Der Krise entgegen. Von der Krise der Globalisierung zur sozialistischen Revolution

Manifest der Liga für die Fünfte Internationale

Verabschiedet vom XII. Kongress, Juni 2023

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die neue Weltunordnung

2.1 Die Ursachen der Krise

2.2 Europa

2.3 Die Halbkolonien

2.4 Von der Rivalität zum Krieg

2.5 Klimakatastrophe

2.6 Rezession

3. Kampf und Führung

3.1 Fronten des Widerstands

3.2 Krise der Führung

4. Ein Programm von Übergangsforderungen

4.1 Einleitung

4.2 Gegen die kapitalistische Offensive

4.2.1 Ein existenzsicherndes Einkommen, Arbeit für alle und Kontrolle durch die Arbeiter:innen

4.2.2 Für universelle öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherheit

4.2.3 Enteignung des Vermögens der Reichen

4.2.4 Für einen Plan der Arbeiter:innen zu internationaler Produktion und Entwicklung

4.3 Militarismus und Krieg

4.4 Kampf gegen die Klimakatastrophe

4.4.1 Die Stadt umgestalten

4.4.2 Befreiung des ländlichen Raums

4.5 Die digitale Revolution

4.6 Die Gewerkschaften

4.7 Von der Streikpostenverteidigung zur Arbeiter:innenmiliz

4.8 Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen den Faschismus

4.9 Verteidigung der demokratischen Rechte

5. Der Kampf gegen soziale Unterdrückung

5.1 Für Frauenbefreiung

5.2 Gegen die Unterdrückung von Lesben, Schwulen und nicht-binären Menschen

5.3 Für die Befreiung der jungen Menschen

5.4 Rassismusbekämpfung – Verteidigung von Flüchtlingen und Migrant:innen

5.5 Nationale Befreiung und die permanente Revolution

6. Der Kampf um die Macht

6.1 Für eine Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen

6.2 Der Aufstand

6.3 Unser Ziel: Weltrevolution und Kommunismus

7. Eine revolutionäre Partei und Internationale

7.1 Für eine neue, Fünfte Internationale!

1. Einleitung

Die Welt steht vor einer tieferen und weiter reichenden Krise als vor der großen Rezession von 2008 – 2010. Auf den schwachen Aufschwung, der durch historisch niedrige Zinssätze gestützt wurde, folgte ein Jahrzehnt der Beinahe-Stagnation. Dies hat zu einem weltweiten Inflationsanstieg geführt, dessen Folgen eine Krise der Lebenshaltungskosten sind, die den Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse dramatisch zu senken droht, sowie Not, Unterernährung und buchstäbliches Verhungern für Dutzende von Millionen Armen in der Welt bedeutet.

Die durch die Pandemie verursachte wirtschaftliche Verwerfung der globalen Produktions- und Handelsketten, die beispiellosen Kosten der durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Sanktionen und Aufrüstungsprogramme und die sich beschleunigenden und vervielfachenden Folgen des Klimawandels – diese miteinander verknüpften Krisen konfrontieren die Menschheit mit einem starken Sturm, der nur eine Ursache hat: die kapitalistische Produktion und die imperialistische Weltordnung, die sie aufrechterhält.

Die wiederholten Wirtschaftskrisen, die sich verschärfende Rivalität der Großmächte, Überschwemmungen, Brände, Dürren und Hungersnöte spiegeln sich auch in der politischen Arena wider. Dies äußert sich im Erstarken populistischer und rechtsextremer Straßenbewegungen, im Wuchern reaktionärer, irrationalistischer Ideologien und Verschwörungstheorien in den sozialen Medien. Militärputsche nutzen die Unfähigkeit der schwachen „demokratischen“ Regierungen in den Halbkolonien aus, die sich verschärfende soziale Krise zu bewältigen; die Wahl reaktionärer Demagog:innen, die sogenannte „Kulturkriege“ führen, dient dazu, den sozialen Fortschritt und die Rechte der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten zu untergraben.

Angesichts dieser sich vervielfachenden Krisen sind die traditionellen reformistischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, ob „sozialistisch“ oder stalinistisch, angesichts ihrer Unfähigkeit, ihre Massenbasis zu verteidigen, verwelkt. Das „neue“ Modell der linkspopulistischen, neoreformistischen oder zentristischen Parteien, das an ihre Stelle treten sollte, hat entweder kapituliert oder sich aufgelöst. An ihre Stelle sind immer extremere rechtsradikale und sogar offen faschistische Parteien getreten, die religiöse, rassistische und nationale Vorurteile ausnutzen.

Spontaner Widerstand gegen diese Krisen flammt überall in der Welt auf und wirft die Notwendigkeit einer Führung der Arbeiter:innenklasse auf, die einen Weg zum Sieg bahnen kann. Die mal ausbrechende, mal schwelende Kette von Bevölkerungsaufständen vom Arabischen Frühling über die Antiausteritätsbewegungen der EU-Schuldenkrise bis hin zu den Frauen an vorderster Front der iranischen und sudanesischen Revolutionen zeigt: All diese Gelegenheiten, die das Potenzial für einen entscheidenden Bruch mit dem herrschenden System in sich trugen, verstrichen ungenutzt, wobei der Preis der Niederlage nicht überall der Abstieg in eine brutale Konterrevolution war.

In jedem Fall liegt gerade im Fehlen einer gefestigten und verankerten Organisation, die mit der Strategie und Taktik – dem Programm – bewaffnet ist, um die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten zur Machtergreifung zu führen, der elementare subjektive Faktor für die Ursache der Niederlage. Das Scheitern der revolutionären Ausbrüche in den Halbkolonien ist nur der lokale Ausdruck der Krise der Führung, einer Krise, die sich in den Gewerkschaften, den Parteien und den revolutionären Organisationen der Arbeiter:innenklasse insgesamt manifestiert.

Dieses Dilemma begründet sich nicht nur in der jeweiligen nationalen Situation. Es stellt sich weltweit in der Notwendigkeit einer neuen revolutionären Internationale dar, einer Nachfolgerin der vorherigen vier, die aus deren Fehlern und Erfolgen lernt. Die Menschen, die den Grundstein für eine neue Internationale legen können, finden sich bereits unter der Avantgarde der Massenkämpfe in aller Welt. Es ist von größter Dringlichkeit, sie sowohl international als auch in jedem Land zusammenzubringen. Vor allem müssen sie für ein revolutionäres Aktionsprogramm gewonnen werden, das weltweit gilt und die notwendige Antwort auf die Machtfrage gibt, die die strategische Lösung für die allgemeine Krise des kapitalistischen Systems darstellt.

Die Liga für die Fünfte Internationale veröffentlicht dieses Programm als Beitrag zu einer Diskussion und Annäherung der revolutionären Kräfte in den kommenden Jahren, verbunden mit Vorschlägen für gemeinsame Aktionen und Kampagnen, neben einer ernsthaften Debatte über das Programm, das eine neue, revolutionäre Internationale entwickeln muss. Was wir vorschlagen ist weder vollständig noch umfassend, aber es wird als unser Angebot für gemeinsame Aktionen und ernsthafte Diskussionen mit denjenigen präsentiert, die die zwingende Notwendigkeit einer neuen Internationale akzeptieren, deren Organisation und Führung die Voraussetzung dafür ist, den Kreislauf von spontanem Widerstand und Niederlage zu durchbrechen.

2. Die neue Weltunordnung

2.1 Die Ursachen der Krise

Die Ursachen für die Systemkrisen des Kapitalismus liegen nicht im Mangel oder in der Unfähigkeit, das zu produzieren, was die Menschheit braucht. Die Fabriken, ihre Arbeitskräfte, die Produktions-, Logistik- und Kommunikationsmittel, neue und alte, sind im Überfluss vorhanden, ebenso wie die wissenschaftlichen und technologischen Mittel, um Pandemien und den Klimawandel zu bekämpfen. Die sozialen Mittel für eine globale Planung sind bereits in den multinationalen Konzernen und den riesigen Banken vorhanden, aber durch Privateigentum und interne Konkurrenz nur separat verfügbar. Dieser Widerspruch hat sich bei der Reaktion auf die Pandemie gezeigt: einerseits die rasche Entwicklung von Impfstoffen, andererseits deren ungleiche Verteilung an die Bevölkerungen unseres Planeten. Bis Juni 2023 haben 29,9 % von ihnen noch keine einzige Impfung erhalten.

Die grundlegende Ursache für die Krise des Systems liegt in der massiven Überakkumulation von Kapital, das nicht in der Lage ist, in gleichem oder höherem Maße als in der Boomphase der Globalisierung ausreichende Gewinne aus der Produktion zu erzielen. Dies ist der Grund dafür, dass der „Aufschwung“ nach der letzten Rezession schnell an Dynamik verloren hat und in weiten Teilen der Weltwirtschaft in Stagnation übergegangen ist. Da es nach der Großen Rezession nicht gelungen ist, dieses Problem auf die einzige Art zu lösen, die Kapitalist:innen immer anwenden, nämlich durch Kapitalvernichtung auf breiter Front, droht nun der Massenbankrott sogenannter Zombieunternehmen, die schätzungsweise 16 % bis 20 % aller Firmen in den USA ausmachen.

Da dies die Zerstörung großer Industrie- oder Handelszweige bedeuten würde, ist eine solche Entwicklung ein letzter Ausweg und eine riskante Option für das Kapital. Im Jahr 2008 hätte es die Spitzen des Finanzkapitals getroffen, die Investment-, Hypothekenbanken und multinationale Automobilhersteller wie General Motors und Chrysler, die als „zu groß zum Scheitern“ eingestuft worden sind. Viele von ihnen wurden auf Kosten der Steuerzahler:innen aus der Arbeiter:innen- und Mittelschicht gerettet. Die Maßnahmen der Federal Reserve Bank der USA führten die Welt auch zu einer enormen Ausweitung der Geldmenge (Quantitative Easing), die es Unternehmen, Staaten und Einzelpersonen ermöglichte, noch mehr Schulden anzuhäufen und den Grundstein für einen zukünftigen Zusammenbruch zu legen.

Die von der neoliberalen und monetaristischen Theorie diktierte Lösung, die gigantische Kapitalvernichtung zur Wiederherstellung der Profitraten, kann nur zu enormen Kosten für die Arbeiter:innenschaft der ganzen Welt erfolgen. Natürlich besteht die Antwort darin, sich Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit entgegenzustellen, aber große Zugeständnisse seitens der Unternehmer:innen würden keine Rückkehr zum vorherigen Status quo bedeuten, sondern das Chaos eher noch vertiefen. Daraus ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, die Kontrolle über die Produktion denjenigen anzuvertrauen, die die Arbeit verrichten, und die Staatsmacht in die Hände der arbeitenden Menschen zu legen, nicht in die der wenigen Ausbeuter:innen. Dies kann nur auf dem Weg der Revolution – der Zerstörung der Staatsmacht der Kapitalist:innenklasse – geschehen, nicht auf dem Weg der Reform.

Die Globalisierung erwies sich als eine vorübergehende Lösung für den Kapitalismus. Sicherlich hat sich der Grad der internationalen Integration zwischen den großen Zentren der Kapitalakkumulation unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer internationalen Finanzinstitutionen, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation, enorm erhöht. Sie beruhte in hohem Maße auf einer wohlwollenden Symbiose der USA und der EU mit China als Markt für Spitzentechnologie und als neue Produktionsstätte der Welt. Doch in der Epoche der vollen Reife des Kapitalismus, ja seiner Überreife, der Epoche des Imperialismus, musste eine schnell wachsende neue kapitalistische Macht wie China entweder der bestehenden hegemonialen Weltmacht untergeordnet werden und zu dem werden, was Marxist:innen eine Halbkolonie nennen, oder selbst zu einer imperialistischen „Großmacht“ emporsteigen.

Chinas Bereitschaft, in den exklusiven Klub der imperialistischen Mächte aufzusteigen, zeigte sich nach 2008, als es eine wichtige Rolle dabei spielte, die Weltwirtschaft aus der Großen Rezession herauszuziehen. Doch dann begann es, als Investor in Regionen zu expandieren, die bis dahin von den alten Imperialismen Nordamerikas, Westeuropas und Ostasiens beherrscht wurden. Dies führte unweigerlich zu einer Verschärfung der Rivalität und des Konflikts zwischen den alten und neuen Mächten. Die Fähigkeit der Kommunistischen Partei Chinas, mit Repressionen im Stil von Tian’anmen und Präsident Xi Jinpings Einführung eines Massenüberwachungsstaates zu drohen, beruht auf dem Aufstieg der chinesischen Bevölkerung aus der Armut und der Rolle des Landes als zweitstärkster Wirtschaft der Welt. Jeder ernsthafte oder anhaltende Rückzug von diesem Wohlstand, sei es durch wirtschaftlichen Abschwung oder militärische Abenteuer, wird diesen untergraben und das Gespenst der Revolution heraufbeschwören.

Im Gegensatz dazu fußte Russlands Fähigkeit, dem Schicksal der Unterordnung unter die Supermacht USA zu entgehen, eher auf der Rente aus seinen reichhaltigen natürlichen Ressourcen als auf dem industriellen Wachstum. Während der „Schocktherapie“, mit der Russland in den Kapitalismus eingeführt wurde, schrumpfte seine Wirtschaft um 40 Prozent, während die Inflation in die Höhe schoss. Engpässe bei den Grundnahrungsmitteln wurden zur Norm und ein Drittel der Bevölkerung fiel in Armut. Die sozialen Sicherungen der Sowjetära wurde dezimiert. Als unter Präsident Jelzin Russland 1992 in den IWF aufgenommen wurde, beschleunigte eine Reihe von Krediten mit harten Bedingungen (Kürzungen bei Sozialleistungen, Bildung usw.) den Abwärtstrend.

Präsident Putins Popularität war, zumindest anfangs, nicht das Ergebnis einer brutalen Unterdrückung der Opposition. Nach 2000 gelang es ihm, die schamlose Ausplünderung der Wirtschaft durch die Oligarch:innen und die Abzweigung des Reichtums in westliche Banken und Steuerparadiese zu unterbinden. Durch die Übernahme der Kontrolle über die Öl- und Gaskonzerne Lukoil, Rosneft usw. konnte er den wirtschaftlichen Niedergang aufhalten und den Lebensstandard in bescheidenem Maße wiederherstellen. Doch seine Versuche, den Westen dazu zu bewegen, Russland eine Einflusssphäre in den Staaten der ehemaligen UdSSR sowie in denen Afrikas und des Nahen Ostens, die früher enge Beziehungen zur UdSSR unterhielten, zuzugestehen, wurden wiederholt abgelehnt. Im Jahr 2005 bezeichnete er den Zusammenbruch der Sowjetunion (an dem er maßgeblich beteiligt war) als „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ und eine „echte Tragödie“ für das russische Volk, da sich „Dutzende Millionen“ von ihnen außerhalb des russischen Staatsgebiets wiederfanden.

Heute ist Russland wirtschaftlich nicht mit China gleichzusetzen. Es gehört nicht einmal zu den zehn größten Volkswirtschaften; sein Bruttoinlandsprodukt von 1,4 Billionen US-Dollar wird von dem der Vereinigten Staaten (20 Billionen US-Dollar) und Chinas (14 Billionen US-Dollar) in den Schatten gestellt. Es entspricht in etwa dem von Brasilien, liegt aber unter dem von Indien und sogar Südkorea. Seine technologischen Stärken finden sich in der Weltraumforschung, der Kernenergie und der militärischen Ausrüstung. Doch obwohl es ein wirtschaftlicher Zwerg ist, bleibt Russland ein militärischer Riese, der in Bezug auf die weltweite Feuerkraft und – zumindest vor dem Ukrainekrieg – auch in Bezug auf die militärischen Kapazitäten an zweiter Stelle hinter den USA stand. Dies war die Grundlage für Putins Fähigkeit, im Nahen Osten, in Afrika sowie im nahen Ausland als Friedensstörer aufzutreten.

2.2 Europa

Die beiden dominierenden Volkswirtschaften der Europäischen Union, Deutschland und Frankreich, sind seit langem bestrebt, die Unabhängigkeit des Blocks gegenüber den USA zu stärken und Europa als weltweiten Konkurrenten des chinesischen und amerikanischen Kapitals zu etablieren. Eine Reihe von Veränderungen in der internationalen Dynamik, beginnend mit Barack Obamas Hinwendung zu Asien, dem Austritt Großbritanniens, des engsten Verbündeten der USA, aus dem Block, der Förderung engerer Verbindungen mit Eurasien durch den Öl- und Gashandel und Chinas Seegürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) schienen eine zunehmend unabhängige Rolle für einen europäischen Imperialismus zu begünstigen. Doch der Ukrainekrieg hat mit einem Schlag die Vorherrschaft der USA auf dem Kontinent wiederhergestellt und die Pläne von Paris und Berlin zunichtegemacht.

Trotz Großbritanniens Austritt bleibt die EU einer der drei großen Blöcke des Kapitals. Während die Produktivkräfte des europäischen Kapitalismus längst über die Staatsgrenzen seiner Nationen hinausgewachsen sind, zeigt die anhaltende Krise, die die Union seit 2008 heimgesucht hat, dass die kapitalistischen Klassen Europas nicht in der Lage sind, die historisch fortschrittliche Aufgabe der Einigung des Kontinents zu erfüllen.

Die Europäische Union mit ihren Verträgen, ihrer Kommission, ihrer Europäischen Zentralbank und ihrer Währung ist ein Zwangsapparat zur Ausbeutung der Peripherie durch den imperialistischen Kern. Sie hat die südeuropäischen Staaten zum Schutz der imperialistischen Finanziers zu brutaler Sparpolitik gezwungen, stellt ein Reservoir an materieller und diplomatischer Hilfe für die Abenteuer des US-Imperialismus bereit und führt ihre Geschäfte hinter den Mauern der NATO und der Festung Europa. Diese imperialistische Architektur kann nicht umgestaltet werden, um sozialen Zielen zu dienen: Sie muss durch eine sozialistische Revolution abgeschafft werden, die in einem sozialistischen vereinigten Europa gipfelt.

Revolutionäre Kommunist:innen haben jedoch immer die Illusion zurückgewiesen, dass der Weg zur Vereinigung auf einer höheren, demokratischen, sozialistischen Grundlage notwendigerweise über die Zerlegung großer politischer oder wirtschaftlicher Einheiten in ihre Bestandteile führt. Wir versuchen vielmehr, sie so zu vergesellschaften und zu planen, dass sie die Menschheit voranbringen. Der Sozialismus erfordert einen kontinentalen, ja globalen Maßstab der integrierten Produktion. Die Perspektive des Sozialismus in einem Land ist heute noch reaktionärer, als sie es war, als Stalin sie vor einem Jahrhundert proklamierte.

Die Zurückdrängung der Produktivkräfte in 28 Nationalstaaten, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Zollschranken, die Unterbrechung des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs, die Behinderung der Entwicklung der Produktivkräfte, die Verschärfung der zwischenstaatlichen Rivalitäten, die weitere Spaltung der Arbeiter:innenklassen dieser Staaten im Namen einer vorgetäuschten wirtschaftlichen Souveränität können nur den nationalen Antagonismus, den wirtschaftlichen Niedergang und schließlich den Rückgriff auf einen imperialistischen Krieg fördern.

Die Aufgabe der Einigung Europas, die von den Kommunist:innen vor mehr als einem Jahrhundert vor dem Gemetzel zweier Weltkriege als notwendig erkannt wurde, fällt der Arbeiter:innenklasse zu, wenn sie einen Dritten Weltkrieg vermeiden will. Das Mittel, mit dem sie dies erreichen kann, ist die europaweite Revolution. Ausgehend von den heutigen Kämpfen gegen Sparhaushalte, Privatisierung, Krieg, Ungleichheit, Rassismus und Umweltzerstörung müssen die europäischen Arbeiter:innen ihre Kämpfe vereinen und ihnen ein gemeinsames Ziel geben – den Sozialismus im kontinentalen Maßstab.

2.3 Die Halbkolonien

Im globalen Süden hat die Illusion, dass die fortgeschrittenen halbkolonialen Länder den chinesischen Weg zur Entwicklung beschreiten, einen Todesstoß erhalten. In der Hochphase der Globalisierung wurden viele als „aufstrebende Volkswirtschaften“ bezeichnet, die für eine nachhaltige Entwicklung prädestiniert schienen – die asiatischen Tigerstaaten, die sogenannten BRICS-Länder, Mexiko, Indonesien, Nigeria und die Türkei. Aus diesem Optimismus heraus wurde im Jahr 2003 die G20-Gruppe gegründet. Doch in den folgenden zwei Jahrzehnten entkam mit Ausnahme von Russland und China keines dieser Länder der imperialistischen Vorherrschaft.

Die Situation der schwächeren Halbkolonien wurde nach der Krise von 2008 auf grausame Weise offengelegt. Die Dollarflucht machte die hohe Verschuldung deutlich; die von den Gläubiger:innen auferlegten Kürzungen der Lebensmittel- und Treibstoffsubventionen lösten eine Kette von Ereignissen aus, die im Arabischen Frühling gipfelte.

Die Folgen der imperialistischen Missgeschicke im Irak und in Afghanistan (und später in Syrien und der Ukraine) haben die Verarmung und den Mangel an Sicherheit der Völker noch verstärkt. Beim Widerstand gegen die Wiedereinführung noch härterer autoritärer Regime in Algerien, im Sudan und in Rojava hat die Arbeiter:innenklasse oft eine wichtige, aber keine entscheidende Rolle gespielt; nirgendwo hat sie die Regime gestürzt.

In ganz Subsahara-Afrika behalten Großbritannien und Frankreich ihren Einflussbereich auf ihre ehemaligen Kolonialgebiete mit mehr oder weniger großem Nachdruck bei. Frankreich übt zwar immer noch die Kontrolle über die Währungspolitik der CFA (Cooperation Financière en Afrique) -Länder Zentralafrikas aus, doch seine Fähigkeit, Regierungen zu stützen oder zu ersetzen, wird durch den Rückgriff auf den Schutz durch russische Stellvertretertruppen zunehmend in Frage gestellt. Die Flut schwer bewaffneter islamistischer „Terrorist:innen“ in der Sahelzone war in hohem Maße das Ergebnis der US-Intervention in Libyen, obwohl sie auch mit der fortschreitenden Wüstenbildung in der Region zusammenhängt, die ein Produkt des Klimawandels ist und die Viehzüchter:innen gegen die sesshaften landwirtschaftlichen Gemeinschaften aufbringt.

In Lateinamerika haben die von Inflation, Arbeitslosigkeit und Schuldknechtschaft geplagten Volkswirtschaften einige rechte Regierungen zu Reformen herausgefordert, aber überall haben sich die Oppositionellen als unwillig erwiesen, die Arbeiter:innen und die Armen auf dem Land und in der Stadt gegen die Elite zu führen. Putsche und konterrevolutionäre Bewegungen waren der Preis dafür.

Die Europäische Union hat in den 2000er Jahren 13 Länder aufgenommen, darunter den größten Teil des ehemaligen Ostblocks. In allen Fällen waren diese an die imperialistischen Bedürfnisse Deutschlands und in geringerem Maße Frankreichs und Italiens als Quelle billiger Arbeitskräfte und Standort für die durch Produktionsauslagerung erzielten Superprofite gebunden. Autoritäre Regierungen neigen dazu, sich mit einer Mischung aus rechtem Nationalismus und neoliberalem „Wachstum“ auf dieses Pulverfass zu setzen.

Die halbkoloniale Abneigung gegen die westlich dominierte imperialistische Ordnung wurde von China geschickt durch die sogenannte „Schuldendiplomatie“ ausgenutzt, indem es Kredite ohne menschenrechtliche Auflagen anbot. Aber wie Sri Lanka zeigt, hat der Austausch eines imperialistischen Kredithais gegen einen anderen diese Länder weder vor den Verwüstungen der internationalen Märkte geschützt noch ihren neuen Gläubiger daran gehindert, seine Eigentumsrechte an seinen Investitionen geltend zu machen.

2.4 Von der Rivalität zum Krieg

In den letzten zehn Jahren hat sich eine neue Phase der Rivalität zwischen den alten imperialistischen Mächten Europa, Nordamerika und Japan und den Neuankömmlingen China und Russland entwickelt, die ihren Platz an der Sonne einfordern. Früher oder später musste dies in einen offenen Konflikt münden. Die Ära der wohlwollenden Synergie zwischen den USA und China in den 1990er und frühen 2000er Jahren, die den Anspruch Washingtons untermauerte, eine neue Weltordnung geschaffen zu haben, ist längst vorbei. Russland, dessen kapitalistische Restauration sich endlich von den Nachwirkungen der „Schocktherapie“ erholt hatte, war der Ansicht, dass diese „Ordnung“ seinen Einflussbereich verkleinert hatte, und machte sich daran, ihn durch militärische und politische Interventionen wiederherzustellen – im Kaukasus, im Nahen Osten, in Afrika südlich der Sahara und in Osteuropa.

Jetzt erleben wir nicht nur einen Verdrängungswettbewerb, sondern auch Handelskriege, einen neuen Kalten Krieg und stellvertretende heiße Kriege. Libyen, Syrien, Jemen, Äthiopien, Sudan, Myanmar, Mali und andere sind Opfer einer neuen Periode der Großmachtrivalität, in der regionale und imperialistische Mächte Bürger:innenkriege schüren und die Bestrebungen nach Wirtschaftsentwicklung und Bekämpfung des Klimawandels zunichtemachen.

Darüber hinaus droht ein Krieg zwischen den Großmächten, deren Pulverfässer in Osteuropa, im Nahen und Fernen Osten liegen. Neue Allianzen werden ins Leben gerufen (AUKUS: Militärbündnis USA, Großbritannien mit Australien)) und alte aufgefrischt (NATO, Quad: Quatrilateraler Sicherheitsdialog; Block aus USA, Australien, Indien und Japan). Dazu gehören auch das Säbelrasseln im Südchinesischen Meer und der Versuch der westlichen imperialistischen Mächte, Putin durch massive Waffenlieferungen an die Ukraine und beispiellose Wirtschaftssanktionen zu demütigen und stürzen.

Das von den USA und dem Vereinigten Königreich geführte Sanktionsregime und die Aussetzung der russischen Öl- und Gaslieferungen nach Europa stellen einen großen Rückschlag für das deutsch-französische Projekt dar, die EU in einen unabhängigen imperialistischen Block zu verwandeln. Die Widersprüche innerhalb Europas werden immer größer, je länger der Krieg andauert. Europa ist das schwächste Glied in der imperialistischen Kette und trotz aller Niederlagen, die seine Arbeiter:innen im letzten Jahrzehnt erlitten haben, bleibt es der Kontinent mit den politisch erfahrensten Arbeiter:innenbewegungen, wenn auch mit den Führungen, die am routiniertesten darin sind, sie zu verraten.

Doch die Machthaber:innen in Washington, Berlin, Paris und London, auch in Peking und Moskau, spielen mit dem Feuer. Das Erbe von Donald Trumps Präsidentschaft und seine Umwandlung der Republikaner:innen in eine rechtspopulistische Partei, die demokratische Konventionen wie die Anerkennung von Wahlergebnissen verachtet, ist ein wichtiger Destabilisierungsfaktor, auch wenn sich Präsident Bidens Außenpolitik nur in den Schwerpunkten von der seines Vorgängers und potenziellen Nachfolgers unterscheidet. Schon jetzt setzt Trumps Oberster Gerichtshof eine reaktionäre Agenda gegen Frauen um (Aufhebung des Urteils Roe versus Wade, das Abtreibungen erlaubte) und ist bestrebt, Farbigen ihre hart erkämpften Bürger:innenrechte zu entziehen. Die giftigen Unterschiede zwischen liberalen und reaktionären US-Bundesstaaten und Wähler:innenblöcken bedrohen die Supermacht der Welt mit lähmenden internen Konflikten. Die Rolle der Vereinigten Staaten als Polizist einer „Weltordnung“ verkehrt sich in ihr Gegenteil, in die eines Brandstifters.

In Russlands vermeintlicher Einflusssphäre flammten im Kaukasus Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach und in Zentralasien zwischen Kirgistan und Tadschikistan um das Gebiet Batken auf. Das Vorhandensein mehrerer gemischter Ethnien ist eine Einladung an die despotischen Herrscher:innen dieser Gebiete, den internen Druck durch Kriege und ethnische Säuberungen zu lösen, wie sie in den 1990er Jahren Jugoslawien zerrissen haben.

Im Nahen Osten, in Syrien, wo die russischen Truppen noch immer präsent sind, und in Rojava, wo das US-Militär noch immer stationiert ist, sowie in der Türkei, die die kurdischen Streitkräfte auf beiden Seiten ihrer Grenze bedroht, schlummert ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann; trotz der chinesischen Vermittlung wird sich der Bürger:innenkrieg im Jemen wahrscheinlich als hartnäckiger Ausdruck der von den Großmächten angeheizten saudi-iranischen Regionalkonkurrenz erweisen. Unterdessen nutzt Israel den Krieg in Europa, um seine Besiedlung des Westjordanlands und Ostjerusalems zu verstärken. Seine westlichen Unterstützer:innen, ob sozialdemokratisch, liberal oder konservativ, arbeiten unermüdlich daran, die Palästinasolidaritätsbewegung mit dem Vorwurf des Antisemitismus zum Schweigen zu bringen.

Trump, Biden und Putin, die alle behaupteten, ihre Staaten seien „wieder da“, finden ihre Nachahmer:innen in Delhi, Ankara, Brasilia, Jerusalem und Riad. Jetzt tauchen solche „Störenfriede“ auch in Europa auf – in Ungarn, Polen und möglicherweise auch in Schweden, Italien oder Spanien.

Hinter diesen autoritären Führer:innen haben im letzten Jahrzehnt reaktionäre, oft rassistische Massenbewegungen zugenommen, die sich gegen Minderheiten richten und sich unter den Bedingungen einer tiefen und lang anhaltenden sozialen Krise zu vollwertigen faschistischen Bewegungen entwickeln können. All diese Prozesse stellen nach den Entwicklungen der vorangegangenen Jahre einen bedeutenden Rechtsruck dar; sie sind eine ernsthafte Herausforderung für die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten in der Welt, ihre Kampfkräfte zur Verteidigung der vergangenen Errungenschaften neu zu formieren. Aber der Erfolg erfordert die Vorbereitung der Mittel, um in die Offensive zu gehen, um die Gesellschaft dauerhaft von diesen Kräften zu befreien, die die Welt in die Katastrophe zu führen drohen.

Internationalist:innen auf der ganzen Welt müssen sich dagegen wehren, in eines der sich bekriegenden imperialistischen Lager hineingezogen zu werden, auch nicht durch deren Behauptung, Demokratie oder Antiimperialismus zu vertreten. Die USA und ihre NATO-Verbündeten sind nicht mehr das einzige imperialistische Lager, und China und Russland sind keine Antiimperialist:innen. In den alten „demokratischen“ imperialistischen Ländern Nordamerikas und Europas nutzen die herrschenden Klassen die berechtigte Empörung der Massen über Russlands Gräueltaten in der Ukraine oder Chinas Unterdrückung der Uigur:innen, der Tibeter:innen oder die Zerschlagung der demokratischen Rechte in Hongkong aus, um ihre kalten Kriege, ihre Aufrüstung und den Einsatz von Kriegen wie dem der Ukraine als Stellvertreterin zu rechtfertigen, um Russland zu schwächen. Ihre Behauptung, die Demokratie gegen die Autokratie zu verteidigen, ist lediglich eine Waffe, um fortschrittliche Menschen zu täuschen und rekrutieren.

Andererseits umwerben Moskau und Peking die Regierungen der halbkolonialen Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, indem sie die Heuchelei des Westens anprangern, seine wirtschaftliche Ausbeutung und Nötigung durch den IWF, die Auferlegung rücksichtsloser Sparmaßnahmen, seine brutalen Invasionen, die denen Russlands völlig gleichkommen, und seine Besetzungen, seine Wirtschaftsblockaden (Kuba, Venezuela, Iran, Nordkorea) beim Namen nennen und beschämen. Beide Lager können sich gegenseitig schwere ideologische Schläge versetzen, weil beide Anschuldigungen weitgehend wahr sind. Aber die Wahrheiten über die Verbrechen der einen Seite dürfen uns nicht blind machen für die ebenso entsetzlichen Verbrechen der anderen. Nichtsdestotrotz müssen Revolutionär:innen die Berechtigung derjenigen, die legitimen Widerstand gegen die Plünderungen einer der imperialistischen Mächte leisten, objektiv bewerten und anerkennen, während sie gleichzeitig den eigentlichen Grund der Gegner:innen aufdecken, sich für ihre Opfer einzusetzen, und damit das Gebot der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse vom und den Widerstand gegen den Imperialismus in Ost und West zu verteidigen.

So können wir uns für den Kampf der Ukraine um Selbstverteidigung oder für die von Peking bedrohten oder unterdrückten Völker einsetzen, ohne die Kriegsvorbereitungen und das Wettrüsten der NATO-Mächte zu unterstützen, geschweige denn direkt militärisch zu intervenieren. Gegenüber allen imperialistischen Mächten vertreten wir den striktesten revolutionären Defätismus: Mit den Methoden des Klassenkampfes, um ihre Kriegspläne zu vereiteln und zu besiegen, bereiten wir die revolutionären Kräfte und die objektive Grundlage für die soziale Revolution und den Sturz unserer eigenen Herrscher:innen vor. In den Ländern, die politisch und wirtschaftlich dem Imperialismus untergeordnet sind (Halbkolonien), verteidigen wir diese gegen den Imperialismus, wobei wir eine unbedingte politische Opposition und Unabhängigkeit von ihren bürgerlichen Führungen aufrechterhalten. In diesen Ländern ist unsere Perspektive die der permanenten Revolution: durch den Kampf, die Arbeiter:innenklasse an die Spitze eines legitimen Krieges zu bringen, den Weg zu einer sozialen Revolution unter ihrer Führung zu öffnen.

2.5 Klimakatastrophe

Die ungebremste Zerstörung der Umwelt, die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und der Ausstoß von Treibhausgasen, die den Planeten erwärmen, haben einen entscheidenden Wendepunkt erreicht, der eine tödliche Bedrohung für die natürlichen Lebensgrundlagen und die menschliche Zivilisation darstellt.

Die Zunahme extremer Wetterereignisse, Überschwemmungen, Brände, Hungersnöte und Dürren von nie dagewesener Intensität und das beschleunigte Abschmelzen des Polar- und Gletschereises mit der damit einhergehenden existenziellen Bedrohung für niedrig gelegene Länder sind alles Anzeichen dafür, dass der Klimawandel in eine tödliche und unkalkulierbare neue Phase eintritt.

Die Erwärmung des Klimas stellt die unmittelbarste Bedrohung dar, aber sie ist keineswegs die einzige. Die Versauerung und Verschmutzung der Ozeane, die Überlastung und Unterbrechung der Nährstoffkreisläufe, die Erschöpfung des Grundwasserspiegels, die Dezimierung der biologischen Vielfalt und die Anhäufung giftiger Chemikalien in der Umwelt und den Nahrungsketten – all dies stellt eine Bedrohung für die Existenz der Menschheit dar.

Angesichts der realen Auswirkungen, der apokalyptischen Modellierung der wahrscheinlichen Entwicklungen sind die Vorschläge zur Verlangsamung und Umkehrung der drohenden Katastrophe klar, aber die Großmächte der Welt weigern sich, echte Maßnahmen zu ergreifen. Der Wiedereintritt der USA in das Pariser Abkommen zur Begrenzung der Emissionen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedes Klimaabkommen lediglich die Weigerung der größten Umweltverschmutzer:innen und ihrer aufstrebenden Konkurrent:innen unterstreicht, die Profite ihrer Konzerne durch die Auferlegung echter Emissionsreduzierungen zu gefährden.

Der Kapitalismus zerstört nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern hat sich zu einem globalen System des Umweltimperialismus entwickelt, das durch ungehemmte Weltmärkte gekennzeichnet ist, auf denen der Handel zugunsten der reichen imperialistischen Länder organisiert wird. Die Grundlage dafür ist die immer stärkere Konzentration des Kapitals und die Unterdrückung der halbkolonialen Länder durch die Kontrolle über kritische Technologien und Kapitalexporte.

Die Ausbeutung der halbkolonialen Länder durch den imperialistischen Kern wird ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen intensiviert; die sozialökologischen Kosten der kapitalistischen Produktion werden systematisch auf die Halbkolonien übertragen. In den meisten Fällen können sich die monopolistischen Agrar-, Bergbau- und Energiekonzerne darauf verlassen, dass die lokalen Regierungen als willige Vollstreckerinnen gegen die Proteste der Bevölkerung auftreten. Währenddessen wird in den imperialistischen Zentren die räuberische und unhaltbare Ausbeutung des globalen Südens hinter der zynischen Vermarktung von „nachhaltiger“ Produktion und „fairem“ Handel verborgen – eine einfache, aber wirksame Propaganda im Dienste des „business as usual“ für Monsanto (Bayer), Glencore und Unilever.

Während die Nutzung und Veränderung der Umwelt zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse notwendig ist und im Sozialismus fortbestehen wird, sieht sich der Kapitalismus durch seinen grenzenlosen Drang zur Akkumulation in Richtung Zerstörung der Umwelt getrieben. Es ist das unersättliche Streben nach Profit, die Ausbeutung der Menschen und des Planeten, die die kapitalistische „Entwicklung“ unvereinbar mit den Bedürfnissen der Umwelt und dem Fortschritt der Menschheit machen. Die Tatsache, dass der Kapitalismus unaufhaltsam die natürlichen Grundlagen seiner eigenen Existenz untergräbt, beweist, dass er ein sterbendes System ist. Es stellt sich die Frage: Wird er mit der sozialistischen Umgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beendet oder wird die Menschheit auf dem Weg in die Barbarei weiterschlittern?

2.6 Rezession

Die Bemühungen der Zentralbanken der Großmächte, die Inflation zu bekämpfen, indem sie die Zinssätze nach einem Jahrzehnt mit historischen Tiefstständen von nahezu null anheben, führen zu einer neuen Rezession. Die unvermeidliche Folge ist ein Einbruch der Nachfrage, eine Zunahme der Insolvenzen und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Staatshaushalte sind bereits durch die enormen Schulden aus den Bankenrettungen von 2008 – 2010, die Stützung von Zombieunternehmen und die Aufrechterhaltung der beispiellosen staatlichen Aufwendungen durch die Pandemie überlastet. Hinzu kommt ein enormes Ausufern der unproduktiven Ausgaben für Aufrüstungsprogramme.

Die Inflation senkt den realen Wert der Löhne und der Ausgaben für Gesundheits-, Sozial- und Bildungsprogramme – ganz zu schweigen von den bereits unzureichenden Zusagen der Weltgipfel zur Bewältigung der Herausforderung des Klimawandels. Angesichts dessen werden die Rufe nach Sozialabbau, Lohnzurückhaltung und Haushaltskürzungen immer lauter.

In den USA, dem reichsten Land der Welt, lag die offizielle Armutsquote im Jahr 2021 bei 11,6 Prozent, was 37,9 Millionen Menschen entspricht. Weltweit lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung von 5,50 US-Dollar pro Tag oder weniger. Etwa 2,6 Milliarden Menschen haben keine sanitäre Grundversorgung und 1,6 Milliarden leben ohne Strom. Mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung bewohnen Länder, in denen die Ungleichheit zunimmt.

Multinationale Konzerne nutzen Millionen und Abermillionen prekär Beschäftigter als Reservearmee, die ausgebeutet werden, wenn die Gewinne am höchsten sind, und die in Zeiten der Rezession oder Stagnation für sich selbst sorgen müssen. Angetrieben von der unerbittlichen Logik der kapitalistischen Konkurrenz verlagern sie ihre Fabriken, Banken und Büros dorthin, wo sie den größten Profit erzielen können. So wird die Arbeitslosigkeit, die seit der CoVid-Pandemie bereits fortschreitet und durch den Sanktionskrieg noch verschlimmert wurde, wie ein Tsunami über die Welt hereinbrechen. Die Lohnabhängigen werden auf die spärlichen Ressourcen der Familie zurückgeworfen – auf die Lebensmitteltafeln in den imperialistischen Ländern und in die Flüchtlingslager der abgehängten Halbkolonien.

Darüber hinaus droht eine weitere technologische Revolution, die künstliche Intelligenz (KI) und die Robotik, die lebendige Arbeit massiv zu ersetzen, um die Produktivität zu steigern, obwohl sie in Wirklichkeit langfristig die Profitrate senken und die Krise des Systems insgesamt verschärfen wird. Die Kapitalist:innen träumen nur davon, die Arbeitskosten zu senken und die Zahl ihrer Beschäftigten zu reduzieren, nicht aber die Zahl ihrer Arbeitsstunden. Nunmehr bedroht die KI die Arbeitsplätze von mittleren Angestellten, Bürokräften und Dienstleister:innen in enormem Ausmaß.

Die Arbeiter:innenklasse hat vor zwei Jahrhunderten gelernt, dass der Widerstand gegen die Einführung und Anwendung neuer Technologien, etwa durch Maschinenstürmerei, zwecklos ist. Die Antwort der Arbeiter:innen besteht darin, die neuen Technologien zu nutzen, um die Arbeitszeit zu verkürzen und die für Körper und Geist schädlichen Arbeitsformen abzuschaffen. Die Technologie selbst kann die Kontrolle der Menschheit über die Produktion und die Interaktion mit unserer natürlichen Umwelt enorm erleichtern. Damit dies zu einem gesellschaftlichen Ziel wird, müssen wir die Überwachung und Kontrolle durch die Arbeiter:innenschaft, die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit und die Anhebung der Löhne, Renten und Sozialleistungen auf ein angemessenes Lebensniveau durchsetzen, das mit dem Preisanstieg Schritt hält. In einer geplanten und vergesellschafteten Wirtschaft könnten KI und der Einsatz von Robotern einen starken Impuls für die Emanzipation der Arbeit geben, indem sie es ihr ermöglichen, kreativer zu werden und generell die Bereiche zu vergrößern, die die menschliche Intelligenz abdecken kann.

3. Kampf und Führung

3.1 Fronten des Widerstands

Die Große Rezession von 2008 löste eine Welle demokratischer Revolutionen im Nahen Osten aus, bei denen Arbeiter:innenstreiks wie in Ägypten und Tunesien eine entscheidende Rolle beim Sturz der alten Diktatoren spielten, aber nicht zu einer „dauerhaften“ Revolution in dem Sinne wurden, dass die Arbeiter:innenklasse die politische Führung übernahm und es zur Bildung von Arbeiter:innenregierungen kam. Selbst als demokratische Revolutionen scheiterten sie also, und islamistische und militärische Kräfte gelangten an die Macht.

Im gleichen Zeitraum verliehen die Massenproteste, Platzbesetzungen und Streiks gegen die Sparmaßnahmen in Europa, insbesondere in Spanien und Frankreich, den ersten Jahren des Jahrzehnts einen explosiven Charakter. Im Jahr 2010 kündigte die französische Regierung drastische Rentenkürzungen und eine Anhebung des Renteneintrittsalters an, was einen dreiwöchigen Generalstreik auslöste, der an Mobilisierungen wie die von 1995 und 2006 erinnerte, die die Regierung zum Rückzug zwangen. Dieses Mal blieb der Kampf trotz der seltenen Einigkeit zwischen den Gewerkschaftsverbänden, der starken Unterstützung durch die Öffentlichkeit und der regen Beteiligung vieler Teile der Arbeiter:innenbewegung letztlich erfolglos. In anderen Ländern, in denen „soziale Bewegungen“ wie der britische Rentenstreik und die Student:innenrevolte von 2010/2011 stattfanden, gelang es den Regierungen, die Unruhen ohne Zugeständnisse zu überstehen.

Doch nirgendwo war der Kampf so langwierig und intensiv wie in Griechenland. Ab 2009 durchlief das Land eine Finanz- und Industriekrise, die ein Viertel der Wirtschaft des Landes vernichtete. Als Reaktion auf eine Reihe brutaler Kürzungsprogramme, die – auf Geheiß der deutschen Regierung – von der „Troika“ aus EZB, EU-Kommission und IWF diktiert wurden, starteten die griechischen Gewerkschaften zwischen 2010 und 2015 eine Reihe von 28 verschiedenen Generalstreiks (20 von 24 Stunden und vier von 48 Stunden). Die Syriza-Regierung, die mit einem Programm gewählt wurde, in dem sie sich den Forderungen der Troika widersetzte, und die durch das überwältigende Mandat des „Oxi“-Referendums unterstützt wurde, brach bald zusammen und verhängte die geforderten Sparmaßnahmen.

Nach den Niederlagen der sozialen Bewegungen, den Enttäuschungen, dem Scheitern und Verrat durch verschiedene sozialdemokratische oder linkspopulistische Parteien und der Niederschlagung des Arabischen Frühlings durch die Konterrevolution kam es zu einem allgemeinen Rückgang des Niveaus der Klassenkämpfe, der in den Schließungen von CoVid-19 und der Rezession gipfelte.

Jetzt gibt es überall auf der Welt Anzeichen für eine Erholung des industriellen Widerstands und die Entwicklung neuer revolutionärer Möglichkeiten.

Die brisanteste Situation in der Zeit nach der Pandemie begann mit dem Aufstand gegen die klerikale Diktatur im Iran, der durch die Ermordung von Jina Mahsa Amini durch die sogenannte Sittenpolizei ausgelöst wurde. Zwei Monate lang füllten Massenproteste unter den Slogans „Frauen, Leben, Freiheit“ und „Nieder mit den Mullahs“ die Straßen. Die Proteste, zu denen auch Streiks und das symbolische Ablegen des Kopftuchs durch Frauen gehörten, waren eine der größten Herausforderungen für das Regime seit Jahren. Da es der Bewegung jedoch nicht gelang, den Protest in einen Aufstand in Form eines Generalstreiks und der Bildung von Schoras (Räten) zu verallgemeinern, hatte der Staatsapparat Zeit, seine Position zu stabilisieren und konnte ihn schließlich mit seinen Waffen – Massenverhaftungen, Folter und Mord – niederschlagen. Während das Fehlen einer revolutionären politischen Führung es dem Regime ermöglichte, dieses Mal die Initiative zu ergreifen, ist ein großer Teil der iranischen Massen dem herrschenden System nun endgültig entfremdet: Die nächste Explosion wird noch größer ausfallen.

In den USA gab es eine Welle von Streiks in Fabriken, Schulen und in der Logistik sowie gewerkschaftliche Aktionen in den neuen Online-Dienstleistungsunternehmen wie Amazon und der sogenannten Gig-Economy mit ihren befristeten Arbeitsverträgen. Zu den wichtigen Siegen und Zugeständnissen für die Beschäftigten zählen die einmonatigen Aktionen von 10.000 Mitgliedern der Automobilarbeiter:innengewerkschaft UAW bei John Deere und die gefeierten Lehrer:innenstreiks.

In Großbritannien führte der Inflationsanstieg zu einer Reihe von eintägigen Streiks der Beschäftigten im Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungswesen, wobei die Zahl der durch Streiks für die Kapitalist:innen verlorenen Tage so hoch war wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Während die Weigerung der Gewerkschaftsführer:innen, die Maßnahmen zu eskalieren und koordinieren, in einer Folge von Abschlüssen unterhalb der Inflationsrate endete, hat sich der Widerstand gegen diese Ausverkäufe zu den ersten Versuchen seit vielen Jahren verdichtet, eine Organisation der Basis aufzubauen.

Die entschlossene Offensive des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gegen das Rentensystem löste eine Welle von eintägigen Streiks und Mobilisierungen aus. Zum ersten Mal handelten alle großen Gewerkschaftsverbände gemeinsam – doch statt einer Eskalation kam es zu einer Abwiegelung, da die Gewerkschaften abwarteten, ob das Parlament, das keine Macron-freundliche Mehrheit hatte, das Gesetz blockieren würde. Macron vermied dieses Szenario, indem er auf die Verordnungsbefugnisse zurückgriff, die den Präsident:innen unter der bonapartistischen Verfassung der Fünften Republik zustehen. Die französischen Arbeiter:innen, die kämpferischsten in Europa, haben wieder einmal gezeigt, welchen Preis jede noch so militante Bewegung zahlt, der es an einer revolutionären Führung mangelt, die in der Lage ist, einen Kampf zum Sieg zu führen.

Im August 2022, als die Inflation bei über 70 Prozent lag, zwangen die argentinischen Gewerkschaften die Regierung und die Unternehmer:innen zu einer Erhöhung der Löhne und der Arbeitslosenunterstützung. Im selben Monat gingen 600.000 südafrikanische Lohnabhängige in allen neun Provinzen auf die Straße, um ein Grundeinkommen, einen existenzsichernden Mindestlohn und eine Begrenzung der Kraftstoffpreise und Zinssätze zu fordern. In Indien folgte auf den eintägigen Streik von 150 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Sektors im Jahr 2016 im November 2020 ein weiterer 24-stündiger Streik, an dem sich 250 Millionen Beschäftigte beteiligten. In China ereignen sich in der riesigen Industriezone des Perlflussdeltas jedes Jahr bis zu 10.000 Arbeitskonflikte.

Kann diese neue Welle auf die große Zahl der derzeit nicht organisierten Proletarier:innen übergreifen? Können Aktivist:innn an der Basis dafür sorgen, dass diese neuen kämpferischen Arbeiter:innen sich Gehör verschaffen, ja, dass sie entscheidend sind? Wie alle Aufschwünge des Klassenkampfes zeigen, werden diese Gelegenheiten verpasst werden, wenn es keine alternative Führung zu reformistischen bzw. zentristischen Parteien und Gewerkschaftsbürokratien oder libertärem „spontanem“ Durcheinander gibt, und Gegenreform oder Konterrevolution werden den Sieg davontragen. Die Frage ist, wie kann eine revolutionäre Führung, eine Partei, aus der heutigen Verwirrung hervorgehen?

An diesem Punkt wird das politische Eingreifen in die Gewerkschaftskämpfe, um die Schaffung einer anderen politischen Führung voranzutreiben, die mit einer alternativen Strategie bewaffnet ist, die auf dem Klassenkampf basiert und auf den Sturz des Kapitalismus abzielt statt auf Verhandlungen und Kompromisse innerhalb seiner Grenzen, von größter Bedeutung. Die Entwicklungen innerhalb der Power Loom Workers‘ Union (Webereiarbeiter:innengewerkschaft) in Faisalabad, Pakistan, wo es Bestrebungen gibt, die Masse der Arbeiter:innen in Richtung einer solchen „klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung“ zu bewegen, sind nur ein Beispiel. Das Ziel dieses Ansatzes ist die Schaffung von Arbeiter:innenmassenparteien, die von allen bürgerlichen Kräften unabhängig sind und deren Organisation und Führung die Kampfkraft der gesamten Arbeiter:innenfront und der damit verbundenen Kämpfe der national, rassistisch und sozial Unterdrückten qualitativ verändern können.

Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse, kämpferische Aktion und Basisdemokratie sind entscheidende Fragen in der kommenden Periode. Sie können der Entwicklung von revolutionären Parteien auf internationaler Ebene und einer Fünften Internationale enorm helfen. Es ist daher die Pflicht der Vorhut-Elemente in den Gewerkschaften und revolutionären Organisationen, den Kampf zu verstärken, um das Gewerkschaftsbündnis mit bürgerlichen Parteien zu brechen – wie zum Beispiel zwischen der Demokratischen Partei und der AFL-CIO in den USA oder die Unterordnung der Gewerkschaft unter die Peronist:innen in Argentinien – mit dem Ziel, wirklich unabhängige Arbeiter:innenparteien zu gründen.

3.2 Krise der Führung

Sozialdemokratische, Labour- und kommunistische Parteien haben den Kapitalist:innen lange Zeit als alternative Regierungsparteien in den europäischen imperialistischen Staaten gedient. In Indien hat die Linksfront (CPI, CPI(M) [indische KPen] und andere) dies auf regionaler Ebene ebenfalls getan; ebenso die südafrikanische kommunistische Partei innerhalb des ANC (Partei Afrikanischer Nationalkongress) seit dem Ende der Apartheid; ein Weg, der wiederum von der brasilianischen Arbeiter:innenpartei (PT) im 21. Jahrhundert beschritten wurde.

Was diese Parteien gemeinsam haben, ist eine privilegierte Schicht professioneller Bürokrat:innen und Parlamentarier:innen, die in der Praxis den Kapitalismus als dauerhaftes System betrachten und den Bossen dienen, ob an der Regierung oder in der Opposition. Sie vereiteln die Versuche ihrer Mitglieder aus der Arbeiter:innenklasse, diese Parteien als wirksame Waffen des Kampfes einzusetzen. In Europa und Asien haben diese Organisationen, obwohl sie einst ihre Dienste für begrenzte soziale Reformen angeboten haben, in den letzten zwanzig Jahren die von der Kapitalist:innenklasse geforderte neoliberale, marktfreundliche Politik übernommen, und in der Zeit nach 2008 gerieten ihre „Reformen“ zu Sparpolitik, Privatisierung und Angriffen auf die Löhne.

Mit der Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion, Osteuropa und China sind auch die stalinistischen kommunistischen Parteien der Welt weit nach rechts gerückt. In West- und Mitteleuropa haben sie einen Teil des politischen Raums eingenommen, den die neoliberale Sozialdemokratie verlassen hat. In Worten haben sie den Neoliberalismus kritisiert, aber in der Praxis war selbst der kleinste Anteil an der Regierung ein ausreichender Preis, um die Kapitulation und Durchführung von Kürzungen und Privatisierungen durch Parteien wie Rifondazione Comunista (Italien), die französische kommunistische Partei und DIE LINKE in Deutschland zu erkaufen.

Das Regieren für den Kapitalismus führte dazu, dass die CPI-CPI(M)-Regierung in Westbengalen als Vollstreckerin für ausländisches und einheimisches Kapital gegen die dörfliche und Stammesbevölkerung auftrat, deren Land sie enteignen wollte. Die Unterdrückung der Dorfbewohner:innen von Nandigram in Westbengalen wurde weltweit berüchtigt. Ihr „Lohn“ war ein erdrutschartiger Wahlsieg im Jahr 2011 durch die bürgerliche Allianz aus Trinamool Congress und Indischem Nationalkongress, und bei den Wahlen im Mai 2019 wechselte fast ihre gesamte soziale Basis zur BJP, einer hindunationalistischen Partei.

In den 2010er Jahren gab es neue reformistische Formationen, Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, den Bloco de Esquerda in Portugal und die Corbyn-Bewegung in Großbritannien. In den USA führten die Vorwahlen der Demokratischen Partei mit der Kandidatur von Bernie Sanders 2016 und 2019 dazu, dass sich die Democratic Socialists of America, wenn von der zweiten Partei des US-Imperialismus halb abgesetzt hat.

Maoistische Parteien, insbesondere die in Nepal und Indien, haben ebenfalls eine radikalere Rolle gespielt. Die Kommunistische Partei Nepals (NCP) ist ein Zusammenschluss der CPN (Einheitliche Marxistisch-Leninistische Partei) und der CPN (Maoistisches Zentrum) aus dem Jahr 2018, dessen beide Parteien bei den Wahlen 2017 einen Erdrutschsieg errangen. Ihr Bekenntnis zur stalinistisch-maoistischen Strategie der „Revolution in Etappen“, die offen sozialistische Maßnahmen und Arbeiter:innenmacht ablehnt, stellt sicher, dass sie die Fehler und den Verrat ihrer Schwesterparteien anderswo wiederholen wird.

Die Kommunistische Partei Indiens (Maoist:innen) entstand als Guerillatruppe unter den landlosen und armen Bauern und Bäuerinnen und Adivasi (indigene Völker), die sich dagegen wehren, dass ihr Land von multinationalen Unternehmen oder indischen Milliardär:innen übernommen wird. Sie verfolgen die alte maoistische Strategie der „Umzingelung der Städte“, aber in einem Land mit einer riesigen und wachsenden Arbeiter:innenklasse, in dem die Grenzen der Etappentheorie und der Guerillastrategie immer deutlicher werden, können sie keine Strategie für eine sozialistische Revolution bieten.

Viele Linke, angeführt von der Vierten Internationale (Vereinigtes Sekretariat), sahen im raschen Aufstieg von Syriza eine Bestätigung ihrer Ablehnung des leninistischen Parteimodells zugunsten „breiter“ Bündnisse, die sowohl revolutionäre als auch reformistische Strömungen umfassen. Es ist zwar richtig, sich solchen Formationen wie Syriza anzuschließen, wo immer sie eine Abkehr einer ernstzunehmenden Zahl von Arbeiter:innen und Jugendlichen vom Liberalismus, der rechten Sozialdemokratie oder dem Populismus darstellen, aber die Kritik an den grundlegenden Schwächen des Syriza-Projekts zu unterdrücken, bedeutet, die revolutionäre Politik aufzugeben. Ebenso trugen die sogenannten Revolutionär:innen, die in Erwartung des Scheiterns beiseitestanden, nichts zur Vorbereitung der Arbeiter:innenklasse auf die bevorstehenden Schlachten bei.

In Lateinamerika haben die Regime und Bewegungen, die den von Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador) und Lula (Brasilien) proklamierten „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ vertraten, zahlreiche Niederlagen erlitten oder sind nach rechts gerückt. Nirgendwo war dies schockierender als im Fall von Chávez‘ Nachfolger Nicolás Maduro, auch wenn diese Degeneration zum repressiven Bonapartismus durch die US-Blockade, die wirtschaftliche Sabotage der venezolanischen Bourgeoisie und Putschversuche begünstigt wurde. Der Höhepunkt der braunen Flut reaktionärer Siege war die Wahl von Jair Bolsonaro 2018.

Dennoch hat sich mit der Wahl von Andrés Manuel López Obrador (Mexiko, 2018), Alberto Fernández (Argentinien, 2019), Luis Arce (Bolivien, 2020), Pedro Castillo (Peru, 2021), Gustavo Petro (Kolumbien, 2022) und Gabriel Boric (Chile, 2022) eine Gegenströmung des gemäßigten Linkspopulismus entwickelt. Alle diese Vertreter der neuen „rosa Flut“ sehen sich jedoch mit einem schwierigeren Umfeld konfrontiert als ihre Vorgänger:innen zu Beginn des Jahrtausends in der Zeit der starken Globalisierung. Die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der rechtsextremen Oppositionskräfte bedeuten, dass der Spielraum für die Erfüllung der dringenden Bedürfnisse ihrer Anhänger:innen extrem eingeschränkt ist. Das Gleiche gilt für die kürzlich gewählte Lula-Koalition in Brasilien, die als linker Deckmantel für die reaktionäre Politik eines Teils der brasilianischen Kapitalist:innenklasse dient. Diese Koalition wird von Bolsonaros Unterstützer:innen herausgefordert, die noch offener faschistisch und besser bewaffnet sind als die Gefolgschaft des abgewählten US-Präsidenten Trump. Der jüngste Putschversuch als Reaktion auf die Wahl der Lula-Koalition erinnerte stark an die Erstürmung des US-Kapitols durch Trumpist:innen im Jahr 2021.

Obwohl einige „sozialistische“ Führer:innen der 2000er Jahre bedeutende soziale und demokratische Reformen durchführten, fielen die meisten von ihnen der Krise von 2008 zum Opfer und in jedem Fall enteigneten sie nie die entscheidenden Sektoren der Bourgeoisie oder der multinationalen Konzerne. Wenn sie mit Streiks und Besetzungen konfrontiert wurden, griffen sie meist zu Repressionen und Verhaftungen. In Brasilien ergriffen weder Lula noch seine Nachfolgerin Dilma nennenswerte Maßnahmen gegen den brasilianischen Kapitalismus, noch brachen sie endgültig mit dem Imperialismus oder seinen Agenturen wie dem IWF. Diese Koexistenz kam kaum überraschend, da die PT stets in Koalition mit offenen bürgerlichen Parteien regierte, und es waren diese Kräfte, die sich beim „Putsch“ 2015 gegen die PT wandten, als Dilma abgesetzt und durch ihren Stellvertreter Michel Temer von der bürgerlichen Partei Brasilianische Demokratische Bewegung (PMDB) ersetzt wurde.

Ihr Kompromiss zwischen sozialen Reformen und der Verteidigung des Kapitalismus war damals nicht tragbar und wird es auch in Zukunft nicht sein. Auf jeden Fall werden Maßnahmen wie Verstaatlichungen nur dann „sozialistisch“, wenn ein Arbeiter:innenstaat sie koordiniert und mit der Waffe in der Hand verteidigt. Nur mit Arbeiter:innenkontrolle am Arbeitsplatz und Arbeiter:innenmacht im Staat ist es möglich, eine Wirtschaft zu planen, die die Verschwendung und das Chaos des Marktes beseitigt. Erst wenn die bewaffnete Macht in den Händen der Arbeiter:innen liegt und der militärisch-bürokratische Apparat des bürgerlichen Staates zerschlagen ist, kann der Weg zum Sozialismus national und international geebnet werden.

Ältere lateinamerikanische Regime, die von linksreformistischen oder stalinistischen Kräften geführt werden, wie Kuba, Nicaragua und Venezuela, haben auf die US-Blockaden mit immer repressiveren Maßnahmen reagiert, anstatt die Entfaltung der Demokratie der Arbeiter:innen und Bäuer:innen zuzulassen, geschweige denn die Idee eines echten Antiimperialismus, der die Ausbreitung einer kontinentalen (permanenten) Revolution bedeuten würde.

In Afrika haben Militärputsche, bonapartistische Präsidentschaften, islamistische Aufstände und Terrorismus das Elend der imperialistischen Ausbeutung und Umweltzerstörung noch verschlimmert. Der Traum vom „afrikanischen Sozialismus“, der in der Ära der Entkolonialisierung aufkam, ist längst ausgeträumt und unter der Ausbeutung durch multinationale Konzerne und westliche Banken zerbrochen, die eng mit der enormen Schuldenlast und den vom imperialistisch kontrollierten IWF und der Weltbank auferlegten „Reformen“ verbunden ist.

Die Befreiungsbewegungen in Simbabwe, Tansania, Angola und Mosambik versanken schnell in der Korruption der neuen Eliten und Unterdrückung der Opposition. Die Hoffnungen auf soziale und wirtschaftliche Befreiung, die mit dem Ende der Apartheid in Südafrika verbunden waren, wurden grausam enttäuscht, während die alten weißen Geschäfts- und Grundbesitzeliten geschützt wurden.

Die Unfähigkeit radikaler kleinbürgerlicher Guerillabewegungen und einer „schwarzen Bourgeoisie“, entschieden mit dem Kapitalismus und dem Imperialismus zu brechen, verdammte diese Länder dazu, sich weiterhin dem globalen Imperialismus unterzuordnen. Jetzt ist ein neues Gerangel um Afrika im Gange zwischen den alten Kolonialmächten, vor allem Frankreich und Großbritannien, die von den USA unterstützt werden, und China und Russland; Erstere bieten neue Investitionsquellen in Industrie und Infrastruktur, Letztere Waffenlieferungen und die zynische „Hilfe“ der Wagner-Söldner, die Militärregierungen stützen.

4. Ein Programm von Übergangsforderungen

4.1 Einleitung

Zu lange zerfielen die Programme der Arbeiter:innenparteien in ein Minimalprogramm mit stückweisen Reformen, von denen jede von den Kapitalist:innen wieder weggenommen werden kann, solange sie die Macht im Staate haben, und ein Maximalprogramm – wenn es überhaupt auftaucht –, das zwar das Ziel des Sozialismus formuliert, es aber als eine ferne Utopie darstellt, die von den Erfordernissen der gegenwärtigen Auseinandersetzungen abgekoppelt ist.

Das Programm einer neuen Internationale muss mit diesem gescheiterten Modell brechen. Es muss eine Reihe integrierter Übergangsforderungen aufstellen, die die Losungen und Kampfformen, die zur Abwehr der kapitalistischen Offensive notwendig sind, mit den Methoden verbinden, die wir brauchen, um die bürgerliche Herrschaft zu stürzen, die Arbeiter:innenmacht zu errichten und einen sozialistischen Produktionsplan einzuführen.

Das Übergangsprogramm befasst sich mit den entscheidenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen der Zeit, einschließlich der unmittelbaren und demokratischen Forderungen, die vor dem Sturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse erfüllt werden können, wie z. B. ein garantierter existenzsichernder Lohn, echte Lohngleichheit für Männer und Frauen, hohe Besteuerung der Reichen und der großen Unternehmen. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass der Kapitalismus in seiner historischen Krise solche Reformen nur dann zulassen wird, wenn er mit einer realen Bedrohung seiner Macht und seines Eigentums konfrontiert ist. Selbst dann werden die Kapitalist:innen versuchen, ihre Zugeständnisse rückgängig zu machen, sobald die unmittelbare Gefahr vorüber ist oder der Druck des Klassenkampfes nachlässt.

Die Vorstellung, dass wir den Sozialismus auf einem allmählichen und friedlichen Weg von Sozialreformen und Gewerkschaftsverhandlungen erreichen können, ist heute utopischer denn je. Ein Programm für den Sozialismus muss die grundlegenden „Rechte“ der Kapitalist:innen in Frage stellen: das Recht auf Ausbeutung, das Recht, den Profit über den Menschen zu stellen, das Recht, sich auf Kosten der Armen zu bereichern, das Recht, die Umwelt zu zerstören und unseren Kindern eine Zukunft zu verweigern.

Die Schlachten von heute zu gewinnen, heißt, mit Blick auf die Zukunft zu kämpfen. Eine Fünfte Internationale muss daher Forderungen aufstellen und Organisationsformen vorschlagen, die nicht nur den heutigen lebenswichtigen Bedürfnissen entsprechen, sondern auch die Arbeiter:innen so organisieren, dass sie die Macht ergreifen und ausüben können. Die Kombination dieser Elemente ist keine künstliche Übung; diese Elemente sind durch die realen Bedingungen des Klassenkampfes in dieser Periode des kapitalistischen Niedergangs miteinander verbunden.

Um das Tor zur zukünftigen Gesellschaft aufzustoßen, fordert unser Programm die Durchsetzung der Arbeiter:innenkontrolle über die Produktion und ihre Ausweitung auf immer weitere Bereiche, von den Fabriken, Büros, Transportsystemen und Einzelhandelsketten bis hin zu den Banken und Finanzhäusern. Dies bedeutet die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, ein Vetorecht der Beschäftigten gegen Entlassungen, die Inspektion und Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter:innen, eine automatische Lohnerhöhung bei jedem Preisanstieg zur Bekämpfung der Inflation und die entschädigungslose Verstaatlichung (Enteignung) der entscheidenden Wirtschaftssektoren.

Darüber hinaus erfordert der Kampf um diese Forderungen, um sie den Bossen aufzuzwingen, neue Formen der Organisation, die über die Grenzen der Gewerkschaftsbewegung oder der Parlamentswahlen hinausgehen. Auf jeder Ebene des Kampfes muss die Entscheidungsfindung durch demokratische Versammlungen aller Beteiligten zur Norm werden. Von diesen Versammlungen gewählte und abrufbare Delegierte sollten mit der Umsetzung von Beschlüssen und der Kampfleitung beauftragt werden. Von Streikkomitees, die von der gesamten Belegschaft gewählt werden, bis hin zu Preisüberwachungskomitees, die alle Arbeiter:innen in den Gemeinden umfassen, von Arbeiter::inneninspektionskollektiven, die die Geschäftsunterlagen von Firmen prüfen, bis hin zu Streikpostenverteidigungsverbänden, die die Streikenden schützen, sind solche Organisationen nicht nur notwendig, um die heutigen Klassenauseinandersetzungen zu gewinnen, sondern auch, um die Grundlage für die Kampforganisationen von morgen im Sturm auf die Staatsmacht und dann die zukünftigen Organe des Arbeiter:innenstaates zu bilden.

Arbeiter:innen, die sich heute gegen Sozialabbau und Sparprogramme zur Wehr setzen, können diese Forderungen einzeln und gemeinsam gegen spezifische Angriffe erheben, aber das sozialistische Ziel des Programms wird nur erreicht werden, wenn sie als ein zusammenhängendes System von Losungen für die Umgestaltung der Gesellschaft aufgegriffen und erkämpft werden. Das vollständige Übergangsprogramm ist eine Strategie für die Macht der Arbeiter:innenklasse. Aus diesem Grund sind unsere Forderungen keine passiven Appelle an Regierungen oder Unternehmer:innenschaft, sondern Kampfparolen für die Arbeiter:innenklasse, um die Kapitalist:innen zu stürzen und zu enteignen.

4.2 Gegen die kapitalistische Offensive

Gegen jeden Attacke der Kapitalist:innen auf unseren Lebensstandard ist unsere Politik die der Einheitsfront der Arbeiter:innen: die gemeinsame Aktion aller Kräfte der Arbeiter:innenklasse in jedem Land und über Grenzen und Ozeane hinweg.

4.2.1 Ein existenzsicherndes Einkommen, Arbeit für alle und Kontrolle durch die Arbeiter:innen

  • Im Kampf gegen die Inflation, die die Einkommen der Arbeiterklasse entwertet, setzen wir uns für eine gleitende Lohnskala ein – eine Erhöhung von einem Prozent für jedes Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten. Ein Lebenshaltungskostenindex für Lohnabhängige sollte von Preisüberwachungsausschüssen etabliert werden, die sich aus Delegierten zusammensetzen, gewählt von den Betriebsversammlungen, den Arbeiter:innenorganisationen, den Armensiedlungen und den Organisationen von Frauen, Verbraucher:innen sowie Kleinerzeuger:innen und -händler:innen.

  • In Ländern, die mit Hyperinflation konfrontiert sind, werden eine gleitende Einkommensskala und Preisüberwachungsausschüsse nicht ausreichen. Die Verteilung lebenswichtiger Güter und der Zugang zu Nahrungsmitteln erfordern ein unmittelbares Eingreifen: Arbeiter:innenausschüsse müssen in engster Abstimmung mit den landwirtschaftlichen Erzeuger:innen die Kontrolle über die Nahrungsmittelversorgung übernehmen.

  • Für einen landesweiten Mindestlohn, dessen Höhe von Arbeiter:innenausschüssen festgelegt wird, um ein angemessenes Leben für alle zu gewährleisten. Die Renten müssen an die Inflation angepasst, vom Staat garantiert und dürfen nicht der Gnade der Aktienmärkte überlassen werden.

  • Gegen alle Schließungen und Entlassungen kämpfen wir für Streiks und Besetzungen unter dem Motto: Abbau der Stunden, nicht der Arbeitsplätze! Wir setzen uns für eine gleitende Arbeitszeitskala ein, um den Arbeitstag zu verkürzen und die verfügbare Arbeit zu verteilen, ohne dass die Löhne oder Arbeitsbedingungen verschlechtert werden.

  • Überall auf der Welt berufen sich staatliche und private Unternehmen auf Konkurs, Effizienz und Produktivität, um den Abbau von Arbeitsplätzen zu rechtfertigen. Unsere Antwort: Offenlegung aller Geschäftsunterlagen! Alle Konten, Datenbanken, Finanz-, Steuer- und Managementdaten müssen für die Einsichtnahme durch gewählte Arbeiter:innendelegierte geöffnet und geprüft werden.

  • Jedes Unternehmen, das Entlassungen vornimmt, die Produktion ins Ausland verlagert, gegen Mindestlohn-, Arbeitsschutz- oder Umweltvorschriften verstößt oder Steuern hinterzieht, ist ohne Entschädigung zu verstaatlichen. Die Produktion muss unter Kontrolle und Leitung der Arbeiter:innen fortgesetzt werden!

  • Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten zur Verbesserung der sozialen Dienste, der Gesundheitsfürsorge, des Wohnungswesens, des Verkehrs und der Umwelt unter Kontrolle der Arbeiter:innen und ihrer Gemeinschaften.

  • Nein zu Produktionsausgliederung und -verlagerung in Billiglohnländer. Anstelle der Konkurrenz zwischen Arbeiter:innen verschiedener Nationen um dieselben Arbeitsplätze sollten internationale Zusammenschlüsse von Arbeiter:innen in denselben Unternehmen und Produktionszweigen gebildet werden, um eine Angleichung der Löhne und Arbeitsbedingungen auf Höchststandard zu erstreiten. Tarifverträge und gesetzliche Rechte müssen auch für die Beschäftigten von Zulieferbetrieben gelten.

  • Für sichere Arbeitsplätze: Ablehnung aller Formen von unsicheren, informellen, prekären und Null-Stunden-Arbeitsverhältnissen. Alle Arbeiter:innen sollen mit unbefristeten Verträgen und garantierten Arbeitszeiten beschäftigt werden. Löhne und Arbeitsbedingungen müssen durch Tarifverträge geregelt werden, die von Gewerkschaften und betrieblichen Vertreter:innen kontrolliert werden.

  • Bekämpfung der Intensivierung der Arbeit durch Beschleunigung und „Effizienzsteigerungen“, die lediglich Maßnahmen zur Intensivierung der Ausbeutung und Steigerung der Profite sind und unsere Gesundheit, Sicherheit und unser Leben gefährden.

  • Gegen „Mitbestimmung“, „Sozialpartner:innenschaft“ oder andere Formen der Klassenzusammenarbeit, bei denen die Gewerkschaften die Politik der Kapitalist:innen verwalten, kämpfen wir für die Kontrolle durch die Arbeiter:innen. Das bedeutet das Recht auf ein Veto gegen Managemententscheidungen über Beschäftigung, Produktion, Einführung und Anwendung von Technologie.

4.2.2 Für universelle öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherheit

Die erbarmungslose Reihe von zynisch als „Reformen“ bezeichneten Einschränkungen öffentlicher Dienstleistungen sind nichts anderes als Sparprogramme, mit denen die Kosten für den Niedergang der öffentlichen Dienstleistungen von den Reichen auf die Arbeiter:innenklasse abgewälzt werden sollen. Lebenswichtige Dienstleistungen und Ressourcen, von Wasser und Energie bis hin zu Gesundheit und Bildung, die über Generationen aus Steuerbeiträgen und Arbeit der Arbeiter:innenklasse und Mittelschichten bezahlt wurden, sind zu Schleuderpreisen an Kapitalist:innen weitergereicht worden, die sie für ihren privaten Profit ausbeuten, nicht für den öffentlichen Bedarf. Die Milliardär:innen, die einmal von unserer Arbeit profitieren, wollen zweifach auch noch aus unserer Kindheit, unserem Alter und unserer Gesundheit Profit scheffeln. Gleichzeitig besitzen sie die Frechheit zu fordern, dass Sozialhilfe und Renten gekürzt werden, um „Eigenverantwortung zu fördern“ und „die Kultur der Abhängigkeit zu verringern“!

Als Reaktion auf die schamlose Ausplünderung des öffentlichen Vermögens durch private Spekulant:innen fordern wir:

  • Keine einzige Kürzung, keine einzige Privatisierung mehr! Verstaatlichung der wesentlichen Infrastrukturen –Wasser, Energie, Verkehr und Kommunikation – ohne Entschädigung. Beendigung aller öffentlich-privaten Partner:innenschaften und Privatinvestor:innenförderungsprogramme.

  • Verstaatlichung und Ausweitung der besten Bildungs-, Gesundheits-, Wohlfahrts- und Sozialfürsorgesysteme auf die Milliarden von Menschen, die überhaupt nicht versorgt sind. Bildung, Gesundheit und Sozialfürsorge sollten der Kontrolle von Arbeiter:innen und Nutzer:innen unterstehen und für alle kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

  • Das Rentenalter sollte schrittweise gesenkt und nicht erhöht werden. Anhebung der Renten auf ein existenzsicherndes Minimum und Deckung auf allgemeingesellschaftlicher Grundlage, (also unter Einbezug der Reichen). Die privaten Rentensysteme sollten verstaatlicht und zu einer einzigen staatlich garantierten Rente zusammengefasst werden.

  • Öffentliche Dienstleistungen, die am Ort der Erbringung kostenlos sind und aus progressiven Steuern oder Versicherungen bezahlt werden, sind ein wichtiges Mittel, um einen Mindeststandard und einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialer Sicherheit für Arbeiter:innen und Arme zu gewährleisten. Öffentliches Eigentum ist jedoch kein Sozialismus. Verstaatlichte Unternehmen und Dienstleistungen kaufen Vorleistungen von Kapitalist:innen, entschädigen frühere Eigentümer:innen, konkurrieren mit Privateigentümer:innen, wenden kapitalistische Managementtechniken an und arbeiten unter der ständigen Bedrohung durch Kürzungen und Privatisierung. Sie können der Zwangsjacke des Profitsystems nie entkommen. Die Arbeiter:innen müssen lernen, die kapitalistische Verstaatlichung von der Vergesellschaftung und Enteignung durch die Arbeiter:innenklasse zu unterscheiden, die dazu dient, die Bosse endgültig zu entmachten. Nur so können Dienstleistungen höchster Qualität von der Wiege bis zur Bahre geplant und erbracht werden, um die Not zu beseitigen und Gleichheit herzustellen.

  • In jedem Fall müssen die Arbeiter:innen- und Nutzer:innenorganisationen die Interessen der Arbeiter:innenklasse gegen die Besitzenden durchsetzen, indem sie sich gegen Rettungsaktionen wenden, die bankrotte Kapitalist:innen auf Kosten der Steuerzahler:innen schonen. Wir sagen: Vergesellschaftung der Vermögenswerte, nicht der Verluste! Die Verstaatlichung unter Arbeiter:innen- und Nutzer:innenkontrolle ist notwendig, um zu verhindern, dass die Regierungen die Verluste übernehmen und die profitablen Vermögenswerte reprivatisieren.

4.2.3 Enteignung des Vermögens der Reichen

Zwischen 2016 und 2022 ist die Zahl der Milliardär:innen von 1810 auf 2668 gestiegen. Damit eine winzige Minderheit in unvorstellbarem Luxus leben kann, müssen Milliarden in unbeschreiblicher Armut existieren. Die Investitionsentscheidungen dieser Finanziers und Industriellen können ganze Länder in die Knie zwingen. Neben den Milliardär:innen leben Hunderttausende von Multimillionär:innen in schamlosem Luxus auf unsere Kosten, während 852 Millionen Menschen hungern und täglich mehr als 1.000 Kinder an den Folgen des Hungers sterben.

Diese Schmarotzerschicht lehnt jeden Versuch, ihren Reichtum zu besteuern und umzuverteilen, vehement ab. Sie versteckt ihr Geld in Steuerparadiesen und manipuliert ihre Staatsbürger:innenschaft und ihren Aufenthaltsstatus, um die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Sie führt eine unaufhörliche Kampagne, damit die Arbeiter:innenklasse den Großteil der Steuerlast trägt, indem die indirekten Steuern auf Grundgüter wie Kraftstoff und Lebensmittel erhöht und die Steuern auf Unternehmen und Vermögen gesenkt werden.

Der Reichtum der Kapitalist:innen, der Finanziers und Industriellen stammt letztlich aus der Arbeit der Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen. Wir sagen:

  • Finanzierung eines massiven Ausbaus der öffentlichen Dienste und von Programmen zur Beseitigung der Armut durch Enteignung des Privatvermögens der Reichen. Abschaffung aller indirekten Steuern und Zerschlagung der Steuerhinterziehungsindustrie durch Schließung von steuerfreien Oasen, Verstaatlichung der vier großen Wirtschaftsprüfungskonzerne.

4.2.4 Für einen Plan der Arbeiter:innen zu internationaler Produktion und Entwicklung

Anstelle eines Flickenteppichs aus staatlichem und privatem Eigentum, das nur durch die Anarchie des Marktes verbunden ist, erfordert die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschheit und der Natur einen demokratischen Produktionsplan, mittels dessen die Ressourcen der Welt, einschließlich der menschlichen Arbeitskraft, rational verteilt werden, entsprechend dem Willen der Menschen, die arbeiten, um alles zu produzieren, zu verteilen und zu bedienen. Nur wenn wir die Anarchie des Marktes durch die bewusste Planung einer Weltwirtschaft unter Gemeineigentum ersetzen, werden wir in der Lage sein, die Produktion zur Grundlage kollektiven Wohlstands anstelle der privaten Akkumulation zu machen. In jedem Fall verbinden revolutionäre Kommunist:innen den Kampf für die Enteignung dieses oder jenes Industriezweigs mit der Notwendigkeit, die Kapitalist:innenklasse als Ganzes zu expropriieren. Denn, wie Leo Trotzki es ausdrückte, wird das Staatseigentum nur dann zu günstigen Ergebnissen führen, „wenn die Staatsmacht selbst vollständig aus den Händen der Ausbeuter:innen in die Hände der Werktätigen übergeht“.

Genauso wie die großen Monopole der Welt ihre Produktions- und Vertriebssysteme international planen müssen, muss dies auch eine sozialisierte Wirtschaft tun. Sozialistische Planung bedeutet jedoch, die Wirtschaft nach einem Plan unter demokratischer Kontrolle der Produzent:innen und Verbraucher:innen zu führen und entfalten; sie ist nicht die Herrschaft einer privilegierten Bürokratie, wie sie sich mit der Degeneration des ersten Arbeiter:innenstaates der Welt entwickelte und nach 1945 in anderen Staaten nachgeahmt wurde. Die Existenz einer Weltwirtschaft setzt eine internationale Planung voraus; die „Theorie“ des Sozialismus in einem Land ist eine Illusion. Die sozialistische Planung muss sich weltweit ausbreiten und den kapitalistischen Handel durch den internationalen Austausch von Produkten, Ressourcen und Arbeit ersetzen, um alle Länder und Völker auf das optimale Niveau der sozialen Entwicklung zu bringen. Eine internationale Planwirtschaft ist das zentrale Instrument nicht nur zur Beseitigung von Armut und Ungleichheit, sondern auch zur Verhinderung und Umkehrung der Klimakatastrophe.

Das einzige internationale Planungssystem, das der Kapitalismus vorweisen kann, ist das der imperialistisch dominierten Finanzinstitutionen – IWF, WTO und Weltbank. Die betrügerische Behauptung, sie würden die Schulden der imperialisierten Länder lindern und echte Entwicklungsziele verfolgen, wurde durch die Massenmobilisierungen der antikapitalistischen Bewegung von Seattle 1999 bis Genua 2001 entlarvt. Die darauf folgenden Welt- und Kontinentalsozialforen von 2002 bis 2006 haben ein wichtiges Vermächtnis hinterlassen, nämlich ein globales Bewusstsein für die gemeinsamen Interessen und Kämpfe der Arbeiter:innen, Jugendlichen, Bauern, Bäuerinnen und indigenen Völker des globalen Nordens und Südens.

Die leeren Versprechen der Globalisierungsinstitutionen, ein „neues Paradigma“ für eine krisenfreie Welt zu schaffen, sind mit dem Crash 2008 endgültig geplatzt. Die Aufgabe von Entwicklungszielen und Kürzung der Entwicklungshilfehaushalte beschleunigten den Rückzug jener Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von der politischen Bühne, die mit der Illusion hausieren gegangen waren, dass sich diese Ausbeutungsinstrumente irgendwie reformieren ließen oder verschwinden würden. Als der Vorwand der Krisenbekämpfung den Sparprogrammen wich, griffen der IWF und seine Helfershelfer:innen wieder an. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, neue Bewegungen aufzubauen, die in der Arbeiter:innenklasse und der Bauern- und Bäuerinnenschaft verwurzelt sind und sich weder in die Institutionen der „liberalen Weltordnung“ noch in NGOs, staatliche „Hilfsprogramme“ oder milliardenschwere Wohltätigkeitsorganisationen Illusionen machen. Stattdessen müssen sie ein Programm vorantreiben, das auf der Zerschlagung der imperialistischen Institutionen, der Enteignung der Banken und Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle und der Umverteilung des Bodens an diejenigen, die ihn bearbeiten, beruht.

  • Unmittelbar bedeutet dies den bedingungslosen und vollständigen Erlass der Schulden aller halbkolonialen Länder, verbunden mit Maßnahmen, die die imperialistischen Mächte zwingen, die halbkoloniale Welt für die Ausplünderung ihrer natürlichen und menschlichen Ressourcen zu entschädigen. Das Eigentum und die Kontrolle über die Geschäfte der multinationalen Konzerne müssen an die Arbeiter:innen übergehen, die ihren Reichtum produzieren.

  • Beendigung des Protektionismus gegen die Produkte des globalen Südens. Schafft NAFTA (nordamerikanisches Freihandelsabkommen), die Gemeinsame Agrarpolitik und andere protektionistische Waffen der imperialistischen Staaten ab. Wir unterstützen jedoch das Recht der halbkolonialen Länder, ihre Märkte gegen Billigimporte aus imperialistischen Ländern zu verteidigen.

  • Abschaffung des IWF, der WTO, der Weltbank und aller Sonderwirtschaftszonen.

  • Verstaatlichung der Aktienmärkte. Entschädigungslose Enteignung der Großindustrie unter Arbeiter:innenkontrolle. Verstaatlichung und Fusion der Banken zu einer einzigen nationalen Bank unter Arbeiter:innenkontrolle.

4.3 Gegen Militarismus und Krieg

Als wichtigste Veränderung der Bedingungen, mit denen die Arbeiter:innenklasse seit 2008 konfrontiert ist, erweist sich das Entstehen von zwei neuen imperialistischen Großmächten, die möglicherweise einen strategischen Militärblock miteinander bilden, um die Vorherrschaft der USA und ihrer untergeordneten Verbündeten in Europa und Asien herauszufordern. Dies stellt die alten Weltanschauungen der Arbeiter:innenparteien und linkspopulistischen Bewegungen des globalen Nordens und Südens ernsthaft auf die Probe, die aus den vierzig Jahren des ersten Kalten Krieges stammen.

Die Sozialdemokratie und die Arbeiter:innenbewegung unterstützten weitgehend die „demokratischen“ Imperialismen gegen die „autoritären“ Regime (Russland, China usw.) und betrachteten den „Westen“ als eine fortschrittliche Kraft, die sie entweder an der Regierung oder in der Opposition unterstützen sollten, unabhängig von ihrem sozialen Charakter. Der linke Flügel dieser Parteien lehnte jedoch die kolonialen und halbkolonialen Kriege und Unterdrückungen ab, bezog Stellung aufseiten der blockfreien Länder im Kalten Krieg und beteiligte sich auch an Friedens- und antiimperialistischen Bewegungen.

Die stalinistischen kommunistischen Parteien hingegen unterstützten nicht nur die degenerierten Arbeiter:innenstaaten gegen die imperialistischen Mächte, sondern entschuldigten deren Diktatur über die Arbeiter:innenklasse und in vielen Fällen ihre brutale Repression (Ungarn, Tschechoslowakei, Polen, Tian’anmen). Sie traten auch für antiimperialistische Bewegungen und Befreiungskriege wie in Vietnam und Kuba ein. Obwohl die sehr deutliche und fast unbestreitbare Restauration des Kapitalismus in Russland dazu geführt hat, dass nur wenige KP-Anhänger:innen Putin unterstützen, ist dies in Bezug auf China nicht der Fall. Die meisten, die immer noch den Stalinismus als Hauptströmung des Sozialismus und Kommunismus ansehen, betrachten daher die USA/NATO als „die“ imperialistische Kraft schlechthin und jede/n, der/die sich ihr entgegenstellt, als das kleinere Übel.

In einer Zeit, in der sich der Konflikt zwischen Russland und China auf der einen und dem Westen auf der anderen Seite entwickelt, neigt die stalinistische und linkssozialistische Linke dazu, sich auf die Seite der Erstgenannten zu stellen oder zumindest nicht gegen sie zu opponieren, während die der Mehrheit aus sozialdemokratischen und Labourtraditionen die Letzteren unterstützen. Eine wirklich revolutionäre Position, die von den beiden rivalisierenden imperialistischen Lagern unabhängig ist, verfolgt jedoch die von Lenin im Ersten Weltkrieg vertretene und von Trotzki im Zweiten Weltkrieg wiederholte Haltung gegenüber allen imperialistischen Ländern. Für sie war der Unterschied des politischen Regimes (Demokratie/Autokratie) nicht entscheidend. Was zählte, war ihr gemeinsamer Charakter als Ausplünderer und Unterdrücker kleinerer, schwächerer Nationen, die entweder ihre Kolonien oder Halbkolonien waren oder werden sollten.

Es waren und sind nur diese unterdrückten Nationen, die die Arbeiter:innenklasse verteidigen sollte, unabhängig vom Charakter ihrer politischen Regime. Das Ziel besteht nicht nur darin, die imperialistischen Herrscher:innen im In- und Ausland zu schwächen, sondern der Arbeiter:innenklasse der Länder, die von den imperialistischen Mächten blockiert, angegriffen oder unterdrückt werden, zu helfen, sich an die Spitze des nationalen Befreiungskampfes zu setzen und die Macht zu übernehmen (Strategie der permanenten Revolution).

In den Kriegen zwischen den imperialistischen Mächten hingegen war und ist die Position der Revolutionär:innen, dass „der/die Hauptfeind:in im eigenen Land steht“ und dass die Revolutionär:innen in allen reaktionären Kriegen die Niederlage der Kriegführenden wünschen müssen, eine Niederlage, die dadurch erreicht wird, dass ihr Krieg in einen Bürger:innenkrieg, d. h. eine Revolution, umgewandelt wird.

Unter den heutigen Bedingungen eines intensiven zwischenimperialistischen Konflikts ist es wahrscheinlich, dass jeder halbkoloniale Widerstand gegen eine/n imperialistische/n Unterdrücker:in von seinen/ihren imperialistischen Rival:innen ausgenutzt werden wird. Solange eine solche Intervention ein untergeordneter Faktor bleibt, wird sie den Charakter des Krieges nicht ändern, und die internationale Arbeiter:innenklasse muss die unterdrückte Nation unterstützen, ungeachtet des Charakters ihrer Führung oder angegriffenen Regimes.

Aber wie wir im Fall des Krieges um die Ukraine sehen können, kann ein solcher zum Mittelpunkt des aktuellen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt werden. Obwohl die NATO nicht offiziell in den Krieg verwickelt ist, hat sich der zwischenimperialistische Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten als entscheidender Faktor in diesem Krieg entpuppt, wobei die westlichen Imperialist:innen Wirtschaftssanktionen von historischem Ausmaß gegen Russland verhängen und die Ukraine als Stellvertreterin bewaffnen und ausbilden.

Der Krieg um die Ukraine hat daher einen kombinierten Charakter angenommen. Auf der einen Seite gibt es den neuen Kalten Krieg zwischen den westlichen imperialistischen Mächten und auf der Gegenseite Russland (und seinem Unterstützer China), der auf dem Terrain der Ukraine ausgetragen wird. Auf der anderen Seite bedeutet dies jedoch nicht, dass die Selbstverteidigung des ukrainischen Volkes, auch wenn sie von einer reaktionären bürgerlichen und prowestlichen Regierung geführt wird, bisher zu einem untergeordneten Faktor geworden ist. Deshalb muss die Arbeiter:innenklasse weltweit das Recht der Ukrainer:innen auf Widerstand gegen die russische Invasion anerkennen und sich die dafür notwendigen Mittel aneignen. Gleichzeitig darf die nationalistische, prowestliche Selenskyj-Regierung keine politische Unterstützung erhalten. Ihre Bestrebungen, der NATO beizutreten oder ihre Wirtschaft der EU unterzuordnen sowie ein Regime auf der Krim zu errichten, deren Bevölkerung eindeutig nicht Teil der Ukraine sein will, müssen verurteilt werden.

In Russland müssen die Revolutionär:innen eine Politik des revolutionären Defätismus verfolgen und dafür kämpfen, Putins reaktionären Krieg in einen Klassenkrieg zu verwandeln, um sein Regime zu stürzen. In den NATO-Ländern müssen sie sich jeder westlichen Intervention widersetzen. Sie müssen sich den Kriegszielen der NATO, ihren Sanktionsmethoden, ihrer großen Aufrüstung und ihrer Ausdehnung auf bisher neutrale Staaten entgegenstellen. Es ist notwendig, sich gegen all diese Maßnahmen im Rahmen der Konfrontationspolitik des westlichen imperialistischen Blocks gegenüber dem russischen (und chinesischen) Imperialismus aufzulehnen. Dieser Beginn eines neuen Kalten Krieges bringt die Menschheit näher an einen Dritten Weltkrieg, der leicht ihr letzter sein könnte. Die gleichen Prinzipien würden gelten, wenn China in Taiwan einmarschierte. Xi Jinping und die parteiübergreifenden Kräfte im US-Kongress bewegen sich in diese Richtung. Es ist von entscheidender Bedeutung, sich dafür zu engagieren, dass die Arbeiter:innenbewegungen und antiimperialistischen Kräfte auf der ganzen Welt nicht in ein imperialistisches Lager eintreten.

Der Rüstungswettlauf und die zunehmende Stationierung von Kampftruppen, Militärstützpunkten und Flottillen auf der ganzen Welt sowie die Anheizung der Gegensätze durch eine Reihe von Stellvertreter:innenkriegen können bekämpft werden, wenn es eine Millionenbewegung gibt, wie sie dem katastrophalen Irakkrieg entgegenzutreten versuchte, aber mit größerem Durchhaltevermögen und größerer Bereitschaft, alles zu tun, um die Kriegstreiber:innen von der Macht zu vertreiben. Vor allem aber bedarf es einer Bewegung mit einer qualitativ besseren, d. h. revolutionären Führung. Eine solche Bewegung muss international sein, ja sie muss eine Internationale werden.

Wenn die Arbeiter:innenklasse es unwidersprochen lässt, dass unsere Herrscher:innen Sanktionen verhängen, die zu Hunger und Inflation, zu neuen Rüstungswettläufen, die die für die Gesundheit, die Bildung, die Abwendung von Klimakatastrophen benötigten Ressourcen verbrauchen und zu zerstörerischen Kriegen führen, dann ist es unser Schicksal, deren Opfer zu sein und gegeneinander aufgehetzt zu werden. Deshalb hat die Arbeiter:innenklasse, wie Karl Marx 1864 in der Gründungserklärung der Ersten Internationale schrieb, „die Pflicht, sich die Geheimnisse der internationalen Politik anzueignen, die diplomatischen Handlungen ihrer jeweiligen Regierungen zu beobachten und ihnen, wenn nötig, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzuwirken“.

Die große Antikriegsmobilisierung von 2003, die 20 Millionen Menschen in jeder größeren Stadt der Welt auf die Straße brachte, zeigte die potenzielle Kraft einer internationalen Koordination. Das Scheitern der vom Europäischen und Weltsozialforum initiierten Bewegung war darauf zurückzuführen, dass die Organisator:innen dieser Demonstrationen nicht willens und in der Lage waren, weitere Massenaktionen, einschließlich Generalstreiks und Meutereien, zu organisieren, um die Bewegung zu stoppen oder die Mobilisierungen in Revolutionen zu verwandeln. Daraus ergab sich die Notwendigkeit einer disziplinierteren Organisation mit entschlosseneren Zielen, einer Fünften Internationale.

Im Kapitalismus haben die Arbeiter:innen kein Vaterland. In den imperialistischen Ländern kann die Arbeiter:innenbewegung niemals die „nationale Verteidigung“ unterstützen und muss immer die Niederlage ihrer Herrscher:innen anstreben, sei es in den kolonialen Besatzungskriegen im Irak und in Afghanistan oder in jedem Zusammenstoß mit rivalisierenden imperialistischen Staaten wie Russland oder China. Es ist die Pflicht der Revolutionär:innen, den Krieg zu nutzen, wie es die Zweite Internationale 1907 beschlossen hatte, um das System zu stürzen.

In halbkolonialen Ländern ist es notwendig, die Nation gegen jeden Angriff einer imperialistischen Macht oder einer/s ihrer lokalen Stellvertreter:innen oder „Gendarm:innen“ zu verteidigen. Gleichzeitig unterstützen die Revolutionär:innen nicht die Kriegsführung der Bourgeoisie. Indem sie für eine Einheitsfront aller nationalen Kräfte gegen den Imperialismus kämpfen, die Schwäche, das Zaudern und die Zaghaftigkeit der besitzenden Klassen im antiimperialistischen Konflikt entlarven, streben Revolutionär:innen danach, unabhängige Kräfte der Arbeiter:innenklasse an die Spitze des Kampfes zu bringen, um die Nation vom Imperialismus zu befreien und den Weg zum Sozialismus zu bahnen. In geschwistermörderischen Auseinandersetzungen zwischen Halbkolonien um Territorien oder Ressourcen stellt die Niederlage des „eigenen“ Landes ein geringeres Übel dar als die Aussetzung des Klassenkampfes im eigenen Land; der Krieg muss in einen Aufstand für die Macht der Arbeiter:innenklasse und den Frieden verwandelt werden.

Die imperialistischen Großmächte USA, Großbritannien, China und die EU-Staaten geben Hunderte von Milliarden für ihre Kriegsmaschinerie aus. Sie geben heute vor, im humanitären Interesse zu handeln, aber das ist eine Tarnung für ihr eigentliches Ziel, nämlich die Durchsetzung und Aufrechterhaltung ihrer militärischen Vorherrschaft in der Welt. Auch in ärmeren Ländern werden riesige Teile des Staatshaushalts für die Armee aufgewandt. In Ländern wie Pakistan und der Türkei versucht das Militär, selbst eine direkte politische Rolle zu spielen.

  • Nein zu imperialistischen Kriegen, Sanktionen und Blockaden. Nieder mit allen imperialistischen Besatzungen wie der russischen in der Ukraine und zuvor in Tschetschenien, der Besatzung Afghanistans und des Irak durch die NATO-Mächte, der Besatzung Palästinas durch den zionistischen Staat, der US-Blockade Kubas, des Iran, Nordkoreas und Venezuelas. Wir stärken den Widerstand gegen all diese Besatzungen und Blockaden.

  • Für die Schließung aller imperialistischen Militärbasen auf der ganzen Welt! Nein zu den Militärinterventionen der USA, der EU und anderer imperialistischer Staaten.

  • Für die Auflösung aller imperialistisch dominierten Militärbündnisse wie NATO, CSTO (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit; OVKS; Bündnis Russlands mit Zerfallsprodukten der ehemaligen Sowjetunion), AUKUS usw.

  • Keinen Pfennig und keinen Menschen für eine kapitalistische Armee, sei es eine Berufs- oder eine Wehrpflichtarmee. Die Arbeiter:innenvertretungen im Parlament müssen sich allen Militärausgaben der kapitalistischen Regierungen widersetzen.

  • Militärische Ausbildung für alle unter Kontrolle der Arbeiter:innenbewegung.

  • Für volle bürgerliche und politische Rechte für Soldat:innen einschließlich Marine- und Luftwaffenangehörigen, die Einrichtung von Ausschüssen und Gewerkschaften in den Lagern und Kasernen und die Wahl von Offizier:innen. Verteidigt alle, die sich dem Befehl widersetzen, Zivilist:innen anzugreifen, zu vergewaltigen, zu foltern usw.!

  • In allen imperialistischen Kriegen oder Kriegen der Ausplünderung und Unterdrückung von nationalen Minderheiten (z. B. der kurdischen in der Türkei, der tamilischen in Sri Lanka, der Rohingya in Myanmar) befindet sich der/die Hauptfeind:in der Arbeiter:innenklasse im eigenen Land. Für die Niederlage der herrschenden Klassen, für den Sieg des Widerstands.

4.4 Kampf gegen die Klimakatastrophe

Klimawandel und Umweltzerstörung können nur eingedämmt und rückgängig gemacht werden, wenn die Kontrolle über die Produktion aus den Händen der großen Kapitalformationen genommen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein starker Widerstand gegen die Umweltzerstörung und Bedrohung durch den Klimawandel entwickelt, der von lokalen Initiativen gegen bestimmte Großprojekte über große Bewegungen gegen umweltschädigende Politik und Widerstand in Halbkolonien bis hin zu Umweltbewegungen in den imperialistischen Zentren reicht.

In Europa war es die Jugend, die mit weltweiten Student:innen- und Schulstreiks und direkten Aktionen die Vorreiter:innenrolle übernommen hat. Die Arbeiter:innenbewegung, die zurückgeblieben ist, muss sich mit ihnen verbinden und ihre Aktionen und Kampagnen unterstützen und ausweiten, ohne zu versuchen, ihren kämpferischen Geist zu unterdrücken. Gleichzeitig muss sie die reformistische oder bürgerliche Ausrichtung der Führungen der Klimabewegung, wie die bürokratische von Fridays for Future, in Frage stellen und sich für eine Ausrichtung der Bewegung auf die Arbeiter:innenklasse starkmachen.

In bestimmten Bereichen konnte das bisher ungehemmte Handeln von Großkonzernen und ihren Helfer:innen in Umweltfragen gebremst werden. Es ist notwendig, diese Erfolge auf die soziale Kontrolle der sozialökologischen Auswirkungen wirtschaftlicher Entscheidungen auszuweiten. Es müssen demokratische Kontrollgremien aus Arbeiter:innen, Verbraucher:innen, Betroffenen von Großprojekten, jungen Menschen, die um ihre Zukunft ringen, etc. gebildet werden, die über Projekte, Risikostufen, Grenzwerte, ökologische Maßnahmen etc. entscheiden. Das Kapital muss systematisch mit einer sozialen Kontrolle hinsichtlich der sozialökologischen Auswirkungen seines Handelns konfrontiert werden.

Letztlich wird nur die sozialistische Revolution das System des Umweltimperialismus überwinden und die geplante optimale Nutzung der Ressourcen unter Kontrolle der Mehrheit weltweit ermöglichen. Jedes Programm im Kampf gegen den Imperialismus muss, ausgehend von den betroffenen Menschen und den globalen Interessen der Arbeiter:innenklasse, zentral auch Forderungen für den Kampf gegen den globalen ökologischen Raubbau, insbesondere auf Kosten der Halbkolonien, entwickeln.

Die folgenden Forderungen richten sich nicht nur an die staatliche und Umweltpolitik über bestimmte Landesgrenzen hinweg, sondern sind dergestalt, dass sie nur von einer internationalen Bewegung umgesetzt werden können, die die zuvor beschriebene Form der demokratisch legitimierten gesellschaftlichen Kontrolle über die hier geforderten Maßnahmen durchführt.

  • Für einen Notfallplan zur Umstrukturierung der Energie- und Verkehrssysteme – für eine Perspektive zur Beendigung des weltweiten Verbrauchs fossiler Brennstoffe!

  • Die großen Konzerne und imperialistischen Staaten wie die USA und EU müssen Reparationszahlungen für die Umweltzerstörung leisten, die sie im Rest der Welt verursacht haben, um den halbkolonialen Ländern zu helfen, den notwendigen ökologischen Wandel zu vollziehen.

  • Für einen Plan zum Ausstieg aus der fossilen und nuklearen Energieerzeugung. Für massive Investitionen in erneuerbare Energieformen wie Wind-, Wasser- und Sonnenenergie sowie in geeignete Speichertechnologien.

  • Für ein großes globales Programm zur Wiederaufforstung zerstörter Wälder bei gleichzeitigem Schutz der bestehenden naturnahen Ökosysteme der indigenen Völker!

  • Für die Unterstützung der Kämpfe der indigenen Völker und von der Umweltzerstörung bedrohten Bevölkerungsgruppen! Für ihren Schutz und ihr Recht auf Selbstbestimmung.

  • Für ein globales Programm zum Schutz der Wasserressourcen. Für massive Investitionen in die Trinkwasserversorgung und Abwasserreinigung!

  • Für ein globales Programm zur Ressourcenschonung, Abfallvermeidung und -bewirtschaftung.

  • Für die Umstellung der Landwirtschaft auf nachhaltige Anbaumethoden. Für die Enteignung von Großgrundbesitz und die Verteilung von Land an die Menschen, die es bewirtschaften (wollen).

  • Für tiergerechte Haltungsbedingungen in allen Betrieben! Für die Intensivierung der Forschung zu nachhaltigen Anbausystemen unter Kontrolle der Bauern, Bäuerinnen und Arbeiter:innen! Wo nötig, verpflichtende Anwendung ökologisch nachhaltiger Anbaumethoden wie des ökologischen Landbaus, unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Ernährungssicherung.

  • Der Konsum von tierischen Produkten (vor allem Fleisch) muss drastisch reduziert werden, einschließlich der Abschaffung von Subventionen, die den großen Viehzüchter:innen zugutekommen, aber gleichzeitig die Kleinbauern und -bäuerinnen nicht ruinieren. Auf Grundlage der Enteignung der großen Agrarkonzerne kann die Nahrungsmittelproduktion durch einen von der ländlichen und städtischen Arbeiter:innenklasse demokratisch erarbeiteten gesamtgesellschaftlichen Plan neu ausgerichtet werden, der den Ernährungsbedürfnissen der Menschen entspricht und dabei die Auswirkungen des Klimawandels bekämpft.

  • Kostenlose öffentliche Verkehrsmittel für alle und massive Investitionen in öffentliche Verkehrssysteme! Umstellung des Verkehrssystems auf den Schienenverkehr, sowohl für die Personen- als auch für die Güterbeförderung. Gleichzeitig massive Reduzierung des PKW-, LKW- und Flugverkehrs!

Abschaffung der Geschäftsgeheimnisse! Abschaffung des Patentschutzes! Zusammenführung dieses Wissens, um nachhaltige Alternativen zu bestehenden Technologien zu schaffen. Echte Hilfestellung für weniger entwickelte Länder durch Technologietransfer!

  • Verstaatlichung aller Umweltressourcen wie Böden, Wälder und Gewässer.

  • Verstaatlichung aller Energiekonzerne und Unternehmen mit Monopolen auf grundlegende Güter wie die Wasserwirtschaft, Agrarindustrie sowie alle Fluggesellschaften, Schifffahrts- und Eisenbahnunternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für eine restriktive Politik gegenüber chemischen Produkten nach dem Vorsorgeprinzip! Für ein Verbot von Chemikalien, die nachweislich oder wahrscheinlich gesundheits- und/oder umweltgefährdend sind wie z. B. Glyphosat! Grenzwerte bzw. Gefahrenstufen für den Einsatz von Chemikalien müssen durch Organe der demokratisch legitimierten gesellschaftlichen Kontrolle festgelegt werden.

4.4.1 Die Stadt umgestalten

Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt heute in Städten, aber die meisten von ihnen in Barackensiedlungen und Elendsvierteln ohne angemessene Straßen, Beleuchtung, sauberes Trinkwasser oder Abwasser- und Abfallentsorgung. Ihre nicht tragfähigen Strukturen werden von Erdbeben, Wirbelstürmen, Überschwemmungen und Tsunamis weggefegt, wie wir in Indonesien, Bangladesch, New Orleans und Haiti gesehen haben. Hunderttausende sterben nicht nur durch diese „natürlichen“ Ereignisse, sondern auch durch die verarmte menschliche Infrastruktur. Die Menschen strömen in die Städte, weil Kapitalismus, Großgrundbesitz und Agrarindustrie nicht in der Lage sind, den Lebensunterhalt auf dem Lande zu sichern.

Nur wenige Bewohner:innen dieser Quartiere haben einen festen oder sicheren Arbeitsplatz. Für ihre Kinder gibt es keine Kindergärten, Kliniken oder Schulen. Die Menschen werden von kriminellen Banden, Drogenhändler:innen und der Polizei gleichermaßen schikaniert und erpresst. Frauen und Jugendliche werden in die Prostitution, sexuelle Sklaverei oder in die Halbsklaverei in gefährlichen und gesundheitsschädlichen Klitschen getrieben. Tatsächliche Sklaverei und Menschenhandel sind wieder im Kommen. Dies ist ein weiteres Phänomen, das nach Abschaffung des Kapitalismus schreit. Diese zunehmende Anhäufung menschlichen Elends muss ein Ende haben!

Dies kann nicht mit der spärlichen Hilfe der reichen Länder, den Millenniumszielen, NGOs oder den von Kirchen, Moscheen und Tempeln betriebenen Wohltätigkeitsorganisationen erreicht werden. Auch Selbsthilfe- oder Kleinstkreditprogramme können so große Probleme nicht lösen. Die Bevölkerung in den Barrios, Favelas und Townships kann, wie sie bewiesen hat, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Durch Massenmobilisierung in Venezuela, Bolivien und Südafrika haben die Bewohner:innen der Barackensiedlungen bedeutende Reformen durchgesetzt. Aber nur durch eine soziale Revolution, im Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, können sie den repressiven Staat und die ausbeuterische Ökonomie der Kapitalist:innen zerschlagen und an ihrer Stelle eine Gesellschaft errichten, die auf Komitees und Räten der Arbeiter:innen und Armen beruht, als Instrument für die vollständige Umgestaltung der Städte.

  • Für Wohnungen, Licht und Strom, Abwasser- und Abfallentsorgung, Krankenhäuser und Schulen, Straßen und öffentliche Verkehrsmittel für die Bewohner:innen der riesigen und schnell wachsenden Armutsviertel, die alle großen Städte der „Entwicklungsländer“ von Manila und Karatschi bis Mumbai, Mexiko-Stadt und Sao Paulo umgeben.

  • Für ein Programm öffentlicher Arbeiten unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Armen. Für einen kostenlosen öffentlichen Nah- und Pendler:innenverkehr für die Arbeiter:innen!

  • Für massive Investitionen in Sozial- und Gesundheitsdienste, Wohnraum, öffentliche Verkehrsmittel und eine saubere, nachhaltige Umwelt.

  • Unterstützung der Kämpfe der Kleinbauern und -bäuerinnen, der Landarbeiter:innen und Landlosen auf dem Land und in der Industrie, um den Widerspruch zwischen Stadt und Land schrittweise zu beseitigen.

4.4.2 Befreiung des ländlichen Raums

Etwa 43 Prozent der Menschheit leben noch auf dem Land, in Dörfern, auf Plantagen und in den ländlichen Gemeinschaften indigener Völker, doch die Vereinten Nationen sagen voraus, dass dieser Anteil bis 2050 auf ein Drittel sinken wird. Der Grund für die Landflucht ist nicht nur der Reiz des Stadtlebens. Für die meisten Migrant:innen überwiegen dessen Nachteile durch das Leben in den Slums, die Kriminalität und die Überausbeutung. Vielmehr ist es das Versagen des Kapitalismus, auf dem Lande ein einigermaßen menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Das Scheitern der Landreformen hat die Arbeits- und Landlosigkeit dort verschärft. Die Kluft zwischen ihrem Einkommen, Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Bildung und Kommunikation und den Möglichkeiten in den Städten ist oft enorm. Darüber hinaus sind sie mit der Zerstörung der ländlichen Umwelt durch Industriezweige wie Holzeinschlag und Bergbau sowie durch Monokulturen und Aktivitäten konfrontiert, die zu Überschwemmungen und Auslaugung des Bodens führen. Der Klimawandel beschleunigt diesen Prozess gewaltig.

Gleichzeitig konzentriert der Kapitalismus den Landbesitz unerbittlich in den Händen einer wohlhabenden Elite oder des internationalen Agrobusiness. Von China und Bengalen bis Südamerika und Afrika werden Bauern, Bäuerinnen und indigene Gemeinschaften von den besten Böden vertrieben und gezwungen, in die Slums der Städte abzuwandern.

Das Leben auf den Plantagen, auf denen Zucker, Kaffee, Tee, Baumwolle, Sisal, Kautschuk, Tabak und Bananen angebaut werden, weist viele Merkmale unfreier Vertragsverhältnisse oder der Leibeigenschaft auf. Die Plantagenarbeiter:innen werden oft in Schuldknechtschaft gehalten. Eine Revolution auf dem Lande, die vom Proletariat, den Landlosen oder Kleinbauern und -bäuerinnen angeführt wird, wäre eine mächtige Verbündete der städtischen Arbeiter:innen und Letztere wären ein unverzichtbarer Beistand für ihre Schwestern und Brüder auf dem Lande.

– Enteignung des Landes der Oligarch:innen, der ehemaligen kolonialen Plantagen und der multinationalen Agrarunternehmen, um es unter die Kontrolle der Arbeiter:innen, armen Bauern, Bäuerinnen und Landarbeiter:innen zu stellen.

  • Land für diejenigen, die es bearbeiten.

  • Abschaffung der Pacht und Erlass aller Schulden der armen Bauern und Bäuerinnen.

  • Freie Kredite für den Kauf von Maschinen und Düngemitteln; Anreize für Subsistenzlandwirt:innen, sich freiwillig Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften anzuschließen.

  • Freier Zugang zu Saatgut, Abschaffung aller Patente in der Landwirtschaft.

  • Modernisierung des ländlichen Lebens. Vollständige Elektrifizierung, Internetzugang und moderne städtische Einrichtungen. Stopp der Abwanderung der Jugend aus dem ländlichen Raum durch Förderung kreativer und kultureller Aktivitäten.

  • Gegen die Armut auf dem Lande; Angleichung der Einkommen, des Zugangs zu Gesundheit, Bildung und Kultur an die Städte.

Indem wir diese Kämpfe in den Städten und auf dem Land miteinander verbinden, können wir die krankhafte Verstädterung des Kapitalismus, die Ausbeutung des Bodens und die Abholzung der Wälder rückgängig machen und den Weg zu dem im Kommunistischen Manifest formulierten Ziel freimachen: „Die Vereinigung der Arbeit auf dem Lande und in der Industrie, wodurch der Widerspruch zwischen Stadt und Land allmählich beseitigt wird.“

4.5 Die digitale Revolution

Seit den 1960er Jahren sind die Fortschritte in der Computertechnologie und der Vernetzung sowie deren Anwendung in vielen Bereichen der Produktion und des täglichen Lebens entscheidende Faktoren für die Entwicklung der Produktivkräfte. Mit dem Internet, der mobilen Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz (KI) wurden in den letzten Jahren in immer schnellerem Tempo neue Etappen dieser Entwicklung erreicht. Gemeinsamer Datenzugriff und andere Elemente der Personen übergreifenden Nutzung von Ressourcen, die immer engere Verknüpfung von Produktanforderungen und Produktbereitstellung, die sichere Abwicklung von Transaktionen und komplexen Logistikketten über Blockchain etc. haben große Potenziale für Produktivitätssteigerungen geschaffen. In all diesen Bereichen dominieren riesige Monopole (Amazon, Microsoft, Alphabet Inc., Facebook …), die den Zugewinn an Produktivität für ihre Monopolprofite nutzen.

Ein wesentlicher Faktor dabei ist ihre enorme Kontrolle über die Daten und Informationen der Nutzer:innen, aus deren Verkauf diese Datenkraken enorme Profite erzielen. Viele Unternehmen versuchen nun, Daten über alle Aspekte ihrer Mitarbeiter:innen zu sammeln, um sie besser kontrollieren und in einen Leistungswettbewerb treten lassen zu können. In ähnlicher Weise nutzen Staaten (nicht nur China und die USA) künstliche Intelligenz und ihren Zugang zu den Netzen, um immer umfassendere Informationen über ihre Bürger:innen zu sammeln, sie zu bewerten, identifizieren, lokalisieren und überwachen.

Diese Technologien werden von den Geheimdiensten der Welt eingesetzt, um eine allumfassende Überwachung zu realisieren. Die Enthüllungen über den Skandal der National Security Agency (NSA) im Jahr 2013 sind ein Beleg dafür. Seitdem hat sich die Ausweitung der Überwachung beschleunigt. Revolutionär:innen müssen sich bewusst sein, dass Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, trojanische Programme und die massenhafte Speicherung von Daten Teil des Klassenkampfes der Kapitalist:innen sind und massiv gegen sie und die Arbeiter:nnenbewegung eingesetzt werden und nicht für die „Sicherheit“ der Bevölkerung.

Die Datenschutzbestimmungen, mit denen Hasspostings kontrolliert werden sollen, sind kaum mehr als Feigenblattaktionen. Kaum ein/e private/r Nutzer:in kann sie wirklich verwenden, um seine/ihre Daten zu kontrollieren. Die Masse der Missbrauchsmöglichkeiten durch Staat, Konzerne und rechte Organisationen wächst in einem Tempo, dem all diese Maßnahmen nur hoffnungslos hinterherhinken.

Die alten Probleme des „Datenschutzes“ erscheinen heute klein im Vergleich zu denen der neuen Generation von Entwicklungsumgebungen der KI-Anwendungen. Mit den gesteigerten Fähigkeiten und dem viel einfacheren gemeinsamen Zugang zu Modulen für tiefes maschinelles Lernen, große Sprachmodelle, Texterzeugung und -umwandlung, Verarbeitung natürlicher Sprache usw. ist nicht nur die unkontrollierbare Anzahl von Datenbanken, auf die bei Suchvorgängen und Problemlösungen zugegriffen wird, explodiert, sondern KI-Anwendungen scheinen erweiterte Antworten auf jede Art von Fragen zu beinhalten. Diese Fähigkeit, Antworten in erstaunlicher sprachlicher und inhaltlicher Qualität zu generieren, basiert auf sehr einfachen statistischen Modellen. Während sie in erstaunlich vielen Fällen gute Ergebnisse liefert, erzeugt diese einfache statistische Interpolation in komplizierteren Fällen auch Unsinn und neigt dazu, weitverbreitete Vorurteile zu reproduzieren. Falsche Informationen, auf denen die Ableitungen beruhen, werden nicht erkannt usw.. Ein relevanter Anteil der Antworten besteht aus dem, was Expert:innen als „KI-Halluzinationen“ bezeichnen.

Auch wenn diese neuen KI-Anwendungen dazu beitragen können, viele Arbeiten im Zusammenhang mit der routinemäßigen Erstellung von Texten (im Journalismus, in Büros, Kontaktzentren usw.) zu erleichtern, ist das Bestreben des Kapitals, diese Techniken als Ersatz für menschliche Arbeitskräfte einzusetzen, sehr gefährlich: Jedes Produkt dieser Anwendungen muss immer noch von Menschen kontrolliert und nachbearbeitet werden, um grobe Fehler mit potenziell schädlichen Folgen zu vermeiden.

Wir kämpfen für:

  • Enteignung großer IT-Monopole unter Kontrolle von Beschäftigten und demokratisch legitimierten Nutzer:innenkomitees!

  • Für einen Plan zur gesellschaftlich sinnvollen Nutzung des produktiven Fortschritts der IT-Technologie.

  • Weg mit der Überwachung und Kontrolle von Bürger:innen und Arbeitskräften durch Privatunternehmen und Kapital wie Google, Facebook. Eine erste Forderung sollte sein, dass sie die Algorithmen und Systeme, die sie zum Sammeln von Informationen verwenden, öffentlich machen.

  • Für die gesellschaftliche Kontrolle (durch demokratisch legitimierte Nutzer:innenkomitees) der von Staat und Unternehmen erhobenen Daten und Verfahren zu deren Nutzung und Vernetzung.

  • Nein zu Überwachungsinstrumentarien, die das Netzverhalten von Nutzer:innen und Mitarbeiter:innen ausspähen! Nein zu Anbieterfiltern für Dateien und anderen Methoden, die die freie Verfügung über die im Netz geteilten Inhalte verhindern und ihnen die Warenform aufzwingen wollen! Stattdessen wollen wir den Ausbau der Beteiligungsökonomie und die staatliche Finanzierung ihrer Basis (z. B. von offen zugänglichen Anwendungen unter Hersteller:innenkontrolle statt Abhängigkeit von den „Spenden“ der IT-Unternehmen)!

  • Die Anwendung oder der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt sollte nur dann erlaubt sein, wenn ihre Auswirkungen und die Generierung von Ergebnissen für die Arbeitenden selbst und die davon betroffenen sozialen Gemeinschaften kontrollierbar sind. Die Anwendungen müssen ein Protokoll liefern, das die Teile der Arbeit, die Ergebnis der KI-Verarbeitung sind, klar identifiziert und die Kette der Überlegungen enthält, die die KI in Bezug auf Daten und statistische Schlussfolgerungen verwendet.

  • Kontrollkommissionen von Arbeiter:innen und Gemeinden sollten diese Protokolle regelmäßig überprüfen und im Falle von Fehlern oder schädlichen Auswirkungen in der Lage sein, die Probleme in den Anwendungen zu lokalisieren und korrigieren. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf Datenschutzverletzungen und schädliche Schlussfolgerungen in Bezug auf Einzelpersonen oder soziale Gruppen, die sich aus den „autonomen“ Aktionen der KI ergeben. Solange solche Kontrollmechanismen nicht implementiert sind, sprechen wir uns für ein Einfrieren der Nutzung der neuen Generation von KI-Anwendungen aus.

4.6 Die Gewerkschaften

Überall auf der Welt werden unsere Gewerkschaften von den Kapitalist:innen angegriffen. Das größte Hindernis im Kampf gegen die Offensive der Kapitalist:innen ist der lähmende Einfluss der Bürokrat:innenkaste, die unsere Organisationen an das Kapital, ihre Regierungen und ihre Gesetze bindet. Die Vorstöße der Bosse sind unerbittlich und bösartig. In den schwächeren und weniger entwickelten Ländern, den Halbkolonien, haben diktatorische Regierungen die Gewerkschaften zu Werkzeugen des Staates gemacht, indem sie Streiks verboten und die freie Wahl der Gewerkschaftsführer:innen untersagt haben. Unabhängige Gewerkschaften und betriebliche Organisationen müssen in der Illegalität kämpfen und mit Verhaftungen, Folter und Ermordung rechnen.

In den letzten Jahrzehnten sind die Gewerkschaften im globalen Süden unter Beschuss geraten. Sehr große Teile der Arbeiter:innenklasse, selbst in den großen Industrien und den staatlichen Sektoren, sind infolge neoliberaler Angriffe und repressiver Gesetze überhaupt nicht gewerkschaftlich organisiert. Die Zersplitterung der Gewerkschaften spiegelt dies wider und verstärkt es noch, ebenso wie die Verwirrung, der Sektoralismus und der Verrat der Gewerkschaftsführungen. Revolutionär:innen müssen nicht nur die Organisierung der Unorganisierten fordern und für die Überwindung dieser Politik in den bestehenden Gewerkschaften streiten, sondern auch die Initiative zum Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung ergreifen.

In den fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien errangen jahrzehntelange Klassenkämpfe den Gewerkschaften gesetzliche Rechte, so dass der Staat anstelle der völligen Illegalität die Gewerkschaften einbezog, indem er ihren Führer:innen Privilegien gewährte und sie in die Strukturem der Klassenzusammenarbeit einband. Doch die Kapitalist:innen fuhren fort, die Rechte zu beschneiden und den Gewerkschaften immer stärkere gesetzliche Beschränkungen aufzuerlegen, was eine wirksame Gewerkschaftsarbeit und die Rekrutierung von Mitgliedermassen behinderte. Westliche Gerichte demonstrieren immer wieder den Klassencharakter des bürgerlichen Rechts, indem sie eingreifen, um Streikabstimmungen zu kippen, Gewerkschaftsgelder zu beschlagnahmen und gewerkschaftsfeindliche Unternehmen zu unterstützen.

Heute findet das Kapital unabhängige Gewerkschaften immer unerträglicher. Wir müssen unsere Gewerkschaften verteidigen, für ihre Unabhängigkeit von den Kapitalist:innen und dem Staat kämpfen, den Kampf aufnehmen, um Millionen neuer Mitglieder aus bisher nicht organisierten Sektoren, aus den in unsicheren Verhältnissen beschäftigten und hochgradig ausgebeuteten Teilen der Arbeiter:innenschaft, viele von ihnen junge Menschen, Migrant:innen oder „Illegale“, zu rekrutieren. Dieser Kampf wird auf unnachgiebigen Widerstand von innen stoßen, von der hochbezahlten und undemokratischen Gewerkschaftsbürokratie, die als ihre ewige Aufgabe das Aushandeln von Verträgen in einer ewigen kapitalistischen Wirtschaft ansieht. In Krisenzeiten werden diese Abmachungen zu „Rückzahlungen“ an die Bosse, Errungenschaften und erreichte Mindeststandards werden gegen Arbeitsplätze getauscht und umgekehrt.

Die Ideologie der bürokratischen Gewerkschaftsführer:innen ist Gift für das Klassenbewusstsein des Proletariats. Statt auf Internationalismus setzen sie in den imperialistischen Zentren vor allem auf eine unternehmenszentrierte Logik und verteidigen die Konkurrenzfähigkeit „ihres“ Unternehmens. Damit tragen die Gewerkschaftsbürokrat:innen zusammen mit dem sozialchauvinistischen Reformismus der Sozialdemokratie und den selbsternannten „Sozialist:innen“ die Verantwortung dafür, dass sich rassistische Ideologien und nationale Engstirnigkeit in Zeiten des Rechtsrucks auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse einnisten können oder nicht wirksam bekämpft werden.

Die Bürokrat:innen agieren oft als Polizei für den Staat und die Unternehmen, schikanieren Aktivist:innen und helfen, sie aus dem Betrieb zu vertreiben. Revolutionär:innen organisieren sich innerhalb der Gewerkschaften, um ihren Einfluss zu vergrößern, bis hin zur Übernahme der Führung, wobei sie immer ehrlich gegenüber der Basis bleiben und so offen darüber sprechen, wie es staatliche Repression und Gewerkschaftsbürokratie erlauben. In den bürokratischen Gewerkschaften werden wir die Schaffung von Basisbewegungen anregen, die darauf abzielen, die Durchführung von Streiks und anderen Formen des Kampfes zu demokratisieren und die hauptamtliche und überbezahlte Kaste der Spitzenfunktionär:innen durch gewählte und jederzeit abrufbare Führer:innen zu ersetzen, die den gleichen Lohn erhalten wie ihre Mitglieder.

Aber selbst die demokratischste Gewerkschaftsbewegung reicht nicht aus. Die syndikalistische Idee, dass die Gewerkschaften nicht nur von den Bossen, sondern auch von den politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse unabhängig sein sollten, kann den Widerstand der Arbeiter:innen und den Kampf um die Macht der Arbeiter:innenklasse nur schwächen. Stattdessen zielen Revolutionär:innen darauf ab, die Gewerkschaften so zu orientieren, dass sie nicht nur für die Interessen der einzelnen Branchen kämpfen, sondern für die Interessen der Gesamtklasse, über alle Industrie-, Berufs- und Betriebsgrenzen hinweg, für befristete Arbeitskräfte ebenso wie für Stammpersonal, für die gegenwärtigen und zukünftigen Beschäftigten, nicht nur in einem Land, sondern international. Wir fördern das Klassenbewusstsein, nicht nur das enge Gewerkschaftsbewusstsein. Auf diese Weise können die Gewerkschaften wieder zu echten Schulen für den Sozialismus und zu einem massiven Stützpfeiler für eine neue revolutionäre Arbeiter:innenpartei werden.

Eine neue Arbeiter:inneninternationale und revolutionäre Parteien in jedem Land haben die Pflicht, sich für die Erneuerung der bestehenden Gewerkschaften einzusetzen, wo immer dies möglich ist, dürfen aber nicht vor einem formellen Bruch und der Gründung neuer Gewerkschaften zurückschrecken, wo die reformistische Bürokratie eine Einheit unmöglich macht. Unorganisierte prekär Beschäftigte können ebenso organisiert werden wie neue Hochtechnologieindustrien, trotz tyrannischer Firmenchef:innen oder Systeme, die kollektives Handeln durch Klassenzusammenarbeit am Arbeitsplatz verhindern. Wir brauchen Organisationen in den Betrieben, die sich weder dem Diktat noch den Schmeicheleien der Bosse beugen, sondern die Arbeiter:innen mit militanten Kampfmethoden wie Massenstreiks, Besetzungen und, wenn nötig, einem Generalstreik verteidigen. Die Gewerkschaften dürfen nicht bürokratisch von oben herab kontrolliert werden, sondern müssen demokratisch sein, wo Differenzen frei diskutiert werden können, wo die Führer:innen kontrolliert und, wenn nötig, unverzüglich abgewählt werden können.

Wir können nicht warten, bis die Gewerkschaften umgestaltet werden; wir müssen jetzt kämpfen. Wir fordern, dass die derzeitigen Gewerkschaftsführer:innen sich für die dringenden Bedürfnisse der Massen verwenden, und wir warnen die Basis, ihnen nicht zu vertrauen. Wir kämpfen für die Bildung von Basisbewegungen in den bestehenden Gewerkschaften, damit der Würgegriff der Funktionär:innen gebrochen werden kann und trotz allem Aktionen durchgeführt werden können. Während wir für eine politisch-fraktionelle Organisierung innerhalb der Gewerkschaften eintreten, lehnen wir politisch getrennte Gewerkschaften ab, weil dies nur dazu dient, die Arbeiter:innen zu spalten und viele unter den Einfluss reformistischer oder sogar klassenfremder Führungen zu stellen. Wir kämpfen für die Bildung von Industriegewerkschaften, die das kollektive Gewicht der Lohnabhängigen bei Verhandlungen mit den Unternehmer:innen maximieren. Dort, wo derzeit mehrere Gewerkschaften entweder innerhalb einer Branche, von Konzernen oder Betrieben existieren, setzen wir uns für ihren Zusammenschluss auf Grundlage des Klassenkampfes und für gemeinsame Ausschüsse unter Kontrolle der Basis für Verhandlungen und Aktionen ein.

Wir kämpfen für die gewerkschaftliche Organisierung der großen Zahl unserer Schwestern und Brüder, die noch nicht organisiert sind, für die Öffnung der Gewerkschaften für Jungarbeiter:innen und die rassistisch Unterdrückten. Wenn die Gewerkschaftsbürokrat:innen dies verhindern, dann müssen neue Gewerkschaften gegründet werden. Unsere Losung muss lauten: Zusammenarbeit mit den offiziellen Führer:innen, wo es möglich ist, aber ohne sie, sogar gegen sie, wo es nötig ist.

Wir brauchen Gewerkschaften und Massenorganisationen, die wirklich die Masse der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten vereinen können und nicht von männlichen Mitgliedern und Angehörigen bessergestellter Schichten dominiert werden, die ausschließlich aus der dominierenden nationalen oder anderweitig privilegierten Gruppe innerhalb eines bestimmten Landes stammen. Das bedeutet, dass wir den unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse und den Armen, den Frauen, der Jugend, den Minderheiten und den Migrant:innen volle Rechte und volle Vertretung in ihren Führungsstrukturen zugestehen.

Deshalb kämpfen wir für:

  • Die Organisation der nicht organisierten Arbeiter:innen, einschließlich Frauen, Migrant:innen und befristeten Arbeitskräften.

  • Die Gewerkschaften müssen unter der Kontrolle ihrer Mitglieder stehen.

  • Für das Recht auf unabhängige Treffen (Caucusrecht) für alle sozial unterdrückten Gruppen: Frauen, ethnische Minderheiten, LGBTIA+-Menschen.

  • Einheit aller Gewerkschaften auf einer demokratischen und kämpferischen Basis, völlig unabhängig von den Bossen, ihren Parteien und Staaten.

4.7 Von der Streikpostenverteidigung zur Arbeiter:innenmiliz

Jede/r entschlossene Streikende weiß, dass Streikpostenketten notwendig sind, um Streikbrecher:innen abzuschrecken. Kein Wunder, dass die Kapitalist:innen überall auf drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze drängen, die unsere Streikposten so schwach und unwirksam wie möglich machen sollen. Gleichzeitig dürfen die Bosse Sicherheitsleute und private Schläger:innentrupps anheuern, um die Arbeiter:innen einzuschüchtern. Von Angriffen auf Arbeiter:innenmärsche durch hoch gerüstete Polizei wie in Griechenland bis hin zur Verhaftung und Einkerkerung von Gewerkschafter:innen im Iran reicht die andauernde Verfolgung kämpferischer Arbeiter:innen. Wenn die Polizei und Schläger:innenbanden der Bosse zu offener Repression greifen, können sich selbst die militantesten Massenstreikposten als unzureichend erweisen, wie es beim historischen britischen Bergarbeiterstreik von 1984/1985 der Fall war.

Der berüchtigtste Fall dieses Jahrhunderts war das Massaker von Marikana, bei dem die südafrikanische Polizei auf Anweisung des heutigen Präsidenten und ehemaligen Bergarbeiterführers Cyril Ramaphosa 42 Streikende tötete. Jeder ernsthafte Kampf zeigt die Notwendigkeit eines disziplinierten Schutzes mit Waffen, die denen entsprechen, die gegen uns eingesetzt werden.

Wir sollten mit der organisierten Verteidigung von Demonstrationen, Streikposten, Gemeinden, die rassistischen und faschistischen Überfällen ausgesetzt sind, sowie mit der Selbstverteidigung der sexuell Unterdrückten beginnen. Unter ständiger Bekräftigung des demokratischen Rechts auf Selbstverteidigung sollten Militante eine öffentliche Kampagne für eine Arbeiter:innen- und Bevölkerungsverteidigungsgarde starten, die auf einer Massenbewegung fußt.

In Ländern, in denen das Recht besteht, Waffen zu tragen, sollte die Arbeiter:innenverteidigungsgarde dieses voll ausschöpfen. Wo die Kapitalist:innen und ihr Staat das Gewaltmonopol besitzen, sind alle Mittel gerechtfertigt, um dieses zu brechen. Revolutionär:innen müssen innerhalb der Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse und der Bauern und Bäuerinnen auf die Schaffung von Verteidigungskräften drängen, die diszipliniert, kampferprobt und mit den geeigneten Erfolg verheißenden Waffen ausgestattet sind. In Schlüsselmomenten des Klassenkampfes sind Massenstreikwellen, ein Generalstreik, die Schaffung einer Arbeiter:innenmassenmiliz unerlässlich, sonst wird die Bewegung in Blut ertränkt wie in Chile 1973 oder auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989. Wenn man sich der Herausforderung stellt, können die Mittel der Bevölkerungsverteidigung zum Instrument der Revolution werden.

4.8 Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen den Faschismus

Die kapitalistische Krise ruiniert die Mittelschichten und lässt sie krampfhaft nach Sündenböcken suchen, während die Langzeitarbeitslosen immer tiefer in die Verzweiflung sinken, was sie anfällig für religiöse Demagogie, rassistische, rechtsnationalistische, und unverhüllt faschistische Propaganda und Bewegungen macht. In den imperialistischen Ländern nimmt dies oft die Form des klassischen Faschismus an, der ethnische, nationale und religiöse Minderheiten, Migrant:innen und Roma als Zielscheibe ins Visier nimmt. Insbesondere in Europa ist die Islamophobie, der Hass auf Muslim:innen, eine schnell wachsende Bedrohung, mit Aufmärschen gegen Moscheen und Hetze gegen Hidschab und Burka, die sich unter dem Deckmantel der offiziellen Ideologie des „Antiterrorismus“ und der angeblichen Gefahr der „Islamisierung Europas“ ausbreitet. Auch der Antisemitismus ist nicht tot, denn die schnell wachsende ungarische Nazibewegung Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) vereint beides in einem giftigen Absud aus reaktionären Demagogien.

In der halbkolonialen Welt entstehen faschistische Kräfte oft aus Kommunalismus und religiösem Fanatismus, die die Emotionen der Massen gegen Minderheiten wie Muslim:innen in Indien, Tamil:innen in Sri Lanka, Hindus, Christ:innen, Ahmadiyyabewegung und Schiit:innen in Pakistan richten.

Der Faschismus ist ein Mittel des Bürger:innenkriegs gegen die Arbeiter:innenklasse. Indem er alten Hass aufrührt und irrationale Ängste schürt, mobilisiert er die kleinbürgerlichen und lumpenproletarischen Massen, um die Organisationen der Arbeiter:innenklasse und demokratische zunächst zu spalten und dann zu zerstören. Danach konzentriert der Faschismus den gesamten staatlichen Kontrollapparat in seinen Händen, um den Arbeiter:innen ein Regime der Superausbeutung unter direkter Aufsicht der Polizei und ihrer Hilfstruppen aufzuzwingen. Die Bewunderung der Faschist:innen für Massenmörder wie Anders Breivik (Norwegen) und Brenton Tarrant (Neuseeland) belegt ihre brutalen Ziele.

Sein Wachstum als Massenbewegung zeugt von der Intensität der Krise, die Millionen von Menschen wütend macht und in die Verzweiflung treibt, sowie von dem Verrat und dem Versagen der Führung der Arbeiter:innenklasse. Er kann nur besiegt werden, indem die revolutionäre Bewegung der Arbeiter:innenklasse und ihrer Verbündeten entfesselt wird, indem zu einer Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen gegen den Faschismus und zu einer antifaschistischen Arbeiter:innenmiliz aufgerufen wird, um seine Attacken auf die Arbeiter:innenbewegung und auf unterdrückten Minderheiten abzuwehren. Wie Leo Trotzki sagte, ist der Sozialismus Ausdruck der revolutionären Hoffnung, während der Faschismus Ausdruck der konterrevolutionären Verzweiflung ist. Um ihn zu besiegen, muss sie in eine revolutionäre Klassenoffensive gegen den krisengeschüttelten Kapitalismus umgewandelt werden, das System, das den Faschismus immer aufs Neue gebiert. Da der Faschismus seine Kraft aus der Mobilisierung von Massen bezieht, deren Wut sich aus die Auswirkungen der kapitalistischen Krise speist, wird der Kampf gegen ihn erst dann vollendet sein, wenn seine Wurzel, der Kapitalismus, ausgerottet ist.

  • Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die Faschist:innen.

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Repressionsapparat.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen. Eine antifaschistische Miliz kann es schaffen, faschistische Kundgebungen, Demonstrationen und Versammlungen aufzulösen und den rassistischen und faschistischen Demagog:innen jegliche offene Propagandaplattform zu entziehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten die faschistischen Kaderorganisationen die Taktik, Gruppierungen innerhalb der faschistischen Frontorganisationen, z. B. des Front National in Frankreich, aufzubauen. Solche Organisationen haben einen elektoralistischen Flügel, der mit reaktionärer rechter Politik an den politischen Aktivitäten des bürgerlichen Parlamentarismus teilnimmt und gleichzeitig mit faschistischen Gruppen innerhalb der Partei koexistiert. Im Zuge der Globalisierung haben solche Frontorganisationen stark zugenommen und konnten sich in vielen Ländern mit erheblichem Gewicht auf der politischen Bühne etablieren. Während offen faschistische Organisationen mit einer strikten „Keine Plattform“-Politik bekämpft und soweit wie möglich mit physischer Gegengewalt konfrontiert werden müssen, muss gegen faschistische Frontorganisationen eine flexiblere Form der Taktik angewendet werden. Soweit der faschistische Flügel in der Aktion dominiert, muss er wie jede faschistische Kraft behandelt werden. Andererseits werden wir dort, wo ihre nicht direkt faschistische Propaganda verzweifelte unterprivilegierte Schichten mit reaktionärer Wahlpropaganda erreicht, Taktiken anwenden, um diese Menschen durch Gegenpropaganda von den Demagog:innen zu lösen und ihnen echte Alternativen zur Bekämpfung ihrer sozialen Not aufzuzeigen.

4.9 Verteidigung der demokratischen Rechte

In vielen Staaten der Welt, auch in nominell bürgerlichen Demokratien, gibt es mächtige Präsidialsysteme mit außerordentlichen Machtbefugnissen für ein Staatsoberhaupt, undemokratisch gewählte Senate und ernannte, nicht gewählte Richter:innen, die oft sehr lange, mitunter sogar auf Lebenszeit amtieren. Selbst in den ältesten Republiken, den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich, herrschen viele dieser Einschränkungen – einschließlich der systematischen Blockierung der Registrierung von schwarzen und farbigen Wähler:innen, dem politischen Zuschnitt von Wahlbezirken usw. Als Resultat zeigt sich, dass die Verabschiedung wichtiger politischer Maßnahmen für Frauen, die organisierte Arbeiter:innenklasse und die rassistisch Unterdrückten vereitelt wird, wie es der Oberste Gerichtshof der USA heute tut. Außerdem sind diese undemokratischen Strukturen oft in den Verfassungen verankert und lassen sich nur sehr schwer ändern. Sie aus der Welt zu schaffen, bildet eine wahrhaft revolutionäre Aufgabe.

In Ländern wie der Türkei sind die etablierten Parteien in der Lage, durch die Kontrolle der Medien und die Verhaftung von Aktivist:innen der Oppositionsparteien oder deren völlige Illegalisierung Wahlen in Plebiszite mit einem Slogan zu verwandeln – „entweder ich oder das Chaos“. In so unterschiedlichen Ländern wie Frankreich und der Türkei haben solche bonapartistischen oder halbbonapartistischen Regime die Parlamente umgangen. In Afrika ist eine Epidemie von Präsidentschaften zu beobachten, die ihre Amtszeit verlängern, und im Nahen Osten und in Ostafrika hat das Militär wiederholt die Macht an sich gerissen. In diesen Ländern, in denen Arbeiter:innen, Frauen und Jugendliche wiederholt demokratische Massenbewegungen ins Leben gerufen haben, ist eine dauerhafte Lösung nicht möglich und wird es auch nie sein, solange die revolutionären Kräfte nicht die Basis der Streitkräfte für sich gewinnen und die Macht der Generalstäbe und Oberkommandos für immer brechen. Andernfalls werden schreckliche Ereignisse wie im Sudan auch weiterhin selbst die stärksten sozialen Bewegungen ausbremsen.

Im In- und Ausland geben sich die westlichen Imperialist:innen als Verteidiger:innen und Verfechter:innen der Demokratie aus. Das ist gelogen. Nach dem 11. September 2001 und den Terroranschlägen des Dschihads in Europa im letzten Jahrzehnt verhängten die nordamerikanischen und europäischen Regierungen Antiterrorgesetze, die eine Überwachungsgesellschaft geschaffen und die in jahrhundertelangen Kämpfen von der Bevölkerung errungenen Rechte eingeschränkt oder abgeschafft haben.

Im globalen Süden werden die demokratischen Rechte, die es der Arbeiter:innenklasse, den Bauern und Bäuerinnen, den städtischen und ländlichen Armen ermöglichen, sich zu organisieren und wehren, von den Gerichten, der Polizei und den Killerkommandos der Bosse untergraben. Auf den Philippinen hat Rodrigo Dutertes „Krieg gegen die Drogen“ innerhalb von zwei Jahren zu einer Flut von außergerichtlichen Tötungen durch die Polizei geführt, die auf 12.000 bis 20.000 geschätzt wird. Auch in Mexiko und anderen mittel- und südamerikanischen Staaten forderte der Krieg gegen die Drogen Opfer von Morden durch Armee und Polizei, die vor allem Linke und Anführer:innen der Gewerkschaften und Bäuer:innenschaft aufs Korn nehmen.

In Palästina und insbesondere im blockierten und immer wieder bombardierten Gazastreifen sind die Palästinenser:innen ein ständiges Ziel des zionistischen Siedlers:innenstaates. In Israel und im Westjordanland herrscht ein Regime, das dem der Apartheid in Südafrika nicht unähnlich ist. Der unermüdliche und heldenhafte Kampf des palästinensischen Volkes verdient die vollste Unterstützung, einschließlich der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Unser Ziel muss das Recht auf Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge, die Zerschlagung des zionistischen Staates und die Schaffung eines einzigen Staates für zwei hebräisch und arabisch sprechende Nationen in Israel-Palästina sein. Ein solcher Staat kann den durch den Zionismus geschaffenen Antagonismus zwischen den beiden Völkern nur dadurch lösen, dass er ein sozialistischer Staat wird, in dem landwirtschaftliche Betriebe, Fabriken usw. sich in Gemeineigentum befinden und demokratisch geplant werden, um soziale Gleichheit zu gewährleisten.

Das Gift des Rassismus und der Pogrome gegen Minderheiten und Migrant:innengemeinschaften wird dazu benutzt, den Widerstand zu spalten und auszuhöhlen. Überall auf der Welt sind es die eigenen Organisationen der Massen, die den Kampf für den Schutz und die Ausweitung der demokratischen Rechte aufnehmen müssen. Unsere demokratischen Kampforganisationen sind das Fundament einer wirklichen „Herrschaft des Volkes“. Durch regelmäßige Wahlen, die Abwählbarkeit von Delegierten und Repräsentant:innen, durch Opposition gegen die Bürokratie und ihre Privilegien kann die Arbeiter:innenbewegung das Sprungbrett für eine neue Gesellschaft werden.

  • Verteidigung des Streikrechts, der Rede- und Versammlungsfreiheit, der Freiheit, sich politisch und gewerkschaftlich zu organisieren, der Presse- und Sendefreiheit.

  • Aufhebung aller gewerkschaftsfeindlichen Gesetze.

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Fort mit Monarchien, zweiten Parlamentskammern, Präsident:innen mit Befehlsgewalt, ungewählten Gerichtshöfen und Notstandsgesetzen.

  • Für das uneingeschränkte Recht auf ein Schwurgerichtsverfahren und die Wahl der Richter:innen durch das Volk.

  • Weg mit der zunehmenden Überwachung unserer Gesellschaft, einschließlich des Internets, und der wachsenden Macht der Polizei und Sicherheitsdienste.

  • Auflösung des Repressionsapparates, der Polizei, der Sicherheitsdienste. Für deren Ersetzung durch Milizen, die aus der Arbeiter:innenschaft und Masse der Bevölkerung stammen und von ihnen kontrolliert werden. Ermutigung von Soldat:innen zum Bruch mit ihren Vorgesetzten, um Teile von ihnen für die Revolution zu gewinnen.

Überall dort, wo grundlegende Fragen der politischen Ordnung aufgeworfen werden, fordern wir eine verfassunggebende Versammlung, um demokratische Rechte neu festzuschreiben und tatsächlich über die gesellschaftliche Grundlage des Staates zu entscheiden. Die Arbeiter:innen sollten sich dafür starkmachen, dass die Abgeordneten der Versammlung auf die demokratischste Weise gewählt werden, unter Kontrolle ihrer Wähler:innen stehen und von diesen abberufen werden können. Die Versammlung muss gezwungen werden, sich mit allen grundlegenden Fragen der demokratischen Rechte und sozialen Gerechtigkeit zu befassen: Agrarrevolution, Verstaatlichung der Großindustrie und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle, Selbstbestimmungsrecht für nationale Minderheiten, Abschaffung der politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Reichen.

5. Der Kampf gegen soziale Unterdrückung

5.1 Für Frauenbefreiung

Die kapitalistischen Demokratien versprachen den Frauen Gleichheit. Doch das galt nicht für alles, und vieles bleibt unerfüllt.. Im 20. Jahrhundert wurde den meisten Frauen das Wahlrecht zugestanden, auch dank der ersten Welle feministischer und sozialistischer Agitation vor dem Ersten Weltkrieg und der Notwendigkeit, Frauen in die Produktion und das öffentliche Leben einzubeziehen, weil die Kriegsanstrengungen der Großmächte es erforderte, Frauen in der Produktion zu beschäftigen. Das Frauenwahlrecht wurde zumeist parallel zum allgemeinen Stimmrecht eingeführt, das bis dahin auch den männlichen Arbeitern vorenthalten worden war. Das Wahlrecht bedeutete jedoch weder für die Frauen noch für die Arbeiter:innenklasse echte politische Macht. Der Zweite Weltkrieg zog noch mehr Frauen in die Produktion ebenso wie in die Planwirtschaft der UdSSR. Frauen traten in immer größerer Zahl den Gewerkschaften bei.

Die anhaltende Belastung durch Kinderbetreuung und Hausarbeit behinderte den Zugang von Frauen zu ebenso gut bezahlter Arbeit oder einer ununterbrochenen Berufslaufbahn. Die militante Arbeiter:innenbewegung und die zweite feministische Welle in den imperialistischen Ländern und die nationalen Befreiungsbewegungen in den Halbkolonien errangen eine Reihe wichtiger Siege für die Frauen: Selbstbestimmte Geburtenkontrolle und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in einigen Ländern ermöglichten es ihnen, über die Anzahl und den Zeitpunkt der Geburten zu entscheiden.

In dieser Zeit rückten auch die patriarchalische Ideologie und die geringe Zahl von Frauen in Führungspositionen in Bildung, Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft stärker ins Blickfeld. Auch gegen häusliche Gewalt in der Familie, Vergewaltigung und sexuelle Belästigung wurde vorgegangen. Den Gesetzen zur Lohngleichheit zum Trotz entsprechen die Löhne für weibliche Arbeitskräfte in Europa und Nordamerika jedoch im Durchschnitt nur zu 70 Prozent denen ihrer männlichen Arbeitskollegen und liegen oft noch viel niedriger. Frauen tragen immer noch die Doppelbelastung der Kinderbetreuung, Altenpflege und Haushaltsführung „neben“ ihrer Berufstätigkeit. Vergewaltigung, sexuelle Belästigung und häusliche Gewalt sind nach wie vor weitverbreitet. Die reproduktiven Rechte der Frauen sind beschränkt und werden ständig angegriffen.

In den USA hat die Aufhebung des Urteils Roe versus Wade durch den Obersten Gerichtshof, das Frauen ein (wenn auch eingeschränktes) Recht auf Abtreibung zugestanden hat, die Kampagne zur Rücknahme des in den 1970er Jahren errungenen eingeschränkten Rechts auf Abtreibung auf Ebene der Bundesstaaten gefördert. Die Republikanische Partei verabschiedet Gesetze, um die Abtreibung zu verbieten und die für eine sichere Durchführung notwendigen Kliniken zu schließen. In vielen halbkolonialen Ländern droht der Aufstieg religiös-populistischer Parteien, die Frauen in das patriarchalische Heim zurückzudrängen, was in Afghanistan unter den Taliban bereits fast vollständig geschehen ist, wo sie aus dem Gesundheits-, Bildungswesen und dem öffentlichen kulturellen und politischen Leben verbannt werden.

Selbst die Teilerfolge der Frauenbefreiung ergeben im Weltmaßstab ein äußerst uneinheitliches Bild. Im globalen Süden verstärken die internationale Arbeitsteilung, alte patriarchalische Verhältnisse auf dem Land und religiöse Vorurteile, die von Fundamentalist:innen aller Glaubensrichtungen wiederbelebt werden, diese Ungleichheiten. Frauen wird das Recht verweigert, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, zu entscheiden, ob oder wie viele Kinder sie haben wollen. Häusliche Gewalt, Vergewaltigung in der Familie und sogar Mord (so genannte „Ehrenmorde“) bleiben oft weitgehend ungestraft.

Dennoch wurden in den letzten Jahrzehnten Millionen von Frauen in die Massenproduktion gezogen, vor allem in der verarbeitenden Industrie in den Städten Süd- und Ostasiens und Lateinamerikas. In Krisenzeiten sind sie in der Textil-, Elektronik- und Dienstleistungsindustrie, wo Frauen etwa 80 Prozent der Beschäftigten ausmachen, oft die Ersten, die entlassen werden, wobei die Unternehmen die Löhne nicht zahlen, die gesetzlichen Kündigungsfristen nicht einhalten und die Regierungen und Gerichte ein Auge davor zudrücken. Am grausamsten ausgebeutet wird die große Zahl von Wanderarbeiterinnen, deren Familien in ihrer Heimat ohne ihre Überweisungen verhungern.

Heute mühen sich männlich dominierte Regierungen auf der ganzen Welt begierig, die Frauen bei der Wahl ihrer Kleidung zu kontrollieren. In Europa fordern Rassist:innen Einschränkungen für das Tragen des Hidschab (Kopftuch) oder Niqab (Gesichtsschleier) und verhängen Verbote für Frauen, die islamische Gesichtsbedeckungen tragen. In Staaten wie Saudi-Arabien und dem Iran hingegen setzt die Religionspolizei obligatorische islamische Kleidervorschriften durch. Radikale salafistische Gruppen und Dschihadisten haben versucht, Frauen alte und unterdrückerische Regeln wieder aufzuerlegen. Wir stehen für folgende Positionen:

  • Gegen alle Formen der gesetzlichen Diskriminierung von Frauen. Gleiches Recht für Frauen, zu wählen, zu arbeiten, sich zu bilden und an allen öffentlichen und sozialen Aktivitäten teilzunehmen.

  • Hilfe für Frauen, um der Beschränkung ihrer Beschäftigung auf den informellen Sektor und Familienunternehmen zu entkommen. Öffentliche Arbeitsprogramme zur Schaffung von Vollzeitstellen mit angemessenen Löhnen für Frauen.

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

  • Alle Frauen sollten unabhängig von ihrem Alter Zugang zu kostenloser Verhütung und Abtreibung haben.

  • Vorgehen gegen sexuelle Gewalt in allen Formen. Ausbau von in öffentlichem Besitz befindlichen, selbstorganisierten Schutzräumen vor häuslicher Gewalt und Vergewaltigung. Selbstverteidigung gegen sexistische Gewalt, unter Kontrolle der Arbeiter:innen- und Frauenbewegung.

  • Nein zu Gesetzen, die Frauen dazu verpflichten, religiöse Kleidung zu tragen, oder es ihnen verbieten. Frauen sollten das verbriefte Recht haben, sich nach ihrem Belieben kleiden zu dürfen.

  • Für ein Verbot von Kinderehen und Zwangsverheiratung.

  • Beendigung der Doppelbelastung der Frauen durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit. Für eine kostenlose 24-Stunden-Kinderbetreuung und einen massiven Ausbau von preisgünstigen, qualitativ hochwertigen öffentlichen Kantinen, Gemeinschaftsküchen, Restaurants und Wäschereien.

Wir können niemals eine Gesellschaft erreichen, in der alle Menschen gleich sind, wenn wir unsere Entschlossenheit zur Überwindung der sexuellen Ungleichheit nicht in unseren eigenen Widerstandsbewegungen zeigen. Wir müssen das Recht der Frauen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung einfordern, sich unabhängig zu treffen, um Diskriminierung zu erkennen und bekämpfen. Wir sind für das Recht von Frauen auf eine angemessene Vertretung in den Führungsstrukturen und auf die Bildung formeller eigener Strukturen in Parteien und Gewerkschaften.

Für eine internationale proletarische Frauenbewegung, um Frauen im Kampf für ihre Rechte zu mobilisieren, um die Klassenkämpfe überall zu stärken. Für die Verbindung des Kampfs gegen das Kapital mit dem für die Emanzipation der Frauen und eine neue Gesellschaftsordnung, die auf wirklicher Freiheit und Gleichheit beruht. Die Aufgabe kommunistischer Frauen ist es, eine solche Bewegung aufzubauen und sich dafür starkzumachen, sie auf den Weg der sozialen Revolution zu führen.

5.2 Gegen die Unterdrückung von Lesben, Schwulen und nicht-binären Menschen

Die historische Ungleichheit der Geschlechter, die Jahrtausende zurückreicht bis zur Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates als Instrument der Ausbeutenden gegenüber den Ausgebeuteten, führte zu repressiven Regeln und Gebräuchen in Bezug auf Sexualität und männliche und weibliche Geschlechterrollen. Mit dem Aufkommen der kapitalistischen Gesellschaft wurden heterosexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe, der Familie oder des Kastensystems sowie Homosexualität streng bestraft, bis hin zur Todesstrafe. Menschen, die gegen die binären Geschlechterrollen verstießen, wurden stigmatisiert, gemobbt, in den Selbstmord getrieben oder ermordet. Nur in einer Minderheit von Ländern sind sie rechtlich gleichgestellt. In Afrika wurden Lesben und Schwulen, als sie gleiche Bürger:innenrechte einforderten, mit einer Welle von Gewalt und Repression überzogen. Die meisten Religionen billigen diese hasserfüllte Unterdrückung.

In sogenannten „liberalen Demokratien“ wie den USA und Westeuropa stehen transsexuelle Menschen im Fadenkreuz der Reaktion. Die extreme Rechte wird bei diesen Attacken von einigen vermeintlich linken und feministischen oder gar „marxistischen“ Gruppen unterstützt, die behaupten, dass trans Rechte die der Frauen verletzten. Die Arbeiter:innenbewegung und die sozialistische Jugend müssen sich überall für LGBTQIA+-Menschen einsetzen.

  • Volle rechtliche Gleichheit für LGBTQIA+-Personen, einschließlich des Rechts auf Lebenspartner:innenschaften und Ehen.

  • Beendigung aller Verfolgungen durch den Staat, die Kirchen, Tempel und Moscheen: Respekt für jede Art von sexueller Orientierung. Jede einvernehmliche sexuelle Aktivität zwischen Erwachsenen sollte eine Frage der persönlichen Entscheidung sein.

  • Verbot jeglicher Diskriminierung und Hassverbrechen gegen LGBTQIA+-Personen.

  • Für das gesetzliche Recht von trans Personen, als das Geschlecht zu leben, sich so zu kleiden und sozialisieren, als das sie sich selbst identifizieren.

  • Für das Recht von trans Personen, sich selbst als das von ihnen gewählte Geschlecht zu identifizieren, einschließlich des Rechts, öffentliche Einrichtungen (einschließlich öffentlicher Toiletten usw.) entsprechend ihrer Geschlechtsidentität zu nutzen.

  • Keine Diskriminierung bei der Wohnungssuche, beim Zugang zu Lebensversicherungen, bei der medizinischen Behandlung, beim Zugang zur Arbeit oder zu Dienstleistungen.

  • Für das Recht von LGBTQIA+-Personen, Kinder zu erziehen.

  • Für das Recht von trans Personen auf uneingeschränkten Zugang zu geschlechtsangleichender Behandlung unter ärztlicher Aufsicht, einschließlich des Rechts von vorpubertären trans Personen auf uneingeschränkten Zugang zu ihre Pubertät hemmenden Medikamenten.

  • Keine Verbote der Aufklärung über die sexuelle Orientierung von Menschen! Keine Einmischung in das Sexualleben von Erwachsenen in beiderseitigem Einvernehmen. Für den freien Ausdruck aller Formen von Sexualität und Beziehungen!

  • Für das Recht von LGBTQIA+-Personen auf gesonderte Treffen und Gruppierung (Caucusrecht), um die Unterdrückung in den Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien zu bekämpfen.

5.3 Für die Befreiung der jungen Menschen

Kapitalistische Krisen treffen Jugendliche besonders hart, weil sie der am wenigsten abgesicherte Teil der Arbeiter:innenschaft sind und am leichtesten entlassen werden können. In den Jahren nach der großen Krise 2008 lag die Jugendarbeitslosigkeit doppelt so hoch wie die der Erwachsenen. Es gab weniger Arbeitsplätze für Schulabgänger:innen und Kürzungen von staatlichen Bildungsbudgets, die die Alternative eines Vollzeitstudiums an einer Hochschule stark einschränkten. In den halbkolonialen Slums hat die Verarmung der Familien die brutale Behandlung von Kindern verstärkt. Es ist sicher, dass die nächsten Krisen ähnliche Folgen haben werden.

Gleichzeitig tun die Gewerkschaftsbürokratie und reformistischen Apparate der Arbeiter:innenparteien in vielen Ländern so gut wie nichts, sich für die Jugend einzusetzen, beschneiden und unterdrücken vielmehr ihre Begeisterungsfähigkeit und Rechte. Kein Wunder: Die Jugend hat das Potenzial, in allen Ländern als mächtige revolutionäre Kraft zu wirken, erfüllt von Kampfgeist, frei von vielen Vorurteilen und konservativen Gewohnheiten, die von bürgerlichen und reformistischen Parteien sowie Gewerkschaften eingeimpft werden. Sie sind ein wesentliches Element der revolutionären Vorhut. Eine Fünfte Internationale muss es ihnen ermöglichen, aus ihren eigenen Erfahrungen zu lernen und ihre eigenen Kämpfe zu führen, indem sie die Gründung einer Revolutionären Jugendinternationale fördert. Wir kämpfen für:

  • Arbeitsplätze für alle jungen Menschen zu gleichen Löhnen und Bedingungen wie für ältere Beschäftigte.

  • Abschaffung schlecht bezahlter Praktika, stattdessen Berufsausbildung bei voller Bezahlung mit anschließender Beschäftigungsgarantie.

  • Schluss mit jeder Kinderarbeit.

  • Kostenlose Bildung für alle vom Säuglingsalter bis zum 16. Lebensjahr sowie folgende Weiterbildung für alle, die es wollen, mit einem garantierten Lebensunterhalt. Erlass aller Schulden aus Studienkrediten.

  • Für das Wahlrecht ab 16 Jahren oder mit Eintritt ins Erwerbsalter, falls dieses früher beginnt.

  • Keine Ächtung von Kleidung, Musikstilen oder der Kultur der Jugend. Volle Freiheit der Meinungsäußerung.

  • – Beendigung des verlogenen „Kriegs gegen Drogen“. Legalisierung aller Drogen unter einem staatlichen Monopol, um die Reinheit zu garantieren und die Drogenbanden auszuschalten, mit Bildungs- und Gesundheitsdiensten zur Eindämmung und Beseitigung von Suchtabhängigkeit und gesundheitsgefährdendem Missbrauch.

  • Für Jugendzentren und angemessene menschenwürdige Unterkünfte, die vom Staat finanziert werden, aber unter der demokratischen Kontrolle der Jugendlichen stehen, die sie nutzen.

  • Stoppt die Kürzungen im Bildungswesen. Für massive Investitionen in das öffentliche Bildungssystem. Mehr Lehrpersonal und höhere Löhne. Bau von mehr staatlichen Schulen. Verstaatlichung von Privatschulen.

  • Gegen alle Beschränkungen des freien Zugangs zu allen Bildungseinrichtungen. Keine Schul- und Universitätsgebühren.

  • Nein zu jeglicher religiösen oder privaten Kontrolle über das Schulwesen und für weltliche, staatlich finanzierte Bildung.

  • In der Entwicklung ihres Sexuallebens sind junge Menschen Intoleranz, Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt. Sexualerziehung muss in staatlichen Schulen ohne religiöse oder elterliche Einmischung möglich sein, damit die Jugendlichen ihre Sexualität so leben können, wie sie sich entwickelt, entsprechend ihrer sexuellen Orientierung und ihren eigenen Entscheidungen. Für den freien Zugang zu Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit.

  • Keine polizeiliche Überwachung der Beziehungen und Sexualität junger Menschen! Für die freie Entfaltung der Sexualität junger Menschen, frei von Eingriffen des bürgerlichen Staates, religiöser Moral oder familiärer Unterdrückung!

  • Für strenge Gesetze gegen Vergewaltigung und sexuelle Belästigung in der Familie, zu Hause, an Schulen, in Kinderheimen und Waisenhäusern sowie am Arbeitsplatz. Schutz der Kinder vor Missbrauch, egal von wem er ausgeübt wird, von Geistlichen, Lehrkräften, Eltern.

  • Keine Kontrolle des Bildungssystems durch den bürgerlichen Staat! Schüler:innen, Lehrer:innen und Vertreter:innen der Arbeiter:innenbewegung sollten die Lehrpläne selbst festlegen und die Schulen demokratisch verwalten.

5.4 Rassismus bekämpfen – Verteidigung von Flüchtlingen und Migrant:innen

Rassismus ist eine der weitestgehenden und bösartigsten der vielen Formen der Unterdrückung, die der Kapitalismus hervorbringt. Seine Wurzeln liegen tief in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung. Der Weltmarkt und der Handel wuchsen unter der Vorherrschaft mächtiger kapitalistischer Staaten, die schwächere Gemeinwesen ausplünderten. Die Sklaverei in Amerika, die Früchte des britischen, holländischen und französischen Imperiums, die Eroberungskriege Deutschlands und Japans – sie alle erforderten, dass die Unterdrücker:innen jenen, die sie versklavten, ihre Eigenschaft als vollwertige Menschen absprachen. Die Afrikaner:innen, die Inder:innen, die Chines:innen, die Südostasiat:innen und das jüdische Volk wurden von den neuen imperialen Mächten als Untermenschen dargestellt, die der Rechte, die sie ihren Bevölkerungen im eigenen Land, wenn auch nur widerwillig, zugestanden, nicht würdig wären.

Durch die systematische Verbreitung der neuen Ideologie des Rassismus rechtfertigten die imperialen Mächte ihre Verbrechen in Übersee, banden ihre eigene Bevölkerung an die Unterstützung nationaler militärischer Abenteuer, wie kriminell diese auch sein mochten, schirmten ihre eigenen Arbeiter:innen vom rebellischen Geist ihrer kolonialen Geschwister ab und förderten tiefe Spaltungen zwischen einheimischen und zugewanderten Teilen der Arbeiterk:innenklasse im Heimatland.

Heute, nach der großen Bürger:innenrechtsbewegung in den USA und den siegreichen nationalen Bewegungen, die die Kolonialist:innen aus Indien, Algerien und Vietnam vertrieben und die Apartheid in Südafrika besiegten, schwört die Bourgeoisie der imperialistischen Mächte auf den Antirassismus. Dennoch diskriminieren dieselben Regierungen systematisch schwarze, afrikanische, asiatische und Migrant:innengemeinschaften in ihren Heimatländern, führen rassistische Einwanderungskontrollen durch und setzen nicht-weiße Minderheiten den schlechtesten Wohnverhältnissen, niedrigsten Löhnen und ständigen Drangsalierungen durch die Polizei aus. Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat die Aufmerksamkeit auf die Tötung junger Afroamerikaner:innen durch bewaffnete Polizist:innen und ähnliche Verfolgungen gegenüber Asiat:innen und Latinos/as gelenkt. In Europa, im Osten wie im Westen, sind Roma und muslimische Gemeinschaften die Opfer von Polizeirazzien und Zwangsabschiebungen, angestachelt durch die unablässige abscheuliche rassistische Propaganda der millionenschweren Medien.

Die so genannte Flüchtlingskrise der EU hat dazu geführt, dass Syrer:innen, Afghan:innen, Iraker:innen und Jemenit:innen, die vor Krieg fliehen, sowie Afrikaner:innen aus Ländern südlich der Sahara auf der Flucht vor Armut und den Auswirkungen des Klimawandels an der Überquerung des Mittelmeers gehindert werden und ihnen Lagerhaft und Abschiebung drohen. Die Arbeiter:innenbewegung muss die Arbeitsmigrant:innen in einen gemeinsamen Kampf gegen Rassismus und Kapitalismus einbinden.

  • Öffnung der Grenzen. Gewährung des Asylrechts für alle, die vor Diktatur, brutalen Kriegen und Unterdrückung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder Geschlechtsidentität fliehen.

  • Abschaffung der Kontrollen, die die Freizügigkeit von Arbeitssuchenden behindern, und Gewährung der vollen Staatsbürger:innenschaft, der Sozialhilfe, der Wohn- und Arbeitsrechte.

  • Schluss mit jeder Form der Diskriminierung von Migrant:innen.

  • Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Religion oder Staatsbürger:innenschaft. Volle Bürger:innenrechte für alle Migrant:innen, einschließlich des Wahlrechts!

  • Für das Recht muslimischer Frauen, in allen Bereichen des öffentlichen Lebens religiöse Kleidung (Schleier, Niqab, Burka) zu tragen, wenn sie dies wünschen, und für das Recht von Frauen in muslimischen Ländern und Gemeinschaften, keine religiöse Kleidung zu tragen, frei von gesetzlichem, klerikalem oder familiärem Zwang.

  • Volles Asylrecht für alle Menschen, die vor Krieg, Unterdrückung und Armut aus ihren Heimatländern fliehen.

  • Gegen Rassismus und alle Formen der Rassendiskriminierung. Dem Rassismus muss in allen Bereichen der Arbeiter:innenbewegung entgegengetreten werden. Nein zu Streiks gegen die Beschäftigung ausländischer oder migrantischer Arbeitskräfte.

  • Die Arbeiter:innenbewegung, insbesondere in den Medien tätige Gewerkschafter:innen, müssen eine Kampagne starten, begleitet von direkten Aktionen, um rassistische Hasspropaganda zu beantworten und zu stoppen.

5.5 Nationale Befreiung und die permanente Revolution

Die Worte, die die Dritte Internationale der Ersten hinzufügte: „Arbeiter und unterdrückte Völker aller Länder, vereinigt euch“, spiegeln die Tatsache wider, dass eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur internationalen Befreiung der Arbeiter:innenklasse die nationale Unterdrückung ist: das Weltsystem, das auf der systematischen Unterdrückung der meisten Nationen durch eine Handvoll anderer beruht. Eine dauerhafte Einheit zwischen den Mehrheitsklassen aller Völker kann nicht erreicht werden, wenn eine Nation eine andere unterdrückt.

Heute wird ganzen Nationen – der palästinensischen, kurdischen, Rohingyas, uigurischen, belutschischen, Kaschmiris, tschetschenischen, tamilischen in Sri Lanka, tibetischen und vielen anderen – das Recht auf Selbstbestimmung verweigert. Das Gleiche gilt für viele indigene oder in Stämmen lebende Völkerschaften in Nord- und Südamerika, Südostasien und Afrika. Sie sind ethnischen Säuberungen, Einpferchungen in Konzentrationslagern, der Unterdrückung von Sprache und Kultur und sogar Völkermord ausgesetzt.

Die Arbeiter:innenklassen, insbesondere in den imperialistischen Staaten, deren herrschende Klassen für diese Unterdrückung verantwortlich sind, müssen dem Befreiungskampf der unterdrückten Nationen in vollem Umfang Beistand und praktische Hilfe leisten.

  • Für das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Völker, einschließlich ihres Rechts, einen eigenen Staat zu gründen, wenn sie dies wünschen, und ihres Rechts, ihren Willen frei von jeglichem Zwang und jeder Einschüchterung zu äußern.

  • Für das Recht der indigenen Völker, ihr Land zurückzuerhalten, frei von Siedlungen, die sie zu einer Minderheit machen sollen. Materielle Entschädigung (Wohnraum, Dienstleistungen, Infrastruktur) für das, was sie erlitten haben, bezahlt von den herrschenden Klassen, die ihnen das angetan haben.

  • Für gleiche Rechte und volle Staatsbürger:innenschaft für Angehörige nationaler Minderheiten.

  • Gegen alleingültige Amtssprachen. Gleiches Recht für nationale Minderheiten, ihre Sprachen an den Schulen, bei Gerichten, in Medien und im Umgang mit der öffentlichen Verwaltung zu verwenden.

  • Für das Recht von Migrant:innengemeinschaften, ihre Muttersprache in der Schule zu gebrauchen.

In den halbkolonialen Ländern, die nur dem Namen nach unabhängig sind und der politischen Einmischung und wirtschaftlichen Kontrolle durch die imperialistischen Großmächte unterliegen, haben die Massen immer noch nicht viele der Grundrechte erlangt, die in den ersten kapitalistischen Ländern, in der Englischen Revolution der 1640er Jahre, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 eingeführt wurden. Auch in der halbkolonialen Welt von heute sind viele grundlegende Aufgaben der kapitalistischen Entwicklung wie nationale Unabhängigkeit, Agrarrevolution, demokratische Rechte und die rechtliche Gleichstellung der Frauen noch nicht erfüllt.

Infolgedessen glauben heute viele nationalrevolutionäre Kräfte, die vom bürgerlich-demokratischen Denken und von der „Etappentheorie“ Stalins beeinflusst sind, wie sie immer noch von den offiziellen kommunistischen Parteien vertreten wird, dass die Lösung für die halbkoloniale Unterentwicklung darin besteht, die demokratische Revolution zu vollenden und eine echte nationale Unabhängigkeit und eine moderne Republik zu errichten, und zwar durch ein Bündnis aller Klassen, die sich der Fremdherrschaft widersetzen und die demokratische Entwicklung unterstützen.

Dieses Schema ist die gemeinsame Strategie unterschiedlicher Kräfte in der halbkolonialen Welt, von der Fatah und der PFLP in Palästina bis hin zur demokratischen Bewegung im Iran, der Kommunistischen Partei auf den Philippinen und den Maoist:innen in Nepal. Die Geschichte hat jedoch immer wieder gezeigt, dass die nationale Bourgeoisie in solchen Ländern zu schwach und zu eng mit dem ausländischen Kapital und den imperialistischen Mächten und Konzernen verbunden ist, um eine klassische bürgerliche Revolution zum Sieg zu führen.

Diese Aufgabe fällt der Arbeiter:innenklasse zu. Um die nationale Revolution im Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen anzuführen, müssen die Arbeiter:innen ihre strikte Unabhängigkeit von den Kapitalist:innen bewahren und nicht nur die vollsten demokratischen Rechte durchsetzen, sondern auch die Beschränkungen des Kapitals überwinden; sie können die Macht nicht in den Händen einer bürgerlichen Klasse belassen, die von Natur aus unfähig ist, mit dem Imperialismus zu brechen und nur ihre eigenen Privilegien vor den Massen sichern will. Die Arbeiter:innen müssen unmittelbar die soziale Revolution ansteuern. Dies ist die Strategie der ununterbrochenen oder permanenten Revolution.

Die Arbeiter:innenklasse muss sich für die Durchsetzung voller demokratischer und nationaler Rechte in unterdrückten und halbkolonialen Nationen einsetzen. Sie muss sich an die Spitze des Kampfes gegen die imperialistische Herrschaft stellen, die sich entweder auf Verschuldung, Besetzung, Kontrolle durch multinationale Konzerne oder aufgezwungene und Marionettenregierungen gründet.

Die Organisationen der Arbeiter:innenklasse müssen zur Bildung einer antiimperialistischen Einheitsfront aller Bevölkerungsschichten unter Wahrung ihrer eigenen Unabhängigkeit aufrufen.

Keine Beteiligung der Arbeiter:innenorganisationen an einer bürgerlichen Regierung, wie radikal ihre antiimperialistische Rhetorik auch klingen mag.

  • Für Arbeiter:innen- und Bäuer:innen-Delegiertenräte.

  • Für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung, die von der demokratischen zur sozialen Revolution übergeht, das Eigentum vergesellschaftet und die Kontrolle über Industrie und Landwirtschaft übernimmt, imperialistische Schulden streicht und die Revolution auf andere Länder ausweitet, regionale Föderationen von Arbeiter:innenstaaten und die sozialistische Entwicklung in Angriff nimmt.

6. Der Kampf um die Macht

6.1 Für eine Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen

Aus Wirtschaftskrisen und Kriegen und großen Aufschwüngen im Klassenkampf können sich leicht vorrevolutionäre oder tatsächlich revolutionäre Situationen ergeben, in denen die herrschende Klasse gespalten ist und die reformistischen Führer:innen die Kontrolle verlieren, was die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse vor die Notwendigkeit stellt, eine Regierungslösung in ihrem Interesse zu finden. Solche sozialen Krisen warten nicht darauf, dass die Arbeiter:innenklasse eine revolutionäre Massenpartei schafft, die bereit ist, die Macht zu übernehmen. In Ermangelung einer solchen blickt die Klasse weiterhin auf ihre bestehenden Gewerkschafts- und reformistischen Parteiführungen. Wenn rechte Parteien an der Macht sind, wollen reformistische Arbeiter:innen vielleicht nicht erst die nächsten regulären Wahlen abwarten, sondern versuchen, eine rechte Regierung durch direkte Aktionen, Generalstreiks oder Fabrikbesetzungen aus dem Amt zu jagen, und so „ihre eigenen“ Parteien an die Macht zu bringen.

Revolutionär:innen müssen davor warnen, dass die reformistischen Führungen, selbst wenn sie durch Massenaktionen an die Macht gebracht werden, immer noch alles tun werden, um der Kapitalist:innenklasse diese Macht zurückzugeben, indem sie die kampfbereite Klasse demobilisieren. Es dabei zu belassen, die Reformist:innen nur anzuprangern, hieße jedoch, die Methode unseres Übergangsprogramms aufzugeben. Es stellt kein Ultimatum, verlangt nicht, dass die Arbeiter:innen zunächst ihre bestehenden Organisationen oder Führungen aufgeben müssten, bevor sie für die entscheidenden Forderungen und Losungen der Stunde tätig werden könnten, ja, bevor sie für die Machtübernahme kämpfen.

Unter diesen Umständen rufen wir alle bestehenden Arbeiter:innenführungen, sowohl Gewerkschaften als auch Parteien, dazu auf, mit den Kapitalist:innen zu brechen und eine Regierung zu bilden, die die Krise im Interesse der Arbeiter:innenklasse löst und sich gegenüber deren Massenorganisationen verantwortlich zeigt. Die Arbeiter:innenorganisationen sollten fordern, dass eine solche Regierung wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen die kapitalistische Sabotage ergreift, ihre Industrien, Banken usw. enteignet und die Kontrolle der Arbeiter:innen über sie anerkennt und zulässt.

Wenn die Arbeiter:innenklasse eine Regierung erstrebt, die die ökonomischen, ökologischen und kriegerischen Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind, löst, kann sich diese nicht auf die bestehenden Organe des bürgerlichen Staates stützen, seien sie politisch, repressiv oder ökonomisch, da diese untrennbar mit der Klasse verbunden sind, die die Probleme verursacht hat und ihre Lösung behindert und die auf ihren höchsten Ebenen mit deren Gefolgsleuten besetzt sind. Sie muss sich stattdessen auf die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse verlassen und bereit sein, dem Großkapital ihr Programm der Kontrolle und Enteignung aufzuzwingen. Diese Aufgabe erfordert eine andere Art von Staat als den demokratischsten kapitalistischen, oder, wie Lenin sagte, einen Halbstaat, der durch die Demokratie, Selbstverwaltung und Selbstverteidigung der Produzent:innen funktioniert.

Um die unvermeidliche Sabotage durch die Spitzen des öffentlichen Dienstes, polizeiliche Provokationen, militärische oder „verfassungskonforme“ Putsche zu verhindern, werden wir den Aufbau und die Bewaffnung einer Arbeiter:innenmiliz brauchen und die Kontrolle der Offizier:innenkaste über die einfachen Dienstgrade innerhalb der Armee brechen müssen.

In einer Phase, in der Revolutionär:innen eine wachsende Alternative zu den Reformist:innen darstellen, könnte eine solche Arbeiter:innenregierung als Brücke zur revolutionären Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse dienen, wobei die gesamte Macht in die Hände direkt gewählter Räte aus jederzeit abrufbaren Arbeiter:innendelegierten (Sowjets) übergehen und sich so die Gründung eines revolutionären Staates vollziehen kann.

  • Bruch mit der Bourgeoisie: Alle Arbeiter:innenparteien müssen ihre strenge Unabhängigkeit bewahren und sich weigern, mit den Parteien der Kapitalist:innen auf lokaler oder nationaler Ebene Koalitionsregierungen einzugehen.

  • Für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung: Enteignung der Kapitalist:innenklasse. Verstaatlichung aller Banken, Konzerne, des Großhandels, des Verkehrs, des Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Kommunikationswesens und der Dienstleistungen ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Die verstaatlichten Banken sollten zu einer einzigen staatlichen Bank unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verschmolzen werden, wobei die Entscheidungen über Investitionen und Ressourcen demokratisch getroffen werden sollten, als Schritt zur Bildung eines zentralen Plans unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und zur Entfaltung einer sozialistischen Wirtschaft.

  • Einführung eines Außenhandelsmonopols und von Kontrolle der Kapitalbewegungen.

  • Die Machtbefugnis einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung sollte auf den Räten (Sowjets) und bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der städtischen Armen gegründet sein.

  • Die volle Staatsgewalt der Arbeiter:innenklasse kann nur durch die Zerschlagung der bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates, seines militärischen und bürokratischen Apparates und seine Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte und der Arbeiter:innenmiliz erreicht werden.

6.2 Der Aufstand

Unser Ziel ist die politische Macht, die Macht, die Welt für immer zu verändern, damit Ungleichheit, Krisen und Kriege, Ausbeutung und Klassen eine ferne Erinnerung werden. Aber Revolutionär:innen allein machen die Revolution nicht. Es braucht objektive Voraussetzungen: eine tiefe wirtschaftliche, politische und soziale Krise, die die herrschende Klasse nicht lösen kann, so dass sie selbst gespalten wird. Auch subjektive Bedingungen sind erforderlich: Die Arbeiter:innenklasse und die untere Mittelschicht dürfen nicht länger bereit sein, die alte Ordnung aufgrund des Leids und des Chaos, das die herrschende Klasse verursacht hat, weiterhin zu unterstützen. Unter diesen Bedingungen entstehen eine vorrevolutionäre oder revolutionäre Situation, und unter diesen Voraussetzungen kann eine beträchtliche Anzahl von revolutionären Avantgardekämpfer:innen die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse für die Perspektive der Revolution gewinnen.

Revolutionär:innen müssen vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen erkennen und in ihnen die mutigsten Protagonist:innen des Umsturzes der Macht sein. Sie müssen durch entschlossene und richtige Propaganda und Agitation in Massenbewegungen, Aufständen oder Bürgerkriegen um die Führung kämpfen und zielstrebig den Weg weisen. Für revolutionäre Organisationen und Parteien bedeuten das Versäumen revolutionärer Situationen, passives Kommentieren, das Führen eigener Kämpfe getrennt von den Massen, Angst vor der revolutionären Bewegung oder gar Unterordnung unter nichtrevolutionäre Kräfte unverzeihliche zentristische Fehler, die in der Vergangenheit immer wieder zur Niederlage der Arbeiter:innen geführt haben.

Die Übertragung der Macht von einer Klasse auf die andere kann nur durch den Aufstand der ausgebeuteten Massen unter Führung einer revolutionären Partei mit ihrer kämpferischen Vorhut erreicht werden. Da der bürgerliche Staat ein bewaffnetes Unterdrückungsinstrument verkörpert, kann seine Macht nur gebrochen werden, indem man dem Oberkommando und dem Offizier:innenkorps die Kontrolle über diese Kräfte entzieht, die einfachen Soldat:innen für sich gewinnt und die der Konterrevolution treu gebliebenen Truppenteile gewaltsam auflöst.

Wir können den alten Staatsapparat nicht übernehmen; wir müssen ihn zerstören und durch einen völlig neuen Staat ersetzen, einen Staat, in dem die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die städtischen Armen die Gesellschaft durch in den Betrieben, den Barrios, den Dörfern, den Schulen und Universitäten gewählte Delegiertenräte verwalten. Immer wieder sind solche Gremien in revolutionären Krisen entstanden, von der Pariser Kommune über die russischen Sowjets, die deutschen Räte, die chilenischen Cordones bis zu den iranischen Schoras. Sie entstehen als Kampforgane, Räte der Aktion, aber nur eine klare revolutionäre Führung kann sie befähigen, zu Organen des Aufstands und dann zu einer neuen Staatsmacht der Arbeiter:innenklasse zu werden.

Solange es noch eine alte herrschende Klasse gibt, die in der Lage ist, die Macht zurückzuerobern, muss die Arbeiter:innenklasse alles Notwendige tun, um dies zu verhindern. Ein Arbeiter:innenstaat wird zwar die umfassendste und freieste Demokratie für die ehemals ausgebeuteten Klassen sein, aber gleichzeitig eine Diktatur gegen diejenigen, die den Kapitalismus wiederherstellen wollen. Nicht mehr und nicht weniger bedeutet die Diktatur des Proletariats in Wirklichkeit. Auf sie kann erst verzichtet werden, wenn die mächtigsten herrschenden Klassen unseres Planeten entwaffnet und enteignet worden sind.

Ein Arbeiter:innenstaat darf jedoch nicht zulassen, dass eine Kaste von Bürokrat:innen die Diktatur über die Arbeiter:innen ausübt, und er kann auch kein Staat sein, in dem nur eine Partei existieren darf. Die arbeitenden Massen müssen die Möglichkeit haben, ihre unterschiedlichen Ansichten in verschiedenen Parteien zum Ausdruck zu bringen, die auf demokratische Weise in Wettbewerb miteinander treten, um eine Mehrheit in den Arbeiter:innenräten zu gewinnen und behalten. Unser Sozialismus darf auch keiner sein, in dem ein Präsident, ein Caudillo oder ein lider maximo alle Initiative in seinen Händen konzentriert und sich mit einem Personenkult umgibt wie ein Stalin, ein Mao, ein Castro oder ein Chávez.

Die volle Staatsgewalt der Arbeiter:innenklasse kann nur durch die Zerschlagung der bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates, seines militärischen und bürokratischen Apparates und seine Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte und der Arbeiter:innenmiliz selbst erreicht werden.

6.3 Unser Ziel: Weltrevolution und Kommunismus

Der Sozialismus, für den wir kämpfen, braucht Produktionsmittel in großem Maßstab in den Händen der Arbeiter:innenklasse, die ihre Entwicklung demokratisch planen kann, um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen und Ungleichheit und soziale Klassen schrittweise zu beseitigen.

In einem revolutionären Arbeiter:innenstaat wird es keinen monströsen, bürokratischen Plan geben wie unterm Stalinismus, wo eine Kaste privilegierter Bürokrat:innen versuchte, alles zentral zu entscheiden. Nach der Revolution wird die Arbeiter:innenklasse die Banken, die wichtigsten Finanzinstitutionen, die Verkehrs- und Versorgungsunternehmen und alle wichtigen Industriezweige vergesellschaften. Dies wird die Grundlage für eine Reihe von ineinandergreifenden Plänen bilden, die von der lokalen über die regionale bis zur nationalen und internationalen Ebene integriert und koordiniert sind und jeweils nach einer Debatte von einer Arbeiter:innen- und Verbraucher:innendemokratie beschlossen werden.

Dies ist kein Traum, wie die bürgerlichen Propagandist:innen behaupten. Moderne Technologien machen es möglich, Bedürfnisse und Notwendigkeiten rund um den Erdball in Sekundenschnelle zu entdecken und zu kommunizieren und dann die Produktion und den Transport zu koordinieren, um sie zu erfüllen. Jeder moderne multinationale Konzern arbeitet bereits auf diese Weise. Aber im Gegensatz zu den kapitalistischen Konzernen werden wir die Errungenschaften der modernen Technologien nicht für den Profit einiger weniger, sondern zum Nutzen der gesamten Menschheit einsetzen.

Handwerker:innen, Ladenbesitzer:innen und Kleinbauern und -bäuerinnen werden ihre Familienbetriebe als Privateigentum behalten können, wenn sie dies wünschen. Gleichzeitig werden sie ermutigt, sich von der Unsicherheit des Marktes und der Verdrängungskonkurrenz zu befreien, indem sie ihre Produktion auf den gesamtgesellschaftlichen Plan zur wirtschaftlichen Entwicklung ausrichten. Die Vorstellung, dass der Sozialismus auf Privateigentum in kleinem Maßstab oder auf Genossenschaften beruhen kann, ist eine rückwärtsgewandte Utopie, die mit der Zeit nur die Bedingungen der Marktwirtschaft wiederherstellen und die Kapitalakkumulation erneut fördern kann.

Die Vergesellschaftung des bäuerlichen Kleinbesitzes, der kleinen Läden usw. muss jedoch schrittweise und freiwillig erfolgen und nicht zwangsweise wie unter Stalin.

Unabhängig davon, ob die Revolution zuerst in einem rückständigen, halbkolonialen oder in einem fortgeschrittenen, imperialistischen Land ausbricht und triumphiert, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie sich rasch über die Grenzen des betreffenden Staates hinaus ausbreitet. Dies ist notwendig, um das Erreichte zu verteidigen und das volle Potenzial der sozialistischen Gesellschaft auszuschöpfen. Wo immer die Arbeiter:innen die Macht ergreifen, werden sie von ausländischen kapitalistischen Mächten angegriffen, v. a. von den imperialistischen Großmächten. Die wirksamste Form der Verteidigung ist daher die Ausbreitung der Revolution in diesen Ländern durch den vollen Einsatz für die dortigen Arbeiter:innenklassen im Machtkampf. Außerdem ist es unmöglich, den Aufbau des Sozialismus auf nationaler Ebene zu vollenden, wie der Niedergang und der endgültige Zusammenbruch der Sowjetunion bewiesen haben. Der „Sozialismus in einem Land“ bleibt eine reaktionäre Utopie.

Die vom Kapitalismus über Jahrhunderte entwickelten Produktivkräfte erfordern eine internationale Ordnung. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Nationalstaat selbst zu einem Hindernis für ihre Weiterentwicklung geworden. Die Notwendigkeit der Strategie der permanenten Revolution ergibt sich daher nicht nur aus der Notwendigkeit, den anhaltenden Widerstand der alten herrschenden Klassen zu bekämpfen, sondern aus dem Umstand, dass eine rationale und nachhaltige Entfaltung der Produktivkräfte der Menschheit letztlich nur auf Weltebene erfolgen kann.

Auf Grundlage einer weltumspannenden Planwirtschaft und einer Weltföderation sozialistischer Republiken können wir uns schließlich auf ein gemeinsames Wohlstandsniveau und die vollständige Gleichberechtigung der gesamten Menschheit zubewegen. Als Ergebnis dieses Prozesses werden soziale Klassen und die repressiven Merkmale des Staates allmählich absterben – es wird das erreicht, was Marx, Engels und Lenin Kommunismus nannten. Aber zuerst müssen wir diesen Prozess ins Werk setzen. In einem Land nach dem anderen, das von der historischen Krise des Systems erschüttert wird, müssen wir den Kapitalismus in den Abgrund stürzen. Die Weltrevolution, und nichts anderes, ist die Aufgabe der kommenden Fünften Internationale.

  • Arbeiter:innen und unterdrückte Völker der Welt – vereinigt euch!

  • Vorwärts zu einer neuen, einer Fünften Internationale!

7. Eine revolutionäre Partei und Internationale

Es war Karl Marx, der zuerst erklärt hatte, dass die Befreiung der Arbeiter:innenklasse von der kapitalistischen Herrschaft nur das Werk der Arbeiter:innenklasse selbst sein könne und niemals durch „Retter:innen von oben“ erreicht werden könne. Im Gegensatz zu den Anarchist:innen stellte er jedoch nicht die Mystik der „Selbsttätigkeit“ oder des „Sozialismus von unten“ der politischen Aktion, sei sie „direkt“ oder „durch Wahlen“, entgegen, sondern die Notwendigkeit, eine von allen kapitalistischen Parteien oder Persönlichkeiten unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen. Eine solche Partei, so betonte er, muss internationalistisch sein, wie es der Kampfruf aus dem Kommunistischen Manifest und der Eröffnungsrede der Ersten Internationale „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch“ zum Ausdruck bringt.

Sie muss die revolutionäre Theorie mit der Praxis vereinen. Ausgangspunkt ist das Verständnis der Bewegungsgesetze des Kapitalismus, des Charakters der Ausbeutung, der Wiederkehr wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen, die die Bedingungen für die Befreiung nicht nur der Arbeiter:innen, sondern aller Unterdrückten schaffen. Die revolutionäre Theorie steht bereit, um angewendet zu werden und die Welt zu verändern. Im Gegenzug bereichert die Praxis einer solchen Partei ihrerseits die Theorie und entwickelt sie weiter.

Es war der russische Revolutionär Lenin, der diese Lehren zu einem praktischen Leitfaden für den Aufbau einer revolutionären Partei destillierte, einer Partei, deren Aufgabe es sein sollte, die Arbeiter:innenklasse in all ihren großen Kämpfen zum Angriff auf den kapitalistischen Staat und seine ausgeklügelten Instrumente der Unterdrückung und Täuschung sowohl in der Gesellschaft insgesamt als auch innerhalb der Arbeiter:innenbewegungen selbst (reformistische Parteien, Gewerkschaftsbürokratie) zu führen. Das Modell der Partei, das Lenin entwickelt hat, der Bolschewismus, kann nicht als fertige Formel, auf jede Situation aufgepfropft werden. Das Aussehen einer revolutionären Partei kann und wird sich je nach den historischen und nationalen Bedingungen ändern und anpassen.

Es gibt jedoch ausschlaggebende Grundprinzipien, die das Fundament jeder wirksamen revolutionären Partei bilden müssen. Diese wurden zuerst in Lenins klassischem Werk „Was tun?“ beschrieben. Darin findet sich auch die bis heute sehr umstrittene Aussage: „Klassenpolitisches Bewusstsein kann der Arbeiter:innenklasse nur von außen, d. h. nur von außerhalb des ökonomischen Kampfes vermittelt werden“. Damit wird weder geleugnet, dass Klassenbewusstsein im Kapitalismus oft in den alltäglichen Auseinandersetzungen mit den Kapitalist:innen und ihrem Staat seine Keimzelle hat, noch bedeutet es, dass die Arbeiter:innenklasse sich nicht selbst emanzipieren kann, dass die Arbeiter:innen von „Außenseiter:innen“ geführt werden müssten, von einer Elite von Intellektuellen aus der Mittelschicht oder „Berufsrevolutionär:innen“, die als Parteibürokratie missverstanden werden könnten. Es bedeutet ganz einfach, dass Kämpfe um Löhne und Arbeitsbedingungen, also ausschließlich wirtschaftliche Kämpfe, die von den Gewerkschaften allein geführt werden,sich nicht spontan zu einem Kampf für den Sozialismus entwickeln werden; sie werden nicht automatisch ein revolutionäres sozialistisches Bewusstsein schaffen.

Die „spontane“ Perspektivee der Gewerkschaften geht von der des jeweiligen Berufs oder der jeweiligen Branche aus, und ab einem bestimmten Punkt behindern diese Unterteilungen eine klassenumgreifende Sichtweise. Zweitens sind die Arbeiter:innen immer starken Einflüssen „von außen“ ausgesetzt, d. h. von einer Gesellschaft, in der die herrschenden Ideen die der herrschenden Klasse sind. Dies wird durch die unaufhörliche Propaganda in den Schulen, Medien, Kirchen, Moscheen und Tempeln erreicht, die alle betonen, dass der Kapitalismus das einzig mögliche System sei.

Dieses propagandistische Trommelfeuer, das darauf abzielt, die Arbeiter:innenschaft zu spalten und von den Ideen der herrschenden Klasse beherrschen zu lassen, kann nur durch die Prinzipien des Sozialismus und der Revolution gekontert werden – und diese kommen „von außerhalb“ der Sphäre der reinen und einfachen Gewerkschaftsbewegung. Sie können systematisch nur von einer politischen Partei geschaffen und verbreitet werden, deren Ziel es ist, alle zersplitterten und sektoralen Kämpfe auf eine politische Dimension zu heben, auf der der Kapitalismus als Feind identifiziert werden kann. Natürlich kann diese Partei nicht „außerhalb“ der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse stehen. In dieser Hinsicht muss sie sich radikal von den reformistischen parlamentarischen Parteien unterscheiden, die den Kampf in den Betrieben den Gewerkschaften oder vielmehr ihren Funktionär:innen überlassen, die Politik weitgehend auf Wahlen beschränken und deren Parteiprogramme die Ziele auf das verkürzen, was die Führer:innen für populär halten und ihnen „Macht“, d. h. ein Regierungsamt in der Zwangsjacke des kapitalistischen Staates, verschaffen wird.

Eine leninistische Partei braucht Mitglieder, die die unermüdlichsten und aufopferungsvollsten Aktivist:innen sind, die nicht nur richtungweisend in die gegenwärtigen Kämpfe eingreifen, sondern auch erklären können, dass der Kapitalismus die Ursache für Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit und Sozialkahlschlag und darüber hinaus auch für Rassismus, Sexismus und Krieg ist. Sie müssen an den gefährlichsten Orten des Klassenkampfes zu finden sein. Sie müssen sich die Anerkennung ihrer Kolleg:innen als die zuverlässigsten Anführer:innen, die Vorhut des Klassenkampfes, erarbeiten.

Laut Lenin müssen die Parteimitglieder Kader sein, eine militärische Analogie, die sich auf das Netzwerk von Unter- und Feldoffizier:innen einer Armee bezieht. Sie müssen Berufsrevolutionär:innen sein, Personen, die nicht nur ein paar freie Abende der Politik widmen, sondern sie zum Mittelpunkt ihres Lebens machen. Die große Mehrheit dieser Menschen muss aus Arbeiter:innen bestehen, wenn sie im Klassenkampf führend sein will. Eine revolutionäre Partei kann das Wachstum einer Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse, mit der sie untrennbar verschmolzen ist, sprunghaft ankurbeln. Das Beispiel der bolschewistischen Partei zeigt, warum sie in der Lage war, die „spontane“ Revolution vom Februar 1917 in die bewusste Machteroberung durch die Arbeiter:innenräte im Oktober zu verwandeln. Diese Schlüsselprinzipien revolutionärer Politik, des revolutionären Programms und des Internationalismus sind heute genauso ausschlaggebend wie zu der Zeit, als Lenin sie entwickelte, und es ist die brennende Aufgabe der revolutionären Sozialist:innen, sie in den gewaltigen Kämpfen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen, in die Tat umzusetzen.

Nachdem sie gesehen hatten, dass die Massenparteien der Arbeiter:innenbewegung, sozialdemokratische, Labour und solche, die sich „kommunistisch“ nennen, allgemein ein Hindernis für die Entfaltung der Kampfkräfte darstellten, zogen leider viele junge Aktivist:innen während der Massenkämpfe von 2009 – 2015 daraus den Schluss, dass politische Parteien als solche den Kampf nicht voranbringen könnten. Sie setzten ihnen spontane soziale Bewegungen entgegen wie bei der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo, der Wall Street in New York, der Puerta del Sol in Madrid oder des Syntagma-Platzes in Athen. Die Alternative sei, so dachten sie, sich auf eine direkte Massendemokratie zu beschränken. Aber das Leben hat bewiesen, dass die Demokratie eines einzigen Ortes oder eines kurzen Augenblicks, auch wenn sie manchmal zum Sturz von Regierungen oder Diktator:innen führt, diese nicht durch die Macht der einfachen arbeitenden Menschen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten ersetzen kann. Ein solcher tatsächlicher Machtwechsel innerhalb der Gesellschaft wird nur dann stattfinden, wenn sich eine politische Gegenformation zu den alten Parteien herausbildet, mit der Entschlossenheit und Fähigkeit, diesen auch zu verwirklichen.

Eine revolutionäre Partei muss mit dem Reformismus der alten Linken brechen. Ihre eigenen Mitglieder müssen sie demokratisch kontrollieren. Ihre Aufgabe besteht nicht in erster Linie darin, Wahlen zu gewinnen, und deshalb sollte sie nicht von ihren Abgeordneten und örtlichen Funktionär:innen kontrolliert werden, die über die Mitgliedschaft herrschen, ihre eigene Politik machen und dafür Spitzengehälter und Spesen kassieren.

Im Gegensatz zu den kapitalistischen Parteien darf die revolutionäre Partei keine Versprechungen machen und dann, wenn sie an der Macht ist, das tun, was die Bosse und Bänker:innen diktieren. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Anhänger:innenschaft von Millionen von Menschen zu gewinnen, indem sie diese zum Handeln anleitet. Die Wahlen sollten dazu genutzt werden, ihr Programm für Massenaktionen bekanntzumachen, Propagandist:innen und Agitator:innen in die Räte und Versammlungen zu schicken, um die Vertreter:innen der Kapitalist:innen anzuprangern, aber vor allem, um in aller Öffentlichkeit zu den Massen zu sprechen. Ihre Aufgabe ist es nicht, vorgeblich populäre, in Wirklichkeit aber von den millionenschweren Medien diktierte Ideen zu propagieren. Wenn Parteiangehörige Mandate als Abgeordnete bzw. Ratsmitglieder gewinnen, dürfen nicht diese die Partei kontrollieren, sondern müssen umgekehrt der Kontrolle der Partei unterstehen.

Eine solche revolutionäre Partei könnte heute einen enormen Einfluss innerhalb der Widerstandsbewegungen ausüben, indem sie für Taktiken argumentiert, die die Bewegung voranbringen, allen Ausgebeuteten und Unterdrückten eine Stimme gibt, Rassismus, Sexismus und imperialistische Kriege ebenso bekämpft wie Ausbeutung und Armut. Es ist die Aufgabe einer revolutionären Partei, sich in jede Bewegung zu stürzen, sei es für höhere Löhne oder mehr Demokratie, für Gerechtigkeit zugunsten der national, rassistisch oder geschlechtlich Unterdrückten, und in jedem Fall die Praxis einer einheitlichen Kampffront zu verfechten, während sie geduldig ihre Politik und ihr Programm erklärt und die besten Kämpfer:innen in ihre Reihen holt. In den Gewerkschaften würde eine solche Partei die Basis organisieren, um die Führung zu übernehmen. Während die Gewerkschaftsspitzen zögern, wirksame Maßnahmen gegen die Kürzungen zu ergreifen, könnte eine revolutionäre Partei die Arbeiter:innen darauf orientieren, einen Generalstreik zu koordinieren, mit oder ohne die Gewerkschaftsführer.:innen. Nur mit den Erfahrungen solcher prinzipienfesten Kämpfe wird eine revolutionäre Partei, die diesen Namen verdient, auf eine revolutionäre Situation vorbereitet sein, in der der Kapitalismus gestürzt werden kann.

7.1 Für eine neue, Fünfte Internationale!

Die Arbeit zum Aufbau neuer revolutionärer Parteien in jedem Land muss von Anfang an mit dem Kampf für eine neue Internationale verbunden sein. Die objektive Notwendigkeit, die dies gebietet, sind die globalen Antworten, die zur Bekämpfung von Krieg, kapitalistischer Krise und Klimakatastrophe erforderlich sind. Das Programm zur Bekämpfung dieser und vieler anderer damit verbundener Gefahren muss auf einer internationalen Aktion und einer internationalen Organisation beruhen, die sich dafür starkmacht. Diese Organisation ist eine Fünfte Internationale, die an die Errungenschaften der Ersten, Zweiten, Dritten und Vierten Internationale vor ihrem Zusammenbruch und ihrer Degeneration anknüpft und auf deren Programmen und Praxis aufbaut.

Es ist eine völlig falsche Vorstellung, dass es vor der Gründung einer Internationale zunächst eine Reihe von starken nationalen Parteien geben muss, die jeweils in „ihrer“ Arbeiter:innenklasse fest verankert sind. Diese Konzeption verkennt, dass alle Organisationen, wenn sie isoliert voneinander aufgebaut werden, dazu neigen werden, eine Politik zu verfolgen, die die Grenzen ihres spezifischen Milieus widerspiegelt, und Gefahr laufen, dem Druck und den Verzerrungen eines nationalen Charakters zu erliegen. Die Marx’sche Losung – Arbeiter:innen aller Länder, vereinigt euch – ist keine rhetorische Floskel.

Dieses Ziel für die Parteien der Arbeiter:innenklasse muss damit verbunden sein, alle bestehenden Massenorganisationen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu ermutigen, den gleichen Weg zu gehen, angefangen beim Aufbau organisierter ständiger Verbindungen der Solidarität und gemeinsamer Aktionen mit Gleichgesinnten in aller Welt. Der Aufbau einer neuen Internationale ist keine Aufgabe, die auf kleine revolutionäre Propagandagruppen beschränkt ist, und sie muss auch nicht auf deren Vereinigung oder die Lösung ihrer strategischen und taktischen Differenzen warten, so wichtig dies auch sein mag.

Die Aufgabe, eine Nachfolge der vier historischen Internationalen aufzubauen, muss der Massenvorhut der Arbeiter:innen gestellt werden, denjenigen, die heute an der Spitze der Kämpfe stehen. Es ist möglich, dass die Schicht der Arbeiter:innenmilitanten und die Aktivist:innen der vielen Bewegungen der sozial, ethnisch oder geschlechtlich Unterdrückten, die nicht von bürgerlichen Führungen dominiert werden, eine internationale Versammlung oder ein internationales Forum schaffen können, in denen dieser Aufbau – ähnlich wie bei der Internationalen Arbeiter:innenassoziation (der Ersten Internationale) oder der sogenannten antikapitalistischen Bewegung um die Wende zum 21.Jahrhundert – beginnen kann.

Das schließt jedoch nicht aus, dass kleine Tendenzen wertvolle Arbeit leisten, indem sie Propaganda betreiben und sich in begrenztem Umfang im Klassenkampf engagieren, internationale Organisationen aufbauen und gemeinsame Programme entwickeln. Trotzki war der Auffassung, dass revolutionäre Kommunist:innen schon in den frühesten Vorphasen der Partei Gesinnungsgenoss:innen auf der ganzen Welt suchen und die Strategie, Taktik und organisatorischen Grundlagen für eine „Weltpartei der sozialistischen Revolution“ schaffen müssen. So gründeten er und seine Mitstreiter:innen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs die Vierte Internationale. Aufgrund der ungünstigen objektiven Bedingungen – der Zweite Weltkrieg und das Überleben und die Ausbreitung sowohl der bürgerlichen Demokratie als auch der degenerierten Arbeite:innenrstaaten – übten der Stalinismus und die Sozialdemokratie enormen Druck auf die winzigen Kaderkerne aus, und die Vierte Internationale machte eine zentristische Degeneration und Zersplitterung durch, lange bevor sie mit den revolutionären Massenvorhutkräften verschmelzen konnte.

Nichtsdestotrotz hat die trotzkistische Tradition in ihren verschiedenen Abspaltungen und innerhalb einer Vielzahl von internationalen Tendenzen oft einige wichtige Prinzipien ihres Gründers bewahrt. Ihr Fehler bestand und besteht darin zu glauben, dass sie mit ihren geringen Kräften immer noch die Vierte Internationale Trotzkis repräsentiere oder auch dass entweder durch einfaches Wachstum oder die Wiedervereinigung einiger oder aller ihrer entarteten Fragmente eine neue Internationale gegründet werden könnte. Es ist ein ähnlicher Irrtum zu glauben, dass kleine Propagandagesellschaften, die Dutzende oder gar Tausende zählen, in Wahrheit revolutionäre Parteien darstellen.

Die Revolution des 21. Jahrhunderts und eine erneuerte klassenbewusste Arbeiter:innenbewegung, die politisch unabhängig von allen bürgerlichen Kräften ist, muss von Anfang an auf dem Prinzip des Internationalismus aufbauen, d. h. im Hier und Jetzt die Aufgabe angehen, eine neue, proletarische internationale Kampforganisation aufzubauen.

Der Kampf gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit, die Internationalisierung der Produktion, die Angriffe auf die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen und Migrant:innen, die Bedrohung durch Handels- und heiße Kriege zwischen rivalisierenden imperialistischen Blöcken, um nur einige der Schlagzeilen unserer Agenda zu nennen, erfordern einen koordinierten gemeinsamen Kampf über Grenzen hinweg und revolutionäre Veränderungen im Weltmaßstab. Ein Rückzug auf nationale „Lösungen“ kann die Reaktion nur stärken, ja ist selbst ein Ausdruck des Erstarkens dieser Kräfte.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelte die Antiglobalisierungsbewegung Foren des Austauschs und setzte auf ihrem Höhepunkt Massenaktionen in Gang oder verband sie miteinander, darunter Demonstrationen von Millionen gegen den Irakkrieg. Einige ihrer führenden Köpfe sprachen die Möglichkeit einer Fünften Internationale an, um sie dann wieder fallen zu lassen, als sich eine neue Krise, die Große Rezession, am Horizont abzeichnete. Letztlich scheiterte sie jedoch daran, dass ihre reformistische und kleinbürgerliche Führung nicht bereit war, in national verankerten Massenorganisationen, seien es Gewerkschaften oder politische Parteien, für verbindliche internationale Entscheidungen aufzutreten.

Die Große Rezession und die verheerenden Auswirkungen der Krise, die Massenbewegungen des Arabischen Frühlings, die Kämpfe in Griechenland und die Besetzung von Plätzen haben die Notwendigkeit einer Internationale erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Doch auch hier versagte die Linke auf globaler und kontinentaler Ebene. So ist die europäische reformistische, aber auch die radikale und antikapitalistische Linke an der Aufgabe, den Widerstand gegen den kapitalistischen Sozialraubzug europaweit zu vereinen, völlig gescheitert. Sie hat sich als unfähig erwiesen, auch nur ansatzweise ein europäisches Aktionsprogramm gegen Krise und Kapitalismus zu entwickeln. Trotz ihres populistischen Charakters hatten der Chávismus und die bolivarische Bewegung vorübergehend den gemeinsamen Kampf in Lateinamerika und darüber hinaus proklamiert. Doch dies erwies sich als Märchen.

Nach dem Beginn einer neuen globalen Krisenperiode, nach der größten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, hat sich die reformistische Arbeiter:innenbewegung auf das nationale Terrain zurückgezogen. Ihr „Internationalismus“ beschränkt sich im Wesentlichen auf Sonntagsreden und Grußadressen. Dies entspricht der Position der Arbeiter:innenbürokratie, deren „Verhandlungsmacht“ an ihre nationale Kapitalist:innenklasse gebunden ist und dabei hinter der Internationalisierung des Kapitals selbst zurückbleibt.

Auch die „radikale“ linksreformistische, zentristische, anarchistische oder libertäre Linke sucht heute ihr Heil in der Orientierung auf das nationale Rückzugsgebiet. Selbst den meisten „internationalen Organisationen“ gelingt es heute nicht mehr, ihre Politik auf ein internationales Programm, eine gemeinsame Strategie und Taktik zu gründen. Entweder sind sie national ausgerichtete Sekten, um die andere Sektionen wie Satelliten kreisen, oder sie sind zunehmend nur noch lose Netzwerke, die sich weigern, verbindliche Beschlüsse zu fassen. Damit werfen sie nicht nur alle Lehren aus dem Scheitern der Antiglobalisierungsbewegung, sondern auch der Degeneration der Zweiten und Dritten Internationale über Bord.

Das bedeutet, dass der größte Teil der globalen Linken eine politisch passive, wenn nicht gar bremsende Haltung gegenüber den spontanen Tendenzen zur Bildung internationaler Bewegungen einnimmt. Dabei haben sich in den letzten Jahren internationale Kampagnen und Bewegungen über nationale Grenzen hinweg ausgebreitet wie die #MeToo-Frauenbewegung gegen sexistische Übergriffe, der Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawandels und die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, die Flüchtlingsbewegungen, die die Abgrenzungspolitik der EU und USA in Frage stellten.

Dann gab es Ansätze zur grenzüberschreitenden Koordinierung von Arbeiter:innenkämpfen, Solidaritätsbewegungen gegen imperialistische Interventionen und reaktionäre Putschversuche. All diese Mobilisierungen stellen Möglichkeiten für grenzüberschreitende, ja, Erdteile übergreifende Kämpfe und koordinierte Aktionen dar. Sie gehen jedoch noch nicht über die „Vernetzung“ eigenständiger nationaler Kampagnen hinaus, erst recht entwickeln sie kein internationales Programm für koordinierte Aktionen. Dies ist jedoch nicht die Schuld der Aktivist:innen, die sie in Gang gesetzt haben. Es ist vor allem das Versäumnis der organisierten Linken.

Viele von ihnen haben aus den Niederlagen die grundfalsche Schlussfolgerung gezogen, dass internationale Kämpfe und der Aufbau einer Internationale heute nicht auf der Tagesordnung stehen könnten, größere Organisationen und Bewegungen zunächst auf nationaler Ebene aufgebaut und entwickelt werden müssten. Nur auf dieser Grundlage sei eine grenzüberschreitende Koordination von Kämpfen und Organisationen möglich und sinnvoll. Dieses platonische Verhältnis zum internationalen Klassenkampf stellt ein grundsätzliches politisches Problem unserer Zeit dar, es ist selbst Ausdruck eines globalen Rechtsrucks, eines Erstarkens des Nationalismus, und so verschärft die nationalbornierte Politik das Problem.

Revolutionäre Marxist:innen, Internationalist:innen und Antikapitalist:innen müssen diese reaktionäre Tendenz unversöhnlich bekämpfen. Sie müssen sich den spontanen internationalistischen Tendenzen unter den Arbeiter:innen, in der Frauenbewegung, der Jugend, den Kämpfen gegen Imperialismus und Umweltzerstörung zuwenden. Nur so wird es möglich sein, diese Aktivist:innen und Kämpfer:innen für ein revolutionäres Programm zu gewinnen. So wie Revolutionär:innen für die Umgestaltung der Gewerkschaften auf internationaler Ebene kämpfen müssen, so müssen sie sich für länderübergreifende Aktionskonferenzen und eine demokratisch verantwortete Kampfkoordination einsetzen. Die Sozialforen, die sich Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts formierten, können als Modell dienen, ohne ihre Schwächen, das Fehlen verbindlicher Beschlüsse und gemeinsamer Aktionen, zu wiederholen.

In den entstehenden globalen Bewegungen der Unterdrückten wie auch in Erhebungen auf nationaler Ebene sollten Revolutionär:innen stets die Notwendigkeit einer neuen Internationale betonen. Die Gefahr eines imperialistischen Krieges, die uns jetzt droht, macht dies umso dringlicher. Wir treten zwar von Anfang an für ein revolutionäres Programm ein, aber wir können die Zustimmung zu diesem Programm nicht zur Vorbedingung für gemeinsame internationale Kampfstrukturen und echte Schritte zum Aufbau einer neuen Masseninternationale machen. Um wirksam und zielstrebig für eine solche Perspektive eintreten zu können, müssen Revolutionär:innen selbst auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms von Übergangsforderungen, eines Programms der sozialistischen Weltrevolution, kämpfen.

Wir rufen alle Genoss:innen, alle sozialistischen, kommunistischen und trotzkistischen Strömungen, die mit einer solchen Perspektive übereinstimmen, dazu auf, ein internationales Programm, das wir hier zur Diskussion stellen, als eine gemeinsame revolutionäre Antwort auf die bevorstehenden Angriffe zu erarbeiten.

LFI-Kongress, 25. Juni 2023




Indien: Modis Streben nach „Hindu Rashtra“

Minerwa Tahir/Shahzad Arshad, Neue Internationale 282, Mai 2024

Bis zu 969 Millionen Inder:innen werden in den nächsten sechs Wochen ihre Stimme bei den indischen Wahlen 2024 abgeben, die am 19. April begonnen haben. Das sind mehr als 10 Prozent der Weltbevölkerung. Dass die von Narendra Modi geführte Nationale Demokratische Allianz (NDA) die Wahl für eine dritte Amtszeit gewinnen wird, ist weitgehend unumstritten. Im Mittelpunkt dieser Wahl steht die Frage, ob es der Hindutva-Rechten gelingen wird, 400 der 543 Sitze zu gewinnen oder nicht (Hindutva: Hindunationalismus). Ein solch massiver Sieg würde sie in die Lage versetzen, eine entscheidende Änderung der weltlichen indischen Verfassung durchzusetzen – eine Änderung, die das Land formell als „Hindu Rashtra“, d. h. als hinduistischen Mehrheitsstaat, festschriebe.

Unter der Aufsicht von 15 Millionen Menschen, die von der indischen Wahlkommission eingesetzt werden, wird die Wahl schätzungsweise rund 8,6 Milliarden US-Dollar (USD) kosten. Die Stimmabgabe endet am 1. Juni, die Ergebnisse werden am 4. Juni bekanntgegeben.

Mehr als 2.600 Parteien treten zu den Wahlen an, aber Modis Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) ist sowohl subjektiv siegessicher als auch objektiv in den Umfragen vor den Wahlen führend. Die Partei, die seit 2014 fest an der Macht ist, strebt bei dieser Wahl eine dritte Amtszeit an. Im Jahr 2019 gewann die BJP von Narendra Modi 303 Sitze, und die von ihr gebildete Koalition erhielt 352 Sitze im indischen Parlament, der Lok Sabha (1. Kammer, Unterhaus). Die BJP hat das Ziel ausgegeben, bei der diesjährigen Wahl mehr als 400 Sitze zu gewinnen. Die Partei unterscheidet sich von den anderen Hauptkonkurrentinnen durch ihre hindunationalistische Politik und ihr Bestreben, den säkularen Kern der indischen Verfassung, der die formale Gleichheit aller Glaubensrichtungen garantiert, auszuhöhlen und durch eine hinduistische Mehrheitsherrschaft zu ersetzen. Diese reaktionäre Politik ist mit Versprechungen zur wirtschaftlichen Entwicklung verknüpft.

Die BJP ist die reichste Partei Indiens und wird von Großkapitalisten wie Mukesh Ambani und Gautam Adani unterstützt, die in Asien an erster bzw. zweiter Stelle der reichsten Menschen stehen. Dies hat es der BJP auch ermöglicht, die indischen Medien fest im Griff zu behalten. Adani kaufte den Medienkonzern NDTV, woraufhin sich der kritische Nachrichtensender in ein Sprachrohr der BJP verwandelte. Im Gegenzug hat die BJP-Regierung viele Energie- und Infrastrukturaufträge der Regierung an Adani-Firmen vergeben. Ein kürzlich ergangenes Gerichtsurteil enthüllte, wie sehr die BJP von einer undurchsichtigen Form der Wahlkampffinanzierung, den so genannten Wahlanleihen, profitiert hat. Die Partei erhielt mehr als 60 Mrd. Rupien (570 Mio. Britische Pfund/GBP) an Spenden, weit mehr als jede andere politische Partei. In der Zwischenzeit sahen sich andere wichtige Kandidat:innen des Oppositionsbündnisses (Indian National Developmental Inclusive Alliance, abgekürzt: INDIA), das sich aus über 27 Parteien einschließlich des Indischen Nationalkongresses zusammensetzt, staatlichen Repressionen ausgesetzt. Der Vorsitzende der Aam Aadmi Party (AAP; Partei des einfachen Mannes), der auch Ministerpräsident des Unionsgebiets Delhi ist, Arvind Kejriwal, wurde vor den Wahlen in einem Korruptionsfall inhaftiert, während die Kongresspartei ihre Parteigelder von den Steuerbehörden einfrieren lassen musste.

Die indische Wirtschaft im Wandel der Zeit

Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1947 war der indische Kapitalismus durch ein hohes Maß an staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft gekennzeichnet, um die industrielle Entwicklung und das Wachstum zu fördern und die soziale Stabilität zu gewährleisten. Politisch wurde dies von der Kongresspartei überwacht, die das Land jahrzehntelang regierte. Doch dieses Modell stieß an seine Grenzen, wie andere Formen kapitalistischer Staatsintervention auch.

In den 1990er Jahren ergriff die vom Kongress geführte Regierung Liberalisierungsmaßnahmen, die die wirtschaftlichen Beschränkungen lockerten und dem Privatsektor die Möglichkeit gaben, sich zu entfalten. Dennoch behält die Regierung ihr Monopol in den Bereichen Verteidigung, Energie, Banken und einigen anderen Branchen bei. Der Beitrag der Landwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt ist gesunken, was jedoch nicht auf einen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, sondern auf eine Zunahme des Industrie- und Dienstleistungssektors des Landes zurückzuführen ist. Die chemische und pharmazeutische Industrie sowie die Auto- und Motorradherstellung bilden zusammen mit dem Abbau von Eisenerz, Bauxit, Gold, Kohle, Öl und Gas das industrielle Rückgrat Indiens. Die große Zahl qualifizierter, englischsprachiger und gut ausgebildeter Arbeitskräfte bildet den Sektor Informationstechnologie und Outsourcing von Unternehmensdienstleistungen. Die wichtigsten Sektoren sind Informationstechnologie, Dienstleistungen, Landwirtschaft und verarbeitendes Gewerbe. Der Dienstleistungssektor machte im Jahr 2022 48,4 % des BIP aus, während der Anteil der Landwirtschaft auf 16,7 % [1] sank.

Heute will Indien in die Fußstapfen Chinas treten und Milliarden in den Bau von Straßen, Häfen, Flughäfen und Eisenbahnen investieren. Die Modi-Regierung hat das nationale Straßennetz zwischen 2014 und 2022 um 50.000 Kilometer erweitert, was einer Steigerung der Gesamtlänge um 50 Prozent entspricht. Diese Investition in die Infrastruktur soll die Verbindungswege in der kolossalen Geografie Indiens verbessern und so den Gütertransport erleichtern. Ein Teil der Aufträge für diese Megaprojekte wird an Großkapitalist:innen vergeben, die Modis Verbündete sind. Die Herrschaftsform ist extrem bonapartistisch, wobei die Unabhängigkeit der Medien, Justiz und Strafverfolgungsbehörden bis hin zur offenen Unterstützung des Regimes untergraben wird. Um ihre Herrschaft über die Massen durchzusetzen, stützt sich die Regierung nicht nur auf repressive Staatsapparate wie Polizei und Armee, sondern auch auf die paramilitärischen Milizen der verschiedenen rechtsextremen Hindutva-Gruppen der Sangh Parivar (Familie der Organisationen; Dachorganisation der hindunationalistischen Parteien und Organisationen).

Nach Angaben der Weltbank schrumpfte das reale BIP in Indien im Wirtschaftsjahr 2020/2021 aufgrund der COVID-19-Pandemie, doch erholte sich das Wachstum im Geschäftsjahr 2021/2022 stark. Im Zeitraum 2022/2023 wuchs das reale BIP um schätzungsweise 6,9 Prozent. Dieses Wachstum erklärt sich durch „eine robuste Inlandsnachfrage, eine starke Investitionstätigkeit, die durch die von der Regierung forcierten Infrastrukturinvestitionen gestützt wurde, und einen lebhaften privaten Verbrauch, insbesondere bei den Besserverdienenden“.

Indien liegt heute auf Platz fünf der BIP-Weltrangliste und hat damit seinen ehemaligen Kolonialherrn, das Vereinigte Königreich, überholt. Gemessen am BIP hat es nur noch USA, China, Deutschland und Japan vor sich. Mit einem BIP von 3,94 Billionen USD liegt es knapp hinter Japan mit 4,11 Billionen USD und vor imperialistischen Mächten wie Russland mit 2,06 Billionen USD und Frankreich mit 3,13 Billionen USD [2]. Indiens Pro-Kopf-BIP ist zwischen 2014 und 2023 um 55 % gestiegen und wird in den nächsten Jahren voraussichtlich um mindestens 6 % pro Jahr wachsen.

Das indische Pro-Kopf-BIP, das ein Maß für den Lebensstandard ist, beträgt jedoch nur 2.730 USD. Das Pro-Kopf-BIP Japans liegt bei 33.140 USD, das des Vereinigten Königreichs bei 51.070 USD. Die Unterernährung bei Kindern ist hoch, 67 % der Kinder in der Altersgruppe von sechs bis 59 Monaten sind unterernährt. Kurzum, das Wirtschaftswachstum schlägt sich nicht wirklich in einer Verbesserung des Lebensstandards der indischen Bevölkerung nieder.

Mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren hat Indien eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt. Dennoch sind laut ILO gebildete Inder:innen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren eher arbeitslos als solche ohne Schulbildung. Die Arbeitslosenquote junger Inder:innen mit Hochschulabschluss liegt bei über 29 % und ist damit fast neunmal so hoch wie die derjenigen, die weder lesen noch schreiben können, so der Bericht. Die Ungleichheit zwischen den Klassen ist extrem festgefügt. Einerseits leben etwa 60 Prozent der 1,3 Milliarden Menschen in Indien von weniger als 3,10 USD pro Tag, der mittleren Armutsgrenze der Weltbank. Andererseits schenkte Mukesh Ambani seiner Frau zu ihrem 44. Geburtstag einen Airbus im Wert von 60 Millionen USD, der über ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, Satellitenfernsehen, Wi-Fi, eine Skybar, Duschen und ein Büro verfügt.

Zwar hat Indien in den letzten Jahrzehnten ein massives Wachstum erlebt, doch muss man dies relativieren, wie es beispielsweise der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts in seinem Artikel „Modi and the rise of the billionaire Raj“ [3] tut. Er untersucht die offiziellen Wachstumsstatistiken und argumentiert, dass all das Gerede, Indien werde China irgendwann einholen, nur ein „Hype“ ist, und weist auf grobe Ungenauigkeiten in den Wachstumszahlen selbst hin: „Nehmen Sie die Wachstumszahlen. Wenn westliche Ökonom:innen die Wachstumszahlen für China erhalten, schreien sie immer, dass sie gefälscht sind. Doch in Wirklichkeit ist es Indiens nationales Statistikamt, das ,mit der Wahrheit sparsam umgeht’.  Die BIP-Zahlen enthalten dubiose Kategorien wie ,Diskrepanzen’.  Diese beziehen sich auf die Differenz zwischen dem realen BIP-Wachstum von etwa 7,5 % pro Jahr und dem realen Wachstum der Inlandsausgaben von nur 1,5 % pro Jahr.“

Darüber hinaus weist er auf zwei wichtige Unterschiede zwischen der indischen und der chinesischen Wirtschaft (und damit ganz allgemein zu den imperialistischen Staaten) hin:

  • Das Wachstum hat das niedrige Produktivitätsniveau in großen Teilen der Wirtschaft, insbesondere in der Landwirtschaft, nicht überwunden.

  • Zwei Drittel der Arbeiter:innenklasse sind in Kleinbetrieben mit weniger als 10 Beschäftigten tätig. Die dort erzielten Profite beruhen darauf, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter:innen unter die Reproduktionskosten gedrückt werden, so dass sie trotz ihrer extrem rückständigen technologischen Basis einige Gewinne erzielen können.

Andererseits hat Indien auch einige hochqualifizierte Sektoren entwickelt, aber auch ein wucherndes Parasitentum im Immobilien- und Finanzsektor, die zu einem eher fiktiven Wachstum beitragen. Alles in allem ist die indische Wirtschaft ein Beispiel für eine ungleichmäßige und kombinierte Entwicklung des Kapitalismus mit einer Regierung, die eindeutig das Ziel verfolgt, Indien zu einer „Weltmacht“ zu machen – allerdings auf der Grundlage der Wirtschafts- und Sozialstruktur eines halbkolonialen Landes mit enormen Disproportionen und inneren Widersprüchen.

Indien auf der Weltbühne

Mit seiner stark zunehmenden Bevölkerung und einer rasch wachsenden Wirtschaft will Indien ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne werden. Das Land ist von Ölimporten abhängig und ist der drittgrößte Ölverbraucher der Welt. Für Investor:innen, Hersteller:innen und Konsumgütermarken wird Indien zunehmend als aufstrebende Alternative zu China gesehen. Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Peking und dem größten Teil der westlichen Welt – insbesondere nach dem Wiedererstarken der US-Hegemonie im Gefolge der russischen Aggression gegen die Ukraine – erfreut sich Indien gesunder Beziehungen zu den meisten großen Volkswirtschaften und zieht Investitionen an.

Dies hat die Modi-Regierung auch dazu veranlasst, die traditionellen Positionen des indischen Kapitalismus zu ändern, einschließlich ihrer Haltung zur Besetzung Palästinas. Nach den Ereignissen vom 7. Oktober hat sich die indische Regierung im Washingtoner Lager offen auf die Seite Israels gestellt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Adanis  Rüstungsunternehmen Aero Defence seit 2016 einen Pakt mit dem israelischen Waffenhersteller Elbit geschlossen hat.

Doch ebenso wie auf wirtschaftlicher Ebene stehen auch die internationalen Ambitionen Indiens vor echten Herausforderungen. Während der globale Antagonismus zwischen den USA und China und ihren jeweiligen Verbündeten einen gewissen Handlungsspielraum zulässt, bedeuten die gleichen Spannungen, dass die „Partner:innen“ darauf drängen werden, Indien auf Linie zu bringen, was es zu einem wichtigen, aber dennoch untergeordneten Verbündeten macht.

Die widersprüchliche Lage, in der sich der indische Kapitalismus befindet, erklärt auch den Vorstoß zur bonapartistischen Herrschaft im Landesinneren und die Notwendigkeit, durch Populismus, Rassismus und Hinduchauvinismus eine soziale Massenbasis dafür zu schaffen.

Muslimische Minderheiten gegen rechtsextreme Mobs

Dieser Wandel ist nicht nur auf die Hinwendung der aufstrebenden Regionalmacht zum Westen zurückzuführen, sondern auch auf eine jahrzehntelange staatlich sanktionierte Politik der Unterdrückung der 200 Millionen Muslim:innen des Landes. Während der BJP-Regierung wurde Islamophobie als staatliche Politik normalisiert. Der Bau des Ram Mandir (hinduistischer Tempel in Ayodhya) an der Stelle, an der einst die Babri-Masjid-Moschee stand, ist der extremste Ausdruck des antimuslimischen Rassismus und Hasses in Indien. Dieser Rassismus äußert sich auch in der politischen Unterdrückung muslimischer Aktivist:innen wie Umar Khalid und Sharjeel Imam, die seit Jahren unter nicht kautionsfähiger Anklage inhaftiert sind.

Vor den diesjährigen Wahlen kündigte Innenminister und Modis rechte Hand Amit Shah Pläne zur Verabschiedung und Umsetzung des reaktionären Citizenship Amendment Act (CAA; Staatsbürger:innenschaftsänderungsgesetzes) an. Das Gesetz wurde im Dezember 2019 verabschiedet und löste Massenproteste aus, bei denen Dutzende von Menschen getötet und andere verhaftet wurden. Es erlaubt nur nicht-muslimischen religiösen Minderheiten aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan, die Staatsbürger:innenschaft in Indien zu beantragen. Im selben Jahr entzog das Modi-Regime auch Dschammu und Kaschmir seinen Sonderstatus und annektierte das besetzte Gebiet effektiv. Darüber hinaus wurde im nordöstlichen Bundesstaat Assam das Nationale Bürger:innenregister (NRC) eingeführt, was dazu führte, dass etwa zwei Millionen Menschen, zumeist Muslim:innen, die indische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Amit Shah versprach die landesweite Umsetzung des NRC im November 2019, gefolgt von der Verabschiedung des CAA im Dezember. Die diskriminierende Absicht der Regierung wurde offensichtlich.

Die Gewalt, die im Anschluss an die CAA-NRC-Einführung in Delhi ausbrach, wurde zu Recht als Pogrom gegen Muslim:innen bezeichnet [4] [5]. Es handelte sich um systematische und organisierte Gewalt gegen Muslim:innen, und alles, was als Beweismittel gegen die Täter:innen verwendet werden konnte, wie etwa Überwachungskameras, wurde von den Polizist:innen zerstört. Geschäfte und Häuser, die Muslim:innen gehörten, wurden identifiziert und so gezielt angegriffen, dass alle anderen, die sich in der Nähe befanden, unversehrt blieben. Muslimischen Frauen wurden die Kopftücher heruntergerissen und sie wurden sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Es gab eine beunruhigende Ähnlichkeit mit den Pogromen gegen Juden und Jüdinnen in den 1930er Jahren in Deutschland, als Hindumobs Moscheen und islamische Schreine angriffen, religiöse Schriften verbrannten und verschiedene Waffen einsetzten, um die Minderheitengemeinschaft zu töten, zerstören und terrorisieren. Die Polizei weigerte sich entweder einzugreifen, oder in den Fällen, in denen Beamt:innen an den Schauplätzen der Gewalt eintrafen, unterstützte sie die Täter:innen, warf Steine auf die Muslim:innen oder stand als gleichgültige Zuschauer:innen da, während der Mob „Delhi Police Zindabad“ (Lang lebe die Polizei von Delhi) rief.

Eine Reihe von Muslim:innen war nach diesen Ereignissen gezwungen, ihre Häuser für immer zu verlassen. Die Polizei zwang einige von ihnen später, ihre Klagen gegen Angriffe auf ihr Leben und Eigentum zurückzuziehen. Die Gewalt des Mobs wurde von einer gezielten Dehumanisierung und Verunglimpfung der muslimischen Gemeinschaft in den Mainstream- und „sozialen“ Medien begleitet. Es ist kaum zu übersehen, dass der Versuch des Modi-Regimes, die Staatsbürger:innenschaft neu zu definieren, an die nationalsozialistischen Staatsbürger:innenschaftsgesetze von 1935 erinnert, die den ersten Schritt zum Völkermord an Juden und Jüdinnen markierten. Tatsächlich hat eine Reihe von BJP-Vertreter:innen sowie Führer:innen anderer rechter und faschistischer Hindutvaparteien der Sangh Parivar ausdrücklich die Absicht geäußert, einen solchen Völkermord an den Muslim:innen zu begehen. Kurz gesagt, muslimische Menschen werden gezwungen, aus gemischten Vierteln abzuwandern, was zu einer Ghettoisierung führt [6].

Der Ruf „Jai Shri Ram“ (Gegrüßet seist du, Herr Ram) ist nicht mehr nur ein religiöser Ausdruck. Er ist zu einem Mordaufruf geworden. Zahlreiche Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Hindumobs Muslim:innen angreifen und schikanieren und sie zwingen, den Gesang zu wiederholen. Muslim:innen werden häufig als „Ausländer:innen“ beschimpft, und muslimische Männer werden beschuldigt, einen „Liebesdschihad“ zu begehen, d. h. eine angebliche Verschwörung, um Hindu-Frauen „wegzustehlen“, indem man sie dazu bringt, sich in sie zu verlieben.

Ermutigte Hindumobs haben Muslim:innen gelyncht, weil sie Rindfleisch gegessen haben, und sind ungestraft davongekommen. Sie haben Journalist:innen getötet. Andere virale Videos zeigen, wie muslimische Frauen am hinduistischen Holi (Frühlingsfest) belästigt werden, indem sie mit farbigem Wasser bespritzt werden. Diese Täter:innen wurden von verschiedenen rechtsextremen und faschistischen Organisationen der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation), der Modi seit seinem achten Lebensjahr angehört, radikalisiert und indoktriniert. Der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundesstaates Uttar Pradesh, der fanatische Antimuslim Yogi Aditjanath, drohte, jede/n im Meer zu ertränken, die/der sich weigere, den yogischen Gruß an die Sonne zu sprechen. Seine inzwischen formell aufgelöste, aber immer noch existierende Privatarmee, die Hindu Yuva Vahini, mobilisierte junge Männer, um den Schutz der Kühe durchzusetzen, den „Liebesdschihad“ zu bekämpfen und „Ghar Wapsi“ (Heimkehr) durchzuführen, d. h. die „Rückbekehrung“ von Muslim:innen und Christ:innen zum Hinduismus und in geringerem Maße zum Sikhismus.

Ghar Wapsi ist ein Programm, das auch von der RSS und der Vishva Hindu Parishad (VHP; Welt-Hindu-Rat, einer weiteren rechtsextremen hindunationalistischen Organisation, die zu Sangh Parivar gehört) verfolgt wird und auf der irrigen Vorstellung beruht, dass alle Menschen in Indien von Haus aus Hindus sind. Das eigene Überlegenheitsgefühl als Wesen des Programms lässt sich daran ablesen, dass der Prozess der Konversion als „Shuddhi“ bezeichnet wird, was Reinigung bedeutet, und als Rückkehr zur „wahren“ Religion angesehen wird.

Warum die BJP möglicherweise keine 400 Sitze gewinnt

Trotz des überwältigenden Sieges im Jahr 2019 hat Modis Partei bei der letzten Wahl nur 37 Prozent der Stimmen erhalten. Die BJP dominiert im Hindi-Sprachgürtel in Nordindien, aber die östlichen und südlichen Bundesstaaten, insbesondere Kerala und Tamil Nadu, haben sich dem Hindumehrheitsrausch nicht angeschlossen. Die BJP hat sich bemüht, sich in diesen Gebieten populär zu machen. Der Erfolg dieser Bemühungen muss sich erst noch zeigen.

Der Kongress unter damaliger Führung von Rahul Gandhi hatte 2019 einen Stimmenanteil von 20 Prozent. Zu den zentralen Wahlkampfthemen der Partei, deren Anhänger:innenschaft sich aus säkularen Hindus, Muslim:innen und anderen Minderheiten zusammensetzt, gehören in diesem Jahr, Modi als Bedrohung für die Demokratie zu brandmarken und eine Politik gegen Ungleichheit vorzuschlagen, z. B. ein gesetzliches Recht auf einen Ausbildungsplatz, Mindestpreise für Landwirte, Bargeldtransfers in Höhe von 100.000 Rupien an arme Familien und ein Mindestlohn von 400 Rupien pro Tag. Trotz dieser Versprechen bleibt die Kongresspartei eine Partei des Kapitals, was sich in den Positionen der Parteiführung zu Schlüsselfragen wie der Einweihung des Ram Mandir in Ayodhya, der von der Partei vorgeschlagenen Kastenzählung für positive Maßnahmen und der Reaktion auf die Ereignisse vom 7. Oktober zeigt. Darüber hinaus ist das INDIA-Bündnis nach wie vor zersplittert, da eine Reihe von Parteiführer:innen zur BJP übergelaufen ist und andere sich untereinander über verschiedene Themen streiten.

Im letzten Wahlkampf hat die BJP versprochen, Arbeitsplätze für die Millionen von arbeitslosen Inder:innen zu schaffen und das Leben der Massen durch Wohlfahrt zu verbessern. Das hat sie nicht gehalten. Die chronische Arbeitslosigkeit, insbesondere bei jungen Menschen, und die hohe Inflation könnten sich bei den Wahlen gegen die BJP auswirken.

Die indische Linke

Kommunistische Parteien und Gewerkschaften haben in einigen Teilen Indiens immer noch eine gesellschaftliche Basis und hätten mit einem sozialistischen Programm eine Alternative zum Aufstieg der Rechten bieten können. Sie sind jedoch ihrer stalinistischen Tradition der Klassenkollaboration treu geblieben und haben sich dem von der Kongresspartei angeführten Bündnis INDIA angeschlossen. Die Kandidat:innen von INDIA, einschließlich der Stalinist:innen, sind mit der Idee hausieren gegangen, dass die einzige Möglichkeit, die hinduistische NDA-Allianz an der „Zerstörung der Demokratie“ zu hindern, darin besteht, eine INDIA-Regierung zu wählen.

Angesichts der Stärke der Modi-Regierung, ihrer Kontrolle über die repressiven staatlichen Kräfte und des Einsatzes hinduchauvinistischer und halbfaschistischer Kräfte, um die Arbeiter:innenklasse und die Bauern- und Bäuerinnenschaft, religiöse und ethnische Minderheiten, Student:innen und Frauen anzugreifen, sehen viele von ihnen ein solches Bündnis als kleineres Übel gegenüber Modi und als einzige Möglichkeit, die Macht der BJP zu stoppen oder zumindest einzudämmen.

Auf den ersten Blick scheint ein solches klassenübergreifendes Bündnis, das Parteien, die Teile der indischen Bourgeoisie vertreten, und Parteien wie die kommunistischen Parteien, die organisch mit der Arbeiter:innenklasse und den Gewerkschaften verbunden sind, umfasst, die Kräfte gegen den hindunationalistischen Feind zu verstärken. Aber in Wirklichkeit summieren sich die Kräfte der antagonistischen Klassen nicht zu einer stärkeren Kraft, sondern lähmen sich gegenseitig. Genauer gesagt werden sie die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Schichten der Gesellschaft lähmen. Der Kongress als Partei der indischen Bourgeoisie wird einem solchen Bündnis nur zustimmen, wenn die kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sich den bürgerlichen Interessen unterordnen. Eine Kongressregierung würde den Kampf in ihrem eigenen Interesse eindämmen und dadurch die Massenbasis schwächen und demoralisieren. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass INDIA gewinnt, wäre dies also eine Katastrophe für die Arbeiter:innenorganisationen.

Deshalb lehnen wir ein solches Bündnis entschieden ab. Sollte eine INDIA-Regierung an die Macht kommen, wäre es immer noch ein rechtskapitalistisches Regime, das die langjährige Tradition der Kongresspartei fortsetzen würde, neoliberale kapitalistische Politik einzuführen und umzusetzen.

Das Großkapital unterstützt Modi, weil er alle seine Wünsche in Bezug auf die Privatisierung und Angriffe auf die Arbeiter:innenrechte erfüllt hat und das aggressive Ziel verfolgt, Indien als eine Kraft zu etablieren, mit der auf der Weltbühne gerechnet werden muss. Modi würde dieses politische Programm nach seiner Rückkehr an die Macht sicherlich fortsetzen. Das würde auch Rahul Gandhi tun, nur dass er das gleiche Programm in einem sozialdemokratischen Jargon verkaufen würde. Die indische Wirtschaft ist unter diesem Programm gewachsen und das Land ist zu einer Weltmacht aufgestiegen, aber es ist ein „arbeitsloses Wachstum“ geblieben. Nichts davon würde sich unter einer von Gandhi oder Kejriwal geführten Regierung ändern, denn trotz der populistischen Rhetorik über die Beschäftigungskrise und die Inflation teilen die wichtigsten bürgerlichen Oppositionsparteien Modis Abscheu vor den arbeitenden Massen und demokratischen Rechten für die Massen und Minderheiten. Die Anti-Pakistan-Rhetorik, Kejriwals Untätigkeit während des Pogroms in Delhi und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel durch die Kongresspartei in den 1990er Jahren sowie die Tatsache, dass die rechtsextreme Shiv Sena (SHS; Shivajis Armee) Teil dieser Allianz ist, sind nur einige Merkmale dieser „säkularen“ Front. Daher weisen wir die Illusion zurück, dass die indischen Massen für diese Volksfront namens INDIA stimmen sollten, um das Land durch ein kleineres Übel zu schützen.

Der Weg nach vorn

Stattdessen rufen wir die kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und alle sozialen Bewegungen der Student:innen, Frauen, Bauern und Bäuerinnen, der Dalits, der national und religiös Unterdrückten auf, mit ihren bürgerlichen „Verbündeten“ zu brechen und sich auf die kommenden, unvermeidlichen Kämpfe vorzubereiten.

Bei den indischen Wahlen können Koalitionen in jedem Wahlkreis nur eine/n Kandidat:in aufstellen. Wir rufen die Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und alle unterdrückten Menschen Indiens, wie Frauen, sexuelle, religiöse und nationale Minderheiten auf, in Wahlkreisen, in denen ein/e bürgerliche/r Kandidat:in der INDIA-Allianz kandidiert, ungültig zu wählen. In den Wahlkreisen, in denen Kandidat:innen der kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften kandidieren, rufen wir die ausgebeuteten und unterdrückten Massen auf, zu ihren Gunsten zu stimmen, und fordern sie auf, sich auf den kommenden Kampf vorzubereiten.

Eine solcher Aufruf wäre jedoch äußerst kritisch. Das heißt, wir rufen dazu auf, für sie zu stimmen, weil sie sich auf die Unterstützung der Massen der Arbeiter:innenklasse berufen können, zumindest in einer Reihe von Wahlbezirken. Aber gleichzeitig lehnen wir ihre klassenkollaborationistische Politik und ihr reformistisches Programm ab. Die verschiedenen kommunistischen Parteien Indiens haben die Erfahrung gebracht, dass sie arbeiter:innenfreundliche Versprechungen machen, wenn sie nicht an der Macht sind, und dann eine investor:innenfreundliche Politik betreiben, wenn sie durch die Stimmen der Arbeiter:innenklasse an die Macht kommen. Sie waren ihrer Basis gegenüber nie rechenschaftspflichtig und haben wenig getan, um sicherzustellen, dass die Macht den ausgebeuteten und unterdrückten Massen gehört. Das muss sich ändern.

Deshalb rufen wir diese Kandidat:innen und ihre Parteien auf, eine Einheitsfront gegen Angriffe auf demokratische und soziale Rechte zu bilden, die alle unterdrückten Schichten einschließt. In Zeiten zunehmenden rechten Terrors müssen wie Selbstverteidigungsmilizen gegen organisierte faschistische Mobs, Streikbrecher :innen oder staatliche Repression aufbauen. Diese Aufgaben sind notwendig, auch wenn die Führer:innen der reformistischen Arbeiter:innenparteien sie ablehnen. Wir rufen die arbeitenden und unterdrückten Massen auf, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und mit Hilfe der folgenden Forderungen eine Einheitsfront und Selbstverteidigungsmilizen aufzubauen:

  • Nieder mit CAA, NRC! Aufhebung der reaktionären Gesetze: gleiche Rechte für alle, unabhängig von Kaste, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung!

  • Arbeitsplätze für alle! Arbeitszeitverkürzung, um mehr Jobs zu schaffen!

  • Mindestlohn von 20.000 Rupien für alle! Gleitende Lohnskala: für jedes Prozent Inflation 1 % Lohnerhöhung!

  • Subventionen für Bauern und Bäuerinnen! Landumverteilung durch Enteignung der Großgrundbesitzer:innen!

  • Kostenloser Strom, Gas, Lebensmittel und Wohnungen!

  • Von Arbeiter:innen geführte Unterkünfte für Frauen und sexuelle Minderheiten!

  • Freilassung aller politischen Gefangenen einschließlich Umar Khalid und Sharjeel Imam! Aufhebung des Gesetzes zur Verhinderung rechtswidriger Handlungen (Prevention of Unlawful Activities Act)!

  • Freiheit für Kaschmir! Autonomie wiederherstellen, indische Truppen raus aus Kaschmir! Autonomie für alle Staaten im Nordosten!

  • Für eine massive Besteuerung der Reichen und Gewinne! Enteignet die Ambanis, Adanis und andere Reichtumsanhäufer:innen! Nutzt ihren Reichtum unter Kontrolle der Arbeiter:innen um eine allgemeine Gesundheitsversorgung, Arbeitslosenunterstützung und andere Sozialleistungen bereitzustellen!

Solche Forderungen würden zentrale Probleme der Massen ansprechen. Aber sie würden von einer neuen Modi-Regierung und der Kapitalist:innenklasse (und in der Tat auch von einer Kongress-geführten Regierung) als Kriegserklärung angesehen werden. Sie können nur durch entschlossenen Kampf durchgesetzt werden.

In den letzten zehn Jahren haben die Gewerkschaften, die Bauer:innenorganisationen, die Frauen- und Student:innenbewegungen oder der Kampf gegen die CAA und NRC mit mehreren eintägigen Streiks, an denen mehr als 100 Millionen Arbeiter:innen beteiligt waren, gezeigt, dass die sozialen Kräfte, die eine Modi-Regierung letztendlich besiegen könnten, existieren und bereit sind, in großer Zahl auf die Straße zu gehen.

Aber eine solche Bewegung müsste über eintägige, symbolische Streiks oder Massendemonstrationen hinausgehen. Sie müsste eine Bewegung sein, die den indischen Kapitalismus durch Massenstreiks – bis hin zum Generalstreik – durch Besetzungen, Demonstrationen und andere Formen des Massenkampfes zum Stillstand bringen könnte. Eine solche Bewegung müsste nicht nur eine Einheitsfront der Führungen der KPen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sein. Sie müsste vor allem eine Einheitsfront der Massen selbst sein, die sich auf kämpferische Organisationen in den Betrieben, an Schulen und Universitäten stützt. Sie muss auf Aktionsräten in den Fabriken und Büros, in der Stadt und auf dem Land fußen.

Ein solcher Kampf, auch wenn er mit wirtschaftlichen und demokratischen „unmittelbaren“ Forderungen beginnt, könnte sich zu einem Kampf um die Macht entwickeln – zum Teil wegen seiner inneren Dynamik, aber auch wegen der Reaktion, die ihm von einer Modi-Regierung entgegengebracht würde. Daher müsste er auch Selbstverteidigungsorgane schaffen und dafür kämpfen, den Repressionsapparat zu lähmen und schließlich zu zerschlagen, indem er die einfachen Soldat:innen aufruft, Soldat:innenkomitees zu bilden.

Der Traum der Rechtsextremen von der Errichtung eines Ethnostaats, der von einer Hindutvadiktatur geführt wird, kann durch den Kampf der Arbeiter:innenklasse zerschlagen werden, der die Notwendigkeit aufwirft, eine Arbeiter:innenregierung zu schaffen, die sich nicht auf die Institutionen des bürgerlichen Staates stützt, sondern auf die durch den Kampf geschaffenen und entwickelten Organe, d. h. auf die Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine bewaffnete Volksmiliz. Eine solche Regierung würde das Großkapital enteignen und einen Notfallplan einführen, um die Bedürfnisse der Massen zu befriedigen, und sich zu einer zentralen Planwirtschaft entwickeln. Sie würde echte Gleichberechtigung und Chancengleichheit für alle ausgebeuteten und unterdrückten Massen einführen. Um diese Regierung zu bilden, brauchen wir die Arbeiter:innenklasse, die die Führung für eine solche Revolution übernimmt.

Die Führungskrise, die jahrzehntelang unbewältigt blieb, muss durch den Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf einem revolutionären Programm gelöst werden. Wahrer Frieden und Gleichheit für alle können nur durch eine Arbeiter:innenregierung erreicht werden, die den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Südasien aufnimmt. Wir rufen alle Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, Sozialist:innen und Unterdrückten auf, sich uns in dieser Mission anzuschließen und Teil des Aufbaus einer Fünften Internationale zu sein!

Endnoten

[1] https://www.investopedia.com/articles/investing/043015/fundamentals-how-india-makes-its-money.asp

[2] www.imf.org

[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/19/india-modi-and-the-rise-of-the-billionaire-raj/

[4] https://www.aljazeera.com/opinions/2021/2/24/why-the-2020-violence-in-delhi-was-a-pogrom

[5] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/02/what-happened-delhi-was-pogrom/607198/

[6] https://www.aljazeera.com/news/2021/2/23/fear-migration-a-year-after-anti-muslim-violence-in




Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




ITO-LFI-Erklärung

Internationale Trotzkistische Opposition (ITO) und Liga für die Fünfte Internationale (LFI), 8. Februar 2024, Infomail 1244, 8. Februar 2024

Die Internationale Trotzkistische Opposition (ITO) und die Liga für die Fünfte Internationale (LFI) haben über die letzten anderthalb Jahre eine Reihe von Treffen und anderen Begegnungen sowie darüber hinaus Briefwechsel und Dokumentenaustausch geführt.

Am 17. Dezember 2023 hielten die führenden Gremien der ITO und der LFI eine Videokonferenz ab, in der bestätigt wurde, dass sie in vielen programmatischen Positionen und einer Analyse der weltpolitischen Lage im Wesentlichen übereinstimmen.

Wir erkennen beide an, dass die gegenwärtige Periode durch einen sich verschärfenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten, den alten imperialistischen Staaten wie den USA und ihren Verbündeten (den westeuropäischen imperialistischen Mächten, Japan, Australien und anderen) auf der einen und den neuen imperialistischen Mächten, China und Russland, auf der anderen Seite gekennzeichnet ist.

Wir sind uns einig, dass alle diese imperialistischen Mächte und aufstrebenden Blöcke bekämpft werden müssen. Die Arbeiter:innenklasse darf keine/n von ihnen unterstützen. In allen imperialistischen Staaten muss sie erkennen, dass die Hauptfeindin in diesem Kampf „im eigenen Land steht“, ihre „eigene“ imperialistische Bourgeoisie.

Gleichzeitig erkennen wir an, dass diese globale Rivalität und dieser Konkurrenzkampf die Notwendigkeit, das Recht auf Selbstbestimmung und die demokratischen Kämpfe unterdrückter Nationen zu verteidigen, nicht in den Hintergrund drängen.

Im Ukrainekrieg müssen wir nicht nur die Kriegstreiberei des russischen Imperialismus zurückweisen, sondern auch die Wirtschaftssanktionen und den neuen Kalten Krieg, der von den USA, Großbritannien, Deutschland und der gesamten EU geführt wird. Allerdings macht der globale imperialistische Konflikt den ukrainischen Kampf gegen die russische imperialistische Invasion nicht reaktionär. Die Arbeiter:innenklasse muss die Ukraine gegen Putins Angriff verteidigen, ohne die reaktionäre Selenskyj-Regierung zu unterstützen, und für die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse von allen bürgerlichen Kräften kämpfen.

Wir stimmen auch darüber überein, dass Revolutionär:innen den palästinensischen Widerstand in Gaza und im Westjordanland gegen den von Israel geführten Krieg mittragen müssen. Es ist die dringende Pflicht aller Revolutionär:innen, die weltweite Bewegung der Solidarität mit Palästina maximal zu fördern und gleichzeitig eine klare revolutionäre antikapitalistische Perspektive für seine Entwicklung aufzuzeigen, indem sie für einen säkularen, demokratischen, sozialistischen Staat in ganz Palästina als Teil einer sozialistischen Föderation im Nahen Osten eintreten.

Wir sind uns einig über die Notwendigkeit der Neugründung einer revolutionären Arbeiter:innen-Internationale und über das Gebot, sofortige praktische Schritte zur Neuformierung zu unternehmen. Dieser Prozess hat dazu geführt, dass beide Seiten zugestimmt haben, in eine Phase der Diskussion einzutreten, die auf eine Fusion auf der Grundlage einer programmatischen Übereinstimmung abzielt.

In zwei wichtigen methodischen Fragen, die mit diesem Prozess zusammenhängen, sind wir jedoch weiterhin unterschiedlicher Meinung.

Punkte der Diskussion

Die ITO und die LFI sind sich einig, dass keine Bewegung, auch nicht die der Gewerkschaften, eine revolutionäre Internationale aufbauen kann, und zwar im Wesentlichen aus den gleichen Gründen, aus denen keine Bewegung, auch nicht die Gewerkschaftsbewegung, eine revolutionäre Partei aufbauen kann. Wie Lenin in „Was  tun?“ erklärt hat, ist Spontaneität nicht genug. Um dieses Ziel zu erreichen, sind ein revolutionäres marxistisches Programm und eine Führung erforderlich.

Wir stimmen zu, dass in einigen Ländern und zu bestimmten Zeiten – wenn es keine Vertretung der Arbeiter:innenklasse im politischen Spektrum gibt, wichtige Gewerkschaftsorganisationen existieren und die revolutionäre Bewegung schwach ist – Revolutionär:innen möglicherweise vorschlagen müssen, dass Massenorganisationen der Arbeiter:innen oder Unterdrückten eine eigene politische Partei gründen. Dieser Vorschlag könnte an die Gewerkschaften in Form einer Arbeiter:innenpartei oder an eine dynamische Massenbewegung eines Sektors der Arbeiter:innenklasse gerichtet werden.

Revolutionär:innen sollten ein antikapitalistisches Übergangsprogramm für eine solche Partei vorschlagen und gleichzeitig erklären, dass die Gründung der Partei einen Schritt nach vorn für die Arbeiter:innenklasse darstellen würde, unabhängig davon, ob ihr Programmvorschlag angenommen wird oder nicht.

Wir stimmen mit Trotzki, Cannon und den amerikanischen Trotzkist:innen von 1938 darin überein, dass diese Partei nicht mit der revolutionären marxistischen Partei oder einer Sektion einer revolutionären Internationale verwechselt werden darf, da diese sich auf aktive Kämpfer:innen stützen müssen, die sich auf der Grundlage des vollständigen marxistischen Programms und der marxistischen Theorie neu gruppieren und entlang demokratisch-zentralistischer Linien organisiert sind.

Die LFI ist allerdings der Auffassung, dass eine solche Arbeiter:innenpartei unter günstigen Umständen als Brücke oder Übergang zu einer vollständig revolutionären Partei dienen könnte, je nachdem, ob es den revolutionären Kräften gelingt, sie für ihr Programm und die leninistische Parteiorganisation zu gewinnen.

Die ITO hingegen sieht diese mögliche Arbeiter:innenpartei als eine Einheitsfrontorganisation wie die Gewerkschaften, deren politischer Ausdruck sie ist. Das Ziel der revolutionären Partei wäre es, zu versuchen, maximalen Einfluss und möglicherweise die Hegemonie in der Arbeiter:innenpartei zu gewinnen, um sie als unterstützendes Instrument im Kampf um die Macht zu nutzen.

Die ITO argumentiert, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass spontane Bewegungen internationale Organisationen gründen, es sei denn, sie werden von Gewerkschaftsbürokrat:innen, reformistischen politischen Parteien und Nichtregierungsorganisationen so stark dominiert, dass die Taktik der Arbeiter:innenparteien nicht mehr angemessen ist.

Die LFI vertritt dagegen die Auffassung, dass Gewerkschafts- und Bewegungsaktivist:innen ein internationales Forum schaffen könnten, das, wenn es nicht wie die Sozialforen des ersten Jahrzehnts des Jahrhunderts von bürokratischen und kleinbürgerlichen Kräften dominiert würde, von Revolutionär:innen mit der Taktik angegangen werden könnte, sie zum Aufbau einer neuen Internationale zu bewegen. Die LFI ist der Ansicht, dass es keinen guten Grund für die Annahme gibt, dass dies prinzipiell weniger fruchtbar ist als die von Trotzki in den späten 1930er Jahren entwickelte „Arbeiter:innenparteitaktik“.

Es könnte damit beginnen, koordinierte gemeinsame Aktionen zur Verteidigung von Arbeiter:innen im Kampf in verschiedenen Ländern und Kontinenten zu organisieren, einschließlich derjenigen, die unter geschlechtsspezifischer, rassistischer oder nationaler Unterdrückung leiden, oder im Widerstand gegen imperialistische Kriege und Interventionen. Aber gleichzeitig wäre es notwendig, unermüdlich für ein vollständig revolutionäres Programm und die Schlüsselelemente des demokratischen Zentralismus zu kämpfen, um dadurch eine revolutionäre Führung und eine Internationale in der Tradition der vorherigen vier zu schaffen.

Die ITO wiederholt auf internationaler Ebene unsere oben beschriebene Analyse der Position von Trotzki und Cannon in den 1930er Jahren, die einfach die Verteidigung der leninistischen Grundsätze zur Notwendigkeit und Rolle der revolutionären Arbeiter:innenpartei in Bezug auf eine komplexe Taktik gegenüber der allgemeinen Arbeiterbewegung darstellt.

Sollte die von der LFI vorgebrachte Hypothese eintreten – was uns (der ITO) äußerst unwahrscheinlich erscheint –, würde die ITO sie nicht als einen Schritt in Richtung der revolutionären Internationale unterstützen, sondern als den Aufbau einer Einheitsfrontorganisation, die auf internationaler Ebene eingesetzt werden soll, wie wir es für eine Arbeiter:innenpartei auf nationaler Ebene angedeutet haben.

Wäre das Forum klassenübergreifend, wie die Weltsozialforumbewegung oder Fridays for Future, wäre die Aufrechterhaltung der politischen Unabhängigkeit und der demokratisch-zentralistischen Disziplin der revolutionären Organisation sowohl in klassenbezogener als auch politischer Hinsicht notwendig.

Der Unterschied hat keine unmittelbaren praktischen Auswirkungen, da der Weltgewerkschaftsbund (WGB) und andere derzeit bestehende internationale Foren von bürokratischen und kleinbürgerlichen Kräften dominiert werden und die LFI nicht vorschlägt, ihnen gegenüber eine Taktik nach Art der Arbeiter:innenparteien anzuwenden. Aber wir müssen die methodologische Meinungsverschiedenheit untersuchen, um zu sehen, ob sie in der Zukunft zu Problemen führen könnte.

ITO und LFI sind sich einig, dass es notwendig ist, sich in einem gemeinsamen Kampf und einer gemeinsame Debatte mit uns nahestehenden revolutionären marxistischen und linksgerichteten zentristischen Organisationen zu engagieren, ihre politischen Positionen zu untersuchen und sich mit ihnen zu vereinigen, wenn wir zu einer prinzipiellen Übereinstimmung kommen.

Wir sind jedoch uneins darüber, wie andere trotzkistische Organisationen zu charakterisieren sind. Die ITO betrachtet die trotzkistischen Organisationen, denen sie den Vorrang gegeben hat, als wirklich revolutionäre Organisationen mit verschiedenen politischen Grenzen und theoretischen oder praktischen Fehlern. Die LFI betrachtet sie als linke Zentrist:innen, die sich hoffentlich nach links bewegen, wie diejenigen, die Lenin in die Dritte und Trotzki in die Vierte Internationale hineingezogen hatten.

Wir sind verschiedener Meinung, ob es ein allgemeines Muster gibt, dass linksgerichtete Aktivist:innen vom Trotzkismus angezogen werden, und daher unsererseits die Notwendigkeit einer allgemeinen Politik der revolutionären Umgruppierung gegenüber konsequent trotzkistischen und linksgerichteten trotzkistisch-zentristischen Kräften besteht.

Die LFI begrüßt zwar alle linksgerichteten nationalen Organisationen oder internationalen Strömungen und wird auf deren Einheit hinarbeiten, glaubt aber nicht, dass eine neue Internationale einfach eine vergrößerte Sammlung von Propagandagruppen sein kann, sondern ein Ziel ist, das in den kämpfenden Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten angestrebt und erkämpft werden muss.

Die ITO stimmt zu, dass eine neue Internationale nicht einfach eine vergrößerte Sammlung von Propagandagruppen sein kann, sondern die Masse der Arbeiter:innenavantgarde einbeziehen muss. Das Problem ist, dass die ITO, die LFI und andere revolutionäre marxistische internationale Gruppen noch zu klein sind, um in den Massenorganisationen viel Einfluss zu haben. Wir sind kämpfende Propagandagruppen, greifen in Kämpfe ein, um unsere Orientierung zu entwickeln und zu demonstrieren. Wir sind dabei, die Kräfte neu zu gruppieren, um in einem größeren Rahmen zu intervenieren. Wir befinden uns in der Phase der „Erklärung der Vier“ in der Entwicklung der Vierten Internationale.

Die ITO und das LFI werden Dokumente austauschen und Treffen organisieren, um die beiden ungelösten Fragen zu erörtern. Um eine unbestimmte Verlängerung der gegenwärtigen Diskussionsphase zu vermeiden, werden wir uns maximal achtzehn Monate Zeit lassen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn die Schlussfolgerung positiv ausfällt, werden wir eine Vorkongressdiskussion über einen Fusionskongress eröffnen, an der nach Möglichkeit auch andere gleichgesinnte Kräfte teilnehmen.

In der Zwischenzeit werden wir die gegenwärtige Phase unserer Diskussion fortsetzen und vertiefen, und zwar durch einen Meinungsaustausch über aktuelle Ereignisse, durch gemeinsame Erklärungen zu wichtigen Fragen, durch die weitere Prüfung von Dokumenten und durch Treffen, um unseren praktischen Ansatz bei klassenkämpferischen Interventionen kennenzulernen und zu überprüfen, ob wir wirklich so einig sind, wie wir in anderen Fragen zu sein scheinen.




100. Todestag Lenins: „Leninismus“ contra Lenin

Rex Rotmann, Infomail 1242, 21. Januar 2024 (Ursprünglich veröffentlicht 2004)

Am 21. Januar 1924 starb Lenin. Aufgrund schwerer Krankheit – teilweise gelähmt, konnte er kaum noch schreiben und sprechen – war sein aktives politisches Leben jedoch schon Monate vorher beendet.

Es blieb nicht aus, dass der Umgang mit Lenins politischem Erbe wesentlich vom Schicksal der internationalen Revolution beeinflusst wurde. In Russland hatte die Arbeiter:innenklasse die Macht übernommen, doch Russland war isoliert und rang schwer mit dem Erbe von Zarismus, Rückständigkeit und Krieg. Die Weltrevolution war nach mehreren gescheiterten Versuchen stecken geblieben. Ohne die Ausweitung der Revolution, ohne die Nutzung der immensen wirtschaftlichen Ressourcen vor allem Deutschlands standen Sowjetrussland schwere Jahre bevor.

Aufgrund von Isolation, Rückständigkeit, allgemeinem Mangel und der Erschöpfung der Arbeiterklasse formierte sich eine bürokratische Kaste, die immer mehr Einfluss erlangte und sich schließlich Staat und Partei unterordnete. Die lebendige Struktur der Sowjets (Räte) war vielerorts nur noch eine leere Hülle, u.a. deshalb, weil viele revolutionäre Arbeiter:innenkader im Bürgerkrieg gefallen waren. Das erleichterte es der Bürokratie, die Sowjet- und Parteidemokratie vollends auszumerzen und die Machtorgane der Arbeiter:innen und der Dorfarmut in bürokratische Vollzugsorgane der allmächtigen Zentrale umzuformen.

Aufstieg Stalins

Während die bürgerlichen Kritiker:innen Lenins „die Partei“ selbst und die Revolution für die Übel des danach folgenden Stalinismus verantwortlich machen, waren es die sozialen Bedingungen, war es das Steckenbleiben der Weltrevolution, welche Partei, Staat und Gesellschaft deformierten. Gerade die Sozialdemokraten, die in Deutschland selbst die Revolution abgewürgt hatten, werden nicht müde, die russische Revolution – eine wahrhafte Massenbewegung – als bolschewistischen „Putschismus“ zu verurteilen.

Die sozialen Konflikte in der jungen Sowjetunion schlugen sich in heftigen Debatten und Tendenzkämpfen in der Partei nieder. Die politischen Pole waren einerseits Stalin als Zentrum und Bonaparte der Bürokratie, andererseits Trotzki als Führer der „Linken Opposition“.

Stalins – gänzlich „unleninistisches“ – Konzept des „Sozialismus in einem Land“, zielte darauf ab, die politische Herrschaft der Bürokratie über die Arbeiter:innenklasse auf Basis nichtkapitalistischer Eigentumsverhältnisse zu sichern.

Dieses Projekt war mit einem Zickzackkurs verbunden: zuerst langsame Entwicklung auf Basis der Landwirtschaft, dann plötzliche Wendung Richtung forcierte bürokratische Industrialisierung. Die soziale Folge von bürokratischen Projekten wie der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft waren Hungersnöte und tiefe soziale Verwerfungen.

Die „Begleitmusik“ dazu waren Terror und Schauprozesse. Jede Demokratie innerhalb von Staat und Partei wurde erstickt, jede politische Opposition zerschlagen und die gesamte bolschewistische Führung ausgelöscht. Nicht die Revolution fraß ihre Kinder – die Totengräber der Revolution entledigten sich der Verteidiger der Revolution.

Demgegenüber verteidigten Trotzki und die Linke Opposition die Strategie der Weltrevolution und der planmäßigen Industrialisierung Sowjetrusslands.

Die politischen Differenzen zwischen Lenin und Trotzki einerseits und Stalin andererseits, die sich schon Monate vor Lenins Tod bezüglich der nationalen Frage Georgiens entzündet hatten, waren nur die Vorzeichen für jene grundsätzliche strategische und methodische Differenz, die sich seit Mitte der 1920er Jahre immer mehr zuspitzte.

Um Terror und politische Manöver zu rechtfertigen, bediente sich Stalin der Mystifizierung Lenins – des „Leninismus“. Stalin wurde zu Lenins „Ziehkind“ und engstem Kampfgefährten stilisiert. Das war Teil einer groß angelegten Umdeutung und Verfälschung der Geschichte der Revolution und der Rolle, die Stalin dabei spielte. Zugleich diente es der Stigmatisierung und Verleumdung Trotzkis, des neben Lenin anerkannt wichtigsten Führers der Bolschewiki und der Revolution.

Stalins „Leninismus“ brach methodisch mit allem, was Lenins politisches Wirken und was den Marxismus überhaupt ausmachte.

Aus der Einheitsfrontpolitik der frühen Kommunistischen Internationale (Komintern) wurde die Volksfront. Aus dem Konzept der Zerschlagung des Staates und dessen Ersetzung durch die Demokratie der Arbeiter:innenräte machte Stalin die Installierung modifizierter, der Form nach bürgerlicher Staatsapparate unter der Alleinherrschaft der Partei. Alles, was nach Eigenständigkeit der Arbeiter:innenklasse roch und nach Räten ausschaute, wurde ausgemerzt. Aus der Perspektive der internationalen Revolution wurde in den 1930ern schließlich die friedliche Koexistenz mit dem Kapitalismus als Strategie.

Internationale

Was vielen Kommunist:innen damals nicht bewusst war, ist leider eingetreten. Drapiert mit den „Prinzipien des Leninismus“, aufgebauscht durch einen monströsen Personenkult und abgesichert durch Lügen und Terror missbrauchte Stalin das Ansehen der russischen Revolution in der Weltarbeiter:innenklasse, um die Komintern aus einer Weltpartei der Revolution zu einem moskautreuen Werkzeug Stalinscher Außenpolitik umzuformen – bis sie schließlich 1943 von ihm selbst aufgelöst wurde.

Der Kontrast könnte nicht größer sein: als klar war, dass der Faschismus geschlagen werden würde, als klar war, dass sich damit wie 1917 in etlichen Ländern revolutionäre Situationen ergeben würden, löste Stalin die Komintern, den internationalen Generalstab der Revolution auf, während Trotzki für den Aufbau einer neuen, der Vierten Internationale, stritt.

Es ist eine historische Tatsache, dass die Länder des „Ostblocks“ zusammengebrochen und die herrschenden „kommunistischen“ Parteien gestürzt worden sind. Trotz aller Unterschiede und politischen Friktionen zwischen den „führenden Genossen“ der jeweiligen Länder waren die von Stalin erdachten und erzwungenen Grundstrukturen dieser Gesellschaften – kein Rätesystem, Herrschaft der Bürokratie – gleich.

Trotzkis These, dass die Herrschaft der Bürokratie entweder durch eine politische Revolution der Arbeiter:innenklasse gestürzt wird oder aber die Bürokratie ihren „Sozialismus“ so weit ruiniert, bis er wieder in den Kapitalismus zurück fällt, hat sich leider vollauf bestätigt.

Wenn revolutionäre Marxist:innen von „Leninismus“ reden, dann meinen sie damit die Leistungen und Beiträge Lenins zur Weiterentwicklung und Anwendung des Marxismus. Dazu zählt der Kampf Lenins für eine revolutionäre Kaderpartei, sein konsequentes Beharren auf dem Primat des revolutionären Pogramms und sein unversöhnlicher Kampf gegen alle nichtrevolutionären Ideologien in der Arbeiter:innenbewegung.

Dazu zählen insbesondere auch Lenins Kampf für den Aufbau der Kommunistischen Internationale und seine Beiträge zur politisch-programmatischen Entwicklung der Komintern.

Es ist kein Zufall, dass die Stalinist:innen sich heute zwar in dutzenden Parteien organisieren, keine einzige von diesen oft höchst obskuren Organisationen jedoch ernsthaft den Aufbau einer Internationale anstrebt oder gar zu einer solchen gehört. Mehr als alle Phrasen zeigt das, wie weit entfernt ihr selbstgenügsames politisches Dasein und ihr als „Marxismus-Leninismus“ bezeichnete inhaltsleere und fruchtlose „Theorie“ von den Intentionen Lenins entfernt sind.

Aprilthesen

Das Zerrbild, das Stalins „Leninismus“ aus Lenin machte, ist so lächerlich wie abstoßend. Ganz im Gegenteil zum Götzenbild von Lenin, war dieser als Theoretiker, Revolutionär und Parteiführer Teil eines kollektiven Mechanismus und kein „Halbgott in Rot“. Lenins Schriften zeugen davon, wie er selbst ständig darum rang, seine politischen Konzepte zu präzisieren – und gegebenenfalls zu korrigieren.

So zeigte die russische Revolution, dass Lenins ursprüngliche „arithmetische“ Formel von der „revolutionär-demokratischen Diktatur“ hinter der Dynamik der Revolution zurückblieb.

Lenin änderte sie – in den Aprilthesen, wo klar das Ziel der proletarischen Machtergreifung, der Schaffung der Diktatur des Proletariats ausgesprochen wird. Die Stalinist:innen leugnen diese programmatische Weiterentwicklung, weil sie ihr mechanisches Etappen-Konzept der Revolution retten und zugleich die methodische Kongruenz der Aprilthesen mit Trotzkis Permanenter Revolution leugnen wollen. Der „Leninismus“ zerrte den toten Lenin theoretisch wieder auf seine von ihm selbst überwundene frühere Ansicht zurück.

Menschewismus

Trotzki, der profundeste und konsequenteste Kritiker der Politik und der Verbrechen Stalins, wies theoretisch nach, wie viele Elemente des Menschewismus, d.h. jener Politik, die Lenin bekämpft und von der er sich theoretisch losgearbeitet hatte, Stalin in seine Konzeption übernommen hatte. Wobei von „Konzeption“ angesichts des Eklektizismus` Stalins kaum gesprochen werden kann.

Es ist äußerst bezeichnend, dass Stalin und seinen servilen „Theoretiker:innen“ keine Lüge und keine Verleumdung groß genug waren, um sie nicht gegen den „Trotzkismus“ – oder besser: was man darunter verstand – zu gebrauchen. Wenn die „Argumente“ dabei nicht ausreichten – der Galgen war immer effektiv. Stalins Kampf gegen Trotzki war in Wahrheit eine Kampf um das Erbe Lenins, war ein Kampf um die Revolution und ihre programmatischen Grundlagen.

Lenin war ein herausragender, schöpferischer politischer Geist. Doch sein Wirken beim Aufbau der bolschewistischen Partei und der Kommunistischen Internationale wie als Führer der Revolution blieben nur ein mystisches und unerklärliches individuelles „Wunderwerk“, wenn sie nicht im Zusammenhang gesehen wird mit einem lebendigen marxistischen Diskurs, der nichts zu tun hat, mit „leninistischen“ Dogmen; wenn sie nicht in den Kontext einer lebendigen, revolutionär kämpfenden Arbeiterbewegung gestellt wird.

Vermächtnis

Beides – Lenins Politik und die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung und ihre Partei – hat Stalin fast ausradiert.

Lenin starb 1924. Seitdem wurde er tausendmal umgebracht durch die stalinistischen Leichenfledderer und missbraucht durch jene Linke, die sich mit seinem Bild schmücken, sich aber weigern, Lenins theoretisches Vermächtnis zu studieren, für den Klassenkampf nutzbar zu machen und weiter zu entwickeln.

Im Moskauer Mausoleum liegt ein toter Lenin. Doch dort, wo Menschen gegen den Kapitalismus kämpfen, wo sie für den Aufbau einer neuen, revolutionären Internationale kämpfen – dort ist Lenin lebendig.




Argentinien: Milei und sein Kabinett erklären den Klassenkrieg

Martin Suchanek, Infomail 1241, 6. Januar 2024

Argentiniens neuer Präsident Milei und sein rechtes Kabinett machen Ernst. Im Dezember verkündete er eine Schocktherapie für das Land, die an die „Reformen“ der rechtsperonistischen Regierung Menem und an die neoliberalen Programme seit Pinochet erinnert.

Der Amtsantritt im Dezember begann mit einem 10-Punkte-Liberalisierungs- und Sparprogramm. Im Fernsehen verkündete Milei danach ein Maßnahmenpaket zum wirtschaftlichen „Wiederaufbau“, das DNU (Decreto de Necesidad e Urgencia = Notwendigkeits- und Eildekret), das 366 bestehende Gesetze abschaffen oder abändern soll. Schließlich wurde Ende Dezember ein Mega-Gesetzespaket mit 664 Artikeln auf den Weg mit dem euphemistischen Titel „Grundlagen und Ansatzpunkte für die Freiheit der Argentinier“ gebracht, das seither auch unter dem Namen „Ley Ómnibus“ (Omnibus-Gesetz) bekannt wurde.

Generalangriff

Schon bei der Vorstellung des DNU verkündete er den öffentlichen Notstand in wirtschaftlichen, finanziellen, steuerlichen, administrativen, Renten-, Tarif-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten. Die Maßnahmen des DNU wie auch das Mega-Gesetzespaket vom Ende Dezember 2023 stellen einen massiven, seit Jahrzehnten nicht dagewesenen, gebündelten Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten dar:

Zum einen beinhalten sie massive Deregulierungen, darunter die Aufhebung staatlicher Preiskontrollen für Mieten, öffentliche Versorgung, Bergbau und Industrie sowie Privatisierungen. Staatliche Anteile an insgesamt 41 Einrichtungen (darunter Häfen, Post, Flugverkehr, Kernkraftwerke und weitere Energieunternehmen) sollen privatisiert, bei Handel und Finanzen soll der Verbraucher:innenschutz gänzlich gestrichen werden.

Den zweiten großen Block machen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen aus. Die ohnedies schon lückenhaften Arbeitsrechte sollen weiter liberalisiert, Probezeiten verlängert und Kündigungsschutz weiter ausgehöhlt werden. Strafen und Kontrollen für die Beschäftigung von Schwarzarbeit sollen entfallen.

Vor allem aber sollen die Arbeitskampfrechte extrem beschnitten werden. Die Beteiligung an Betriebsblockaden soll hinkünftig als Kündigungsgrund anerkannt werden. So müsste auch bei Streiks die Hälfte der Produktion in wesentlichen Bereichen aufrechterhalten bleiben. Zu diesen gehören unter anderem große Teile der Industrieproduktion und Dienstleistungen, darunter die Herstellung von Medikamenten, der Transportsektor, Radio und Fernsehen.

Auch die politischen Rechte der Arbeitslosen kommen unter die Räder. So droht bei Beteiligung an Demonstrationen der Entzug der Sozialhilfe. Generell sollen alle politischen Versammlungen mit mehr als 3 Personen genehmigungspflichtig werden. Leiter:innen von Versammlungen, die den öffentlichen oder privaten Verkehr oder Transport behindern, müssen mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, wenn das Dekret und die Gesetzesvorlagen durchgehen.

Mileis Stützen

Bei seinen Vorhaben können sich Milei und sein Kabinett der Unterstützung der herrschenden Klasse Argentiniens sicher sein. Generell stützt sich seine Regierung neben einigen extrem rechten Figuren und Vertreter:innen seines Parteienbündnisses La Libertad Avanza (LLA; deutsch: Die Freiheit schreitet voran), wie z. B. der Vizepräsidentin Victoria Villarruel, auf „bewährte“ Vertreter:innen des Kapitals, die schon unter der rechten Regierung Macri (2015 – 2019) im Amt waren.

So bekleidet Luis Caputo das Amt des Wirtschaftsministers. Zur Außenministerin wurde die Ökonomin Diana Mondino ernannt, die auch gleich die Abschaffung aller Außenhandelsbeschränkungen und den, mittlerweile vollzogenen, Bruch mit den BRICS versprach. Der konservativen Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich untersteht das Ministerium für Innere Sicherheit, ihr Parteifreund Luis Petri bekleidet das Amt des Verteidigungsministers.

Auch wenn Milei und seine Partei einen exzentrischen und auch etwas obskuren Anstrich haben mögen – und manche ihrer Forderungen wie die Einführung des US-Dollar als nationale Währung auch mangels Bereitschaft der USA wenig Chance auf Realisierung haben –, so ist der direkte Einfluss des argentinischen Kapitals und seiner westlichen imperialistischen Verbündeten wohl ungebrochener als bei fast jeder anderen Regierung seit Jahrzehnten.

Vor allem der Finanzsektor setzt große Hoffnungen in Milei, denn schließlich verspricht er lukrative Anlagemöglichkeiten. Kein Wunder also, dass der Aktienmarkt nach der Kabinettsbildung einen kurzfristigen Aufstieg von 22 % erlebte. Auch wenn Milei in den USA Trump nähersteht als Biden, so begrüßen die USA und der IWF nicht nur die angekündigten neoliberalen Sparmaßnahmen und Privatisierungen, sondern auch seine enge Westbindung.

Schließlich hat die neue Regierung auch nicht vor, in allen Bereichen zu kürzen. Die Ausgaben für Militär und innere Sicherheit sollen erhöht werden. Milei hat außerdem für alle drei Teilstreitkräfte neue Oberkommandierende ernannt und etwa zwei Drittel des Führungsstabs ausgetauscht. Auch im Verteidigungsministerium wurden zahlreiche Posten neu besetzt.

Hindernisse auf institutioneller Ebene

Zugleich sieht sich Milei wichtigen institutionellen Hindernissen gegenüber. In den beiden Kammern des Parlaments stellt seine Partei La Libertad Avanza nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten – 38 im 257 Abgeordnete umfassenden Kongress, 8 im 72-köpfigen Senat. Auch wenn sie in der ersten Kammer des Parlaments zusammen mit der konservativen Juntos por el Cambio theoretisch über eine Mehrheit verfügt, so ist diese wackelig, weil sie generell zu allen Maßnahmen nicht sicher ist. Die peronistische Unión por la Patria verfügt in beiden Kammern über eine relative Mehrheit (109 von 257 im Kongress, 34 von 72 im Senat). Gerade im Senat benötigt die peronistische Allianz nur die Stimmen von 2 der 6 unabhängigen Senator:innen, um eine Regierungsmehrheit zu verhindern. Eine Mehrheit für die Regierung ist zwar unsicher, in den letzten Wochen vermochte jedoch die Vizepräsidentin Villaruel, Kräfte des rechten Provinz-Peronismus einzubinden, womit es also auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Regierung eine Mehrheit verschaffen kann.

Zweitens können die Gerichte Milei einen Strich durch die Rechnung machen wie jüngst, als einige Dekrete zur Arbeitsmarktreform vom obersten Gericht aufgehoben wurden.

Auch wenn Milei wahrscheinlich eine Reihe seiner Maßnahmen durch die beiden Kammern des Parlaments bringen könnte, so würde eine solche Form des Regierens immer wieder auch langwierige Verhandlungen und Kompromisse mit den Parlamentarier:innen inklusive der peronistischen Opposition, der „Kaste“, erfordern.

Genau das wollen Milei, seine Regierung und die argentinische Bourgeoisie vermeiden. Sie wollen die aktuelle Krise und die Niederlage des Peronismus nutzen, um auch mit dessen institutionellem und politischem Vermächtnis aufzuräumen.

Als populistische Partei und Bewegung inkludierte der Peronismus und auch das politische System, das er etablierte, eine institutionelle, korporatistische Einbindung der Arbeiter:innenklasse über die Apparate der Gewerkschaften sowie von klientelistischen Organisationen der Arbeitslosen und anderen gesellschaftlicher Gruppen. Dem entspricht auch der Charakter der peronistischen Partei, die eine klassenübergreifende Allianz, eine Art Volksfront in Parteiform darstellt – natürlich auf Kosten der Arbeiter:innenklasse.

Ganz allgemein mussten die Lohnabhängigen für diesen Korporatismus in den letzten Jahren einen hohen Preis in Form von sinkenden Löhnen und Einkommen zahlen. Die Inflationsrate von rund 140 % (Oktober 2023) wurde über Jahre nicht kompensiert. Rund 40 % der Bevölkerung lebten schon vor dem Amtsantritt Mileis unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend.

Die argentinische Bourgeoisie will aber die Kosten des Korporatismus nicht mehr länger tragen, sondern mit ihm Schluss machen. Milei erwies sich mit seiner demagogischen Rhetorik und seiner populistischen Hetze gegen die „Kaste“, worunter er eine bunte Mischung von peronistischer Bürokratie, Vetternwirtschaft, aber auch die organisierte Arbeiter:innenklasse und Linke zusammenfasst, als probates Mittel, bei den Wahlen nicht nur die traditionellen Unterstützer:innen der Konservativen und Rechten aus den Mittelschichten und dem Kleinbürger:innentum anzusprechen, sondern auch bedeutende Teil der „Deklassierten“, der Arbeitslosen und Prekären, für die sich das  peronistische Sozialstaatsversprechen längst als Chimäre erwiesen hatte.

Milei ist jedoch bewusst, dass das eigentlich entscheidende Hindernis für seine Angriffe nicht im Parlament oder in der Justiz zu finden sein wird, sondern in den Betrieben und auf der Straße. Auch wenn die argentinische Arbeiter:innenklasse durch die Auswirkungen der Krise, durch Arbeitslosigkeit und einen sehr großen, nicht mehr tariflich regulierten Sektor geschwächt ist, so ist sie noch nicht geschlagen.

Ruf nach einem „Ermächtigungsgesetz“

Das von Milei vorgeschlagene Omnibus-Gesetz beinhaltet daher nicht nur ein Programm des neoliberalen Generalangriffs auf allen Ebenen. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass die Legislative für zwei Jahre ihre wichtigsten gesetzgeberischen Befugnisse an die Regierung abgeben soll. Es handelt sich also um ein Notstandsgesetz, das Präsident und Regierung faktisch sämtliche Staatsmacht übertragen soll, also zeitlich begrenzte, quasi diktatorische Vollmachten, um dieses Programm gegen Widerstand durchzuziehen.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Milei dieser Schachzug gelingt. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ihm die erste Kammer diese Machtbefugnis überträgt und das würde reichen, da beide Kammern das Gesetz blockieren müssten. Eine zweite Hürde wäre das Verfassungsgericht, denn das Ermächtigungsgesetz widerspricht eigentlich dem argentinischen Grundgesetz. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dies eine zuverlässige Garantie gegen die Notstandsmaßnahmen ist.

Hinzu kommt, dass Milei – sollten die Institutionen sein Ansinnen blockieren – diese für die Fortdauer der Krise verantwortlich machen wird. Schon jetzt baut er rhetorisch die Alternative auf, dass das Land zwischen seinen „Rettungsmaßnahmen“ oder einer „Katastrophe“, also dem Zusammenbruch wählen müsse. Und diese stellt bei einer Inflationsrate von mittlerweile 160 % eine reale Möglichkeit dar. Auch wenn keine seiner Maßnahmen umgesetzt wird, so wird sich die soziale Lage weiter dramatisch verschärfen. Milei wird versuchen, eine solche Entwicklung für sich zu nutzen, und dafür die korrupten und parasitären Vertreter:innen des „alten“ Argentiniens verantwortlich machen, den Peronismus und eine Kaste von faulen Menschen, die am Sozialstaat hängen und seine „Rettung“ verhindern. Solcherart könnte er den Boden für eine „härtere“ Gangart vorbereiten, bis hin zu einem offenen Präsidialputsch, um die parlamentarischen und institutionellen Hindernisse für die „Rettung des Landes“ zu beseitigen.

Auch wenn die institutionellen Auseinandersetzungen die Angriffe Mileis verlangsamen mögen, so verfügt die peronistische Opposion, die selbst jahrelang soziale Verschlechterungen durchsetzte und bei den Wahlen mit dem rechtsperonistischen Kandidaten Massa angetreten war, über keine wirkliche Alternative. Sie will letztlich in die Verwaltung der Krise einbezogen werden, weil sie keineswegs deren Ursachen wirklich angehen will oder kann.

Generalstreik!

Die einzige Kraft, die den Generalangriffe der Regierung Mileis und des Kapitals abwehren kann, ist die Arbeiter:innenklasse. Schon im Dezember fanden erste wichtige Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung statt, organisiert von Arbeitslosenverbänden und vom kleineren Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos Autónoma (CTAA). Der größte Gewerkschaftsverband Confederación General del Trabajo (CGT) ruft zu Protestkundgebungen vor dem Parlament während der Gesetzesdebatte und zu einem Generalstreik für den 24. Januar auf. Korrekterweise tun dies auch die Mitgliedsorganisationen der FIT-U, die Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einer Einheitsfront des Widerstandes gegen die Angriffe der Regierung auffordern.

Protestaktionen und Demonstrationen oder ein eintägiger Generalstreik können helfen, die Kräfte des Widerstands gegen die Angriffe der Regierung, gegen ein drohendes neoliberales Massaker und das Ermächtigungsgesetz zu sammeln. Sie werden aber sicher nicht reichen, um Milei und sein Kabinett zu stoppen.

Gegen den Generalangriff hilft nur ein Generalstreik. Die Gewerkschaften müssen dazu aufgefordert werden, diesen auszurufen und zu organisieren und mit jeder falschen Rücksichtnahme auf und Unterordnung unter die parlamentarischen Manöver der peronistischen Partei zu brechen. In den Gewerkschaften braucht es dazu Basisversammlungen und eine organisierte klassenkämpferische Opposition, die die Führung zum Kampf treibt oder selbst die Initiative ergreift.

Die Einheitsfront für den Generalstreik richtet sich aber nicht nur an die Gewerkschaften und die radikale Linke, sondern auch an Arbeitslosenorganisationen, soziale Bewegungen, die Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung, indigene Gemeinden und Student:innenorganisationen.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückging und viele Lohnabhängige arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, aber auch um den Kampf möglichst effektiv zu führen, sind Massenversammlungen in den Betrieben wie auch Stadtteilen nötig, die Streik- und Aktionskomitees zu wählen und diese als Kampforgane auf lokaler, regional und landesweiter Ebene zu zentralisieren.

Angesichts der zugespitzten Lage wird die Regierung gegen jeden größeren Widerstand mit polizeilicher Repression, eventuell auch mit reaktionären Banden und rechten Gruppierungen vorgehen. Schon in den letzten Wochen wurden die Befugnisse des Ministeriums für Innere Sicherheit ausgeweitet – und es unterliegt keinem Zweifel, dass Ministerin Bullrich davon Gebrauch machen wird. Daher muss ein Generalstreik auch durch Streikposten und Selbstverteidigungsorgane, embryonale Arbeiter:innenmilizen, geschützt werden.

Ein unbefristeter Generalstreik kann die Angriffe der Regierung stoppen, er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – die Frage, ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben von Milei kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen die Inflation, die Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen. Ein solches Programm würde seinerseits die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und des Finanzsektors unter Arbeiter:innenkontrolle erfordern, um so für alle einen existenzsichernden Mindestlohn oder ein Einkommen zu sichern, um die Löhne an die Preissteigerungen anzupassen und die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen zu reorganisieren.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass die FIT-U aufhören muss, als bloße Wahlfront aus mehreren zentristischen Organisationen zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros (Demonstrant:innen, die Straßen und Unternehmen blockieren) und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für eine solches Programm kämpfen wollen.




Neujahrserklärung der Chinesischen Revolutionären Sozialist:innen (Trotzkist:innen)

Chinesische Revolutionäre Sozialist:innen (Trotzkist:innen), 30. Dezember 2023, Infomail 1240, 1. Januar 2024

Wir veröffentlichen die folgende Erklärung in Solidarität mit ihren Verfasser:innen und als Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Gruppen in China.

Das Jahr 2023 geht zu Ende und die Welt steht vor einer Krise, die möglicherweise tiefer ist als die Finanzkrise von 2008. Der russisch-ukrainische Krieg ist noch nicht beendet. Der Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse in den europäischen und amerikanischen Ländern ist von der höchsten Inflation seit Jahrzehnten betroffen. Der palästinensisch-israelische Konflikt droht den gesamten Nahen Osten in einen Krieg zu stürzen, während die ohnehin schon schwachen Volkswirtschaften der meisten Länder der Dritten Welt unter dem Doppelschlag von Pandemien und geopolitischen Rivalitäten am Rande des Bankrotts stehen.

In China verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, und das parteistaatliche System steuert stetig auf Instabilität zu. Die zwangsläufig ungleiche Entwicklung des Kapitals innerhalb Chinas in Verbindung mit den Verzerrungen der bürokratischen Kontrolle haben nicht nur zu sinkenden Wachstumsraten, sondern auch zu Spaltungen innerhalb der herrschenden bürokratischen Kaste geführt. Zu einem solchen historischen Zeitpunkt ist es nach Ansicht der chinesischen Trotzkist:innen an der Zeit, ihre Ansichten, Grundsätze und Positionen zur chinesischen Revolution öffentlich zu machen, sich von den Programmen der Maoist:innen (Mao-Linken) und der Liberalen abzugrenzen und die Strategie und Taktik für die bevorstehende Massenbewegung zu klären.

Als aufrichtige Marxist:innen-Leninist:innen halten wir diese Wahrheit für selbstverständlich, dass aufeinanderfolgende Produktionsweisen die menschliche Produktivität bis zu dem Punkt gesteigert haben, an dem ihre eigenen sozialen Strukturen eine weitere Entwicklung unmöglich machten. Damit die Produktion ein höheres Niveau erreichen konnte, mussten diese sozialen Strukturen in einer sozialen Revolution umgestürzt werden. Der Kapitalismus, der die Produktivkräfte bis zu einem globalen System der wirtschaftlichen Produktion entwickelt hat, hat nun den Punkt erreicht, an dem seine soziale Struktur die Gesellschaft vor die Alternative Sozialismus oder Barbarei stellt. Das Ziel des Sozialismus ist Freiheit, Gleichheit und die nachhaltige Entwicklung der Menschheit, und um diesem Ziel zu dienen, soll die Arbeiter:innenklasse, die selbst das Produkt des modernen Kapitalismus ist, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen Arbeiter:innenstaat ersetzen, um das kapitalistische System zur Erzielung von Profit zu stürzen und es durch eine Planwirtschaft zur Befriedigung der Bedürfnisse zu ersetzen, die den Weg zu einer staatenlosen und klassenlosen kommunistischen Gesellschaft ebnet.

Die Herrschaft von demokratisch rechenschaftspflichtigen Arbeiter:innenräten ist das entscheidende Merkmal eines Arbeiter:innenstaates, der den Weg zum Sozialismus und Kommunismus eröffnen kann. Dieses grundlegende Axiom des Marxismus wurde erstmals aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 formuliert und von den Bolschewiki in der Russischen Revolution von 1917 weiterentwickelt. Es wurde durch die Erfahrungen der Sowjetunion, Chinas und der anderen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und von denen keiner in der Lage war, seine Wirtschaft auf ein höheres Niveau als die fortgeschrittenen imperialistischen Staaten zu entwickeln, auf der negativen Seite bestätigt.

Die Kommunistische Partei Chinas (im Folgenden KPCh) war bei ihrer Gründung 1921 eine echte revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Dennoch sah sich die KPCh infolge der falschen Führung durch die stalinistische Dritte Internationale und der historischen Niederlage des chinesischen Proletariats im Jahr 1927 mit ungeheuer harten Bedingungen konfrontiert, als alle städtischen Arbeiter:innenorganisationen und die Vorhut vernichtet wurden. Weit davon entfernt, ihre soziale Basis in der Arbeiter:innenklasse aufrechtzuerhalten, war die KPCh gezwungen, auf dem konservativen und rückständigen Land zu überleben, und rekrutierte ihre Soldat:innen aus der revolutionären Bauern- und Bäuerinnenschaft. Der Klassencharakter der Partei änderte sich allmählich in qualitativer Hinsicht. Als Mao Zedong und die Rote Armee 1936 in Yan’an (Yenan) eintrafen, war die KPCh bereits zu einer konterrevolutionären Partei einer militärisch-bürokratischen Kaste geworden, die bereit war, ihre Macht um jeden Preis zu verteidigen. Hier entstand der Maoismus, der „Stalinismus mit chinesischen Merkmalen“.

1949 kam die KPCh an der Spitze einer Volksfront an die Macht, deren ursprüngliches Programm eine längere Periode der kapitalistischen Entwicklung vorsah. Als sich dies als unmöglich erwies, stürzte die KPCh, die in der Staatsbürokratie verwurzelt war, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und schuf einen degenerierten Arbeiter:innenstaat. Obwohl die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durch bürokratische Maßnahmen umgestürzt worden waren, wurde der Fortschritt hin zu qualitativ höheren Produktionsniveaus und sozialer Gleichheit durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste verhindert. Der Übergang zum Sozialismus erforderte daher den Sturz der KPCh durch eine politische Revolution.

Heute, 30 Jahre nach dem Beschluss der KPCh von 1992, den Kapitalismus wiederherzustellen, hat sich der Klassencharakter Chinas von einem kapitalistischen Land zu einem imperialistischen kapitalistischen Land mit globalen Ambitionen entwickelt. Die Aufgabe des chinesischen Proletariats ist daher nicht mehr die politische Revolution, sondern die soziale Revolution – mit anderen Worten, die proletarische Revolution müsste sowohl der Einparteiendiktatur als auch den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, die vom Parteistaat verteidigt und gefördert werden, ein Ende setzen.

In der Epoche des Imperialismus – dem höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus – sind die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution überall auf der Welt reif. Die Geschichte zeigt jedoch immer wieder, dass die subjektiven Bedingungen für eine Revolution ebenso wichtig sind wie die objektiven. Deshalb verkünden wir, die chinesischen Trotzkist:innen, auf der Grundlage der Prinzipien und Erfahrungen des Bundes der Kommunist:innen, der Ersten Internationale, des linken Flügels der Zweiten Internationale, der Dritten Internationale in der Ära Lenins und der Vierten Internationale in der Ära Trotzkis den Bürger:innen in China und der Welt die folgenden 10 Punkte als unsere Haltung:

1. Nieder mit der bürokratischen Diktatur! Abschaffung der „führenden Rolle“ der KPCh.

China ist ein kapitalistisches Land, wir fordern die sofortige Anerkennung aller demokratischen Forderungen, die mit dem Kapitalismus vereinbar sind, wie Vereinigungs-, Rede-, Bewegungsfreiheit, das Recht, unabhängige Gewerkschaften und Parteien zu bilden. Die öffentliche Verwaltung ist notwendig, aber die bürokratische Herrschaft ist es nicht: Alle Parteikomitees und Posten der KPCh in allen Bereichen des Lebens, in der Wirtschaft, in der Politik und im sozialen Bereich müssen aufgelöst werden. Die bürokratische Herrschaft hat die grundlegende Spaltung der Gesellschaft zwischen den Arbeiter:innen und der Kapitalist:innenklasse verschleiert, die die bürokratische Herrschaft unterstützt, solange sie die Kapitalakkumulation garantiert. Kein Vertrauen in die Kapitalist:innen und ihre Verbündeten im Kampf für die Rechte der Arbeiter:innen.

2. Für die Wahl von Betriebsausschüssen, die dann als Grundlage für Arbeiter:innenräte sich aus abwählbaren Delegierten zusammensetzen.

Aufgrund des Charakters des stalinistischen Regimes würde jede unabhängige Organisierung der Arbeiter:innenklasse sofort in Konflikt mit dem Staatsapparat geraten, welches Problem auch immer ihre Mobilisierung auslösen mag. In allen Betrieben und Fabriken sind die demokratisch gewählten betrieblichen Ausschüsse aller Arbeiter:innen die oberste Instanz. Die im Betriebsrat sitzenden Abgeordneten müssen jederzeit von einer Vollversammlung abberufen werden können. Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, Offenlegung aller Management-Informationssysteme, Bücher und Konten zur Kontrolle durch die Arbeiter:innendeputierten.

Fabrikausschüsse sollen die Arbeiter:innenkontrolle in allen Aspekten der Produktion durchsetzen, einschließlich der Gewährleistung des Streikrechts und des Vetorechts gegen Entscheidungen der Unternehmensleitung – ob es um Löhne, Arbeitsbedingungen oder Entlassungen geht. Gegen die Privatisierung des Bankwesens und der staatlichen Monopolindustrien! Für Arbeiter:innenkontrolle über die People’s Bank of China (Chinesische Zentralbank), die Enteignung aller Geschäftsbanken und ihre Zusammenlegung zu einer einzigen Staatsbank, ein wesentlicher Schritt zur Einführung einer demokratischen Planung, die von einem staatlichen Planungsrat überwacht wird, wie es sowohl Lenin als auch die sowjetische linke Opposition in den frühen 1920er Jahren vorschlugen! Für Arbeiter:innenkontrolle über die staatlichen Industrien, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Energie, Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Eisenbahn, Luftfahrt und Mineralien.

3. Außerhalb des Arbeitsplatzes muss das Proletariat unabhängige Gewerkschaften als zentrales Element seiner Klassenorganisation haben.

Entweder durch die Umgestaltung der bestehenden „staatlichen“ Gewerkschaften oder Schaffung neuer Gewerkschaften in der demokratischen Bewegung müssen unabhängige Gewerkschaften ihren Mitgliedern gegenüber rechenschaftspflichtig sein und von ihnen kontrolliert werden. Gewerkschaftsfunktionär:innen müssen von den Gewerkschaftsmitgliedern direkt gewählt und abwählbar sein; die „führende Rolle der Partei“ wird abgeschafft; Gewerkschaftsfunktionär:innen erhalten das Durchschnittsgehalt ihrer Mitglieder.

4. Gegen die Zensurgesetze der KPCh-Bürokratie sollten die Lohnabhängigen selbst entscheiden, was sie veröffentlichen wollen.

Unterstützung der freien Verbreitung aller literarischen und künstlerischen Werke. Öffnung des Zugangs zu Presse, Zeitungen, Radio und Fernsehen für alle Arbeiter:innenorganisationen und unabhängigen Gewerkschaften. Beseitigung der Zensur in den sozialen Medien und Abschaffung der Internetzensur Great Firewall. Die Arbeiter:innen sollen das Recht haben, ohne staatliche Einmischung über jede Art von Gesetzgebung zu diskutieren. Wahl von Richter:innen und Prozessen an Arbeiter:innengerichten.

5. Die Freiheit aller werktätigen Schichten, politische Parteien zu gründen, das Recht jeder Gruppe von Arbeiter:innen und Klein:bäuerinnen, bei jeder Wahl ihre eigenen Kandidat:innen aufzustellen.

Alle Einwohnner:innen haben das Recht, politische Parteien zu gründen, die die demokratischen Rechte respektieren (und damit die Faschist:innen ausschließen). Transparente Wahl der jederzeit abberufbaren Dorfbevollmächtigten. Offenlegung der Buchführung und Konten jedes Dorfes. Vollständige Entschädigung der Opfer von Landbeschlagnahmungen und illegalen Landverkäufen. Wahl ländlicher Räte, die von einer bäuerlichen Miliz bewacht werden und die über die Nutzung der kollektiven Landressourcen, das Verkehrswesen, den Betrieb öffentlicher Einrichtungen und den Umweltschutz entscheiden werden. Widerstand gegen die Privatisierung von Grund und Boden in den Städten und auf dem Land. Forderung nach kostenlosen Krediten für Landwirt:innen zum Kauf von Maschinen und Düngemitteln sowie nach Anreizen für einzelne Bewirtschafter:innen, sich Genossenschaften sowie Versorgungs- und Vermarktungsgemeinschaften anzuschließen. Kontrolle großer kapitalisierter Unternehmen durch die Beschäftigten, die sich seit der Privatisierung der Kolchosen und Produktionsgenossenschaften im Zuge der Reform von Deng Xiaoping entwickelt haben. Aufbau moderner staatlicher Großbetriebe als Modell für die freiwillige Umstellung der individuellen/familiären Landwirtschaft. Massive Investitionen zur Verbesserung der kostenlosen Gesundheitsversorgung, des Verkehrswesens und der kulturellen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten. Bereitstellung von kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Landlose. Schrittweise Beseitigung des Stadt-Land-Gefälles durch die „Kombination von Land- und Industriearbeit“. Abschaffung des Systems der „Landfinanzierung“ und entschädigungslose Verstaatlichung des Immobiliensektors. Bereitstellung von angemessenem und kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen.

6. Im Zuge der Revolution werden die Polizei, die bewaffnete Polizei und die nationale Sicherheitsbehörde aufgelöst und durch ein Komitee für öffentliche Sicherheit nach dem Vorbild der Tscheka in der frühen Sowjetära ersetzt.

Wie die Erfahrungen des Arabischen Frühlings zeigen, werden Revolutionen in autoritären Ländern mit demokratischen Forderungen beginnen, können aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie über das demokratische Stadium hinausgehen, die Soldat:innen von ihrem Oberkommando lösen und Teile von ihnen für die Revolution gewinnen. Das Massaker von Tian’anmen hat auch gezeigt, dass selbst bei einer Spaltung innerhalb der Bürokratie, wenn die dominierende Fraktion noch immer die Streitkräfte kontrolliert, diese zur Abwehr von Volksaufständen eingesetzt werden. In dieser Hinsicht besteht der Kern des revolutionären Programms daher darin, die Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit der Soldat:innen zu unterstützen und ihre eigenen Befehlshaber:innen in Soldat:innenausschüsse zu wählen, die dann zum Soldat:innenrat werden.

Alle Arbeiter:innen erhalten eine militärische Ausbildung, bewaffnen sich und organisieren sich in betriebseigenen Milizen als Hüter:innen von Arbeiter:innenräten. Aufhebung des Gesetzes über die nationale Sicherheit in Hongkong. Sofortige Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Einberufung verfassunggebender Versammlungen sowohl auf Provinz- als auch auf nationaler Ebene. Die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Beziehungen zwischen der Region Hongkong und den Zentralbehörden werden der verfassunggebenden Nationalversammlung zur Überprüfung oder Änderung vorgelegt. Abschaffung der Todesstrafe. Für die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen.

7. Für die Rätedemokratie.

Um die bürokratische Diktatur zu stürzen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre eigenen Mittel zur Ausübung der Staatsgewalt schaffen. Die unabhängigen Organisationen, die im Kampf gegen die Bürokratie entstanden sind, die Fabrikkomitees, müssen zu Arbeiter:innenräten (Sowjets) zusammengefasst werden. Die Sowjets werden die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten aus der armen Landbevölkerung organisieren, um einen Massenaufstand gegen den bürgerlichen Staat durchzuführen. Der Arbeiter:innenrat hat sowohl exekutive als auch legislative Funktionen. Der Arbeiter:innenrat und der Soldat:innenrat werden zusammengelegt, um die Sowjetregierung (Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung) als Form der proletarischen Diktatur zu bilden. Die Sowjetregierung setzt ein Preisüberwachungskomitee ein, das die Qualität und die Preise von Konsumgütern überwacht und die gleitende Skala der Löhne sicherstellt. Schaffung einer landesweiten Arbeitslosengewerkschaft, um den Arbeitslosen eine Berufsausbildung zu ermöglichen und die vorhandenen Arbeitsplätze anteilig auf die gesamte Erwerbsbevölkerung aufzuteilen.

8. Nieder mit jeder Art von sozialer Unterdrückung.

Ein typisches Merkmal der stalinistischen Regime ist, dass die Frauenbewegung und die Bewegung zur Befreiung der Homosexuellen tagtäglich von der Bürokratie unterdrückt und sogar verfolgt werden. In der Sowjetunion bedeutete die politische Konterrevolution der 1920er Jahre nicht nur die Errichtung einer bürokratischen Diktatur über Wirtschaft und Politik, sondern auch die Rückgängigmachung der nach 1917 eingeführten Reformen zur Bekämpfung der sozialen Unterdrückung. Der enorme Beitrag der Oktoberrevolution zur Befreiung der Homosexuellen und Frauen ist seit langem völlig zunichtegemacht worden. Reaktionäre Gesetze und Moralvorstellungen wurden wieder eingeführt. Überall in China verstärkte die stalinistische Bürokratie das bürgerliche Familienkonzept und diktierte weiterhin die Größe der Familie nach den unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnissen. Die Restauration des Kapitalismus und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen seit den 1990er Jahren haben die Unterdrückung der Frauen erheblich verschärft, und die chinesischen Frauen sind gezwungen, die dreifache Last von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung zu tragen. Gleichzeitig wird die Jugend in Schulen und Klassenzimmern mit dem „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen in der neuen Ära von Xi Jinping“ indoktriniert, und sie wird nicht nur durch eine reaktionäre patriotische Moral getäuscht, sondern auch ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt. In diesem Zusammenhang sollten wir die folgenden Forderungen aufstellen:

  • Sozialisierung der Hausarbeit und Einrichtung von 24-Stunden-Kinderkrippen. Verbot der geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei Einstellungen und Zulassungen. Kampf für eine unabhängige proletarische Frauenliga. Umfangreiche Investitionen und Ausbau von Frauenhäusern, Waisenhäusern, öffentlichen Kantinen und Wäschereien, kostenlosen Kliniken usw.

  • Aufhebung aller aufgezwungenen Familienpläne. Abschaffung der „Bedenkzeit für die Scheidung“ und vollständige Freigabe des Scheidungsrechts. Härtere Strafen für Unzucht mit Kindern, Frauen- und Kinderhandel und Vergewaltigung.

  • Gleichstellung von LGBTIAQ-Personen. Gegen Belästigung und Gewalt aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung.

  • Unterstützung der demokratischen Kontrolle von Schulen und Bildungssystemen durch Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und Psycholog:innen. Erhöhung der Investitionen in die Bildung durch Erlass aller Studiengebühren, Honorare und Kosten für Unterkunft und Verpflegung von der Grundschule bis zur Universität, unabhängig von der Nationalität. Jugendverbände werden von keiner politischen Partei reguliert und üben die Kontrolle über ihre eigenen Kultur-, Verlags- und Verbreitungsorgane aus.

  • Abschaffung der Zensur, die der Jugend den Zugang zum bestehenden kulturellen Erbe der Welt verwehrt. Dies wird nur ihren Intellekt und ihren Kampfgeist schwächen und sie zum Opfer reaktionärer Ideen machen.

  • Abschaffung der Diskriminierung junger Menschen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Auszubildende, Zeitarbeiter:innen und Festangestellte.

9. Das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung ist ein absolutes und unbedingtes demokratisches Recht, das die Stalin-Maoist:innen jedoch ständig leugneten.

Trotz des föderalen Charakters Sowjetrusslands seit seiner Gründung behielt der Stalinismus, wie auch bezüglich anderer Aspekte der politischen Praxis der bolschewistischen Partei, die Form bei und beraubte sie ihres revolutionären Inhalts. In der Sowjetunion und in allen degenerierten Arbeiterstaaten, die folgten, waren weder der föderale Charakter (UdSSR und Jugoslawien) noch der Einheitsstaat (China) unter dem Deckmantel der „autonomen Regionen“ eine freiwillige Föderation der Völker, sondern ein gemeinsames Gefängnis für alle Völker.

Der Marxismus vertritt die Auffassung, dass die Nation ein neuzeitliches politisches Konzept ist, das aus der Bildung eines gemeinsamen Marktes im Prozess der kapitalistischen Entwicklung unter Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren wie Geographie, Sprache, religiöse Überzeugungen usw. hervorgegangen ist. Daher bildet das Territorium Chinas während der dynastischen Periode ungeachtet seiner Grenzstreitigkeiten und historischen Veränderungen keine Quelle der Legitimität für den Anspruch auf „souveräne Integrität“. Im 19. und 20. Jahrhundert, in dieser kritischen Phase der nationalen Formierung in der kapitalistischen Entwicklung, haben Xinjiang (Sinkiang), Tibet und Taiwan entweder ihre Unabhängigkeit erklärt oder sich für lange Zeit von China abgespalten und sollten unter den Bedingungen der nationalen Formierung das Recht auf Selbstbestimmung genießen.

Nachdem die KPCh 1949 an die Macht gekommen war, marschierte die Volksbefreiungsarmee in Xinjiang und Tibet ein und beraubte die beiden ethnischen Gruppen ihres Selbstbestimmungsrechts. Seit den 1990er Jahren erlebten die Gebiete der ethnischen Minderheiten aufgrund der sozialen Konterrevolution, die durch die Restauration des Kapitalismus ausgelöst wurde, den Aufstieg religiöser Ideologien und Nationalismen. Wie die sozialen Gegenrevolutionen, die in anderen Bereichen des nationalen Lebens stattfanden, führte die Wiederherstellung des Kapitalismus einerseits zu separatistischen Gefühlen und andererseits zu eskalierenden Konflikten zwischen der von der KPCh unterstützten Han-Bevölkerung und den ethnischen Minderheiten. In den letzten Jahren ist Xinjiang zum typischsten Fall geworden.

Die proletarische Revolution muss zunächst das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Bevölkerung in Xinjiang und Tibet anerkennen, was das Recht auf Abspaltung durch ein Referendum einschließt. Vor allem, welche Form der Selbstbestimmung das sein könnte und ob sie dieses Recht ausüben wollen, hängt vom Willen der Indigenen ab. Dies ist nicht nur prinzipiell richtig, sondern auch in der Praxis die einzige Möglichkeit, die Spannungen zwischen der Han-Mehrheit und ethnischen Minderheiten aufgrund staatlicher Unterdrückung abzubauen. Daher ist die nationale Selbstbestimmung der einzige Weg, um die Unterstützung des Proletariats der nationalen Minderheiten für die chinesische Revolution zu gewinnen.

In der Zwischenzeit müssen alle Sozialist:innen, ob Han-Chines:innen oder ethnische Minderheiten, die Bildung einer sozialistischen Föderation Asiens fordern, der die Mitgliedsstaaten freiwillig beitreten und wieder austreten können, und dass Han-Chines:innen, die sich im Rahmen des staatlichen Kolonialprogramms in Xinjiang und Tibet niedergelassen haben, das Recht haben zu wählen, ob sie bleiben und sich gemeinsam mit den ethnischen Minderheiten entwickeln oder in ihre Heimat im chinesischen Stammland zurückkehren wollen, unabhängig von der Zukunft von Xinjiang und Tibet.

Die Forderungen der Sozialist:innen lauten:

  • Auflösung des Produktions- und Baukorps von Xinjiang.

  • Abzug der in Tibet stationierten Truppen.

  • Freilassung aller Uigur:innen und Abschaffung der „Umerziehungslager“.

  • Für Religionsfreiheit, Freiheit der einheimischen Sprachen und Kultur.

  • Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

  • Lang lebe eine Föderation der asiatischen Arbeiter:innenstaaten!

10. Eine Rückkehr zum proletarischen Internationalismus von Lenin und Trotzki.

Westliche Sozialist:innen haben die Auflösung der NATO, der Weltbank und des IWF gefordert, während chinesische Sozialist:innen die Auflösung der Asiatischen Infrastrukturinvestitionsbank (AIIB), den Erlass aller Schulden der Entwicklungsländer, die Abschaffung der Gürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) und die kostenlose Schenkung von Infrastrukturprojekten in Afrika und Südostasien an die lokale Bevölkerung fordern. In Ländern, die zu Halbkolonien des chinesischen Imperialismus geworden sind (z. B. Pakistan), sollten alle Truppen von den Militärbasen in Übersee abgezogen, alle ungleichen Privilegien abgeschafft und ein Plan zur Kompensation der durch die Verlagerung von Produktionskapazitäten verursachten Umweltschäden angekündigt werden. Anerkennung der Souveränität eines Arbeiter:innenstaates bei der Festlegung der Kontrolle und Entwicklung der chinesischen Unternehmen in Übersee. Abschaffung der Geheimdiplomatie. Offenlegung aller mit dem Ausland abgeschlossenen Geheimverträge. Verurteilung des vom russischen Imperialismus geführten Krieges in der Ukraine. Hände weg von Taiwan. Aufhebung aller Sanktionen oder Gegensanktionen. Ablehnung aller Militärausgaben des Parteienstaates. Verurteilung des israelischen Siedlerkolonialismus und Unterstützung eines einheitlichen, säkularen und sozialistischen Staats in Palästina. Stopp der offiziellen Fremdenfeindlichkeitspropaganda und der militärischen Aufrüstung mit nuklearen oder konventionellen Waffen. Volle und gleiche Rechte für ausländische Einwohner:innen. Abgabe der revolutionären Erklärung an die Regierungen aller Länder und Aufruf zur Weltrevolution.

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Am Vorabend der Amerikanischen Revolution im Jahr 1776 schrieb Thomas Paine: „Die Sache Amerikas ist in hohem Maße die Sache der gesamten Menschheit. Viele Umstände sind eingetreten und werden eintreten, die nicht lokal, sondern universell sind und durch die die Prinzipien aller Menschenfreund:innen betroffen werden und an deren Zustandekommen ihre Zuneigung interessiert ist.“ Heute ist die Sache des chinesischen Proletariats in erster Linie auch die Sache der gesamten Menschheit, weil der internationale Charakter einer proletarischen Revolution natürlich die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaates überwindet und die chinesische Revolution ein Glied in der Weltrevolution und im Übergang zu einer sozialistischen Weltföderation sein wird. Obwohl die chinesische Bourgeoisie derzeit ihre eigenen Gründe hat, sich dem Parteistaat zu widersetzen, und die Republik China als Banner für eine „demokratische Revolution“ benutzen kann, kann die chinesische Revolution eine echte Revolution sein, wenn und nur wenn sie in einer Machtergreifung durch das Proletariat endet.

Trotzki hat bei der Erläuterung des philosophischen Denkens von Marx und Engels einmal darauf hingewiesen: „Die Menschheit hat die dunklen spontanen Kräfte aus der Sphäre der Produktion und der Ideologie vertrieben und die barbarischen Konventionen durch Wissenschaft und Technik ersetzt. Die Ersetzung der Religion durch die Wissenschaft, die zur Renaissance und Reformation des 15. und 16. Jahrhunderts führte, war das Streben nach intellektueller Rationalität; und dann vertrieb die Menschheit das Unbewusste aus der Politik und stürzte die Monarchie und die Hierarchie durch ein demokratisches, rein rationalistisches parlamentarisches System und dann ein völlig transparentes Sowjetsystem. Es war das Streben nach politischer Rationalität, das mit den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts begann und in der Oktoberrevolution kulminierte; und schließlich schlugen die blinden, spontanen Kräfte die tiefsten Wurzeln in den wirtschaftlichen Verhältnissen – aber dort trieb die Menschheit diese mit der sozialistischen Wirtschaftsorganisation aus, was alles ermöglichte, die wirtschaftliche Rationalität zu erreichen.“

Das Besondere an China ist, dass es ein Land ist, in dem keine der drei Rationalitäten – ideologisch, politisch, wirtschaftlich – verwirklicht wurde, und daher muss die Mission der proletarischen Revolution die Kombination aller drei sein.

Folglich müssen alle Revolutionär:innen, die die oben genannten Forderungen unterstützen, zunächst in einer einzigen Partei organisiert werden. Eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei muss demokratischen Zentralismus praktizieren – „ein Mitglied – eine Stimme“ für ihre Mitglieder und volle Freiheit in der Diskussion, wobei die Minderheit der Mehrheit gehorchen muss, Demokratie in der Entscheidungsfindung und absolute Disziplin in der Durchführung von Aktionen. Wie Lenin betonte, muss eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei als Vorhut der Arbeiter:innenklasse den Organisationsgrad, die Moral und das Bewusstsein des Proletariats durch jeden einzelnen Kampf anheben, bis sie in der Lage ist, die gesamte Klasse durch einen Aufstand zum Sturz des bürgerlichen Staates zu führen und eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung einzusetzen. Jede Arbeiter:innenpartei darf daher ihre Regierung nur durch die Erringung der Mehrheit der Sitze im Arbeiter:innen- und Soldat:innenrat bilden und niemals den Parteiapparat selbst als Regierungsmacht betrachten. Um die revolutionären Bewegungen jenseits der Grenzen zu fördern, zu koordinieren und zu vereinigen, rufen wir schließlich zu einer neuen Revolutionären Internationale auf, die auf dem demokratischen Zentralismus basiert, als Weltpartei für die sozialistische Revolution.

Obwohl wir derzeit eine winzige Minderheit innerhalb des chinesischen Proletariats von insgesamt 400 Millionen sind, obwohl wir der Feindschaft der zweitgrößten imperialistischen Macht und eines völlig totalitären KPCh-Staates gegenüberstehen, glauben wir, dass das chinesische Proletariat in seiner gerechten Macht den absoluten Sieg davontragen wird. Am Vorabend des Neujahrs 2024 bitten wir die kämpferischen Arbeiter:innen zu Hause und in der ganzen Welt, unseren Forderungen Gehör zu schenken und unseren Aktionen zu folgen.

  • Arbeiter :innen und Unterdrückte aller Länder, vereinigt euch!

  • Lang lebe die chinesische Revolution!

  • Lang lebe die Weltrevolution!



Oktober 1923: Die Debatte um die Arbeiter:innenregierung und ihre Anwendung

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Wie ein roter Faden zog sich die Einheitsfrontpolitik als Leitgedanke durch die Tätigkeit der KPD und fand in dem Zusammenhang ihren Ausdruck in der besonderen Behandlung der Losung der Arbeiter:innenregierung. Ihre Bereicherung des taktischen Arsenals, aber auch ihre Grenzen kamen in der Situation der Aufstandsvorbereitung zum Vorschein.

Um diese taktische und strategische Kernfrage zu behandeln, kann nicht erst bei den Vorkommnissen des Jahres 1923 begonnen werden, sondern man muss weiter zurückgehen bis ins Jahr 1921, in dem die Thesen zur Taktik der Einheitsfront auf dem 3. Weltkongress der III. Internationale verabschiedet wurden.

Der Einheitsfrontgedanke entsprang der Situation, dass die kommunistischen Parteien sich bei ihrer Formierung außerhalb der Sowjetunion einer Mehrheit von reformistischen, in den meisten Ländern sozialdemokratischen Organisationen gegenübersahen, die entscheidenden Einfluss auf die Arbeiter:innenklasse ausübten. Sie mussten nach Wegen suchen, diesen Einfluss zurückzudrängen, um stärkeren Zugang zu den Massen zu finden. Dazu waren Angebote auch an andere Arbeiter:innenorganisationen zur Einheit in der Aktion als gemeinsame Front gegen die Klassenfeind:innen notwendig. Unumstrittene Grundbedingung für ein vereintes Handeln war allerdings die vollständige Wahrung der organisatorischen Unabhängigkeit und die Freiheit der Kritik an den Bündnispartner:innen. Die Einheitsfront als umfassendes taktisches Mittel konnte und sollte sich auch in verschiedenen Stufen ausdrücken, die in einer Form gipfelten, die in der kommunistischen Bewegung debattiert und entfaltet wurde: die Taktik der Arbeiter:innenregierung.

Die Jahre 1921 und 1922 waren prägend für die Ausarbeitung der Strategie und Taktik der KPD in Bezug auf Einheitsfront und deren besondere Form der Arbeiter:innenregierung. Im Folgenden sollen wichtige Stationen auf dem Weg der Präzisierung der Losung und ihrer Anwendung nachgezeichnet werden.

Duldung von sozialdemokratischen Regierungen

Zunächst ging es im Herbst 1921 um die Politik gegenüber „sozialistischen“ (gemeint waren sozialdemokratisch geführte) Arbeiter:innenregierungen, zu denen das neu gewählte Politbüro der KPD eine elastischere Haltung einnehmen wollte, um die Aktionseinheit zu fördern. Im Mittelpunkt standen dabei Abstimmungen über die Steuerfrage, in der die KPD es von der politischen Situation abhängig machte, ob diese Regierungen gestützt oder gestürzt werden sollten. Die Mehrheit der Parteimitglieder sprach sich auf jeden Fall gegen einen Eintritt in solche Regierungen aus.

Die Partei richtete nach dem Jenaer Parteitag (22. – 26.8.1921) eine parlamentarische Zentralstelle als besondere Abteilung des Politbüros ein, deren erste Stellungnahme zur Bildung einer „sozialistischen“ Regierung nach den thüringischen Landtagswahlen vom 11.9.1921 erfolgte. Die KPD, die sich zum ersten Mal nach den Märzkämpfen den Wähler:innen stellte, gewann 6 Mandate. Es entstand im Landtag eine sozialdemokratisch-kommunistische Sitzmehrheit. Eine Mehrzahl der SPD und USPD-Abgeordneten trat für Verhandlungen mit der KPD über eine Regierungsbildung ein. Das Politbüro der KPD lehnte dies zwar ab, wollte aber die Wahl eines Ministerpräsidenten aus den Reihen von SPD bzw. USPD ermöglichen und die Regierung bei „konsequent proletarischer Politik“ unterstützen.

Gegen den Widerstand der thüringischen Parteiorganisation setzte die Zentrale durch, auch im Interesse der Bewegung im Reich nichts unternehmen zu wollen, „was der SPD erleichtern könnte, eine Koalition nach rechts einzugehen“.

Auf dem Parteitag der SPD (24.9.1921) stimmten nach der politischen rechtsradikalen Bedrohung auch gegen bürgerlich-liberale Kreise (Ermordung von Erzberger) über 70 % der Delegierten für eine Erweiterung der Reichsregierungskoalition nach rechts unter Einschluss der Deutschen Volkspartei. Hingegen wurde eine Einheitsfront mit den Kommunist:innen abgelehnt. Das neue Parteiprogramm sagte sich vom Klassenkampf los hin zur Klassenkollaboration.

Im November 1921 legte der Zentralausschuss der KPD Thesen über das Verhältnis der Kommunistischen Partei zu den sogenannten sozialistischen Regierungen vor. Darin wurden die sozialdemokratischen Auffassungen von Arbeiter:innenregierungen als „Schutzwall der Bourgeoisie gegen die proletarischen Massen“ bezeichnet. Die Bildung solcher Regierungen ohne eigene Beteiligung sollte aber zugelassen werden, weil sie eine „revolutionierende“ Rolle „als klassische Schule zur Überwindung bürgerlich-demokratischer Illusionen“ spielen könnten. Aber die KPD sollte sich von solchen Regierungsbildungen fernhalten und stattdessen den Kampf für die Eroberung der Staatsmacht und Aufrichtung der proletarischen Diktatur durch die Räteordnung führen.

Erste Anzeichen veränderter Taktik

Die Erwartung einer Räterepublik in den Thesen wurde von Radek, dem Verbindungsmann zum EKKI, kritisiert, der die Arbeiter:innenregierung als derzeit günstigste Etappe bezeichnete. Da SPD und USPD nicht wirklich die Absicht hegten, eine „sozialistische“ Regierung zu bilden, müsse anders an die Sache herangegangen werden. Die Partei solle vielmehr die Massen für eine Arbeiter:innenregierung beeinflussen. Diese müsse auf parlamentarischem Wege „zum Ansatzpunkt zu neuen siegreichen revolutionären Kämpfen werden.“ Konkret könne eine Kampagne den Hebel bilden, die gemeinsame Forderung nach Erfassung der Sachwerte in Gold durchzusetzen und in einem Kampfabkommen die Massen gegen eine „Stinnes-Koalition“ (bürgerliche Rechtserweiterung) zu mobilisieren.

Der KPD-Zentralausschuss lehnte es ab, die Losung der Arbeiter:innenregierung in den Mittelpunkt einer Kampagne zu stellen, und hielt fest, dass die Aufstellung von sachlichen, politischen und wirtschaftlichen Zielen geeigneter sei, den Kampf der Massen zu entfesseln. Bendler, der „Erfinder“ des Begriffs „sozialistische Regierung“ hatte sie nicht als Einheitsfrontlosung gedacht, sondern meinte, das Angebot an die sozialdemokratischen Parteiführer:innen wäre „das Gefährlichste in der ganzen Taktik der sozialistischen Regierung“ und würde „sie ihres revolutionären Massencharakters entkleiden und zu einem parlamentarischen Gaukelspiel werden lassen.“

Jedoch zeigten sich verschiedene Auffassungen in der Partei über die Frage der Taktik gegenüber der Sozialdemokratie auf politisch parlamentarischer Ebene. Die Opposition wandte sich auch gegen die Unterstützung der sozialdemokratischen Länderregierungen und forderte, Steuern in den Landtagen abzulehnen und damit Regierungen stürzen zu lassen. Böttcher, der Mehrheit zuzurechnen, meinte: „Wir werden die sozialistische Regierung unterstützen, parlamentarisch und außerparlamentarisch, wenn sie sich gegenüber der Bourgeoisie im Angriff befindet“.

Thalheimer hob hervor, dass günstige Möglichkeiten durch die am 15.November 1921 aufgestellten zehn Mindestforderungen der Gewerkschaften (ADGB und Angestelltenbund) zur Steuer- und Wirtschaftspolitik geschaffen worden wären, worin sie ein Eingreifen der Regierung zur Kontrolle der Privatwirtschaft und Sozialisierung des Kohlebergbaus, Erfassung der Sachwerte, Exportdevisen und eine grundsätzliche Neuordnung der Steuerpolitik forderten. Die Zentrale schlug vor, eigene weitergehende Forderungen zugunsten einer gemeinsamen Kampffront zurückzustellen.

Konkretisierung und Paradigmenwechsel

Noch im November 1921 berieten die Landtagsfraktionen von Sachsen, Thüringen und Braunschweig, wo  sich die KPD in Opposition zu von SPD und USPD geführten Regierungen befand, über ein abgestimmtes Vorgehen, z. B. Abstimmung gegen ein Misstrauensvotum aus dem reaktionären Lager, was letztlich von der Zentrale gebilligt wurde.

Im Dezember traf die Parteiführung eine weiter reichende Entscheidung, indem sie nunmehr feststellte: „Der Drang nach der Einheitsfront muss seinen politischen Ausdruck in einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung finden, die den Koalitionsregierungen gegenüberzustellen ist. (…) Die KPD muss den Arbeiter:innen sagen, dass sie bereit ist, das Zustandekommen einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln zu fördern, und dass sie bereit ist, in solch eine Regierung einzutreten, wenn sie die Gewähr haben wird, dass diese Regierung im Kampfe gegen die Bourgeoisie die Interessen und Forderungen der Arbeiter:innenschaft vertreten, die Sachwerte erfassen, die Kappverbrecher:innen verfolgen, die revolutionären Arbeiter:innen aus den Gefängnissen befreien wird …“. Alles sollte getan werden, um die linken Flügel der SPD und USPD, die sich gegen die Koalition (mit den bürgerlichen Parteien) wendeten, zu stärken.

Die Exekutive der KI riet der KPD, öffentlich ihre Bereitschaft zu erklären, in eine Arbeiter:innenregierung des Kampfes gegen die Bourgeoisie einzutreten, und verwies darauf, dass an einer Koalition der Arbeiter:innenorganisationen im Prinzip auch nichtsozialistische Parteien teilnehmen könnten. Die Terminologie müsse sich von „sozialistische Regierung“ in „Arbeiter:innenregierung“ ändern, um die sozialdemokratischen Parteien nicht fälschlicherweise als sozialistisch zu bezeichnen und zu zeigen, dass die ganze Klasse ohne Rücksicht auf politische und weltanschauliche Differenzen zusammengefasst werden sollte. 

Nach Einwänden wurde in den Brief eingefügt, dass der Eintritt der KPD in die Landesregierungen nicht als unmittelbar bevorstehender Schritt zu betrachten sei.

Die Zentralausschusssitzung der KP im Januar 1922 dämpfte vorschnelle Erwartungen über die Herstellung einer Einheitsfront. In der Auseinandersetzung mit der rechten Opposition KAG (Levi), die den Vorhutanspruch der Partei bestritt und in Gegensatz zum Einheitsfrontgedanken bringen wollte, wurde dies abgewiesen, denn erst die revolutionäre Partei könne der Einheitsfront die entscheidenden Kampfanstöße und -perspektiven verleihen.

Die linke Opposition bemängelte, dass die Einheitsfront zu starr und unbefristet ausgelegt werde, da sie als Taktik zu verstehen sei und ein Festhalten daran, wenn sich die Umstände ändern, eine ungünstige Wirkung haben könne und deshalb nicht zum Programm gemacht werden dürfe. Dies führe dazu, die revolutionären Ziele aufzugeben und das Hineinwachsen in den Reformismus zu fördern. Der Vorwurf ging auch an die Adresse des III. KI-Weltkongresses, der den Klärungsprozess in den Mitgliedschaften gehemmt habe. Die Linken stießen sich auch an dem Begriff „Arbeiter:innenregierung“ und wollten ihn durch „sozialistische Regierung“ ersetzt wissen. Rosenberg drückte die Position der Opposition so aus: „Der Begriff ‚Arbeiter:innenregierung‘ darf nicht mit der ‚rein sozialistischen‘ (d. h. sozialdemokratischen) vermengt werden. Unter ‚Arbeiter:innenregierung‘  verstehen wir eine solche Regierung von Vertrauensleuten des Proletariats, die sich nicht auf  eine parlamentarische Zufallsmehrheit, sondern auf die Arbeiterorganisationen außerhalb der Parlamente stützt.“ (zit. nach Reisberg, Arnold: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik – Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921 bis 1922, Band II, S. 634)

Regierungseintritt als taktische Option

Aufgrund der Diskussionen in der Partei und Einlassungen der KI über den Charakter von Arbeiter:innenregierung und deren möglicher Dynamik zur Mobilisierung der Arbeiter:innenmassen wurde die Resolution „Zur politischen Lage und zur Politik der KPD“ im Punkt Arbeiter:innenregierung im Frühjahr 1922 nachgebessert und lautete nun: „In der Erkenntnis, dass eine Arbeiter:innenregierung gegenüber einer offenen oder verkappten Stinnes-Regierung die Möglichkeit einer politischen Machterweiterung des Proletariats bedeutet (z. B. durch Auflösung der legalen und illegalen gegenrevolutionären Verbände, Umwandlung der Polizei und Justiz zu Klassenorganen des Proletariats, Freilassung der verurteilten Revolutionär:innen, Erweiterung der Rechte der Betriebsräte usw.), ist die KPD bereit, unter bestimmten Voraussetzungen in eine Arbeiter:innenregierung, sei es im Reiche, sei es in den Ländern, einzutreten. Der Eintritt der Kommunist:innen in eine solche Arbeiter:innenregierung hängt ab von dem Kampfwillen der Arbeiter:innenmassen und der sich auf diese Massen stützenden Parteien sowie von den realen Möglichkeiten, die gegeben sind, um die Arbeiter:innenmacht zu befestigen und auszudehnen“.  Die Formulierung von der Arbeiter:innenregierung als Schutzwall der Bourgeoisie wurde fallengelassen.

Dieser Beschluss beseitigte jedoch nicht die Differenzen bei der konkreten Anwendung in den Landtagen, z. B. bei der Bewilligung von Haushaltsvorlagen. Im April 1922 musste eine weitere Parlamentarierbesprechung, diesmal aus dem ganzen Reich, einberufen werden, bei der „Richtlinien über ein gemeinsames Vorgehen in den Ländern mit sozialistischen Regierungen, auch unter dem Gesichtswinkel der Schaffung eines roten Blocks gegenüber der reaktionären Reichspolitik und gegenüber Bayern“ erarbeitet wurden. Zur Haushaltsfrage einigte man sich lediglich auf „schärfstes Vorgehen gegen die Entstaatlichung der Betriebe“.

Als die rechtskonservative DNVP ein Volksbegehren zur Auflösung des sächsischen Landtages einleiten wollte, setzten sich einige Parteivertreter:innen für den bedingungslosen Eintritt der Kommunist:innen in die sächsische Regierung ein, um den reaktionären Streich zu stoppen. Dem widersprach das Politbüro und bezeichnete es als „opportunistische Haltung“ ebenso wie denjenigen, die sich prinzipiell gegen jede Regierungsbeteiligung aussprachen, was als KAPD-Tendenz betrachtet wurde.

Zu ersten Verhandlungen zwischen den  drei Arbeiter:innenorganisationen kam es Ende April 1922 auf Vorschlag der KPD, durch Neuwahlen Voraussetzungen für „eine einheitliche Klassenfront herzustellen“, die jedoch scheiterten, wie auch weitere Anläufe,

die die KPD stets an Grundbedingungen knüpfte, erst recht nach der Fusion von SPD und USPD. Auf der ergebnislosen Berliner Konferenz der drei Internationalen im Februar war bereits absehbar gewesen, dass es auf großer Bühne keine verbindlichen Abmachungen zur Einheitsfront geben würde.

Aber die KP-Zentrale erklärte im Mai 1922: Der Schritt einer Regierungsbeteiligung, der in der ganzen Kommunistischen Internationale  noch nicht praktiziert worden war, sollte er umsetzbar sein, wäre dann auch wegweisend über Sachsen hinaus. Die Zentrale schlug deswegen vor, dass sich alle Länder mit Arbeiter:innenregierungen zu einem Block zusammenschließen, um gegen den reaktionären Kurs im Reich Stellung zu nehmen und ihn zu durchkreuzen. Die  Lösung der Aufgaben der proletarischen Revolution könne von einer Landesregierung nicht erwartet werden, sie könne aber ein Stützpunkt für die Revolution sein.

Internationale Diskussion

Vom 7. – 11.6.1922 trat die zweite Erweiterte Exekutive der Kommunistische Internationale mit Abordnungen aus allen Gliedsektionen zu Beratungen über Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung zusammen.. Neben Deutschland stand dies auch in der Tschechoslowakei auf der Tagesordnung. Die tschechoslowakische KP bejahte  nicht nur die Frage der Bereitschaft zur Unterstützung, nach Teilnahme an  einer Arbeiter:innenregierung, sondern zur Verantwortungsübernahme sogar im Falle der Möglichkeit einer Minderheitsregierung, bei gegebener Lage von Arbeitermassenmobilisierung. Ihr Abgeordneter Smeral sagte, dass zwischen den Alltagsforderungen, von denen die Aktion der Partei ausgehe, und dem Endziel der Machteroberung des Proletariats die Notwendigkeit eines Bindeglieds in Form der Losung der Arbeiter:innenregierung bestehe. Dies verfehlte nicht seinen Einfluss auf die Diskussion in der deutschen Sektion. Die Losung der Arbeiter:innenregierung wurde bis auf die italienische und Teile der französischen Delegation einvernehmlich als Krönung der Einheitsfront betrachtet.

Kennzeichen einer ungenügenden Wahrnehmung der Frage der Arbeiter:innenregierung war es jedoch, dass im November 1922 die Entscheidung über den Eintritt in die sächsische Landesregierung, ob dies von der KP-Bedingung, Gesetze einer Betriebsrätekonferenz vorzulegen, abhängig gemacht werden sollte oder nicht, von der Exekutive der KI bzw. der KPD-Parteizentrale wieder auf den sächsischen Landesparteitag zurückverwiesen worden war, der dann an der Bedingung festhielt. Das Politbüro billigte dessen Beschluss, aber die Landtagsfraktion sollte auf jeden Fall den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten mitwählen.

Parteitag Januar 1923

Es herrschte weiter Uneinigkeit über die unterschiedlichen Konzeptionen in der Partei zur Einheitsfront und zur Arbeiter:innenregierung.  Der 8. Parteitag vom 28.1. – 1.2. 1923 war anberaumt worden, um eine Klärung herbeizuführen. In Brandlers Hauptreferat für den Parteivorstand über Einheitsfront wies er die Einheitsfront nur von unten als undialektisch zurück. Er erklärte: „Die Arbeiter:innenregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiter:innenpolitik zu treiben“. Zu den Anforderungen an eine Arbeiter:innenregierung gehörten neben wirtschaftlicher Existenzsicherung der arbeitenden Klassen auch die gewaltsame „Niederkämpfung der gesamten Widerstände der Bourgeoisie gegen die Arbeiter:innenregierung und ihr Programm. (…) In diesen Kämpfen (…) wird die Arbeiter:innenregierung gezwungen werden, den Rahmen der Demokratie zu überschreiten, zu diktatorischen Maßnahmen überzugehen“.

Auch die Beteiligung der Kommunist:innen an einer Arbeiter:innenregierung im Reich wurde prinzipiell bejaht. Länderregierungen sollten als Stützpunkte im Kampf darum dienen. Zur Arbeiter:innenregierung zählte er auch die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, die bisher „der linke Flügel der Bourgeoisie war, jetzt der rechte Flügel der Arbeiter:innenregierung werden soll“.

Über diese Vorlage kam es zur Kampfabstimmung gegen die linke Opposition, die eine Arbeiter:innenregierung ohne vorherige Schaffung von ‚Räteorganen‘ und „ohne Aufrollen der Waffenfrage durch die Arbeiter:innenschaft“ verwarf. Die Abstimmung  ergab eine Zweidrittelmehrheit für den Thesenentwurf der Zentrale über die „Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiter:innenregierung“.

Im März 1923  schienen sich die günstigen Vorzeichen für die Kommunist:innen zu mehren, als sich linkere sozialdemokratische Landesregierungen in Sachsen und Thüringen formierten, die auch bewaffnete Organe wie die proletarischen Hundertschaften zuließen. Der tatsächliche Regierungseintritt der KPD im Oktober folgte spät, aber nicht überraschend. Dies und das nicht einmal zweiwöchiges Dasein der Landesregierungen führten nach dem Eklat erneut zu heftigen Diskussionen in Partei und Internationale.

Opportunistische und sektiererische Konzepte über Einheitsfrontpolitik und die Vorstellung von Arbeiter:innenregierung waren aber schon lange vorher aufeinandergeprallt und gingen eine verhängnisvolle kontraproduktive Wechselwirkung ein. Auf der einen Seite verfestigte sich aus der Erkenntnis, dass die Klasse eine Regierung aus Arbeiter:innenparteien als Errungenschaft betrachtet, der Glaube, sie für deren Verteidigung mobilisieren zu können und damit die Basis zu legen für einen allgemeinen Aufstand, ohne jedoch die entsprechend zentralisierten Klassenorgane ins Feld führen zu können, zugleich aber die Vorbereitung auf den Entscheidungskampf gegen den Klassenfeind unter Ausschluss der Massen und im Geheimen durchzuführen. Es war somit kein Zufall, dass die entscheidende Phase der Ereignisse 1923 in der Frage der Arbeiter:innenregierung kulminierte und auf tragische Weise die Niederlage der Revolution besiegelte.




Die objektive Basis der sozialistischen Revolution

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 1, Sommer 1989

Das zwanzigste Jahrhundert wurde in einem Ausmaß Zeuge von Kriegen, Krisen und wirtschaftlicher Stagnation, das es in der Menschheitsgeschichte bisher nicht gegeben hat. Aber es hat auch ein noch nie dagewesenes Wachstum der Produktivkräfte gegeben. Diese herausstechenden Merkmale bezeugen alle die gleiche Tatsache: Der Kapitalismus ist in sein letztes Stadium eingetreten, die Epoche des Imperialismus. In dieser Epoche hat der Kapitalismus seine Zerstörung der Relikte früherer Produktionsweisen fortgesetzt und hat all die verschiedenen Ökonomien auf dem Erdball in einen großen Weltmarkt zusammengezogen. Gleichzeitig hat er jedoch die Unausgeglichenheit und Ungleichheit der Nationen zu ihrem höchsten vorstellbaren Punkt entwickelt. Eine Handvoll imperialistischer Mächte dominiert die große Mehrheit der kapitalistischen Länder und beutet sie aus. Diese sind daher in verschiedenem Ausmaß zu Rückständigkeit und Unterordnung verurteilt.

Auf seiner imperialistischen Stufe ist der Kapitalismus durch eine heftige, weltweite Konkurrenz zwischen den riesigen Monopolen gekennzeichnet. Dies drückt sich in der Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten aus, deren Wirtschaft von diesen Monopolen kontrolliert wird. Die historische Tendenz des Falls der Profitrate treibt jedes Monopol zur weiteren Konzentration von Kapital und in immer größerem Maßstab zum Kapitalexport. Diese Kräfte haben zur Schaffung einer weltweiten Arbeitsteilung und zur Integration des Weltmarktes geführt. Dennoch bleibt die Welt in eine Reihe von Nationalstaaten aufgeteilt. Ihre herrschenden Bourgeoisien versuchen andauernd, Vorteile auf Kosten ihrer Rivalen zu erreichen. Die Widersprüche zwischen diesen Tendenzen zur Integration und jenen zum Konflikt führen zu wirtschaftlichen Krisen, langen Perioden der Stagnation, Kriegen und Revolutionen. Dies demonstriert auf klarste Weise, daß, obwohl in den Produktivkräften selbst eine Kapazität für unbeschränkte Expansion steckt, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse – Privateigentum und Produktion für Profit – wie eine Fessel auf diese Kräfte wirken.

In großen Gebieten auf unserem Planeten wurde der Kapitalismus gestürzt, andererseits kostet seine Erhaltung anderswo das Leben von dutzenden und sogar hunderten Millionen Menschen in lokalen oder Weltkriegen; der Hunger fordert weiterhin zahllose Opfer in einer Welt, in der Lebensmittel“überschüsse“ verbrannt werden. Dies bezeugt die Tatsache, daß der Kapitalismus schon lang von seiner frühen Entwicklungsphase, als er ein relativ progressives System war, in seine letzte Phase übergegangen ist, in der er absolut reaktionär wurde – kurz gesagt, in jene Epoche, in der sein Todeskampf stattfindet.

Die Frage, die sich der Menschheit stellt, ist, ob der Imperialismus alle Klassen in den gemeinsamen Ruin ziehen wird oder ob die Arbeiterklasse die Ausgebeuteten und Unterdrückten in eine neue gesellschaftliche Ordnung führen kann; eine Ordnung, in der die demokratisch geplante Produktion für den Bedarf, die auf dem Gemeineigentum aufbaut, die Aussicht auf eine klassen- und staatenlose Welt eröffnet. Die objektiven Vorbedingungen dafür gibt es schon lange: Technologie, Wissenschaft, die Produktionsmittel und ein Millionen zählendes Weltproletariat.

Zweimal in diesem Jahrhundert, 1914-23 und 1939-47, wurde der Kapitalismus in solch akute weltweite Erschütterungen gestoßen, daß sein Ende in greifbarer Nähe schien. Zweimal haben seine eigenen Rivalitäten und Widersprüche das Schreckgespenst seiner eigenen Vernichtung durch das Proletariats erweckt. Bei zahllosen anderen Gelegenheiten hat das Proletariat einzelner Länder versucht, die Rechnung mit ihren Ausbeutern zu begleichen.

Doch bis jetzt hat das Proletariat eine Führung, die fähig wäre, die Aufgabe der Weltrevolution zu vollenden, nicht gefunden oder war nicht in der Lage, sich diese zu erhalten. Vor 1914 versammelte die Sozialistische Internationale eine weltweite Massenbewegung der Arbeiterklasse um sich, doch erlitt sie Degeneration und Verrat, noch bevor sie eine zentralisierte Führung schaffen konnte, die notwendig für einen Sieg in den herannahenden revolutionären Krisen gewesen wäre. Nur kurz, und zwar zwischen 1917 und 1923, besaß die internationale Arbeiterklasse eine solche Führung in Gestalt des Weltzentrums der Kommunistischen Internationale (Komintern). Die bürokratische Degeneration der UdSSR und der Triumph des Stalinismus beraubten das Proletariat dieser Führung. Will das Proletariat von weiteren Krisen und einem dritten und möglicherweise letzten, weltweiten Holocaust verschont bleiben, muß es sich auf die Lehren aus den vergangenen Fehlern und Erfolgen stützen und wieder in die Offensive gehen. Auf seinem Erfolg beruht die Zukunft der Menschheit.

Nur dank des Verrats der Führung der Weltarbeiterklasse konnte die imperialistische Epoche in den 20er, 30er und 40er Jahren dem drohenden Untergang entgehen. Im Zweiten Weltkrieg führte die stalinistische und sozialdemokratische Irreführung, Obstruktion und sogar Unterdrückung der Arbeiterklasse im Gefolge der Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Mächten zur Abschlachtung von mehr als fünfzig Millionen Menschen.

In den imperialistischen Kernländern wurde die Arbeiterbewegung im Namen der Erlangung der Demokratie und des Weltfriedens davon abgehalten, mit ihrem Klassenfeind die Rechnung zu begleichen. In den Halbkolonien hat die Bourgeoisie den Bewegungen der Arbeiter und armen Bauern die Notwendigkeit einer längeren Entwicklungsetappe unter der Hegemonie der nationalen kapitalistischen Klasse gepredigt.

Doch bald nach dem Zweiten Weltkrieg brach in Osteuropa, China und Südostasien die stalinistisch inspirierte, utopische Koexistenz mit dem vom Imperialismus unterstützten lokalen Kapitalismus zusammen. Das Ergebnis war die Schaffung von Arbeiterstaaten, in denen eine parasitäre Bürokratie, die unfähig und unwillig war, eine Planwirtschaft in Richtung Sozialismus zu entwickeln oder die sozialistische Revolution auf eine internationale Ebene auszuweiten, von Beginn an die politische Macht an sich gerissen hatte. Diese Niederlagen des Proletariats und seiner Verbündeten, die von deren eigenen (Irre-)Führern eingefädelt worden waren, eröffneten für den Imperialismus die Möglichkeit einer ganzen, neuen Periode der wirtschaftlichen Expansion, einer Periode, die in merklichem Kontrast zu den Widersprüchen der Zwischenkriegsperiode stand.

Die „Drei Welten“ der Nachkriegsära

Die weitreichende Neuaufteilung der Welt war das Ergebnis eines veränderten Kräfteverhältnisses. Die USA, die ökonomisch schon vor dem Ersten Weltkrieg die stärkste imperialistische Macht gewesen waren, erreichten endlich nicht nur über die geschlagenen Imperialismen, Deutschland und Japan, sondern auch über die alten Kolonialmächte, Britannien und Frankreich, die Welthegemonie. Der „Preis“ für diesen Sieg war jedoch der „Verlust“ von Osteuropa und später von China, Nordkorea und Vietnam.

Die rivalisierenden Kolonialreiche der ersten Phase der imperialistischen Epoche machten einer Dreiteilung der Welt Platz. Die USA dominierten die Welt der großen und kleinen imperialistischen Mächte; Nordamerika, Westeuropa und den westlichen Rand der pazifischen Staaten von Japan bis Australien. Hier gab es antikommunistische, bürgerlich-demokratische Regimes, gestützt auf eine Arbeiterbürokratie, die in der „aristokratischen“ Oberschicht des Proletariats verwurzelt war. Sie führten einen „Kalten Krieg“ gegen die UdSSR und ihre Verbündeten und kämpften um die Sicherung der imperialistischen Ausbeutung der halbkolonialen Welt.

Nachdem die Sowjetunion die Bildung von degenerierten Arbeiterstaaten in der Mehrheit ihrer Nachkriegsbesatzungszonen kontrolliert hatte, beherrschte sie einen Block, zu dem China und Nordkorea hinzukamen. In jedem dieser Länder führten stalinistische Fünfjahrespläne zu einem anfänglichen Wachstum des Proletariats und zu einer gewissen Verbesserung der schrecklichen Bedingungen, die der Imperialismus hervorgebracht hatte. Trotz des stalinistischen Schmarotzertums, der Mißwirtschaft und der bürokratischen Diktatur über Arbeiter und arme Bauern erhöhte der wirtschaftliche Fortschritt das Ansehen des Stalinismus, besonders in der kolonialen und halbkolonialen Welt. Spätere stalinistische Siege, wie Vietnam und Kuba, verstärkten diese Tendenz.

In der unterentwickelten „Dritten Welt“ erreichten antikoloniale, nationale Befreiungsbewegungen formale politische Unabhängigkeit ihrer Staaten von den alten Kolonialmächten, jedoch fanden sie ihre Länder der Hegemonie der USA unterworfen. Die abhängige, nationale Bourgeoisie versuchte, ob in Form militärischer Diktaturen oder konservativer demokratischer Regimes, die Bedingungen für die Überausbeutung zu erhalten. Manche halbkoloniale Regimes benutzten die wachsende ökonomische und politische Macht des „sowjetischen Blocks“ und, indem sie dessen Hilfe suchten, schufen sie sich Raum für Manöver mit den imperialistischen Mächten. Doch wurde solche Hilfe nur in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus gegeben. Eine Reihe von regional einflußreichen halbkolonialen Regimes wurde ökonomisch und militärisch vom Imperialismus aufgebaut, um als seine Gendarmen in jenen Gebieten zu handeln, wo eine direkte imperialistische Intervention zu gefährlich oder zu kostspielig gewesen wäre. So sind die Halbkolonien und ihre herrschenden Klassen von verschiedenen Graden der Unabhängigkeit oder Unterordnung gezeichnet, ebenso wie es in deren ökonomischer Entwicklung verschiedene Grade der Entwicklung oder Rückständigkeit gibt.

Trotzki bemerkte in seinem Übergangsprogramm, daß „die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren“. Diese Aussage ist Teil einer richtigen, perspektivischen Analyse der 1930er Jahre, die in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gipfelten. Doch hält keine konjunkturelle oder periodische Charakterisierung für einen unbegrenzten Zeitraum. Gerade die Katastrophe des Krieges setzte viele der explosiven Widersprüche, die zum Weltkrieg geführt hatten, frei und löste sie. Erstens entschärften die imperialistische Bourgeoisie und der Stalinismus die explosive Bedrohung ihrer eigenen Herrschaft in den Jahren 1943 bis 1947. Zweitens brachte die massive Zerstörung von Kapital und Arbeit im Krieg günstigere Ausbeutungsverhältnisse für den Kapitalismus mit sich. Tatsächlich diente der Ausbruch des Krieges als Katalysator für die Anwendung der wissenschaftlichen Entwicklungen der Vorkriegszeit, die dazu benutzt werden konnten, nach dem Krieg einen großen Markt für Konsumgüter zu schaffen. Atemberaubende Fortschritte in der Anwendung von Wissenschaft und Technologie erhöhten die Produktivität der Arbeit außerordentlich.

Die USA ging aus dem Krieg als die dominante Macht am Weltmarkt hervor. Die praktische Auflösung der kolonialen Reiche Frankreichs und Britanniens erlaubte ein Vorherrschen des Freihandels zum Vorteil der USA. Unter diesen Bedingungen war der US-Imperialismus fähig, eine ökonomische Weltordnung auf der Basis der Überlegenheit des Dollars und unter Kontrolle seiner Agenturen – IWF, Weltbank und GATT – herzustellen. Zusammengenommen bedeuteten diese Faktoren, daß für eine ganze Periode die nationale Aufsplitterung des Weltmarktes teilweise überwunden wurde. Die US-Kapitalexporte flossen in alle Ecken der kapitalistischen Welt und ermöglichten Superprofite in der neu entstehenden, halbkolonialen Welt, doch entwickelten sie auch die Produktivkräfte von neuem.

In einer Reihe von stärkeren und schwächeren imperialistischen Mächten kennzeichneten „Wirtschaftswunder“ den Boom der 50er und 60er Jahre. Selbstverständlich war das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung weiterhin wirksam. Die lange Boomperiode, in der die zyklischen Krisen flach und die Aufschwünge stark und dauerhaft waren, wirkte sich auch auf die halbkoloniale Welt aus. Perioden fieberhafter Industrialisierung, extensiver Agrarreformen und Verstädterung, die von Stagnation und Krise gefolgt waren, haben die letzten vierzig Jahre gekennzeichnet. Doch mit Ausnahme von Südafrika hat diese stockende Entwicklung nicht zum Einholen der imperialistischen Länder geführt. Denn eigentlich war die Entwicklung einer komplexen, internationalen Arbeitsteilung untergeordnet, die von riesigen Monopolen diktiert wird. Deren groß angelegte produktive Investitionen folgten ihrem Verlangen nach Rohstoffen, Nahrungsmitteln und billigen Arbeitskräften. Diese Entwicklung eines in sich verknüpften Weltmarktes überwand regionale Isolation und Besonderheiten, indem das Schicksal weitgehend getrennter Ländern miteinander verbunden wurde. Gleichzeitig wurden die schreienden Ungleichheiten und das krasse Ungleichgewicht zwischen der imperialistischen und der imperialisierten Welt verschärft. Gewaltige Bevölkerungsverschiebungen ereigneten sich und schufen große Immigrantengemeinden in den imperialistischen Ländern. Die Schicksale der einzelnen Länder und der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen in ihnen ist stärker miteinander verbunden als je zuvor.

Die einseitige und äußerst abhängige wirtschaftliche Entwicklung der halbkolonialen Länder führte zwar zu Verstädterung, doch im allgemeinen nicht zu einer gleichzeitigen Industrialisierung. In Südamerika, Afrika und Asien übertreffen die sich ausweitenden Slumstädte in ihrer Größe die Industriestädte der imperialistischen Länder. Die Landwirtschaft, die vom westlichen Agrobusiness oder von reichen Farmern nur für ferne Märkte entwickelt wurde, vermag nicht, auch nur die grundlegenden Bedürfnisse der ländlichen und städtischen Massen zu befriedigen. Rücksichtslose Plünderungen der natürlichen Ressourcen und die skandalöse Vernachlässigung der ländlichen Infrastruktur und der Konsumbedürfnisse der Subsistenzbauern führten in Afrika und Asien zu schrecklichen Hungersnöten, Überschwemmungen und Seuchen, die nicht die Folge natürlicher Krisen sind, sondern der Unfähigkeit des Kapitalismus, auch nur die elementarsten Bedürfnisse von drei Vierteln der Weltbevölkerung zu erfüllen. Etwa 800 Millionen Menschen leben in kapitalistischen Nationen, die dabei versagen, die Produktion der lebensnotwendigen Güter dem Bevölkerungswachstum anzupassen.

Die meisten Halbkolonien waren nicht fähig, ein bürgerlich- demokratisches Regime zu stabilisieren, da ihre wirtschaftliche Entwicklung auf einem äußerst niedrigen Niveau verläuft und sie dem Imperialismus ein zermürbendes Tribut zahlen müssen. Die lokalen herrschenden Klassen und ihre bürokratischen und militärischen Büttel, die von den US-Botschaften und dem CIA unterstützt und begünstigt wurden, haben wiederholt Putsche organisiert, um blutige Militärdiktaturen zu errichten – Guatemala 1954, Indonesien 1965, Chile 1973 und Argentinien 1975.

Auf weltpolitischer Ebene machte die Struktur der interimperialistischen Rivalitäten, die für die Periode vor 1914 und die Zwischenkriegsjahre typisch war, nach 1947 einem Kampf zwischen drei Teilen der Welt Platz. Die degenerierten Arbeiterstaaten versuchten durch groß angelegte Bewaffnungsprogramme derBedrohung durch den Imperialismus, einschließlich der durch einen Atomkrieg, entgegenzutreten und ihre Existenz zu sichern. Dies lud den Planwirtschaften dieser bisher rückständigen Länder eine enorme Last auf. Außerdem versuchten die degenerierten Arbeiterstaaten verschiedene nationale Befreiungsbewegungen und halbkoloniale Regimes, die im Konflikt mit dem Imperialismus standen, im weltweiten Kräftegleichgewicht auf ihre Seite zu ziehen. Das Ziel dieser Politik war nicht der Sturz der imperialistische Herrschaft als Weltsystem, sondern dieses zu bremsen und zu zwingen, mit den stalinistischen Bürokratien auf Dauer zu koexistieren. In der Karibik und in Zentralamerika, im Nahen Osten, im südlichen Afrika und in Südostasien unterstützten die UdSSR und China stalinistisch oder auch nicht-stalinistisch geführte nationale Befreiungsbewegungen in der reaktionären und utopischen Absicht, sie in kapitalistischen Grenzen zu halten. Im Fall von Kuba, Kambodscha und Vietnam entstanden gegen den Willen von Moskau und Peking, wenn auch mit deren widerwilliger Hilfe, neue degenerierte Arbeiterstaaten. Trotz Perioden erhöhter Spannungen (der erste Kalte Krieg, die kubanische Raketenkrise und der neue Kalte Krieg in den 80er Jahren) brachen offene militärische Konflikte mit imperialistischen Kräften nur in der halbkolonialen Welt aus.

Während des langen Booms herrschte in den imperialistischen Ländern eine längere Periode relativen gesellschaftlichen Friedens. Dieser gründete sich auf steigende Reallöhne, beinahe Vollbeschäftigung und, zumindest in Europa, auf ein beispielloses Sozialleistungssystem. Die sozialdemokratischen und Labour-Bürokratien banden die proletarischen Massenorganisationen an den Imperialismus. Aufgrund der diktatorischen Regimes in den Arbeiterstaaten und der zutiefst reformistischen Politik der „kommunistischen Weltbewegung“ übte der Stalinismus in den meisten imperialistischen Ländern wenig Attraktivität auf das Proletariat aus. Das Ansehen des Kapitalismus schien unantastbar.

In der halbkolonialen Welt war die Lage anders. Die wirtschaftliche Entwicklung löste die alten Produktionsweisen auf und vermehrte die Klasse der sozialistischen Revolution – das Proletariat – gemeinsam mit seinen potentiell revolutionären Verbündeten anderer unterdrückter Klassen – den armen Bauern und Bäuerinnen, den städtischen Kleinbürgern und dem Subproletariat. Das Ansehen der UdSSR, Kubas, Chinas und Vietnams war immens. Der Stalinismus beeinflußte den bürgerlichen Nationalismus, den kleinbürgerlichen Populismus und die Arbeiterbewegungen der Halbkolonien enorm. Außerhalb der privilegierten Eliten und der militärischen Kasten dieser Länder hatte der Imperialismus wenig Ansehen.

In den stalinistischen Staaten konzentrierte sich die Opposition gegen die bürokratischen Diktaturen auf die Länder, in denen es ein Element der nationalen Unterdrückung – oder der Unterdrückung des Rechts dieser Länder auf Selbstbestimmung – gab: das heißt in Osteuropa, besonders auf Polen und Ungarn. In Ostdeutschland 1953, in Ungarn und Polen 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und wiederum in Polen 1970 und 1980-81 entwickelten sich politisch revolutionäre Situationen, die entweder von der Polizei und Armee der heimischen Bürokratie oder unter Verwendung sowjetischer Panzer niedergeschmettert wurde.

Eine neue Krisenperiode

Die großteils unterschiedlichen Bedingungen in den „drei Welten“ verminderten zwei Jahrzehnte lang die Wechselwirkung von Kämpfen. Gegen Ende der 60er Jahre verschärften sich jedoch die Widersprüche des langen Booms und der US-Hegemonie, auf der dieser aufbaute. Die US- Kapitalexporte führten im eigenen Land zu Unterinvestition, was niedrige Produktivität und folglich einen Fall der Profitrate zur Folge hatte. Die Voraussetzungen, die den langen Boom ermöglicht hatten (der Dollar als unangefochtene internationale Währung, unbegrenzter Zugriff für die USA auf die halbkoloniale Welt, Unterkapitalisierung in Japan und Europa infolge des Krieges), erschöpften sich in zunehmendem Ausmaß. Die Goldreserven der USA fielen, und ihre Handelsbilanz wurde negativ. Die Last, den Dollar auf einer fixen Austauschrate mit Gold zu halten, wurde durch die enormen Ausgaben für den Vietnamkrieg vergrößert. Die gewaltigste Supermacht, die die Welt je gesehen hatte, wurde von der unbezwinglichen Bevölkerung einer kleinen Nation im Kampf zum Stillstand gebracht, wurde von ihr geschlagen.

Das Ende der Periode allgemeiner imperialistischer Stabilität und die größere Wechselwirkung von Kämpfen auf weltweiter Ebene wurde durch die ’68er-Bewegung signalisiert, in der in vielen Ländern die Kämpfe der Studenten und die Mobilisierungen der Arbeiterklasse zusammenflossen. Die Radikalisierungen der Studenten spiegelten das Sich-Zuspitzen des antiimperialistischen Kampfes in Asien und Lateinamerika, den Klassenkampf in den imperialistischen Nationen selbst und die wachsenden Widersprüche in den degenerierten Arbeiterstaaten (z.B. die Kulturrevolution in China, der Prager Frühling 1968) wider.

Die USA waren gezwungen, sich von den wirtschaftlichen Lasten zu befreien, das heißt, sie mußten die Last auf die Schultern der einst völlig untergeordneten Imperialismen abwälzen, die nun in ihre Märkte eindrangen. Deshalb mußten sie den Druck auf ihre Verbündeten erhöhen. Gleichzeitig waren sie gezwungen sich aus dem Sumpf des Indochina- Krieges zu befreien. Um das zu tun, mußten sie den Druck auf die Bürokratien der UdSSR und Chinas verringern und sogar deren Unterstützung suchen, um die Welle des Widerstandes gegen den Imperialismus zu beschränken. Die daraus folgende Ära der Detente (Entspannung) war eine Periode politischer Rückzieher der USA. Das Ergebnis dieser sichtbaren Schwächung des nordamerikanischen Kolosses war ein Aufschwung der antiimperialistischen Kämpfe gegen die Gendarmenregimes der USA im Fernen und Mittleren Osten, im südlichen Afrika und in Zentralamerika.

Außerdem brachten die 70er Jahre das Ende des langen Booms und den Beginn einer neuen Periode, in der die Rezessionen tiefer und synchronisierter waren und Auswirkungen hatten, die in den darauffolgenden Aufschwünge nicht wieder verschwanden. Die Krise von 1973-74 führte zum Auftreten von Massenarbeitslosigkeit, die es seit den 30er Jahren in diesem Ausmaß nicht mehr gegeben hatte. Der Aufschwung nach der Krise war von einer steilen Inflationsspirale begleitet, während keynesianischen Krisenmanagement und die Notwendigkeit, die Sozialstaatlichkeit zu erhalten, Stagnation und Reallohnverlust in vielen imperialistischen Länder verstärkten. Eine Eruption des Klassenkampfes ereignete sich. Reformerische, liberale und sozialdemokratische Regierungen waren diskreditiert und unfähig, mit Mitteln des keynesianischen Krisenmanagements in den nationalen Ökonomien oder der Weltwirtschaft ein Gleichgewicht wiederherzustellen.

In der gleichen Periode brach die iranische Revolution aus, die zum Sturz des Schah-Regimes führte, während gleichzeitig Somoza gestürzt wurde und die Sandinistas in Nicaragua siegten. Zusammen mit der russischen Intervention in Afghanistan untergruben all diese Ereignisse die Detente. In Britannien (1979) und den USA (1980) kamen deflationäre kalte Krieger und Kriegerinnen an die Macht, die entschlossen waren, die Fäulnis zu stoppen, indem sie die folgende Krise dazu benutzten, um die Nachkriegserrungenschaften der Arbeiterklasse im eigenen Land auszuhöhlen und außerhalb der Grenzen ihrer Länder das, wie sie es sahen, „Fortschreiten des Kommunismus“ zurückzudrängen. Thatcher und Reagan nahmen sich vor, die Hegemonie der USA wiederherzustellen und das Ansehen ihres britischen Schildknappen zu erhöhen.

Reagans und Thatchers „Liberalismus“ des freien Marktes wurde in verschiedenem Ausmaß von allen wesentlichen imperialistischen Ländern, sogar jenen mit sozialdemokratischen Regierungen, nachgeahmt. Privatisierung der staatlichen Industrien, Angriffe auf die Gewerkschaften, Verwässerung der Gesetze und Regelungen, die die Sicherheit am Arbeitsplatz betrafen, und eine Aushöhlung der Sozialstaatlichkeit waren die Themen der 80er Jahre.

Trotz Thatchers und Reagans Erfolg, das Tempo für eine neue, antistaatliche, freie Markt-Strategie für die herrschenden Klassen der Welt festzusetzen, schafften sie es nicht, eine stabile US- Hegemonie wiederherzustellen. Bestenfalls haben sie die Geschwindigkeit ihres Verfalls verlangsamt. In Europa verfestigte Westdeutschland seine Position als ökonomischer Motor der Europäischen Gemeinschaft (EG). Es verwendete die 80er Jahre, um seine wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von seinem amerikanischen Verbündeten weiter zu stärken. Es gab kaum verhüllte transatlantische Handelsauseinandersetzungen und -differenzen darüber, wie auf die Möglichkeiten, die sich durch die Krise der Arbeiterstaaten ergaben, reagiert werden sollte.

Japan profitiert am meisten vom Verfall der US-Hegemonie. In den 80er Jahren wurde es zu einer entwickelten imperialistischen Macht und sogar zum Bankier der USA. Es stärkte seinen Einfluß in Ostasien und fordert Europa und die USA in wachsendem Ausmaß in deren eigenen Zentren und Einflußsphären heraus. Bis jetzt mangelt es ihm aber am politischen und militärischen Gegenstück zu seiner wachsenden ökonomischen Macht, doch hat es seine Entschlossenheit dazu bereits angekündigt.

Obwohl die USA weiterhin der bei weitem stärkste imperialistische Staat bleiben, können sie die kapitalistische Weltwirtschaft nicht mehr alleine regeln: Keine der imperialistischen Mächte ist absolut dominant. Eine Koordination der Politik und internationale Regelungen sind erforderlich, doch die verschiedenen Bedürfnisse und Ziele von Japan, der EG und den USA machen dies schwieriger als in den 50er und 60er Jahren. Ab den frühen 70er Jahren waren die USA gezwungen, die EG-Länder als Co-Manager der Weltwirtschaft anzuerkennen. Nun müssen sie Japan einbeziehen.

Während des Aufschwungs hat sich – unter dem Druck der Notwendigkeit, die Produktion zu rationalisieren und die Kosten zu reduzieren, um den Anforderungen der Weltmärkte und Unternehmungen gerecht zu werden – die Konzentration und Zentralisierung des transnationalen Kapitals verstärkt. Doch gleichzeitig haben sich in Nordamerika und Europa Entwicklungen in Richtung integrierter und liberalisierter regionaler Wirtschaftsblöcke beschleunigt. Während sich dies als wesentlicher Bestandteil des weltweiten Aufschwunges der 80er Jahre erwies, würde eine weltweite Krise diese regionalen Einheiten in protektionistische Blöcke verwandeln, die eine gefährliche Verkleinerung der Märkte für die weltweit orientierten transnationalen Unternehmen schaffen würden.

Eine Reihe halbkolonialer Länder erfuhr in den 70er Jahren ein starkes Wachstum und begann Kredite in großem Ausmaß aufzunehmen, um den „Aufstieg“ zu einer fortgeschrittenen Industrienation zu versuchen. In den 80er Jahren stolperten sie tiefer in die lähmende Verschuldung. Eine weltweite Schuldenkrise wurde aber durch eine Umschuldung vermieden. Die Banken bewahrten sich auf Kosten der lateinamerikanischen und subsaharischen afrikanischen Massen, denen eine massive Sparpolitik auferlegt wurde, den Großteil ihrer Guthaben. Doch ein Ausfall von zwei oder drei wesentlichen lateinamerikanischen Schuldnern (Mexiko, Brasilien, Argentinien) könnte noch immer das amerikanische oder europäische Bankensystem zum Einsturz bringen.

In den stalinistischen Staaten entwickelte sich in den 60er und 70er Jahren eine chronische Stagnation. In China diskreditierte sich die Mao- Fraktion zweimal mit voluntaristischen Kampagnen – mit dem „Großen Sprung nach vorne“ und der Kulturrevolution. Der Triumph von Deng Xiaoping über die „Viererbande“ bedeutete, daß China den Prozeß der politischen Entspannung (= Detente) und der ökonomischen Liberalisierung anführte. Dies schloß die Lockerung der zentralen Planungsmechanismen und die Öffnung der Wirtschaft für Investitionen der USA und Japans mit ein. Die UdSSR erfuhr eine Stagnation in den 70er Jahren, doch die Schwierigkeiten, denen der US-Imperialismus, der gute Beziehungen mit der UdSSR in der ersten Phase der Detente anstrebte, gegenüberstand, überdeckten das Problem. Breschnew zerschlug die Dissidenten daheim und schien fähig, die Sowjetmacht und den Einfluß in Afrika und der Karibik auszuweiten.

Vom kalten Krieg zur Krise des Stalinismus

Unter Reagan griff die USA auf eine erprobte Taktik zurück: Kalter Krieg und Aufrüstung – eine massive Runde von hochtechnologischen Waffensystemen. Sollte die UdSSR versuchen mitzuziehen, würde die bereits stagnierende Wirtschaft in eine Krise geraten. Die starke Ausbreitung der UdSSR und ihrer Verbündeten in Afghanistan, im südlichen Afrika, in Zentralamerika und Südostasien ermöglichte es den USA, sie, oder ihre Verbündeten, in kostspielige Kriege zu zwingen: Afghanistan, Kampuchea, Angola und Mozambique, Äthiopien und der Contra-Krieg in Nicaragua. Außerdem gab es durch die politisch revolutionäre Krise in Polen einen schmerzhaften Druckpunkt der USA auf den Kreml in dessen unmittelbarer Umgebung. Obwohl die Kalte- Kriegs-Rhetorik und die Bewaffnungsprogramme von Reagan und Thatcher auf sie selbst zurückfielen, indem sie in Westeuropa eine große Friedensbewegung hervorbrachten – durch deren Druck Konflikte in der NATO und zwischen der EG und den USA wegen anderer Schauplätze der Weltpolitik entstanden (besonders dem Nahen Osten und Zentralamerika) -, entwickelte sich die politische und ökonomische Krise der UdSSR noch schneller. Die sowjetische Bürokratie versuchte mit autoritärer Disziplin mit der Korruption aufzuräumen. Sie kam nicht weit. Die Krise intensivierte sich und brachte die radikalere Fraktion rund um Gorbatschow an die Macht. Diese ist entschlossen, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und mehr kapitalistische Marktmechanismen einzuführen.

Sowohl Glasnost Öffnung) und Perestroika (Umbau) sind drastische, in der Tat verzweifelte Mittel der Bürokratie, Mittel, die ihr ganzes System der Gefahr des Zerfalls aussetzen. Die größere Offenheit ermöglichte es nationalen Unzufriedenheiten und Widersprüchen, in der Form „sozialer Massenbewegungen“ der nationalen Minderheiten hervorzubrechen. Sie öffnete die sowjetischen Massen gegenüber dem westlichen bürgerlichen Einfluß, sei es nun Liberalismus, chauvinistischer Nationalismus oder verschiedene Formen von religiösem Obskurantismus. Dies erlaubte es, daß die soziale Konterrevolution zu einer realen Gefahr wurde. Die internationale Bourgeoisie setzt in eine solche Entwicklung große Hoffnungen und sieht darin die Möglichkeit eines langfristigen Auswegs aus den sich verschärfenden Widersprüchen des kapitalistischen Systems. Aber die anhaltende Schwächung der bürokratischen Kontrolle kann ebenso zu einem Wiederaufleben von subjektiv anti-kapitalistischen Strömungen, wie Anarchismus, Populismus, Sozialdemokratie führen und, allem voran, zu einer Wiedergeburt des revolutionären Kommunismus (Leninismus und Trotzkismus). Gorbatschow hat dabei versagt, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. Gleichzeitig hat er ihre historischen Errungenschaften attackiert. Dies schafft die objektive Basis für die Wiederauferstehung der Arbeiterbewegung in der Sowjetunion. Wenn die politische Revolution beginnt, die Grundmauern des Kremls zu erschüttern, wird nicht nur die UdSSR, nicht nur die degenerierten Arbeiterstaaten, sondern die ganze Weltordnung zu wanken beginnen.

Die führenden imperialistischen Länder sind in Bezug auf die sozialistische Revolution immer noch am meisten zurückgeblieben. Historisch waren die niedergehenden, aber immer noch mächtigen USA fähig, das US-Proletariat durch nationale und rassische Gegensätzen zu spalten und dies mit ständigen und massiven Verbesserungen des Lebensstandards ihrer aufgeblähten Arbeiteraristokratie zu verbinden. Die politische Impotenz des Proletariats, die fehlenden politischen Organisationen, sogar in einer reformistischen Form, sind ein Beweis für den Erfolg des US-Imperialismus. In Japan hat der Imperialismus ebenso den klassenweiten Widerstand durch Betriebsgewerkschaften und eine an die großen Monopole gebundene Arbeitsplatzsicherheit gespalten und gebrochen. Sogar in Westeuropa wurde der Klassenkampf, trotz der explosiven und politischen Dimensionen von Kämpfen in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren im allgemeinen innerhalb der Grenzen des reinen Gewerkschaftlertums und des elektoralen, also auf Wahlen fixierten Reformismus gehalten.

Trotz des Triumphes des Rechtskonservatismus in vielen imperialistischen Ländern und trotz der Orientierungskrise der Sozialdemokratie und des Stalinismus liegt eine revolutionäre Wiederbelebung der Arbeiterbewegung noch vor uns. Aber die objektive Grundlage der sozialistischen Revolution liegt noch immer in der Arbeiterklasse, einer Klasse, die zahlenmäßig über die letzten 40 Jahre gewachsen ist und nun – als ein Ergebnis der Entwicklung der lateinamerikanischen und asiatischen Halbkolonien – weltweit gleichmäßiger verteilt ist. Eine Milliarde stark und von einem Kern aus über hundert Millionen Industriearbeitern geführt, ist sie die einzige Klasse mit einem objektiven Interesse an der Führung der sozialistischen Revolution.

Jetzt wo dieses Jahrhundert der Kriege und Revolutionen zu Ende geht, muß die Weltarbeiterklasse sowohl mit der Bourgeoisie als auch mit der Bürokratie abrechnen. Niemals zuvor war das Potential für die Emanzipation der Menschheit größer. In den Jahrzehnten der Krise, die vor uns liegen, muß die sozialistische Weltrevolution sowohl über den niedergehenden ausbeuterischen Imperialismus als auch über den verbrauchten Stalinismus triumphieren. Es gibt keinen anderen Weg, die Zukunft der Menschheit zu sichern.




Die Führungskrise des Proletariats

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 2, Sommer 1989

Sogar in seiner Todeskrise wird der Kapitalismus nicht von selbst verschwinden. Er muß bewußt durch die Arbeiterklasse gestürzt werden. Dazu ist die Bildung einer neuen revolutionären Vorhut notwendig, die einen bewußten strategischen Plan, ein Programm und eine proletarische Avantgardepartei braucht.

Auch heute ist das zentrale Problem der Menschheit: Wer führt die Arbeiterklasse? Am Vorabend des letzten Krieges zwischen den imperialistischen Mächten war der Kapitalismus von einer allgemeinen ökonomischen Depression erfaßt, die die ganze Welt unabänderlich in eine revolutionäre Krise stürzte. Trotzkis Übergangsprogramm, das in diesen Jahren geschrieben wurde, erklärte, daß die Krise der Menschheit auf die Führungskrise reduziert war. Heute wäre jedoch eine einfache Wiederholung der Feststellung, daß alle gegenwärtigen Krisen „auf eine Führungskrise reduziert“ seien, falsch.

Das Proletariat steht noch nicht weltweit vor der schroffen Alternative, entweder die Macht zu ergreifen oder bei der Zerstörung all seiner vergangenen Errungenschaften zuzusehen. Dennoch erreicht die Führungskrise in vielen Ländern, sogar ganzen Kontinenten, eine außerordentliche Schärfe. Sogar in Ländern, wo dies nicht der Fall ist, quält die Arbeiterorganisationen eine chronische Krise, die ihnen infolge des wiederholten Verrates durch die reformistischen Führer Niederlage, Stagnation und sogar Niedergang bringt. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, die grundlegenden Bedürfnisse der Millionen zu befriedigen, macht die Umwandlung defensiver Kämpfe der Arbeiter und armen Bauern in den Kampf um die Macht sowohl möglich als auch notwendig. Doch ist keine der existierenden Führungen willens oder fähig, so einen Kampf durchzuführen. Sie sind entweder an die Interessen der Bourgeoisie oder der parasitären Bürokratie der stalinistischen Staaten gebunden.

Seit langem hat die imperialistische Bourgeoisie ihre Ressourcen dazu verwendet, Spaltungen im Proletariat zu fördern und sogar die Existenz einer privilegierten Schicht, der ‚Arbeiteraristokratie‘, deren Lebensstandard wesentlich höher als der der Arbeitermassen war, zu akzeptieren. Dieser Teil der Arbeiterklasse bildete die hauptsächliche Grundlage für eine ‚Arbeiterbürokratie‘, deren Rolle es war, mit dem Kapital zu verhandeln, und deren spontane politische Auffassung daher die Klassenzusammenarbeit war.

1914 wurden die proletarischen Massenparteien Europas bereits von der Politik der Kollaboratoren beherrscht. Dies stimmte sowohl für Parteien wie die britische Labour Party, die seit ihrer Gründung eine reformistische Partei war, als auch für die sozialdemokratischen Parteien, die formal am Marxismus festhielten. Im Verrat der Zweiten (Sozialistischen) Internationale an der Arbeiterklasse fand diese Entwicklung ihren Höhepunkt. 1914 rührten sie die Werbetrommel für den imperialistischen Krieg. Als dann die Welle von Revolutionen durch Europa fegte (1917-23), stellten sie sich offen auf die Seite der bürgerlichen Konterrevolution gegen die arbeitenden Massen.

So nahm die Sozialdemokratie ihre grundlegende Gestalt an. Sie wurde strategisch an die kapitalistische Ökonomie und den kapitalistischen Staat, wenn auch in den idealisierten Formen des Staatskapitalismus und der bürgerlichen Demokratie, gebunden. Dies war sogar dort der Fall, wo der Kapitalismus noch keine voll entwickelten Arbeiteraristokratien und -bürokratien herausgebildet hatte. In Rußland zum Beispiel waren die Menschewiki, die für eine lange Periode der bürgerlichen Demokratie als einer notwendigen Entwicklungsstufe argumentierten, gegen die proletarische Revolution und ergriffen sogar die Waffen gegen sie. Direkte Aktion und militärische Gewalt waren für die Reformisten Mittel, die nur gegen die Gegner des bürgerlich-demokratischen Ziels verwendet werden konnten, niemals jedoch, um die Gegner der Arbeiterklasse zu schlagen.

Die Degeneration der Komintern

Die Komintern wurde von den konsequenten Kämpfern und Kämpferinnen gegen den Verrat der Sozialdemokratie in der revolutionären Periode nach 1917 gebildet. Ihre ersten vier Kongresse begannen, das revolutionäre Programm für die imperialistische Epoche wiederzuerarbeiten. Doch unter dem Einfluß der politischen Konterrevolution in der Sowjetunion degenerierte sie nach 1923 in den bürokratische Zentrismus. Das Ziel der Weltrevolution wurde durch die reaktionäre Utopie des „Sozialismus in einem Lande“ ersetzt. Die zentristisch-kommunistischen Parteien führten die Arbeiterklasse in China (1927) und Deutschland (1933) in blutige und unnötige Niederlagen.

Nach der Niederlage der deutschen Massen 1933 betrachtete Trotzki die Komintern als nicht mehr reformierbar. Später im gleichen Jahr erklärte er die Komintern, obgleich sie noch bürokratisch zentristisch war, für nicht reformierbar und „tot für die Ziele der Revolution“, nachdem sie sich als unfähig erwies, ihre Fehler zu erkennen und aus den Niederlagen zu lernen. Daher forderte er zuerst den Aufbau einer neuen Partei in Deutschland und dann einer neuen weltweiten Internationale, obwohl die Stalinisten noch nicht endgültig ins Lager der Konterrevolution übergegangen waren.

1934-1935 vervollständigte die Komintern ihre Verwandlung in eine konterrevolutionäre Internationale mit dem Ziel einer strategischen Allianz mit der Bourgeoisie der sogenannten „demokratischen“ Imperialismen im Namen einer neuen „Strategie“, der Volksfront. Diese klassenkollaborationistische Politik wurde den Sektionen der Komintern von der Kreml-Bürokratie auferlegt, um deren diplomatischen Interessen zu dienen. Die stalinistische Bürokratie versuchte, eine utopische „friedliche Koexistenz“ mit den „demokratischen“ Imperialismen und deren Verbündeten zu errichten und verwandelte die kommunistischen Parteien dieser Länder in reformistische Parteien, die die Zusammenarbeit und die „friedliche Koexistenz“ der Klassen predigten. Sie empfahl den Massen, ihre eigenen Imperialismen zu verteidigen, und folgte so der Sozialdemokratie ins Lager der Konterrevolution. Die Wende zum Sozialpatriotismus fiel mit der Liquidierung der alten bolschewistischen Vorhut in den Moskauer Schauprozessen zusammen. In der zweiten Phase des Zweiten Weltkrieges, nach dem Einmarsch der Nazis in der UdSSR, wurden die Stalinisten in den Staaten, die nicht zu den Achsenmächten gehörten, zu Superpatrioten, und in jenen, die von den Nazis besetzt waren oder gegen diese Krieg führten, gewannen die Stalinisten einen neuen Massenanhang.

Heute stehen diese Parteien der proletarischen Revolution, der Emanzipation der Arbeiterklasse und der Diktatur des Proletariats, die sich auf Sowjets stützt, feindlich gegenüber. Trotz des gestohlenen Banners des Kommunismus bleiben sie dem Ziel des Kommunismus, d.h. einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft, feindlich gesinnt. Als solche sind sie kein Gegenstück zur Sozialdemokratie, sondern deren Zwilling, der mit ihr die Ideologie des Sozialpatriotismus und des Reformismus teilt. Die Loyalität der stalinistischen Parteien gegenüber ihren eigenen Bourgeoisien kann aufgrund der Unterstützung, die sie der Bürokratie der degenerierten Arbeiterstaaten geben und die sie von dieser erhalten, nicht so vollkommen sein wie die der Sozialdemokraten. Trotz der fortgeschrittenen Tendenzen in Richtung „Sozialdemokratisierung“, die gewisse Parteien vorweisen, können sie sich nicht einfach ohne Bruch in eine Sozialdemokratie verwandeln. Sogar dort, wo die stalinistischen Parteien ihre sozialdemokratischen Rivalen als dominierende Kraft der Arbeiterklasse praktisch in den Schatten gestellt haben und sie eine politische Praxis verfolgen, die im wesentlichen der der Sozialdemokraten anderer Länder gleicht, unterscheiden sie verschiedene Herkunft, Struktur und Tradition sowohl in den Augen der Arbeiterklasse als auch in denen der Bourgeoisie.

Dennoch ist die Unterscheidung zwischen Sozialdemokratie und Stalinismus eine Unterscheidung innerhalb des Reformismus. Von beiden ist es unvorstellbar, daß sie sich ohne interne Spaltungen in rein bürgerliche Parteien verwandeln, bloß weil sie ideologisch die programmatische Verpflichtung auf „gesellschaftliches Eigentum“ oder die „proletarische Diktatur“ aufgegeben haben. Dazu wäre ein Bruch mit ihren organischen Verbindungen mit dem Proletariat notwendig. Sogar der Faschismus konnte den sozialdemokratischen und den stalinistischen Reformismus nicht vollständig ausrotten. Deren Existenz kann nur dann beendet werden, wenn Revolutionäre die politische Vorherrschaft in der Klasse gewonnen haben.

Sowohl die stalinistischen als auch die sozialdemokratischen Parteien sind Diener der bürgerlichen Weltordnung, doch sind sie beide in den Organisationen, die das Proletariat zum Kampf für seine Klasseninteressen geschaffen hat, verwurzelt. Beide werden sie von einer privilegierten Bürokratie dominiert, die der imperialistischen Bourgeoisie dient. Die grundlegenden Wurzeln der Sozialdemokratie liegen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, die historischen Wurzeln des Stalinismus aber in der bürokratischen Degeneration der Sowjetunion und daher in nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnissen. Doch ist der Stalinismus um nichts weniger Diener der Bourgeoisie als die Sozialdemokratie. Durch seine politische Diktatur, die er in der Sowjetunion und den anderen degenerierten Arbeiterstaaten ausübt, blockiert er das Fortschreiten zum Sozialismus und diskreditiert gerade das Ziel einer klassenlosen, staatenlosen Gesellschaft – den Kommunismus. Durch die Verbreitung von Chauvinismus und Klassenkollaboration hemmt er die Internationalisierung der Revolution. Objektiv fördert er das Potential für kapitalistische Restauration in den Arbeiterstaaten, und in einer entscheidenden Krise wird er aus seinen oberen Kreisen die Kader für die gesellschaftliche Konterrevolution stellen.

Der widersprüchliche Charakter, den Stalinismus und Sozialdemokratie teilen, kann am besten durch ihre Charakterisierung als bürgerliche Arbeiterparteien zusammengefaßt werden. Keine von beiden ist qualitativ besser oder schlechter. Dabei muß eines klar sein: Die Tatsache, daß eine Partei eine sozialdemokratische oder stalinistische Ideologie besitzt, beweist für sich nicht, daß sie eine bürgerliche Arbeiterpartei ist. Eine bedeutende Anzahl von Parteien in der Sozialistischen Internationale sind bürgerlich-nationalistische Parteien ohne irgendwelche entscheidenden organischen Verbindungen zu ihrem eigenen Proletariat. Andererseits gibt es stalinistische Parteien, deren soziale Basis die Bauernschaft oder das städtische oder ländliche Kleinbürgertum ist. Doch als weltweite Strömungen behalten beide den Charakter von bürgerlichen Arbeiterparteien.

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelten sich in gewissen Ländern revolutionäre Kämpfe (z.B. in Italien, am Balkan und in Frankreich). Doch die vereinten Kräfte von Sozialdemokratie und Stalinismus zerstreuten entschieden den spontanen Willen der Massen, mit ihren diskreditierten Bourgeoisien die Rechnungen zu begleichen. Nachdem die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien ihre Rolle als Agenten der demokratischen Konterrevolution gespielt hatten, wurden sie von den Kapitalisten beiseite gestoßen, die dann, wo immer dies möglich war, in den blühenden Wirtschaften der 1950er und 60er Jahre offen bürgerliche Parteien ans Ruder brachten.

In den imperialistischen Kernländern leiteten die späten 1960er Jahre eine neue Periode heftigen Klassenkampfes ein, der beständig von unten durch eine selbstbewußte und gut organisierte Arbeiterklasse begann. In ganz Europa bemühten sich die stalinistischen und sozialdemokratischen Führer und ihre Verbündeten in den Gewerkschaften erfolgreich, diese Kämpfe zu zügeln und in den Grenzen der Legalität und der offiziellen Organisationen zu halten. In Frankreich, Portugal und Spanien wurde dem Stalinismus und der Sozialdemokratie Gelegenheit gegeben, ihre konterrevolutionäre Loyalität gegenüber dem Kapitalismus einmal mehr zu demonstrieren. Durch schwere Niederlagen in vielen Ländern Westeuropas bis Mitte der 1970er Jahre wurde die europäische Arbeiterbewegung zurückgeworfen und für die nächste Periode ruhiggestellt.

Am Anfang der zweiten großen Krise, der von 1979 bis 1982, hatten die bestehenden Führungen den Widerstand der Arbeiterklasse bereits erfolgreich demobilisiert und das Proletariat der imperialistischen Länder für ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Sparpolitik (der Austerity-Programme), der Anti-Gewerkschaftsgesetze und der Angriffe auf demokratische Rechte geöffnet. In der Regierung waren die Verräter nur zu glücklich, diese Angriffe zu initiieren und anzuführen. So nimmt in den 1980ern in den imperialistischen Kernländern die Führungskrise die Form der Unfähigkeit der Arbeiterklasse an, mit ihren eigenen bestehenden Parteien, Gewerkschaften und Strategien gegen die Attacken von Wirtschaftsliberalen a‘ la Thatcher und Reagan erfolgreichen Widerstand zu leisten.

Indem sich die keynesianische, sozial-liberale Sozialstaatlichkeit, mit ihrer „gemischten Wirtschaft“ und der Staatsintervention in die Wirtschaft diskreditiert hat, werden die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien in eine ideologische und politische Krise gestürzt. Die Bourgeoisie will deren altes Programm nicht, und gleichzeitig ist dieses Programm für die Bedürfnisse der von Austerität und Arbeitslosigkeit getroffenen Arbeiterklasse denkbar unzureichend. Die Gewerkschaftsbürokratie kann keinen effektiven Widerstand gegen die Angriffe organisieren. Die zentristischen Kräfte der 70er Jahre sind geschrumpft und demoralisiert. Dennoch hat die Arbeiterklasse gegen ihre Feinde zurückgeschlagen. Massive und erbitterte Arbeiterkämpfe haben die 80er Jahre gekennzeichnet, doch in keinem Fall gelang es, einen entscheidenden Sieg zu erringen. Nur mit einer neuen Führung und einem neuen Programm kann die chronische Krise in der Arbeiterbewegung in den imperialistischen Kernländern gelöst werden.

In den degenerierten Arbeiterstaaten hat es die stalinistische Bürokratie geschafft, gerade die Idee des Sozialismus und des Kommunismus in den Augen der Arbeiterklasse zu diskreditieren. Den herrschenden Kasten gelang es nicht, ihre Rolle in diesen Gesellschaften zu legitimieren, sie haben versagt, den grundlegenden Einwand bezüglich ihrer eigenen Existenz zu entkräften: sie sind für das System der geplanten Eigentumsverhältnisse unnötig – und stellen tatsächlich eine Belastung für das System dar.

In den Nachkriegsjahrzehnten hat diese Kaste versucht, ihre Herrschaft durch ein Schwanken zwischen Marktexperimenten (um die Stagnation zu überwinden) und einer Straffung des bürokratischen Kommandos in der Wirtschaft abzusichern. Diese Erfahrung hat zu einem Fraktionskampf in den Bürokratien und sogar zu politischen Möglichkeiten für eine Opposition von unten geführt.

Die Arbeiterklasse der degenerierten Arbeiterstaaten hat sich wiederholt als die entschiedenste Kraft in dieser Opposition erwiesen. Mehr als einmal hat sie gegen bürokratische Privilegien und politische Unterdrückung gekämpft. In der Nachkriegszeit hat dieser Kampf die Arbeiter und Arbeiterinnen fast zur proletarischen politischen Revolution geführt. Dies hat sich durch die Schaffung von Sowjets (Ungarn 1956) und von Vorformen von Arbeiterräten (wie den fabrikübergreifenden Komitees in Polen 1980 und China 1989) gezeigt.

Doch in Abwesenheit einer politisch-revolutionären Strategie wurden die Arbeiter und Arbeiterinnen in jeder wesentlichen politisch-revolutionären Krise geschlagen. Ihre spontanen Kämpfe haben Vorstellungen hervorgerufen, die sowohl dazu dienten, die Macht der Bürokratie zu erhalten, als auch – unter bestimmten Bedingungen – die Kräfte der kapitalistischen Restauration zu stärken.

1956 führten in Ungarn und Polen falsche Hoffnungen in einen Teil der Bürokratie die Arbeiterklassen schließlich in die Niederlage. Syndikalismus und bloßes Gewerkschaftsdenken, wie bei Solidarnosc in Polen, führten den Kampf weg vom Ziel der politischen Macht und leiteten ihn um in einen utopischen Kampf für unabhängige Gewerkschaften, die gemeinsam mit bürokratischer Herrschaft existieren. Sogar der linke Flügel von Solidarnosc verbreitete die Illusion, daß selbstverwaltete Betriebe und nicht Arbeiterverwaltung über die zentralisierten Planmechanismen die Krise der Kommandowirtschaft überwinden könnte.

In der UdSSR stärkt der Nationalismus die Kräfte der bürgerlichen und klerikalen Restauration. In Osteuropa und China ersehnen sich die Arbeiter und Arbeiterinnen parlamentarische Demokratie – ein Gefühl, das aus der Erfahrung mit einer erdrückenden Autokratie ersteht. Das blutige Massaker an den mutigen Kräften der chinesischen „Demokratiebewegung“ durch die Tyrannen der Chinesischen Kommunistischen Partei führte lediglich zur Stärkung der bürgerlich-demokratischen Strömung in der Oppositionsbewegung.

Doch diese Hoffnungen in „Demokratie“, entleert von ihrem proletarischen Klasseninhalt, sind ein grausamer Betrug, der vom Imperialismus gefördert wird, um das Übergehen der Massen dieser Länder in das Lager der kapitalistischen Ausbeutung zu erleichtern. Ohne eine revolutionäre Führung und ein revolutionäres Programm wird das Zerbrechen des Stalinismus in seinen Kernländern nur für eine herrschende Minderheit in diesen Staaten von Nutzen sein. Im Gegensatz dazu wird eine Mehrheit der multinationalen Konzerne in den imperialistischen Ländern einen Aufschwung erleben.

Ohne eine revolutionäre Führung können die Möglichkeiten für eine politische Revolution, die in den Ereignissen von Ungarn 1956 und China 1989 beinhaltet waren, nicht verwirklicht werden. Ohne eine solche Führung werden die herrschenden stalinistischen Parteien weiterhin entweder die Handlanger der kapitalistischen Restauration oder die Vorboten einer militärisch-bürokratischen Vergeltung sein.

Stalinismus versus permanente Revolution

Der konterrevolutionäre Charakter des Stalinismus zeigt sich auch in seiner gewalttätigen Opposition gegen die Perspektive und das Programm der permanenten Revolution in den Halbkolonien und überall dort, wo bürgerlich-demokratische Fragen eine revolutionäre Bedeutung erlangen. Die Sozialdemokratie ist in den Halbkolonien weniger ausdauernd. In diesen Ländern ist die Arbeiteraristokratie und die Gewerkschaftsbürokratie aufgrund des unterentwickelten Charakters des Kapitalismus weniger fest etabliert. Auch hat der noch feigere Legalismus und Parlamentarismus der Sozialdemokratie dazu geführt, daß sie vollständiger als der Stalinismus verschwindet, wenn Demokratie und Parlament selbst Opfer von Bonapartismus und Diktatur werden.

Von Indonesien über Chile bis zu Südafrika heute hat der Stalinismus an der Perspektive einer demokratischen Etappe, die den Kampf um die Arbeitermacht ausschließt, jedoch alle möglichen bürgerlichen, kleinbürgerlichen, klerikalen und militärisch-bonapartistischen Verbündeten einschließt, festgehalten. Diese Volksfrontstrategie, die die demokratische Konterrevolution nach 1945 einleitete, hat seither zu blutigen und entscheidenden Niederlagen in revolutionären Schlüsselsituationen geführt.

Die Kommunistische Partei in Indonesien, die größte stalinistische Partei der kapitalistischen Welt, trat in die linksnationalistische Regierung von Sukarno 1965 ein und behauptete, daß sie an der Spitze eines „Volksstaates“ stünde. Unbewaffnet und nicht gewarnt durch ihre Führer wurden die Massen der PKI durch das Militär dahingemetzelt. Dieses Desaster ist direkt vergleichbar mit den Ereignissen in China 1927 und Deutschland 1933.

In Chile führten der Stalinismus und die sozialdemokratische Sozialistische Partei die Arbeiter und armen Bauern ins Unglück. Die Regierung Allende, die 1970 installiert wurde, war eine Volksfront, deren Programm auf bestimmte Reformen beschränkt war. Von Beginn an lehnte Allende die Bewaffnung der Arbeiter und Arbeiterinnen ab und garantierte dem reaktionären Oberkommando ein Monopol über die Armee. Dennoch führte die spontane Militanz der Arbeiterklasse zur Schaffung von „cordones industrial“, Vorformen von Sowjets, und sogar von schlecht bewaffneten Milizen. Sie führte zur Forderung nach Enteignung, gegen die sich Allende entschieden stellte. Die ökonomische Krise und Sabotage schafften das Klima für einen Staatsstreich durch Pinochet im September 1973, der Tausende in den Tod, die Folter oder die Gefangenschaft führte und Hunderttausende zur Flucht aus dem Land zwang.

Im Iran nahm die stalinistische Tudeh Partei am Sturz des Schahs durch die Massen teil, nur um danach die Durchsetzung von Khomeinis Islamischer Republik zu unterstützen. Im Namen der revolutionären Loyalität stand Tudeh der islamischen Reaktion beim Niedermetzeln der Arbeitermassen, der Linken und der kurdischen Rebellen bei. Im Gegenzug dafür entfesselte Khomeini seinen repressiven Apparat gegen Tudeh selbst.

Als führende Kraft im African National Congress (ANC) verschwendete die Südafrikanische Kommunistische Partei eine revolutionäre Gelegenheit durch ihre Politik, die Revolten in den Townships zur Erreichung von Verhandlungen mit dem „aufgeklärten“ Flügel des südafrikanischen Imperialismus zu verwenden. Nun zieht sie sich im Interesse der „weltweiten Stabilität“, die der Kreml anstrebt, von allen Formen der revolutionären Aktivität zurück.

Der Bankrott des Stalinismus und der Sozialdemokratie hat das Leben des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus in weiten Teilen der halbkolonialen Arbeiterklasse verlängert. Trotz ihrer gelegentlichen Fähigkeit, radikaler zu sprechen und zu handeln als die Arbeiterparteien, bleiben die nationalistischen Massenbewegungen und -parteien unfähig, die Misere der Arbeiter und Bauern zu lösen. Garcias APRA in Peru, die mexikanische PRI, die FSLN in Nicaragua, die PLO in Palästina und Sinn Fein in Irland bleiben alle strategisch an den Kapitalismus gebunden. Ihre Widerstandsaktionen werden nur so lange durchgeführt, als die Arbeiterklasse als unabhängige Kraft vom Kampf fern bleibt. Einmal herausgefordert durch die ausgeprägten Forderungen der Ausgebeuteten, werden diese „Antiimperialisten“ zu getreuen Verteidigern des Imperialismus.

Sofern nicht eine revolutionäre Partei all diese Kräfte aus der Führung der Arbeiterklasse hinauswerfen kann, drohen sie, ihre Fehler in den mächtigen Klassenkämpfen, die vor uns liegen, zu wiederholen. Um dies zu verhindern, ist es entscheidend, daß sich die bewußte Avantgarde der Arbeiter und armen Bauern in dem Zeitraum, der vom zwanzigsten Jahrhundert noch übrig bleibt, weltweit um ein internationales Übergangsprogramm neugruppiert.