen Politiklandschaft. Kurz vor den Europawahlen 2014 gegründet, entwickelte sich schnell eine große Dynamik um das Projekt. Diese gipfelte in der „Assamblea ciudadana“ – ein einmonatiger Konstituierungsprozess der Partei, um über politische sowie statutarische Fragen als auch über KandidatInnen für die kommenden nationalen wie auch lokalen Wahlen im Jahre 2015 zu entscheiden. Vor einem Publikum von 8.000 TeilnehmerInnen im Palácio de Vistalegre sprach der prominenteste PODEMOS-Führer Pablo Iglesias:

„Wir sind längst nicht mehr nur eine Bürgerbewegung, wir sind eine politische Kraft. Wir werden uns nicht damit zufriedengeben, wie weit wir schon gekommen sind – Zweiter bei den landesweiten Wahlen – denn wir sind gekommen, um zu gewinnen und sie haben Angst vor uns.“

Er stellte sein „Ethisches Dokument“ auf der „Assamblea Cuidadana“ vor, in welchem PODEMOS als „ein Werkzeug der BürgerInnen zur Beendigung der Korruption“ dargestellt wurde. Für ihn wurde PODEMOS deshalb gegründet, da „jemand die ‚Opfer‘ der Krise repräsentieren muss. Was wir sagten, ermöglichte diesen Opfern – die untergebenen Schichten, vor allem der verarmenden Mittelschicht – sich als solches zu identifizieren und sich durch die Formierung eines neuen ‚Uns‘ ein Bild von ‚Ihnen‘, ihren KontrahentInnen zu machen: den alten Eliten. “ (1)

Aufstieg von PODEMOS

Bei den Wahlen am 25. Mai zum europäischen Parlament erreichte PODEMOS 7,9% und somit 1,25 Millionen Stimmen sowie 5 Abgeordnete. Die zwei größten spanischen Parteien, die Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und die Partido Popular (PP), erhielten zusammengenommen weniger als 50% der Stimmen, welches einen starken Verlust im Vergleich zu 2009 darstellte. Damals erhielten beide Parteien noch zusammen 81%. Das verdeutlicht die Tragweite der Desillusionierung mit der „alten Politik“, welche das Land seit der Wiedereinführung der Demokratie nach der Franco-Ära 1978 dominierte.

Mit Blick auf unterschiedliche Umfragewerte befand sich PODEMOS einige Zeit auf einem Umfragehoch und bekam bis zu 27% der Stimmen, gefolgt von der PSOE mit 25%, während die derzeitige Regierungspartei PP auf gerade mal 20% absank. Dieses Wachstum von PODEMOS war ein – wenn auch der am wenigsten erwartete – Ausdruck einer Linksentwicklung innerhalb der politischen Landschaft Spaniens. Ein weiteres Anzeichen hierfür fand sich in der Zunahme an WählerInnenstimmen für die Izquierda Unida (IU). Deren Liste, in welcher u.a. die spanischen Grünen sowie die kommunistische Partei Spaniens vertreten sind, erhielt bei den Europawahlen 10,03%, 1.575.208 Stimmen und gewann 6 Sitze. 2009 bekam die IU noch 588.248 Stimmen, 3,7% und 2 Sitze.

Die objektive Basis für diese Entwicklung stellt die anhaltende wirtschaftliche Krise Spaniens sowie die politische Untätigkeit vieler Parteien und Organisationen dar, etwas gegen die Krisenauswirkungen zu unternehmen. Die Arbeitslosenquote befindet sich seit 2012 bei 25% und steht bei Jugendlichen unter 25 Jahren bei über 53%. Hierbei ist kein Licht am Ende des Tunnels zu erkennen. Dazu kommt, dass eine große Anzahl an SpanierInnen ihre Häuser in der Hypothekenkrise verloren haben und junge Menschen in Massen das Land verließen, um Arbeit zu suchen. Die Sparmaßnahmen, die unter dem Druck der Europäischen Union von PSOE- wie auch PP-Regierungen durchgepeitscht wurden, haben Millionen von SpanierInnen in Langzeitarbeitslosigkeit und Armut geworfen.

Hierbei darf auch nicht der Betrug der PSOE an ihren WählerInnen vergessen werden. Im August 2011 vereinbarte die Partei hinter dem Rücken ihrer Basis mit der PP von Mariano Rajoy – damals in der Opposition – eine Änderung der spanischen Verfassung, um auf Druck der europäischen Union Haushaltsdefizite zu verbieten. Hiermit wurde über Nacht jeder zukünftigen Regierung die Möglichkeit genommen, antizyklische Konjunkturprogramme zu verabschieden, um so zumindest kurzweilig Krisenauswirkungen abzufangen.

Die anhaltende wirtschaftliche Krise führte jedoch auch zu Wellen politischer Kämpfe gegen das vor allem von Jugendlichen als korrupt angesehene politische Establishment der beiden „Volksparteien“. Dies wiederum mündete in eine von Vielen so genannte „Krise der Demokratie“. Eine Erkenntnis durch die Massen, dass die vorhandene Form der Demokratie in Spanien wie auch in anderen Teilen Europas nur Parteien hervorbringt, welche in Zeiten enormer wirtschaftlicher und sozialer Krisen keinerlei reale Alternativen, keine Wahlmöglichkeiten anbieten können. Dies zeigte sich zum Beispiel durch den „sozialistischen“ Präsidenten François Hollande in Frankreich, drückt seine Regierung, einmal gewählt, doch die gleichen Sparprogramme wie ihre konservativen Vorgängerinnen durch. Im Endeffekt zeigt das parlamentarische System in solchen Situationen den WählerInnen: „Wähle, wen du willst, es gibt keine Alternative“.

Die ersten Anzeichen einer klaren Ablehnung dieses Systems traten vor drei Jahren auf. Unter dem Slogan ¡Democracia Real YA! (Echte Demokratie, JETZT!) fanden massive Platzbesetzungen durch junge Menschen in ganz Spanien statt. Die bekanntesten waren die Besetzungen in Madrid auf dem Puerta del Sol und in Barcelona auf dem Plaça de Catalunya.

Diese Massenbewegung wurde unter dem Namen Indignados (die Empörten) oder 15-M Bewegung (die Proteste begannen am 15. Mai) bekannt (2). Spezifische Bewegungen gegen unterschiedliche Aspekte der großen Rezession traten aus dieser Bewegung hervor. Wie zum Beispiel die Plattform für die von Hypotheken Betroffenen (PAH), die Bewegungen für das Recht auf Wohnen oder die sogenannten Mareas, Proteste gegen soziale Kürzungen und Privatisierungen.

Obwohl es in den darauffolgenden Jahren zu vielen Demonstrationen und Aufmärschen (zum Beispiel der „Marsch für Würde“ Anfang diesen Jahres) kam sowie zu Besetzungsversuchen, scheiterte die soziale Bewegung daran, die etablierten Parteien von ihren Kürzungs- und Sparvorhaben abzubringen. Die Massenversammlungen, die jegliche Organisationsstrukturen unter dem Vorbehalt gegen Führungen ablehnten, vermochten es nicht, die politischen Kräfteverhältnisse entscheidend zu verändern. Auch die weit verbreitete Ablehnung politischer Organisierung im Allgemeinen einschließlich der etablierten reformistischen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung führte schließlich zu einem Absterben der 15M-Bewegung.

Jedoch lernten Teile der Bewegung, dass Proteste alleine nichts ändern würden, genauso wenig wie die anhaltenden Versammlungen, in welchen AnarchistInnen sowie Libertäre eine Vorform einer neuen Gesellschaft vorhersahen. Diese Sackgasse war nicht einzigartig für Spanien. Die gesamte Occupy-Bewegung scheiterte daran, die Regierungen zum Nachgeben zu bewegen oder gar irgendeine anhaltende Form für die von vielen TeilnehmerInnen diskutierte „neue Form der Demokratie“ zu schaffen.

Diese Sackgasse entstand unter anderem daher, dass es der Großteil der TeilnehmerInnen oder ihre angeblich „nicht-existierenden“ FührerInnen nicht versuchten oder nicht wollten, die Masse an gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen einzubinden. Deren direkte Streikaktionen hätten die PolitikerInnen zu Zugeständnissen zwingen können. Die Demonstrationen der BergarbeiterInnen und anderer Sektoren boten hierfür Möglichkeiten. Auf der anderen Seite verhinderten die FührerInnen der größten gewerkschaftlichen Dachverbände, wie auch in anderen Ländern, einen politischen Generalstreik, welcher die Sparregierungen zu Fall hätte bringen können.

Somit war zumindest in Spanien im Frühjahr 2014 die Lage reif für einen Schwenk hin zu einer Politik, die in festere organisatorische Strukturen als zuvor eingebettet war. Diese Politik musste jedoch eine „neue“ Politik darstellen. Eine Politik ohne „Experten“ – ohne PolitikerInnen. Jedoch eine Politik mit einem „unerlässlichen Bestandteil […] einer Führungsperson mit einem hohen Bekanntheitsgrad in Spanien“ (3).

Ideologische Wurzeln der „neuen Politik“

Die Gruppe, welche das öffentliche Gesicht von PODEMOS wurde, besteht fast ausschließlich aus Mitgliedern der Fakultät für Politikwissenschaften und Soziologie an der Complutense Universität in Madrid. Pablo Iglesias, Juan Carlos Monedero und Íñigo Errejon hatten sich Prominenz durch ein lokales TV-Programm – „La Tuerka“ – verschafft, welches landesweite Verbreitung dank sozialer Medien und Internet fand. Vor allem der junge Akademiker Pablo Iglesias startete einen gut ankommenden Angriff gegen die PSOE und PP, indem er sie für ihre Korruption, ihre Forcierung sozialer Ungleichheiten, ihre Vertuschungen von Betrug im Bankenwesen, ihre Rettungsaktionen für die Banken sowie ihre Unterstützung für das Sparprogramm des IWF bzw. der EZB an den Pranger stellte, welches mit verheerenden sozialen Auswirkungen verknüpft ist. Er sollte auch die oben angesprochene „Führungsperson mit einem hohen Bekanntheitsgrad in Spanien“ darstellen.

Iglesias vertraute mit Absicht auf – seiner Meinung nach – allgemeingültige Argumente und die Alltagssprache und schwor den rechten wie auch linken Traditionen und Begrifflichkeiten ab. Hierzu schrieb er in einem kürzlich veröffentlichten Artikel in New Left Review:

„Die Zusammensetzung der politischen Landschaft in eine Links-Rechts-Trennung führte zu einer Situation, die einen Wechsel hin zu einer progressiven Richtung in Spanien nicht länger möglich machte. Auf diesem symbolträchtigen Terrain von Links und Rechts haben diejenigen von uns, welche eine post-neoliberale Transformation durch den Staat anstreben – Verteidigung der Menschenrechte, der Souveränität und die Verbindung zwischen Demokratie und Umverteilungspolitik – nicht den Hauch einer Chance auf Wahlgewinne.“ (4)

Neben der Tatsache, dass in dieser Aussage viele schwammige Ziele formuliert werden (Menschenrechte, Demokratie, Umverteilungspolitik), wird hier deutlich, dass Pablo Iglesias eine klare Strategie verfolgt, über Mehrheiten im Parlament Reformen zu „erkämpfen“. Hierzu muss seiner Auffassung nach jedoch die „Links-Rechts-Achse“ aufgebrochen werden, um die Mehrheit der Bevölkerung erreichen zu können und diese nicht zu verschrecken. Dies sei notwendig, um einen durch die Krise aufgebrochenen Diskurs in der Gesellschaft zu führen und um keine Menschen zu verprellen, die durch radikalere Rhetorik nicht erreichbar wären. Diese abgeschwächte Rhetorik und diesen Populismus rechtfertigt Iglesias im selbigen Artikel später wie folgt:

„Wenn wir darauf bestehen, z.B. über Räumungen, Korruption und Ungleichheit zu sprechen, und uns dagegen wehren, in allgemeine Diskussionen über die Form des Staates (Monarchie oder Republik) […] gedrängt zu werden, heißt das nicht, dass wir keine Meinung zu diesen Themen haben oder unsere Positionen abschwächen. Wir nehmen vielmehr an, dass ohne die Maschinerie der institutionellen Macht es wenig Sinn macht, sich zu diesem Zeitpunkt auf Bereiche der Auseinandersetzung zu fokussieren, welche uns von der Mehrheit, ‚die nicht links ist, distanzieren würden. Und ohne die Mehrheit zu sein, ist es nicht möglich, den Zugang zur administrativen Maschinerie zu erlangen, welche uns die Möglichkeit geben würde, diese diskursiven Auseinandersetzungen unter anderen Voraussetzungen zu führen, während in der Zwischenzeit mit öffentlicher Politik interveniert wird.“ (5)

Dass der Aufbau von PODEMOS und das Erreichen der Ziele nur mit einer unerlässlichen Führungsfigur mit nationaler Popularität gelingen könnte, verdeutlicht neben dem Reformprogramm auch noch den populistischen Ansatz von Iglesias. Schnell erhielt er eine große Anzahl an GesinnungsgenossInnen. Einige der ComplutenseakadermikerInnen haben einen linken Hintergrund. Iglesias selbst trat mit 14 den JungkommunistInnen bei, Monedero war Berater für Izquierda Unida. Viele von ihnen haben einige Zeit in Lateinamerika verbracht, wo sie nicht nur die bolivarische Bewegung rund um Persönlichkeiten wie Hugo Chávez wissenschaftlich untersuchten, sondern auch aktiv an ihr teilnahmen. Hierbei lernten sie die praktische Kraft einer klassenübergreifenden Mobilisierung „der Bevölkerung“ gegen „die Oligarchie“ kennen.

Ein einfacher, an der Oberfläche der Gesellschaft verbleibender Antagonismus, welchen die spanischen AkademikerInnen nun in ihrem Slogan „EinwohnerInnen gegen die Kaste“ reproduzieren. Sie „lernten“ zusätzlich aber auch, dass ein traditioneller Bestandteil der spanischen Libertären, welcher stark in der 15M-Bewegung vertreten war, wegen ihrer Feindseligkeit gegenüber FührerInnen über Bord geworfen werden müsse. Íñigo Errejon drückte sich dazu wie folgt aus:

„Wir forderten ebenfalls das FührerInnentabu heraus. Gemäß einigen liberalen Ideen, welche ebenfalls in der Linken verankert sind, ist einE charismatischeR FührerIn unvereinbar mit wirklicher Demokratie. Für PODEMOS war der Nutzen einer medialen Führung durch Pablo Iglesias eine Bedingung sine qua non der Kristallisation politischer Hoffnung, welche die Zusammenführung vereinzelter Kräfte in einem Kontext der Ablehnung der bürgerlichen Kräfte erlaubte.“

Klar wird hierbei, was diese linken AkademikerInnen in Lateinamerika gelernt hatten – die notwendige Ergänzung zum Populismus, der Caudillismo, welcher den Fokus auf eineN charismatischE FührerIn legt und dieseN direkt mit den Massen interagieren und für sie sprechen lässt. Populismus setzt auf Massenmobilisierungen in überwältigenden Ausmaßen, jedoch nicht unter allen Umständen durch Parteistrukturen und eine Pyramide an RepräsentantInnen, sondern direkt durch eineN, oder möglicherweise mehrere, anerkannteN FührerInnen. Die FührerInnen werden durch ihre „Popularität“ legitimiert, ausgedrückt in Massenversammlungen, Kundgebungen und medialer Präsenz.

Hugo Chávez verband dies mit seiner Macht durch wiederholte Wahlen und Referenden, seine riesigen Massenversammlungen und den bolivarischen Zirkel. PODEMOS nutzte die sozialen Medien sowie das Internet geschickt, um dies zu erreichen. Somit können die Schlüsselfiguren in PODEMOS eine Art dauerhafte Volksbefragung durchführen.

Der klassische Chávismus und PODEMOS zeichnen sich durch die Zerstreutheit der AnhängerInnen als Individuen bzw. in kleinen Gruppen aus. Demgegenüber besitzen die FührerInnen Privilegien, wie z.B. öffentlich die Politik zu vertreten, zu entwickeln, zu initiieren sowie auswählen zu können, welche von der Basis ausgehenden Ideen hervorgehoben werden sollen und welche nicht. Andere politische Gruppierungen oder Tendenzen innerhalb der Bewegung sind dadurch sehr angreifbar gegen Spaltungsvorwürfe oder gegen Vorwürfe, sie würden die Mitglieder nicht repräsentieren, sondern nur ihre eigenen kleinen Gruppen. Dies stellt die Demagogie dar, welche unzertrennlich mit dem Populismus einhergeht, das Spielen mit der Ignoranz sowie das Hofieren der Vorurteile der atomisierten Masse.

In Europa stellte der offene Populismus generell eine Domäne der Rechten dar. Teilweise war und ist dies der ArbeiterInnenklasse geschuldet. Die ArbeiterInnenbe-wegung schuf Massenparteien und zwang die Bourgeoisie dazu, das allgemeine Wahlrecht anzuerkennen. Die Klasse stützte Bewegungen – ob Gewerkschafts- oder Parteibewegungen – auf Zellen und Ortsgruppen, welche über Delegiertenkonferen-zen ihre Politik bestimmten und sich selbst Führungen wählten.

Natürlich sind solche Strukturen in Form sozialdemokratischer oder stalinistischer Massenparteien verbürokratisiert. Selbst formal demokratische Strukturen konnten die tradionellen Organisationen der ArbeiterInnenbewegungen nicht davor bewahren, nachdem sie sich auf eine passive Mitgliedschaft und einen bürokratischen Apparat sowie enge Beziehungen zum bürgerlichen Staat stützten. Hinzu kommt, dass sie eine soziale Basis unter den „besser gestellten“, arbeiteraristokratischen Schichten der Klasse haben – was auch erklärt, warum sie vornehmlich ein politisches Phänomen der imperialistischen Länder oder wirtschaftlich stärkerer Halb-Kolonien sind.

Diese Parteien sehen die Existenz des Kapitalismus und kapitalistischen Wohlstand – oder zumindest Stabilität – als eine Grundvoraussetzung für jegliche Reformen an. Konsequenterweise akzeptierten sie damit die Notwendigkeit, in Perioden der Krise oder der verschärften Konkurrenz Sparmaßnahmen durchzuführen, auch wenn diese den Interessen ihrer eigenen UnterstützerInnen zuwiderliefen. Als sich diese UnterstützerInnen gegen diese Parteien wandten, begannen viele nicht nur diese Politik, sondern auch die historische Tradition der ArbeiterInnenbewegung, die sie in verkrusteter Form auch verkörpern, abzulehnen. So erschien die plebiszitäre Form der Demokratie, wie in PODEMOS verkörpert, „partizipativer“ zu sein als die verkrustete Form innerparteilicher Regularien, wie sie in den Gewerkschaften und der ArbeiterInnenbewegung üblich war. In Wirklichkeit stellt diese Entwicklung einen Schritt zu noch größerer Unabhängigkeit der FührerInnen oder des/der FührerIn von der Basis dar und nicht zu mehr Kontrolle. Diese Entwicklung ist keineswegs auf PODEMOS beschränkt, sondern lässt sich seit Jahren auch bei den „traditionellen“ sozialdemokratischen Parteien beobachten, wenn z.B. mehr und mehr Formen des Wahlkampfes und der KandidatInnenwahl von offen bürgerlichen Parteien übernommen werden (oft am Modell der US-Demokraten orientiert).

Auch wenn viele der PODEMOS-Führungspersonen aus einem IU-Hintergrund kommen, konnten Iglesias und das Team hinter PODEMOS daraus Nutzen ziehen, einen sozialistischen Sprachgebrauch komplett zu vermeiden. Im Gegensatz zu einem Klassenbezug sowie der Anerkennung der ArbeiterInnen als das prinzipielle Subjekt für einen Wandel sprechen sie von „der Bevölkerung“ und „den EinwohnerInnen“. Sie sind alle gleich vage in der Frage, wer genau die GegnerInnen sind, gegen wen die Personen vorgehen müssen.

Indem sie den 15M-Slogan „Sie repräsentieren uns nicht!“ aufnahmen, welcher gegen „die Kaste“ professioneller PolitikerInnen gerichtet war, versuchten sie, Methoden zu entwickeln, die diejenigen der offiziellen Politik – Links wie Rechts – überschreiten. Sie glauben, dass dies ein schnellerer und einfacherer Weg zur Erlangung der parlamentarischen Mehrheit darstellt. Deshalb drückte sich Iglesias im Palácio de Vistalegre wie folgt aus: „Wir werden ihnen sagen, dass wir das Zentrum besetzen wollen; wo eine politische Mehrheit existiert, die an Anstandsgefühl glaubt“.

In Realität ist dies nicht etwa eine ausgeklügelte „konter-hegemoniale“ Strategie. In der Tat ist es nicht einmal neu. Bewusst oder unbewusst stellt es eine Kapitulation gegenüber dem Zentrum, der „Mittelklasse“ und den Mittelschichten dar. Der Glaube daran, dass „ehrliche Menschen“, welche gewöhnlich rechts wählen, durch das Vermeiden alter Terminologie von Rechts und Links, von ArbeiterInnen- und Kapitalistenklasse gewonnen werden können, ist entweder ein Fallstrick oder eine Täuschung. Es wird zu einem Fallstrick, wenn PODEMOS dahingehend sein Programm limitiert, was akzeptabel für diese WählerInnen ist. Es stellt eine Täuschung dar, wenn Iglesias & Co. denken, dass auf solch einer Basis für PODEMOS gewonnene Personen einer eventuellen PODEMOS-Regierung treu bleiben, wenn die Gangarten härter werden und die KapitalistInnen beginnen, all ihre wirtschaftliche Kraft gegen PODEMOS zu richten. In diesen Fallstrick scheint PODEMOS nach seinem Hoch in der Gunst der WählerInnenstimmen nun auch zu fallen. Durch das Aufkommen einer rechts-populistischen Konkurrenz mit dem Namen „Ciudadanos“ vor einigen Monaten fällt es PODEMOS schwer, seine Umfragewerte zu halten. Dies wurde z.B. bei den letzten Regionalwahlen in Andalusien deutlich, bei denen PODEMOS die oben genannten Umfragewerte nicht erreichen konnte.

Darüber hinaus deuten weitere Entwicklungen in Richtung Fallstrick. Während Iglesias bis zur offiziellen Gründung von PODEMOS immer von der Streichung der Schulden gesprochen hatte, nahm die „Assamblea Ciudadana“ einen Antrag an, welcher nur eine „ordentliche Restrukturierung“ der Staatsschulden vorsieht. Bibiana Medialdea, Wirtschaftsprofessorin und die Person, welche damit beauftragt war, die Vorschläge zum Thema „Finanzen“ vorzustellen, erklärte die Position wie folgt: „Die objektive Lage ist nicht, die Schulden nicht zu bezahlen, sondern mit einem nachhaltigen Ansatz zu einem Niveau der Staatsverschuldung zu gelangen, welches die Wiedererlangung des Bevölkerungswohlstandes erlauben würde.“

Die Grundeinheiten von PODEMOS

Angelehnt an die Rolle, welche Chávez‘ bolivarische Zirkel gespielt haben, baute die neue Bewegung ein Netzwerk von PODEMOS-Zirkeln in Städten und Institutionen sowie in unterschiedlichen Bereichen und sozialen Problemfeldern auf. So wurden Zirkel von Arbeitslosen, Behinderten, LGBT, FeministInnen, RenterInnen oder für Gesundheit, Journalismus, öffentlichen Verkehr, Ökologie, usw. gebildet.

„Sie sind Orte, um Ängste, Zersplitterung und Resignation zu beenden, Einigkeit der Bevölkerung zu schaffen gegen die Verelendung und die Beschlagnahmung der Demokratie. Durch die Zirkel verteidigen wir Angelegenheiten des normalen Menschenverstandes: Wir sind EinwohnerInnen und wir haben das Recht auf Rechte: darauf, ohne Ängste zu leben, auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Rente sowie soziale Absicherung, auf Land und Boden, auf Beschäftigung, Kultur, darauf uns als Individuen und Personen entwickeln zu können, darauf, dass niemand uns belügt oder uns falsch behandelt, darauf, dass niemand uns mit Schulden überschüttet, dass uns niemand beraubt.“

Cristina Flesher Fominaya, Autorin des Buches „Soziale Bewegungen und Globalisierung“ (Mai 2014) beschreibt die Methoden von PODEMOS daher folgendermaßen: „Diese Kommunikation hat es ermöglicht, die grundsätzliche Achse der klassischen Repräsentation zu überwinden: die Parteiformen, die Kultur von Militanz, die Links/Rechts-Achse, das undurchschaubare Konzept des Verhältnisses zwischen RepräsentantInnen und den Repräsentierten sowie die Idee einer politischen Identität eines mehr oder weniger existierenden Subjekts. PODEMOS hat es geschafft, sich über diese Achsen hinwegzusetzen und dabei die Basis gelegt für eine dreiteilige Beziehung zwischen bürgerlicher Mitbestimmung, sozialen Kämpfen sowie dem Ausdruck von Forderungen in Institutionen, welche über die repräsentative Demokratie hinausgehen und eine grundsätzliche Transformation von Politik, Wirtschaft und sozialem Leben ermöglichen.“ (6)

Aus dem Blickwinkel von Iglesias und seiner Formation „Claro Que Podemos“ innerhalb der Führung von PODEMOS hat sich diese Form der Organisierung längst ausgezahlt. Bei den Online-Abstimmungen zu der Frage, welche Organisationsstrukturen sich PODEMOS geben sollte, gewann der Vorschlag von „Claro Que podemos“ eine überwältigende Mehrheit von 80,7% der Stimmen. Der Antrag sah eineN einzelneN GeneralsekretärIn als ParteiführerIn vor. Die einflussreichste Gegenposition – von der Gruppierung „Sumando podemos“ initiiert – schlug ein dreiköpfiges Sekretariat vor. Einer der führenden Köpfe von „Sumando podemos“, Jesús Rodríguez, definierte ihr Vorhaben damit: „Wir haben die Unterstützung vieler Menschen, welche die Pluralität des Projektes aufrechterhalten wollen. Und darunter befinden sich viele Personen, welche eine Führung mit Unterschieden und Pluralität wollen.“

Iglesias machte mit dieser Vorstellung kurzen Prozess, indem er erklärte, dass „der Himmel nicht durch Konsens, sondern nur durch Angriff erobert werden kann“. Sein zweiter organisatorischer Antrag, welcher ebenfalls erfolgreich war, bestand darin, Mitgliedern, welche gleichzeitig Mitglieder anderer Organisationen sind, die Möglichkeit zu untersagen, sich für die Wahl zum „BürgerInnenrat“ aufstellen zu lassen. Der „BürgerInnenrat“ wird für zwei Jahre als Leitungskörper gewählt, welcher die Partei zwischen den Vollversammlungen anleitet. Dieser Antrag war sehr deutlich gegen die Mitglieder von Izquierda Anticapitalista (IA, Antikapitalistische Linke) gerichtet, die spanische Sektion der Vierten Internationale.

Mitglieder der IA sind jedoch nicht nur zentral für „Sumando podemos“, sie haben auch gut die Hälfte der nötigen Unterschriften bereitgestellt, um den Gründungsantrag für PODEMOS einreichen zu können. Darüber hinaus schrieb IA auch das Wahlprogramm zu den EU-Wahlen, bei welchen PODEMOS gut abschnitt. Auch ein Mitglied der IA, Teresa Rodríguez, wurde als Abgeordnete des EU-Parlamentes gewählt. Doch nun zahlt IA den Preis dafür, dass sie Iglesias seit der Gründung der Partei immer nur entgegengekommen ist, anstatt für alternative Organisationskonzepte und deren Vorteile gegenüber den Vorstellungen der Iglesiastruppe zu kämpfen. Diese Entwicklung ging auch nicht spurlos an der IA vorüber. Zu den Auswirkungen auf die spanische Sektion der Vierten Internationale werden wir uns weiter unten auslassen.

Ist PODEMOS der richtige Weg?

PODEMOS wirft wichtige Fragen für Gruppierungen innerhalb der radikalen Linken auf. Ist diese „neue Politik“, vorgeschlagen von der Führung der jungen Partei, ein Modell, welches in anderen Ländern übernommen werden sollte? Stellt es eine wirkliche politische Alternative für die spanische ArbeiterInnenklasse und Jugend in ihren Kämpfen gegen die kapitalistische Krise und deren Auswirkungen dar? Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, welches Verhältnis RevolutionärInnen zu PODEMOS einnehmen sollten.

Diese Fragen sind deshalb so wichtig, da PODEMOS sich aus einem Projekt entwickelte, welches von einer Gruppe aus AkademikerInnen angestoßen wurde. Ist es daher „nur“ ein Projekt von Intellektuellen „für die Massen“ oder birgt es Potenzial, sich in eine Partei der Massen, also eine Partei der ArbeiterInnenklasse, zu entwickeln? Sind Verbindungen zur ArbeiterInnenklasse überhaupt vorhanden?

Studien zur Demografie von PODEMOS sind bisher rar gesät. In seinem auf der Internetseite Open Democracy veröffentlichten Artikel „Wer ist eigentlich PODEMOS?“ versuchte Fernando Betancour, ein amerikanischer sowie wirtschaftlich und politisch liberal eingestellter Politiker, einige Schlussfolgerungen zu ziehen, indem er die Zusammensetzung der WählerInnen sowie der PODEMOS nahestehenden Personen untersuchte. Er kam zu folgender Schlussfolgerung:

„In Übereinstimmung mit einigen demografischen Informationen, welche durch WählerInnenumfragen erstellt wurden, können wir annehmen, dass die WählerInnen von PODEMOS mittleren Alters oder vorstädtische Jugendliche mit einem überdurchschnittlich wohlhabenden Hintergrund sind. Sie sind nicht, zumindest im Durchschnitt, gefährdet durch Arbeitslosigkeit oder Besitzlosigkeit bzw. dadurch, wirtschaftlich marginalisiert zu werden. Sie scheinen nicht eine Gruppe von ArbeiterInnen, vor allem nicht von LumpenproletarierInnen, wie Herr Iglesias in einem Interview verunglimpfend auf sie verwies, darzustellen. Es handelt sich dabei eher um Personen aus der Mittelklasse. Und wenn sie nicht arbeits- oder wohnungslos sind, dann sind sie aufgebracht von anderen Themen: Korruption, politischer Elitismus, Teilnahmslosigkeit der Regierung sowie wahrgenommene Ungerechtigkeit.“

Dies sollte eineN nicht verwundern, vermeiden die bekanntesten SprecherInnen von PODEMOS, so gut es geht, die Sprache und Symbolik der ArbeiterInnenbe-wegung. Für sie stellt eine solche Bezugnahme die Sprache „der Kaste“ dar, ein Zugeständnis an das „Links-Rechts-Schema“, welches ihrer Meinung nach ohne große Umwege in den Mülleimer geworfen werden sollte.

Ebenfalls stellt es keine Überraschung dar, dass das Programm von PODEMOS nicht wirklich radikaler ist als das Programm der Sozialdemokratie, bevor sie vor dem Neoliberalismus kapitulierte. Das Programm zur EU-Wahl war ein klar linksreformistisches Programm, ein Minimalprogramm, welches nicht über Forderungen hinausgeht wie nach einem Schuldenerlass, einem Mindesteinkommen, der Wiederverstaatlichung von privatisierten, aber strategisch wichtigen Teilen der Wirtschaft oder nach der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien. Das Programm versprach die Abschaffung von Steuerinseln, die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens sowie die Herabsenkung des Rentenalters auf 60 Jahre. Alles gute und nachvollziehbare Forderungen, jedoch bei weitem kein antikapitalistisches Programm.

Der Kampf für solche Forderungen muss auf jeden Fall auf die Tagesordnung gesetzt werden; jedoch ist die wichtigere Frage, wie diese Kämpfe mit der Eroberung der Macht durch die ArbeiterInnenklasse verbunden werden können.

Um die reformistischen Illusionen zu überwinden und der spanischen ArbeiterInnenklasse ein revolutionäres Programm zu geben, sollten die unterschiedlichen anti-kapitalistischen Strömungen in Spanien, innerhalb und außerhalb von PODEMOS, die Dynamik und Bewegung rund um PODEMOS nutzen, um dafür zu kämpfen, die neue Partei von ihren populistischen und nicht-sozialistischen Einschränkungen zu befreien. Sie sollten offen für eine revolutionäre Linie kämpfen und hierfür für ein revolutionäres Programm mit Fokussierung auf die spanische sowie internationale ArbeiterInnenklasse eintreten. Vor allem mit Hinblick auf die Auseinandersetzung rund um die Wahlen im spanischen Superwahljahr 2015 sollten RevolutionärInnen die entstehende Dynamik und Diskussionen nutzen und die Bildung einer revolutionären Plattform innerhalb von PODEMOS vorantreiben, aber auch den Schulterschluss mit Teilen außerhalb von PODEMOS suchen. Diese Plattform sollte ein Aktionsprogramm sowie ein alternatives Organisationsmodell für die Partei erarbeiten und damit in PODEMOS intervenieren.

Die größte und einflussreichste Organisation der radikalen Linken innerhalb von PODEMOS, die Izquierda Anticapitalista (IA), betreibt freilich eine Politik, die in die entgegengesetzte Richtung führt. Verdeutlicht wird diese passive und defensive Haltung am besten anhand des Umgangs der IA mit den oben genannten Mehrheitsbeschlüssen der „Assamblea Ciudadana“ sowie durch die kampflose Auflösung der IA in PODEMOS.

Nachdem die „Assamblea Ciudadana“den Antrag von Iglesias angenommen hatte, Mitgliedern anderer politischer Organisationen die Möglichkeit zu nehmen, sich zur Wahl der PODEMOS-Führung aufstellen zu lassen, erklärte die IA kurz danach ihre Auflösung in PODEMOS und benannte sich anschließend in „Anticapitalista“ um. Dieser Art des Umgangs mit der Niederlage bei der Abstimmung auf der „Assamblea Ciudadana“, offenbart ein klares Fehlen des Aufbaus einer aktiven und offensiven Opposition gegen die Iglesias-Führung und deren politischen und organisatorischen Konzepte. Vor allem liegt diesem Vorgehen die illusorische Vorstellung zugrunde, dass der grundsätzliche Konflikt mit der Iglesias-Führung vermieden werden könne. Die Iglesias-Führung vertritt nicht nur undemokratische Organisationsziele, sondern vor allem einen kleinbürgerlichen Klassenstandpunkt, der sich im Zuge einer Weiterentwicklung zu einer Form offenen bürgerlichen Populismus‘ entwickeln kann, ja wird. Es ist daher von Seiten dieser Führungsgruppe und ihrer AnhängerInnen nur konsequent, gegen alle Strömungen vorzugehen, die PODEMOS in eine proletarische oder gar eine revolutionäre Richtung drängen oder auch nur drängen könnten.

Anticapitalista will diesen grundsätzlichen Gegensatz jedoch nicht wahrhaben und weicht ihm aus. Rund um diese Auseinandersetzungen auf der „Assamblea Ciudadana“ hätte sie die Zusammenführung revolutionärer Kräfte innerhalb von PODEMOS zu einer revolutionären Plattform vorantreiben können und müssen. Diese revolutionäre Plattform könnte nun aktuell innerhalb von PODEMOS dazu genutzt werden, eine prinzipienfeste Opposition aufzubauen, welche sich für den Aufbau einer demokratisch-zentralistischen Organisation mit voller Tendenz- und Fraktionsfreiheit einsetzt.

Diese Plattform könnte auch in die derzeitigen Auseinandersetzungen in PODEMOS rund um die aktuellen Regional- und Nationalwahlen eingreifen, um die programmatischen Schwächen der Iglesias-Führung aufzuzeigen. Durch das Unterlassen einer solchen Initiative stellte der Umgang von Anticapitalista mit diesen Mehrheitsentscheiden eher einen kampflosen Rückzug gegenüber der Führung dar statt eines offensiven Angriffs gegen die fehlerbehafteten Strategien und Taktiken der derzeitigen Führung. Neben der symptomatischen Auflösung der IA wird ihr Kniefall gegenüber Iglesias auch in einer weiteren Auseinandersetzung deutlich, welche sich rund um die Regionalwahlen in Andalusien abspielte und seitdem landesweite Wellen schlug. Mehr dazu weiter unten im Text.

Ein unausweichlicher Schritt, für welchen Anticapitalista sowie eine eventuelle revolutionäre Plattform oder Fraktion in Opposition zu der Iglesias-Führung eintreten müsste, wäre das Aufbrechen der plebiszitären Struktur der Partei. Konferenzen mit Tausenden TeilnehmerInnen und Hunderttausenden, welche online abstimmen dürfen, erscheinen auf den ersten Blick sehr demokratisch. Im Endeffekt festigt dies jedoch die privilegierte Position der „anerkannten FührerInnen“ – vor allem diejenigen mit einem großen Medienprofil. Wenn zugleich vorhandene organisierte Tendenzen ausgeschlossen und verunglimpft werden, macht dies die Sache nur noch schlimmer. Große Massenkonferenzen politisch unerfahrener, vereinzelter, oft passiver Menschen sind viel einfacher zu manipulieren; das zeigen nicht nur populistische Bewegungen, sondern auch alle Formen bonapartistischer Herrschaft. Die Tatsache, dass allen BürgerInnen, welche nicht aktiv an der Partei teilhaben, die gleichen Rechte gewährt werden wie denjenigen, welche sich aktiv beteiligen, stellt keine höhere Form der Demokratie dar, sondern ist vielmehr eine Waffe gegen sie.

Wahlen und Regierungsfrage

Zweifellos zeigten die in ganz Europa gemachten Erfahrungen neuer Parteien, deren Wachstum die Eroberung der Regierungsmacht ermöglichten, dass blinde Euphorie, hervorgerufen durch einen einzigen Wahlerfolg oder hohe Umfragewerte, deplatziert ist. Die Erfolge von PODEMOS bei den Europawahlen sind hier kein echter Gradmesser für die zukünftige Politik der Partei, weil bei den Europawahlen kein Parlament gewählt wird, das auch eine Regierung bildet. Daher stellt die Stimmabgabe oft primär den Ausdruck der Loyalität gegenüber einer bestimmten Partei oder deren „Abstrafung“ bei einer vergleichsweise „unwichtigen“ Wahl dar. Sie kann allerdings auch als ein Ausdruck gegen die Ausrichtung des „europäischen Projektes als Ganzes“ verstanden werden. Nationale Wahlen im Gegensatz dazu drehen sich um die Frage, wer tatsächlich ein Land regieren soll.

Die Erfahrungen der Rifondazione Comunista in Italien im letzten Jahrzehnt sowie die jüngsten Erfahrungen rund um SYRIZA in Griechenland zeigen, dass jede Partei, welche keinen klaren proletarischen Klassenstandpunkt einnimmt, schlussendlich gegenüber den vorhanden konstitutionellen Grenzen der existierenden bürgerlichen Gesellschaft kapitulieren wird. Dies zeigte sich auch schon in PODEMOS nach dem Abhalten der „Assamblea Ciudadana“, wie in der Abschwächung der Forderung nach einem Schuldenerlass zu sehen ist, sowie in den oben zitierten jüngeren Äußerungen Iglesias, in welchen die Erlangung der institutionellen Macht obenan gestellt und programmatische Klarheit unter den Tisch gekehrt werden.

Für PODEMOS werden die Wahlen sofort die Frage nach einer Koalition aufwerfen. Iglesias sagte, dass PODEMOS in keine Koalition mit Parteien „der Kaste“ eintreten werde. Da dies nicht nur die PSOE, sondern auch die Izquierda Unida beinhaltet, stellen sich nur zwei Szenarien im Falle eines Wahlerfolgs von PODEMOS: Entweder die Formierung einer Minderheitenregierung, um den Versuch zu starten, das Parteiprogramm zu verwirklichen – oder es anderen Parteien zu erlauben, eine Regierung zu bilden. Dies würde entweder eine Koalition zwischen Parteien aus dem rechten Lager oder eine Große Koalition zwischen den traditionellen Parteien, den prinzipiellen Repräsentanten „der Kaste“, bedeuten.

Einer Minderheitsregierung würde offensichtlich nicht nur im Parlament entgegengearbeitet werden, sondern auch von Seiten der Banken, den internationalen Behörden wie dem IWF oder der Weltbank, allen großen Unternehmen sowie natürlich von Seiten der bürgerlichen Medien. Es käme zu einem sofortigen Abfluss von Kapital und einem Aufruhr an den Aktienmärkten. Wäre eine solche Minderheitsregierung nicht in der Lage, schon existierende außerparlamentarische Kräfte zu mobilisieren, um solchen Attacken nicht nur mit Hilfe von Demonstrationen, sondern auch durch Enteignung der Produktionsmittel und Einführung von ArbeiterInnenkontrolle entgegenzuwirken, würde sie nicht lange überleben.

Auf den ersten Blick erschien die Strategie von PODEMOS, jegliche Koalitionen abzulehnen, als sehr radikal, eine entschlossene Ablehnung von allem, für das die etablierten Parteien „der Kaste“ stehen. Iglesias machte deutlich, dass sein Ziel ein sofortiger Wahlsieg, eine Mehrheitsregierung ist. Die vorherige Ablehnung jeglicher Koalitionen, sogar mit der IU und kritischen Elementen innerhalb der PSOE, ist dahingehend gerichtet, die WählerInnen dieser Parteien zu einer Wahl von PODEMOS zu überzeugen. Hierzu äußerte sich Iglesias in einem Interview wie folgt recht deutlich:

„Da ist die Frage der Zahlen (Wahlergebnisse, Anmerkung des Autors) natürlich, aber hinter diesen Zahlen steht die Frage, welche Kapazität jemand besitzt, um Druck auf andere auszuüben. Wenn wir gefragt werden: ‚Werdet ihr Übereinkünfte mit der Sozialistischen Partei machen?‘, antworten wir immer, ‚Die SozialistInnen werden eine 180°-Drehung hinlegen müssen‘.“ (7)

Da jedoch das Programm von PODEMOS qualitativ nicht über demjenigen der IU steht, stellt diese Unnachgiebigkeit keine Prinzipienfestigkeit, sondern Sektierertum dar. Es wird sogar zu einer eindeutigen Farce, beachtet man, dass PODEMOS innerhalb des Europäischen Parlaments keinerlei Probleme besitzt, mit Parteien anderer nationaler „Kasten“ eine Fraktion zu bilden wie z.B. mit der deutschen Linkspartei.

Vor allem stellt sich die Frage, was – wenn von der Rhetorik abgesehen wird – von dieser Strategie übrig bleibt? Was bleibt übrig außer einem sehr naiven Vertrauen in die parlamentarische Demokratie? Die unterschwellige Annahme der PODEMOS-Führung ist, dass die entscheidende Voraussetzung für die Bekämpfung „der Kaste“ und das System, welches sie verteidigt, der Gewinn einer Mehrheit an parlamentarischen Sitzen ist. Aber eine Mehrheitsregierung, gebildet durch PODEMOS, würde den gleichen GegnerInnen und Vorbehalten gegenüberstehen wie eine Minderheitsregierung, auch wenn sich eine solche Regierung entgegen allen nationalen und internationalen Gegenwinden halten könnte. Was könnte der Gewinn von Parlamentsstimmen vollbringen, wenn sich die Finanzmärkte unnachgiebig weigern würden, der spanischen Regierung oder den spanischen Banken und Unternehmen Geld zu leihen?

In der Realität zeigt die „Flexibilität“, welche die Iglesias-Truppe in der Frage der Ablehnung der Schuldenzahlung zeigte, deutlich auf, dass eine PODEMOS-Regierung schnell von ihrem „hohen Ross“ steigen und ihre Politik darauf limitieren würde, was „möglich“ und „akzeptabel“ ist, ohne sich von den Massen, „die nicht links sind“, zu entfernen und den gesellschaftlichen Diskurs zu gefährden. Das Schlimme daran ist jedoch: egal wie viele Zirkel organisiert werden, wenn diese alleine eine „von oben nach unten“ – Beziehung mit der PODEMOS-Führung besitzen und somit keine Möglichkeit der eigenen Koordinierung oder gar Entscheidungsfindung über politische Fragen haben, werden sie niemals in der Lage sein, ihre Führung daran zu hindern solche 180-Gradwendungen zu vollziehen.

Nichtsdestotrotz, auch wenn sich die Iglesias-Führung durch die „Assamblea Ciudadana“ und die Onlineabstimmungen klar konsolidieren konnte, ist PODEMOS immer noch ein sehr junges Projekt und sein finaler Charakter noch nicht entschieden. Die Parlamentswahlen, auf welche Iglesias so viel Hoffnung setzt, werden weitere Episoden erzeugen, die die Lorbeeren von Iglesias beflecken werden. Hier sind die Auseinandersetzungen in Andalusien sowie die kürzlich aufgekommene Führungskrise rund um den Rücktritt von Monedero als jüngste Beispiele zu nennen. Dies bedeutet, dass ein Abseitsstehen von dieser Parteiformierung eine sektiererische Selbstisolation von mehreren Tausend militanten AktivistInnen in sozialen Bewegungen und Teilen der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse darstellt.

Die aktuellen Erfahrungen mit PODEMOS in der Praxis

Spanien steht, wie oben schon erwähnt, vor einem Superwahljahr. Im Mai standen Kommunalwahlen an. Gleichzeitig werden im Laufe des gesamten Jahres 2015 in fast allen Regionen die Regionalregierungen neu gewählt. Andalusien – welches am 22. März sein Regionalparlament gewählt hat – stand am Anfang einer langen Reihe kommender Wahlen und politischer Auseinandersetzungen in Spanien. Das Superwahljahr wird schlussendlich im November mit den Wahlen zur nationalen Regierung ein Ende finden. Die Wahl in Andalusien – der bevölkerungsreichsten Region Spaniens – kann somit im von der EU-Krise stark betroffenen Land als Stimmungstest für die politische Stimmung Spaniens gewertet werden.

Hierbei stand PODEMOS, vor allem nach dem Wahlsieg von SYRIZA in Griechenland, im Rampenlicht. Mit Spannung wurde das Abschneiden dieser Partei bei der Regionalwahl in Andalusien erwartet, stand PODEMOS doch in einigen der letzten landesweiten Umfragen mit 27% in der Gunst der WählerInnen an erster Stelle. Dieses historisch hohe Ergebnis in der noch jungen Geschichte von PODEMOS konnte jedoch in Andalusien nicht erreicht werden. Die Wahl gewann wie erwartet die Partido Socialista Obrero Español (PSOE) mit 47 der insgesamt 109 Sitze (35,4%). Jedoch musste die bisherige Regierungspartei Andalusiens klare Verluste verzeichnen und erzielte das schlechteste Ergebnis in ihrer Hochburg seit dem Ende der Franco-Ära. Die Regierungspartei Partido Popular (PP) erlitt jedoch eine stärkere Niederlage und wurde von den WählerInnen für ihre Sparpolitik abgestraft. Sie erhielt 33 Sitze (26,8%) und büßte rund ein Drittel ihrer Mandate ein.

PODEMOS im Gegenzug konnte zwar das erste Mal in seiner Geschichte erfolgreich in ein spanisches Regionalparlament einziehen. Jedoch erhielt es als drittstärkste Kraft nur 15 Sitze (14,8%), welches im starken Gegensatz zu den Umfragewerten stand. Hierbei muss erwähnt werden, dass PODEMOS stark damit zu kämpfen hatte, sich gegen eine neue populistische Mitte-Rechts-Partei mit dem Namen Ciudadanos zu behaupten. Diese Partei konnte aus dem Stand 9 Sitze (9,3%) erhalten. Addiert man die Ergebnisse von PODEMOS und Ciudadanos erhält man 25% und somit die oben genannten Umfragewerte. Wieso konnte PODEMOS jedoch sein Umfragehoch nicht halten?

Ciudadanos, eine populistische, in Katalonien gegen die Unabhängigkeitsbestre-bungen gegründete Partei, erlebt einen ähnlichen Aufschwung wie PODEMOS in den letzten Monaten. Dies weist einerseits darauf hin, dass sich das langjährige Zweiparteiensystem in Spanien überlebt hat. Andererseits zeigt es aber auch deutlich auf, dass PODEMOS mit seiner populistischen Herangehensweise an seine Politik schnell unter Zugzwang von rechts kommen kann. Wie oben erwähnt, orientiert sich die PODEMOS-Führung rund um Iglesias stark am Chávismus und dessen Populismus. Dies äußert sich vor allem in einer Fokussierung auf eine Führungspersönlichkeit und deren Legitimierung durch Massenabstimmungen sowie im Verzicht auf eine klare Orientierung auf die ArbeiterInnenklasse. Dies führt nun schlussendlich dazu, dass PODEMOE relativ einfach von rechts unter Zugzwang gesetzt werden kann. Die strategische Ausrichtung auf „das Volk“, ohne den Klassencharakter des Kapitalismus offen zu legen, wird hier praktisch als ein Schuss ins eigene Bein offenbart. Jedoch scheut Iglesias und seine Truppe das Wort „Kapitalismus“ wie der Teufel das Weihwasser:

„Nur einige wenige Menschen mit einem hohen Niveau an politischer und theoretischer Bildung wären in der Lage zu sagen, dass das Problem der Kapitalismus darstellt. Wenn wir uns jedoch eine soziale Bewegung mit Hunderttausenden vorstellen, ist es schwer zu glauben, dass es einem Wort wie ‚Kapitalismus‘ möglich wäre zu verkörpern, gegen was die Bewegung sich richtet.“ (8)

Erneut erwies sich die Nichtexistenz einer revolutionären Plattform in PODEMOS mit Hinblick auf die Ereignisse rund um das Superwahljahr als ein großer Fehler. Der Wahlausgang in Andalusien z.B. hätte von einer revolutionären Plattform innerhalb von PODEMOS als Ausgangspunkt verwendet werden können, diesen kritisch aufzuarbeiten und praktisch den Basismitgliedern in PODEMOS die Schwächen des Iglesias-Populismus und dessen Programm aufzuzeigen. Dies hätte zusätzlich dazu genutzt werden können, um für ein revolutionäres Aktionsprogramm einzutreten und MitstreiterInnen für eine antikapitalistische, revolutionäre Politik zu gewinnen.

Anticapitalista in der Krise?

Eine revolutionäre Plattform könnte aber nicht nur die derzeitigen Wahlen dazu nutzen, die Fehler des Linkspopulismus eines Iglesias aufzudecken. Die derzeitigen Entwicklungen rund um Anticapitalista könnten ebenfalls dazu verwendet werden, MitstreiterInnen aus diesen Reihen für den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei zu gewinnen. Der Konflikt innerhalb der Anticapitalista-Reihen entwickelte sich rund um die Wahlen in Andalusien schnell zu einer landesweiten Auseinandersetzung. Es kam vor den Wahlen in Andalusien zu einem Treffen zwischen Iglesias und Teresa Rodríguez (Führungsmitglied von Anticapitalista, sowie PODEMOS-Abgeordnete im Europäischen Parlament).

Auf diesem Treffen wurden Listen für die Regionalwahlen in Andalusien vereinbart sowie für die kommenden Wahlen der Regionalführungen von PODEMOS. Innerhalb von Anticapitalista kam es zu Kritik an dem undemokratischen Vorgehen, da die Basismitglieder nicht an der Zusammenstellung der Listen beteiligt wurden. Als Resultat wurde Anfang April etwa die Hälfte der Anticapitalista-Mitglieder in Andalusien ausgeschlossen, welche eine Opposition gegen den Iglesias-Rodríguez Pakt bildeten. Dieser Ausschluss schlug auch landesweit Wellen und führte dazu, dass Ende April weitere Mitglieder von Anticapitalista in Madrid ihren Austritt erklärten. Ihre Hauptargumente sind der opportunistische Umgang von Anticapitalista mit der Iglesias-Führung, das Unterlassen des Kampfes für ein antikapitalistisches Programm sowie der Bürokratismus und Populismus innerhalb von PODEMOS.

Der Kampf für ein revolutionäres Aktionsprogramm und den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei!

Die oben beschriebenen Konflikte rund um PODEMOS und ihre Entwicklung im Lichte der ersten praktischen Erfahrungen im spanischen Superwahljahr zeigen die notwendigen Aufgaben für RevolutionärInnen deutlich auf. Sie müssen ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, einen Kampf basierend auf Interventionen in den Klassenkampf und mit Fokussierung auf die ArbeiterInnenklasse zu entwickeln statt Fixierung auf Wahlgewinne. Sie sollten sich zu einer revolutionären Plattform zusammenschließen, deren Aufgabe die Erarbeitung eines revolutionären Aktionsprogramms sein muss. Es sollte ein antikapitalistisches Aktionsprogramm gegen die Sparmaßnahmen erarbeitet werden, welches kämpferische Alternativen zu den meisten wichtigsten Fragen aufwirft, vor denen die ArbeiterInnen, Jugendlichen, Frauen und Minderheiten in Spanien stehen.

Neben spezifischen Forderungen nach Arbeit, Löhnen, Unterkünften und allen anderen Bereichen des Klassenkampfes sollte ein solches Programm auch die Notwendigkeit der Bildung von Aktionskomitees in jedem Betrieb, jeder Schule, Universität und Nachbarschaft hervorheben, welche die Aufgabe haben sollten, die jeweiligen Verteidigungsaktionen zu organisieren. Solche Aktionskomitees sollten sich so schnell wie möglich auf einem nationalen Maßstab vereinigen, um den Kampf zentralisiert aufnehmen zu können. So hat die Bewegung als Ganzes auch eine bessere Möglichkeit, über unterschiedliche Einheitsstrategien im Kampf zu diskutieren und zu entscheiden. Um aus der Defensive in die Offensive zu gelangen, sollte die Frage und die Organisierung eines unbegrenzten politischen Generalstreiks auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Ein Generalstreik wirft jedoch unausweichlich die Frage auf: Wer regiert und in wessen Interesse? Die anhaltende Krise innerhalb der spanischen Gesellschaft zeigt klar die Notwendigkeit eines Regierungsprogramms im Interesse der Arbeiterklasse sowie der Bauernschaft auf. Neben der Rücknahme der Sparpolitik sowie der Renationalisierung der privaten Industrie muss ein solches Programm auch gleichzeitig die ungelösten nationalen und demokratischen Fragen der spanischen Gesellschaft angehen: das Recht auf nationale Selbstbestimmung, Abschaffung der Monarchie sowie die Einberufung einer konstituierenden Versammlung. Ein solches Programm wäre unmöglich durchzusetzen ohne die entschädigungslose Enteignung von Großkapitalisten oder Großgrundbesitzern unter ArbeiterInnenkontrolle sowie die Reorganisierung der Wirtschaft auf der Basis eines demokratischen Plans mit Bezug auf die gesamte Gesellschaft.

Dafür ist die Bildung einer ArbeiterInnenregierung notwendig, welche sich auf Kampforgane der ArbeiterInnenklasse, der Bauern und Bäuerinnen, der Jugend, Aktionskomitees, demokratische Räte sowie Selbstverteidigungsorgane stützt. Nur eine solche Regierung kann die Reaktion entwaffnen sowie die bürgerliche Staatsmaschine zerschlagen und ersetzen.

Rund um den Kampf für eine solche Strategie müssen sich RevolutionärInnen nicht nur innerhalb PODEMOS, sondern auch in den Gewerkschaften sowie anderen Organisationen der Arbeiterklasse organisieren, um MitstreiterInnen für den Aufbau einer realen Alternative für die spanische ArbeiterInnenklasse zu finden: eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei. Der neo-reformistische Populismus eines Iglesias bietet hierfür keine Lösung.

Das Beispiel SYRIZAs verdeutlicht, dass ein Bruch mit der reformistischen Führung und dem Parteiapparat unvermeidlich ist. Auch wenn in einem Fraktionskampf taktische Manöver unvermeidlich sein mögen, so wäre es eine selbstmörderische Illusion zu denken, dass die grundsätzlichen politischen Differenzen – letztlich entgegengesetzte Klasseninteressen – durch statutarische oder organisatorische Maßnahmen „gelöst“ werden können. Was für SYRIZA galt, gilt erst recht für PODEMOS, zumal es sich hier um eine kleinbürgerliche Partei handelt, keine bürgerliche ArbeiterInnenpartei. Für RevolutionärInnen gilt es daher, der Konfrontation mit der populistischen Spitze nicht auszuweichen, sondern sie von Beginn an vorzubereiten, den Bruch nicht als zu vermeidende Tragödie, sondern als unvermeidlichen Schritt zur Schaffung einer revolutionären ArbeiterInnenpartei zu begreifen.

Endnoten

(1) Pablo Iglesias, „Understanding Podemos“; New Left Review 93, May-June 2015, Seite 17; http://newleftreview.org/II/93/pablo-iglesias-understanding-podemos; Übersetzung des Autors

(2) Rico Rodriguez, „Spanien – Krise und Führungskrise“; Neue Internationale 179, May 2013; http://www.arbeitermacht.de/ni/ni179/spanien.htm

(3) Pablo Iglesias, „Understanding Podemos“; New Left Review 93, May-June 2015, Seite 15 ; http://newleftreview.org/II/93/pablo-iglesias-understanding-podemos

(4) Ebenda, Seite 15

(5) Ebenda, Seite 16

(6) Cristina Flesher Fominaya, „Soziale Bewegungen und Globalisierung“ (Mai 2014)

(7) Interview mit Pablo Iglesias, „Spain on Edge“; New Left Review 93, May-June 2015, Seite 40

(8) Ebenda, Seite 33




Spanien: Sánchez verdrängt Rajoy, aber was nun?

Dave Stockton, Infomail 1006, 10. Juni 2018

Pedro Sánchez, Vorsitzender der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE), ist jetzt im Moncloa-Palast als Ministerpräsident Spaniens. Jeder fortschrittliche Mensch im spanischen Staat wird froh sein, den Rücken des autokratischen Führers der Volkspartei, Mariano Rajoy, zu sehen.

Der kritische Moment kam, als die Baskische Nationalistische Partei (EAJ/PNV) enthüllte, dass sie zusammen mit Podemos (deutsch: Wir können), zwei katalanischen Pro-Unabhängigkeitsparteien und einer zweiten baskischen Partei (BILDU, linkes baskisches Wahlbündnis; deutsch: versammelt) einen Misstrauensantrag der PSOE als Reaktion auf einen großen Korruptionsskandal, der die PP heimsuchte, unterstützen würde.

Die liberale Partei Ciudadanos (deutsch: BürgerInnen), die vor kurzem in den Wahlen ihre Rivalinnen überholt hat, unterstützte Rajoy, aber Führer Albert Rivera sieht nun eine goldene Gelegenheit, die Volkspartei als Hauptpartei der Rechten zu ersetzen.

Podemos, die einst ihre Entschlossenheit erklärte, die PSOE vollständig zu verdrängen, und die Idee einer Koalition mit ihr ablehnte, forderte Sánchez auf, eine Koalition mit MinisterInnen von ihr zu bilden, ein Angebot, das der PSOE-Führer sofort ablehnte.

Podemos selbst steckt jetzt in einer Flaute. Der Guru der Partei, Pablo Iglesias, wurde kürzlich zu einer Mitgliederaabstimmung gezwungen, um seine Führung nach heftigem internen Widerstand gegen seine Entscheidung, ein 600.000 Euro teures Haus mit Swimmingpool außerhalb Madrids zu kaufen, zu bekräftigen, welche Mitglieder und AnhängerInnen einer Partei erzürnte, die sich zum Teil wegen ihrer Kampagne zur katastrophalen Immobilienkrise in Spanien einen Namen machte.

Sánchez‘ Versprechen

Unmittelbar nach dem Misstrauensvotum erklärte Sánchez: „Wir werden eine neue Seite in der Geschichte der Demokratie in unserem Land unterzeichnen.“ Hier wird der/die Vorsichtige einen Moment innehalten, um zu fragen: Ist das derselbe Mann, der Rajoys Weigerung unterstützt hat, ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens gutzuheißen, sowie die Urteile des Obersten Gerichtshofs, die den Präsidenten seiner Generalitat (Gesamtheit der Selbstverwaltungsinstitutionen Kataloniens im Rahmen des Autonomiestatuts) ins Exil trieben und mehrere MinisterInnen ins Gefängnis brachten?

Sánchez hat zwar versprochen, Gespräche mit der neuen katalanischen Regierung aufzunehmen, aber er schließt nach wie vor die Möglichkeit eines legalen Referendums über den Status Kataloniens aus. Gleichzeitig wurde eine neue katalanische Regierung unter der Leitung von Joaquim „Quim“ Torra, einem Handlanger des im Exil lebenden Präsidenten Carles Puigdemont, vereidigt, was den Zustand beendete, dass Katalonien acht Monate lang direkt von Madrid aus regiert wurde.

Sánchez wird wahrscheinlich einige der undemokratischsten Aspekte von Rajoys berüchtigtem „Gag-Gesetz“ aufheben, das Demonstrationen in der Nähe des Parlaments, des Senats und der Regionalparlamente strenge Beschränkungen auferlegte, unterstützt durch Geldbußen von bis zu 600.000 Euro für Sitzstreiks an öffentlichen Orten oder die Blockade von Hausräumungen, wenn die „zuständige Behörde“ (ein Gericht, die Polizei) die Auflösung der Versammlung angeordnet hat.

Aber um eine wirklich neue Seite in der gewundenen Geschichte der Demokratie in Spanien zu schreiben, bedarf es nicht der Huldigung der Establishment-Parteien an die Post-Franco-Verfassung, sondern ihrer Ersetzung durch eine demokratisch gewählte Verfassunggebende Versammlung, die die Monarchie abschafft und das Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Abspaltung vom spanischen Staat für alle seine Nationalitäten anerkennt. Revolutionäre SozialistInnen wollen den spanischen Staat nicht auflösen, aber das wäre besser als erzwungene Einheit.

Sánchez hat versprochen, auf die „dringenden sozialen Bedürfnisse“ der BürgerInnen in einem Land einzugehen, das immer noch von hoher Arbeitslosigkeit und der von verschiedenen Regierungen verhängten Sparpolitik geplagt ist. Aber er hat auch sofort zugesagt, den von Rajoy vorgeschlagenen Haushalt 2018 beizubehalten, gegen den die PSOE erst vor einer Woche gestimmt hat. Seine Entschuldigung ist, dass er nur so die Stimmen der PNV erhalten konnte, deren Anliegen vor allem darin bestand, die dem Baskenland zugewiesenen Mittel, die im Haushalt enthalten waren, sicherzustellen. Er sagt, dass das Budget „die wirtschaftliche und steuerliche Verantwortung garantieren wird“ und betont, dass Spanien seine „europäischen Pflichten“ erfüllen wird. Aber das wird die neue Regierung entweder an die Kürzungen und Sparmaßnahmen ihrer Vorgängerin binden oder, wenn er einige davon ändert wie die vorgeschlagene Erhöhung der Renten wird er Peter immer noch ausrauben müssen, um Paul zu bezahlen.

Maßnahmen ergreifen

Es gibt eine Alternative dazu, wenn er bereit wäre, die Vermögen der Reichen und der großen Konzerne ernsthaft zu besteuern. Natürlich werden einige sagen, angesichts seiner bisherigen Bilanz könnte man genauso gut Schweine bitten zu fliegen, aber das ist nicht der Punkt. Die Gewerkschaften und die Jugend einschließlich der Mitgliedschaft von PSOE und Podemos haben in den Jahren unmittelbar nach der Großen Rezession ihre Kampfbereitschaft bewiesen und könnten und sollten nun mobilisieren, um Sánchez dazu aufzufordern, die Austeritätsmaßnahmen ganz aufzugeben. Sie sollten sich an die massive Unterstützung erinnern, die Jeremy Corbyn in Großbritannien sowohl auf der Straße als auch an der Wahlurne erhielt, als er ein Ende der Sparpolitik forderte.

Einige werden sagen, dass die EU eingreifen würde, um jede Regierung oder Führung zu stoppen, die versuchte, ihre „Fiskaldisziplin“ zu brechen, genau wie sie es mit Syriza in Griechenland getan hat. Aber im Gegensatz zu Alexis Tsipras sollte eine spanische Regierung, die es wagte, sich der EU zu widersetzen, ihre Zeit nicht damit verschwenden, AkademikerInnen als untertänige BittstellerInnen nach Brüssel oder Frankfurt zu schicken. Sie sollten sich den Merkels und Macrons widersetzen und direkt an die ArbeiterInnen in Europa appellieren, Maßnahmen zu ihrer Unterstützung zu ergreifen. Die Bilanz der Kapitulation von Syriza zeigt, dass mutige Reden von FührerInnen wenig wert sind, wenn die ArbeiterInnen und die Jugend nicht organisiert und bereit sind, unabhängig zu handeln, wenn ihre AnführerInnen sich weigern zu kämpfen.

Wenn Spaniens ArbeiterInnen, unterdrückte Nationalitäten, Frauen und Einwanderergemeinschaften sich vereinigen und einen Massenkampf für ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse in den kommenden Monaten einleiten, dann kann selbst diese in den Knien weiche PSOE-Regierung als Hebel benutzt werden, um soziale und demokratische Rechte zu erringen und den Weg des Kampfes zu einer echten ArbeiterInnenregierung einzuschlagen, die auf den Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse, den Gewerkschaften, Parteien und Kampforganen fußt.

Dank

Wir danken dem Solidaritätskomitee Katalonien für die Übersetzung des Artikels,




Freiheit für Carles Puigdemont! Keine Auslieferung an den spanischen Staat!

Tobi Hansen, Infomail 995, 28. März 2018

Seit Anfang November befindet sich Carles Puigdemont auf der Flucht. Sein Verbrechen? Er verkündete als gewählter katalanischer Ministerpräsident die Unabhängigkeit des Landes. Auch wenn er deren Umsetzung unmittelbar aussetzte, um darüber mit der Regierung in Madrid und der EU zu verhandeln, so macht ihm erstere seither den Prozess.

Nachdem sich Puigdemont in Belgien relativ sicher aufhalten konnte, erließ die spanische Polizei im März 2018 erneut einen europäischen Haftbefehl gegen den Politiker in der Hoffnung, ihn außerhalb Belgiens festzunehmen. Er konnte jedoch auf einer Konferenz in Finnland auftreten und das Land rechtzeitig verlassen. Dänemark ließ ihn unbehelligt passieren. Erst in Deutschland schlugen die Erfüllungshilfen der spanischen Regierung in Form des schleswig-holsteinischen Landeskriminalamts (LKA) zu und nahmen ihn an einer Autobahnraststätte fest. Das LKA als Büttel Rajoys – so funktioniert die EU-Demokratie.

Angeklagt ist Puigdemont vor allem wegen Rebellion (gegen die spanische Zentralregierung) und Veruntreuung, da das Referendum immerhin 6 Millionen Euro gekostet habe, unter anderem wohl auch der Einsatz der spanischen Polizei, die die Abstimmung zu verhindern trachtete. So wird die Durchführung einer Volksabstimmung über das Selbstbestimmungsrecht noch zu einem Gesetzesbruch – ein schlagender Beweis für die politische Kontinuität des Franquismus in der spanischen Rechten und im Staatsapparat.

Die meiste Zeit verbrachte Puigdemont in Belgien. Dort sind verschiedene separatistisch gesinnte bürgerliche Parteien (z. B. die N-VA, Nieuw-Vlaamse Alliantsie; deutsch: Neu-Flämische Allianz) auch an der Regierung. Hier konnte sich Puigdemont, einigermaßen geduldet, weiter an der spanischen und katalanischen Politik beteiligen. Theoretisch ist er weiterhin der einzige Kandidat auf den Posten des Ministerpräsidenten. Die pro-spanischen Parteien verfügen im Regionalparlament über keine Mehrheit. Daher wird in der „Zwischenzeit“ Katalonien per Artikel 155 von Madrid aus zwangsverwaltet.

Aktuell hat die spanische Regierung unter Rajoy, die für die Zwangsmaßnahmen gegen die Region Katalonien im Parlament die Unterstützung von der PSOE (Sozialdemokratie) und der rechtsbürgerlichen Ciudadanos (deutsch: Staatbürgerpartei) sicher hat, die Verfahren gegen Mitglieder der Regionalregierung eröffnet. Neun von ihnen sind derzeit in Haft.

Nach der Inhaftierung Puigdemonts kam es in Barcelona sofort zu Massenprotesten. Die Polizei wandte massiv Gewalt an. Auch von dem Gebrauch der Schusswaffen war zu lesen. Zur „Abschreckung“ wurde in die Luft geschossen. Alles, was jetzt in Barcelona an Gewalt folgt, alle Verletzungen, alle möglichen Opfer gehen auch auf das Konto der deutschen Justiz, der „Jamaika“- Koalition aus Kiel und natürlich der deutschen Bundesregierung. Diese hat sich auf die Seite Rajoys geschlagen, mag sie auch die Frage der und formelle Verantwortung für eine Auslieferung an die Gerichte abwälzen. Für den deutschen Imperialismus ist Spanien ein strategischer Partner, mögen die katalanischen NationalistInnen noch so sehr an Deutschland und die EU appellieren.

Wir unterstützen die Forderung, Puigdemont sofort freizulassen und nicht auszuliefern. Gerade eine Woche nach dem internationalen Tag der politischen Gefangenen müssen die demokratischen Rechte der Regionalregierung Kataloniens und ihrer Mitglieder verteidigt werden.

Für den Kampf in Katalonien, gegen die Madrider Zwangsverwaltung wie gegen das gesamte Regime Rajoy ist es aber entscheidend, die Bewegung in Katalonien selbst politisch neu auszurichten. Schließlich befinden sich die „SeparatistInnen“ selbst in einer Orientierungskrise, die zwei, miteinander verbundene Ursuchen hat. Erstens muss die Protestbewegung mit der politischen Unterordnung unter bürgerliche Parteien brechen. Die ehemalige neoliberale Regionalregierung von Puigdemont ist eben keine strategische Verbündete. Zweitens muss sich die Bewegung nicht nationalistisch, sondern entlang des gemeinsamen Kampfes zur Verteidigung demokratischer Rechte und sozialer Forderungen in Katalonien und den anderen spanischen Regionen neu ausrichten. Als RevolutionärInnen verteidigen wir das nationale Selbstbestimmungsrecht (einschließlich des Rechts, einen eigenen Staat zu gründen) bedingungslos. Aber – gerade auch angesichts der zwiespältigen Haltung der ArbeiterInnenklasse im Land selbst – halten wir die Herstellung der ArbeiterInneneinheit gegen die spanische Regierung und den gemeinsamen Kampf für eine sozialistische Umwälzung in Spanien für die korrekte Orientierung. Ansonsten droht, dass weiterhin nationalistisches Gift KatalanInnen und „SpanierInnen“ gegeneinander in Stellung bringt, die Lohnabhängigen als die Bauernopfer für Rajoy und Puigdemont herhalten müssen.

  1. Keine Auslieferung von Puigdemont!
  2. Freiheit für alle politischen Gefangenen im spanischen Staat!
  3. Für einen gemeinsamen Kampf der KatalanInnen und „SpanierInnen“ gegen Rajoy!



Rajoy verliert die Wahlen in Katalonien – es wird Zeit, ihn zu stürzen

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 23. Dezember 2017, Infomail 980, 25. Dezember 2017

Die Wahlen in Katalonien haben – entgegen dem riskanten Vorhaben des spanischen Ministerpräsidenten – die politische Blockade nicht zu seinen Gunsten gebrochen. Tatsächlich ist seine Taktik gescheitert, seine Position sogar geschwächt. Sie haben jedoch auch nicht die Stellung der drei katalanischen nationalistischen Parteien, die am 27. Oktober die Unabhängigkeit erklärt haben, strategisch gestärkt.

Diese Parteien, Junts per Catalunya (Gemeinsam für Katalonien, kurz JuntsxCat, vormals PDeCat = Partit Demòcrata Europeu Català = Katalanische Europäische Demokratische Partei), die Republikanische Linke Kataloniens (Esquerra Republicana de Catalunya; ERC) und die Candidatura d’Unitat Popular (CUP, deutsch: Kandidatur der Volkseinheit) haben eine Mehrheit im Regionalparlament verteidigt, auch wenn sie zwei Sitze verloren haben. Wieder einmal haben jedoch die abgegebenen Stimmen keine Mehrheit der WählerInnen für die Unabhängigkeit aufgewiesen: der Stimmenanteil dieser drei Parteien betrug nur 47,2 Prozent. Die größte Partei im katalanischen Parlament ist die neoliberale Anti-Unabhängigkeitspartei Ciudadanos (deutsch: StaatsbürgerInnen) unter der Führung von Inés Arrimadas. Sie gewann 1,06 Millionen Stimmen, das sind 25,4 Prozent der WählerInnen.

Abfuhr für Rajoy

Nichtsdestotrotz stellen diese Ergebnisse eine scharfe Abfuhr an Mariano Rajoy und seinen „konstitutionellen“ Staatsstreich gegen die Autonomie der Provinz und ihre gewählte Regierung dar. Berücksichtigt man die 312.000 Stimmen, 7,4 Prozent und 8 Sitze von Catalunya en Comú (CatComu; deutsch: Katalonien Für Alle), so hat eine klare Mehrheit Rajoy und seinen Staatsstreich abgelehnt. Dies wurde durch die Tatsache unterstrichen, dass seine Volkspartei in Katalonien (Partido Popular de Cataluña, PPC; deutsch: Katalanische Volkspartei) unter der Führung von Xavier García Albiol sieben ihrer elf Sitze und etwa die Hälfte ihrer Stimmen verloren hat.

Solange Rajoy in Madrid den Zugriff auf die Macht behält, kann er dank der beschämenden Unterstützung, die er im Parlament von der spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (Partido Socialista Obrero Español, PSOE) erfährt, weiter sein Gewicht in die Waagschale werfen und auf staatliche Unterdrückung zurückgreifen. Einige der neu gewählten Abgeordneten befinden sich derzeit im Gefängnis oder „Exil“ und können daher nicht für eine separatistische Regierung stimmen. Obwohl sie ihre Sitze zugunsten von KandidatInnen, die auf den Parteienlisten weiter unten stehen, aufgeben könnten, ist es wahrscheinlich, dass die Regierung und die Justiz von Madrid sich weigern würden, eine solche Regierung anzuerkennen, und den Artikel 155 beibehalten oder wieder anwenden wollen.

Als Zeichen dieser Absichten hat ein Richter des Obersten Gerichtshofs, Pablo Llarena Conde, am Tag nach der Wahl die Anklagepunkte der Rebellion, der Aufwiegelung und des Missbrauchs öffentlicher Gelder auf eine Reihe weiterer ehemaliger MinisterInnen und BeamtInnen ausgedehnt. Tatsächlich würde die katalanische Autonomie ausgesetzt bleiben und jede noch so formale und symbolische Missachtung durch die Regionalversammlung wird mit weiteren Festnahmen und Repressionen einhergehen. Alternativ kann Rajoy eine spanische Parlamentswahl ansetzen, die er hysterisch anti-katalanisch und chauvinistisch führen würde.

Gesten der Missachtung gegenüber Rajoy bleiben wirkungslos, wenn und solange nicht eine aktive Mehrheit der KatalanInnen, insbesondere der katalanischen ArbeiterInnen, bereit ist, über Demonstrationen und Abstimmungen hinauszugehen und direkte Maßnahmen zu ergreifen, die als absolutes Minimalziel die Wiederherstellung der Befugnisse einer autonomen Regierung und eines autonomen Parlaments zum Ziel haben. Die Tatsache, dass sich eine Mehrheit der katalanischen ArbeiterInnen gegen die Unabhängigkeit ausspricht, neben der, dass die NationalistInnen dies zu ihrer ersten und letzten Forderung machen, bedeutet jedoch bisher, dass sich keine aktive Einheitsfront des Widerstands gegen Rajoys Unterdrückung gebildet hat.

Perspektive

Wenn die NationalistInnen jedoch aus der Sackgasse herauskommen wollen, in der sie sich befinden, d. h. aus dem Mangel an Rückendeckung durch soziale Kräfte, die bereit und in der Lage sind, Maßnahmen gegen Rajoy und die PP-Regierung zu ergreifen, müssen sie sich auf unmittelbare und brennende demokratische Forderungen konzentrieren und die Arena ihres Kampfes für ihre Rechte auf einer gesamtspanischen Basis sehen. Obwohl die katalanischen Parteien Verhandlungen mit Madrid gefordert haben, gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass Rajoy jetzt substantielle Gespräche führen wird. Nachdem er den Dämon des spanischen Chauvinismus aus der Flasche gelassen hat, wäre es schwierig, diesen wieder dahin zurückzubringen, selbst wenn er es wollte.

Angesichts der Tatsache, dass die Partido Popular, unterstützt von der reaktionären Justiz und der Monarchie der Bourbonen, den Nationalitäten, aus denen sich der spanische Staat zusammensetzt, das Recht auf Selbstbestimmung vorenthält, wenn sich zudem die Konservativen nach Francos Ableben mit der undemokratischen Konstitution von 1978 bewaffnet haben, kann es keine verhandelte und verfassungsmäßige Lösung dieser tiefen politischen Krise geben.

Nur die Verdrängung der PP-(Minderheits-)Regierung und die Abschaffung der „Post-Franco“-Verfassung können den Weg zu einer Lösung ebnen, die es den KatalanInnen ermöglicht, zu entscheiden, ob sie sich von Spanien abspalten oder Teil einer Bundesrepublik sein wollen, die den Nationalitäten des Landes eine von Madrid aus nicht mehr aufhebbare Autonomie verleiht.

DemokratInnen und SozialistInnen in ganz Spanien sollten auf der Straße und durch Generalstreik den Rücktritt Mariano Rajoys und seiner gesamten Regierung, die Abdankung Felipe (VI.) de Borbóns und die Einberufung von Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung fordern.

Es ist unerlässlich, diese demokratischen Fragen mit dem Ende der Sparzwangspolitik zu verbinden, die die Massenarbeitslosigkeit, vor allem für die Jugendlichen, die zunehmende Obdachlosigkeit und die Wiederinbesitznahme der Häuser der Menschen sowie die Verarmung der Gesundheits- und Sozialdienste verschlimmert haben. Ein Kampf gegen diese sozialen Probleme und gegen die Notlage von Flüchtlingen, die vor Armut und Krieg in Afrika und im Nahen Osten fliehen, kann die ArbeiterInnenklasse im ganzen Land vereinen und die kapitalistischen Regierungen von Mariano Rajoy und Carles Puigdemont entlarven.

In ganz Spanien sollten Gewerkschaften, linke, sozialistische Parteien und antikapitalistische Jugendliche ihre Kräfte auf lokaler und nationaler Ebene mobilisieren, um Aktionen zu starten. Sie müssen Ausschüsse oder Räte bilden, um den Kampf zu organisieren, um Massenkräfte zu mobilisieren, die in der Lage sind, sich gegen die repressiven Kräfte des Staates zu verteidigen, und um eine Revolution durchzuführen, die alle wichtigen demokratischen und sozialen Forderungen erfüllt und die Macht der Arbeiterinnenklasse einsetzt, um deren Umsetzung zu gewährleisten. Im Laufe dieses Kampfes muss das Ziel der Wiederherstellung einer revolutionären ArbeiterInnenpartei, die frei von Verblendungen des Populismus und Nationalismus ist, angegangen werden.

Im Vordergrund der Forderungen der Bewegung sollten stehen:

  • Die Rücknahme von Artikel 155 und die vollständige Wiederherstellung der Autonomie der katalanischen Generalitat!
  • Die bedingungslose Freilassung aus dem Gefängnis und Einstellung aller Anklagen gegen die ehemaligen katalanischen MinisterInnen und FührerInnen der Unabhängigkeitsorganisationen!
  • Der Abzug der Repressionskräfte in Form der Spezialeinheiten der Polizei und der Guardia Civil aus Katalonien und die Abschaffung der Kontrolle Madrids über die dortige Regionalpolizei (Mossos d’Esquadra)!
  • Ein Ende der sozialen Kürzungspolitik, die sowohl auf spanischer als auch auf katalanischer Ebene umgesetzt wird!
  • Nieder mit Rajoy und der reaktionären Monarchie! Für eine föderale ArbeiterInnenrepublik in Spanien und Katalonien!

 




Rajoys Verfassungsputsch stoppen!

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Do 12. Oktober 2017

Die Madrider Rechtsregierung von Mariano Rajoy hat auf die Unabhängigkeitserklärung der katalanischen SeparatistInnen reagiert, indem sie den Prozess der Anrufung von Artikel 155 der spanischen Verfassung in Gang setzte, der die katalanische Autonomie aufheben und das regionale Parlament auflösen würde. Dies bedeutet: Carles Puigdemont, der katalanische Präsident, soll bestätigen, ob er die Unabhängigkeit Kataloniens erklärt hat oder nicht. Wenn er „Ja“ sagt, würden die Maßnahmen der Aussetzung der Autonomie in Kraft treten. Bei einem „Nein“ wird die separatistische Bewegung in Verwirrung geraten, weil die linksnationalistische CUP damit droht, ihre Unterstützung für die Minderheitsregierung von Puigdemont zurückzuziehen.

Die Verwirrung kommt daher, dass Puigdemont eine Erklärung über die Unabhängigkeit unterzeichnete, aber dann sofort deren Implementierung „für ein paar Wochen aussetzte“, um Verhandlungen mit Madrid zu ermöglichen. Dieser Schwenk kam nach einer Woche der Unschlüssigkeit, in der dieser politische Vertreter der katalanischen Bourgeoisie einem intensiven Druck seitens der Banken und Großindustriellen als auch Interventionen hinter den Kulissen durch die Europäische Union unterworfen war.

Es ist klar, dass die große Mehrheit der KapitalistInnen Kataloniens gegen die Unabhängigkeit ist. Die Hauptorganisation der Bosse, der Foment del Treball Nacional, verurteilte die Regierung von Barcelona dafür, dass sie „die Grenzen zur Illegalität“ überschritten und damit Katalonien in „nationalen und internationalen in Misskredit“ gebracht und möglicherweise gar an den Rand „wirtschaftliche Insolvenz“ gebracht habe.

Zwei Dutzend Unternehmen, darunter die meisten Großunternehmen der Region, haben entweder ihren Hauptsitz aus der Provinz verlegt oder ihre Bereitschaft dazu bekundet. Der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, warnte Puigdemont, er solle „die verfassungsmäßige Ordnung respektieren“.

Rajoy wittert jetzt Blut. Er will sicherstellen, dass Puigdemonts Abenteuer in schändlicher Unterwerfung unter die Autorität Madrids, der Monarchie und Verfassung endet. Wenn dieser nicht nachgibt, wird Rajoy versuchen, die Frage praktisch durch die Errichtung einer Diktatur über Katalonien zu lösen. Deshalb wurden im Vorfeld der Volksabstimmung 20.000 PolizistInnen in die Provinz geschickt. Natürlich ist das auch ein gewagtes Spiel, aber Rajoy hat bereits die Kräfte des spanischen Chauvinismus mobilisiert, um den Boden dafür zu bereiten.

Ein Sieg für Rajoy würde die Tür zu einer allgemeinen Offensive gegen die anderen von der Partido Popular (PP) missachteten demokratischen und sozialen Rechte öffnen. Ein Sieg in Katalonien würde vermutlich vom Sieger mit einer Neuwahl besiegelt, um sich eine absolute parlamentarische Mehrheit zu sichern, die dann als Kampfmittel gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse eingesetzt wird.

Widerstand

Nur eine allgemeine direkte Aktion von ArbeiterInnen und Jugendlichen in Katalonien und schließlich in ganz Spanien kann Francos ErbInnen an der Durchführung ihres lange gehegten Wunsches hindern, ein Exempel an den KatalanInnen zu statuieren und die demokratischen Rechte der ArbeiterInnenklasse ganz Spaniens mit Füßen zu treten.

Das ganze Land befindet sich an einem Scheideweg, wo die Frage der Revolution oder Konterrevolution keine Übertreibung ist. Wenn Rajoy die katalanischen NationalistInnen durch Einschüchterung oder Gewalt zur Kapitulation zwingt, wird es einen noch nie da gewesenen Rückschlag für Spaniens 40 Jahre alte Demokratie darstellen. Der Ernst der augenblicklichen Lage erfordert eine angemessene Reaktion von Seiten der katalanischen ArbeiterInnen- und Sozialbewegungen: einen allgemeinen, unbefristeten Generalstreik, um die Initiative zu übernehmen und die Macht den Händen der einen bekriegenden bürgerlichen Fraktionen zu entreißen und der organisierten ArbeiterInnenklasse zu übertragen.

Die unmittelbaren Ziele eines solchen Generalstreiks sollten sein:

  • Aufhebung der Inkraftsetzung von Artikel 155 und jeder Einmischung Madrids in den bestehenden Autonomiestatus!
  • Rückzug aller Polizei-, Militär- und paramilitärischen Einheiten der Zentralregierung aus Katalonien!
  • Ausdehnung der Verteidigungsausschüsse des Referendums auf Instrumente der ArbeiterInnenklasse als Ganze, die Einbeziehung sowohl von BefürworterInnen wie GegnerInnen der Unabhängigkeit! Diese sollten Delegierte in lokale und nationale Führungspositionen wählen.

Ein Appell an die ArbeiterInnenbewegungen außerhalb Kataloniens, ihre Passivität aufzugeben und die Aktion aufs gesamte Land auszudehnen gemäß dem Grundsatz, dass ein Schaden für einen ein Schaden für alle ist!

In ganz Spanien ist die Frage, die Rajoys Verfassungscoup aufwirft, nicht Kataloniens sofortige Trennung, sondern das Recht einer jeden Nation auf volle Autonomie und Selbstbestimmung!

Führung

Obwohl die Lohnabhängigen und die Jugend Spaniens Puigdemont gegen die schrecklichen Bedrohungen durch die PP verteidigen sollten (einschließlich der, dass er dasselbe Schicksal erleiden könnte wie der historische katalanische nationalistische Führer Luis Companys, 1940 von Franco ermordet), hat seine Schwäche gezeigt, dass seine durch und durch bürgerliche und neoliberale PDeCAT-Partei nicht eine erfolgreiche Verteidigung der demokratischen Rechte führen kann. Nur die ArbeiterInnenschaft hat das gemeinsame Interesse und besitzt die kollektive Kraft, um das zu tun.

Der PSOE-Führer, Sánchez, hat schändlich Rajoy in jeder Phase der Krise zur Seite gestanden, und Podemos, die das Recht auf ein Referendum unterstützt und sich gegen die Anwendung von Artikel 155 ausspricht, fordert weiterhin zum Dialog auf: eine pazifistisch-utopische Lösung.

Ein Sturm spanischen Chauvinismus’ ist durch den Konflikt zwischen den nationalistischen Lagern ausgelöst worden, der sogar die FaschistInnen hat aus den Niederungen kommen lassen. Er wird nicht zum Halt gezwungen werden, Katalonien niederzuwalzen, wenn die Massenbewegung sich weiterhin an die Rockschöße der für die Unabhängigkeit eintretenden katalanischen Kleinbourgeoisie klammert.

Es gilt, die Einheit der ArbeiterInnen und Angestellten, Jugendlichen, Arbeitslosen und RentnerInnen in ganz Spanien zu stärken, um die demokratischen Rechte zu verteidigen, indem sie Rajoy und die PP aus der Regierung jagen. Solche Einheit der Massen wurde zuletzt während der 15M-Bewegung gegen die Sparpakete lebendig, als ArbeiterInnen und Jugendliche Plätze in Madrid, Barcelona und vielen anderen Städten in jedem Teil des Landes besetzten. Der Ersatz der direkten Massenaktion durch Podemos’ Fixiertheit auf Wahlen hat die Aushöhlung dieser spontanen Einheit zur Folge gehabt. Es gibt jetzt eine akute Führungskrise innerhalb der progressiven, fortschrittlichen Kräfte in ganz Spanien, die das Terrain des Kampfes zugunsten „radikal“-linker NationalistInnen aufgegeben haben, die im Separatismus den einzigen Weg vorwärts sehen.

Außerhalb Kataloniens liegt die Pflicht und Verantwortung bei den SozialistInnen in Podemos, dem linken Flügel der PSOE und BasisaktivistInnen von CC.OO. und UGT, um über ohnmächtige Forderungen nach Verhandlungen hinaus und stattdessen auf die Straßen zu gehen und sich an den Arbeitsplätzen, Bildungseinrichtungen und in ArbeiterInnenwohngebieten für Massenaktionen zu rüsten, um die Regierungsoffensive zu vereiteln, bevor sie weitere Kreise zieht.

ArbeiterInnenmacht

Die Regierungen der Europäischen Union, die stillschweigend oder offen die betrügerische „Legalität“ Rajoys und die Polizeirepression bestärkt haben, sind die Feindinnen der spanischen Lohn- und GehaltsempfängerInnen und ihrer demokratischen Rechte. Ihre Solidarität mit Rajoys Aktionen zeigt ihre Missachtung der Demokratie und ist ein Hinweis darauf, was sie ihrer eigenen ArbeiterInnenklasse antun würden, wenn sie damit durchkämen. Wenn es um demokratische und nationale Rechte geht, dann achten die KapitalistInnen, ob für oder gegen die Unabhängigkeit, nur auf ihre eigenen Interessen.

Es sind die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegungen, ArbeiterInnenparteien und radikale Jugend Europas, an die die katalanische LohnarbeiterInnenschaft appellieren sollte, und die verpflichtet sind, ihnen zu Hilfe zu kommen.

Gegen den nationalen Chauvinismus und Separatismus, der katalanische ArbeiterInnen gegen die Klassengeschwister im Rest des Landes Hahnenkämpfe ausfechten lässt, sollten SozialistInnen sich für eine ArbeiterInnenregierung stark machen, bestehend aus in den ArbeiterInnenwohngebieten, Betrieben, Bildungseinrichtungen und Gewerkschaften gewählten Delegierten und Betriebs-, Schul- und Universitätskomitees, die von den Verteidigungsausschüssen geschützt werden.

Eine ArbeiterInnenregierung in Katalonien und Spanien sollte Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlungen einberufen, deren Aufgabe es ist, die undemokratischen Utensilien der Verfassung von 1978, einschließlich der Monarchie, des Senats und des Obersten Gerichtshofs hinwegzufegen; die Sparpolitik zu beenden und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, indem sie Banken, Industrie und Kapitalistenvermögen unter ArbeiterInnenkontrolle stellt und die nationale Frage durch eine freie Assoziation der Völker in einer sozialistischen Föderation der Iberischen Halbinsel löst.




Verteidigung der demokratischen Rechte in Spanien und Katalonien

Dave Stockton, Infomail 965, 9. Oktober 2017

Die Gewaltanwendung der spanischen Regierung zur Unterbrechung des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums hinterließ fast 900 durch die Polizei verletzte Personen und löste die schwerste Verfassungskrise des Landes seit der Wiedereinsetzung der Demokratie 1978 aus. Premierminister Mariano Rajoy von der regierenden Partido Popular (PP) hatte die Unverschämtheit zu behaupten: „Der Staat antwortete mit Festigkeit und Gelassenheit.“

Videos der paramilitärischen Guardia Civil (Nationalgendarmerie), die sich den Weg in Wahllokale bahnt, um Wahlurnen abzutransportieren, auf WählerInnen einschlägt und Gummigeschosse in Menschenmassen schießt, schildern den schwersten und aggressivsten Angriff auf die Demokratie in der Europäischen Union seit Jahrzehnten. Am 3. Oktober demonstrierten 700.000 Menschen in Barcelona und in ganz Katalonien gegen Rajoy, blockierten Proteste Straßen und Plätze.

Repression

Rajoys Hardlinerhaltung wurde durch unterstützende Äußerungen mehrerer europäischer Regierungen untermauert, wobei der britische Außenminister Boris Johnson bekräftigte:

„Das Referendum ist Sache der spanischen Regierung und des spanischen Volkes. Wir wollen, dass spanisches Recht und die spanische Verfassung respektiert und die Rechtsstaatlichkeit gewahrt wird.“

Die EU selbst, die Rajoys Haltung bisher unterstützt, hat eine Erklärung abgegeben, in der sie ihre Unterstützung für die spanische Verfassung wiederholt und davor warnt, dass sich ein unabhängiges Katalonien außerhalb der EU befinden würde. Sie fügte einen Appell an beide Seiten hinzu, sich „von der Konfrontation zum Dialog“ zu bewegen. Dies ist vielleicht eine verschlüsselte Warnung an Madrid, nicht die Szenen zu wiederholen, die die BürgerInnen in ganz Europa schockierten – vor allem aber eine zynische Gleichsetzung der spanischen Regierung mit den Menschen, die für ihr nationales Selbstbestimmungsrecht eintreten.

Die spanische Verfassung verweigert den nationalen Minderheiten das Recht auf Selbstbestimmung und unterstützt daher die Bemühungen der Regierung, die Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten. Dies bedeutet aber, dass sie die Unterdrückung des überwältigenden Wunsches der katalanischen EinwohnerInnen nach einer demokratischen Abstimmung über ihre künftige Beziehung zu Spanien begünstigt.

Am 3. Oktober verteidigte König Felipes Fernsehsendung an die Nation Rajoy bis aufs Messer und behauptete, die gewählte katalanische Regierung und das Parlament hätten sich „außerhalb des Gesetzes“ gestellt. Diejenigen, die an dem Referendum teilgenommen hätten, zeigten „unzulässige Untreue gegenüber den Staatsmächten.“ Er sprach seine katalanischen „UntertanInnen“ weder direkt an, noch sprach er ein Wort auf Katalanisch.

Die Verantwortung für die Konfrontation liegt in erster Linie bei der Regierung von Rajoy, die sich offen weigerte zu verhandeln und der überwältigenden lokalen Nachfrage nach einem Referendum zur Klärung der Frage stattzugeben. Sie entsandte schließlich 16.000 PolizistInnen mit dem Befehl, die Abstimmung zu unterdrücken.

Trotz Gewalt und Einschüchterung ging die Abstimmung jedoch vor sich. 2.262.424 Stimmen wurden in den 75 bis 90 % der Wahllokale abgegeben, die offen blieben. Die Wahlbehörden veröffentlichten eine 90-prozentige Marge zugunsten der Unabhängigkeit bei einer Wahlbeteiligung zwischen 42 und 50 %.

Der Anblick von Hunderttausenden von Menschen, die Schlange standen, um in durch organisierte Verteidigungskomitees geschützten Wahllokalen zu wählen, wurde als inspirierende Ausübung von Volkssouveränität gefeiert. Alle VerteidigerInnen der Demokratie erkennen den Mut der Menschen in Konfrontation mit der Polizei an, um ihr Recht auf Abstimmung auszuüben. Das war an sich schon eine große Niederlage für Rajoy. Aber es ist wichtig anzuerkennen, dass bisherige Umfragen eine Mehrheit in der katalanischen Bevölkerung ergaben, die nicht unabhängig werden wollte. Darüber hinaus stimmte die Mehrzahl der Wahlberechtigten entweder gar nicht ab oder mit „Nein“. Zweifellos erfolgte dies großenteils vor dem Hintergrund krass undemokratischer Bedingungen, die Rajoy geschaffen hatte.

Es wäre natürlich nicht verwunderlich, wenn Rajoys Unterdrückung die in Umfragen vor den Angriffen ausgewiesene Minderheit für die Unabhängigkeit in eine Mehrheit verwandelt hätte, aber anhand der aktuellen Beweise können wir das nicht beurteilen. Daher würde eine einseitige und unwiderrufliche Unabhängigkeitserklärung durch die parlamentarische Mehrheit, geschweige denn durch Carles Puigdemont als Präsident der autonomen Regionalbehörde (Generalitat), die Gefahr der Spaltung der Bevölkerung in diejenigen für und gegen völlige Unabhängigkeit heraufbeschwören. Wenn es darum geht, Rajoys Angriff auf die Demokratie zu widerstehen, wäre dies ein Geschenk an ihn.

Da natürlich jede Art von demokratischen Wahlen behindert wird, verfügt das katalanische Volk nur über einen Generalstreik, Massendemonstrationen und Versammlungen, mit denen es seinen Willen kundtun kann. Dies sollte die Antwort auf die Versuche sein, die Regierung zu verhaften, das Parlament aufzulösen oder das Autonomiestatut auszusetzen.

Was nun?

Carles Puigdemont, Präsident der Generalitat, hat seine ursprüngliche Drohung aufgeschoben, die Unabhängigkeit „innerhalb von 48 Stunden“ auszurufen, und am Montag stattdessen die EU angefleht, internationale Schlichtung zu organisieren. Er bestand darauf: „Sie kann nicht länger wegschauen.“ Jetzt spricht er davon, die Unabhängigkeitserklärung Anfang nächster Woche zu verkünden.

Diese scheinbare Änderung des Ansatzes ist möglicherweise weniger ein Zurückweichen als Teil einer vorausschauenden Strategie. Puigdemont und seine Partei, die Europäische Demokratische Partei Kataloniens (PDeCAT), selbst relativ neu und opportunistisch bekehrt zum vollständigen katalanischen Separatismus, wusste, ein unter solchen Bedingungen durchgeführtes Referendum hätte kein klares Mehrheitsmandat zeitigen können. Aber er setzte darauf, dass die unvermeidliche Razzia der Polizei den separatistischen FührerInnen ungeheure moralische Legitimität verschaffen würde, Rajoys Autorität untergrübe und so teilweise dessen Unterstützung durch eine Minderheit sogar in Katalonien wettmachte.

Selbst der Streik vom 3. Oktober deutet darauf hin, dass jede einseitige Unabhängigkeitserklärung, die in wenigen Tagen erwartet wird – darauf besteht Puidgemont –, kleine klare Unterstützung der Mehrheit der KatalanInnen oder der ArbeiterInnenklasse in der Provinz genießen mag. Da auf der anderen Seite eine beträchtliche Mehrheit der KatalanInnen eindeutig über diese Frage mit ihrer Stimme entscheiden will, könnte eine weitere Unterdrückung durch Rajoy und die Guardia Civil zu einer Explosion führen.

Sozialchauvinismus

Das erste Opfer des Konflikts zwischen spanischen ChauvinistInnen und katalanischen NationalistInnen ist die ArbeiterInnenklasse auf der ganzen Halbinsel. Hätten ihre Spitzen eine klare und eindeutige Position der Unterstützung für das Recht, das Referendum abzuhalten, bezogen, Rajoy hätte es sich zweimal überlegen müssen, bevor er die Guardia Civil loslassen konnte.

Das Referendum wurde natürlich von Rajoy dazu benutzt, sichtbare Manifestationen der reaktionären Vergangenheit Spaniens zu ermutigen. Ein Sturm von spanischem Chauvinismus fegt durch das Land, die Nationalflagge sprießt auf Balkonen und aus Fenstern. Menschenmassen feuern die Polizei an, die nach Katalonien aufbricht. Die unvermeidliche Konsequenz dieses Antagonismus wird Gewalt sein, nicht nur gegen KatalanInnen, sondern gegen die anderen Minderheiten Spaniens, auch gegen MigrantInnen.

Dieser Woge schloss sich die PSOE an, die wichtigste Partei der spanischen Sozialdemokratie, deren Führer Pedro Sánchez seine Bitten an Rajoy, „zu verhandeln, zu verhandeln, zu verhandeln“, mit einem Ausdruck feiger Loyalität gegenüber der undemokratischen spanischen Verfassung, Monarchie und Justiz krönte.

„Ich möchte die uneingeschränkte Unterstützung der PSOE für die Rechtsstaatlichkeit Spaniens, seine Regeln und Institutionen, die Unterstützung der PSOE für die territoriale Integrität dieses Landes, das jetzt gefährdet ist, zum Ausdruck bringen. Wir befinden uns an einem Moment, wo das Allgemeininteresse die Oberhand über die Parteien erhalten muss. Es ist der Moment der Vernunft, des gesunden Menschenverstandes.“

Podemos’ gewöhnlich redseliger oberster Wortführer, Pablo Iglesias, war sehr zurückhaltend. Ja, er verurteilte Polizeigewalt und sagte, Rajoy hätte die SpanierInnen „beschämt“, aber die populistische Partei hat sich auf rein parlamentarische Verfahren beschränkt. Er appellierte an die PSOE, eine Koalition zu bilden, die das Recht der KatalanInnen auf Abstimmung anerkenne. Podemos’ MdEP, Miguel Urban, sagte: „Wir müssen uns vereinen, um Rajoy von der Macht zu verdrängen.“ Ja, ja, aber die notwendige Einheit beginnt nicht mit parlamentarischem Kuhhandel mit den Feiglingen in der PSOE. Sie beginnt auf der Straße.

Bemerkenswert ist auch, dass die katalanischen Sektionen der Gewerkschaftsverbände CC. OO. und UGT zwar den Streik am 3. Oktober 2017 unterstützten, die nationalen Vorstände in Madrid aber nicht.

Wenn die reformistischen FührerInnen der gesamtspanischen ArbeiterInnenbewegung, der politischen Parteien und Gewerkschaften nicht gegen Rajoy protestieren und die katalanischen Rechte unterstützen, werden sie den NationalistInnen aller Couleur in die Hände spielen und die Einheit der ArbeiterInnen des Landes weiter zerrütten. Die Einheit muss mit der Erkenntnis beginnen, dass Rajoys Angriff auf die katalanische Demokratie das dünne Ende des Keils auf allen ArbeiterInnen darstellt; eine landesweite Koordination der Linken und der ArbeiterInnenklasse ist notwendig, um auf den Straßen zu mobilisieren, der Spirale von Gewalt und nationalem Chauvinismus Einhalt zu gebieten.

Selbstbestimmungsrecht

Es besteht kein Zweifel daran, dass eine große Mehrheit der KatalaInnen bei einem rechtsverbindlichen Referendum abstimmen wollte, selbst wenn sie gegen die Sezession sein sollte.

Dieses demokratische Wahlrecht sollte nicht der Regierung von Madrid oder dem Obersten Gerichtshof Spaniens übertragen werden. Natürlich enthält die spanische Verfassung von 1978 dieses Recht nicht. Eine ganze Reihe von Zugeständnissen an die demokratischen Grundsätze, die die reformistischen Kommunistischen und Sozialistischen Parteien an die Erben Francos gemacht haben, war das Ergebnis des berüchtigten Abkommens von Moncloa 1977. Sie schlossen die Wiederherstellung der Bourbonenmonarchie mit ein, die Symbol eines verkommenen Systems bleibt, das hinweggefegt gehört, wenn die demokratischen Rechte des Volkes in ganz Spanien zum Zuge kommen sollen.

Es verstößt gegen Logik und demokratische Prinzipien, wenn man vorschlägt, dass eine Nation nur über sein eigenes Verhältnis zu einem Staat abstimmen darf, wenn der Staat das erlaubt. Das Recht einer Nation, darüber abzustimmen, ob sie Teil eines multinationalen Staates bleibt, kann nicht von der Zustimmung dieses Staates abhängen.

Würde dieses Recht anerkannt, müsste ebenso über die Folgen eines Abspaltungsbeschlusses verhandelt werden: die Grenzen, die Rechte von Minderheiten, das Eigentum an gemeinsamen Ressourcen, den Handel usw., da diese kein Ultimatum darstellen können, das eine Seite der anderen diktiert.

Gegen seine eigene Absicht hat Rajoys heftiges Vorgehen die Einheit des spanischen Staates mehr gefährdet als irgendein anderes Oberhaupt seit Francos Tod und den Verfassungs- und Autonomiebetrug entlarvt, der Spaniens Nationalitäten kein Abtrennungsrecht gewährt .

Widerstand

Ein wesentlicher Teil der katalanischen Linken und der katalanischen ArbeiterInnenklasse hat sich immer gegen den Separatismus gestellt. Linke in Katalonien sind in keiner Weise verpflichtet, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung als Ergebnis der Volksabstimmung zu bestärken. Was sie fordern sollten, ist der sofortige und bedingungslose Rückzug aller paramilitärischen und polizeilichen Kräfte der Madrider Zentralregierung aus Katalonien, da sie weit davon entfernt, die Personen und Rechte der gewöhnlichen Menschen zu beschützen, sie auf die widerlichste Weise verletzt haben.

Was wir brauchen, ist die Einheit der ArbeiterInnen im übrigen Spanien an der Seite ihrer katalanischen Schwestern und Brüdern im Angesicht der Unterdrückung durch Rajoy. Sozialistinnen müssen den sofortigen Abzug aller Polizei- und paramilitärischen Einheiten fordern, die nicht unter der Kontrolle des katalanischen Parlaments. stehen. In Katalonien sollen Automobil-, HafenarbeiterInnen, EisenbahnerInnen ihre eigene Selbstverteidigungsorganisationen vorbereiten, die sich mit den Gruppen, die die Wahllokale verteidigt haben, verbinden. Ihr Ziel sollte die Verteidigung der ArbeiterInnenviertel und -institutionen als Ganzes sein, unabhängig davon, ob sie für die Unabhängigkeit eintreten oder nicht.

Die wichtigsten Gewerkschaftsverbände, die in Katalonien vertreten sind, die ArbeiterInnenkommissionen (CC. OO.) und die Allgemeine ArbeiterInnenunion (UGT) unterstützten den Aufruf zum totalen Stillstand am Dienstag in ganz Katalonien und sagten, dass er weiter als ein „Generalstreik“ gegangen sei, weil er „BürgerInnen, LadenbesitzerInnen, Selbstständige, UnternehmerInnen, Gewerkschaften, TaxifahrerInnen und Institutionen“ einbeziehen sollte. Dennoch deuten Berichte darauf hin, dass die Unterstützung in den wichtigsten Industriezweigen und im Verkehrssektor sehr uneinheitlich war.

Dockarbeiter schlossen die Häfen von Barcelona und Tarragona. In der Nissan-Autofabrik streikten 70 % und stellten die Produktion ein. Auf der anderen Seite arbeitete Seat, der größte Automobilhersteller. Dies weist darauf hin, dass eine Unabhängigkeitserklärung der kleinbürgerlichen nationalistischen Parteien, die über eine Mehrheit im katalanischen Parlament verfügen, ein Abenteuer wäre, die Arbeiterklasse wahrscheinlich spaltete und schließlich Rajoy stärkte.

In jedem Fall kann sich ein wirksamer Generalstreik in Katalonien nicht darauf beschränken, eintägig zu protestieren oder eine Komparsenarmee für Puigdemont zu schaffen. Klar ist, dass die organisierte ArbeiterInnenschaft ihr gesamtes soziales Gewicht in die Waagschale des Kampfes gegen Rajoys Unterdrückung werfen muss. Ein Generalstreik sollte sich zwei miteinander verbundene Ziele setzen: einmal als organisierender Weckruf für die Mobilisierung der ArbeiterInnenbewegung in ganz Spanien zur Verteidigung der Demokratie und gegen Rajoy zu dienen und zweitens die Bedingungen zu schaffen, unter denen die ArbeiterInnenklasse die Initiative den nationalistischen AbenteurerInnen entwenden kann, deren Dominanz nur die Zunahme von nationaler Spaltung fördert.

Der Generalstreik ist immer, in seinem Potential, ein revolutionärer Akt: einer, der „unweigerlich vor allen Klassen der Nation die Frage aufwirft: Wer wird Herr des Hauses sein?“ Wenn Rajoy Herr bleibt, dann gibt es keinen Zweifel, dass sein Sieg nicht nur KatalanInnen, sondern auch den arbeitenden Menschen in ganz Spanien hart zusetzen wird. Die Geschichte der katalanischen ArbeiterInnenklasse und ihre Bedeutung für die spanische Wirtschaft zeigen, dass ein Generalstreik, wenn er sich von den SeparatistInnen befreien kann, das Potential besitzt, eine neue, revolutionäre Situation im ganzen Land einzuleiten.

Die Gewerkschaften in Katalonien sollten sich nicht auf Halbheiten beschränken, sondern einen umfassende und unbefristeten Generalstreik und die Einrichtung von lokalen DelegiertInnenräten verkünden, um ihn zu organisieren und zu leiten.

Eines der Ziele des Streiks sollte die Forderung sein, Wahlen für eine souveräne katalanische verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Diese könnte nach einer möglichst ausführlichen demokratischen Debatte zwischen Oppositionellen und BefürworterInnen der Unabhängigkeit entscheiden, ob man eine unabhängige katalanische Republik proklamiert oder eine landesweite Bewegung für eine verfassunggebende Versammlung im ganzen spanischen Staat auslöst. Das Ziel einer solchen Versammlung sollte es sein, alle Reste des Franquismus und damit der Bourbonenmonarchie, das Verfassungsgericht etc zu beseitigen. Durchgängige Demokratie in Spanien bedeutet die Schaffung einer echt föderalistischen Republik mit dem Recht, dass sich alle oder einige ihrer Völker von ihr trennen dürfen.

Unserer Ansicht nach steht es zwar nicht im Interesse der ArbeiterInnenklasse, Spaniens wirtschaftliche und politische Einheit zu zerbrechen, aber sie durch jeglichen Zwang oder Verfassungsbetrug aufrechtzuerhalten, ist weit schlimmer. Doch ein kapitalistisches Katalonien, Euskadi (Baskenland), Galicien usw. wird die Verhältnisse für die Arbeitenden nicht verbessern. Es wird sie schwächen, sollten sie der Täuschung erliegen, Opfer für die neue Nation bringen zu müssen.

Eine vereinte multinationale ArbeiterInnenbewegung und -partei kann sich andererseits das Ziel des Kampfs für eine sozialistische Republik setzen, welche die brennenden sozialen Probleme der Jugendlichen und Werktätigen in Spanien heute lösen kann.

In ganz Spanien und in der Europäischen Union sollten sozialistische und ArbeiterInnenparteien, GewerkschafterInnen und Jugendliche auf die Straße gehen, um zu fordern:

  • Rajoy, Hände weg von Katalonien! Rückzug aller Polizei- und Militäreinheiten, die der katalanischen Generalitat nicht treu ergeben sind!
  • Spanien- und europaweite Solidarität mit dem demokratischen Recht der KatalanInnen auf Selbstbestimmung über ihre eigene Zukunft!
  • EU-Regierungen müssen Rajoys Unterdrückung und alle weiteren Drohungen oder Angriffe verurteilen!
  • Wenn Rajoy das katalanische Autonomiestatut aussetzt oder die Regionalregierung festnimmt, sollen die europäischen Gewerkschaften und die einfachen Mitglieder einen Transport- und Handelsboykott gegen Spanien organisieren!



Nieder mit dem Staatsstreich Rajoys gegen Katalonien!

Dave Stockton, Neue Internationale 223, Oktober 2017

Das Referendum am 1. Oktober wird ohne jeden Zweifel zu einer weiteren Machtprobe zwischen der reaktionären Regierung Rajoy und der Unabhängigkeitsbewegung werden. Im folgenden Artikel, der noch im September 2017 verfasst wurde, gehen wir auf die Hintergründe und die aktuelle Zuspitzung ein.

Auslöser

Ausgelöst wurde die gegenwärtige tiefe politische Krise mit der Entscheidung des katalanischen Parlaments vom 6. September, am 1. Oktober eine bindende Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens abzuhalten. Am 7. September hat Spaniens Premierminister Mariano Rajoy das Verfassungsgericht in Madrid angerufen, um diesen Entscheid auszusetzen, dem das Gericht auch unverzüglich nachkam.

Carles Puigdemont i Casamajó, Chef der Junts pel Sí (Gemeinsam für Ja)-Koalitionsregierung, die im September 2015 gewählt worden war, wollte ursprünglich das Referendum zu Verhandlungen mit der Zentralregierung nutzen, doch Rajoy hatte dies wiederholt abgelehnt. Daraus resultierte Puigdemonts Aufruf zu einer einseitig legitimierten Abstimmung, was er auch ohne größere Debatten schnell durch das katalanische Parlament brachte. Damit verschreckte er jedoch Parteien, die zwar das Recht auf ein Referendum für die Unabhängigkeit unterstützen, aber nicht unbedingt einer Abtrennung das Wort reden würden.

Die arroganten Aktionen der Volkspartei-Regierung, die mithilfe der Guardia Civil die Durchführung der Abstimmung illegalisieren und verhindern sollen, haben nicht nur eine große politische Krise ausgelöst, sondern auch die BefürworterInnen und GegnerInnen der Unabhängigkeit in Katalonien vereinigt.

Büros der katalanischen Regierung wurden durchsucht und Plakate, Broschüren und Urnen beschlagnahmt. Berichten zufolge wurden am 20. September 10 Millionen Abstimmungszettel abgeholt und werden seither unter Verschluss gehalten. Außerdem wurden 12 ranghohe Beamte und Unternehmensspitzen in Gewahrsam genommen. Rajoy hat ferner fast unverhohlen damit gedroht, den Artikel 155 der spanischen Verfassung anzuwenden, der das katalanische Autonomiestatut aufheben würde, und durchblicken lassen, sogar die katalanische Regierung und alle BeamtInnen bspw. BürgermeisterInnen, die die Volksabstimmung gestatten, unter Arrest zu stellen. Dies würde nichts anderes als einen Staatsstreich bedeuten.

Nachrichten, wonach die Guardia Civil in die Regierungsgebäude in Barcelona eingedrungen ist, darunter das Wirtschaftsministerium, legen nahe, dass der Staatsstreich bereits im Gange sein dürfte. Diese Vorkommnisse haben wütende Reaktionen von katalanischen PolitikerInnen hervorgerufen. In Madrid haben Parlamentsabgeordnete der Republikanischen Katalanischen Linken (Esquerra oder auch ERC) unter Protest den Kongress verlassen. Ein junger Feuerkopf namens Gabriel Rufián i Romero schleuderte Rajoy entgegen: „Nimm deine dreckigen Finger von den katalanischen Institutionen!“.

Widerstand

Die links orientierte Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau i Ballano, die eng mit Podemos verbunden ist, rief die Bevölkerung dazu auf, die „katalanischen Einrichtungen zu verteidigen“. Der linkere der beiden größten Gewerkschaftsverbände, die Arbeiterausschüsse CCOO meldete, dass seine Mitglieder eine Hauptstraße in Barcelona blockiert hätten.

Die Antwort der großen Protestmenge kam prompt: Sie umstellte die Regierungsgebäude. Spanische Sicherheitskräfte wollten auch die Hauptgeschäftsstelle der linken Partei Kandidatur für Volkseinheit (CUP) stürmen, mussten aber unter Triumph- und Hohnrufen wieder abziehen, nachdem eine Masse von DemonstrantInnen ihnen 8 Stunden lang den Weg versperrt hatte.

Die katalanische Regierung gab schließlich eine Verlautbarung heraus, dass die spanische Zentralregierung „an diesem Morgen de facto die Autonomie in Katalonien außer Kraft gesetzt“ habe.

Der Fußballverein FC Barcelona ließ in einer Presseerklärung mitteilen: „Der FC Barcelona steht treu zum historischen Bekenntnis für die Verteidigung der Nation, der Demokratie, der Redefreiheit und Selbstbestimmung und verurteilt jede Handlung, die die freie Ausübung dieser Rechte behindern könnte.“

Rajoys Reaktion war eine Fernsehausstrahlung, in der er wie ein Schuldirektor den KatalanInnen befahl: „Stoppt diese Eskalation des Radikalismus und des Ungehorsams ein für alle Mal!“

Zwar könnte der spanische Regierungschef auch darauf setzen, Katalonien nur einzuschüchtern, doch er spielt dabei mit dem Feuer. Jede größere Polizeirepression wird mit Sicherheit empörte Massenmobilisierungen und Besetzungen in Barcelona und ganz Katalonien hervorrufen. Diese Antwort wäre voll gerechtfertigt und die gesamte internationalistische Linke sollte alles in ihrer Macht Stehende tun, dies auch in Madrid und anderen Städten in Gang zu bringen.

Reaktionäre Verfassung und Unterdrückung

Die undemokratische Verfassung von 1978 streitet Spaniens nationalen Minderheiten ausdrücklich das Recht auf Selbstbestimmung ab. Sie verkündet „die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, die gemeinsame und unteilbare Heimat aller SpanierInnen.“

Die Verteidigung und Zusicherung des Rechts für die KatalanInnen auf Selbstbestimmung ist eine elementare demokratische Forderung und sollte bei ArbeiterInnen und SozialistInnen in ganz Spanien und auch überall in Europa Rückhalt finden.

Das heißt jedoch nicht, dass SozialistInnen für eine Zustimmung zur Loslösung eintreten sollten oder für eine einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die katalanische Regierung. Doch allem Druck vonseiten der madrilenischen Regierung, v. a. der Aussetzung des Autonomiestatuts oder der Inhaftierung von Regierungsmitgliedern und BürgermeisterInnen, muss mit Massenaktionen auf den Straßen einschließlich eines unbefristeten Generalstreiks begegnet werden.

Nichtsdestotrotz müssen wir darauf gefasst sein, dass diese Auseinandersetzung sehr wohl gefährliche und zerstörerische Kräfte des nationalen Chauvinismus, der Spaltung und Vergiftung des Bewusstseins der ArbeiterInnenklasse und der Jugend im gesamten spanischen Staat freisetzen könnte. Es ist kein Zufall, dass sowohl Rajoy wie auch Puigdemont an der Spitze von rechten neoliberalen bürgerlichen Parteien stehen und sehr erfreut wären, wenn sie die ArbeiterInnenschaft und andere fortschrittliche Kräfte zersplittern und aufeinanderhetzen könnten.

Die Antwort auf diese Gefahr für alle fortschrittlichen Elemente, linken Parteien und Organisationen, Gewerkschaften, die radikale Jugend muss in der Mobilisierung auf den Straßen und Plätzen in ganz Spanien liegen, um Rajoys Machtübernahme zu verhindern, die sofortige Einstellung der Aktionen der Guardia Civil in Katalonien und im Endergebnis den sofortigen und bedingungslosen Rückzug aller Repressionsorgane zu erzwingen, damit die KatalanInnen ihre Abstimmung abhalten können. Alle sollten ohne Zwang und nach ausreichender demokratischer Debatte abstimmen dürfen.

Die KatalanInnen bilden zweifelsfrei eine Nation mit eigener Sprache und Kultur innerhalb des spanischen Staats. Diese Tatsache hätte ausdrücklich und eindeutig in der Verfassung nach der Ära Franco festgehalten werden müssen. Unter der Monarchie und dann unter der Franco-Diktatur erlitten sie ebenso wie die BaskInnen, GalicierInnen und andere kleinere sprachliche Gemeinschaften schwerwiegende nationale Unterdrückung durch den zentralisierten kastilischsprachigen Staat.

Nach dem Fall der Franco-Diktatur wurden die meisten dieser Unterdrückungselemente beseitigt und Autonomien gewährt in Bezug auf Sprach- und Kulturgebrauch. Geblieben aber ist die grundsätzliche Ablehnung des Rechts einer ungehinderten Entscheidung über eine Lostrennung von oder Zugehörigkeit zu Spanien durch die Madrider Regierungen und die Justiz.

Katalonien ist industriell weiter entwickelt und wohlhabender als jede andere Region auf der Iberischen Halbinsel außer dem Gürtel um Madrid selbst. Viele der nationalistischen katalanischen Forderungen wie die Beendigung der Nettosteuerzahlungen, die als Hilfsleistung und Förderung der ärmeren Teile Spaniens dienen, oder die oft geäußerte Sichtweise, dass die KatalanInnen härter arbeiten würden und an sich progressiver seien, sind eindeutige Belege für einen Chauvinismus, den die ArbeiterInnen schroff ablehnen müssen.

Perspektive

Die Bildung eines unabhängigen katalanischen Staats wird mit Sicherheit nicht die Spaltungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse verringern, weder in der Region noch im Gesamtstaat. Wenn wie zuvor nur eine Minderheit abstimmen würde und ein „Ja“ dabei herauskäme, könnte sich die Mehrheit nicht damit zufriedengeben. Noch schlimmer wäre es, wenn die Puigdemont-Regierung mit einer einseitigen Entscheidung einen großen Teil der spanischsprachigen Mehrheit vor den Kopf stoßen würde. 45,92 % sprechen zumeist Spanisch, 35,54 Katalanisch, während 11,95 % der dortigen Bevölkerung beide Sprachen gleich häufig verwenden. Das neue Land würde also mit einem großen demokratischen Geburtsfehler aus der Taufe gehoben werden. Der Torso Restspaniens würde außerdem einen kämpferischen Teil seiner ArbeiterInnenbewegung verlieren.

Im Vorfeld der Krise zeigten Umfragen, dass zwar 60 % der katalanischen WählerInnenschaft eine Abstimmung befürworten, über 50 % aber mit „Nein“ stimmen würden. Rajoys Aktionen könnten dieses Stimmungsbarometer schnell verändern, wenn sein „legaler“ Staatsstreich in volle Unterdrückung umschlägt. Rajoys Drohung, die katalanische Polizei gegen die eigene Bevölkerung zur Verhinderung der Wahlen am 1. Oktober einzusetzen, verdeutlicht diese Gefahr.

Ein Teil der Gründe für das Anwachsen von Nationalismus in den letzten Jahren ist zweifellos eine Auswirkung der rechten Regierung und Justiz in der Hauptstadt, die als Klotz auf dem Weg zum Fortschritt liegt, doch bei Wahlen auf gesamtspanischer Ebene schwierig zu beseitigen scheint.

Diese rechtsgerichtete Hegemonie ist eine Folge des Scheiterns der ArbeiterInnen- und radikalen Jugendbewegung in der vergangenen Periode beim Versuch, den Griff der Reaktion mit Platzbesetzungen, eintägigen Generalstreiks, Massendemonstrationen und auch dem raschen Aufstieg von Podemos zu brechen. All diese machtvollen Bewegungen, die große Möglichkeiten bargen, zerbrachen letztlich an der Frage der Führung. Weder die alten reformistischen Parteien wie PSOE und IU, noch die neue links-populistische Podemos oder die „hierarchielosen“, horizontalen und linken Bewegungen konnten auf die Machtfrage eine klare, zielführende Antwort geben.

Die Spaltung der ArbeiterInnen und Jugendlichen Barcelonas und Madrids wird dieses Problem nicht lösen. Dringend notwendig ist der Aufbau einer politischen Kraft im gesamten Spanien, einer neuen ArbeiterInnenpartei mit einem revolutionären antikapitalistischen Programm. Die Kräfte dafür zu sammeln, damit sollte jetzt in einer Bewegung begonnen werden, die nicht nur Rajoys Putsch in Katalonien verhindert, sondern ihn auch in Madrid von der Macht verjagt.

 




Leo Trotzki – Die nationale Fragen in Katalonien

Leo Trotzki, 13. Juli 1931

Aus: The Militant vom 19. September 1931, abgedruckt in: Leo Trotzki: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, Band 1: 1931-1936, Frankfurt/Main, 1975, Text 27, S. 141-143

Ein weiteres Mal über die anstehenden Fragen in der spanischen Revolution.

1.) Maurin, der „Führer“ des Arbeiter- und Bauernblocks, bekennt sich ebenfalls zum Separatismus. Nach einigem Zaudern hat er sich mit dem linken Flügel des kleinbürgerlichen Nationalismus ausgesöhnt. Ich habe früher schon geschrieben, dass der katalanische kleinbürgerliche Nationalismus im gegenwärtigen Stadium progressiv ist – aber nur unter einer Bedingung: dass er seine Aktivität außerhalb der Reihen des Kommunismus entfaltet, und dass er andauernd unter den Schlägen kommunistischer Kritik steht. Gestattet man dem kleinbürgerlichen Nationalismus, sich unter der Fahne des Kommunismus zu verbergen, so teilt man zur gleichen Zeit einen hinterlistigen Schlag an die proletarische Avantgarde aus und zerstört die progressive Bedeutung des kleinbürgerlichen Nationalismus.

2.) Was bedeutet das Programm des Separatismus? Zweifellos die ökonomische und politische Zerstückelung Spaniens, oder mit anderen Worten die Umwandlung der Iberischen Halbinsel in eine Art Balkan-Halbinsel, mit unabhängigen Staaten, die durch Zollschranken getrennt sind, und mit unabhängigen Armeen, die unabhängige Spanische Erbfolgekriege führen. Natürlich wird der weise Maurin sagen, er wolle das nicht. Aber Programme haben ihre eigene Logik, etwas, was Maurin nicht besitzt.

3.) Sind die Arbeiter und Bauern der verschiedenen Parteien Spaniens an einer Zerstückelung interessiert?   Absolut nicht. Deshalb bedeutet die Gleichsetzung des entschiedenen Kampfes um das Recht der Selbstbestimmung mit der Propaganda für den Separatismus ein äußerst gefährliches Vergehen. Wir treten in unserem Programm für eine spanische Föderation mit der unentbehrlichen Beibehaltung der ökonomischen Einheit ein. Wir haben nicht die Absicht, dieses Programm den unterdrückten Nationalitäten Spaniens mit Hilfe der Waffen der Bourgeoisie aufzuzwingen. In diesem Sinne sind wir aufrichtig für das Recht auf Selbstbestimmung. Wenn sich Katalonien abspaltet, wird die kommunistische Minderheit Kataloniens, ebenso wie Spaniens, einen Kampf für eine Föderation zu führen haben.

4.) Im Balkan stellte die alte Vorkriegs-Sozialdemokratie bereits die Losung der demokratischen Balkanföderation auf – als Ausweg aus dem von den getrennten Staaten geschaffenen Irrenhaus. Gegenwärtig ist die kommunistische Losung für den Balkan die Balkanische Sowjetföderation (nebenbei: die Komintern gab die Losung der Balkanischen Sowjetföderation aus, verwarf aber gleichzeitig diese Losung für Europa!). Wie können wir unter diesen Umständen die Losung der Balkanisierung der spanischen Halbinsel übernehmen? Ist das nicht ungeheuerlich?

5.) Die Syndikalisten, oder zumindest ein gewisser Teil ihrer Führer erklären, dass sie gegen den Separatismus sogar mit den Waffen kämpfen werden. In diesem Falle würden sich Kommunisten und Syndikalisten auf entgegengesetzten Seiten der Barrikaden befinden: ohne die separatistischen Illusionen zu teilen, und mit dauernder Kritik an ihnen, müssten die Kommunisten sich unentwegt gegen die Henker des Imperialismus und ihre syndikalistischen Lakaien stellen.

6.) Sollte es der Kleinbourgeoisie gelingen – gegen den Rat und die Kritik der Kommunisten – Spanien zu zerstückeln, dann würden die negativen Folgen eines solchen Regimes nicht lange auf sich warten lassen. Die Arbeiter und Bauern würden sehr schnell zu diesem Schluss kommen: die Kommunisten hatten wirklich recht. Das aber bedeutet ganz genau, dass wir nicht die geringste Verantwortlichkeit für Maurins Programm übernehmen dürfen.

7.) Monatte hofft, die spanischen Syndikalisten würden einen neuen „syndikalistischen Staat“ schaffen. Stattdessen integrieren sich die spanischen Freunde von Monatte mit Erfolg in den bürgerlichen Staat. Das ist die Geschichte des armen Vogels, der Kuckuckseier ausbrütet. Es ist momentan sehr wichtig, alles zu verfolgen, was die spanischen Syndikalisten sagen und tun. Das wird der Linken Opposition in Frankreich Möglichkeiten eröffnen, dem französischen Anarchosyndikalismus einen schweren Schlag zu versetzen. Es ist keine Sekunde zweifelhaft, dass die Anarchosyndikalisten sich unter revolutionären Bedingungen bei jedem Schritt selbst diskreditieren werden. Die blendende Idee der Syndikalisten besteht darin, die Cortes zu kontrollieren, ohne sich an ihnen zu beteiligen. Revolutionäre Gewalt anzuwenden, um die Macht zu kämpfen, die Macht zu ergreifen – all das ist nicht gestattet. Anstelle dessen empfehlen sie die „Kontrolle“ der Bourgeoisie, die an der Macht ist. Ein wunderbares Bild: die Bourgeoisie frühstückt, isst Mittag und Abendessen, und das von den Syndikalisten geführte Proletariat „kontrolliert“ diese Vorgänge – mit leerem Magen.