Resolution zum Krieg gegen Gaza

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die Fünfte International, Infomail 1235, 26. Oktober 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Als Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober droht es mit blutiger Rache. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und Syrien. In der Westbank wurden Palästinenser:innen, die sich mit Gaza solidarisieren, umgebracht – bisher über 100. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 6.000 Menschen in Gaza getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen der Gazastreifens – befindet sich auf der Flucht nach Süden. Israel hat tagelang die Versorgung mit Wasser, Medikamenten und Energie unterbrochen. Die begrenzte Zahl LKWs, die den Grenzübergang Rafah passieren dürfen, ist lt. UNO total unangemessen niedrig. Die Bevölkerung Gazas wird faktisch ausgehungert und Krankenhäusern die Stromlieferung verweigert, die für Operationen an einer zunehmenden Zahl von Opfern benötigt wird. Eine humanitäre Katastrophe findet vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt.

Dabei stehen wir erst am Beginn dessen, was droht. Eine Bodeninvasion der IDF steht bevor. Die israelische Regierung und der Generalstab verkündeten die größte Mobilisierung der Armee in der Geschichte des Landes. 360.000 Reservist:innen wurden einberufen. Ihre Aufgabe: Hamas vernichten, Gaza von „Terrorist:innen“ und allen, die Widerstand leisten, „säubern“. Ganzen Städten und der Infrastruktur droht Zerstörung. Hunderte Panzer und Artilleriefahrzeuge, Zehntausende Soldat:innen machen sich zum Sturm auf Gaza bereit, dessen Norden schon jetzt weitgehend dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Angesichts dieser nationalistischen Mobilisierung treten die Differenzen zwischen Regierung und Opposition im zionistischen Lager zurück. Der Regierung der nationalen Einheit und einem fünfköpfigen Kriegskabinett aus Vertreter:innen von Regierung und Opposition wurden weitgehend unbeschränkte Vollmachten eingeräumt.

Israels Kriegsziele und deren Widersprüche

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben. Diese sollen den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – mit anderen Worten der Mord an Tausenden und Abertausenden. Danach sollen die Bodentruppen folgen und der Süden des Landes „gesäubert“ werden.

Ältere Menschen und Schwerkranke werden nicht in der Lage sein zu gehen.  Die Krankenhausbehörden sagen, dass es unmöglich sein wird, ihre Patient:innen und die Opfer der anhaltenden Bombardierung über die verkraterten und durch Ruinen blockierten Straßen zu transportieren, die immer noch unter Luftangriffen stehen. Die Verdoppelung der Bevölkerungsdichte in einem Gebiet, das ohnehin schon am stärksten überbevölkert ist und in dem es weder Ersatzunterkünfte noch Wasser- oder Treibstoffvorräte gibt, ist zumindest eine kollektive Bestrafung. Wenn sie in vollem Umfang durchgeführt wird, wäre es korrekter, dies als Völkermord zu bezeichnen.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten der Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. Die internationalen Unterstützer:innen Israels, allen voran die USA, Britannien und die führenden EU-Mächte, Deutschland und Frankreich, fürchten zudem, dass eine lange, extrem barbarische Kampagne gegen die Bevölkerung Gazas im gesamten Nahen Osten einen Flächenbrand entfachen könnte. Sie fürchten, dass die reaktionären Verbündeten in den arabischen Staaten (Saudi-Arabien, Ägypten und die Golfölmonarchien) ihre faktische Tolerierung der israelischen Politik der letzten Jahre nicht mehr aufrechterhalten könnten und der westliche imperialistische Einfluss weiter geschwächt werden würde.

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Extrawaffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen Biden, Scholz und die anderen Staats- und Regierungschef:innen der westlichen Welt die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts ein, weil sie fürchten, dass eine zu rücksichtslose Misshandlung auch die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der ganzen palästinensischen Nation zu brechen. Nur zu gut wissen die Vertreter:innen des zionistischen Regimes und dessen imperialistischen Verbündete, dass Jahrzehnte der Repression, von Bombardements, Militäroperationen diesen nicht zu brechen vermochten, auch wenn sie die Lage der Palästinenser:innen immer mehr verschlechterten, diese immer mehr marginalisierten und die Vertreibung der Bevölkerung seit Gründung des Staates Israel fortsetzen.

Daher drängt extrem rechte Flügel der israelischen Führung auf die Vertreibung der Bevölkerung Gazas, auf die „vollständige Säuberung“, auf Massenexodus – und ist dafür bereit, den Tod Tausender und Abertausender, ja ein Pogrom an der gesamten Bevölkerung in Kauf zu nehmen. Die Notstandsregierung und die Armeeführung haben sich zumindest teilweise diese Rhetorik zu eigen gemacht. Sie entmenschlichen die Palästinenser:innen rassistisch als „menschliche Tiere“, die wie wilde Tiere behandelt werden müssen. Allen, die nicht flüchten, drohen sie mit „verheerenden humanitären Konsequenzen“. Gaza soll lt. Ihren Aussagen nach der Militäroperation nicht mehr wieder entstehen, wie es einmal war.

Unklar ist jedoch, wie das genau geschehen soll. Eine Bodeninvasion und ein unter Umständen langwieriger Guerillakampf gegen die von Hamas geführten Kämpfer:innen werden die kommenden Tage, Wochen, wenn nicht Monate andauern. Die israelische Regierung hat erklärt, dass sie beabsichtigt, den Gazastreifen vollständig vom übrigen Palästina abzuschneiden. Wie dieser Kampf endet, welche Seite politisch siegt und welche „Ordnung“ in Gaza errichtet, hängt natürlich auch von der Entschlossenheit des Widerstandes wie auch von der Rücksichtslosigkeit des zionistischen Angriffs ab. Geht es nach der israelischen Rechten und großen Teilen des Kabinetts, die sich auf sie stützen, so kann es dort bis zur Massenvernichtung an den Palästinenser:innen gehen. Im Moment gehen die Äußerungen der Notstandsregierung in diese Richtung, aber das darf nicht drüber hinwegtäuschen, dass es keine Einheitlichkeit im zionistischen Lager bezüglich der längerfristigen Kriegsziele und der zukünftigen „Neuordnung“ Gazas gibt.

Daher werden der israelischen Rechten auch Grenzen im Inneren gesetzt. Ein Flügel im zionistischen Lager will einen gewissen Restbestand der „demokratischen“ Herrschaftsform in Israel sichern (und zwar nicht nur gegenüber Netanjahu), sondern auch palästinensische Kräfte wie die Fatah und die PNA (Palästinensische Nationalbehörde) in Zukunft als ihren verlängerten Arm integrieren.

Vor allem aber drängen die internationalen Verbündeten Israels darauf, dass es zu keiner dauerhaften Besetzung Gazas kommt, dessen zukünftige Verwaltung formell von palästinensischen Kräften übernommen werden soll. Diese Bedingungen sind zugleich auch wichtig, um Saudi-Arabien, Ägypten und andere arabische Staaten als Verbündete zu halten und auch für eine etwaige Wiederaufnahme von Gesprächen am Ende der Gazaoperation mit zu gewinnen. Das setzt aber zumindest voraus, eine Scheinlösung der „Palästinafrage“ zu verkaufen, obwohl Israels unerbittlicher Ausbau der Siedlungen dies praktisch unmöglich gemacht hat.

Auswirkungen und Ursachen des Angriffs

Der Angriff der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza hat die Palästinafrage wieder ins Zentrum der Politik im Nahen Osten und auch der internationalen Politik gerückt.

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen. Die Proteste des Iran und seiner Verbündeten waren einkalkuliert vorsichtig. Weder das Regime in Teheran noch die Hisbollah hatten ein Interesse an einer wirklichen militärischen Konfrontation.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Bergkarabach (Arzach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Der Angriff der Hamas war sicherlich durch mehrere Faktoren motiviert und auch Resultat einer Entscheidung des militärischen Flügel gegen den politischen, der in Katar sitzt. Dieser fürchtete die absehbare vernichtende Reaktion Israels. Doch die immer größere Marginalisierung der Palästinenser:innen in der Westbank und in Gaza in den letzten Jahren stellte die Hamas wie den gesamten Widerstand auch vor die prekäre Alternative, entweder immer mehr mit dem Rücken an die Wand gedrückt zu werden oder einen Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza zu wagen, wohl wissend, dass der Zionismus in jedem Fall mit massiven Angriffen reagieren würde. Der Ausbruch war also wesentlich eine Reaktion auf die immer größere Isolierung und den drohenden Wegfall vorgeblicher Verbündeter der Palästinenser:innen wie Saudi-Arabien.

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung aus Gaza und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und Schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre ist.

Die internationale Reaktion

Die internationalen Reaktionen auf den Ausbruch der Hamas und auf den Krieg gegen Gaza könnten nicht unterschiedlicher ausgefallen sein. Während die USA, Britannien, Japan und die EU-Mächte Israel unterstützen, rufen die imperialistischen Rivalen Russland und China ebenso wie die meisten Staaten des globalen Südens zum Waffenstillstand und zu humanitärer Hilfe auf. Natürlich verurteilen auch sie mehr oder weniger offen Hamas und den palästinensischen Widerstand. Sie wollen zum Vorkriegszustand zurückkehren.

Natürlich hat die Politik Moskaus oder Peking nichts mit Solidarität mit Palästina zu tun. Sie verfolgen nur eigene, dem Westen entgegengesetzte imperialistische Interessen und hoffen so, ihre geostrategischen Positionen zu stärken. Die verschiedenen Regionalmächte in der Region lehnen den Angriff Israels offener oder verdeckter ab, rufen zu „Mäßigung“ auf, weil sie damit sowohl eigene Interessen verfolgen, aber auch weil sie eine Destabilisierung in ihren eigenen Ländern und damit ihrer eigenen Herrschaft fürchten. Reaktionäre islamistische Regime wie der Iran oder reaktionäre islamistische Bewegungen inszenieren sich außerdem als einzig konsequente Verbündete der Palästinenser:innen. Dass dabei offen Antisemitismus propagieren, muss ebenso entlarvt werden wie ihr Versuch, von ihrer eigenen Diktatur und der Unterstützung konterrevolutionärer Regime z. B. in Syrien demagogisch abzulenken.

Doch diese vorgeblichen reaktionären „Freund:innen“ oder „Unterstützer:innen“ Palästinas dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass die Sympathie der Massen in den meisten Ländern der Welt dem palästinensischen Volk und seinem Befreiungskampf gilt. Die Masse der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und der Jugend in den halbkolonialen Ländern durchschaut sehr genau, dass die Darstellung des Krieges als eines zwischen israelischer „Demokratie“ gegen „islamistischen Terror“ seine Ursachen und seinen Charakter verschleiert, dass es sich um einen Krieg eines Unterdrückerstaates gegen die Unterdrückten handelt. Genau das wissen auch die palästinensischen und arabischen Migrant:innen in den westlichen Ländern sowie die große Mehrzahl der rassistisch unterdrückten Bevölkerung.

Daher gehen seit Wochen Massen auf die Straße, folgen dem Aufruf zu Großdemonstrationen und globalen Aktionstagen. Die Straßen im globalen Süden füllen sich – und daraus kann und soll eine internationale Massenbewegung der Solidarität mit Palästina werden. Selbst in den westlichen Staaten ist die öffentliche Meinung nicht so eindeutig für Israel ausgerichtet, wie die Regierungen uns gern glauben machen möchten.

In London beteiligten sich 150.000 am 14. Oktober an einer Demonstration in Solidarität mit Palästina und 300.000 am 21. Während in Britannien das Demonstrationsrecht noch anerkannt ist, greifen andere europäische Länder wie Deutschland und, in geringerem Maße Frankreich, zu extremen rassistischen und antidemokratischen Maßnahmen, verbieten Kundgebungen in Solidarität mit Gaza regelmäßig, nehmen hunderte Menschen fest, die sich den Verboten nicht beugen wollen und kriminalisieren alle Organisationen des palästinensischen Widerstandes.

Zur Legitimierung diese Maßnahmen greifen sie auf die Lüge zurück, dass Antizionismus, ja fast jede Israelkritik antisemitisch sei. Selbst der Verweis auf die Ursachen des gegenwärtigen Konflikts gilt schon als „Relativierung“ des „islamistischen Terrors“. Diese Hetze verknüpft sich mit einer dramatischen Zunahme des antimuslimischen Rassismus und soll die Bevölkerung der „demokratischen“ Staaten auf die weitere Aushebelung demokratischer Rechte vorbereiten und darauf einschwören, mit Israel auch dann solidarisch zu bleiben, wenn immer mehr Bilder über die Massaker und Kriegsverbrechen seitens der israelischen Armee öffentlich werden.

Der extreme Kontrast zwischen der Lage in den halbkolonialen und westlichen imperialistischen Ländern zeigt auch, was von der Behauptung zu halten ist, dass die ganze Welt hinter Israel stände. Unter der Welt werden vor allem die Länder Nordamerikas und Europas verstanden, die gerade einmal 12 % der Weltbevölkerung beheimaten – und auch dort ist die öffentliche Meinung vor allem die, die von den auf die imperialistische Staatsräson getrimmten Medien veröffentlicht wird, die sich in der Hand der westlichen Staaten oder der Monopolkonzerne im Medienbereich befinden.

Diese spiegeln vor allem die Interessen der imperialistischen Regierungen und Bourgeoisien wider. Sie können sich aber auch auf die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und der meisten reformistischen Parteien stützen – sei es die SPD in Deutschland, Labour in Britannien oder die schwindsüchtige PS in Frankreich. Auch die Mehrzahl der europäischen Linksparteien solidarisiert sich uneingeschränkt oder verdeckt mit Israel oder nimmt eine „neutrale“ Haltung im Kampf zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen ein. Dies verdeutlich einmal mehr den sozialchauvinistischen und proimperialistischen Charakter dieser Parteien und bürokratisierten Gewerkschaftsapparate.

Während sie sich über den „Terror“ der Hamas empören und die Tötung unschuldiger Zivilist:innen anprangern, versichern sie den israelischen Angriffen auf Gaza ihre Unterstützung, denen Tausende unschuldige palästinensische Zivilist:innen zum Opfer gefallen sind und weiter fallen werden. Statt die Seite der Arbeiter:innen und Unterdrückten in Gaza zu ergreifen, statt die palästinensischen und arabischen Migrant:innen gegen Rassismus und Repression zu verteidigen, unterstützen diese Berufsverräter:innen die Unterdrückung.

Der Aufbau einer Solidaritätsbewegung mit Palästina ist unmöglich ohne einen entschlossenen Kampf gegen diese chauvinistischen und proimperialistischen Irreführer:innen der Arbeiter:innenklasse. Die notwendige und berechtige Kritik an den Führungen des palästinensischen Befreiungskampfes, an Hamas, Dschihad, aber auch den militanten Kräften der Fatah, der PFLP und der DFLP hat nur dann einen revolutionären und fortschrittlichen Wert, wenn sie auf der Grundlage der Unterstützung des Befreiungskampfes formuliert wird. Ansonsten bleibt sie im gegenwärtigen Krieg bestenfalls nur eine beredte Form der Passivität oder wie bei den reformistischen Führungen eine der Unterstützung der zionistischen und imperialistischen Aggression.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten des/r Unterdrücker:in anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und durch bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei die Hamas nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie Iran, Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labour Zionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Abflug oder Auslaufen verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem Kampf gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbinden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Die Solidarität mit Palästina stellt eine Aufgabe der gesamten globalen Arbeiter:innenklasse dar. Im Krieg gegen Gaza sollten die Lohnabhängigen in allen Ländern auf die Straße gehen, ihre Solidarität zum Ausdruck bringen und jede materielle und militärische Unterstützung Israels durch betriebliche und gewerkschaftliche Aktionen stoppen.

Dabei kommt der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas jedoch insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisation und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina, die ihren Ursprung in Nahost fand. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass selbst in den Ländern, wo eine proisraelische Stimmungslage vorherrscht, diese nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Offener Brief: Menschen, keine »Barbaren«!

Offener Brief in Solidarität mit Elisa Baş, Infomail 1234, 21. Oktober 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir einen offenen Brief in Solidarität mit Elisa Baş. Wir rufen zur Unterzeichnung des offenen Briefs auf. Wenn ihr auch unterzeichnen wollt, schreibt eine Mail an: washidaka@gmail.com

Offener Brief: Menschen, keine »Barbaren«!

Solidarität mit der Bundespressesprecherin von Fridays-For-Future, Elisa Baş, gegen die Diffamierungen der Springer-Presse!

Unter der Überschrift »Klima-Aktivistin schockt mit Vorwurf gegen Juden« versuchen die BILD-Zeitung und andere Springer-Medien, die Pressesprecherin von Fridays-For-Future, Elisa Baş, als »geschichtsvergessen« und »geschmacklos« darzustellen. Der gleichlautende Artikel von Julian Loevenich erschien zuerst in der Berliner Tageszeitung (B.Z.)[1]. Eine Stunde später dann auch in der BILD-Zeitung[2]. Einen Tag nach dem BILD-Artikel übernahmen die Redaktionen von Focus Online[3] und Express aus Österreich die in der BILD geäußerten Vorwürfe.

Elisa Baş teilte auf ihrem Instagram-Account eine Kritik an Aussagen des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster. In einem Gast-Kommentar für die BILD-Zeitung hatte dieser geschrieben: »Die Barbaren sind unter uns.« und »Es muss sich etwas tun.«[4] Auf dem Bild zum Kommentar ist eine Frau zu sehen, die eine palästinensische Fahne schwenkt.

Elisa Baş hatte den Artikel mit dem folgenden Kommentar einer anderen Person geteilt: »In Deutschland herrscht eine Pogrom-Stimmung gegen Palästinenser:innen und Schuster heizt sie an.«

Aus dieser geteilten Kritik konstruiert nun der BILD-Redakteur Julian Loevenich folgenden Vorwurf: »Besonders geschichtsvergessen und geschmacklos ist Baş „Pogrom“-Vorwurf, weil Juden während der Nazi-Zeit bei Pogromen ermordet wurden. Die Klima-Aktivistin rückt damit den Präsidenten des Zentralrats der Juden in die Nähe der Nationalsozialisten.«

Elisa Baş hat sich stets klar und deutlich gegen Antisemitismus sowie allgemein jede Form von Rassismus positioniert. Die Vorwürfe sind eine bodenlose Frechheit. Im Anschluss an die Berichterstattung werden von unterschiedlichen Personen Forderungen nach einem Rücktritt erhoben.

Wir stellen fest:

  1. Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Hetze und Rassismus nicht. Wir lehnen die Rücktrittsforderungen gegen Elisa Baş ab. Die Klimabewegung darf sich nicht spalten lassen. Der Angriff auf Elisa Baş ist ein Angriff auf alle, die sich für eine klimagerechte Welt einsetzen. Wir stehen angesichts der Diffamierungs-Kampagne als Menschenrechts- und Klimaaktivist:innen jüdischer, muslimischer und anderer Herkunft gemeinsam hinter der Fridays-for-Future-Bundespressesprecherin Elisa Baş. Die gefährliche Stimmungsmache der BILD-Zeitung gegen eine junge Klima-Aktivistin muss sofort beendet werden!
  2. Der Presserat muss BILD & BZ in die Schranken weisen und die Hetze gegen Palästinenser:innen stoppen!
  3. Der Begriff der »Barbaren« diente schon in der Antike zur Entmenschlichung unter Sklaverei und rechtfertigte ebenso die Kolonialgeschichte.[5] Dass die BILD-Zeitung und andere an diese rassistische Tradition anknüpfen, ist verantwortungslos und schürt eine hetzerische Stimmung.
  4. Die Kritik an Schuster, er heize mit seinen Aussagen eine »Pogrom-Stimmung« gegen Palästinenser:innen an, hat nichts mit Antisemitismus oder Geschichtsvergessenheit zu tun. Der Begriff »Pogrom« ist älter als der Nationalsozialismus und findet auch in anderen Kontexten weitläufig Verwendung. So definieren der Duden und die Bundeszentrale für politische Bildung den Begriff als »gewalttätige Aktionen, Übergriffe und Ausschreitungen gegen (ethnische, nationale, religiöse etc.) Minderheiten oder politische Gruppierungen.«[6] Die israelische Zeitung Ha‘aretz bezeichnete beispielsweise den Siedlerangriff auf das palästinensische Dorf Huwara als Pogrom.[7] Elisas Aussagen richten sich an keiner Stelle auch nur ansatzweise gegen jüdische Menschen oder jüdisches Leben.

#keineBarbaren #SolimitElisa

Wenn ihr auch unterzeichnen wollt, schreibt eine Mail an: washidaka@gmail.com


[1] https://www.bz-berlin.de/berlin/fridays-for-future-elisa-bas-juden

[2] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/sprecherin-von-fridays-for-future-klima-aktivistin-schockt-mit-vorwurf-gegen-jud-85762668.bild.html

[3] https://www.focus.de/politik/ausland/nahost/klimaaktivistin-macht-juden-vorwuerfe-fridays-for-future-sprecherin-schockt-mit-wirrer-genozid-nachricht_id_226258300.html

[4] https://www.bild.de/politik/kolumnen/politik-inland/josef-schuster-zum-terror-in-israel-die-barbaren-sind-unter-uns-85744098.bild.html

[5] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-06/rassismus-ideologie-nationalsozialismus-rassentheorie-antike-mittelalter-genetik/seite-2?

[6]https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/296465/pogrom/

[7] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-03-04/ty-article/.premium/israeli-settlers-threaten-another-hawara-pogrom-on-saturday-night/00000186-ad5d-de2a-a1ee-af5f092f0000




Bundestag auf Kriegskurs – Nein zur Kriminalisierung der Palästina-Solidarität!

Martin Suchanek, Infomail 1233, 14. Oktober 2023

Einstimmig beschloss der deutsche Bundestag am 12. Oktober den von SPD, Grünen, FPD und CDU/CSU vorgelegten Antrag zur Lage in Israel. Davor erklärte Olaf Scholz in einer Regierungserklärung. „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Auch die Fraktionen von AfD und DIE LINKE applaudierten und stimmten dem Antrag zu. Wenn es um die Staatsräson des deutschen Imperialismus geht, will im Bundestag offenkundig niemand beiseitestehen.

Bedingungslose Solidarität mit Israel …

Dabei läuft der Beschluss auf nichts weniger hinaus als eine Unterstützung der Bombardierung Gazas und der bevorstehenden Bodeninvasion durch die israelische Armee. Die Absicht der israelischen Regierung und des neu ernannten Notstandskabinetts, Gaza faktisch dem Erdboden gleichzumachen und keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, ficht den deutschen Bundestag nicht an. Für die Toten der Bombardements durch die israelische Luftwaffe und durch Bodentruppen wird einfach die Hamas als verantwortlich erklärt.

Und diesmal sollen, so Regierung und Opposition in seltener Einmütigkeit, den Worten auch Taten folgen. Zivile Tote in Gaza seien, so erklärt Außenministerin Baerbock, leider unvermeidlich – und zwar aufgrund der „perfiden“ Taktik der Hamas (und aller anderen palästinensischen Organisationen), ihre Kämpfer:innen nicht auf offenem Feld zum Abschuss aufzustellen, sondern sich zu verschanzen. Geflissentlich ignoriert sie dabei das Offenkundige, dass in jedem Krieg besonders die verteidigende oder die militärisch unterlegende Seite im Schutz der eigenen Bevölkerung agiert.

Das hat auch seinen Grund. Der Bundestag, die Regierung, die gesamte Opposition und sämtliche „etablierten“ Medien missbrauchen die Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Ausbruchs der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung, der zur Vernichtung jedes Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

… bedingungslose Unterstützung des Krieges

Parallel zur Debatte im Bundestag untermauert das Verteidigungsministerium die Solidarität mit Israel. So will Deutschland Munition für Kriegsschiffe liefern, Drohnen zur Verfügung stellen und Schutzausrüstung für die IDF schicken. Israel, so heißt es in der Entschließung, sei im Krieg „jedwede Unterstützung zu gewähren.“ Dass die Regierung, die Unionsparteien, die AfD zustimmen, verwundert niemanden. Doch auch sämtliche anwesenden Abgeordneten, alle Flügel der „Friedenspartei“ DIE LINKE wollen sich an diesem Tag der Staatsräson nicht entziehen und stimmen für einen Krieg im Nahen Osten, der „Frieden“ durch die Vernichtung jedweden Widerstandspotentials der Palästinenser:innen bringen soll. „Jedes Hamas-Mitglied ist ein toter Mann“, verkündet Netanjahu. Die neu geformte israelische Notstandsregierung verwendet dabei Hamas als Codewort für alle Palästinenser:innen, die Widerstand gegen die Besatzung und Vertreibung leisten und weiter leisten wollen.

Daher zielt die israelische Strategie auf die Säuberung und Vertreibung der gesamten Bevölkerung von Gaza-Stadt. Innerhalb von 24 Stunden sollen diese den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – eine unverhohlene Drohung mit dem Mord an Tausenden und Abertausenden.

Verdrehung der Ursachen

Mit den Stimmen der Linkspartei verdreht der Bundestag einmal mehr die Ursachen des sog. „Nahostkonflikts“, indem die führende Rolle der islamistischen Hamas in Gaza zur Ursache des „Konflikts“ uminterpretiert, so getan wird, als bestünde das zentrale Hindernis für „Frieden“ im „Terrorismus“ der Hamas, des Islamischen Dschihad, von PFLP und DFLP oder anderen palästinensischen Gruppierungen. Würden diese vernichtet, wäre alles wieder gut und die israelische „Demokratie“ müsste nur auf die Palästinenser:innen ausgedehnt werden, die dann – jedenfalls in der Traumwelt des Bundestages – sogar einen eigenen Staat kriegen könnten, auf dem Gebiet, das noch nicht voll von Israel übernommen und kontrolliert ist.

In Wirklichkeit bildet die Ideologie der Hamas eben nicht den Kern des Problems. Als Revolutionär:innen haben wir diese immer abgelehnt. Wir treten für ein Programm der permanenten Revolution ein, für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln.

Der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert, ist mit einer solchen Lösung jedoch unvereinbar. Solange dieser Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben. Letztlich wird das Gebiet auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihres Regimes in Gaza. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von Zivilist:innen ab. Diese erleichtert es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und aller, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehören auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der Ausbruch der Palästinenser:innen am 7. Oktober war ein verzweifelter Aufstandsversuch Gazas nach Jahrzehnten der Isolierung, Aushungerung, Entrechtung, von Bombardements und Vertreibung. Er war und ist Teil des palästinensischen Widerstandes.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen daher keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Solidarität mit Palästina!

Dies setzt aber voraus, dass sich Revolutionär:innen angesichts des israelischen Angriffs und in einer Situation, in der die gesamte palästinensische Nation und jeder Widerstand dämonisiert wird, klar auf die Seite der Unterdrückten stellen. So notwendig eine linke Kritik an der Hamas als reaktionärer, islamistischer, antisemitischer Kraft ist, so wichtig ist es auch, ihrer medialen Dämonisierung entgegenzutreten. Es ist zionistische und westliche Kriegspropaganda, die Hamas und deren Agieren in Gaza mit dem Islamischen Staat gleichzusetzen. Die Hamas ist weder eine faschistische Kraft noch hat sie in Gaza ein „faschistisches“ Regime errichtet.

Das ändert nichts an ihrem zutiefst reaktionären Charakter. Natürlich haben ihre Führungen und Funktionär:innen die Verwaltung des Mangels unter ihrer Regie auch zur Bereicherung benutzt. Das unterscheidet sie aber nicht von anderen klerikalen und nationalistischen „Regimen“. Die Hamas ging natürlich auch repressiv gegen die eigene Bevölkerung vor – aber sie gestattete auch andere Gruppierungen des Widerstandes auf ihrer rechten wie linken (PFLP, DFLP) Seite.

Mit der Dämonisierung der Hamas sollen ein barbarischer Angriffskrieg – des Tötens bis zum letzten Mann! – und massive Repression in Ländern wie Deutschland legitimiert werden. Dabei werden alle Kämpfenden, alle Palästinenser:innen, die auch nur ihre Stimme erheben, pauschal zu „Hamas“ oder „Hamasunterstützer:innen“ erklärt.

Die Existenz anderer politischer Kräfte, insbesondere der palästinensischen Linken, wird solcherart dementiert. Auch sie erscheinen nur noch als „Hamas“. Nachdem alle Kämpfer:innen Hamas sind, werden alle auch gleich zu Dschihadisten und „Terroristen“ im Stile des Islamischen Staates. Der nationale Befreiungskampf wird so zu einem religiösen uminterpretiert, die palästinensische Bevölkerung wird rassistisch als „unzivilisierte“, „barbarische“ Meute diffamiert.

Eine erste Aufgabe von Internationalist:innen und Antiimperialist:innen in Deutschland und allen westlichen Ländern besteht angesichts der konzertierten Hetze darin, sich dieser demokratisch-imperialistischen Ideologie und Verkehrung entgegenzustellen.

Nein zur rassistischen Kriminalisierung!

Eine zweite, damit verbundene besteht in der Solidarität mit den Palästinenser:innen und ihrem Widerstand gegen dessen Kriminalisierung. Bundestag und Regierung unterstützen Israel im Krieg nicht nur mit Waffen und Propagandalügen, sie verschärfen auch die Repression.

Das ist natürlich nicht neu. Schon seit Jahren finden sich palästinensische Organisationen auf den „Terrorlisten“ der EU und Deutschlands, sind ihre Organisationen verboten, ihre demokratischen Rechte – wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und Organisationsfreiheit – massiv eingeschränkt. Sie können nicht offen auftreten, ihre Politik, Programmatik und Strategie darlegen oder verteidigen, sondern sind vielmehr gezwungen, in einer Art Sklav:innensprache ihre Überzeugungen verklausuliert vorzutragen.

Regelmäßig werden außerdem seit Jahren in Berlin und anderen Städten propalästinensische Demonstrationen und Kundgebungen über Wochen verboten; willkürlich werden Aktivist:innen festgenommen.

All das zielt schon seit Jahren darauf, alle politischen Strömungen des palästinensischen Volkes – insbesondere auch die Linken – zum Schweigen zu bringen.

Nun stehen wir, angesichts des Krieges gegen Gaza, vor einer neuen dramatischen Eskalation der Diffamierung und Repression.

  • Gegen Hamas soll ein Betätigungs- und gegen das Gefangenenhilfsnetzwerk Samidoun ein Vereinsverbot vom Innenministerium verhängt werden. So kann jede weitere organisatorisch-politische Tätigkeit unter Strafe gestellt werden.

  • In zahlreichen Städten wurden alle Demonstrationen und Kundgebungen, die in Solidarität mit Palästina stehen könnten, verboten. Hunderte Teilnehmer:innen wurden in den letzten Tagen festgenommen. Eine Verlängerung ist durchaus möglich und könnte über Wochen andauern.

  • Verboten sind außerdem auch zahlreiche Parolen des Befreiungskampfes, die als „antisemitisch“ diffamiert werden. Auch das Zeigen der palästinensischen Fahne wird kriminalisiert. Generell wird jede „israelkritische“ Äußerung als „Antisemitismus“ gebrandmarkt oder in dessen Nähe gerückt.

  • An Berliner Schulen wurde das Tragen der Kufiya, das Zeigen von Aufklebern und Stickern mit Aufschriften wie „Free Palestine“ oder einer Landkarte von Israel in den Farben Palästinas verboten.

  • Nachrichtendienste und Provokateur:innen werden verstärkt gegen alle Unterstützer:innen Palästinas eingesetzt werden.

  • Palästinenser:innen, Araber:innen und Muslimen, die keine deutschen Pässe haben, droht die Abschiebung bei antizionistischer oder antiimperialistischer Aktivität. Der antiislamische Rassismus tritt neuerdings unter dem Deckmantel der Solidarität mit Israel auf – und verharmlost zugleich den Antisemitismus der Rechten und imperialistischen, weißen Chauvinismus.

Und die deutsche Linke und Arbeiter:innenbewegung?

Bis auf recht wenige internationalistische und antiimperialistische Gruppierungen ergreift die deutsche Linke und bürokratisch geführte Arbeiter:innenbewegung, wenn auch wenig verwunderlich, die Seite des Unterdrückers. Wie SPD und LINKE stimmen auch die Gewerkschaftsspitzen in den Chor der Israelsolidarität ein und unterstützen das Massaker an den Palästinenser:innen.

Der Aushebelung demokratischer Rechte, Demonstrationsverboten und der Bespitzelung durch die Geheimdienste stimmen sie entweder zu oder sie hüllen sich in vornehmes Schweigen oder Relativierungen von Unterdrückten und Unterdrückenden.

Gegen den Strom!

In der aktuellen Lage müssen wir gegen den Strom von Hetze und Diffamierung ankämpfen. Das heißt, klare Kante gegen alle Vereins- und Versammlungsverbote zu zeigen und gegen den immer offeneren antipalästinensischen und antimuslimischen Rassismus in Deutschland Stellung zu beziehen. Wir unterstützen alle Aktionen und Kampagnen der linken und antiimperialistischen Kräfte, gemeinsam und koordiniert dagegen Protest und Widerstand zu organisieren.

  • Nein zu allen Demonstrationsverboten! Nein zum Verbot palästinensischer Organisationen und Vereine, ihrer Fahnen und Symbole! Nein zu allen Verboten an Schulen und im öffentlichen Raum!

  • Schluss mit der Kriminalisierung von Menschen, die für Palästina demonstrieren! Einstellung aller Verfahren und aller Überwachungs- und Bespitzelungsmaßnahmen!

Dies muss Teil des Kampfs für eine breite, auch von der Arbeiter:innenbewegung unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina sein. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass die proisraelische Stimmungslage in Deutschland nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.




Bergkarabach: Nein zur Vertreibung der Armenier:innen!

Lina Lorenz, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Vor den Augen der Weltöffentlichkeit eroberte Aserbaidschan innerhalb weniger Wochen die seit Jahren umkämpfte armenische Enklave Bergkarabach im Südkaukasus. Damit endet ein seit Jahrzehnten andauernder Konflikt zwischen den beiden Staaten Armenien und Aserbaidschan mit einer blutigen Niederlage der Armenier:innen.

Innerhalb von nur zwei Wochen besiegte Aserbaidschan die Truppen der völkerrechtlich nicht anerkannten Republik Arzach, die 1994, nach dem ersten Krieg, von den armenischen Bewohner:innen Bergkarabachs proklamiert worden war.

Angriff und Eroberung

Am 19. September startete Aserbaidschan einen großangelegten Angriff auf die Region und griff die Stellungen der ethnisch-armenischen Kräfte in Bergkarabach an. Innerhalb weniger Tage  wurden die Streitkräfte der Republik Arzach geschlagen, ihre Stellungen vernichtet und die Übergabe ihrer Waffen erzwungen. Weder der Staat Armenien noch die 2.000 Personen starke russische „Friedenstruppe“ kamen ihnen zu Hilfe.

Dem vorausgegangen war eine monatelange Blockade des Latschin-Korridors. Dieser stellt die einzige Landverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien dar und ist die einzige Möglichkeit, die in Bergkarabach lebenden Armenier:innen mit ausreichend Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen. Dies war durch die Blockade über Monate nicht mehr möglich. Die Bevölkerung in Bergkarabach wurde quasi ausgehungert.

Bei der militärischen Auseinandersetzung waren die Karabacharmenier:innen nicht nur dramatisch in der Unterzahl, sondern auch durch die vorangegangenen Blockaden unterversorgt und geschwächt. Daher waren sie und ihre international nicht anerkannte Republik Arzach nach nur einem Tag zur Aufgabe gezwungen. Der aserbaidschanische Präsident Alijew verkündete, dass die angeblichen „Antiterrormaßnahmen“ gegen die armenischen Separatist:innen erfolgreich beendet seien und, die Souveränität des Landes wiederhergestellt zu haben. In einer Rede an die Nation ließ er verlauten, Bergkarabach sei komplett unter seiner Kontrolle.

Bei den Angriffen wurden hunderte Menschen umgebracht, darunter auch viele Zivilist:innen. Rund 85.000 Menschen – etwa zwei Drittel der Einwohner:innen Arzachs – sind mittlerweile geflohen, zum größten Teil nach Armenien. Das Regime von Aserbaidschan setzt auf diese ethnische Säuberung, um nicht nur Bergkarabach voll in das Staatsgebiet zu integrieren, sondern auch um durch die Vertreibung der armenischen Bevölkerung jeden zukünftigen Widerstand zu unterbinden.

Das Alijew-Regime lässt keinen Zweifel daran, dass es die Armenier:innen loswerden möchte. Im Staatsfernsehen wird von ihnen als „Ungeziefer“ gesprochen und Politiker:innen erklärten während des zweiten Bergkarabachkonflikts, man müsse Armenier:innen wie Hunde aus Bergkarabach verjagen. Auch die aserbaidschanischen Soldat:innen, die sich nun dort befinden, sind mit antiarmenischem Hass aufgewachsen. Ein brutales Vorgehen der aserbaidschanischen Truppen in Bergkarabach könnte dem Alijew-Regime sogar nutzen, sich innenpolitisch zu festigen.

Unter diesem Druck sahen sich die Behörden Bergkarabachs zur vollständigen Kapitulation gezwungen. Am 28. September 2023 erklärten sie die vollständige Auflösung der Republik Arzach bis zum 1. Januar 2024.

Derweil sieht die „Weltgemeinschaft“ tatenlos zu. Die „Schutzmacht“ Russland wäscht ihre Hände in Unschuld, die Türkei feiert den Sieg der „Brüder“ und legt mit der Forderung nach einem Korridor zwischen Aserbaidschan und der azerischen Enklave Nachitschewan nach.

Das verdeutlicht, dass die Eroberung Bergkarabachs längst nicht das Ende der nationalen Gegensätze bedeutet und weitere Kriege folgen könnten. Der Kaukasus gleich dabei dem Balkan, wo sich Konflikte zwischen den Staaten und ihren nationalistischen Führungen mit dem Kampf zwischen Groß- und Regionalmächten um geostrategischen und ökonomischen Einfluss verbinden. Vor diesem Hintergrund muss auch die Geschichte des Konflikts betrachtet werden.

Hintergrund des Konflikts

Nach Ende der Sowjetunion wurde Bergkarabach Aserbaidschan zugesprochen und wird auch international als dessen Teil anerkannt. Die armenische Bevölkerung war aber schon damals nicht einverstanden damit. In den Jahren 1992 – 1994 spitzte sich der Konflikt zu und es kam zu einem offenen Krieg. Dabei gelang es den militärischen Verbände Bergkarabachs, unterstützt von Armenien, die Enklave zu verteidigen und zusätzliche Gebiete Aserbaidschans zu erobern. Die von Armenier:innen kontrollierten Gebiete vergrößerten sich also, sodass eine Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach entstand. Diese Gebiete wurden damals nicht nur annektiert, sondern auch viele Azeris vertrieben. Die Unabhängigkeitserklärung der Republik Bergkarabach, die später in Republik Arzach umbenannt wurde, erfolgte schon 1991, also vor dem Krieg. Seit dem Ende des ersten Krieges war Arzach dann auch de facto selbstständig. Seither wurde eine eigene Regierung gewählt und die Region über 30 Jahre unabhängig verwaltet.

Als es 2020 zum zweiten Krieg kam, wendete sich das Blatt. Die Republik Arzach erlitt dabei trotz Unterstützung durch Armenien große Gebietsverluste. Aserbaidschan verfügt, anders als Armenien, über große Öl- und Gasvorkommen und konnte die durch den Export eingenommenen Devisen für Rüstungsausgaben verwenden. Diese übertrafen die Armeniens in den letzten Jahren um ein Vielfaches. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Aserbaidschan einen großen Teil Bergkarabachs und angrenzender Gebiete zurückeroberte, die zuvor von armenischen Streitkräften gehalten worden waren. Russland vermittelte damals einen Waffenstillstand und nutzte die Gelegenheit, eine Friedenstruppe von mehreren tausend Soldat:innen in der Gegend zu stationieren. Diese blieben aber sowohl bei der monatelangen Blockade des Latschin-Korridors als auch beim aktuellen militärischen Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach untätig. Dabei hätten die russischen Friedenstruppen dafür sorgen sollen, dass das 2020 ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen eingehalten wird. Neben dem armenischen und aserbaidschanischen Staatsoberhaupt hatte es damals auch der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet. Das Abkommen sollte die Existenz der Republik Arzach sichern.

Kräfteverhältnis im Südkaukasus

Für Armeniens Regierung unter Premierminister Nikol Paschinjan könnte die aktuelle Lage zu einer Zerreißprobe werden. Viele Armenier:innen protestieren gegen ihn und werfen ihm vor, dass die Regierung Armeniens Bergkarabach hätte schützen können. Sie sind wütend, dass Paschinjan sich aus den Kämpfen raushielt und erklärte, sich nicht einmischen zu wollen. Der weitere Umgang mit der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach wird zeigen, ob er sich im Amt halten kann. Am 23. September verkündete er, dass 40.000 Plätze für Geflüchtete aus Bergkarabach vorbereitet seien. Eine komplette Evakuierung der Karabacharmenier:innen würde aber sicherlich eine große Herausforderung darstellen.

Die Proteste in der armenischen Hauptstadt Jerewan (Eriwan) richten sich auch gegen Russland, das lange Zeit als Schutzmacht Armeniens galt. Jetzt fühlen sich viele Armenier:innen im Stich gelassen. Russland hat nicht nur die Blockade des Latschin-Korridors zugelassen, sondern auch beim Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach tatenlos zugesehen, obwohl Armenien Teil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist – von Russland dominierten wirtschaftliche, politischen und militärischen Bündnissen.

Dass Russland Arzach fallengelassen hat, kann sicherlich zum Teil mit seiner Fokussierung auf den Krieg in der Ukraine erklärt werden. Daneben hängt das Vorgehen aber auch mit veränderten Interessen in der Region zusammen. Russland unterhielt schon lange enge wirtschaftliche Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan. Es verkaufte an beide Seiten Waffen und fungierte als Vermittler zwischen ihnen. Momentan scheint es zu einer Verschiebung in dieser Konstellation zu kommen. Im autoritären Präsidenten Alijew scheint Putin zunehmend einen gewinnbringenden Verbündeten gefunden zu haben, um neue Transportwege zu erschließen und wirtschaftliche Beziehungen zu dem heute wesentlich reicheren Aserbaidschan zu pflegen. Formell ist Russland zwar immer noch Verbündeter Armeniens, de facto scheinen sich aber die Beziehungen zu Aserbaidschan zu vertiefen.

Doch nicht nur Russland, auch die Türkei und zunehmend auch westliche imperialistische Mächte verfolgen wirtschaftliche Interessen im Südkaukasus. Die Türkei ist für Aserbaidschan langjährige Verbündete, liefert ausschließlich an Aserbaidschan Waffen und unterstützte den Einmarsch in Bergkarabach. Der türkische Präsident Erdogan machte in einer Rede vor der UN-Vollversammlung die armenische Regierung für die Eskalation des Konflikts verantwortlich, da diese die Chance für Verhandlungen nicht genutzt habe.

Die Türkei unterstützt also nach wie vor die von ihr als legitim erachteten Schritte Aserbaidschans gegen Bergkarabach, das als aserbaidschanisches Territorium angesehen wird. Allerdings könnte sie auch versucht sein, die Lücke, die Russland in Armenien hinterlässt, mit ihrem Einfluss zu füllen. Sicherlich wäre die Öffnung der Grenze zu Armenien auch für die Türkei wirtschaftlich gewinnbringend und würde die Möglichkeit für vermehrte Exporte bieten. Doch Armenien und die Türkei verbindet eine Geschichte lange Feindschaft. Bis heute weigert sich Erdogan, die Massaker an der armenischen Bevölkerung durch das Osmanische Reich während des ersten Weltkrieges als Völkermord anzuerkennen. Für die Beziehungen bezeichnend ist das Monument der „Mutter Armenien“, das auf einem Hügel über der armenischen Hauptstadt Jerewan thront. Es zeigt eine heroische Frauenstatue, die von Panzern flankiert ist und mit festem Griff um ihr Schwert und entschlossenem Blick Richtung Türkei, deren Grenze sich in Sichtweite des Monuments befindet, schaut. Zugleich gab es auch immer wieder Versuche, die Beziehung beider Länder zu normalisieren und Schritte in Richtung Öffnung der Grenze zu gehen. So gratulierte Paschinjan auf Twitter zur Wiederwahl Erdogans und betonte seinen Wunsch nach Normalisierung der Beziehungen und weiterer Zusammenarbeit.

Im Vergleich zu Russland und der Türkei hat die EU im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan bislang nur eine recht geringe Rolle gespielt. Anfang diesen Jahres richtete sie eine zivile Mission in Armenien ein. Dann sprachen sich die EU sowie die Bundesregierung für diplomatische Verhandlungen aus. So ließ Bundesaußenministerin Baerbock in einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York zur Lage in Bergkarabach verlauten, dass jetzt die Zeit zur Deeskalation gekommen sei. Andererseits unterzeichnete die EU im vergangenen Jahr ein Gasabkommen mit Aserbaidschan, wobei dieses von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als „entscheidender Partner“ bei der Bewältigung der Energiekrise bezeichnet wurde.

Wie sich die politische Lage in der Südkaukasusregion verändert, wird sich zeigen. Fakt ist aber, dass sowohl Russland, die Europäische Union, die USA, die Türkei und der Iran Interessen in der Region verfolgen. Auch ist gewiss, dass es eine Verschiebung der bisherigen Beziehungen gibt. Armeniens Ministerpräsident Paschinjan bedauert, sich allein auf Russlands Unterstützung verlassen zu haben. „Armeniens Sicherheitsarchitektur war zu 99,999 Prozent mit Russland verbunden“, äußerte er Anfang September. Er bezeichnete dies als strategischen Fehler und will nun ein gemeinsames Militärmanöver mit den USA abhalten.

Angesichts des erneut eskalierenden Konflikts in Bergkarabach wird deutlich, dass auch der Südkaukasus einen Schauplatz imperialistischer Machtinteressen darstellt. Wie sich diese zukünftig verschieben und ob sich das Eskalationspotenzial auch auf andere Regionen ausdehnt, wird sich zeigen. So gibt es beispielsweise mit Abchasien und Südossetien zwei unabhängige Regionen auf dem Gebiet Georgiens, deren Souveränität zwar von den wenigsten Staaten international anerkannt wird, die sich allerdings mit Hilfe russischer Truppen der Kontrolle von Georgien entziehen und damit de facto unabhängige Republiken darstellen. Der Konflikt um diese Regionen ist somit zwar momentan eingefroren, schwelt aber sicherlich immer noch.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns klar gegen die Einflussnahme imperialistischer Mächte, die bestehende Konflikte für die Durchsetzung ihrer Interessen nutzen, stellen. Das bedeutet, dass wir uns auch gegen geostrategische Interventionen der Türkei und Russlands stellen müssen, aber natürlich auch gegen die der EU und unserer eigenen Regierung, die schon seit Jahren versuchen, in Georgien Einfluss zu nehmen. So ist es seit 2014 Teil der Vertieften und umfassenden Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area; DCFTA) und plant langfristig einen Beitritt zur EU. Wir müssen hier klar eine Antikriegsperspektive aufzeigen und der Arbeiter:innenklasse verdeutlichen, dass sie in der Zusammenarbeit mit imperialistischen Mächten nichts als Abhängigkeit gewinnen kann. Nur eine unabhängige Arbeiter:innenklasse, die sich international organisiert, kann die Konflikte in der Region langfristig befrieden.

Lage in Armenien und Aserbaidschan

Den Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach müssen wir eindeutig als reaktionär charakterisieren. Die armenische Bevölkerung Bergkarabachs ist eine unterdrückte Nation, deren Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten wird. Und sie hat zweifellos ein Recht auf Selbstbestimmung und -verteidigung und sollte selbst entscheiden können, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich Armenien bzw. Aserbaidschan anschließen möchte.

Wir müssen die Proteste gegen den reaktionären Angriff Aserbaidschans also unterstützen, sollten aber gleichzeitig deren nationalistischen Charakter kritisieren. Die momentanen in der armenischen Hauptstadt Jerewan richten sich hauptsächlich gegen den amtierenden Premierminister Paschinjan und gegen seine regierende Partei „Zivilvertrag“. Die Proteste werden u. a. vom Oppositionsblock „Mutter Armenien“ dominiert, dessen Vorsitzender Andranik Tewanjan am vergangenen Freitag bei den Protesten vorübergehend festgenommen wurde. Dieser fordert den Rücktritt des amtierenden Premierministers. Er stellet aber selbst ebenso wenig eine fortschrittliche Alternative dar und umfasst armenisch-nationalistische bis liberale Kräfte. Teile der Opposition unterstützen auch den ehemaligen Premierminister Robert Kotscharjan, der als Spitze des nationalkonservativen Bündnisses „Armenien“ wieder zu Wahlen antritt.

Wir müssen diesem Nationalismus entschieden entgegentreten. Denn wozu dieser führen kann, zeigte sich während des zweiten Bergkarabachkrieges. In den 1990er Jahren wurden vom armenischen Nationalismus aserbaidschanische Gebiete brutal erobert, was in Massakern ganzer Dörfer gipfelte. Auch hier kam es zu Vertreibung und ethnischen Säuberungen aserbaidschanischer Siedlungsgebiete. Die armenische Arbeiter:innenklasse und die Linke müssen somit das Recht auf Selbstbestimmung verteidigen, sie dürfen sich aber nicht vor den Karren des Nationalismus oder imperialistischer „Freund:innen“ Armeniens spannen lassen.

Doch nicht nur die armenische Arbeiter:innenklasse, vor allem auch jene in Aserbaidschan steht vor großen Aufgaben. Sie muss sich klar gegen die Eroberungspolitik „ihrer“ Regierung und den nationalistischen Siegestaumel im Land stellen. Die Eroberung Azachs und die Vertreibung der Armenier:innen müssen als das angeprangert werden, was sie sind: ein brutaler Eroberungskrieg der herrschenden Klasse, der nur zur Festigung ihres Regimes dienen wird. Nur wenn die Arbeiter:innen klar für das Recht auf Rückkehr und Selbstbestimmung der Armenier:innen eintreten, können sie auch einen eigenen Klassenstandpunkt gegen „ihre“ Bourgeoisie und deren russischen, türkischen und europäischen Verbündeten einnehmen.

Nur wenn dem Nationalismus in Armenien und Aserbaidschan ein Programm, das eine Lösung der drängenden sozialen Fragen bereithält, entgegengestellt wird, kann der Arbeiter:innenklasse aufgezeigt werden, dass der Nationalismus keine zufriedenstellenden Antworten für sie bereithält. Wir müssen also für den Aufbau von Arbeiter:innenparteien eintreten, die für das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen kämpfen, dies aber im Kontext des Internationalismus tun. Dabei muss klar sein, dass die nationale nur im Zusammenhang mit der Klassenfrage gelöst werden kann. Denn im Kapitalismus, der immer wieder zu Krisen, Arbeitslosigkeit und Armut führt, können nur reaktionäre, nationalistische oder rassistische Scheinlösungen gefunden werden. Daher treten wir für die Bildung einer sozialistischen Föderation der Staaten des Kaukasus ein, die offene Grenzen und die Rückkehr aller Vertriebenen ermöglicht. Denn nur sie ist in der Lage, dem Kapitalismus seine Grundlagen zu entreißen, die Produktivkräfte zu enteignen und unter Arbeiter:innenkontrolle demokratisch zu planen.




Сексизмът убива, власта прекрива! Sexismus tötet, Macht korrumpiert!

… und die Regierung vertuscht das Problem: Protestwelle in Bulgarien gegen Gewalt gegen Frauen

Leonie Schmidt, Infomail 1230, 5. September 2023

Nach einem versuchten Femizid im Juni 2023 in Bulgarien, bei welchem eine 18-Jährige von ihrem Ex-Freund mit 21 Wunden durch ein Teppichmesser zugerichtet und mit Knochenbrüchen übersät wurde, flammte eine Protestwelle gegen Gewalt gegen Frauen auf. Besonders schockierend für die Protestierenden: Der mutmaßliche Täter kam einige Tage später wieder auf freien Fuß und wurde wegen angeblich „leichter“ Verletzungen des Opfers freigesprochen!

Seitdem gehen die Menschen auf die Straße. Das ist gerade für dieses Land etwas Ungewöhnliches, denn wie Organisator:innen des 8. März berichteten, kamen in den vergangenen Jahren nur wenige Personen zu ihren Kundgebungen. Jedoch begann die Entwicklung, dass es mehr und mehr Leute auf Proteste für Frauenrechte zog, bereits 2018, nachdem ein Schulmädchen mit Säure überkippt wurde. Auf den aktuellen Protesten sind vor allem junge Akivist:innen anzutreffen. Veranstaltet wird das Ganze unter anderem von der Organisation Feminist Mobilization. Sie fordert in erster Linie eine Verschärfung der Gesetzeslage, denn zum Zeitpunkt der Tat gab es noch nicht einmal einen Paragraphen, welcher häusliche Gewalt im Strafgesetzbuch definierte. Aber in ihren Reihen finden sich auch Personen, die einen Kampf gegen Kapital und patriarchale Strukturen fordern.

Druck auf die Regierung wirkt – oder?

Mittlerweile hat sich die europaorientierte rechte Regierung Bulgariens dazu bequemt, einige Gesetzesänderungen durchzuführen. Täter und Betroffene müssen nun nicht mehr zusammenwohnen, damit es sich um häusliche Gewalt handelt. Eine zweite Reform wurde trotz Sommerpause durchgebracht: Künftig gilt es als Beziehungstat, wenn Täter und Opfer seit mindestens 60 Tagen in einer „intimen Beziehung“ zueinander stehen. Das ist offensichtlich ein Gesetz, das viele Schlupflöcher für die Täter beinhaltet. Die Tat ist nicht weniger schlimm, wenn sie am 40. Tag oder 1. Tag passierte. Der Nachweis, wann die Beziehung begann und ob es sich wirklich um eine intime (also sexuelle) Beziehung handelt, ist unfassbar schwierig. Wenn man als Betroffene vor Gericht eine Chance haben will, braucht man also einen guten anwaltlichen Beistand, den sich besonders Frauen der Arbeiter:innenklasse wohl kaum leisten können.

Aber dass es nun zu so einer Laissez-faire-Reform kommt, ist leider nicht verwunderlich: In Bulgarien richten sich Politiker:innen nicht erst seit heute gegen Frauen und explizit Betroffene häuslicher Gewalt. Seit Jahren mobilisieren rechte Parteien, aber auch die sog. sozialistische Partei Bulgariens, die linksnationalistisch und linkspopulistisch einzuordnen ist, gegen die Istanbul Konvention (ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), da damit die Grundlage zur Einführung für die „Ehe für alle“ geschaffen werden würde.

Warum es zu häuslicher Gewalt kommt

Um einen effektiven Weg zur Bekämpfung häuslicher Gewalt zu finden, muss erst einmal geklärt werden, wie es überhaupt dazu kommt. Kleinbürgerliche Feminist:innen versuchen, das entweder mit der Natur des Mannes oder der Rückschrittlichkeit der Kultur oder Klasse zu erklären, in welchen die Gewalt stattfindet. Als Marxist:innen ist uns bewusst, dass häusliche Gewalt nur mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse erklärt werden kann. Denn sie findet nicht außerhalb der Gesellschaft statt, das Private ist nicht einfach unpolitisch, im Gegenteil: Häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter:innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche Waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter:innenklasse als Ganze neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter:innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Betrachten wir Bulgarien, so geht es vor allem um die Auswirkungen der Krise. Die Frauen müssen auch Lohnarbeit nachgehen, um die Existenz der Familie abzusichern, während gleichzeitig der Lohn des Mannes nicht mehr zu deren Ernährung ausreicht. Hinzu kommen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innnenklasse und die sozialen Absicherungen wie Sozialleistungen oder Krankenkassen, um die Profite des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern und dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken. Solche Krisen sind ein Kennzeichen für die Periode, in welcher wir uns aktuell befinden.

Die Krise der Familie bildet also die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter:innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage dringt. Somit kann sich der Täter noch ein letztes Mal über das Opfer stellen.

Durch diese Analyse wird also auch klar, warum die herrschende Klasse gar kein Interesse hat, grundlegend gegen häusliche Gewalt vorzugehen, denn auf der einen Seite gehört die Einsparung im Sozialsicherheitssystem schließlich zum Rettungsschirm des Finanzkapitals und auf der anderen Seite müsste sie sonst die Institution der bürgerlichen Familie angreifen, welche zu den Grundfesten des kapitalistischen Systems gehört. Des Weiteren ist es auch im Sinne des herrschenden Klasse, wenn Frauen auch in ihrer Familie unterdrückt bleiben und sich nicht von ihren Geschlechterrollen zu befreien versuchen. Diesen Punkt kann man gut erkennen an den Teilen der herrschenden Klasse Bulgariens, welche an der bürgerlichen Familie festhalten wollen, indem sie sich gegen die Istanbuler Konvention stellen. Diese Analyse macht auch klar, warum besonders die Ärmsten und am stärksten unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse von jener Gewalt betroffen sind.

Lage in Bulgarien

Schauen wir uns nun die Lage in Bulgarien an. Tatsächlich gilt dies als ärmstes Land der EU. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei der Hälfte des EU-weiten Durchschnitts. 2022 betrug das jährliche  BIP/Kopf 13.079 Euro gegenüber 25.650 in der EU und 29.180 in der Euro-Zone. Des weiteren stagnieren die Löhne und Gehälter auf einem niedrigen Niveau. Interessant ist diesbezüglich auch, dass der Dienstleistungssektor dominiert: Vor allem outgesourcter Kundendienst in Form von Callcentern für imperialistische Staaten ist hier ansässig, welcher die Lohnabhängigen hier noch mehr ausbeuten kann. Dementsprechend müssen die Löhne auch auf einem derartig niedrigen Niveau bleiben, damit sich das Outsourcing für die Imperalist:innen der EU überhaupt lohnen kann.

Über 2,2 Millionen Lohnabhängige (mehr als die Hälfte!) verkaufen ihre Arbeitskraft in anderen EU-Ländern. Viele Frauen, welche aus Bulgarien emigrieren, übernehmen in reichen imperialistischen EU-Staaten Carearbeit im Niedriglohnsektor, also als Putzkräfte, Krankenpflegerinnen und so weiter. Auch hier sind sie vor ökonomischer Abhängigkeit, Gewalt und Ausbeutung nicht sicher, im Gegenteil. All das verdeutlicht die halbkolonialen Verhältnisse in Bulgarien.

Hinsichtlich der Gewalt gegen Frauen in Bulgarien kann festgehalten werden, dass jede 3. Frau laut Befragungen bereits Opfer partnerschaftlicher Gewalt wurde. Des Weiteren wurden dieses Jahr bereits 14 Frauen Oper von Femiziden (Stand: August 2023). Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken, dass dies keine offiziellen Zahlen sind, da in Bulgarien diese von niemandem/r erhoben werden. Lediglich Frauenrechtsorganisationen sammeln sie. Dementsprechend ist also auch klar, dass die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte. Denn wie bereits eingangs erwähnt, gab es vor der aktuellen Protestwelle noch nicht einmal eine Definition im Strafgesetzbuch hinsichtlich häuslicher Gewalt!

Außerdem ist die sozialstaatliche Absicherung in Bulgarien besonders prekär, was Frauen am meisten trifft. Es fehlt an Kindergartenplätzen, was dazu führt, dass sie gezwungen sind, sich entweder unbezahlt „freizunehmen“, um ihre Kinder zu betreuen, oder flexiblere Arbeitsverhältnisse inklusive besonders schlechter Bezahlung anzunehmen. So oder so werden sie damit umso mehr an ihre Familie und ihre potentiell gewalttätigen Oberhäupter gebunden.

Perspektive der Proteste

Obwohl die Regierung versucht, durch Reformen die Protestierenden ruhigzustellen, gehen diese weiterhin auf die Straße und bringen auch antipatriarchale und antikapitalistische Forderungen mit ein, werfen die Frage auf, wem es am Ende nützt, dass Gewalt gegen Frauen herrscht und diese nur mehr als unzureichend vom bürgerlichen Staat bekämpft wird. Klar ist, die Proteste dürfen nicht bei dieser einen Frage stehen bleiben. Es gilt, eine breite Massenbewegung aus Frauen, Lohnabhängigen, und sozial Unterdrückten aufzubauen, welche für klare Forderungen und ein klares Programm hinsichtlich der Unterdrückung von Frauen und LGBTIA+-Personen eintritt. Hierbei müssen auch die Gewerkschaften aufgefordert werden, sich zu beteiligen. Des Weiteren darf diese Bewegung auch nicht im nationalen Rahmen stehen bleiben, sondern muss international aufgebaut werden. Diese Forderungen könnten sein:

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben. Frauenhäuser müssen vom Staat finanziert, aber von den Frauen selbst verwaltet werden.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Natürlich dürfen wir uns aber auch keine Illusion machen, dass wir patriarchale Gewalt im Kapitalismus einfach wegreformieren könnten. Es gilt, den Kapitalismus mitsamt seinen Institutionen zur Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Arbeiter:innenklasse zu zerschlagen und für eine solidarische Gesellschaft auf Basis von vergesellschafteter und demokratisch geplanter Produktion und Reproduktion sowie Rätemacht einzutreten. Das heißt auch, dass das Ideal der bürgerlichen Familie dann das Zeitliche gesegnet hat und sich Rollenbilder auflösen werden dadurch, dass die Reproduktionsarbeit bspw. durch gemeinsame Mensen und Waschküchen vergesellschaftet wird. Dazu braucht es mehr als Bewegungen – eine politische Kraft, die gegen alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung führt, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Freiheit für Boris Kagarlitsky!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1229, 29. Juli 2023

Am 25. Juli wurde der russische Marxist, Soziologe und linke Kritiker des Putin-Regimes, Boris Kagarlitsky, vom russischen Geheimdienst FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation; Inlandsgeheimdienst) festgenommen und inhaftiert. Das Gericht in Syktywkar (Hauptstadt der Republik Komi; Nordwestrussland) ordnete eine Untersuchungshaft bis zum 24. September an. Nach Berichten des linken Internetportals Rabkor (Arbeiter:innen-Korrespondenz) wird ihm die Rechtfertigung des Terrorismus und Propaganda für diesen vorgeworfen, wofür ihm bis zu fünf Jahre Haft drohen.

Die Anklage ist an den Haaren herbeigezogen. Sie wirft auch ein grelles Licht auf die Methoden des russischen Regimes, die an die Fabrikationen des Zarismus und Stalinismus erinnern. Als Vorwand für seine Verhaftung dient ein Telegram-Post, das Kagarlitsky am 8. Oktober 2022 nach dem Anschlag auf die Krimbrücke veröffentlicht hatte und wo er das Objekt als strategisch und symbolisch bezeichnet, das die Größe und Macht des Putin-Regimes manifestieren sollte – ein Prestigeprojekt, das die Fähigkeit des russischen Staates zeigen sollte, trotz Ineffektivität, Korruption und Plünderung der Massen „Großes“ zu leisten.

Der Anschlag auf eines der bestbewachten Bauwerke der Welt war daher, so Kagarlitsky, auch ein Schlag, der die Schwächen und Verwundbarkeit des russischen Despotismus offenbarte.

Das reichte als Vorwand für die Festnahme und Anklageerhebung. Es ist kein Zufall, dass einer der wenigen im Land verbliebenen offenen Kritiker:innen des Putin-Regimes und des reaktionären imperialistischen Angriffskriegs jetzt festgenommen wurde. Seit dem Wagner-Putsch verschärft der Staatsapparat die Verfolgung von Oppositionellen aller Richtungen, darunter rechten, monarchistischen, aber auch linken Kräften.

Zweifellos handelt es sich dabei um einen politischen Akt, der nicht nur Boris Kagarlitsky zum Schweigen bringen, sondern die gesamte linke und sozialistische Opposition weiter einschüchtern soll. Kagarlitsky selbst ist nicht nur ein marxistischer Soziologe und Analyst, sondern war auch einer der wenigen bekannten linken Oppositionellen, der sich von Beginn an eindeutig gegen den russischen Angriff auf die Ukraine aussprach und die sog. Spezialoperation Krieg nannte. Er verwies von Beginn an besonders stark auf die

inneren Widersprüche des russischen Kapitalismus, die zum Krieg geführt hätten. Dabei legte er unserer Meinung nach zu wenig Augenmerk auf andere Kriegsursachen, insbesondere auf den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen alten und neuen Großmächten, der sich gerade in der Ukraine manifestierte. Doch das war und ist für das Putin-Regime zweifellos nebensächlich. Ihm gelten alle Kriegsgegner:innen als Vaterlandsverräter:innen.

Anders als viele eher liberal eingestellte russische Linke kritisierte Kagarlitsky 2014 das prowestliche, aus dem Maidan hervorgegangene reaktionäre Regime in Kiew, das sich auf rechte und faschistische Kräfte stützte, scharf. Er solidarisierte sich zu Recht mit den Gewerkschafter:innen, die in Odessa ermordet wurden, wie auch mit dem Widerstand in Donezk und Luhansk. Das macht ihn jedoch nicht blind gegenüber dem reaktionären imperialistischen Angriff Russlands, den er von Beginn an scharf verurteilte.

Genau diese Haltung machte ihn zu einem Ziel des Putin-Regimes – und zwar schon lange vor dem Krieg. 2018 wurde das von ihm geleitete Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen als ausländische Agentur eingestuft. Im April 2022 wurde er persönlich auch vom russischen Staat als „ausländischer Agent“ kategorisiert – und damit seine Arbeit drastisch eingeschränkt.

Auch wenn sich Kagarlitsky nach anfänglichen Sympathien für den Trotzkismus in den 1980er und 1990er Jahren vom revolutionären Marxismus entfernte und die marxistische Staats- und Revolutionstheorie, insbesondere die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, ablehnte, so blieb er immer ein lesens- und überdenkenswerter Analytiker und Kämpfer. Schon unter dem Stalinismus betätigte er sich oppositionell, was noch unter Breschnew zu Festnahmen und Haft führte. Ähnlich erging es ihm unter der Jelzin-Ära. 2021 saß er wegen Protesten gegen die Dumawahl 10 Tage im Gefängnis. Offenkundig schloss er auch mit dem Putin-Regime keinen Frieden.

Die Festnahme und Anklage gegen Boris Kagarlitsky hat zu einer breiten internationalen Solidarisierung geführt, der sich alle linken, kommunistischen, sozialistischen und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung anschließen sollten. Doch nicht nur Boris, die gesamte russische Antikriegsbewegung und insbesondere alle linken Kräfte, die sich gegen die Diktatur Putins, gegen Terror und Repression im Inneren und den Krieg gegen die Ukraine wenden, brauchen unsere Unterstützung!

  • Freiheit für Boris Kagarlitsky! Solidarität mit der russischen Antikriegsbewegung! Freilassung für alle festgenommen Kriegsgegner:innen!

  • Rücknahme aller sog. Antiterrorgesetze und Einschränkungen des Demonstrations- und Versammlungsrechts!



Nein zur Kündigung von Inés: Gewerkschaftlich gegen Union Busting organisieren!

REVOLUTION, ursprünglich veröffentlicht auf https://onesolutionrevolution.de, Infomail 1228, 20. Juli 2023

Inés ist Sozialarbeiterin an einer Berliner Schule und aktives Mitglied der GEW und jungen GEW. Am 10.07.2023 wurde sie seitens ihres Trägers Technische Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft (tjfbg) außerordentlich und fristlos gekündigt. Grund dafür war die Tatsache, dass sie ihre Kolleg:innen über eine Kundgebung gegen die geplanten Sparmaßnahmen im Neuköllner Sozialetat informiert hat.

Mit der rechtlich absolut haltlosen Kündigung versucht der Träger gewerkschaftliches und politisches Engagement im Betrieb zu verhindern und an Inés ein Exempel zu statuieren. Kolleg:innen sollen eingeschüchtert werden. Der Träger will uns zeigen, was uns droht, wenn wir den Mund aufmachen. Getroffen hat es Inés, aber gemeint sind wir alle, die sich unseren Betrieben, Schulen und Unis für bessere Arbeitsbedingungen und gegen sozialen Kahlschlag einsetzen. #WirsindInés

Umso wichtiger ist es nun, dass diese Gewerkschaftsfeinde nicht mit ihrer miesen Nummer durchkommen. Wir solidarisieren uns mit Inés und fordern die Rücknahme der Kündigung seitens der Geschäftsführung und Geschäftsführer Thomas Hänsgen!

Die junge GEW Berlin hat eine Petition zur Unterstützung ihrer Kollegin gestartet. Wir rufen euch dazu auf, diese zu unterzeichnen:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLScZFsRwzEuusmSerFPma0t876gnrCjKP48nChprnrmO3C7T4Q/viewform

Die Petition hat bereits etliche Unterschriften bekommen und setzt den Träger vermutlich bereits stark unter Druck. Dennoch braucht es weitere Schritte. Wenn die GEW tatsächlich die Interessen der Angestellten gegenüber den Bossen vertreten will, muss sie sich als Ganzes mit Inés solidarisieren und öffentlichkeitswirksam hinter ihre Kollegin stellen. Es braucht Solidaritätsaktionen in unseren Schulen – und insbesondere in der Schule von Inés – zu der die GEW Berlin mit voller Stärker mobilisiert.

Auch in den kommenden Streiks für den Tarifvertrag Gesundheit und den Tarifvertrag der Länder muss sich gegen das gewerkschaftsfeindliche Handeln des Trägers ausgesprochen werden. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass der tjfbg mit seinem hinterhältigen Union Busting nicht durchkommt. Gemeinsam können wir die Erfahrung machen, dass unsere Solidarität stärker ist, als die Kündigungsversuche der Bosse. Gemeinsam können wir damit noch viel mehr Kolleg:innen ermutigen, sich für bessere Lern- und Lehrbedingungen in unseren Schulen einzusetzen!




Letzte Generation und Antifa Ost: Demokratische Grundrechte verteidigen!

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Was haben Antifa Ost und die Letzte Generation gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Die einen haben sich auf der Straße festgeklebt, um den Verkehr aufzuhalten – gegen den Klimawandel, für das 9-Euro-Ticket. Antifa Ost hat Nazis angegriffen. Klimaschutz und Antifaschismus: zwei Themen, die links besetzt sind, aber sehr gerne auch von Bürgerlichen aufgegriffen werden, wenn sie sich fortschrittlich und cool fühlen wollen, anstatt rechte Stammtischparolen nachzuäffen. Das ist aber nicht ihre Gemeinsamkeit. Es ist die staatliche Repression, die beide Bewegungen erfahren (haben).

Woher kommt das?

Die Liste kann noch verlängert werden. Lina und die Letzte Generation sind nur die populärsten Beispiele. Ob die Verbote der Palästinasolidarität in Berlin, die Räumung von Lützerath oder Angriffe auf das Streikrecht: Sie alle finden statt unter zugespitzten gesellschaftlichen Verhältnissen. Denn von der progressiven „Fortschrittskoalition“ von Grünen, SPD und FDP bleibt aktuell nicht viel übrig.

Stattdessen hat sich der Rechtsruck erneut verschärft. Die Ursache dabei ist zweierlei. Zum einen übt das weltpolitische Geschehen natürlich Einfluss auf das Geschehen in Deutschland aus. Seit Beginn des Ukrainekrieges, der eine Verschärfung des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt markiert, weht ein anderer Wind. Während im Wahlkampf die Grünen noch Werbung mit der Friedenstaube in U-Bahnhöfen plakatierten, gibt es fast keine/n aus ihrer Führung, die/der nicht ein Bild in Militäruniform in der Ukraine von sich in den Weiten des Internets verbreitet.

Dabei geht es nicht nur um Waffenlieferungen und das Versprechen, die westliche Demokratie in der Ukraine zu verteidigen. Im Rahmen dessen steigt auch die Erfordernis, das Geschehen innerhalb des eigenen Nationalstaates unter Kontrolle zu halten. Somit werden innerhalb der letzten Monate immer neue Maßnahmen zur Steigerung der „Sicherheit“ ergriffen, wird immer mehr Repression forciert als Teil der Militarisierung nach innen. Eine „wehrhafte“ bürgerliche Demokratie, die klar aufzeigt, dass demokratische Rechte in erster Linie nur für jene gelten, die den Status quo beibehalten oder ihn weiter nach rechts verschieben wollen.

Eingeläutet wurde dies mit den Sondervermögen für die Bundeswehr, die ohne große Proteste hingenommen wurden, und dies gilt es aufrechtzuerhalten. Zum anderen befeuert der Kriegskurs zusammen mit der existierenden Krise den Rechtsruck, den wir seit 2015 erleben. Die Pandemie hat nicht nur Nerven gekostet, sondern auch finanziell viele Haushalte der Arbeiter:innenklasse getroffen durch Kurzarbeit sowie Entlassungen. Kombiniert mit steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen sowie lauen gewerkschaftlichen Kämpfen nährt das den Boden für den aktuellen Erfolg der AfD, aber auch populistische Ausfälle der CDU, die sich unter Führung von Friedrich Merz zu rhetorisch rechten Glanzleistungen aufschwingt.

Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit

Klar ist: Die Letzte Generation, Antifa Ost und vor allem Lina E. gehören verteidigt und es ist unsere Aufgabe zu zeigen, dass die Angriffe auf sie nicht nur solche auf uns alle bedeuten, sondern auch klare Formen von Klassenjustiz. Denn wer verurteilt jene, die nichts tun, während Menschen weltweit schon jetzt an den Folgen des Klimawandels sterben? Hitzewellen, Waldbrände oder die Folgen der Flut im Ahrtal betreffen Massen an Menschen und sie hätten verhindert werden können. Wer verurteilt die Polizist:innen, die offenkundig rechtes Gedankengut in Chatgruppen umherschicken? Wer die Reichsbürger:innen, die ganze Waffenlager zu Hause anlegen, oder jene, die dafür verantwortlich sind, dass Tausende Menschen an den Außengrenzen der Festung Europa sterben und noch mehr in menschenunwürdigen Zuständen leben müssen?

Statt tatsächlicher Veränderung gibt es seitens der bürgerlichen Politik höchstens halbe Aktionen und schale Worte. Die Letzte Generation und Antifa Ost haben auf die Missstände unserer Gesellschaft reagiert. Dabei haben sie Grenzen übertreten, die den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit alarmieren. Um ein Exempel zu statuieren, dass besser nicht viele diesem Weg folgen sollten, erleben wir Schauprozesse und Repression.

In diesem Sinne kann man sagen, dass beide Taktiken, ziviler Ungehorsam und antifaschistische Selbstjustiz, erfolgreich gewesen sind. Denn Aufmerksamkeit hat es auf jeden Fall gegeben. Doch der Erfolg hört da auf, wenn es darum geht, mehr Menschen in Aktion zu bringen und eine gesamtgesellschaftliche Handlungsperspektive aufzuzeigen. Das ist teilweise gar nicht das Ziel gewesen – und schon das ist ein politisches Problem. Noch mehr aber ist ziel- und massenorientiertes Handeln dringend notwendig, wenn man sich erfolgreich gegen Repression wehren und das Problem an der Wurzel packen will.

Deswegen müssen wir die Aktivist:innen vor dem bürgerlichen Staat verteidigen, aber gleichzeitig auch darüber diskutieren, welche Strategie, welche Taktiken wir brauchen, um dabei erfolgreich zu sein. Denn einfach nur den Widerstand zu unterstützen und uns für die Taten zu feiern, bringt uns nicht weiter. Im schlimmsten Fall verbrennt es Aktivist:innen und sorgt dafür, dass Potenziale, um das Ruder gesellschaftlicher Dynamik herumzureißen, verlorengehen und man das erst viel zu spät merkt.

Zwei Seiten einer falschen Medaille

Hinter beiden Taktiken steckt die Idee, dass die unmittelbare Tat mehr Menschen dazu motiviert, sich durch die direkte Aktion zu radikalisieren bzw. sich ihr bestenfalls anschließen. Das ist vielleicht eine schöne Idee. Aber es ist auch eine falsche, denn sie klammert mehrere Probleme aus:

a) Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Wie viel Aufmerksamkeit die eigenen Aktionen generieren sowie wie viele neue Aktivist:innen gewonnen werden können, hängt nicht nur von der direkten Aktion ab, sondern von den aktuellen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. So könnten wir im derzeit versuchen, so viele Abschiebungen wie möglich zu blockieren – es würde nicht unmittelbar etwas ändern können. Proteste und Dynamiken können selten beeinflusst werden, wenn Einzelaktivist:innen einfach nur „ein bisschen mehr machen“ und mehr Kraft, Energie und Zeit in die Aktion hineinstecken. Das ist Voluntarismus und ignoriert, dass es nicht nur eine Frage der graduell zunehmenden Überzeugung von Individuen ist. Ebenso fallen Kräfte aus der Betrachtung, die aktiv gegen einen arbeiten und ihre Meinung nicht ändern werden, weil sie vom Status quo profitieren.

b) Hemmschwellen und Passivität. Auch wenn der Protest als gewaltfrei und niedrigschwellig bezeichnet wird, so ist es letzten Endes seine Form, die zum einen für breite Teile der Bevölkerung praktisch schwer umsetzbar ist (bspw. wenn man Kinder zu betreuen hat). Zum anderen kreiert es eine Lücke: Auf der einen Seite die Aktivist:innen, die die Aktionsform vorgeben, auf der anderen der „Rest“ bzw. die Arbeiter:innenklasse. Somit werden diese dazu verdammt, entweder sich der Aktionsform zu beugen oder Solidaritätsbekundungen zu äußern, und damit in der Passivität zu verweilen. Zentrales Element einer jeden Bewegung muss es aber sein, nicht nur Aufmerksamkeit zu schaffen, sondern die Aktiven zu integrieren, politische Entscheidungen treffen zu lassen, sich selbsttätig zu politisieren, um so den Protest und die politische Bewusstseinsbildung der Klasse zu stärken. Kommt es nicht dazu, geht die Bewegung schneller ein und bringt dem kollektiven Gedächtnis recht wenig.

Vom zivilen Ungehorsam …

Darüber hinaus muss man aber zwischen den Formaten von Selbstjustiz und zivilem Ungehorsam differenzieren. Letzterer wird ideengeschichtlich dem libertären Unternehmer und Selbstverwirklicher Henry David Thoreau zugeordnet, der im 19. Jahrhundert eine (!) Nacht im Gefängnis verbrachte, da er sich weigerte, Steuern zu bezahlen, und daraufhin seinen Akt des „zivilen Ungehorsams“ zum politischen Prinzip erklärte. Er verfasste den Essay „Civil Disobedience“ (auf Deutsch: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“). Später wurde das Konzept noch von anderen Theoretiker:innen wie Hannah Arendt und Jürgen Habermas aufgegriffen.

In der Theorie handelt es sich beim zivilen Ungehorsam um einen angekündigten Regelübertritt, mit dem man auf einen gesellschaftlichen Missstand aufmerksam machen will. Sobald diese Aufmerksamkeit erzeugt ist, kümmern sich „die gesellschaftlichen Mechanismen“ dann darum, das Übel anzugehen. Das heißt: Ziviler Ungehorsam hat gar nicht das Ziel, den bürgerlichen Staat anzugreifen, sondern impliziert oftmals die Zusammenarbeit mit diesem. Das kann nicht nur gefährlich werden, sondern trägt ein Missverständnis in sich, was das aktuelle Problem ist. Denn es ist keines der mangelnden Aufmerksamkeit, sondern eines gegensätzlicher Interessen.

Im Kapitalismus erscheint der Staat als über den Klassen stehende Instanz, quasi als unabhängiger Vermittler zwischen Besitzenden und der Arbeiter:innenklasse. Letztendlich vertritt er aber das Interesse, das Privateigentum aufrechtzuerhalten.  Enteignung der Energiebetriebe und deren Unterstellung unter Arbeiter:innenkontrolle oder die Neustrukturierung der Produktion nach den Bedürfnissen der Erde und Arbeiter:innenklasse sind nicht einfach so möglich. So ist auch die Nutzung fossiler Energieträger keine Frage mangelnder Aufmerksamkeit, sondern sie wird beibehalten, weil konkrete Profitinteressen dahinterstecken. Und dass der Staat bereit ist, sich regenden Widerstand mit Kraft zu zerbrechen, hat er oft genug bewiesen. Lützerath, Danni und Hambi dienen hier als traurige Beweise. Es ist dabei auch nicht ausschlaggebend, wie „friedlich“ oder „gewalttätig“ der Protest selbst agiert.

Wir haben in den letzten Monaten gesehen, wie Sitzblockaden mit Schmerzgriffen abtransportiert werden und immer mehr Polizeigewalt gegen Aktivist:innen stattgefunden hat. Aktuell sind wir an dem Punkt, an dem versucht wird, selbst diese Form des gewaltfreien Protesten schon vorab zu verhindern. Wir müssen uns also politisch und organisiert verteidigen, selbst wenn wir nur grundlegende Rechte wie unsere Versammlungsfreiheit wahrnehmen wollen.

… und Selbstjustiz

Das Konzept der Selbstjustiz birgt weniger das Problem, dass es auf den bürgerlichen Staat vertraut. Vielmehr steckt hier die Annahme dahinter, dass dieser unfähig ist oder kein Interesse hegt, bestimmte Probleme anzugehen, und man somit selber aktiv werden muss. Als Revolutionär:innen lehnen wir Gewalt nicht prinzipiell ab. Wir wissen vielmehr, dass sie notwendig ist, wenn es darum geht, Strukturen zu schützen wie beispielsweise eigene Versammlungsräume oder – flächendeckender – wie Asylunterkünfte. Wir wissen, dass Streiks letztlich Streikposten erfordern. Und wir wissen, dass die herrschende Kapitalist:innenklasse revolutionär gestürzt werden muss.

Gleichzeitig dürfen wir uns nicht von moralischen Argumenten leiten lassen. Denn klar, nach Hanau scheint es besser, Rechten einfach vorsorglich aufs Maul zu hauen. Doch damit werden auch folgende Fragen aufgeworfen: Wenn wir uns das Recht herausnehmen zu richten, wenn man selber das macht, warum sollten es dann nicht andere Gruppen auch tun? Warum nur die radikale Linke? Und wer legt die Grundlage fest, auf der solche Entscheidungen gefällt werden? Macht es Sinn, einfach Nazis anzugreifen oder wäre es nicht sinnvoller, sich gezielt auf Kader zu stürzen oder bereits für Gewalt Bekannte?

Solange es keine Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse gibt, sondern nur Kleingruppen, tendieren solche Entscheidungen immer auch zu einer gewissen Willkür. Gerechtigkeit ist also nicht nur eine moralische Frage, sondern auch eine der gesellschaftlichen Verhältnisse. In der aktuellen bürgerlichen Rechtsprechung profitieren bei sexueller Gewalt gegenüber Frauen von deren Vorteilen (Unschuldsvermutung, Beweislast beim Staat) oft auch Täter, genauso wie Rechte und Faschist:innen. Doch das heißt nicht, dass die Prinzipien wie Unschuldsvermutung an sich falsch sind, sondern es stellt sich vielmehr die Frage, wie diese umgesetzt und kontrolliert werden. Steht dahinter kein Plan, sondern nur individuelle Entscheidung, kommt es zu einer Verrohung der Gesellschaft, und auch das kann nicht unser Ziel sein. Zusätzlich kann es passieren, dass die Gewalt, die man ausübt, einen von breiteren Schichten der Bevölkerung isoliert, da diese die eigenen Entscheidungen nicht nachvollziehen können. Somit wären diese dann zwar subjektiv richtig, bringen uns aber als kollektive Bewegung nicht weiter.

Und was jetzt?

Beide Taktiken setzen also nicht wirklich an der Wurzel an, sondern versuchen, im bestehenden System Lösungsansätze zu finden. Das ist nicht an sich schlecht, aber das Problem ist, dass man so im Hamsterrad der gesellschaftlichen Probleme immer weiterläuft sowie sich zeitgleich der Willkür und des Ermessens des bürgerlichen Staates aussetzt. Spitzt sich die Situation weiter zu – und das kann ganz schnell beispielsweise unter einer von Merz geführten CDU an der Regierung passieren –, können Präventivhaft & Co so schnell ausgeweitet werden, dass man nicht mal mehr einen kleinen Schritt im Hamsterrad machen kann.

Das Nervige ist: Eine einfache Kampagne für demokratische Rechte ist mehr als dringend nötig. Allein, diese ist unzureichend. Das wäre so, wie bspw. Pfadfinder:innen in schlechten US-Komödien zu versuchen, an einer Tür Kekse zu verkaufen und nach 10 Minuten nochmal zu klingeln, es erneut zu probieren und sich dann zu wundern, warum man weggeschickt wird. Was braucht es dann also noch?

Neben einer Kampagne, die sich für die Rücknahme aller Repressionen und Verurteilungen der Letzten Generation und der im Leipziger Kessel Festgehaltenen einsetzt sowie für die Abschaffung des Paragraphen §129, müssen wir anfangen, eine Bewegung aufzubauen, die eine Basisverankerung an Schulen, Unis und in Betrieben aufweist.

Das heißt: Große, bundesweite Mobilisierungen, damit dann diese Basisarbeit vor Ort stattfinden kann. Also: Infoveranstaltung, aktive Diskussion mit Kolleg:innen und Vollversammlungen, bei denen eine Verbindung zwischen dem gesellschaftlichen Problem mit denen vor Ort gesucht wird sowie Forderungen formuliert und gemeinsam beschlossen werden. Das ist wichtig, um

a) mehr Leute zu erreichen und in Diskussion zu bringen als nur jene, die sich ohnedies für das Thema interessieren. Schule, Unis und Betriebe sind in der Regel Orte, die wir nicht meiden können, und die politische Diskussion an diese Orte zu tragen, sorgt dafür, diese auch zu beleben, damit man sich ihr weniger entziehen kann.

b) Aktionskomitees vor Ort aufzubauen, die solche Dinge organisieren und mehr Leute befähigen, aktiv eigene politische Entscheidungen zu treffen. Das hört sich theoretisch nach ’nem Plan an, aber praktisch bleibt die Frage offen, wie man dazu kommt, dass das nicht nur an wenigen Orten passiert, sondern flächendeckend.

Hier liegt die Aufgabe darin, Organisationen der Arbeiter:innenklasse in Bewegung zu setzen und aktiv Druck auszuüben, damit diese nicht nur verbal einem Protest zusagen, sondern auch die eigene Mitgliedschaft aufrufen, ihn vor Ort zu organisieren –, wie beispielsweise die Gewerkschaften oder die Linkspartei. Wenn auch nur ein Viertel von deren Mitgliedschaft eine aktive Rolle einnähme, brächte das einen signifikanten Unterschied an Mobilisierungskraft.

Bleibt zuletzt die Frage des Themas. Wie bereits geschrieben, wird eine Bewegung allein um demokratische Rechte in der aktuellen Situation wenig Erfolg erzielen. Deswegen muss das Ziel darin bestehen, dies mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu verbinden. Dabei ist es zentral, nicht nur aus der Defensive zu agieren, das heißt drohende Verschlechterungen abzuwehren, sondern auch klare Verbesserungen zu erkämpfen. Ein praktisches Beispiel, was man nutzen könnte, sind die kommenden Streiks bei der Bahn und in der Tarifrunde Nahverkehr. Schon jetzt gibt es mit der Kampagne #wirfahrenzusammen Bestrebungen, dass Klimaaktivist:innen in die Betriebe gehen, um die gemeinsamen Kämpfe miteinander zu verbinden, und es ist sind auch gemeinsame Streiktage zwischen Beschäftigten und Umweltbewegung in Planung. Die Aufgabe von Organisationen wie Ende Gelände, Fridays for Future, marx21, dem SDS und generell der Linken in den Gewerkschaften läge darin, einen offenen Aufruf zu erstellen, der a) gemeinsame Forderungen vorgibt und b) die obig beschriebene Basisorganisation vorschlägt und deutlich sagt, dass die Gewerkschaften und DIE LINKE dies flächendeckend umsetzen sollten, um gemeinsam im Kampf gegen die Umweltzerstörung ein klares Zeichen zu setzen.

Im Rahmen dessen gilt es dann klar aufzuzeigen, dass wir unseren Protest nicht spalten lassen und für die Umsetzung demokratischer Rechte einstehen, drehen sie sich um unsere Proteste oder Streiks. Denn wir können uns schon denken, was passiert, wenn man bereits jetzt einzelne Aktivist:innen, die sich auf der Straße festkleben, als „organisierte Terrorist:innen“ bezeichnet, sollten Eisenbahner:innen und Busfahrer:innen streiken und die Infrastruktur lahmlegen. Dabei ist die Frage des kostenlosen öffentlichen Personenverkehrs, verbunden mit massiven Investitionen und höherem Personalschlüssel, die zentrale Forderung, um gemeinsam voranzukommen, einen Erfolg praktisch zu erkämpfen. Das geht aber nur, wenn wir die Angriffe auf demokratische Rechte aktiv mit den zu erwartenden Protesten verbinden.




Französische unterdrückte Jugendliche fordern Gerechtigkeit für Nahel!

Marc Lassalle, Paris, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

27. Juni, Nanterre (Banlieue von Paris): Zwei Polizisten halten ein Auto an, einer von ihnen richtet eine Pistole aus nächster Nähe auf den Fahrer und schreit: „Mach auf oder ich schieße dir eine Kugel in den Kopf!“. Ein Schuss und Sekunden später: Der 17-jährige Nahel Merzouk ist tot. Im offiziellen Bericht heißt es, die Polizei habe in Notwehr gehandelt. Ein Video zeigt, dass dies eine Lüge ist, beweist das Gegenteil und geht viral. Zehntausende von Jugendlichen gehen daraufhin in Nanterre auf die Straße.

In den folgenden Nächten strömen sie in ganz Frankreich auf die Straßen. In Paris, Lyon, Marseille, Strasbourg fordern sie Wahrheit und Gerechtigkeit, greifen die Polizei und öffentliche Gebäude an. Auch außerhalb Frankreichs, in Brüssel, aber auch in den französischen Kolonien bis hin nach La Réunion und Französisch-Guayana haben Jugenddemonstrationen stattgefunden.

Systematische rassistische Gewalt

Der Grund für die Wut ist, dass dieser Mord und die Lügen der Polizei darüber kein Einzelfall sind: Im Jahr 2022 wurden 12 Menschen von der Polizei unter ähnlichen Umständen getötet und in den meisten Fällen gab es keine ernsthaften Ermittlungen, geschweige denn Anklagen. Ein 2017 verabschiedetes Gesetz ermächtigte die Polizei, bei „Gehorsamsverweigerung“ zu schießen, was von dieser schnell als das Recht interpretiert wurde, ungestraft zu töten. In den meisten Fällen dienen die offiziellen Berichte, Ermittlungen und Disziplinarorgane nur dazu, die Wahrheit zu vertuschen.

Die Haltung der Polizei gegenüber jungen Menschen nordafrikanischer Abstammung wie Nahel ist unverhohlen rassistisch. Im gemeinsamen Kommuniqué der Polizeiverbände heißt es: „Angesichts dieser wilden Horden reicht es nicht mehr aus, um Ruhe zu bitten, wir müssen sie erzwingen […] Es ist nicht Zeit für gewerkschaftliche Aktionen, sondern für den Kampf gegen dieses Ungeziefer.“

Obwohl Präsident Emmanuel Macron den Mord zunächst als „unentschuldbar“ bezeichnete, wandte er sich schnell gegen die „Randalier:innen“. In der Tat sind er und seine Vorgänger als Präsident, François Hollande, Nicolas Sarkozy und Jacques Chirac, maßgeblich für diese Vorfälle verantwortlich. Sie alle griffen auf eine immer stärker bewaffnete Polizei zurück, als „Lösung“ für die drängenden sozialen Probleme der Banlieues – Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse, Drogen – und wiesen die Polizei an, eine rassistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Während ein weiteres Einwanderungsgesetz in Vorbereitung ist – eine weitere Gelegenheit, Migrant:innen zu stigmatisieren –, übt der Minister für Inneres und die Überseegebiete, Gérald Darmanin, auf der Insel Mayotte, einem „französischen Überseegebiet“ vor dem südlichen Afrika, eine massive rassistische Repression aus, bei der Blechhütten zerstört werden und Tausende ohne Dach dastehen oder von Abschiebung bedroht sind.

In den Banlieues führt die Polizei regelmäßig Kontrollen und Durchsuchungen durch und geht auch gegen junge Menschen vor, insbesondere gegen Angehörige „rassischer“ Minderheiten, und Morde wie der an Nahel haben schon früher zu Massenaufständen geführt. Im Jahr 2005 starben auf tragische Weise Ziad und Bouna, zwei Jugendliche, die auf der Flucht vor der Polizei durch Stromschlag getötet wurden. Dies löste Unruhen aus, die mehrere Wochen andauerten. In jüngster Zeit fand die BLM-Bewegung ein starkes Echo in Frankreich: Die Situation dort ähnelt den Ghettos in den US-amerikanischen Städten.

Extreme Armut

Extreme Armut konzentriert sich in heruntergekommenen Wohnsiedlungen mit hoher Arbeitslosigkeit oder schlecht bezahlten, unsicheren Jobs. Nahel war kein Krimineller, sondern ein Fast-Food-Kurier und versuchte gleichzeitig, eine Ausbildung als Elektriker zu absolvieren. In diesen Wohnvierteln mangelt es an grundlegenden Dienstleistungen, einschließlich öffentlicher Verkehrsmittel. Und obwohl „Égalité“ (Gleichheit) in leuchtenden Buchstaben auf allen öffentlichen Gebäuden steht, ist das ein schlechter Scherz.

Die republikanische Gleichheit wird in der Regel zitiert, wenn es darum geht, „positive Maßnahmen“ abzulehnen oder gar das Ausmaß der Ungleichheit zu beklagen, unter der die Kinder und Enkelkinder derjenigen leiden, die ursprünglich aus dem französischen Kolonialreich stammen. Man fragt sich, warum auch Schulen Ziel der Unruhen sind. Das liegt daran, dass auch sie oft als Teil des rassistischen Systems angesehen werden: Die jüngsten Kampagnen in den Schulen, die von der Regierung initiiert, aber von einigen Lehrer:innen unterstützt werden, setzen die Stigmatisierung und Unterdrückung religiöser Minderheiten, vor allem der Muslim:innen, aufgrund ihrer Kleidung fort und berufen sich dabei auf den „republikanischen Laizismus“.

Reaktion der rassistischen Polizei

Macron reagierte darauf mit der Mobilisierung von immer mehr Polizist:innen: mehr als 40.000 jede Nacht, darunter auch Spezialeinheiten mit gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern. Doch die ultrareaktionären Polizeigewerkschaften fordern noch mehr Waffen, noch mehr Sondergesetze. Sie behaupten, dass sie sich im Krieg mit „wilden Horden“ befinden würden. Sollten sie keine weiteren mörderischen Mittel erhalten, drohen sie als nächsten Schritt unverhohlen mit „Widerstand“, d. h. rassistischer Meuterei.

Sie schließen sich den Positionen der reaktionäreren Kräfte wie der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen an und fordern Ausgangssperren und die Verhängung des Ausnahmezustands. Laut RN sind die Unruhen das Ergebnis von „vierzig Jahren verrückter Einwanderungspolitik“ – und das, obwohl die meisten der Jugendlichen auf der Straße sowie ihre Eltern französische Staatsbürger:innen sind. Der erzreaktionäre, rassistische Journalist Éric Zemmour, ein Präsidentschaftskandidat für 2022, bezeichnet die Unruhen als Beginn eines Bürgerkriegs, der von einem ethnischen und rassistischen Krieg begleitet wird, und fordert eine „brutale Repression“ durch den Staat.

Linke

Auf der populistischen Linken fordert Jean-Luc Mélenchon, Anführer von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) , „eine tiefgreifende Reform der nationalen Polizei, die eine besser ausgebildete republikanische Polizei ohne Rassismus sein muss“. Dies ist natürlich eine Utopie ebenso wie sein gesamtes Projekt eines starken republikanischen Staates, der soziale Reformen durchführen soll. Nie wird der Klassencharakter des bürgerlichen, ja imperialistischen Staates deutlicher, als wenn seine Repressionskräfte Recht und Ordnung gegen alle verteidigen, die sich ihm widersetzen, seien es streikende Arbeiter:innen, die Gilets Jaunes (Gelbwestenbewegung), Umweltaktivist:innen oder die Jugend der Banlieues.

Die linke Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) hingegen verteidigte in ihrem Communiqué vom 27. Juni die Demonstrant:innen grundsätzlich und zeigte ein korrektes Verständnis der Rolle der Polizei.

„Die Polizei ist nicht dazu da, uns zu schützen. Diese Institution, die nur dazu dient, die Macht der Reichen und der Bosse zu erhalten, ist von Natur aus feindlich gegenüber unserer Klasse und wird niemals unseren Interessen dienen. Diese Polizei ist rassistisch, sie verfolgt eine gegenüber Migrant:innen feindliche Politik und wendet regelmäßig Gewalt gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund an! Diese Institution, die in Arbeiter:innenvierteln mordet und den staatlichen Rassismus anführt, ist dieselbe, die Demonstrant:innen unterdrückt, die sich gegen die Politik der Regierung stellen.

Diese Polizei existiert nur, um die Ordnung für Darmanin, Macron und die Unternehmer:innen, die sie sponsern, aufrechtzuerhalten. Es ist dringend notwendig, sie zu entwaffnen und die Wahrheit über ihre Verbrechen einzufordern, aber mehr noch, es ist höchste Zeit, diese Institution und diese kapitalistische Gesellschaft abzuschaffen, die nichts als Gewalt und Elend für die große Mehrheit der Bevölkerung bringt.“

Es ist höchste Zeit, dass die Arbeiter:innenbewegung, von der Basis bis zu den Gewerkschaftsverbänden und linken Parteien, sich mit den Jugendlichen solidarisiert und sie gegen die Massenverhaftungen und Brutalitäten verteidigt. Sie sollte die Polizeigewalt anprangern und ein sofortiges Ende der allgemeinen Repression, die Freilassung der weit über Tausend Verhafteten und die Aufhebung aller repressiven und rassistischen Gesetze fordern. Auch wenn Macron vorerst seine Rentenreform durchsetzen konnte, sind der Präsident und seine Regierung immer noch Gegenstand eines berechtigten Zorns. Wenn wir uns mit der Jugend zusammenschließen, können wir auch die schändlichen Lügen der extremen Rechten und ihre rassistische Propaganda anprangern.

  • Gerechtigkeit für Nahel! Organisierte Selbstverteidigung in den Banlieues gegen Polizeiübergriffe!

  • Schluss mit allen rassistischen und diskriminierenden Gesetzen – an den Schulen, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben!

  • Arbeiter:innen und Jugendliche sollten Hand in Hand marschieren, um die rassistische Repression zu stoppen, sich den Ausgangssperren zu widersetzen und der Straflosigkeit der Polizei ein Ende zu setzen.



Arbeiter:innen „RE-WOLT“ gegen Wolt

Minerwa Tahir, Infomail 1226, 21. Juni 2023

English translation: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/06/21/workers-re-wolt-against-wolt/

Berlin: Fünfzig Wolt-Beschäftigte und Sympathisant:innen versammelten sich am Montag, den 19. Juni 2023, auf dem Platz vor dem Zentrum Kreuzberg am U Kottbusser Tor, um gegen die Nichtzahlung von Löhnen, den Entzug der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und andere arbeitsrechtliche Bestimmungen zu protestieren. Auf ihrem Transparent stand „Wolt schuldet uns Geld und Rechte“, gefolgt von dem Logo der Protestkampagne „ReWolt“ – eine Anspielung auf den Namen des Unternehmens und das Wort „Revolte“.

Kampagne

Der Protest wurde vom Wolt Workers Collective organisiert, einem Netzwerk von Wolt-Beschäftigten in Berlin, die bereits am 13. April dieses Jahres einen Protest organisiert hatten. Der Protest am Montag war die Fortsetzung einer Reihe von Protesten, die die Arbeit„nehmer“:innen organisieren wollen, bis sie ihre Grundrechte erhalten. Die jüngste Protestbewegung in Berlin begann, als einer Flotte von 120 eingewanderten Arbeiter:innen über mehrere Monate hinweg die Bezahlung verweigert wurde, was sich auf mehrere Tausend Euro an unbezahlten Löhnen belief. Sie waren von Wolt über einen Subunternehmer angeheuert worden, der auf den Namen Ali hört und in Neukölln in der Karl-Marx-Straße ein Geschäft für Handyzubehör namens Mobile World betreibt. Bei der letzten Protestaktion fuhren die Arbeiter:innen mit dem Fahrrad vom U Karl-Marx-Straße zur Wolt-Zentrale in Friedrichshain, wo sie der Wolt-Geschäftsführung eine schriftliche Charta mit ihren Forderungen für die nicht gezahlten Löhne übergeben wollten. Mitglieder der Gruppe Arbeiterinnenmacht waren dort anwesend, und wir wurden Zeu:ginnen, wie die Geschäftsführung sich weigerte, auch nur aus ihren Büros zu kommen, um die Charta mit den Forderungen entgegenzunehmen. Als Muhammad, der Anführer des Protests, versuchte, die Charta in den Briefkasten des Unternehmens zu werfen, wurde ihm gesagt, dass Wolt keinen habe.

Was als Kampagne unbezahlter Arbeiter:innen begann, denen unter dem Vorwand der Ausrede eines Subunternehmers der Lohn verweigert wurde, hat sich nun zu einem kollektiven Kampf entwickelt, an dem auch direkt bei Wolt Angestellte beteiligt sind. Gemeinsam fordern sie die ihnen zustehenden Löhne, Sicherheit am Arbeitsplatz, eine Entschädigung, ein Ende des ausbeuterischen und illegalen Systems der Untervergabe von Aufträgen sowie bezahlten Urlaub im Krankheitsfall und andere Rechte. Um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, organisierten sie am Montag eine Protestveranstaltung, bei der eine Reihe von Arbeit¡nehmer“:innen sowie ihre Freund:innen und Sympathisant:innen gegen die Ungerechtigkeiten sprachen, denen sie ausgesetzt sind.

Arbeiter:innen klagen an

„Ich bin ein Student mit Migrationshintergrund und kämpfe darum, hier in Deutschland mit meiner Familie leben zu können“, sagte Muhammad, der Anführer des Protests. „Meine Frau und ich arbeiten in Gelegenheitsjobs, um über die Runden zu kommen. Wolt hat mir drei Monate meines Lohns gestohlen. Und ich bin nicht allein. Wir sind viele Student:innen mit Migrationshintergrund, die sich in der gleichen Situation befinden und von diesem Unternehmen ausgebeutet werden. Weil wir Migrant:innen sind, haben viele Studierende sogar Angst zu protestieren. Ich war achtmal persönlich in der Wolt-Filiale, um meinen Lohn einzufordern. Der Geschäftsführer, den alle nur als Ali von der Mobile World GmbH kennen, weigerte sich jedoch immer wieder und sagte schließlich, dass er von Wolt nicht dafür bezahlt wurde, unseren Lohn zu zahlen. Wenn wir Aufträge pünktlich und mit ehrlichem Einsatz ausgeliefert haben, ist das Mindeste, was wir verdienen, dass wir bezahlt werden! Jede Arbeit hat ihre Würde. Es ist ein Verbrechen, dass Menschen in diesem reichen Land leben und Hungerlöhne erhalten.“

Seine Kollegin Shiwani Sharma, die ebenfalls ihren Lohn nicht erhalten hat, sprach über die Härten, denen diese Arbeiter:innen infolge des Lohndiebstahls ausgesetzt sind. „Ich bin Studentin an einer privaten Universität in Berlin und es ist schon sehr schwierig, mit den Herausforderungen der hohen Miete und Studiengebühren fertigzuwerden“, sagte sie. „Ich bin im Dezember bei Wolt als Fahrerin eingestiegen. Es war eiskalt, aber wir gingen von Tür zu Tür, um die Kund:innen mit Essen zu versorgen. An manchen Tagen hatten wir starke Schmerzen in den Händen, weil das Wetter so kalt war. Die ganze Zeit über saß die Geschäftsführung von Wolt in ihren gut geheizten Büros. Dank unserer harten Arbeit bekommen sie das Geld, um ihre Büros zu heizen, aber dann nehmen sie uns auch noch unseren mageren Lohn ab. Wir verdienen es, bezahlt zu werden! Und wir verdienen zumindest einen Mindestlohn pro Stunde statt der Bezahlung pro Auftrag. Dieses System der auftragsbezogenen Bezahlung muss abgeschafft werden!“

Ein anderer Fahrer indischer Herkunft, Abhay, beschrieb seine Erfahrungen mit Wolt als Achterbahnfahrt. Ihm zufolge arbeiteten diese Arbeiter:innen in den eisigen Monaten Dezember und Januar acht bis zehn Stunden, weil sie dachten, sie würden bezahlt, um ihre Universitätsgebühren und andere Ausgaben bestreiten zu können. „Was bekomme ich nach dieser Arbeit? Wolt hat sich geweigert, mich zu bezahlen. Ich dachte, sie würden mich im nächsten Monat bezahlen. Aber ich habe für November, Dezember und Januar kein Geld bekommen. Die Personalabteilung von Wolt hat sogar schon geleugnet, dass wir ihre Beschäftigten sind. Wir haben alles, um zu beweisen, dass wir für Wolt gearbeitet haben. Wir wollen bezahlt werden.“

Janno, ein Freund der Arbeiter:innen von der Kampagne Welcome United, sagte, dass illegale Geschäftspraktiken wie Lohndiebstahl gestoppt werden müssen. „Viele der Lieferdienste verletzen täglich grundlegende Rechte und Gesetze auf dem Rücken ihrer Fahrer:innen“, sagte er. „Das ist kein Zufall, kein Ausrutscher. Es ist ihr Geschäftsmodell.“

Lieferfahrer:innen von Gorillas, Lieferando und anderen Unternehmen dieser Art waren ebenfalls anwesend, um ihre Argumente gegen prekäre Arbeit vorzubringen. Joey vom Workers Centre, der auch ein Gorillas-Fahrer ist, sprach über die Notlage von Arbeitsmigrant:innen in der deutschen Gig-Economy und stellte sie in den größeren europäischen Kontext des strukturellen Rassismus. Sie verurteilten die Untätigkeit der griechischen Behörden und die europäische Gleichgültigkeit im Allgemeinen gegenüber den pakistanischen, syrischen und anderen Opfern des jüngsten Ertrinkens der Insass:innen eines überfüllten Bootes im Mittelmeer.

Zum Abschluss führte das Theater X einen theatralischen Sketch über die Notlage der betroffenen Zusteller:innen auf.

Kapitalismus und Überausbeutung

Die Krise der Lebenshaltungskosten in Deutschland wird schon jetzt von Tag zu Tag unerträglicher. Schon jetzt ist es für uns Beschäftigte so schwer, mit dem Mindestlohn über die Runden zu kommen. Den Beschäftigten im prekären Sektor wird nun sogar dieser Lohn vorenthalten. Es ist absolut beschämend, dass diese Praxis des Lohndiebstahls in einem so genannten demokratischen Staat wie Deutschland stattfinden kann. Aber es zeigt auch, dass der Staat immer die Interessen der Kapitalist:innenklasse vertritt.

Und deshalb müssen wir uns als Arbeiter:innen zusammenschließen und die Gewerkschaften zu kollektiven Kampforganisationen machen, die uns vertreten, aber wir brauchen auch eine Arbeiter:innenpartei, die uns und unsere Interessen in Wirklichkeit vertritt.

Unser Genosse Martin hielt auf der Demonstration eine bewegende Rede. Er sagte, er sei Mitglied der IG Metall (der größten Industriegewerkschaft in Deutschland und Europa), und auch wenn seine Gewerkschaft einer anderen Branche angehöre, sei es wichtig, dass wir uns als gemeinsam kämpfend verstehen.

„Das ist etwas, was die Gewerkschaften in Deutschland gar nicht oder nicht ausreichend tun. Das ist etwas, was wir in den nächsten Jahren gemeinsam ändern müssen. Euer Ringen, euer Mut, euer Kampf gegen Outsourcing, gegen Leiharbeit, gegen Lohnraub zeigt nicht nur, welche Maßnahmen Wolt und andere kriminelle Kapitalist:innen ergreifen, um ihre Gewinne zu sichern. Es zeigt auch, dass ihr keine Opfer seid und ihr euch wehren könnt, und ihr habt bewiesen, dass ihr euch organisieren könnt und wir uns organisieren können. Deshalb ist es wichtig, dass wir Solidarität und einen gemeinsamen Kampf mit den Gewerkschaften im gleichen Sektor wie der NGG, ver.di und allen anderen fordern, denn der Kampf, den ihr führt, ist nicht nur für euch wichtig, er wird auch für die gesamte Arbeiter:innenklasse wichtig sein. Je mehr sich der prekäre Sektor ausweitet, desto mehr werden die Löhne überall gedrückt! Deshalb ist es nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch eine Frage des Eigeninteresses aller Arbeiter:innen, diesen Kampf zu unterstützen. Wir müssen unabhängig vom Wetter Lebensmittel kaufen und Miete zahlen, und deshalb müssen wir das System in Frage stellen, das hinter dem Diebstahl eines Lohns steckt, der selbst für die Deckung der Grundbedürfnisse nicht ausreicht. Hunderte Millionen von Migrant:innen, Frauen und die am stärksten benachteiligten und unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse werden durch die Ausweitung der Gig-Economy in diese Bedingungen getrieben. Wenn wir ein Ende dieses Systems wollen, müssen wir auch das Recht auf die Gewinne in Frage stellen, die Lieferando, Wolt, Flink und all die anderen für sich selbst erzielen. Wenn sie nicht bereit sind, die Löhne pünktlich zu zahlen, wenn sie nicht bereit sind, Löhne zu zahlen, die zum Leben reichen, dann sollten diese Unternehmen entschädigungslos enteignet werden! Wir müssen aus einem System, das auf Ausbeutung, Rassismus, Krieg und Unterdrückung fußt, Geschichte machen!“

Es ist nicht das erste Mal, dass die Frage der Enteignung in Berlin auf die Straße gebracht wird. Im Jahr 2021 war das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ erfolgreich, auch wenn der Gesetzgeber den Willen der Berliner Bevölkerung, die angesichts der Wohnungs- und Mietkrise für die Enteignung der Immobiliengesellschaft Deutsche Wohnen und anderer gestimmt hat, nicht umgesetzt hat. „Wir sind nicht länger bereit, mit unseren überhöhten Mieten die Gewinne der Aktionär:innen zu finanzieren“, heißt es auf deren Website. Die Profite der Unternehmen, die von den Privilegien der Kapitalist:innenklasse durch prekäre Gig-Arbeit profitieren, werden nun zunehmend in Frage gestellt. Auch einige deutsche Schüler:innen waren zu der Demonstration gekommen, um ihre Solidarität mit den unbezahlten eingewanderten Arbeiter:innen zu bekunden. „Die Tatsache, dass das Management nicht bereit ist, euch zu bezahlen, ist eine Frechheit“, sagte Kai, der auch Mitglied der kommunistischen Jugendgruppe Revolution ist. „Als Jugendliche, die sich für unsere Zukunft interessieren, sehen wir die Notwendigkeit, uns mit eurem aktuellen Kampf und mit dem Kampf der ganzen Welt zu vereinen. Heute sind wir Student:innen oder Auszubildende und eines Tages werden wir Arbeiter:innen sein. Euer Kampf jetzt ist auch ein Kampf für unsere Zukunft. Auch wir werden von demselben System unterdrückt, das euch unterdrückt.“ Als er seine Rede beendete, rief die Menge unisono: „Student:innen und Arbeiter:innen, vereinigt euch und kämpft!“

Eine Solidaritätsbotschaft des Sprechers der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) lautete: „Ich drücke meine Solidarität mit eurem Kampf aus. Als jahrzehntelang aktiver Gewerkschafter muss ich sagen, dass es eine Schande ist, dass die Nichtbezahlung von Arbeit„nehmer“:innen in diesem Land wieder möglich ist. Dass das Mindestrecht der Lohnarbeit, dass der Lohn gezahlt wird, nicht respektiert wird! Die Gewerkschaften des DGB, die Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, die arbeitenden Menschen zu vertreten, SPD und Linkspartei, müssen dafür kritisiert werden, dass sie die Gesetze für Leiharbeit und Plattformökonomie zulassen, die die Rechte der Arbeiter:innen ausgehöhlt haben. Es ist ihre Pflicht, für die Wiederherstellung dieser Rechte und für die Verteidigung der betroffenen Beschäftigten zu kämpfen.“

Positiv war, dass Ferat Koçak von der Partei DIE LINKE Neukölln unserem Aufruf zur Solidarität gefolgt ist. Da Ferat terminlich verhindert war, bekundete an seiner Stelle Genosse Daniel seine Solidarität. Wir rufen alle linken Kräfte und Gewerkschaften auf, gleichermaßen zu reagieren und diese Bewegung als aktiven Kampf mit aufzubauen. Schließlich liegt es im Eigeninteresse aller Lohnabhängigen, die Ausweitung prekärer Arbeit zu verhindern und gemeinsam für die Durchsetzung von Mindestlöhnen und anderen grundlegenden Arbeitsrechten für alle zu kämpfen! Deshalb rufen wir in einem ersten Schritt alle auf, am 27. Juli zur Gerichtsverhandlung zu erscheinen, damit auch die Gerichte wissen, dass wir zusammenstehen.

Hoch die Internationale Solidarität!