Gegen die kapitalistische Restauration! Für die proletarische politische Revolution!

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 5, Neufassung angenommen am 3. Kongress der LRKI, Sommer 1994

Trotz der schon fast ein halbes Jahrhundert alten Rivalität zwischen UdSSR und USA fungierte die Sowjetunion als eine der beiden Zentralsäulen der imperialistischen Weltordnung.

Von 1945 bis 1991 haben sich der Kreml, seine Satelliten und tatsächlich auch seine stalinistischen Nebenbuhler als Agenten zur Verhinderung und Ablenkung der Entwicklung einer weltrevolutionären Woge betätigt, die in der Lage gewesen wäre, den Imperialismus zu isolieren und schließlich zu besiegen. Die begrenzten Kriege mit dem Imperialismus in Korea und Vietnam, die logistische Unterstützung für verschiedene nationale Befreiungskämpfe durch stalinistische Staaten und insbesondere der Sturz des Kapitalismus von China bis Kuba durch stalinistische Parteien verbargen die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus vor Millionen Menschen. Heute erscheint der Zusammenbruch der UdSSR vielen, die weltweit gegen Imperialismus und Kapitalismus kämpfen, als eine absolute Katastrophe.

Der Kollaps der UdSSR und anderer degenerierter Arbeiterstaaten stellt einen enormen materiellen und moralischen Sieg für den Imperialismus dar. Aber der Sieg ist voller Widersprüche. Ihm wohnt nicht nur die Fast-Vernichtung der historischen ökonomischen Errungenschaft der Oktoberrevolution inne, sondern auch die Zerstörung einer konterrevolutionären Agentur des Imperialismus in den Bewegungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten auf dem Erdball. Die konterrevolutionären Konsequenzen des imperialistischen Sieges sind unmittelbar und augenfällig. Im kommenden Jahrzehnt aber wird er sich gnadenlos als Pyrrhussieg erweisen. Die Krise, die wir gerade im Prozeß der Restauration des Kapitalismus erfahren, trägt stark zur Vertiefung der allgemeinen Krisenperiode bei, die das Ende des 20.Jahrhunderts charakterisiert.

Nach 1945 stieg das Ansehen des Kreml durch seinen Sieg über den deutschen Imperialismus und seine darauffolgende territoriale Ausweitung nach Ost- und Zentraleuropa enorm an. Die wesentliche Rolle der Planwirtschaft – einer Schlüsselerrungenschaft der Oktoberrevolution – beim Erringen des Sieges der UdSSR als auch beim Überleben und Wiederaufbau nach dem Krieg waren die materiellen Vorbedingungen für die Schaffung einer Reihe von neuen degenerierten Arbeiterstaaten, von politischen und ökonomischen Abbildern der Sowjetunion. Die bloße Existenz der UdSSR und die Verteidigungsmanöver der stalinistischen Bürokratie gegen den Imperialismus in der ersten Periode des Kalten Krieges führten zur Niederlage und zum Sturz einer Reihe von geschwächten Kapitalistenklassen in Osteuropa und später in der kolonialen und halbkolonialen Welt.

Dieser Sturz des Kapitalismus wurde entweder herbeigeführt durch die Agentur der Sowjet-Streitkräfte oder durch stalinistische Parteien bzw. Guerrillatruppen unter ihrer Führung. Im Fall Kubas assimilierte sich eine kleinbürgerlich nationalistische Bewegung an den Stalinismus und verwandelte die Insel in einen degenerierten Arbeiterstaat. Unter stalinistischer Kontrolle führten diese Siege über den Kapitalismus nicht in einer internationalen Ausbreitung der proletarischen Revolution, sondern vielmehr zur Etablierung eines relativ stabilen Kräftegleichgewichts zwischen UdSSR und Imperialismus. Die stalinistischen Parteien waren der Garant dafür, daß alle Elemente unabhängiger Arbeiterklassenorganisierung noch vor der Zerstörung des Kapitalismus liquidiert wurden. Für das Weltproletariat waren die Konsequenzen der sozialen Umbrüche im gesamten konterrevolutionär.

Tempo und Umstände dieser bürokratischen gesellschaftlichen Umwälzungen variierten notwendigerweise, doch trugen sie eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen: Jedesmal kamen stalinistische Parteien oder proto-stalinistische nationale Befreiungsbewegungen an die Führung mächtiger Streitkräfte im Kampf gegen Faschismus und Imperialismus. Die Waffenträger des bürgerlichen Staates wurden besiegt und durch die stalinistischen Kräfte aufgelöst. Die Bourgeoisie wurde ihrer politischen Macht völlig oder größtenteils beraubt.

Nach der Machtübernahme schritten die Stalinisten zur Zerschlagung aller unabhängiger Arbeiterorganisationen und verhinderten die Bildung von gesunden Arbeiterstaaten, die auf Arbeiterdemokratie fußen. Damit sicherten sie die Etablierung politischer Regimes, die mit der bürokratischen Tyrannei Stalins in der UdSSR ident waren.

Trotz weitreichender Nationalisierungen der Industrie und Enteignungen des halbfeudalen Grundbesitzes fand ursprünglich keine systematische Enteignung der gesamten Bourgeoisie statt. Getreu ihrem konterre volutionären Etappenprogramm hegten die Stalinisten ursprünglich nicht die Absicht, den Kapitalismus zu stürzen, sondern gedachten ihn über die offene oder versteckte Volksfront – einem Bündnis mit der nationalen oder lokalen Bourgeoisie – und durch den Versuch, Bündnisse mit den imperialistischen Mächten aufrecht zu halten. Die ‚Volksdemokratien‘ waren keineswegs als ’sozialistische‘ Staaten angelegt.

Während dieser Phase verhinderten die Stalinisten aktiv jeden Versuch der Arbeiterklasse selbst, der tatsächlich daniederliegenden Bourgeoisie die Macht zu entreißen. In Osteuropa liquidierten die sowjetischen Besatzungsbehörden systematisch die revolutionäre Vorhut der Arbeiterklasse und wirklich alle unabhängigen politischen Parteien, Gewerkschaften Fabrikkomitees oder sowjetähnlichen Organe. Sie verteidigten die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und versuchten sie andererseits durch Nationalisierungen, gemischte Unternehmen usw. für den Wiederaufbau der Sowjetwirtschaft auszunützen.

Die Armee des bürgerlichen Staates wurde von den stalinistischen Kräften besiegt und zerschlagen. Dennoch waren die Folgestaaten ursprünglich keine Arbeiterstaaten. Es lag in der Absicht des Stalinismus, weiter die Existenz des Kapitalismus zu bewahren und das taten sie auch. Stalins Ziel war die absolute Unterordnung dieser Staaten unter die UdSSR und sie als Pufferzone oder eine Art Verteidigungsglacis zu verwenden. Die stalinistische Bürokratie führte vorbeugend eine bürokratische Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse und die arme Bauernschaft durch und erstickte die heraufziehende revolutionäre Situation, die der Zusammenbruch der Nazi-Macht schuf. Hierbei konnten sich die Stalinisten der aktiven Assistenz der einheimischen Bourgeoisie und der imperialistischen Mächte gewiß sein. Auf die Art etablierte sich eine Form von Doppelmacht, wobei der bewaffnete Arm der Stalinisten die der Bourgeoisie ersetzte.

Diese Situation war nicht von langer Dauer und konnte es auch nicht sein. Die Brechung der revolutionären Nachkriegswelle und die Zerschlagung jeglicher unabhängiger proletarischer Klassenkräfte durch die Stalinisten mußte den Imperialismus und die verbliebenen bürgerlichen Kräfte in Osteuropa zur neuerlichen Offensive ermuntern. Der fortwährende Druck der stalinistischen Verbände auf dem Balkan (ohne Stalins Billigung) und die Unfähigkeit des britischen Imperialismus, sie ohne Beistand zu bekämpfen, lieferte der neuen US-Administration einen Vorwand für eine ökonomische und militärische Kampagne zur Stärkung der bürgerlichen Staaten des Kontinents.

Truman setzte den Marshall-Plan als Zuckerbrot und die Rückkehr großer US-Truppenteile als Peitsche ein, um jeden weiteren Erfolg der Stalinisten zu verhindern und eine Gegenoffensive in Mittel- und Osteuropa zu begünstigen. Aber die ersten Versuche der lokalen bürgerlichen Kräfte Osteuropas, die Widersprüche von Doppelmacht und Volksfrontregierungen zu nutzen, um Druck auf die Stalinisten zu machen, die Marshall-Hilfe anzunehmen oder ihren Zugriff auf die Armee zu lockern, rief einen Defensivreflex hervor, der sich fatal auf das Schicksal des Kapitalismus in Osteuropa auswirkte.

Nun nutzten die Stalinisten ihre Kontrolle über den staatlichen Unterdrückungsapparat und beseitigten die Gefahr von Imperialismus und dessen einheimischen bürgerlichen Agenten. Sie warfen die bürgerlichen Vertreter aus der Regierung und enteigneten die ganze Kapitalistenklasse. Die stalinistischenÜbergangsregierungen, die die bürokratischen Gesellschaftsumwandlungen dürchführten, können am besten als „bürokratisch-antikapitalistische“ Varianten der „Arbeiterregierung“-Kategorie bezeichtnet werden, wie sie von der Komintern beschrieben wurden. Durch eine Anzahl bürokratischer und militärischer Maßnahmen wurde das kapitalistische System entwurzelt. Industrie und Land wurden nationalisiert und ein System bürokratischer Befehlsplanung nach dem Vorbild der UdSSR wurde eingeführt.

Diese bürokratische Umwälzung zerstörte den Kapitalismus, mündete aber nicht in der Schaffung eines gesunden Arbeiterstaates, weil die Arbeiterklasse als unabhängige und bewußte Kraft von der Revolution der Eigentumsverhältnisse ausgeschlossen wurde. Für wirklich revolutionäre Kommunisten (Trotzkisten) sind das Bewußtsein, die Kampfkraft und die revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse selbst entscheidend für die Durchführung der echten proletarischen Revolutionen. Hätte es die Möglichkeit gegeben, so wären begrenzte Einheitsfronten der revolutionären proletarischen Kräfte mit den stalinistischen Parteien und Regimen im Verlauf der bürokratischen Revolutionen erlaubt gewesen. Doch das strategische Ziel von Trotzkisten hätte die Brechung der stalinistischen Kontrolle über die Zerstörung des Kapitalismus, der Kampf für echte Organe der Arbeiterdemokratie und die Erzwingung des Abzugs der Roten Armee aus Osteuropa sein müssen. Nur so hätte der Weg zum sozialistischen Übergang geöffnet werden können, anstatt von Beginn an blockiert zu sein.

Die bürokratische Sozialrevolution war trotz der Enteignung der Produktionsmittel der Bourgeoisie in der Essenz ein konterrevolutionärer Akt. Sie spielte sich gegen den Rhythmus und Strom des Klassenkampfs ab. Sie konnte nur stattfinden, weil Arbeiterklasse und Bourgeoisie zuvor entwaffnet worden waren und die Staatsgewalt in Händen der Stalinisten lag. Nichtsdestotrotz bedeutete die Enteignung der gesamten Kapitalistenklasse und die Unterdrückung der Wirkweise des Wertgesetzes, daß der Staat proletarische Eigentumsverhältnisse verteidigte, obschon von einer totalitären Bürokratie kontrolliert. So waren diese Staaten wie die UdSSR, von deren Agenten sie direkt oder indirekt geschaffen worden waren, degenerierte Arbeiterstaaten. Im Gegensatz zur UdSSR waren sie nie gesunde Arbeiterstaaten, gestützt auf die Macht von Arbeiterräten. Sie hatten keinen Degenerationsprozeß aus einem einstmals gesunden Arbeiterstaat durchlaufen – sie waren von Beginn an degeneriert.

Während der Etablierungsphase dieser Staaten verhinderten die stalinistischen Regierungen unabhängige Arbeitermobilisierungen. Diese hätten den Schwung des Siegs über die Bourgeoisie ausnützen können, um die politische Diktatur und die schmarotzerhaften Privilegien der Stalinisten anzugreifen und damit eine politisch revolutionäre Krise heraufzubeschwören, in der die Staatsmacht der Arbeiterräte als Alternative zur totalitären Diktatur aufgeworfen worden wäre. Die Umstürze wurden von den stalinistischen Kräften durchgeführt als Schutzreaktion gegen den Imperialismus und als vorbeugende Maßnahme gegen eine proletarische soziale Revolution. So gesehen waren die bürokratischen sozialen Umwälzungen zugleich politische Konterrevolutionen gegen das Proletariat. Ihr Ergebnis war die Blockade des Übergangs zum Sozialismus, der Versuch, die reaktionäre Utopie vom ‚Sozialismus in einem Land‘ anstelle einer internationalen Revolution zu verwirklichen. Dies war konterrevolutionär vom Standpunkt der historischen und strategischen Ziele des Proletariats.

In Kuba spielte die Bewegung des 26.Juli um die Caudillofigur F. Castro die Schlüsselrolle in einem im wesentlichen ähnlichen, bürokratischen Sturz des Kapitalismus. Sie war eine Volksfront mit bürgerlich nationalistischem und linksstalinistischem Flügel. Auf dem Weg zur Macht und im ersten Regierungsstadium blieben ihre allgemeine Taktik und Programm die eines kleinbürgerlich revolutionären Nationalismus. Die unerbitterliche Feindschaft der USA gegenüber ihrem Sieg und ihren Angriffen auf US-Investitionen in Kuba leiteten Mitte 1960 eine Gegenoffensive der kubanischen Bourgeoisie ein. Dies zwang Castro an die Seite der Linksstalinisten in der Bewegung, zum Versuch, sich mit der kubanischen kommunistischen Partei zu verbünden und später zu verschmelzen und massive Wirtschafts- und Militärhilfe von der Kremlbürokratie zu erhalten. Diese unterstützte die Entwicklung aus ihren eigenen militärstrategischen Erwägungen (Stationierung von Nuklearraketen) als auch um ihren ideologischen Einfluß in der Dritten Welt auszudehnen. Von Mitte 1960 bis Anfang 1962 enteignete eine bürokratisch-antikapitalistische Arbeiterregierung die einheimisch-kubanische Bourgeoisie und die imperialistischen Liegenschaften, institutionalisierte einen bürokratischen Plan und errichtete einen degenerierten Arbeiterstaat.

Obwohl die degenerierten Arbeiterstaaten den konterrevolutionären Charakter der UdSSR tragen, sind sie nicht in gleicher Weise entstanden. In der UdSSR wuchsen die anfänglichen bürokratischen Deformationen in einem gesunden Arbeiterstaat, bis ein qualitativer Sprung, der Sowjet-Thermidor (politische Konterrevolution), den Staat in einen degenerierten Arbeiterstaat umwandelte. Die anderen Staaten wurden demgegenüber als Duplikate der UdSSR gebildet, sie waren von Beginn an degeneriert. Das Programm der politischen Revolution, wie es von trotzki als die einzige proletarische Strategie gegen die bürokratische Diktatur Stalins entwickelt worden war, war demzufolge auf diese Staaten schon seit ihrer Errichtung anwendbar. Wie in der UdSSR haben die Bürokratien dieser Staaten beständig und überall im Sinne einer Zurückhaltung und Ablenkung von antikapitalistischen und antiimperialistischen Kämpfen gehandelt. Ihr strategisches Ziel war die friedliche Koexistenz mit dem Imperialismus.

Der Stalinismus engte die Planwirtschaft auf die jeweiligen Landesgrenzen ein. Er verhinderte aktiv die Ausbreitung der proletarischen Revolution auf wirtschaftlich entwickeltere Regionen. Er schnitt die Ökonomien der degenerierten Arbeiterstaaten von den Vorteilen eines Zugangs zur höchsten Konzentration an Produktionsmitteln und von der Integration in die internationale Arbeitsteilung ab. Das Außenhandelsmonopol gewährt einen unverzichtbaren Schutz für den Arbeiterstaat gegen Konkurrenz durch billigere kapitalistische Güter. Aber das Ziel dieses Monopols ist nicht, alle agrarischen und industriellen Sektoren innerhalb der Grenzen eines jeden Arbeiterstaats einzurichten, die es im Rest der Welt gibt. Dieser Weg erwies sich als utopisch (z.B. Nordkorea und Albanien) und führte zu unnötigen und unnützen Opfern, die von der Arbeiterklasse in diesen Ländern mit einer Planwirtschaft erbracht wurden. Nur die Ausbreitung der sozialen Revolution in die Metropolen des Weltkapitalismus wird einen entscheidenden Durchbruch zum Aufbau des Sozialismus und einer globalen Planwirtschaft bringen. Das beschränkte, nationalistische Programm des „Sozialismus in einem Land“ ließ die Entwicklung der Produktivkräfte zurückbleiben – zuerst relativ, doch schließlich absolut.

Gerade die Unterdrückung der Arbeiterdemokratie sorgte dafür, daß der Plan der stalinistischen Bürokratie schlecht informiert war und die Bedürfnisse der Gesellschaft und der tatsächlichen Wirtschaft ignorierte. Die bürokratische Planung erzielte in den ersten Jahrzehnten einige Erfolge, als sie v.a. eine Angelegenheit der industriellen Ausweitung war. Zunehmend aber überstiegen Innovation und ständige technologische Erneuerung die Fähigkeiten bürokratischer Planung. Die herrschende Kaste hatte den dynamischen Quell der Konkurrenz abgeschafft und war zugleich unfähig und nicht bereit, die unmittelbaren Produzenten mit ihrem schöpferischen Eigeninteresse am Planungsprozeß teilnehmen zu lassen. Das Ergebnis war ein unvermeidbarer Fall der Arbeitsproduktivität und ein weiteres verheerendes Zurückbleiben hinter dem imperialistischen Kapitalismus.

Die Bürokratien verstanden es, wirtschaftliche Ressourcen für den eigenen üppigen Konsumbedarf und zur Absicherung ihrer Tyrannei einzusetzen. Je weiter Produktions- und Verteilungssektoren von diesen Prioritäten entfernt waren, desto mehr wurden Mängel und schlechtere Warenqualität zur Norm. Der Militär- und Verteidigungssektor einschließlich des riesigen Polizeiapparates genossen absoluten Vorrang, was Ausgaben anbelangte, und arbeiteten relativ effizient. Aber betreffs der Konsumbedürfnisse der Massen erwiesen sich die bürokratischen Planmechanismen als unfähig, hochwertige und massenhafte Güter herzustellen, die Arbeit zuhause oder in der Produktion zu erleichtern oder zu verkürzen und das Ausmaß und die Qualität der Freizeit zu steigern. Nach erstaunlichen Anfangserfolgen in Erziehung und Wohlfahrt wurden selbst sie Opfer der Stagnation bürokratischer Planung. Die Erfahrung von Versagen und Niedergang untergrub letztenendes national wie international selbst die Idee der ‚geplanten‘ Produktion im Bewußtsein der Arbeiterklasse. Die bürgerliche Propaganda konnte immer erfolgreicher die ‚Lehre‘ verbreiten, daß dies das notwendige Resultat aller Versuche, eine Wirtschaft zu planen, sei.

Aber die stalinistische Bürokratie war und ist kein Ausdruck der Planlogik selbst. Effektive Planung setzt die Kontrolle über die Produktion durch den zentralisierten und bewußten Willen der Produzenten selber voraus. Die Ziele der stalinistischen Kommandoplanung wurden durch einen winzigen Kern von Planern abgesteckt, die ihnen wiederum von einer bonapartistischen Clique von Spitzenbürokraten vorgeschrieben wurden. Die Wirkweise des Plans wurde wiederholt aus dem Gleichgewicht gebracht und unterbrochen durch rivalisierende Schichten von Partei und Wirtschaftsbürokratie. Die atomisierten und entfremdeten Arbeitskräfte, die weder über die Planziele entschieden noch sie verstanden, traten der Produktion zusehends mit Apathie entgegen. Eine chronische Stagnation steuerte in den 1980er Jahren auf eine kritische Lage zu und stürzte die herrschenden Bürokratien in immer tiefere politische Krisen.

Von Moskau bis Peking, von Belgrad bis Hanoi war die herrschende Kaste in einander befehdende Fraktionen gespalten. Alle Versuche, ihr System durch Beimengungen von ‚Marktelementen‘ und den sogenannten Marktsozialismus wiederzubeleben, waren zum Scheitern verurteilt; diese Maßnahmen zerrissen und desorganisierten den bürokratischen Plan, ohne ihn durch eine wirklich kapitalisische Ökonomie zu ersetzen, zunächst in Ungarn und Jugoslawien, am spektakulärsten dann unter Gorbatschow in der UdSSR. Die Zersetzung und der Zusammenbruch der Produktion, ein blühender Schwarzmarkt und Korruption, gigantische Budgetdefizite und Unternehmensbankrotte, aufgeschoben nur durch Hyperinflation, markieren die schreckliche und letzte Todesagonie der bürokratischen Planwirtschaft.

Für die Arbeiterklasse ist der Zweck der postkapitalistischen Eigentumsverhältnisse der Übergang zu einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Sie ermöglichen die Planung der Produktion nach menschlichen Bedürfnissen, das Ende von Unterdrückung und die fortschreitende Beseitigung von Ungleichheiten. Dies zu erreichen erfordert die aktive und bewußte Teilnahme der Arbeiter als Produzenten und Konsumenten. Planung erfordert die Souveränität der unmittelbaren Produzenten, die – erstmals in der Geschichte – ein eigenes unmittelbares Interesse sowohl an der Entwicklung der Produktivkräfte als auch an deren schöpferischer Anwendung haben.

Arbeiterstaaten müssen einen Weg zunehmender ökonomischer Integration und gemeinsamer Planung einschlagen, um von der internationalen Arbeitsteilung, die selbst für eine sozialistische Ökonomie notwendig ist, den effektivsten Gebrauch zu machen. Die stalinistischen Bürokratien waren nicht fähig, diese Vorteile zu nutzen. Der erste Schritt eines gesunden Arbeiterstaats in diese Richtung würde die Errichtung von gemeinsamen Planungseinrichtungen für wichtige Branchen und gemeinsame Pläne für eine Gruppe von Staaten verbunden mit einer gemeinsamen Währung. Ein solches System kann nur durch die revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse selber, die ihre Ziele bewußt verfolgt, ins Werk gesetzt werden. Obwohl sich die bürokratische Planung überall im Todeskampf befindet, hat der Kapitalismus des ausgehenden 20.Jahrhunderts keine Fähhigkeit gezeigt, schnell einzuspringen und den Restaurationsprozeß zu finanzieren. Eine ausgedehnte Krisenperiode, in der das todgeweihte, seiner zentralen Schaltstelle beraubte Plansystem den endgültigen Triumph des Wertgesetzes behindert, eröffnet der Arbeiterklasse die Möglichkeit, die Illusionen in den Markt abzustreifen und das Programm des demokratischen Plans und der Rätedemokratie wiederzuentdecken.

Die stalinistischen Bürokratien sind historisch illegitime Kasten ohne Anrecht auf Privilegien. Von ihrer Entstehung an neigten sie zur Herausbildung von Fraktionen und Flügeln als Antwort auf den langfristigen Druck seitens des Imperialismus und der Arbeiterklasse. In UdSSR, Ungarn, Jugoslawien und China entwickelten sich Fraktionen, die allmählich dominanter wurden, und den Plan insgesamt demontieren und Preise, Löhne und Produktion durch ‚Marktmechanismen‘ bestimmen lassen wollten. Sie versuchten, den Soziallohn in Form der subventionierten Lebensmittel, Sozialdienste und Annehmlichkeiten, die den Arbeitern als Ergebnis der Beseitigung des Kapitalismus zugute kamen, abzuschaffen.

Diese Anwälte der Dezentralisierung, des freien Marktes und der Öffnung ihrer Ökonomien für die imperialistischen multinationalen Konzerne legten eine immer offener restaurationistische Haltung an den Tag und verzweifelten nicht nur an der bürokratischen Zentralplanung, sondern auch an der Fähigkeit ihrer Kaste, sich an der Macht zu halten.

Diese Fraktion war mit der Direktorenschicht eng verwoben und erhoffte sich eine Etablierung als direkte Agenten, wenn nicht gar Mitglieder einer neuen Kapitalistenklasse. Solche bewußten Restaurationisten waren, wie die Ereignisse in der UdSSR nach 1990-1991 zeigten, mit bemerkenswerter Geschwindigkeit imstande, ihr stalinistisches Hemd gegen sozialdemokratische, liberale, christdemokratische oder protofaschistische Farben einzutauschen.

In den späten 30er Jahren erwartete Trotzki, ein kleiner revolutionärer Kern würde aus den Reihen der Bürokratie kommen und sich mit der Arbeiterklasse in einer politischen Revolution verbünden. Er traute dieser Fraktion aber keine unabhängige geschweige denn führende Rolle in der Revolution zu. Fünfzig Jahre später in der Todeskrise des Stalinismus ist diese Fraktion nicht aufgetaucht; ihr Entstehen war und ist auch nicht zwingend.

1938 konnte Trotzki auf Ignaz Reiß verweisen, der 1937 vom KGB zur 4. Internationale gestoßen war. Für Trotzki repräsentierte Reiß einen solche Flügel der Bürokratie. Als anderes Extrem konnte er Fjodor Butenko als Repräsentanten des faschistisch-restaurationistischen Flügel der Bürokratie anführen, einen Sowjetdiplomaten bei der Botschaft in Rumänien, der 1938 zu Mussolini überlief. Trotzki sah bei der Mehrheit der Bürokratie unter Stalin den Versuch, durch immer wildere totalitäre Maßnahmen einer Zerschmetterung durch Restauration oder proletarische politische Revolution zu entgehen. Während sich Stalin seiner Einschätzung nach immer näher auf das restaurative Lager (in seiner faschistischen Form) zubewegte, schloß Trotzki nicht aus, daß Stalin und seine Fraktion einem offen restaurationistischen Angriff widerstehen könnten, Unter solchen Bedingungen sah Trotzki eine Notwendigkeit für revolutionäre Kommunisten, eine beschränkte militärische Einheitsfront zur Verteidigung der UdSSR zu bilden.

Die letztgenannte Perspektive erwies sich als richtig. Nach Trotzkis Ermordung wurde die defensive Einheitsfront zur Notwendigkeit, als der deutsche Inperialismus im Zweiten Weltkrieg in der UdSSR einmarschierte.

Durch den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wurde die Todesagonie des Stalinismus um 40 Jahre hinausgeschoben. Die fraktionellen Konstellationen in der Kremlbürokratie und den anderen Arbeiterstaaten änderten sich in dieser Periode von Grund auf.

Der Triumph der imperialistischen Demokratien im Krieg und die nach dem Krieg stattfindende, drei Jahrzehnte andauernde Ausdehnung der Produktivkräfte hauchte dem liberalen freien Marktkapitalismus neues Leben ein. Dies übte wiederum einen veränderten Druck auf die Bürokratien der UdSSR und der neuen degenerierten Arbeiterstaaten aus. Das Verstreichen vieler Jahre und die Zerstörung der revolutionären Generation 1917-1923, die revolutionäre Führungskrise und die Zerstörung von Trotzkis 4. Internatio nale Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre trugen zum Verschwinden der „Reiß-Fraktion“ bei. Nur eine teifgehende Entwicklung von unabhängigen Klassenorganisationen in einer revolutionären Krise und das Wiedererstehen einer bedeutenden internationalen revolutionären Kraft könnten zum Wiederauftauchen eines solchen Flügels in der Bürokratie führen, aber eine solche Entwicklung ist nicht, und war es auch für Trotzki nicht, ein wesentlicher Bestandteil von Perspektiven oder Programm der politischen Revolution.

Die mehrheitliche Fraktion der Bürokratie in der Todeskrise des Stalinismus nach 1985 wurde vom marktsozialistischen Flügel gestellt. Zur gleichen Zeit wurden offen restaurationistische Kräfte innerhalb und außerhalb der Bürokratie immer stärker. Gorbatschow, der Elemente des Bucharinismus wiederholte, strebte nicht die Restauration des Kapitalismus an. Vielmehr versuchte er am Beginn, die Marktmechanismen zu benutzen, um die Diktatur der Bürokratenkaste auf der Grundlage der nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse abzustützen. Aber seine Maßnahmen und die Allianz mit offen restaurationistischen Kräften zerbrachen letztenendes die bürokratische Diktatur und schuf eine Doppelmachtsituation mit der alten Bürokratie. In den letzten beiden Jahren war Gorbatschow gezwungen, sich immer mehr über die gespaltenen Lager zu erheben und einer schwachen Form von Bonapartismus Raum zu geben. Da er nur über ein utopisches, undurchführbares wirtschaftliches und politisches Programm verfügte, wand sich Gorbatschows Bonapartismus zwischen den beiden Lagern und verwendete die Stärke des einen Lagers, um den Druck des anderen aushalten zu können.

Schließlich begingen die Spitzen der KPdSU-Parteibürokratie und der inneren Sicherheit im August 1991 einen mißlungenen Putschversuch, um den Aufstieg der offen pro-imperialistischen und zur Auflösung der UdSSR bereiten Kompradorenkräfte unter Jelzin zu vereiteln. Der fehlgeschlagene Putsch enthüllte deutlich den Mangel an einer soliden sozialen Basis für die konservative Bürokratie in der Bevölkerung, aber ebenso einen mangelnden Glauben an die eigene Mission auf Seiten der Hardliner in der Bürokratie. Als Folge dieses Fehlschlags beerbte Jelzin die Gorbatschowsche Exekutiv- und Präsidialmaschinerie, stärkte deren Macht und benutzte sie im Dienst einer restaurativen Wirtschaftspolitik mit Blitzschocktherapie. Aber das Scheitern des Putschversuches und Jelzins Übernahme der Exekutive lösten die Doppelmacht zwischen den rivalisierenden Sektionen der Bürokratie nicht auf, sondern verschärften den Widerspruch nur und brachten die Fraktionen in direkten Konflikt miteinander ohne die Bremsung durch Gorbatschows Bonapartismus.

In den degenerierten Arbeiterstaaten Osteuropas wirkte die Gorbatschow-Politik nach 1985 wie ein Katalysator und beschleunigte die Entwicklungen in der Ökonomie und brachte die entscheidende Auseinandersetzung zwischen konservativen Bürokraten und bürgerlichen Restaurationisten immer näher. 1989 signalisierte Gorbatschow, daß die in Osteuropa stationierten, sowjetischen Streitkräfte die nationalen Bürokratien nicht vor heimischem Protest und Forderungen nach radikalen Reformen schützen würde. Der rasche Aufschwung der undifferenzierten „demokratischen“ Massenbewegungen stellte eine solide Grundlage für die demokratische Intelligenz und den Marktflügel der Bürokratie her – soziale Schichten, die in Osteuropa weit größer waren als in der UdSSR. 1989/1990 zerbröckelten der Parteiapparat, die Geheimpolizei und die Streitkräfte in ganz Osteuropa angesichts des Massenprotests. Zwischen 1989 und 1991 brachten Parlamentswahlen Regierungen an die Macht, die sich aus bürgerlichen Kräften oder Parteien, klassenübergreifenden Volksfrontregierungen oder Reformflügeln der stalinistischen Parteien (wie in Rumänien oder Bulgarien) zusammensetzten. Dieser Prozeß schloß die Lostrennung der baltischen Republiken von der UdSSR mit ein. Die einzige Ausnahme bildete Serbien. Im Gegensatz zu Rußland war die Doppelmacht und der Zerfall des staatlichen Überbaus nicht von langer Dauer. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion lag der Grund für den sich länger hinziehenden Restaurationsprozeß ausschließlich in den objektiven ökonomischen Schwierigkeiten bei der Umwandlung der wesentlichen Produktionsmittel in Kapital.

In China hat Deng Xiaoping – im Gegensatz zu Gorbatschows Strategie, Umstrukturierung (Perestroika) mit Öffnung (Glasnost) und schließlich Demokratisierung zu verbinden – versucht, radikale Marktreformen mit entschiedener Verteidigung der Parteidiktatur zu verbinden und dabei zu blutiger Unterdrückung am Platz des himmlischen Friedens gegriffen. Die chinesische Bürokratie hat eine kurzfristige Chance für dieses Amalgam; Polizeidiktatur für die Arbeiter und die städtische Intelligenz einerseits, ein fast freier Markt für die Bauernschaft sowie enorme Zugeständnisse an den Kapitalismus in besonderen Wirtschaftszonen andererseits. Die historische Gegebenheit, die diese Chance hervorbrachte, ist die Riesengröße und das soziale Gewicht von Chinas Bauernschaft und ihre Rolle nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Kasernen. Deng hat einen fast völlige Marktwirtschaft gestattet, um das Land zu entwickeln. Seine Fraktion hat für eine begrenzte Zeit die passive oder sogar aktive Unterstützung der Bauern erkauft und dadurch den historischen Grundstein für den Bonapartismus gelegt. Aber die ganze Logik des raschen Wachstums der Marktkräfte im ländlichen China und in den Sonderzonen wird auf die chinesische Bürokratie Druck ausüben und sie entzweien. Wenn sie sich spaltet und gezwungen ist, ihren gegenseitigen Vernichtungskrieg auf der Straße auszutragen (wie in den 60er und 70er und dann wieder Ende der 80er Jahre), wird China vor der krassen Alternative soziale Konterrevolution oder proletarische politische Revolution stehen. Auch in China wird die revolutionäre Führung der entscheidende Faktor sein, der den Ausgang der Krise bestimmt.

Die Erfahrungen von China, Rußland und den anderen degenerierten Arbeiterstaaten bestätigen, daß nicht alle Befürworter von Schocktherapien und rascher Restauration, die aus der stalinistischen Bürokratie kamen, bürgerliche Demokraten oder Liberalisierer sind.

Ebenso wenig sind die meisten der autoritären bürokratischen Konservativen der Verteidigung der bürokratisch geplanten Eigentumsverhältnisse verbunden. In der UdSSR zum Beispiel hat sich der konservative Flügel der Bürokratie schnell zur großrussisch-chauvinistischen und antisemitischen Kraft gemausert und benutzt populistische und nationalistische Parolen, um die rückständigste Teile der Gesellschaft gegen die demokratischen Rechte der Arbeiter und unterdrückten Minderheiten aufzuwiegeln. Faschistische und vorfaschistische Gruppen mit direkten Verbindungen zum früheren KGB und zur Armee sind entstanden. Gruppen wie Naschi und Schirinowskis Liberal Demokratischen Partei lehnen die Zusammenarbeit mit dem westlichen Imperialismus ab, aber nur deshalb, weil ihr Programm auf die Restauration eines spezifisch russischen Imperialismus abzielt.

Die autoritärsten Elemente in der Bürokratie erkennen in solchem Proto-Faschismus ein Bollwerk gegen die Bedrohung einer proletarischen politischen Revolution und eine mögliche Alternative zur zukünftigen Beherrschung durch ausländisches Kapital. Das Wachstum von faschistischen und halb-faschistischen Kräften spiegelte sich am klarsten im Sieg von Schirinowski bei der Dumawahl vom Dezember 1993 wider. Die zukünftige Entwicklung des Faschismus hängt zum Teil vom Ausmaß der Belebung der Arbeiterbewegung in den kommenden Jahren ab. Wenn der Widerstand der Arbeiterklasse den ökonomischen und politischen Angriffen der Restaurationisten gewachsen ist, steigt die Gefahr einer faschistischen Massenbewegung, die diesen Widerstand zerschlagen könnte. Ein weiterer Faktor, der diese Entwicklung fördert wäre ein Anhalten der Schwäche der russischen embryonalen Bourgeoisie und eine fortdauernde Stagnation des Restaurationsprozesses selbst. Dies könnte jenen Flügel in der Bürokratie fördern, der einen staatskapitalistischen Weg zum Kapitalismus einschlagen will. Um sich eine Massenbasis zu verschaffen, könnten sich diese Kräfte einer Mobilisierung von lumpenproletarischen und kleinbürgerlichen Massen durch chauvinistischen und faschistische Parolen bedienen und sie zur Zerschlagung ihrer Rivalen in der Bürokratie und der Drohung einer Explosion von Widerstand der Arbeiterklasse zu verwenden.

Die restaurationistischen Regierungen erwarten alle Beistand vom Imperialismus. Aber dieser, obwohl er die endgültige und völlige Wiederherstellung des Kapitalismus in den degenerierten Arbeiterstaaten sehnlichst herbeiwünscht, besitzt einfach nicht die Ressourcen, eine rasche Umwandlung frei von revolutionären Krisen zu gewährleisten. Nur in einem Staat, der DDR, war eine solche rapide Restauration möglich, was die stärkste europäische imperialistische Macht gewaltig belastet. Trotz der Errichtung von restaurativen Regierungen gibt es eine ausgedehnte Periode, in dem das Programm der politischen Revolution mit einem antikapitalistischen, antirestaurationistischen Programm verbunden werden kann und muß.

Die verbliebenen Errungenschaften der Arbeiterstaaten müssen bis zum bitteren Ende verteidigt werden, wie schon Leo Trotzki sagte. Nur jene, die fähig sind, die alte Errungenschaften zu verteidigen, werden auch neue schaffen können. Nicht nur die Arbeiterklasse der degenerierten Arbeiterstaaten, sondern die der ganzen Welt wird unter deren völligen Zerstörung leiden. Global würde dies die Arbeiterklasse mindestens für einen bestimmten Zeitraum desorientieren und ideologisch entwaffnen. Außerdem verlieren die anti-imperialistischen Kämpfe der Halbkolonien einen wesentliche, wenn auch letztenendes unzureichende Quelle von Waffen- und Hilfsgüterlieferungen. Der unbeschränkte imperialistische Zugang zu Rohstoffen, billiger Arbeitskraft und Märkten der degenerierten Arbeiterstaaten könnte den Weg für eine neue, wenngleich beschränkte Expansionsperiode in der imperialistischen Epoche eröffnen. Dies könnte nichtsdestotrotz den innerimperialistischen Konkurrenzkampf weiter anheizen und eine Neuaufteilung der Welt beschleunigen. Dieser Prozeß wäre konfliktreich und würde das Gespenst von interimperialistischem Krieg und Revolution aufs Neue heraufbeschwören.

Während sich der bürokratische Plan auflöst. kann nur die proletarische politische Revolution die geplanten Eigentumsverhältnisse verteidigen, wiederherstellen und dann ausdehnen und hierdurch das Wiedererstarken des Imperialismus verhindern.

Das Weltproletariat muß seinen Geschwistern in den degenerierten Arbeiterstaaten Beistand leisten zur Verteidigung der verbliebenen geplanten Eigentumsverhältnisse. Das staatliche Außenhandelsmonopol, die Vergesellschaftung der Industrie und das Planprinzip müssen gegen innere Restauration und imperialistischen Angriff verteidigt werden. Mit diesen wirtschaftlichen Errungenschaften verteidigen wir die Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus, nicht die über sie herrschende Bürokratie.

Gegenwärtig verlassen sich die Imperialisten vornehmlich auf die ökonomischen Hebel für die Durchführung der Restauration des Kapitalismus. Aber jeder Halt, jede ernsthaft Umkehr des Vorgangs der sozialen Konterrevolution könnte zu einer direkten militärischen Intervention führen, um diese Restauration gegen den Widerstand der Arbeiterklasse zu vollenden. Das Weltproletariat muß weiterhin für die bedingungslose Verteidigung der degenerierten Arbeiterstaaten gegen den Imperialismus und seine Agenten eintreten. Deshalb sind wir gegen jede Einschränkung der militärischen Schlagkraft der degenerierten Arbeiterstaaten sowohl atomar wie konventionell, was diese Staaten militärisch oder diplomatisch erpreßbarer machen würde.

Für die Arbeiterklasse ist die beste Verteidigung der geplanten Eigentumsverhältnisse immer noch der Angriff auf die stalinistischen Bürokratien, die sie in den Ruin getrieben haben und dies noch weiter tun. Das Programm für die proletarische politische Revolution, ebenso wie das für den Kampf gegen den Imperialismus, ist keines für die bloße „Demokratisierung“ des existierenden Staates. Es darf auch nicht auf klassenunspezifische Forderungen nach „Volksmacht“ verkürzt werden, die nicht klarstellt, welche Klasse die Macht innehaben soll. Es ist ein Revolutionsprogramm, für die Errichtung einer vollen proletarischen Diktatur und gegen Bürokratie, restaurationistische „Demokraten“ und Imperialisten.

Für eine politische Revolution!

Das Wesen des Programms der politischen Revolution, gleich dem Programm der sozialen Revolution in den kapitalistischen Staaten, liegt in der Verbindung der stattfinden Kämpfe für die unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse mit dem Kampf um die politische Macht. Durch die Verzahnung der unnachgiebigen Verteidigung von Arbeiterinteressen mit den Taktiken der Massenmobilisierung, unabhängiger politischer Organisierung und der Installierung von Arbeiterkontrolle können Revolutionäre die Arbeiterklasse auf die Machtergreifung vorbereiten. In allen Kampfbahnen muß sich das Proletariat seiner besonderen Interessen und Identität bewußt werden, muß zur Klasse für sich werden.

Für unabhängige Organisierung am Arbeitsplatz!

Aufgrund des Wesens der degenerierten Arbeiterstaaten muß jede unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse unmittelbar mit der Macht der bürokratischen Staatsmaschine zusammenstoßen. Gleichgültig, welcher Grund für die Mobilisierung vorliegt, diese Kollision stellt die Arbeiterklasse vor die Notwendigkeit, das Recht auf Organisierung zu erringen. Unabhängige Klassenorganisation und -bewußtsein sind eine Vorbedingung für den Auftritt der Arbeiterinnen und Arbeiter als unabhängige Kraft in den breiten oppositionellen Massenbewegungen gegen den Stalinismus.

Die gesellschaftliche Macht des Proletariats ruht in der Produktion, und die Klasse muß hier organisiert werden. In jedem Betrieb müssen demokratische Massenversammlungen höchste Autorität erhalten. Auf diesen Versammlungen gewählte und abwählbare Arbeiterkomitees müssen sich für Arbeiterkontrolle in jeder betrieblichen Angelegenheit, einschließlich des Streikrechts und des Vetorechts gegen Direktoren- und staatliche Pläne engagieren.

Für freie Gewerkschaften!

Überbetrieblich braucht das Proletariat von den Stalinisten unabhängige Gewerkschaften als zentrales Element bei seiner Organisation als Klasse. Gleich ob sich diese im Gefolge einer durchgreifenden Säuberung der bestehenden ‚Staats’gewerkschaften oder im Kampf neu formieren, sie müssen verantwortlich vor und kontrollierbar von ihren Mitgliedern sein. Alle Gewerkschaftsfunktionäre müssen gewählt und abwählbar sein, frei von der „führenden Rolle der Partei“, und müssen nach dem Durchschnittsverdienst ihrer Mitglieder entlohnt werden.

Von demokratischen Rechten zu einer wahren Arbeiterdemokratie

In den Auseinandersetzungen, die die Todeskrise des Stalinismus einleiteten, traten die Massen den Kampf gegen die Bürokratie hinter Forderungen nach zentralren demokratischen Rechten an. Die Aufgabe des Aufbaus der revolutionären Partei beinhaltet, die Arbeiterklasse zu drängen, an der Front dieses Kampfes zu stehen, ihn zu führen und revolutionäre und proletarische Organisationsformen zur Durchsetzung der Ziele zu benutzen. Die Arbeiter dürfen der Bürokratie oder einem Flügel davon in diesem Kampf nicht erlauben zu entscheiden, wer Nutznießer demokratischer Rechte sein darf und wer nicht. Die Bürokratie hat sich teilweise oder ganz als Hauptagent der Restauration erwiesen und scheidet auf jeden Fall als vertrauenswürdiger Wächter über die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse aus. Die Bürokratie ist nur so weitan demokratischen Zugeständnissen interessiert als sie selbst braucht, um Koalitionen mit anderen Kräften eingehen und eine neue Ausbeuterklasse werden zu können. Die Arbeiterklasse hat alles Interesse an der vollsten und revolutionärsten Ausweitung der demokratischen Rechte, um obiges Vorhaben zu vereiteln und um die Entfaltung ihres eigenen Klassenbewußtseins zu beschleunigen, d.h. um sie zum Erkennen von Freund und Feind zu befähigen.

Wo die Kommunistischen Parteien immer noch die Medien und die Wahlvorgänge monopolisieren, kämpfen wir dagegen an.

• Nieder mit den Zensurgesetzen der Bürokratie. Die Arbeiter selber sollen darüber entscheiden, was veröffentlicht und gesendet wird.

• Für den Zugang aller Arbeiterorganisationen zu Presse, Rundfunk und Fernsehen unter Arbeiterkontrolle. Die Arbeiter müssen faschistischer, pogromistischer und rassistischer Propaganda ihren eigenen Bann auferlegen. Genausowenig darf es Pressefreiheit oder Zugang zu den Medien für die prorestaurativen Kräfte geben, die den gewaltsamen Sturz des Arbeiterstaates vorbereiten.

• Alle Wahlkandidaten müssen eine Rechenlegung ihrer Wahlkampffinanzierung geben. Die Massen sollten ein Veto einlegen gegen Kandidaten, die heimlich Gelder vom Regime oder konterrevolutionären Agenturen wie CIA, den Kirchen oder reaktionären nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) erhalten.

• Jedes neue Gesetz, das der „reformistische“ Flügel der Bürokratie vorschlägt, muß in freier Aussprache von den Arbeitern diskutiert werden. Jedes Gesetz muß eine gewählte Arbeitergerichte in den Mittelpunkt der Rechtsmaschinerie stellen. Für die Freilassung aller politischen Gefangenen und Vorführung vor ein Arbeitergericht, das darüber entscheidet, was weiter mit ihnen zu geschehen hat.

• Für das Recht, Parteien zu gründen, außer für Faschisten, Pogromisten, Rassisten, jene Restaurationisten (auch jene, die aus der Nomenklatura stammen), die einen Bürgerkrieg organisieren wollen, und jene, denen aus anderen Gründen ein Verbot von der Arbeiterbewegung erteilt worden ist. Wir verteidigen diese Parteien nicht gegen die Verfolgung seitens konservativ stalinistischer Regimes oder bürgerlich restaurativer Regierungen. Aber gleichzeitig sprechen wir solchen Regierungen das Recht ab, darüber zu urteilen, wer konterrevolutionär ist und wer nicht. Nur eine revolutionäre Arbeiterregierung kann das tun. Die Arbeiter selber, nicht die Bürokratie, müssen entscheiden, welche Parteien sie als loyal zur eigenen Staatsmacht anerkennen.

• Wir treten für die Bloßstellung von arbeiterfeindlichen Programmen verwirrten oder versteckt restaurativer Parteien ein und dafür, ihnen durch politischen Kampf eine Massenbasis zu entziehen. Wir sollten für sorgsame Überwachung ihrer Aktivitäten und strenge Vorkehrungen gegen jeden Umsturzversuch wider die proletarische Diktatur eintreten. Für das Recht jeder Gruppe von Arbeitern und Kleinbauern, Kandidaten bei allen Wahlen aufzustellen.

• Für die Zerschlagung des repressiven Staatsapparat der Bürokratie, dem Werkzeug von Tyrannei gegen die Arbeiterklasse und dem Werkzeug, das die Stalinisten zur kapitalistischen Restauration benützen. Dieser Apparat wurde von der Bürokratie nach dem Bild der kapitalistischen Staatsmaschine entworfen. Die politische Revolution muß ihn auf dem Weg zur Schaffung eines gesunden Arbeiterstaates zerschlagen. Für volle politische Rechte von Soldaten, das Recht auf Abhaltung von Versammlungen in den Kasernen, Soldatenräte ohne Kontrolle durch Offiziere und Befehlshaber zu wählen. Für ihr Recht, Zeitungen herauszugeben sowie das Recht auf Zugang zu den Medien. Außerdem sollen alle einfachen Soldaten und Seeleute das Recht auf freie Wahl der Offiziere haben. Für das Recht aller von ihrer Stationierung im Ausland zurückkehrenden Soldaten auf annehmbare, erschwingliche Wohnungen für sich und ihre Familien und auf Umschulung und eine neue Arbeitsstelle nach ihrer Demobilisierung haben.

• Für die Auflösung der Geheimpolizei und die Bestrafung aller, die Verbrechen an der Arbeiterklasse begangen haben. Ein demokratischer Arbeiterstaat braucht keine Geheimpolizei. Den Komplotten der konterrevolutionären Kräfte kann durch Arbeitersicherheitsausschüsse entlang der Linie der revolutionären Tscheka von 1917 begegnet werden. Für die Auflösung des stehenden Heers der Bürokratie und dessen Ersetzung durch eine revolutionäre Arbeiterarmee, die mit den Territorialmilizen der Arbeiter verbunden ist.

Nieder mit Vorrechten und Ungleichheiten!

Eines der frühesten Anzeichen für den Sieg der stalinistischen politischen Konterrevolution in der UdSSR war die arrogante Verurteilung des Gleichheitsgedankens als kleinbürgerliche Abweichung. Aber im Gegenteil der Wunsch nach Gleichheit und der Haß auf Privilegien sind instinktive und grundlegende Bausteine des proletarischen Klassenbewußtseins, wie Trotzki vorhersagte. Auf dem Weg zur endgültige Ausschaltung der Bürokratenherrschaft müssen die Arbeiter für die sofortige Beendigung jeglicher Mißbräuchekämpfen. Sie müssen gegen den grotesk privilegierten Lebensstil der Bürokratie zu Felde ziehen.

• Die Spezialläden müssen schließen, und die bislang der Bürokratie vorbehaltenen Sanatorien, Heilstätten und Freizeitmöglichkeiten müssen den Arbeitern und armen Bauern offenstehen. Partei- oder Staatsfunktionen dürfen nicht länger Zugang zu Privilegien und Luxus bedeuten. Kein Partei- oder Staatsfunktionär darf mehr verdienen als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn. Im Betrieb muß ein Kampf für das Recht der Arbeiter zur Entlassung aller Funktionäre und Manager, die sich der Korruption oder der Verfolgung von Arbeitern schuldig gemacht haben, entfacht werden.

Arbeiterkontrolle über die Produktion und der Plan

Die ökonomischen Entscheidungen in einer Planwirtschaft sind nicht hinter einer Nebelwand von „Marktkräften“ wie unterm Kapitalismus verborgen. Sie sind politische Entscheidungen, die die Bürokratie fällt. Jedes Aufbegehren gegen die Entscheidungen der Bürokratie, egal in welchem Bereich, ist demzufolge zugleich ein Angriff auf das Recht der Bürokratie, den Wirtschaftsplan zu kontrollieren. Da diese Kontrolle Stagnation und Niedergang gebiert, versuchen der Marktflügel der Bürokratie und andere restaurationistische Kräfte, den Arbeiterkampf vom Staat abzulenken, indem die Arbeitern ermuntert werden, „Selbstverwaltung“ ihrer Unternehmen, frei von der bürokratischen Einmischung des Zentralplans zu fordern. Diese Doktrin des „Marktsozialismus“ ist eine reaktionäre Ablenkung, die dazu gedacht ist, die beschränktesten Formen der Betriebsisolationismus zu fördern, das Proletariat als Klassenkraft zu spalten und den Zentralplan selber auszuhebeln. Dagegen müssen Revolutionäre auftreten, damit durch die Forderung nach Arbeiterkontrolle über den Plan jeder Arbeiterkampf zu einem bewußten Affront gegen die Macht der Bürokraten wird.

• Dies muß auf Betriebsebene mit der Öffnung der Bücher für Arbeiterinspektionen beginnen und auf Orts-, Regional- und landesweiter Ebene fortgesetzt werden. Dieser Kampf muß die Arbeiter in den Planungsministerien einbeziehen, um die wirklichen Prioritäten der Sitzen der Bürokratie und ihren Betrug, ihre Korruption und schiere Unfähigkeit zu enthüllen.

Durch die Abwehr der bürokratischen Planung und die Einführung der Klassenprioritäten im Plan schützt die Arbeiterklasse nicht nur ihren Lebensstandard und ihre Lebensbedigungen, sondern bildet die Organisationen, die die Grundlage eines revolutionären Arbeiterstaates darstellen werden. Diese Organisationen sind der Mechanismus, durch den der Arbeiterstaat eine demokratisch zentralisierte Planwirtschaft erreichen wird. Ein isolierter revolutionärer Arbeiterstaat muß mit den Marktkräften leben und sie benützen, aber gleichzeitig danach streben, sie zu überwinden. Fraglos haben Elemente der stalinistischen bürokratischen Ausblendung des Marktes tatsächlich dazu gedient, die Entwicklung von Sektoren der Sowjetwirtschaft zu verzögern. Dies ist nirgends deutlicher geworden als in der Landwirtschaft und bei Massenkonsumgütern. In diesen Bereichen muß unser Programm auf folgenden Elementen aufbauen:

• Nieder mit der Sklaverei von Arbeitern auf staatlichen und kollektivierten landwirtschaftlichen Betrieben. Für kollektivierte Landwirtschaftsbetriebe, die von den Werktätigen selber bewirtschaftet werden. Keine Rückkehr zur privaten Familienklitsche.

• Für die demokratische Reorganisation der Landwirtschaftsbetriebe, die auf der Demokratie der in der Landwirtschaft Tätigen, nicht auf den Launen der Funktionären fußt. Für Landarbeiterräte, deren Repräsentanz nach Arbeitskolonnen festgelegt ist und ihnen unmittelbar verantwortlich sind. Die landwirtschaftliche Erzeugung muß in den landesweiten Produktionsplan eingebaut sein.

• Für eine massive Finanzspritze zur Angleichung des materiellen und kulturellen Niveaus des Landes an das der Städte und damit zur Überwindung der himmelschreienden Unterschiede der Lebensbedingungen von beiden Lebensräumen.

• Gegen alle Reformen, die den Einfluß des imperialistischen Finanzkapitals auf die Ökonomien der Arbeiterstaaten verstärken; gegen die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols, gegen Joint Ventures, wo die Arbeiterrechte im Vergleich zum Standard in den Staatsbetrieben gemindert werden. Wir treten der Unterwerfungspolitik der Bürokratie unter das Diktat des IWF entgegen. Deren verheerende Folgen sind am klarsten schon in Jugoslawien, Polen und Ungarn zu sehen.

• Wir fordern von der Bürokratie die Nichtigkeitserklärung aller Schulden an das internationale Finanzkapital. Ein revolutionäres Arbeiterregime wird entscheiden, welche Verpflichtungen vom Standpunkt revolutionärer Zweckmäßigkeit einzulösen sind. Ein Arbeiterrätestaat wird die ausgebeuteten Massen überall zur Mobilisierung für eine vollständige Zurückweisung aller Außenschulden und die Enteignung der imperialistischen multinationalen Konzerne aufrufen.

Parlamentswahlen und -versammlungen

Die Folge von Jahrzehnten politischer Unterdrückung und ökonomischer Inkompetenz seitens der Bürokratie haben sich weitreichende Illusionen in die bürgerlich parlamentarische Demokratie aufgebaut. Sowohl Bürokratie wie probürgerliche Opposition haben diese Illusionen genutzt, um die Selbstorganisierung der Arbeiterklasse abzublocken und insbesondere die Herausbildung solcher Arbeiterräte zu ersticken, wie sie während der ungarischen Revolution 1956 oder auf niedrigerem Niveau in Polen und Tschechoslowakei in den politisch revolutionären Situationen der 50er und 60er Jahre und 1980-1981 auftauchten. Nur in Rumänien im Aufstand 1989-1990 entstanden embryonale Arbeiterkomitees und spielten eine wichtige Rolle bei den Streiks, die die Ceaucescu-Regierung zu Fall bringen halfen. Anderswo wurden hastig Mehrparteien-Parlamentswahlen anberaumt, um den Weg für die Arbeiterselbstorganisation, direkte Demokratie und für die Beteiligung der Massen an der Politik zu blockeren.

Unser Programm zielt nicht auf die Errichtung bürgerlicher Parlamente in den Arbeiterstaaten. Gewählt durch eine atomisierte Wählerschaft, unfähig, ihre Vertreter zur Rechenschaftslegung anzuhalten, und getrennt von der vollziehenden Gewalt können Parlamente niemals ein angemessener Ausdruck von Arbeitermacht sein. Diese Einrichtungen assistieren direkt den restaurativen Plänen der Bürokratie oder aufkommenden Bourgeoisie. Die parlamentarischen Repräsentanten, die von ihren Wählern nicht abberufen werden können, sind eminent korrumpierbar von den Wohlstands- und Machtträgern. Wenn die herrschende Bürokratie versucht, ihre Herrschaft durch die Implementierung von Parlamentswahlen zu stabilisieren, setzen wir dem die proletarische Demokratie der Arbeiterräte entgegen. Wir wollen ihre Formation als Kampforgane gegen die Bürokratie und als Demokratieorgane eines revolutionären Arbeiterstaates durchsetzen.

Aber wo solche revolutionären Losungen noch keinen Widerhall im Bewußtsein oder Erfahrungsschatz der Massen finden, wäre es eine sektiererische Bankrotterklärung, wollte man sich damit zufrieden geben. Wir müssen jede Chance zur Organisierung der Arbeiterklasse ausloten, damit sie als politisch unabhängige Kraft in die jetzige politische Lage eingreifen kann. Und wenn es – im Gegensatz zu unseren Vorstellungen Parlamentswahlen sind, dann müssen die Arbeiter auch dort kämpfen.

• Wir sind gegen jeden Versuch der Bürokratie, den Wahlvorgang durch Verbote für Kandidatenlisten oder wählbare Parteien zu manipulieren oder zu beschränken. Wir bekämpfen Wahlmanipulationen der Bürokratie. Wir setzen uns für die Prinzipien und gewisse Formen der proletarischen Demokratie ein. Wir kämpfen dafür, daß Arbeiter ihre eigenen Kandidaten aufstellen, die auf Arbeiterversammlungen in Betrieben und Arbeiterbezirken gewählt worden sind. Wir kämpfen dafür daß sie auf einem Arbeiterprogramm stehen gegen Bürokratenherrschaft, Privilegien und alle Formen der Restauration. Dieses kämpferische Aktionsprogramm muß für die Verteidigung der Rechte nationaler Minderheiten, aller Arbeiterrechte und -errungenschaften aufgreifen. Wir kämpfen dafür, daß alle Kandidaten den Arbeiterversammlungen gegenüber Rechenschaft ablegen müssen und nur Bezüge in Höhe des Durchschnittslohn eines Facharbeiters erhalten.

Revolutionäre Kommunisten übernehmen keine Verantwortung für die Form eines bürgerlichen Parlaments in einem Arbeitsstaat. Die Volkskammer ebenso wie der Oberste Sowjet waren Schöpfungen der Stalinisten. Sie haben die eigentlichen Sowjets entweder zerstört oder nicht gewagt, derartiges zu schaffen. Dennoch müssen wir die demokratischen Illusionen der Massen ernsthaft aufgreifen, insbesondere wo die aufkeimenden bürgerlichen Kräfte die „Demokratisierung“ solcher Parlamente zur Schaffung eines permanenten und stabilen Instrumentes für die Restauration des Kapitalismus nutzen wollen. Unser Ziel ist die Verhinderung der Errichtung einer solchen stabilen parlamentarischen Regimes. Wenn die Restaurationisten eine legale und institutionelle Grundlage für die kapitalistische Herrschaft schaffen wollen, durch bonapartistische Plebiszite oder Abstimmungen in bestehenden undemokratischen Versammlungen, wo Arbeiter noch keine Erfahrung mit Sowjets haben oder die Erinnerung daran ausgelöscht worden ist, können und sollen Revolutionäre zur revolutionär demokratischen Forderung nach einer souveränen verfassunggebenden Versammlung zurückkehren. Das ist kein Ruf nach einem Parlament (d.h. permanentem Gesetzgeberorgan, Element der Gewaltenteilung der bürgerlichen Herrschaft), sondern der Versuch, eine Arena zu schaffen, in der sich die Vertretungen der widerstreitenden Klassen treffen und sich um die politische Form und den eigentlichen Klasseninhalt des Staates, wie in der Verfassung niedergelegt, kämpfen. Wir glauben natürlich nicht, daß die Schlacht zwischen Restauration und proletarischer Macht in einer Versammlung entschieden werden kann, aber die versteckten und offenen Agenten der Restauration können dort vor den Augen der Massen bloßgestellt werden.

Unter diesen Verhältnissen ist es die Aufgabe von revolutionäre Kommunisten, zur Vorhut im revolutionär demokratischen Kampf zu werden, um nach Möglichkeit diese Waffe der politischen Demokratie den inkonsequenten (halb-bonapartistischen) bürgerlichen Demokraten zu entwinden. Wir sollten die Losung der verfassungsgebenden Versammlung vorbringen, um die Restaurationisten zu überflügeln, die demokratische Slogans für sich monopolisieren wollen, in Wirklichkeit aber nichts anderes im Schilde führen, als die Macht des Parlaments extrem zu beschneiden und es mit bonapartistischen Kontrollen zu umgeben, falls diese Institution zu sehr unter den Druck der Massen geraten sollte. Wir können diese mit dem Kampf für das revolutionär demokratische Recht auf Abrufbarkeit tun.

• Jeder Abgeordnete muß der sofortigen Abwahl durch die Wählermehrheit unterworfen werden. Wir müssen uns dafür einsetzen, daß der Großteil der Wahlkampagne auf Massenversammlungen in Betrieben stattfindet, wo die Kandidaten mit ihrem Programm auf Herz und Nieren geprüft werden können. Wir müssen für freien und gleichen Zugang zu den Medien für alle Kandidaten außer Faschisten oder gewaltsamen Umstürzlern der Planwirtschaft kämpfen.

Selbstredend kann jede verfassungsgebende Versammlung sich als Moment der Konterrevolution, der Zerstörung der geplanten Eigentumsverhältnisse im Arbeiterstaat entpuppen. In dem Fall müssen wir ihre Absichten vor den Augen der Massen demaskieren und die Arbeiter dazu mobilisieren, die verfassungsgebende Versammlung aufzulösen.

Für Demokratie der Arbeiterräte

Um die Diktatur der Bürokratie zu stürzen, muß sich die Arbeiterklasse eigene Mittel zur Ausübung der Staatmacht suchen. Die im Kampf gegen die Bürokratie entstandenen unabhängigen Organisationen müssen zu echten Arbeiterräten zusammengeschweißt werden. Diese Räte werden den massenhaften Aufstand der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, der ländlichen Armut, und die Zerschlagung der ganzen repressiven Maschinerie des stalinistischen Staatsapparats, dem Mittel zur Aufrechterhaltung der politischen Diktatur der Bürokratie über das Proletariat organisieren. Wie beim bürgerlichen Staat, nach dessen Vorbild er geformt ist, sind die wesentlichen Elemente der stalinistischen Staatsmaschine die ’spezialisierten bewaffneten Organe‘ und ihr Apparat von Spitzeln, Kerkermeistern und Folterknechten. Selbst wo die bürokratische Kaste intern gespalten ist, nutzt sie, solange die vorherrschende Fraktion diesen Apparat kontrolliert, ihn auch zur Verteidigung gegen die aufständischen Massen, wie das Massaker vom Tiananmen-Platz wieder einmal bestätigt hat. Die Speerspitze des Programms der politischen Revolution ist also die Bildung von Arbeiterräten und die Bewaffnung des Proletariats.

Wie die russische Revolution zeigte, ist der Arbeiterrat die Form zur Machtausübung der Arbeiterklasse in einem gesunden Arbeiterstaat. Verankert in den Fabriken, den Arbeiterwohnvierteln und den unterdrückten Schichten der Gesellschaft organisieren die Räte die großen Massen der ehemals Ausgebeuteten, um die Herrschaft im eigenen Staat anzutreten. Die Delegierten in den Arbeiterräten werden auf Arbeitermassenversammlungen direkt gewählt. Sie sind ihrer Wählerschaft verantwortlich und deshalb jederzeit von ihr abberufbar. Arbeiterräte sind Organe der Klassenmacht, d.h. Kapitalisten sind von den Wahlen ausgeschlossen. Den herrschenden Sektionen der Bürokratie muß ebenfalls das Stimmrecht entzogen werden. Wir bekämpfen politisch jene Vertreter der Bürokratie, in die die werktätigen Massen noch Illusionen haben. Die politische Revolution kann nur erfolgreich sein, wenn die Bürokraten aus den Arbeiterräten verjagt sind.

Der Arbeiterrat vereint in sich vollziehende und gesetzgeberische Funktionen, was einer lebendigen Rätedemokratie ermöglicht, die Staatsbürokratie zu kontrollieren, zu reduzieren und sie langfristig vollkommen durch die Selbstverwaltung der Gesellschaft zu ersetzen. Solche Organe haben nichts gemein mit den Sowjets, dir in der UdSSR 1936 installiert wurden und eine pseudo-parlamentarische Form angenommen haben, oder den ‚Volkskomitees‘ auf Kuba, die nur dazu sind, die Beschlüsse der Bürokratie abzunicken.

Nieder mit der sozialen Unterdrückung!

Der Thermidor in der UdSSR markierte nicht nur die Errichtung der bürokratischen Tyrannei über Wirtschaft und Staat, sondern auch die Umkehr vieler Reformen nach 1917 zur Bekämpfung sozialer Unterdrückung. Die Wiedereinführung reaktionärer Gesetze und moralischer Normen hat seither als Vorbild für andere degenerierte Arbeiterstaaten gedient.

Die siegreichen Bürokratien haben alle danach getrachtet, die bürgerliche Familie zu stärken und ihre Größe nach Maßgabe der jeweiligen ökonomischen und militärischen Bedürfnisse festzulegen. Die bürokratische Planung gab das Ziel der Sozialisierung von Kinderbetreuung und Hausarbeit auf. Die Frauen blieben durch die Dreifachlast von Beruf, Haushalt und Kindererziehung preisgegeben. Die ‚Reformer‘ hegen natürlich auch keinesfalls die Absicht, die Auswirkungen des Stalinschen Thermidors auf die Familie zu beseitigen. Im Gegenteil stärkte Gorbatschows Perestroika-Politik ein reaktionäres Frauenbild. Die „Reformer“ wollen die Frau auf die Gattin- und Mutterrolle beschränken und sie aus gewissen Produktionszweigen vertreiben.

Der Jugend wird ihr ‚rechtmäßiger Platz‘ in den Bildungseinrichtungen gelehrt, sie wird verdummt mit der reaktionären Moral des Stalinismus, ihr wird ein freier kultureller Ausdruck verwehrt. Ebenso sind große Errungenschaften der Oktoberrevolution, in der gesetzliche Verteidigung der Rechte von Homosexuellen schon längst zerstört, und der Alltag für Lesben und Schwule von Kuba bis Osteuropa und GUS heißt Unterdrückung oder Verfolgung. Gegen Unterdrückung aufgrund von Geschlecht oder Sexualität fordern wir:

• Gegen die Unterdrückung von Frauen – für wirkliche Vergesellschaftung der Hausarbeit. Für einen Plan zur Bereitstellung von Kinderkrippen, die dies ermöglichen. Für ein massives Bauprogramm von Gastwirtschaften, Kantinen und sozialen Annehmlichkeiten, die Frauen von ihrer Bürde befreien.

• Für das Recht von Frauen auf Arbeit und Chancengleichheit in Berufen, die nicht Schutzgesetzen unterstehen. Zur Bekämpfung des Erbes von männlichem Chauvinismus und Unterdrückung, das von der Bürokratie konserviert wurde, verfechten wir eine unabhängige Frauenbewegung auf proletarischer Grundlage.

• Keine Einschränkung des Abtreibungsrechts. Freie Verhütungsmittel für alle, um Frauen wirkliche Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit zu geben. Nein zu jedem Zwang zu einer bestimmten Familiengröße durch die Bürokratie.

• Abschaffung der reaktionären Gesetze gegen Homosexualität. Freilassung aller in dieser Hinsicht Inhaftierten und in psychiatrische ‚Spitäler‘ Eingewiesenen. Beendigung aller Formen der Diskriminierung von Lesben und Schwulen. Für die offene Anerkennung, daß es Aids auch in diesen Staaten gibt. Für ein staatlich finanziertes Programm zur Erforschung, Behandlung und Aufklärung über den Virus, um jene mit AIDS zu behandeln und die Verbreitung der Krankheit zu verhindern oder zu begrenzen.

• Weg mit der Unterdrückung der Jugend. Für Schüler-, Eltern- und Erzieherkontrolle über die Schulen. Für Jugendausschüsse zur Kontrolle ihrer eigenen Gestaltung von Unterhaltung, Sport, Kultur, Klubs usw. Weg mit der Zensur, die die Jugend nicht vor reaktionären Ideen schützt, sondern ihren Intellekt und Kampfgeist lähmt, und sie so erst für solche Ideen anfällig macht. Abschaffung aller die Jugend in Arbeit und Gesellschaft diskriminierenden Gesetze.

Gegen nationale Unterdrückung!

Seit seiner Gründung hatte der revolutionäre Sowjetstaat einen föderalen Charakter. Wie mit allen anderen Aspekten bolschewistischer politischer Praxis verfuhr der Stalinismus auch hier. Er wahrte die Form, entleerte sie aber ihres revolutionären Inhalt. Fernab jeder freiwilligen Föderation von Völkern wurde die UdSSR zum Gefängnis für Nationen.

Das Muster der Verweigerung von Rechten für nationale Minderheiten wurde in anderen degenerierten Arbeiterstaaten wiederholt, ungeachtet dessen, ob sie föderal strukturiert sind (wie in Jugoslawien), Einheitsstaaten mit angeblich ‚autonomen Regionen‘ (wie in China), oder ob sie die Existenz von Minderheiten verfassungsmäßig gar nicht anerkennen (wie in Rumänien). Der Kreml hat auch Nationen außerhalb der Grenzen der UdSSR unterdrückt und Invasionen veranstaltet, um proletarische Aufstände gegen die Bürokratenherrschaft zu zermalmen. Die Opposition gegen die herrschenden Bürokratien trägt daher oft einen nationalistischen Charakter. Unter diesen unterdrückten Völkern fordern Revolutionäre in vorderster Linie demokratische Rechte für Nationalitäten als Teil ihres Kampfes um die politische Revolution.

• Wir treten jeder Manifestation des großrussischen, chinesischen und serbischen Repressionsnationalismus entgegen. Wir unterstützen das Recht auf vollste kulturelle Selbstäußerung für alle unterdrückten Nationalitäten. Das bedeutet volle Unterstützung für das Recht auf eigene Sprache in allen öffentlichen und staatlichen Angelegenheiten wie auch auf Unterricht in der eigenen Sprache. Wir sind gegen jede Diskriminierung im Beruf. Wir treten für das Recht unterdrückter Nationalitäten ein, ein Veto gegen die Einwanderungspolitik einlegen zu können, die von den Bürokratien von Unterdrückernationalitäten festgelegt wird. Umgekehrt sind wir auch gegen jede Diskriminierung ehemaliger nationaler Mehrheiten, die nun in neuen unabhängigen Staaten zu Minderheiten geworden sind (bspw. die Russen in den baltischen Staaten).

• Alle multinationalen Arbeiterstaaten sollten freie Föderationen von Arbeiterrepubliken sein. Allgemein streben wir nicht die Zerstückelung von degenerierten Arbeiterstaaten in ihre nationalen Bestandteile an, weil wir die größtmögliche territoriale Zusammengehörigkeit für günstig erachten, um die Entfaltung der Produktivkräfte voranzutreiben, und weil der Nationalismus die Arbeiterklasse spaltet und sie für die Einsicht in die Notwendigkeit der Vernichtung von Bürokratie und Imperialismus blendet. Es kann dazu führen, daß die Arbeiter gemeinsame Sache mit der ‚eigenen‘ nationalen Bürokratie machen, oder daß sie glauben, es sei möglich, ‚Unabhängigkeit‘ durch kapitalistische Restauration und mit Hilfe des Imperialismus zu erlangen.

Die kapitalistische Offensive trachtet danach, alle Elemente von Klassenidentität und kollektivistischem Bewußtsein zu zersetzen und an ihrer Statt individualistische, religiöse oder nationalistisch-ethnische Ideen in den Köpfen der Bevölkerung zu züchten. In verschiedenen Republiken, Regionen, kleineren Landstrichen oder gar Unternehmen versuchen die Restaurationisten die Idee zu verbreiten, daß nur völlige Unabhängigkeit vom offiziellen Staat ihnen einen besseren Zugang zum internationalen Markt, höheren Exportpreise und günstigeren Bedingungen für die Einfuhr von Gütern und das Anlocken von Investoren bietet.

Die UdSSR ist in fünfzehn unabhängige Republiken zerfallen, und es gibt viele weitere autonome Republiken und Regionen innerhalb dieser, die starke separatistische Tendenzen haben. Die Bürokraten und Nationalisten hinter diesen Unabhängigkeitsbewegungen versuchen bürgerliche Kleinst-Halbkolonien zu errichten. In den meisten von ihnen leiden andere ethnische Minderheiten unter Diskriminierung und Unterdrückung. In den baltischen Staaten zum Beispiel werden die slawischen Minderheiten nicht als Staatsbürger anerkannt und erleiden eine Art neue Apartheid. Im früheren Jugoslawien, im Kaukasus, Moldawien, Zentralasien und anderen ehemaligen ’sozialistischen Blockstaaten befinden sich Völkergruppen gegeneinander in blutigen und reaktionären Kriegen.

Eine wirkliche Unabhängigkeit für eine der gegenwärtig unterdrückten Nationalitäten in den Arbeiterstaaten ist allerdings nur erreichbar auf Grundlage von demokratisch geplanten proletarischen Eigentumsverhältnissen. ‚Unabhängigkeit‘ unter Führung von Restaurationisten kann nur in einer Unterwerfung jedes neu konstituierten Staates unter den Imperialismus als Halbkolonie enden. Damit wäre die Arbeiterklasse noch direkter durch den internationalen Kapitalismus ausgebeutet, und ihre demokratischen Bestrebungen würden im Namen des Profits brutal unterdrückt werden. Wir treten von uns aus nicht für Abtrennung ein, weil sie den Arbeiterstaat schwächt und die Entfaltung der Produktivkräfte behindert. Aber in einem konkreten Fall, wo innerhalb einer bestimmte unterdrückten Nation die große Mehrheit der Arbeiterklasse Illusion in die Abtrennung hat, stellen wir die Forderung nach einer unabhängigen Arbeiterräterepublik auf.

Auf wessen Seite sich die Arbeiter in einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der Unabhängigkeitsbewegung einer unterdrückten Nation und dem zentralisierten stalinistischen Apparat stellen sollen, hängt von den jeweiligen konkreten Umständen ab. Wenn diese Bewegung andere Minderheiten durch Pogrome verfolgt oder ein Waffenbündnis mit dem Imperialismus eingeht, um gegen den degenerierten Arbeiterstaat Krieg zu führen, wäre es notwendig, auf Seiten der stalinistischen Maschinerie zu stehen, ohne sie politisch zu unterstützen. Gleichzeitig würden wir die Losung nach einer unabhängigen oder autonomen Arbeiterräterepublik (wie in Aserbaidschan 1990) ausgeben.

Wenn wir andererseits eine legitime Bewegung mit Basis in der arbeitenden Bevölkerung antreffen, könnten wir auf deren Seite gegen militärische Unterdrückung durch die Stalinisten stehen, ohne ihre politischen Ziele oder ihre volksfrontartige Führung dabei zu unterstützen (wie in Litauen 1990/1991).

Die Entfremdung so vieler Nationalitäten vom degenerierten Arbeiterstaat ist das Produkt von Jahrzehnten grausamer nationaler Unterdrückung. Die Vorhut der politischen Revolution muß mit den energischsten Mitteln versuchen, diesen Völkern ihre Ängste zu nehmen und sie für die Seite der Erhaltung ihrer eigenen geplanten Eigentumsverhältnisse zu gewinnen. Das muß getan werden, indem ihr Recht auf Selbstbestimmung, die Lostrennung eingeschlossen, bedingungslos unterstützt wird.

Wo die Mehrheit eines Volkes in Massenkundgebungen, Arbeiterversammlungen, Wahlen oder Volksabstimmungen nach Unabhängigkeit ruft, unterstützen wir dieses Ziel rückhaltlos. Sonst würden wir uns von dem ausdrücklichen demokratischen Willen der Arbeitermassen isolieren und damit zulassen, daß sie der Führung reaktionärer Kräfte anheimfallen. Nur die proletarische politische Macht und die proletarischen Eigentumsverhältnisse können die Unabhängigkeit, nach der solche Mobilisierungen streben, gewährleisten. Aus dem Grund lautet unsere positive Losung unter diesen Gegebenheiten ‚Für einen unabhängigen Arbeiterrätestaat‘.

Selbst wo sich separatistische Bewegungen auf eine offen konterrevolutionäre Plattform begeben haben, verteidigen wir noch das Recht auf staatliche Unabhängigkeit, setzen aber den Kampf gegen die Restauration fort. Die Restauration des Kapitalismus läuft nicht simultan zur nationalen Unabhängigkeit. Die Beendigung nationaler Unterdrückung lockert die Bindungen zwischen der Arbeiterklasse und den Repräsentanten ihr entgegengesetzter Klasseninteressen. In den neuen, unabhängigen Staaten müssen revolutionäre Kommunisten die Arbeiter weiter für die bewaffnete Verteidigung der nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse organisieren. Jedoch im Fall eines Krieges (Bürgerkrieg oder Krieg nach außen), in den ein Arbeiterstaat verwickelt sein könnte, könnten wir allerdings gezwungen sein, das Recht auf Abtrennung vorübergehend der Verteidigung des Arbeiterstaates gegen die Attacken der Kräfte des Imperialismus und der Konterrevolution unterzuordnen.

Als Ausdruck unserer Gegnerschaft zu der reaktionären Utopie des Aufbaus vom Sozialismus in einem Land stehen wir für die weitestgehende Föderation von Arbeiterstaaten beginnend mit Regionalverbünden. Die siegreiche politische Revolution wird die Republiken der ehemaligen UdSSR, Osteuropas und darüberhinaus auf einer freiwilligen und gleichen Grundlage neu vereinigen. In den Regionen, wo der Stalinismus und seine Erben nationale Antagonismen und Kriege gesät haben, kämpfen wir für Föderationen von Arbeiterstaaten (z.B. auf dem Balkan und in Indochina) als Schritt zur Integration in eine sozialistische Weltrepublik.

Für die Rückkehr zum proletarischen Internationalismus Lenins und Trotzkis

Die Stalinisten haben die Losung des proletarischen Internationalismus durch die Gleichsetzung mit der Unterordnung unter die staatlichen Interessen der Sowjetbürokratie befleckt. Die Außenpolitik eines revolutinären Arbeiterstaates zielt nicht zuallererst auf die eigene Verteidigung oder Schutz und Unterstützung anderer Arbeiterstaaten, sondern stellt die Interessen aller, die gegen Kapitalismus und Imperialismus kämpfen, in den Mittelpunkt. Die Verteidigung eines einzelnen Arbeiterstaates oder einer Gruppierung solcher Staaten ist Teil der Weltrevolution und ihr untergeordnet. Das ist das unverfälschte Programm des proletarischen Internationalismus. Es ist das genaue Gegenteil zur Außenpolitik der degenerierten Arbeiterstaaten im letzten halben Jahrhundert, die dem stalinistischen Ziel einer friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus dienen sollte.

Die Stalinisten haben die Kämpfe der Arbeiterklasse und Kolonialvölker überall zynisch manipuliert und verraten. Seite an Seite mit der Stärkung der Marktmechanismen und der kapitalistischen Kräfte im Arbeiterstaat sind die verbleibenden herrschenden Bürokratien überall vor dem Imperialismus auf dem Rückzug. Der Stalinismus hat stets eine dem Wesen nach konterrevolutionäre Politik in und außerhalb der eigenen Grenzen betrieben. In den 80er Jahren hat die UdSSR in Afghanistan, Kambodscha, Mittelamerika und Südafrika eine konterrevolutionäre Rolle gespielt, sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus.

Die Geheimdiplomatie, mit der die stalinistische Bürokratie operierte, muß vollständig abgeschafft werden. Diese Politik war Teil des bürokratischen Informationsmonopols in den degenerierten Arbeiterstaaten und diente nur zur Desinformation und Täuschung der Arbeiterklasse. Verhandlungen zwischen Arbeiterstaaten und kapitalistischen Staaten oder anderen Arbeiterstaaten müssen vor den Augen der Arbeiterklasse durchgeführt werden. Die Forderungen beider Seiten sollten öffentlich gemacht werden. Verhandlungen müssen genützt werden, um revolutionäre Propaganda zu machen. Das Wesen der Verhandlungen muß den Massen aufgedeckt werden.

Beziehungen mit kapitalistischen Staaten müssen ebenso als Waffe für den Arbeiterstaat genützt werden. Diplomatische Verbindungen und Handelsbeziehungen zu jedem Land müssen sorgfältig untersucht werden. Die Stalinisten verwendeten diplomatische Verbindungen mit kapitalistischen Staaten, um das Ertränken der Arbeiterbewegung dieser Staaten in Blut zu entschuldigen und das Prestige der Schlächter zu erhöhen (z.B. China‘ s Beziehungen mit Pinochet). Das war eine übliche Praxis unter den Stalinisten. Handels- und diplomatische Beziehungen müssen dazu verwendet werden, den Aufbau eines Arbeiterstaats zu unterstützen und dürfen die Bildung von revolutionären Bewegungen nicht begrenzen oder schädigen.

Wenn ein Arbeiterstaat direkt militärisch angegriffen wird, egal ob in einer politisch revolutionären Krise oder nicht, ist es legitim, mit den Truppen eines anderen Arbeiterstaates eine bewaffnete Einheitsfront zu suchen. In dieser Einheitsfront darf die Arbeiterklasse ihre Verbände nicht denen ihrer Verbündeten unterordnen, sondern muß versuchen, Waffen und Hilfe unter die Kontrolle ihrer Organisationen zu bekommen, und muß unter den verbündeten Streitkräften der degenerierten Arbeiterstaaten die Idee der internationalen politischen Revolution verfechten.

Wir verteidigen das Recht der degenerierten Arbeiterstaaten auf Besitz von Atomwaffen und sie auch in Kriegen mit dem Imperialismus zur Verteidigung der Arbeiterstaaten einzusetzen, wenn es militärisch erforderlich ist. Aber wir stellen uns gegen die allgemeine Verteidigungs- und Militärpolitik der Bürokratie, deren Ziel die Verwirklichung des reaktionären Traums von der friedlichen Koexistenz mit dem Weltimperialismus ist.

Die Außenpolitik eines Arbeiterstaates muß einer revolutionären Internationale untergeordnet sein. Eine wirkliche Internationale kann die Außenpolitik eines Arbeiterstaates in den richtigen Zusammenhang im Kampf um die Weltrevolution stellen. Nur eine Internationale kann den Arbeiterstaat effektiv gegen eine imperialistische Intervention schützen, indem Mobilisierungen der Arbeiterklasse in den verschiedenen imperialistischen Ländern koordiniert werden.

Baut leninistisch-trotzkistische Parteien auf!

Das Programm der politischen Revolution, verknüpft ein Verbundsystem von Forderungen mit den strategischen und taktischen Mitteln zu ihrer Durchsetzung. Es kann nicht durch die spontanen Kämpfe der Arbeiterklasse in den degenerierten Arbeiterstaaten entwickelt werden. Die Erfahrung mit Ungarn, Polen und China zeigt auf tragische Weise, daß Spontaneität wie unterm Kapitalismus mit dem wissenschaftlichen Klassenbewußtsein in der organisatorischen Gestalt einer revolutionären Partei geharnischt sein muß. Der erste kleine Kern einer solchen Partei mag zwar der Intelligenz entspringen, die Prüfung für ihren ‚Kommunismus‘ wird aber die Anerkennung der Notwendigkeit, die im antibürokratischen Kampf erstandenen Arbeitervorhut zu gewinnen und zu organisieren, sein. Alle Regeln der Mitgliedschaft, Organisation, Innenleben und Außenaktivität sind wie von der leninistisch bolschewistischen Partei und später den linken Opposition und der Trotzkisten dargelegt anwendbar.

Wir weisen die ‚führende Rolle‘ der stalinistischen Parteien zurück. Es sind Parteien der Bürokratie, nicht der proletarischen Avantgarde. Die Erfahrung der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei 1968 und der ‚Horizontalbewegung‘ in der polnischen Arbeiterpartei auf dem Höhepunkt des Kampfes von Solidarnosc legen jedoch nahe, daß proletarische Mobilisierungen einen Widerschein in den herrschenden, kommunistischen Parteien finden und zwar deshalb, weil eine große Anzahl von Arbeitern Zwangsmitglieder dieser Parteien sind. Wir lehnen die Illusion ab, daß die herrscheden Parteien zu zentristischen Formationen reformiert werden oder sich friedlich dazu umbilden können. Diese Parteien müssen als Werkzeuge der Massenmobilisierung zugunsten der repressiven und privilegierten Bürokratie zerschlagen werden. Nichtsdestotrotz dürfen wir nicht vergessen, daß in einer sich zuspitzenden politisch revolutionären Situation die Führung unter den Druck von Teilen der Mitgliedschaft oder der Arbeiterklasse geraten kann. Die Einheitsfronttaktik, bezogen auf diese Kräfte und Oppositionsgruppen außerhalb der Partei, wird zentral sein, um die Massen von ihren alten und neuen falschen Führern loszubrechen. Wo wir Elemente der proletarischen Basis nicht direkt für den Trotzkismus gewinnen können angesichts dessen, daß eine solche Opposition oftmals der erste Ausdruck von politischer Unabhängigkeit für jene Arbeiter darstellt, sollten wir sie ermuntern, die Kommunistische Partei, in der sie bleiben, unter folgenden Forderungen einer eingehenden Prüfung zu unterziehen:

• Wahlen auf allen Ebenen, mit offenen Plattformen und politischer Wettstreit in offener Diskussion. Für die Aufhebung des Fraktions- und Plattformverbots, das lediglich als vorübergehende Maßnahme in der russischen kommunistischen Partei von Lenin und Trotzki 1921 verhängt worden war, unter Stalin aber zur repressiven Norm gemacht wurde.

• Die im Kampf neu geschmiedete revolutionäre Partei muß den Sturz der stalinistischen Diktatur, den Aufbau einer Arbeiterrätedemokratie, die Einsetzung eines demokratischen Plans und vor allem die internationale Ausdehnung der Revolution auf die Fahne schreiben. Wenn die Arbeiterstaaten eine revolutionäre Neugestaltung durchleben, dann wird die Todesglocke für Imperialismus und Klassenherrschaft auf der ganzen Welt läuten. Verwandelt die bürokratischen Gefängnisse wieder in Festungen der Weltrevolution!

Das Programm im Restaurationsprozess

Eine neue Form von Übergangsperiode, des Übergangs von degenerierten Arbeiterstaaten zum Kapitalismus, ist angebrochen, zurückzuführen auf den Berg von Verrat seitens der stalinistische Bürokratie und die verlängerte Krise der revolutionären Führung. Die Revolutionäre müssen nun ihr Programm umorientieren auf die Führung eines Kampfes gegen die Reste bürokratischer Tyrannei und Desorganisation sowie gegen die Restauration des Kapitalismus.

Die Tür zur Restauration ist in den meisten Fällen durch den Aufstieg einer Bürokratenfraktion aufgestoßen worden, die dann eine Reihe von Zugeständnissen an den Markt auf Schiene gesetzt hat. Diese marktorientierten Maßnahmen sind mit wachsendem Nachdruck von Wirtschaftsfachleuten aus den Reihen der Bürokratie seit den 60er Jahren befürwortet worden (Liberman, Ota Sik usw.). Sie wurden in bedeutsamem Umfang zunächst in Ungarn durchgeführt. Sie konzentrierten sich auf eine stufenweise Schwächung und Einengung des Planhorizonts, die Herstellung von realen oder simulierten Marktmechanismen zwischen Unternehmen, die Durchlöcherung des staatlichen Außenhandelsmonopols, auf den Beitritt zu ökonomischen Einrichtungen des Weltkapitalismus, wie dem IWF. Der utopische Aspekt dieses Programms war die Idee, daß es die Effizienz, das Niveau der technischen Erneuerung oder die stärkere Anpassung der Wirtschaft an die Wünsche der Verbraucher erhöhen würde. Stattdessen aber behinderte und störte es das Wirken der Planwirtschaft, während jene wiederum die Entwicklung eines echten Marktes behinderte, dafür aber eine breite ’schwarze Ökonomie‘ schuf. Das erzeugte eine große Klasse von Kriminellen, bevor es eine Bourgeoisie hervorbrachte.

Sowohl in Staaten, wo die Marktfraktion der Bürokratie versuchte, dieses Programm mit demokratischen Reformen durchzuführen, als auch wo sie ihre politische Diktatur aufrechterhalten wollte, war das Resultat jedesmal das gleiche – eine ernste politische Krise, in der sich drei fundamentale Alternativen stellten:

a) die Restauration der bürokratischen Diktatur und ein Stillstand oder Verlangsamung der Marktreformen

b) die Machtergreifung durch ein offen restauratives Regime, das sich anschickt, das zentrale Planungssystem zu zerstören und rasch zur Wertgesetzlichkeit als dominanter Kraft in der Ökonomie überzugehen.

c) die proletarische politische Revolution, die Arbeiterdemokratie und eine demokratische Planwirtschaft einführt.

Nur die beiden letzten Alternativen waren und sind grundsätzlich gangbar. Die bürokratische Diktatur kann niemals die Todeskrise der bürokratischen Planung lösen, auch wenn sie noch so blutig wiederhergestellt und aufrechterhalten wird. Sie entfremdet sich den Massen und treibt sie den demokratischen Restaurationisten in die Arme. Obwohl die Bürokratie in China, Korea, Vietnam und Kuba versucht, mit Unterdrückungsmethoden dem Schicksal Gorbatschows zu entgehen, ist die Entwicklung von vorrevolutionären und revolutionären Situationen unabwendlich. Das Ergebnis dieser Krisen wird eine Situation der Doppelmacht sein – von größerer oder geringerer Dauer – in der die Kräfte der alten Bürokratie zersplittern werden und in der die Kräfte der proletarischen politischen Revolution oder der bürgerlichen Konterrevolution einen Kampf um Leben oder Tod ausfechten müssen. Wenn die Kräfte der politischen Revolution es nicht schaffen, sich zu entwickeln und die Macht zu übernehmen, ist die Restauration früher oder später unausweichlich.

Bis heute sind jene Kräfte, die bewußt die Planwirtschaft und andere proletarische Errungenschaften verteidigen schwach. Das hatte zur Folge, daß eine Reihe von bürgerlich restaurativen Regierungen die Macht übernommmen hat. Diese haben sich als erstes daran gemacht, die Reste von Doppelherrschaft durch Säuberungen des Staatapparates zu beseitigen. Diese Säuberung wird je nach der politischen Geschlossenheit der Armee unterschiedlich ausfallen. Wo ein bedeutender Teil noch von der Lebensfähigkeit der bürokratischen Herrschaft überzeugt ist, kann die Auseinandersetzung gewaltsame Formen annehmen, selbst bis zum Bürgerkrieg.

Die Auflösung dieser Doppelmacht und die Verhinderung, daß die Arbeiterklasse eigene Machtorgane etabliert, sind wesentlich für einen erfolgreichen Restaurationsprozeß. Aber selbst die Errichtung eines zuverlässigen Staatsapparats, der nicht der Form eines bürgerlichen Staates ähnlich, sondern aktiv die wachsenden Elemente des Kapitalismus verteidigt und die sich zerfallenden Reste der Planwirtschaft attackiert, bedeutet nicht das Ende des Restaurationsprozesses. Erst die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus über die des bürokratischen Plans dominieren, erst wenn die wirtschaftliche Grundlage des Arbeiterstaates zerstört ist, kann man sagen, daß dieser Prozeß abgeschlossen und der Kapitalismus wiederhergestellt ist.

Die Wirtschaftsprogramme der kapitalistischen Restauration sind sehr verschieden. Der eine sofortige ‚Erfolg‘ war die Integration der DDR in den imperialistischen westdeutschen Staat durch eine verlängerte Verbindung von staatskapitalistischen und Privatisierungsmaßnahmen, nachdem die Zentralorgane der Planwirtschaft abgeschafft worden waren. In den anderen Staaten, wo die Ressourcen einer wesentlichen imperialistischen Macht nicht verfügbar waren, ist die neoliberale Schocktherapie angewandt worden. Das hieß Freigabe der Preise, Auflösung der zentralen Plan- und Rohstoffzuteilungsinstanzen, Abschaffung des alten Staatsbankmonopols und Ersetzung mittels eines durchkommerzialisierten Kreditsystems, in dem Verlustunternehmen bankrott gehen können und müssen und Umwandlung der Unternehmen in privat- und/oder staatskapitalistische Konzerne.

Der massive ökonomische Niedergang, der Ergebnis dieser Politik ist, schafft selber wiederholte politische Krisen und vorrevolutionäre Situationen. Nur eine Vertiefung des Klassenbewußtseins und der Militanz des Proletariats sowie das Erscheinen von antirestaurativen Verteidigern der Arbeiterdemokratie kann solche Krisen in eine voll entfaltete Revolution ummünzen. Diese Revolution wird einen kombinierten Charakter haben. Sie muß politische Revolution sein,insofern als sie die Enteignung einer sozialen Klasse – der Bourgeoisie – nicht zum zentralen Ziel hat. Dennoch hat eine solche Revolution enorme gesellschaftliche, d.h. antikapitalistische Aufgaben zu bewältigen. Als politische Revolution ist sie nichtsdestotrotz gegen ein bürgerliches Regime gerichtet, das die ganze oder Teile der Staatsmacht in Händen hält. Ihr bleibt die Aufgabe der Eroberung der Staatsmacht und der Gründung eines Arbeiterstaats, gestützt auf Sowjets.

In den todgeweihten degenerierten Arbeiterstaaten, wo restaurative Regierungen mit der Durchsetzung der Restauration des Kapitalismus befaßt sind, müssen revolutionäre Kommunisten Verfechter eines Programms von Sofort- und Übergangsforderungen sein, um die soziale Konterrevolution aufzuhalten und umzukehren; ein Programm, das in seiner Gesamtheit nur das Programm einer revolutionären Arbeiterregierung sein kann.

• Für einen Mindestlohn, der zum Leben ausreicht und den Kauf eines üblichen Güterkorbes gewährleistet und von Arbeiterbasisorganisationen festgelegt wird.

• Für eine gleitende Lohnskala, eine automatische angepaßte Lohnerhöhung bei jedem Preisanstieg, festgelegt von gewählten Komitees, bestehend aus Arbeitern, im besonderen Frauen und Rentnern, der jeden Preisanstieg kompensiert.

• Schluß mit allen Preiserhöhungen! Preise für Nahrungsmittel, Kleidung, Transport, Mieten und Brennstoff dürfen nicht steigen. Die einzige Währungsreform, die den Interessen der Werktätigen und nicht der Spekulanten dient, ist jene, die von einer Arbeiterregierung durchgeführt wird.

• Alle privaten und staatlichen Warenhäuser und Lebensmittelvorratslager unter Kontrolle von bewaffneten Arbeitereinheiten, unter Arbeiterinspektion und -verteilung. Beschlagnahme aller von Bürokraten, Schwarzmarkthändlern oder Privatgeschäften gehorteten Güter. Arbeiter müssen alle Hilfslieferungen aus imperialistischen Ländern kontrollieren und verteilen.

• Gewählte Arbeiterausschüsse müssen die Konten von Unternehmen und Planungsministerien, von Spezialläden für die Bürokratie und von neuen Spekulanten inspizieren. Nur dann wird das Ausmaß von Korruption, Aneignung und Diebstahl am Produkt des Arbeiterstaates aktenkundig, können die Schuldigen bestraft werden und kann ein neuer Produktions- und Verteilungsplan entstehen.

• Organisierung des unmittelbaren Austausches zwischen Stadt und Land. Die ländliche und städtische Arbeiterschaft sollen gemeinsam faire Austauschraten und sogar -preise zwischen Industrie- und Landwirtschaftsprodukten regeln.

• Wiederherstellung des Rechts auf Arbeit und der Gelegenheit dazu. Den gegenwärtig Arbeitslosen muß eine Arbeitsstelle angeboten oder der durchschnittliche Industrielohn bezahlt werden. Nein zu allen Entlassungen ohne gleichrangigen Ersatzarbeitsplatz bei gleicher Entlohnung. Besetzung aller Fabriken, Bergwerke, Läden und Büros, die Entlassungen verfügen oder schließen wollen. Die müßigen Angehörigen der Bürokratie, die Unternehmensmanager und die schmarotzenden Spekulanten sollen nützliche Arbeit in den Fabriken und auf dem Land zum Durchschnittsverdienst eines Arbeiters verrichten.

• Für Arbeiterverwaltung in jedem Unternehmen. Keine Privatisierung, auch nicht in Form von veräußerbaren Betriebsbeteiligungen, die ganz oder teilweise an die Belegschaft ausgegeben werden. In einem Arbeiterstaat gehören die Fabriken bereits per Gesetz den Arbeitern. Keine Enteignung von Arbeitereigentum.

• Keine Kürzungen im Sozialwesen. Für ein massives Programm zur Wohnungsinstandsetzung und zum Bau von neuen Wohnungen, Kinderkrippen, Schulen und Kliniken. Niemand sollte arbeitslos sein und niemand müßig sein, während es anderen am elementar Notwendigsten fehlt.

• Mindestlohn für alle, der zum Leben ausreicht; Renten, die nicht darunter liegen und geschützt durch eine gleitende Skala.

• Notmaßnahmen zur Linderung der Wohnungsknappheit. Beschlagnahme der Datschen und großen Appartements der Altbürokraten und Neureichen. Besetzung aller Staatsgebäude, die nicht dem Gemeinwohl der Arbeiterklasse dienen und Umwandlung in Unterkünfte für junge Familien und Arbeitslose.

• Arbeiterkomitees müssen eine Inventur des Staatseigentums nach dem Stand vor Regierungsantritt der restaurativen Regierung machen. Die Bereicherung und das Horten der früheren Bürokratie muß ans Licht, und alle Ressourcen des Arbeiterstaates in gemeinschaftliches Eigentum rückgeführt werden. Jede ‚Enteignung‘ von Staatseigentum muß rückgängig gemacht werden.

• Nieder mit dem nationalen Chauvinismus. Kollektive Hinrichtung der Organisatoren von Pogromen und ‚ethnischen Säuberungen‘. Gnadenlose Unterdrückung von Faschisten und Antisemiten, Rassisten und Chauvinisten, die Angriffe auf nationale Miderheiten, Frauen, Lesben und Schwule und die Arbeiterorganisationen anzetteln. Keine Plattform, keine ‚demokratischen Rechte‘ für dieses Ungeziefer.

• Respekt vor den Beschlüssen der minderheitlichen Nationalitäten für Unabhängigkeit, wenn es ihre Wahl ist. Bedingungslose Verteidigung der demokratischen Rechte aller Nationalitäten gegen die stalinistische Unterdrückung alten Stils oder die nationalistische oder religiöse Unterdrückung neuen Stils. Genauso wie wir die demokratischen Rechte aller Minderheiten in Jugoslawien, China oder den Staaten der früheren UdSSR verteidigen, gilt dies auch für alle großrussischen, serbischen oder han-chinesischen Arbeiter in Gegenden, wo sie nun die Minderheit darstellen und Unterdrückung erleiden könnten.

• Für Arbeitermiliz zum Schutz der Arbeiterkämpfe, zur Zerschlagung der Faschisten und Pogromorganisatoren und zur Niederwerfung der bewaffneten Aufstände der Konterrevolutionäre.

Um die Wiederherstellung des Kapitalismus zu verhindern, wartet auf die Arbeiter eine kombinierte Aufgabe, der Kampf gegen die bürgerlichen Vollzugsorgane und ein Kampf zur Rettung der Überbleibsel der geplanten staatseigenen Produktions- und Verteilungsmittel. Für diesen zweiten Teil müssen sie den Kampf zum Sturz der restaurativen Regierungen aufnehmen und Arbeiterregierungen, gestützt auf Arbeiterräte an die Macht bringen. Die restaurativen Kräfte können nicht durch friedliche Mittel allein aus dem Amt entfernt werden, doch je entschlossener und stärker die Arbeiter mobilisieren, desto weniger teuer wird ein solcher Sieg sein. Eine Arbeitermiliz muß die einfachen Soldaten für ihre Sache gewinnen.

Es besteht kein Mangel an Waffen oder an Gelegenheit, sie zu bekommen. Die meisten Arbeiter haben einen Militärdienst absolviert. Die Arbeiter können und müssen sich bewaffnen. Mit der Waffe in der Hand können Arbeiter die Flammen des nationalistischen Hasses ausblasen, alle Minderheiten, die Streiks und Besetzungen schützen. Sobald die Gelegenheit zur Machteroberung kommt, können bewaffneten Einheiten in Verbindung mit den Sowjets diese Aufgabe durchführen und ein Arbeiterregierung errichten. Die Arbeiterregierung müßte Wahlen für Arbeitertribunale organisieren, um alle Verbrecher gegen die arbeitende Bevölkerung aus der Zeit der stalinistischen Diktatur oder der restaurationistischen Regimes vor Gericht zu stellen.

Die zentrale Aufgabe einer Arbeiterräteregierung ist die Zerschlagung der restaurativen Pläne und die Organisierung der Weltarbeiterbewegung zu seiner Verteidigung gegen unvermeidbaren imperialistischen Druck und Blockade. In der Ökonomie muß die Arbeiterregierung einen Notplan entwickeln und durchführen, um die Wirtschaft vor der völligen Auflösung zu retten. Er muß von den Arbeitervertretern aufgestellt und von der Arbeiterklasse selber in Gang gesetzt werden. Die dringendsten Maßnahmen eines solchen Plans sollten sein:

• Wiederherstellung des staatlichen Außenhandelsmonopols, Kontrolle des gesamten internationalen Handels durch gewählte Organe der Arbeiterinspektion. Die Hafen-, Flughafen-, Kommunikationsnetz- und Bankarbeiter können schnell entscheiden, welcher Handel im Interesse des Arbeiterstaats liegt und was Spekulation oder schädliche Profitmache ist. Druck auf die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern, ihre Regierungen zu zwingen, Handelsvereinbarungen zum Wohl des Notplans abzuschließen.

• Schluß mit allen Privatisierungen von großen Produktionsmitteln und Wiederverstaatlichung aller schon ausverkauften Wirtschaftszweige. Schließung der Aktien- und Warenbörsen. Untersuchung aller bisherigen Transaktionen und Bestrafung aller arbeiterfeindlichen Profiteure.

• Wiederherstellung des staatlichen Bankmonopols. Verstaatlichung aller Privatbanken unter Arbeiteraufsicht und -einsichtnahme. Beschlagnahme der Dollarberge der Spekulanten, joint ventures, Pseudo-Kooperativen und Privatkonten der Bürokraten durch den Arbeiterstaat.

• Nichtanerkennung der Auslandsschulden, Schluß mit allen Zahlungen und Bruch aller Ketten an IWF, Weltbank und europäische Bank der Restauration! Raus mit allen imperialistischen ‚Wirtschaftsberatern‘.

• Durchführung einer Geldreform im Interesse der Werktätigen. Geld als Wertmaß muß die für Industrie- und Landwirtschaftsprodukte aufgewendete Arbeitszeit so genau wie möglich messen. Die Inflation aus den letzten Jahren der bürokratischen Mißwirtschaft muß beendet werden, so daß die Arbeiterschaft eine rationelle Buchführung, ohne die Planung unmöglich ist, vornehmen kann.

• Umwandlung der kollektiven Agrarbetriebe in wirklich demokratische Kooperativen auf der Grundlage eine Arbeitskraft – eine Stimme. Errichtung von Arbeiterkontrolle auf den Kolchosen. Hilfestellung als Anreiz für kleine Höfe zu Kooperativ- Zusammenschlüssen durch Versorgung mit gemeinschaftlichen Ressourcen.

• Kleine Privatunternehmen im Bereich von industrieller Produktion, Verteilung, Einzelhandel und Dienstleistung sollten ihr Gewerbe betreiben und in Sphären zahlenmäßig sogar aufstocken können, wo Staat und Kooperativen die Nachfrage nicht abdecken können. Dieser Bereich von privatem Kleinkapital und Kleinbürgertum kann dem Arbeiterstaat sogar von Nutzen sein, vorausgesetzt, daß die dort Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind und ihre Arbeitsbedingungen und -zeit von den Ortssowjets reguliert werden, und vorausgesetzt, daß ihre Konten der Inspektion zugänglich sind und die Besteuerung zu Gunsten des Arbeiterstaates angesetzt ist.

• Reorganisierung eines Zentralausschusses zur Plankoordination und Aufbau ähnlicher Ausschüsse auf lokaler, regionaler und städtischer Ebene. Die Fachleute für Statistik, Wirtschaft und Verwaltung müssen zusammengezogen werden und unter Kontrolle von gewählten Arbeitervertretungen arbeiten. Es darf kein Wiederauftreten bürokratischer Privilegien geben. Kein Experte darf mehr verdienen als ein Facharbeiter, und alle Planungsorgane müssen die Beschlüsse der zuständigen Körperschaften der Arbeiterdemokratie ausführen.

• Der Notplan muß ein massives Bauprogramm zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur beginnen: Hausbau und Instandsetzungen, Kliniken und Krankenhäuser, Ausbau der Kindergärten, Schulen sowie höhere Schulen.

• Der Notplan muß das Kommunikations-, Verteilungs- und Transportsystem schnell verbessern. Militärfahrzeuge und Flugzeuge müssen in ein effektiviertes Frachtsystem eingebaut werden, so daß die Nahrungsmittel nicht verderben, bevor sie den Verbraucher erreicht haben. Ein längerfristiges Straßen- und Schienenbauprogramm, ein optimiertes Telekommunikationssystem, der Aufbau eines landesweiten Netzwerks von Warenhäusern, Kühlhäusern und Gefriertechnikanlagen können dafür sorgen, daß die Arbeit der Bauern nicht vergeudet ist.

• Der Notplan muß als ein zentrales Ziel die Einführung einer Reihe von Maßnahmen haben, die die Bedingungen der Frauen erleichtern. Verbesserungen bei der Qualität von Gütern, Verteilung und Einkaufsmöglichkeiten müssen den Frauen die erdrückende Bürde der Nahrungssuche und des endlosen Schlangestehens abnehmen. Fortschritte im Bereich Wohnungen, Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrichtungen, bei Kranken- und Altenpflege sollten dem Ringen um die Vergesellschaftung von Hausarbeit förderlich sein und die Frauen befreien, damit sie schließlich auch eine vollkommen gleichwertige Rolle im sozialen und öffentlichen Leben einnehmen können.

• Für das Recht der Frauen auf Arbeit bei gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit; Verteidigung des Mutterschaftsurlaubs mit Lohnfortzahlung und Schutz der Frauen vor gesundheitsschädigender Arbeit. Widerstand gegen Versuche, die Frauen zu Teilzeitarbeit mit Lohnverlust und schlechteren Arbeitsbedingungen zu zwingen – Wochenarbeitszeitverkürzung für alle Arbeiter. Verteidigung des Rechts der Frauen auf Abtreibung und Ausweitung des Zugangs zu Verhütungsmitteln.

• Die Kirchen, Tempel und Moscheen haben begonnen, Anspruch zu erheben auf die Einrichtung von Schulen sowie Kultur und Erziehung zu reglementieren. Sie dürfen keine Kontrolle über Schulen, Krankenhäuser oder Medien ausüben. Für wissenschaftliche und rationale Sexualerziehung ohne kirchlichen Aberglauben und Tabus.

Für internationale Solidarität

Die Arbeiterregierung muß entschieden, und das sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene, mit der konterrevolutionären Politik der Walesas, Jelzins oder Havels brechen. Die Verbündeten eines Arbeiterstaates können keine imperialistischen Welthaie und Ausbeuter des Proletariats der kapitalistischen Länder sein.

Die siegreiche politische Revolution muß sich an die Arbeiterbewegung der ganzen Welt und besonders an die Basis um Hilfe und Unterstützung wenden.

Die erfolgreiche russische Revolution 1917 hat massive Unterstützung in Europa, Asien und den Amerikas versammeln können, so daß der heldenhafte Widerstand der russischen Arbeiter die imperialistische Intervention abschütteln konnte. Die internationale Politik der siegreichen politischen Revolution muß im Gegenzug den Kämpfen der Arbeiter und unterdrückten Völker auf der ganzen Welt Wirtschafts- und Militärhilfe anbieten.

• Imperialisten, Hände weg von Kuba, Vietnam, Nordkorea und den anderen bürokratisch beherrschten Arbeiterstaaten. Militärischer und wirtschaftlicher Beistand gegen die US-Embargos, -Blockaden oder Interventionen. Für die sozialistische Wiedervereinigung von Korea, nein zu einer kapitalistischen Wiedervereinigung!

• Hilfestellung für die Arbeiter dieser Staaten zur Durchführung einer politischen Revolution. Nur revolutionäre Regierungen der Arbeiter- und Bauernräte werden imstande sein, diese Staaten zu retten. Für ein weltumspannendes Bündnis von Arbeiterstaaten, das in eine Föderation münden soll. Für die wirtschaftliche Koordination des Plans aller Arbeiterstaaten.

• Unterstützung für alle nationalen Befreiungskämpfe gegen den Imperialismus. Hilfe für alle Arbeiter und unterdrückten Völker, die gegen Austeritäts- und Privatisierungspläne kämpfen, die vom IWF angeordnet sind.

• Opposition gegen alle Ausverkaufsgeschäfte und Verrätereien im Nahen Osten, in Südafrika, Südostasien, Afghanistan und Mittelamerika.

• Unterstützung für alle Kämpfe der Arbeiter in Osteuropa gegen die kapitalistische Restauration.

• Unterstützung für die unmittelbaren und revolutionären Klassenkämpfe der Arbeiter in der gesamten kapitalistischen Welt.

• Für eine neue freiwillige Föderation der sozialistischen Republiken der ehemaligen UdSSR; für eine neue freiwillige Föderation der sozialistischen Republiken auf dem Balkan.

• Für eine sozialistische Weltföderation von Arbeiterräterepubliken.




Vom Regen in die Traufe

Proletarische Frauen – vom DDR-Stalinismus
zum BRD-Kapitalismus

Ute Mann, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1998)

Die Einbeziehung der Frauen in die
gesellschaftliche Produktion als Garantie für die ökonomische Unabhängigkeit
und politische Selbstständigkeit galt als der wichtigste Schritt auf dem Weg
zur Gleichberechtigung. Frauen waren als Arbeitskräfte eine wichtige Ressource
der Planwirtschaft v. a. nach dem Krieg, als Arbeitskräfte knapp waren und
massenhafte Abwanderungen durch das Verlassen der DDR Richtung Westen die Lage
weiter erschwerten. Bis in die 1960er Jahre waren Frauen beinahe vollständig in
die Arbeitswelt integriert. (1)

Integration der Frauen in den
Produktionsprozess

Das niedrigere Produktivitätsniveau in der
DDR (wie in allen stalinistischen Staaten) machte immer einen hohen Einsatz
menschlicher Arbeitskräfte notwendig. Doch von den Industriegesellschaften der
Nachkriegszeit war die DDR das einzige Land, das kontinuierlich
Bevölkerungsverluste erlitt. Zwischen 1948 und 1989 schrumpfte die Bevölkerung um
2,7 Millionen auf 16,4 Millionen. Frauen waren auf formalrechtlicher und
politischer Ebene gleichgestellt und stellten einen großen Teil der
Arbeitskraft. Das Motiv des DDR-Stalinismus, Erleichterungen für Frauen
einzuführen, war der wirtschaftliche Aufbau, der Aufbau des „Sozialismus“ in
einem halben Land.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trat
die KPD zunächst für den Aufbau eines „neuen demokratischen Deutschlands“ auf
kapitalistischer Grundlage ein. Die diesem Ziel entsprechende
Volksfrontkonzeption spiegelte sich auch in der Frauenpolitik wider. Nachdem
bereits 1945 die Sowjetische Militäradministration in Deutschand (SMAD) die
eigenständigen ArbeiterInnenkomitees liquidiert und durch Volksfrontorgane
ersetzt hatte, sollten nun auch die nach Kriegsende entstandenen
antifaschistischen Frauenausschüsse in solche umgewandelt werden. Ziel war es,
„Frauen aller Klassen auf breitester Basis“ zu umfassen, um sie für die
Aufbauarbeit für ein „demokratisches Deutschland“ zu gewinnen.

Anfang 1947 gab es in der sowjetischen
Besatzungszone 7.451 Frauenausschüsse, die ca. 250.000 Frauen umfaßten. Um
diese Ausschüsse besser kontrollieren zu können, wurden sie per SMAD-Befehl
aufgelöst und mit den Organisationen des Demokratischen Frauenbunds
Deutschlands (DFD), der am 8. März 1947 gegründet wurde, zusammengeschlossen.
Der DFD gab sich programmatisch überparteilich, war aber dennoch eine
Frontorganisation der SED, die 1946 aus der Fusion von KPD und SPD
hervorgegangen war.

Das DFD-Programm hob hervor, dass „zum ersten
Male die sozialistischen Frauen mit den Frauen aus den bürgerlichen Parteien
und den parteilosen Frauen den Grundstein zu einer einheitlichen demokratischen
Frauenbewegung legten“. Mit dieser programmatischen Erklärung verzichtete der
DFD auf eine konsequente Interessenvertretung der Arbeiterinnen, um die
Klassenzusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien nicht zu gefährden. Ein
Ergebnis dieser Politik war, dass die spezifischen Interessen von
Proletarierinnen – immerhin die Mehrzahl aller Frauen – politisch nicht
artikuliert wurden und viele substantielle Fragen der Stellung der arbeitender
Frauen in Produktion und Gesellschaft weder diskutiert noch gelöst werden
konnten.

Auf dem 2. Parteitag der SED im September
1947 wurde eine Resolution zur Frauenfrage verabschiedet, die zwar einige
Verbesserungen für Frauen enthielt (Öffnung und Zugang zu allen für Frauen
geeigneten Berufen; Ausbau von Einrichtungen, die der Erwerbstätigen die Sorge
um den Haushalt und die Familie erleichtern); wesentliche Voraussetzungen für
die Emanzipation der Frau wurden jedoch nicht geschaffen. Die Zuständigkeit der
Frauen für die Reproduktionsarbeit innerhalb der Familie wurde gar nicht erst
in Frage gestellt. Die umfassende Einbeziehung der Frauen in den
Produktionsprozess war ebenso wenig das Ziel dieser Resolution wie die
Vergesellschaftung der Hausarbeit als einer Grundvoraussetzung für die
Frauenbefreiung.

Der Arbeitskräftemangel in der
Nachkriegswirtschaft machte es aber notwendig, Frauen in großem Umfang für den
Wiederaufbau und die Produktion heranzuziehen. Per SMAD-Befehl wurde daher das
Prinzip der gleichen Entlohnung eingeführt. Außerdem sollte die
Berufsnomenklatur überarbeitet werden. Beides stieß auf den Widerstand der
männlichen Arbeiterschaft und deren Gewerkschaftsvertretungen. Statt die
proletarischen Frauen zur Durchsetzung ihrer Interessen zu mobilisieren, wurden
auf bürokratischem Wege Frauenkommissionen eingesetzt, welche die Durchführung
der Beschlüsse kontrollieren sollten. Dieses rein administrative Vorgehen der
StalinistInnen war aber kaum dazu geeignet, die historisch überkommene
Benachteiligung der Frau in der Gesellschaft zu überwinden.

Bürokratismus statt Frauenbefreiung

Dazu hätte es einer breiten politischen
Debatte in ArbeiterInnenbewgung und Gesellschaft bedurft, die sich schonungslos
mit gesellschaftlichen Strukturen, Traditionen und Praktiken auseinandersetzt,
die Frauen an einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
hindern. Diese (für Männer und Frauen) schmerzhafte Debatte wurde jedoch auf
unterstem Niveau ausgetragen. Nicht die Frauen selbst artikulierten ihre
Bedürfnisse in organisierter Form, sondern der bürokratische Apparat bestimmte
und legte fest. Wichtige Grundformen von Frauenunterdrückung – die Familie und
die im privaten Rahmen erledigte Hausarbeit – standen nicht zur Disposition. So
wurden auf dem Altar einiger Verbesserungen für Frauen die historischen
Grundvoraussetzungen der Befreiung der Frau geopfert.

Die Schwangerschaftsunterbrechung wurde
aufgrund medizinischer, ethischer und sozialer Indikation wegen der nach
Kriegsende herrschenden materiellen Not und dem enormen Bedarf an weiblichen
Arbeitskräften zunächst erlaubt. Doch schon 1950 wurde das Verbot wieder
eingeführt. Änderungen des Ehegesetzes entfernten v. a. die
nationalsozialistischen Bestimmungen. Dieses Hin und her gerade in der
Abtreibungsfrage verweist sehr deutlich darauf, dass die stalinistische
Frauenpolitik nicht an einer Strategie der Frauenbefreiung, sondern an
konjunkturellen Erfordernissen der Entwicklung und an der Rücksicht auf
bürgerliche Vorstellungen und Traditionen orientiert war.

Das traditionelle dreigliedrige Schulsystem
wurde durch die achtklassige Pflichtschule für alle ersetzt. Bereits im
Frühjahr 1946 wurde in den Ländern der SBZ das „Gesetz zur Demokratisierung der
deutschen Schule“ verabschiedet. 1959 wurde die zehnjährige Allgemeinbildende
Polytechnische Oberschule zur Pflichtschule. Die Erweiterte Oberschule mit den
Klassen 11 und 12 führte zum Abitur. (2)

Tradierte Rollenverteilung

Die Einheitsschule kann man als einen
ersten Schritt begrüßen, um die bildungspolitische Benachteiligung für Frauen
aufzuheben. Auch im Bereich der höheren Bildung (Abitur, Hochschulstudium)
gelang es, die Benachteiligung von Mädchen und Frauen im Wesentlichen zu
überwinden. Allerdings blieb die Rollenverteilung – Männer eher
technisch/praktisch, Frauen eher „humanistisch“ – weitgehend erhalten. 1948
löste der FDGB die gewerkschaftlichen Frauenkommissionen auf. 1949 beschloss
die SED die Auflösung der Betriebsorganisationen des DFD, deren
Haupttätigkeitsfeld nunmehr der kommunale Bereich sein sollte. Bis Ende der
achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte der DFD knapp 1,5 Millionen.
Mitglieder. Nur 30 % von ihnen waren jünger als 53 Jahre. Der Verband
richtete in Bezirks- und Kreisstädten insgesamt 210 „Beratungszentren für
Haushalt und Familie“ ein. Seit 1967 unterhielt der DFD Frauenakademien für
politische Schulung sowie für Veranstaltungen mit kultureller und
hauswirtschaftlicher Thematik, was die staatstragende Rolle und
Aufrechterhaltung der frauenfeindlichen Ideologie durch den DFD deutlich macht.
Statt Instrument der Überwindung der Benachteiligung der Frau war der DFD
vielmehr ein organisatorischer Rahmen für das „Ausleben“ der traditionellen
Rolle der Frauen.

Die Illusion, ein geeintes, neutrales
Deutschland zu schaffen, wurde durch die unterschiedliche Praxis in den
Besatzungszonen zerstört. Während der Osten den Großteil der Reparationen an
die UdSSR leisten musste, griff im Westen 1948 die Hilfe des Marshallplans.
Frauen stellten die einzige verfügbare Arbeitskraftreserve dar. Daher sollten
ihnen gesetzliche Maßnahmen den Eintritt in das Erwerbsleben erleichtern. Mitte
der 1950er Jahre stagnierte der weibliche Beschäftigungsstand, was zum Ausbau
von Kinderbetreuungseinrichtungen und des Dienstleistungssektors führte.
Wichtige gesetzliche Maßnahmen dieser Zeit waren die verfassungsmäßige
Verankerung der Gleichberechtigung der Geschlechter, des Prinzips der
Lohngleichheit und die Aufhebung der Benachteiligung unehelicher Kinder und
deren Eltern. Gleichzeitig jedoch wurden Ehe und Familie weiterhin als
Grundlage des Gemeinschaftslebens angesehen und unter den Schutz des Staates
gestellt.

Die Einbeziehung der Frauen in die
produktive Arbeit stieß jedoch auf den Widerstand der Männer. Viele Betriebe
weigerten sich, Frauen entsprechend ihrer Qualifikation oder überhaupt
einzustellen. Die zunehmende Kritik der Frauen daran zwang die SED, deren
Organisation auf betrieblicher Ebene zu unterstützen, um die Männer, v. a.
die Gewerkschaftfunktionäre, unter Druck zu setzen. 1952 empfahl das Politbüro
der SED, die Wahl von Frauenausschüssen überall dort, wo eine größere Anzahl
Frauen arbeitet, zu unterstützen. Bis Ende 1961 entstanden so ca. 20.000 Frauenausschüsse
mit ca. 140.000 Mitarbeiterinnen, von denen drei Viertel parteilos waren.
Obwohl die Gewerkschaften zur Zusammenarbeit mit den Ausschüssen verpflichtet
waren, kam es dennoch immer wieder zu Konflikten, so dass letztere Mitte der
1960er Jahre von der SED gegen ihren Willen den Betriebsgewerkschaftsleitungen
unterstellt wurden.

Degenerierter ArbeiterInnenstaat

Die Probleme der gleichberechtigten
Integration von Frauen in den Produktionsprozess sind allerdings nicht nur
einer verfehlten Frauenpolitik der SED oder männlichen Ressentiments
geschuldet. Vielmehr drücken sie ein allgemeines Problem aller degenerierten
ArbeiterInnenstaaten aus. Es zeigte sich immer wieder, dass selbst positive
Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Frauen, die es ohne Zweifel gab, im
Widerspruch zu den starren, bürokratischen Verhältnissen der Gesellschaft
insgesamt standen. Solange z. B. die Kindererziehung fast ausschließlich
in der Zuständigkeit der Frauen lag – und dieser Umstand wird ja gerade durch
die Aufrechterhaltung der tradierten Familienstrukturen konserviert –, waren
nach wie vor nahezu ausschließlich Frauen für die Betreuung kranker Kinder zu
Hause zuständig, was zu mehr Ausfällen an Arbeitsstunden führte. Unter diesen
Umständen war es klar, dass BetriebsmanagerInnen lieber Männer als Frauen
beschäftigten. Was dieses und viele andere Beispiele zeigen, ist die
prinzipielle Unmöglichkeit, selbst Teilverbesserungen langfristig
durchzusetzen, wenn die grundlegenden, strategischen Aufgaben nicht gelöst
werden.

Die „Zentralverwaltung sowjetischen Typs“
wurde in mehreren Etappen in der DDR eingeführt. Von 1952 bis 1985 sank der
Anteil des Privateigentums auf 4,6 %. Bis auf 6 % wurde die
Agrarfläche in LPGen eingebracht. Der Anteil der Selbstständigen an der Gesamtzahl
der Erwerbstätigen (1955 noch 20 %) sank bis 1988 auf 2 %. 1986 gab
es 224 Industriekombinate, in denen die Volkseigenen Betriebe (VEB)
zusammengeschlossen waren. In den Kombinaten wurde auch ein Großteil der
Forschungspolitik, der Freizeit- und Feriengestaltung, der sozialen Sicherheit
u. v. m. bestimmt.

Qualifizierung

Bis Ende der 1950er Jahre war die
Wirtschaft von der starken Abwanderung v. a. qualifizierter Arbeitskräfte
belastet (ca. 3 Millionen flüchteten aus der DDR), die erst durch den Mauerbau
gestoppt wurde. Nun ging es nicht mehr zuerst um die quantitative Einbeziehung
von Frauen in den Produktionsprozess, sondern um den Ausgleich des erhöhten
Bedarfs an qualifizierten Arbeitskräften. Dies führte zur Aufstellung von
Frauenförderungsplänen, zum Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und der
Ausdehnung von Dienstleistungen. Der DFD unterhielt seit 1967 Frauenakademien
für politische Schulung und Veranstaltungen mit kultureller und
hauswirtschaftlicher Thematik. In Bezirks- und Kreisstädten richtete der DFD
210 „Beratungszentren für Haushalt und Familie“ ein. Dennoch wurde der DFD
aufgrund seiner Funktion als Transmissionsriemen der herrschenden Kaste in das
weibliche Proletariat hinein nie zur Organisation, der sich die Frauen zur
Artikulierung ihrer Interessen bedient hätten.

Im Rahmen der Bildungsoffensive wurde von
der Staatsführung eine Reihe von Frauenförderungsmaßnahmen beschlossen wie
Frauensonderstudium oder verstärkte Qualifizierung von Frauen für technische
Berufe. Frauen konnten sich nun für ihre berufliche Aus- und Weiterbildung
freistellen lassen. Das Arbeitskollektiv musste jedoch den Produktionsausfall
ausgleichen. Da auch in der DDR-Ökonomie die Entwicklung des Konsumgütersektors
vernachlässigt wurde, vergrößerten Schlangestehen und der Mangel an effektiven
Haushaltsgeräten die Arbeitslast der Frauen. Auch die Einführung eines
monatlichen Hausarbeitstages, für den berufstätige Frauen von der Arbeit
freigestellt waren, war eine widersprüchliche Maßnahme: einerseits galt die
gesellschaftliche Anerkennung von Hausarbeit als notwendig und wurde in diesem
Fall sogar bezahlt, andererseits wurde diese Tätigkeit wieder traditionell der
Frau zugeordnet, was ihre Rolle als Aschenputtel nurmehr verfestigte und
offiziell sanktionierte.

Hier soll auch auf ein grundsätzliches
Problem der Gleichberechtigung der Frau in der DDR hingewiesen werden: die
Doppelbelastung durch Beruf einerseits und Familie, Haushalt andererseits. Die
Unterentwicklung des Dienstleistungssektors, der mangelhafte Grad der Vergesellschaftung
der Hausarbeit und ein mangelhaftes Angebot an Gütern des täglichen Bedarfs
brachten es mit sich, dass die Bewältigung des Alltagslebens sehr mühsam und
aufwändig war. Dieser Aufwand wurde zum großen Teil von Frauen und nicht von
Männern bewältigt. Die Gleichberechtigung stellte sich so in der Praxis oft
einfach als Doppelbelastung der Frauen dar. Die relativ gute Kinderbetreuung
konnte die Frauen zwar entlasten, jedoch das Problem der Überbelastung
natürlich nicht lösen. Allgemein wurde in den Jahrzehnten des Stalinismus
deutlich, dass eine grundsätzliche Änderung der Stellung der Frau in der
Gesellschaft nicht möglich ist, ohne dass das allgemeine Niveau der
Produktivität hoch ist, dadurch die Arbeitszeit deutlich verkürzt und somit
auch die tradierte Arbeitsteiligkeit (die nicht nur eine zwischen Man und Frau
ist) überwunden werden kann. Wie sollen Frauen am gesellschaftlichen und
politischen Leben aktiv teilhaben, wenn die gesamte Zeit für Arbeit, Einkäufe
etc. benötigt wird?

Reaktionäre Familienpolitik

Neben den Qualifizierungskampagnen traten
verstärkt reaktionäre, familienpolitische Maßnahmen in den Vordergrund,
z. B. wurde aufgrund steigender Scheidungsziffern die Eheauflösung
erschwert. Trotzdem war eine Ehescheidung sowohl juristisch als auch finanziell
im Vergleich zu den Regelungen der BRD einfacher. Ideologisch wurde diese
„Wende“ 1965 mit dem Inkrafttreten des Familiengesetzes, das die Familie als
„kleinste Zelle der sozialistischen Gesellschaft“ definierte, untermauert. Die
Familie war auch im Stalinismus eine Einheit der sozialen Kontrolle und
Disziplin. (3)

Nach dem Mauerbau verzeichnete die DDR
dennoch die niedrigste Geburtenrate der Welt. Auch die familienpolitischen
Maßnahmen konnten nicht zur Konstanz der Bevölkerungzahl beitragen. Im Westen
glichen seit Ende der 1960er Jahre die hohen Geburtenraten der
GastarbeiterInnen die Bevölkerungszahl aus. In der DDR war der Ausländeranteil
mit ca. 1 % sehr gering, außerdem dehnte sich die Familienpolitik (wie
auch die sonstige Rechtssprechung) nicht auf die ausländischen EinwohnerInnen
aus. Vietnamesinnen z. B. wurden bei Eintreten der Schwangerschaft in ihr
Heimatland zurückgeschickt. Trotz der Bildungsoffensive konzentrierten sich die
Hauptbereiche für Frauen im mittleren administrativen Bereich, in
sozialhelferischen Tätigkeiten oder in schwerer, monotoner Fabrikarbeit,
z. B. am Fließband. Gesellschaftlicher Aufstieg hing außerdem ganz
wesentlich von der Loyalität gegenüber der herrschenden Kaste und ihren
Institutionen ab. Die Verbesserung der Karrieremöglichkeiten wirkte sich aber
stärker auf Frauen der Bürokratenschicht aus, während Männer weiterhin das
Management besetzten.

Die von Mädchen und Jungen bevorzugten
Ausbildungsbereiche unterschieden sich in der DDR kaum von denen der Jugendlichen
in der BRD. Hier wie dort, damals wie heute konzentrierte sich die Mehrheit der
Auszubildenden auf wenige Berufe. Trotz aller Betonung der Gleichheit für
ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und Intelligenz, trotz aller Behauptungen, die
Chancengleichheit für ArbeiterInnenkinder zu erhöhen und v. a.
ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenkinder studieren lassen zu wollen, war
auch in der DDR die Ausbildungschance von Akademikerkindern höher als von
Kindern mit Eltern, die eine acht- bis zehnjährige Schulzeit absolviert hatten.
Andererseits gab es eine Reihe von Maßnahmen, um der traditionellen
Benachteiligung von Nichtakademikerkindern positiv entgegenzuwirken. So waren
der Anteil und v. a. die realen Chancen für ArbeiterInnenkinder zu
studieren besser als in der BRD.

Die stalinistische Methode zur
Produktionssteigerung war nicht eine Verstärkung der Technologie-Investition,
sondern meist eine rein quantitative Ausdehnung der Produktion. Durch die
bürokratische Unterdrückung und Gängelung des Proletariats wurden nicht nur der
Anreiz sondern auch fast alle strukturellen Möglichkeiten für die Planung und
Verbesserung der Produktion beschnitten. Daher mussten die Anzahl der
Arbeitskräfte erhöht und auch Frauen in Industrie und Landwirtschaft eingesetzt
werden. Gleichzeitig erforderte das aber auch, für eine ausreichende Anzahl von
Arbeitskräften in der Zukunft zu sorgen, was durch die Geburtenförderung
erreicht werden sollte.

Beruf und Familie

Seit Mitte der 1960er Jahre führten
sinkende Geburtenraten und steigende Scheidungsquoten zu einer
frauenpolitischen Kurskorrektur: Frauenpolitik wurde in Familien- und
Mütterpolitik umgewandelt. Die Drei-Kind-Familie wurde propagiert, um die
einfache Reproduktion zu gewährleisten. Das 1950 wieder eingeführte Abtreibungsverbot
hatte die Zahl illegaler Abtreibungen in die Höhe schnellen lassen, was 1972
dazu führte, dass die Schwangerschaftsunterbrechung gesetzlich freigegeben
wurde (4) – übrigens das einzige Gesetz, bei dem die Volkskammer keine
Einstimmigkeit erzielen konnte! Sozialpolitische Maßnahmen wie Ehekredite,
staatliche Geburtenhilfe, Erhöhung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubs,
Arbeitszeitverkürzungen für berufstätige Mütter auf 40 Stunden bei vollem
Lohnausgleich und Babyjahr flankierten diesen Wandel.

Solche Maßnahmen trugen zwar begrenzt
fortschrittlichen Charakter, verfestigten aber auf der anderen Seite auch die
Rolle der Frau in der Familie. Männer konnten diese Rechtsansprüche nicht
gleichberechtigt wahrnehmen, was die Zuständigkeit der Frauen für den
familiären Bereich untermauerte und ihre Unterdrückung festigte. Hinsichtlich
der zahlenmäßigen Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit und der damit
verbundenen ökonomischen Unabhängigkeit trug die Frauenpolitik der DDR durchaus
emanzipatorische Züge, die zu einem „Gleichstellungsvorsprung der DDR gegenüber
der BRD“ führte. Ende der 1980er Jahre waren rund 90 % aller Frauen
berufstätig, davon hatten 87 % eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Kinderbetreuungseinrichtungen deckten 95 % des Bedarfs ab. (5) Allerdings
war diese Gleichberechtigung nicht von den Frauen erkämpft. Sie war „für Frauen
gemacht“ und reproduzierte den Traditionalismus im Geschlechterverhältnis.
Frauenarbeit hieß auch quasi „wesenhafte“ Zuständigkeit für Kinder, Familie und
Hausarbeit. Sexismus in der Erziehung und strenge Arbeitsteilung waren die
Norm. Mädchen wurden gedrängt, sozialhelferische und wenig qualifizierte Berufe
zu ergreifen. Nur einigen wenigen Vorzeige-Arbeiterinnen wurden Möglichkeiten
gegeben, in männerdominierte Bereiche vorzudringen.

Polarisierung

Die Familienpolitik begünstigte soziale
Polarisierungen zwischen den Geschlechtern wie gravierende
Einkommensunterschiede, Differenzen hinsichtlich beruflicher
Entwicklungsverläufe wie auch unterschiedliche Zeitressourcen von Männern und
Frauen. Ein Drittel der Frauen war teilzeitbeschäftigt. Die Entlohnung in
typischen Frauenberufen lag im Durchschnitt ein Drittel unter jener der Männer,
was den Vorteil der ökonomischen Unabhängigkeit vom Mann wieder schmälerte. Die
Trennung vom Mann bedeutete auch im Stalinismus einen Verlust an
Lebensstandard. Auch in der DDR besetzten Frauen die unteren Ränge der
betrieblichen Hierarchie und jene gesellschaftlichen Arbeitsfelder, die neben
einem geringeren Durchschnittseinkommen auch einen niedrigeren Status besaßen,
während Männer weiterhin das politische Leben in Partei, Betrieben und
Gewerkschaften dominierten.

Die Notwendigkeit, Beruf und Mutterschaft
miteinander zu vereinbaren, führte dazu, dass Frauen häufiger als Männer in
Berufe wechselten, die unterhalb ihrer Qualifikation lagen, oder dass sie
Qualifizierungsmöglichkeiten nur beschränkt wahrnehmen konnten und beruflich
nicht so flexibel waren. Auch bildungspolitische Beschränkungen und
betriebliche Rekrutierungsstrategien trugen zur Aufrechterhaltung von
geschlechtsspezifischen Branchenaufteilungen bei. Trotz existierender
Frauenförderungspläne ermöglichten sie den Betrieben, die bürokratische
Entscheidung über die Vergabe von Ausbildungsplätzen, den Anteil weiblicher
Lehrlinge gering zu halten. Nach der familienpolitischen Wende stiegen die
Scheidungsquoten, was nur scheinbar ein Widerspruch ist und eine gewisse
Rebellion der Frauen ausdrückt. Erstens hatte die Frauenpolitik die Frauen
verändert, die Männer aber kaum. Zweitens blieben die Frauen dennoch in
traditionellen Geschlechterstrukturen und Stereotypen gefangen. Steigende
Scheidungsquoten gingen mit hohen Wiederverheiratungsraten einher. (6) Der
Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften betrug dagegen im Osten wie im
Westen ca. 8 %.

80 % der Mitte der 1980er Jahre
befragten Jugendlichen hatten in der Schule die Erfahrung gemacht, dass man
nicht sagen durfte, was man dachte, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
Formalismus und Routine bestimmten den Schulalltag. Der „vormundschaftliche“
Staat verlängerte sich auf diese Weise in die Schule hinein und verwies die
SchülerInnen auf die Position der Unmündigen, Abhängigen, Geleiteten. Die
Familie war für viele eine vertraute Alternative, eine Art Gegenstruktur.
Männer waren trotz der Berufstätigkeit der Frau immer noch die Hauptverdiener.
Auch die Arbeitsteilung in der Familie erfolgte nach geschlechtsspezifischem
Muster und prägte die Wertorientierungen Heranwachsender. Bis heute hat die
Familie für die Ostdeutschen einen hohen Stellenwert, dabei haben die
Auffassungen über geschlechtsspezifische Zuständigkeiten überdauert. (7)

Widersprüche

Die Errungenschaften der DDR in Bezug auf
die Gleichberechtigung der Frauen waren vielfältig, unzureichend und
widersprüchlich. Dem hohen Grad der Einbeziehung von Frauen ins Berufsleben
(v. a. auch im Bereich der Industrie im Vergleich zum Westen), ihrer
größeren ökonomischen Unabhängigkeit und damit zusammenhängend ihrem größeren
Sebstbewußtsein standen auf der anderen Seite eine enorme Doppelbelastung im
Alltag und eine nach wie vor überproportional starke Einbindung in Familie und
Haushalt und das Fehlen eigenständiger Organisations- und
Artikulationsmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft gegenüber. Die sozialen
Errungenschaften der DDR – die Planung der Wirtschaft, die Abschaffung des
Privateigentums und die weitgehende Überwindung der Klassendifferenzierung –
waren eine Basis, die nicht nur positiv für die Durchsetzung der
Gleichberechtigung der Frau, sondern historisch gesehen sogar eine
unverzichtbare Bedingung für die Erreichung dieses Zieles ist.

Doch die Herrschaft der bürokratischen
Kaste der StalinistInnen verhinderte eine wirkliche Emanzipation der Frau
doppelt: zum einen durch eine Frauenpolitik, die die vom Marxismus postulierte
Ziele und Bedingungen ihrer Befreiung ignorierte und sie stattdessen den
bornierten Bedürfnissen der Reproduktion ihres starren Gesellschaftsgefüges
opferte; zum anderen, indem die Bürokratie die Weiterentwicklung der
Gesellschaft Richtung Sozialismus blockierte und das Proletariat als deren
Akteur fesselte. Das Beispiel von 40 Jahren DDR zeigt die historische
Möglichkeit der Frauenbefreiung im Sozialismus wie auch die Unmöglichkeit,
dieses Ziel mit den Mitteln des Stalinismus zu erreichen.

Kapitalistische Restauration

Aufgrund der Wiedervereinigung mit der
imperialistischen BRD hat der Restaurationsprozess im Osten Deutschlands eine
gewisse Sonderstellung in der Restauration Osteuropas.

Trotz fast vollständiger Integration der
Frauen in das Erwerbssystem der DDR war die geschlechtsspezifische Aufteilung
der Erwerbsarbeit kaum in Frage gestellt, in manchen Bereichen eher noch
verschärft worden. Relativ stabil blieben auch die für weibliche Erwerbsarbeit
typischen Merkmale wie niedrigere Bezahlung typischer Frauenberufe; geringere
Aufstiegschancen; schlechtere Bedingungen, höhere Qualifikationen auch
tatsächlich anzuwenden. Für die Frauen der DDR wirkte Westdeutschland attraktiv
durch die vermeintlichen demokratischen und individuellen Freiheiten, durch seinen
Reichtum, das Konsumgüterangebot, die moderne Kleidung und durch gewisse
sexuelle Freiheiten der Frauen des Westens.

Diese Attraktivität ging schnell verloren,
als Marktpreise für Wohnen, Nahrung, Kinderbetreuung usw. bezahlt werden
mussten. Die Einkommen im Osten stagnieren, während für
Sozialversicherungspflichtige die Beitragsbemessungsobergrenzen weiter
angepasst und die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung angehoben
wurden. Für die Frauen Ostdeutschlands, die keine Alternative zum Hausfrauendasein
haben, wurde die Abhängigkeit vom Einkommen des Mannes zur Kette, die sie an
die Familie schmiedete. Merkmale feminisierter Armut schlagen nun auch voll auf
den Osten Deutschlands durch. Hauptgruppen sind wie im Westen alleinerziehende
Mütter, arbeitslose Frauen und Frauen (Witwen) ohne eigene Versichertenrente.
Dazu kommt, dass bei Frauen aller Altersgruppen Einkommensarmut häufiger
auftritt als bei Männern. Auch schon während der Wende gab es Aktionen von
Frauen für das Weiterbestehen der Kindereinrichtungen und der
fortschrittlicheren Abtreibungsgesetze. Frauen waren auch aktiv im Kampf gegen
den Stalinismus.

Mit wachsendem Selbstbewusstsein der
reaktionären Kräfte ließen die Mobilisierungen der Frauen jedoch nach. Das lag
u. a. auch daran, dass es in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung
in der DDR (SED, FDGB) keine eigenständigen Organisations- und
Artikulationsmöglichkeiten für Frauen gab und in der Wendezeit dieses Problem
kaum gesehen wurde bzw. der Kampf darum durch die Gründung alternativer
Organisationen wie dem Unabhängigen Frauenverband (UFV) ersetzt wurde.

Mit dem Umschlagen der Revolution in die
Konterrevolution änderten sich auch die Themen und die Organisationen der
Frauen. Obwohl sie in Gestalt des UFV 1989 am „Runden Tisch“ teilnahmen, wurden
im Zuge der Restauration ihre Interessen von allen Parteien übergangen.

Der FDGB, dem vor der Wende fast alle
Werktätigen angehörten, löste sich am 30. September 1990 formal auf, nachdem er
auf seinem letzten Kongreß die Satzung so geändert hatte, dass sich der
Organisationsbereich des DGB nun auch auf die fünf neuen Länder und Ost-Berlin
erstreckte. Es gab nur Einzelübertritte vom FDGB in den DGB, die
Organisationsstrukturen in den neuen Bundesländern wurden faktisch neu aufgebaut.
Die Übernahme von FunktionärInnen des FDGB in den DGB war selten.

Im ersten Jahr der Einigung konnte der DGB
im Osten zunächst einen höheren Organisationsgrad verbuchen als im Westen, aber
bedingt durch Arbeitslosigkeit und die Umstrukturierung der Wirtschaft ging er
wieder zurück. Ende 1992 hatte der DGB 11 Millionen Mitglieder, davon 7,9
Millionen in den alten und 3,1 Millionen in den neuen Bundesländern. Der Anteil
der weiblichen Mitglieder betrug in der Gruppe der ArbeiterInnen 32 %, in
der Gruppe der Angestellten 56,4 % und bei den BeamtInnen 22,3 %.

Gewerkschaften

Zum Absinken des gewerkschaftlichen
Organisationsgrades hat die Politik der Gewerkschaftsführung selbst in einem
nicht unerheblichen Maße beigetragen. Das deutsche Kapital zehrt noch heute,
fast ein Jahrzehnt nach der Wende, von der Bereitwilligkeit der
Gewerkschaftsführung, das Proletariat im Kampf gegen die sozialen Auswirkungen
der Restauration zurückzuhalten und die Spaltung in ost- und westdeutsche
ArbeiterInnenklasse zu zementieren. Noch immer erhalten die ArbeiterInnen im
Osten einen geringeren Lohn als im Westen. Wie wenig die von der
Gewerkschaftsführung für den Osten favorisierten Abwiegelungsmodelle wie
„Beschäftigungsgesellschaften“, ABM u. ä., die v. a. dazu dienten,
den Anschein vorübergehender Strukturanpassungsmaßnahmen aufrechtzuerhalten,
geeignet sind, einen „gesamtgesellschaftlichen Ausgleich der sozialen Härten“
der Restauration zu erreichen, wird nun, nachdem der kurze Nach-Wende-Boom
vorbei ist und die Krise auf Gesamtdeutschland durchschlägt, immer
offensichtlicher.

Der seit Juni 1990 festzustellende
überproportionale Anteil von Frauen an den Arbeitslosen ist ein klares Indiz
dafür, dass der Umbau des Wirtschaftssystems in der Ex-DDR keineswegs
geschlechtsneutral verläuft. (8) Der im April 1991 erstmalig in den neuen
Ländern durchgeführte Mikrozensus zeigte, dass die Erwerbsquote der Frauen von
ca. 90 % auf 73 % gesunken war. Zwischen 1990 und 1992 wurden 2/3 der
ostdeutschen Industrie zerstört. 1992 waren nur noch 750.000 in Industrie und
Handel vollbeschäftigt. Das entsprach etwa einem Viertel des
Beschäftigungsstandes von 1990. Die landwirtschaftliche Produktion sank bis
Mitte 1992 auf die Hälfte. 1989 hatte die ostdeutsche Wirtschaft 9,6 Mio.
Beschäftigte. 1992 waren 4 Mio. davon arbeitslos, in Kurzarbeit oder (als
PendlerInnen, PensionistInnen, Hausfrauen u. ä.) vom Arbeitsmarkt
verschwunden. (9)

Arbeitslosigkeit

Dabei erwies sich zunächst nicht so sehr
das Entlassungsrisiko als geschlechtsspezifisch. Vielmehr sind die Chancen, ein
neues Beschäftigungsverhältnis einzugehen, für Frauen geringer. 1995 betrug die
„stille Reserve“, die keine Chance zu einem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt
hat, 2,3 Millionen. Immer größer werdende Zahlen an Langzeitarbeitslosen und
die sinkende Bezugsdauer von Arbeitslosengeld führen dazu, dass die Zahl jener,
die gleich an die Sozialbehörden verwiesen werden, wächst. So gab es 1995
300.000 Beschäftigte, die auf Sozialhilfe angewiesen und 2,5 Mio. Arbeitslose
(Ostdeutschland), die wegen der niedrigen Lohnersatzleistungen teilweise
zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen waren.

Die strukturellen Veränderungen des
Erwerbssystems sind gekennzeichnet durch einen nachhaltigen Branchenumbau.
Grundtendenz ist dabei die Verminderung des Frauenanteils innerhalb der
verschiedenen Wirtschaftsbereiche. Diese Tendenz setzt sich unabhängig durch,
ob es sich um eine Branche im Aufschwung, eine niedergehende oder stagnierende
handelt, oder ob es sich um eher männer- oder frauentypische Erwerbsfelder
handelt:

– In der DDR frauentypische Branchen werden
zu Mischbranchen (Handel, Banken, Versicherungen u. a. Dienstleistungen).
Unter den Bedingungen eines veränderten Arbeitsmarktes reflektieren Männer
verstärkt auf diese Bereiche. In den privatisierten Ex-Treuhandfirmen des
Dienstleistungsbereiches ist bis 1992 der Frauenanteil von 71 % auf
53 % zurückgegangen. Außerdem stagnieren die primären Dienstleistungen und
die einfachen Bürotätigkeiten, während die qualifizierten sekundären
Dienstleistungsbereiche ausgeweitet werden.

  • Mischbranchen werden zu männerdominierten Branchen (übriges verarbeitendes Gewerbe, Landwirtschaft, Verkehr, Bahn, Post).
  • Traditionell schon zu DDR-Zeiten männertypische Branchen schließen sich weiter gegen Frauenerwerbsarbeit ab (Bergbau, Energiegewinnung, Bauwirtschaft, Metall-/Elektroindustrie). (10)

Geschlechtsspezifisch differenzierte
Entwicklungsverläufe sind auch hinsichtlich der beruflichen Stellung zu
beobachten. Bereits im Frühjahr 1991 waren kaum noch Frauen in
Leitungspositionen beschäftigt. Bei hochqualifizierten Führungs- und
Berufspositionen beträgt der Frauenanteil deutlich unter einem Zehntel. (Nur
bei einigen akademischen Berufen sind die Frauen in der Überzahl: Lehrerinnen
55 %, Schulleitung jedoch nur 20 %, Ärztinnen und Apothekerinnen
46 %). (11) Damit haben sich auch die Einkommensunterschiede zwischen
Frauen und Männern weiter verstärkt. Während 1991 von den männlichen
Erwerbstätigen 7 % ein Nettoeinkommen von mehr als 5.000 Mark monatlich
hatten, waren es bei den Frauen nur 0,8 %.

Frauen sind auch häufiger als Männer von
Kurzarbeit betroffen, da sie häufiger in Kleinbetrieben ohne Zuschusszahlungen
tätig sind und sich auf Verwaltungs- und Dienstleistungsberufe konzentrieren,
die auch in kurzarbeitenden Betrieben von Entlassungen betroffen sind.

Einzelne Berufsgruppen sind
überproportional von Frauen besetzt: Tierpflege, Textilverarbeitung,
Warenkaufleute, Bürofachkräfte, ärztliche Pflege- und Hilfsberufe,
Sozialpflegeberufe, Reinigungsdienste. (12) Weniger als 36 Stunden wöchentlich
arbeiten 3,4 % der Männer und 32,6 % der Frauen. 1991 betrug der
Anteil der Frauen bei den Selbstständigen 25,7 %, bei den mithelfenden
Familienangehörigen 84 %, bei den BeamtInnen 22,3 %, bei den
Angestellten 56,2 % und bei den ArbeiterInnen 29,8 %.

Erwerbsneigung

Die Erwerbsneigung ostdeutscher Frauen ist
wie die Orientierung auf die prinzipielle Vereinbarkeit von Beruf und Familie
nahezu ungebrochen. Für 1991 seien folgende Vergleichszahlen für erwerbstätige
Frauen mit Kindern genannt: Von 100 Frauen der Altersgruppe der 25–29-Jährigen
arbeiteten in den neuen Bundesländern 81, in den alten Bundesländern 50; von
der Altersgruppe der 30–34-Jährigen arbeiteten in den neuen Bundesländern 84
und in den alten 54. Eine möglichst kontinuierliche Erwerbstätigkeit der Frauen
gehört nicht nur zu den kulturellen Erfahrungen der Frauen, sondern auch der
Männer.

Ostdeutsche Männer halten es zu 93 %
für selbstverständlich, dass ihre Partnerin erwerbstätig ist, wenn keine Kinder
im Haushalt leben (75 % der westdeutschen Männer). Ist ein Kleinkind zu
versorgen, so sind 54 % der ostdeutschen Männer für eine
Teilzeitbeschäftigung der Frau (21 % der westdeutschen Männer). Unter
diesen Bedingungen plädieren 78 % der westdeutschen Männer für einen Ausstieg
aus dem Beruf (ostdeutsche 37 %). (13) Für die Mehrzahl der ostdeutschen
Frauen vollzieht sich der Ausstieg aus der Erwerbsarbeit nicht als
familienbedingte Unterbrechung, sondern als unfreiwilliger Verlust des
Arbeitsplatzes.

Warteschleife

Dementsprechend zeigen sie durchaus
Mobilität und Flexibilität, wenn es darum geht, sich auf neue
Arbeitszusammenhänge einzulassen: Qualifizierung, ABM-Maßnahmen und
Projektbeschäftigung werden als Mittel gesehen, um sich im Erwerbssystem zu
halten. 2 Mio. insgesamt „entlasteten“ 1995 den Arbeitsmarkt durch solche
„arbeitsmarktpolitischen Instrumente“. 500.000 hatte der öffentlich geförderte
„zweite Arbeitsmarkt“ (ABS, ABM, §249 AFG) zur gleichen Zeit aufgesogen. Die
Beschäftigung von Frauen nimmt auch auf dem „dritten Arbeitsmarkt“ zu, der
durch die Legalisierung der Beschäftigung von Arbeitslosen oder
SozialhilfeempfängerInnen außerhalb des Tarifsystems entsteht und ständig
wächst. Gleichzeitig nimmt die „geringfügige Beschäftigung“ (nicht
versicherungspflichtige Teilzeitarbeit unter 20 Stunden) zu. 1995 waren in der
gesamten BRD 2,5 Mio. „geringfügig beschäftigt“.

Im Zuge härter werdender Verteilungskämpfe
werden sich die geschlechtsspezifischen Differenzierungslinien wie die zwischen
den einzelnen Frauengruppen auch entlang solcher Merkmale wie Mutterschaft oder
kinderlos, alleinerziehend oder mit Partner, Kinderanzahl usw. vertiefen. Die
ausschließliche Zuständigkeit für Haushalt und Kinder schränkt die räumliche
und zeitliche Mobilität der Frauen ein. Die weitere Schließung von
Kinderbetreuungseinrichtungen und die Verkürzung der Öffnungszeiten unter dem
Vorwand der „geburtenschwachen Jahrgänge“ führen zu weiterer Benachteiligung
von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

Frauen, insbesondere Ostfrauen, zählen
schon heute zu den „Unterversorgungsrisikogruppen“ genauso wie kinderreiche
Haushalte in Ost und West. Das materielle Lebensniveau sinkt eindeutig mit
steigender Kinderzahl. Sinkende Geburtenraten (14) wie rückläufige
Eheschließungs- (15) und Scheidungsquoten (16) zeigen, dass auch im Osten die
Risiken der Individualisierung durch eine veränderte Lebensplanung minimiert
werden sollen. (17) Vor allem Alleinerziehende (18) – überwiegend Frauen; der
Anteil der alleinerziehenden Männer betrug 1991 in Deutschland 14 % – sind
in den neuen Bundesländern von den Umstellungen auf dem Arbeitsmarkt betroffen.
Gründe dafür sind v. a. der Wegfall des Kinderbetreuungsnetzes, die
zeitlichen und räumlichen Grenzen für Umschulungsmöglichkeiten oder die durch
die Überbelastung bedingte erhebliche Reduktion von sozialen Kontakten.

Nur 3 % der ostdeutschen Frauen können
sich ein Leben als „Hausfrau“ vorstellen. 2/3 der Frauen würde auch arbeiten,
wenn sie das Geld nicht bräuchten. Aber inzwischen sind es fast 46 %, die
eine Unterbrechung der Erwerbsarbeit für die Kinderbetreuung ins Auge fassen
(Dreiphasenmodell). (19) Arbeitslosigkeit und Mangel an bezahlbaren wie an
Kinderbetreuungseinrichtungen überhaupt zwingen die Frauen oft, zu Hause zu
bleiben. Gleichzeitig sind immer mehr Beschäftigte zu schlecht bezahlter Arbeit
gezwungen. (20)

Ungleichheit

Obwohl sich im Westen Deutschlands die
Quoten der Chancengleichheit durch verbesserte höhere Schulbildung bei Jungen
und Mädchen angeglichen haben, wobei die Mädchen in vielen Positionen sogar
eine deutliche Überlegenheit zeigen, so ist die Schlechterstellung von Frauen
in der späteren Arbeits- und Berufswelt eindeutig dokumentierbar.

Entgegen den Behauptungen der durch die
Wende endlich erreichten „Freiheit“ erweist sich die deutsche
Nachwende-Realität als wenig segensreich für Frauen. Unter dem Druck des mit
der Restauration wiedereingeführten Mehrwertgesetzes als Grundprinzip des
Wirtschaftens sind eine ganze Reihe von sozialpolitischen Errungenschaften der
DDR entweder beseitigt, eingeschränkt oder kaum noch erschwinglich geworden.
Weniger oder kaum noch erschwingliche Kinderbetreuung stellt Frauen stärker als
in der DDR vor die Alternative Beruf oder Kinder.

Wachsender Leistungsdruck in den
Arbeitsverhältnissen erschwert eine Berufstätigkeit für Frauen (v. a. mit
Kindern) zusätzlich. Trotz gewisser Verbesserungen und Erleichterungen im
Alltagsleben ist die traditionelle Rolle der Frau innerhalb von Familie und
Haushalt weiter ungebrochen und teilweise sogar verstärkt worden. Dazu trägt
auch das über die Medien massiv verbreitete tradierte Frauenbild bei.

Vor allem aber ist die Stellung der Frauen
innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und im Klassenkampf keine bessere als zu
Zeiten der DDR. Gerade eine solch eigenständige und aktive Beteiligung von
Frauen im Klassenkampf ist aber die entscheidende Bedingung für die Überwindung
der Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen in der Gesellschaft. Der DFD
bildete in der Volkskammer eine eigene Fraktion, der zuletzt 35 Frauen
angehörten und deren hauptamtliche Funktionärinnen – überwiegend SED-Mitglieder
– die Aufgabe hatten, die Politik der Partei im DFD durchzusetzen.

Mit dem Entstehen der Oppositionsbewegung
der DDR Ende der siebziger und in den achtziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts entstanden auch reine Frauengruppen um ökologische oder
friedenssichernde Fragen wie z. B. die Initiative „Frauen für den
Frieden“, die sich aus Protest gegen das 1982 verabschiedete neue
Wehrdienstgesetz gegründet hatte, dem zufolge im Verteidigungsfall auch Frauen
eingezogen werden sollten. Diese Frauengruppen, die zusammen etwa 300
Mitglieder zählten, trafen sich unter dem Dach der evangelischen Kirche.

Noch 1948 hatte die SMAD die Gründung der
Evangelischen Kirche Deutschlands in Eisenach als „kirchliche Vorwegnahme der
staatlichen Wiedervereinigung“ begrüßt. Die katholischen Bistümer Fulda,
Osnabrück, Paderborn und Würzburg ragten in das DDR-Territorium, was zusammen
mit der Gründung der EKD und den alle zwei Jahre im Wechsel stattfindenden
Katholikentagen und evangelischen Kirchentagen eine gesamtdeutsche Klammer
bildete. Obwohl die SED bestrebt war, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen,
und zuletzt der Anteil der Kirchenzugehörigkeit deutlich unter 30 % (in
den Industriezentren unter 10 %) gesunken war, ließ sich die stalinistische
Partei von der „Weltöffentlichkeit“, die sie an das „welthistorische Erbe“
gemahnte, und im Interesse der „friedlichen Koexistenz“ zu einem
kirchenpolitischen Zickzackkurs verleiten.

Die Kirche stellte den DDR-Oppositionellen
die Kommunikationshilfe zur Verfügung, mit der sie Kontakt mit Gleichgesinnten
außerhalb der DDR unterhalten konnten. Die DDR-Oppositionellen, auch die
Frauengruppen, waren stark von westlichen Ideologien wie Pazifismus und
Feminismus beeinflusst und konnten sich nicht aus der Kleinbürgerlichkeit der
Bürgerbewegung lösen. Ihre Forderungen umfassten Quotenregelungen auf allen
Parteiebenen, für alle Funktionen und Mandate, spezielle Frauengremien im
Staatsapparat, in Parteien und Gewerkschaften sowie flexible, familienorientierte
Arbeitszeiten. Diese Forderungen übernahmen während der Wende – mal stärker,
mal weniger betont – alle Parteien, so auch die DDR-CDU, die mit 46 % den
stärksten Frauenanteil hatte.

Am „Runden Tisch“

Unter dem Slogan „Ohne Frauen ist kein
Staat zu machen“ konstituierte sich im Dezember 1989 der UFV als Dachverband
von damals 20 Gruppierungen. Er ging mit der Grünen Partei eine
Listenverbindung für die Volkskammerwahl ein, die er jedoch wieder löste, weil
sich für ihn durch seine Listenplazierung keine Parlamentssitze ergaben. Im
Februar 1990 gehörten dem Verband bereits 34 Frauengruppen an. Sie gaben sich
ein Statut und ein Programm und öffneten sich 1992 auch für westdeutsche
Mitglieder.

Die Tatsache, dass Mitglieder der Berliner
Basisgruppen ohne Wissen der Provinzgruppen Vorsitz und Sprecherfunktion in der
Organisation übernahmen, zeigt, dass sich Strukturen und Befugnisse trotz aller
Betonung der „Basisdemokratie“ ohne wirkliche demokratische Legitimation
durchsetzten. Die Berliner Gruppen entschieden auch über die Teilnahme und
personelle Vertretung am „Runden Tisch“. Der UFV hatte im Kabinett der
klassenkollaborationistischen Modrow-Regierung einen Ministerrang inne. (21)

Der Verband sah sich als eine eigenständige
politische Interessengemeinschaft von Frauen und als Bestandteil der weltweiten
Frauenbewegung, die „für die Abschaffung unterdrückender Herrschafts- und
Denkstrukturen kämpft, die eine gewaltlose, demokratische, ökologisch stabile,
sozial gerechte und multikulturelle Welt schaffen will“. Grundsätzliche Fragen
wurden allerdings schon bald von akuten existentiellen Problemen überlagert.
Die Frauengruppen setzten sich nun vorrangig für den Erhalt des sozialen
Besitzstandes ein.

Soziale Sicherung der individuellen
Existenz und Wohlfahrt, die sich in erster Linie über Erwerbsarbeit herstellt,
wurde in den letzten Jahrzehnten für Frauen immer wichtiger und hat heute schon
fast den traditionellen Ausgleich der Lastenverteilung über die lebenslange
Versorgerehe abgelöst – auch weil die Verlässlichkeit dieses Arrangements
abnimmt.

Für die BRD – wie für andere
imperialistische Länder auch – gab es in den letzten Jahrzehnten einen Rückgang
der Schwerindustrie und der Fabrikarbeit bei einer gleichzeitigen Ausweitung
der Leichtindustrie und des Dienstleistungssektors. (22) Auffällige Merkmale
dieser Entwicklung der Produktionsstruktur sind der Rückgang der Beschäftigten
in Land- und Forstwirtschaft, der Rückgang der Selbstständigen und mithelfenden
Familienangehörigen, der Anstieg der unselbstständig Beschäftigten auf fast
neun Zehntel aller Erwerbstätigen und der enorme Anstieg der Beschäftigten im
Dienstleistungssektor.

Modernisierungstheorie

Dieser Prozess, der dem Anstieg von
Frauenarbeit zugrunde liegt, wird in der feministischen Debatte mit „Modernisierung
der kapitalistischen Gesellschaft“ bezeichnet und jetzt einfach auf die Ex-DDR
übertragen. D. h., der Restaurationsprozess wird mit nachholender
„Modernisierung“ gleichgesetzt, bei dessen Abschluss sich die Lage der Frauen
auf das westliche Niveau eingepegelt haben wird.

Inhalt der „Modernisierungstheorie“ ist,
dass in allen sich industrialisierenden Ländern Urbanisierung,
Alphabetisierung, politische Teilhabe, Differenzierung und Autonomie, soziale
und geographische Mobilität ansteigen und die traditionelle und lokale
Orientierung notwendigerweise einer nationalen und schließlich kosmopolitischen
weichen müsse. Auf die kapitalistische Wiedervereinigung bezogen heißt das: Die
Mehrheit der BürgerInnen der DDR habe das Gesellschaftssystem der BRD mit Konkurrenz,
Marktwirtschaft, Konsum, Mobilitätsmöglichkeit und Wohlfahrtsstaat als eines
ohne Alternative anerkannt. Eindeutige „Modernisierungsrückstände“ habe es bei
der Ausbildung von sozialen Bewegungen und Pluralismus, von Partizipation und
einer Differenzierung der Lebensformen und Lebensstile gegeben und diese würden
jetzt nachgeholt.

Diese auf reinem Empirismus aufgebaute
Theorie lässt die Grundlagen, auf denen ein Gesellschaftssystem aufgebaut ist,
den Boden, auf dem Urbanisierung, Alphabetisierung, Mobilität oder politische
Teilhabe gedeihen und vergehen können, völlig außer Acht. Soziale Bewegungen
und Pluralismus erscheinen so als „Errungenschaften“ der in der
„Modernisierung“ am weitesten fortgeschrittenen Staaten und nicht als Ausdruck
der Widersprüchlichkeiten des jeweiligen Gesellschaftssystems.

So übersieht der Feminismus eine der
bedeutendsten Veränderungen in der Gesellschaft der Ex-DDR – ihre
Differenzierung in Klassen aufgrund der Änderung der Eigentumsverhältnisse.
Auch die Frauen gehören nunmehr unterschiedlichen Klassen an. Ihre
verschiedenen objektiven Interessen sind mit einheitlich
geschlechtsspezifischer Politik nicht mehr vereinbar.

Denunziation

Zwar schlossen sich die FeministInnen nicht
im vollen Ausmaß der bürgerlichen Meinungsmache an, die alle Errungenschaften
der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Ex-DDR als „stalinistische
Misswirtschaft“ denunzierte, aber sie erklärten, dass der
„Gleichstellungsvorsprung“ für die Frauen der EX-DDR ihnen geschenkt worden sei
und sie jetzt, wo es die „freigiebige“ Hand der Bürokratie nicht mehr gäbe, um
ihre Rechte genauso kämpfen müssten wie die Frauen im Westen.

Im Westen hatte allerdings der Feminismus
wesentlichen Anteil daran, den Kampf der Frauen von dem des Proletariats zu
trennen und ihn auf diese Weise in die Irre zu führen. Auch in der Frage der
Wiedervereinigung ging der Feminismus von einer für alle Frauen geltenden
Ausgangslage aus. Auf der Ost-West-Frauenkonferenz 1990 hatten die westlichen
FeministInnen nur ihre ewige Litanei über das überall gleiche Patriarchat parat
und enthielten sich jeder geistigen Anstrengung über die Aufgaben, vor denen
sich die Frauen in der Ex-DDR angesichts der bevorstehenden Einengung ihres
Lebens durch die Restauration gestellt sahen.

So ignorierte der Feminismus die
grundlegende Aufgabe für das deutsche Proletariat, die Restauration auf dem
Gebiet der ehemaligen DDR zu verhindern und die politische Revolution zu einer
sozialen im Westen auszuweiten. Für ihn gab es die Frage der Errichtung einer
Klassengesellschaft nicht. Die Aufgabe sollte vielmehr heißen, positive
Errungenschaften der Frauen im Osten auch auf den Westen zu übertragen.

Feministische Ingnoranz

Zu den positiven Errungenschaften zählte
für die FeministInnen an vorderster Stelle die Fristenregelung für den
Schwangerschaftsabbruch, aber schon nicht mehr unbedingt der Bestand an
betrieblichen Kinderbetreuungseinrichtungen. So kam von den FeministInnen
bezeichnenderweise keinerlei Unterstützung für den zehnwöchigen Kitastreik im
Frühjahr 1990 im Westen Berlins. Andererseits ist es dem Feminismus strukturell
auch schwer möglich, selbst effektive Kampfschritte zu setzen, da der
Feminismus sich ja eben gerade als „unabhängig“ von der ArbeiterInnenbewegung
sieht und aus diesem Grunde auch nichts dazu unternimmt, in den
ArbeiterInnenorganisationen selbst dafür zu kämpfen, „Frauenthemen“ zu einem
integralen Bestandteil der Politik dieser Organisationen zu machen.
Unterstützung kam vor allem aus dem Ostteil der Stadt, wo es gleichzeitig
Aktionen von Frauen gegen die Schließung von betriebseigenen
Kinderbetreuungseinrichtungen gab.

Der Feminismus besteht auf der unabhängigen
Organisierung von Frauen, um die Gleichheit mit den Männern in der Gesellschaft
durchzusetzen. Er sieht den Kampf der Frauen als abgetrennt und unabhängig vom
Klassenkampf, statt sich dafür einzusetzen, dass der Kampf gegen
Frauenunterdrückung ein Teil des Kampfes der gesamten ArbeiterInnenklasse wird.
Mit dem Argument, dass die Interessen der Frauen sich nicht nur von den Männern
unterschieden, sondern ihnen sogar entgegengesetzt seien, lehnt er eine
gemeinsame Organisierung mit den Männern ab und plädiert für den
Zusammenschluss der Frauen aller Klassen. Diese Position schwächt die
ArbeiterInnenbewegung.

Radikale FeministInnen geißeln die
Unfähigkeit der bürokratischen Gesellschaften und meinen, das Leid der Frauen
dort habe gezeigt, dass der Sozialismus keine Garantie für die Frauenbefreiung
sei. Tatsächlich war die Vergesellschaftung der Hausarbeit in der DDR völlig
ungenügend (wie übrigens, wenn auch in anderer Weise auch im Kapitalismus), die
Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt war groß. Viele Errungenschaften waren
auf einem so schlechten Niveau, so dass kurz nach der Wende viele Frauen froh
waren, zu Hause bleiben zu können, um sich um die Familie zu kümmern. Solange
sie in der schlecht organisierten, häufig monotonen und mühseligen
Betriebsarbeit steckten, schien ihnen das attraktiv. Der radikale Feminismus
übersieht aber, dass diese Gesellschaften nie sozialistisch waren, sondern eine
Bürokratie die der ArbeiterInnenklasse zustehende Macht an sich gerissen hatte.
Der „demokratische“ Kapitalismus wurde von der Opposition (auch von den
Frauengruppen), von westlichen Medien und PolitikerInnen und sogar von den
StalinistInnen selbst als Ausweg aus der Krise der Planung gepriesen.
Inzwischen haben auch die Frauen in der Ex-DDR gemerkt, dass ihnen der
Kapitalismus keine Perspektive bietet.

Der „sozialistische Feminismus“, wenngleich
weniger separatistisch, teilt dennoch die Idee, dass die Strukturen der
Frauenunterdrückung getrennt von anderen Ausbeutungs- und
Unterdrückungsverhältnissen existieren. Diese Idee des eigenständigen
Patriarchats lässt ihn ebenfalls zu der Aussage kommen, dass Frauen sich
„autonom“ organisieren sollten.

Kleinbürgerlich

Die „sozialistischen Feministinnen“
betreiben in Wirklichkeit eine Politik, die den Interessen kleinbürgerlicher
Frauen entgegenkommt (z. B. deren Aufstieg in Führungspositionen). Dabei
bedienen sie sich durchaus systemkonformer Methoden, die sie sonst als typisch
für das patriarchalische Machtgefüge anprangern, wie z. B. im Fall der
gestürzten hessischen Umweltministerin Margarethe Nimsch, die es als ihre
feministische Pflicht ansah, eine Parteifreundin zu begünstigen, oder der
Hamburger Sozialsenatorin, die familienorientiert genug war, einer Institution,
der ihr Mann als Geschäftsführer diente, einen satten Auftrag zuzuschanzen.

Sozialistische FeministInnen stehen häufig
im Dienst der reformistischen Parteien, die zwar verbal für die Emanzipation
eintreten, konkret jedoch häufig Sozialabbau vorantreiben, der zu Lasten der
Frauen geht (z. B. Privatisierung von Betrieben, öffentlichem Dienst und
Sozialfürsorge).

Den „sozialistischen Feminismus“
interessieren die Sorgen und Probleme der Mehrheit der proletarischen Frauen in
Wirklichkeit nicht. Die Begeisterung über den virtuellen Feminismus von
Gleichstellungsbeauftragten, Frauenministerien und Quotenregelungen verleugnet
die Realität, die für die Mehrheit der Frauen, trotz größerer Einbeziehung in
Produktion und gesellschaftliche Funktionen weiterhin in Unterdrückung,
Schlechterstellung, Abhängigkeit vom Mann und Zuständigkeit für die Familie
besteht.

Die Frauenarbeitsgemeinschaft LISA der PDS
fasst „Analyse“ und „Programm“ in zwei Sätze: „Frauen dürfen nicht länger zur
Anpassung an männliche Wert- und Lebensvorstellungen gezwungen sein.
Frauendiskriminierung zu beseitigen, setzt nicht nur rechtliche Gleichstellung
voraus, sondern erfordert Umdenken in allen Lebensbereichen.“ (23)

Das erklärte Ziel der PDS heißt
„demokratischer Sozialismus“ und soll aus Marktwirtschaft mit parlamentarischer
Demokratie und ganz viel sozialer Gerechtigkeit bestehen. Da passt es schlecht,
dass es eben die Marktwirtschaft, das kapitalistische System ist, das aus der Frauenunterdrückung
genügend Vorteile zieht, um sie ständig weiter zu reproduzieren. Nicht der
Kapitalismus, sondern angeblich männliche Wert- und Lebensvorstellungen zwingen
Frauen, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, zwingen sie, zu gebären, zwingen sie
in ungeschützte und Teilzeitarbeitsverhältnisse usw. Warum sollten Männer dann
umdenken und warum hat die PDS – deren Frauenanteil unter dem der Männer liegt
– die von LISA aufgestellten, durchaus begrüßenswerten Forderungen wie
ersatzlose Streichung des §218 StGB oder gleichen Lohn für gleiche Arbeit
überhaupt übernommen?

Reformismus

Vom Stalinismus, der die
ArbeiterInnenklasse im Namen einer „friedlichen Koexistenz mit dem
Kapitalismus“ niederhielt, ist die PDS zu einem sozialdemokratischen
Reformismus konvertiert, der keine Klassen mehr kennt, sondern nur noch
individuelle „Wert- und Lebensvorstellungen“, die je nach Interpretationsbedarf
in von den gesellschaftlichen Verhältnissen abgekoppelte Gegensätze gestellt
werden: „konservativ und reformerisch“, „rechts und links“, „männlich und
weiblich“.

Natürlich ziehen auch die Männer der
ArbeiterInnenklasse handfeste Vorteile aus der Frauenunterdrückung: Sie
erhalten im allgemeinen bessere Löhne und haben meist bessere
Arbeitsbedingungen als die Frauen. Zusätzlicher Nutzen erwächst ihnen daraus,
dass die Frauen den Großteil der Hausarbeit oft zusätzlich zur Lohnarbeit
machen. Die Familienstruktur verfestigt diese Situation, die sexistische
Ideologie der männlichen Dominanz in ihr bringt die Männer dazu, ein Verhalten
anzunehmen, das die Frauen direkt unterdrückt.

Aber die Vorteile, die Männer der
ArbeiterInnenklasse aus der Frauenunterdrückung ziehen, sind in historischem
Ausmaß so gering, dass die Nachteile, die sich aus der Frauenunterdrückung
ergeben, unvergleichlich schwerer wiegen. Flexibilisierte Arbeitszeiten,
schlechtere Arbeitsbedingungen und geringere Löhne der Frauen üben auf jene der
Männer einen ständigen Druck aus. Im Verbund mit der sexistischen Ideologie
wird eine Spaltung innerhalb der Klasse aufrechterhalten, die ihre kollektive
Kraft schwächt. Das Proletariat insgesamt hat ein historisches Interesse am
Sturz des Kapitalismus, um der Frauenunterdrückung die gesellschaftliche
Grundlage zu entziehen. Die Männer der ArbeiterInnenklasse sind daher die strategischen
Verbündeten der Frauen im Kampf gegen das kapitalistische System.

Verschleierung

Diese Tatsache zu verschleiern, sind alle
feministischen Richtungen, erst recht der bürgerliche Feminismus in Gestalt des
Deutschen Frauenrates, bemüht. Der Deutsche Frauenrat (DF) ging 1969 aus dem
„Informationsdienst für Frauenfragen“ hervor, in dem sich 1951 nach dem Zweiten
Weltkrieg neu oder wieder gebildete Frauenverbände zusammengeschlossen hatten.
Er versteht sich in der Traditionslinie des Bundes Deutscher Frauenvereine und
„will Veränderungen ausschließlich auf den üblichen Wegen des herrschenden
Gesellschaftssystems erreichen“. Dazu muß sich der DF als „überparteiliche und
-konfessionelle Dachorganisation“ „am Konsens seiner Mitglieder orientieren“.

Die Vielfalt der Mitglieder spiegelt sich
im Vorstand, in dem die Bundesfrauenvertretung des Deutschen BeamtInnenbundes,
der Deutsche ÄrztInnenbund, der Deutsche JuristInnenbund, die Evangelische
Frauenarbeit, der Katholische Deutsche Frauenbund, der Deutsche Sportbund, der
JournalistInnenbund, der Deutsche Landfrauenverband und – der DGB vertreten
sind. Die Monatszeitschrift des DF „Informationen für die Frau“ wird vom
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert. In allen
16 Bundesländern gibt es Landesfrauenräte, die eng mit dem Deutschen Frauenrat
zusammenarbeiten.

Dass die Existenz dieser Organisation kaum
bekannt ist, obwohl sie nach eigenen Aussagen elf Millionen Frauen
einschließlich Mehrfachmitgliedschaften vertritt, zeigt, wie wenig die Belange
der proletarischen Frauen und damit die tatsächlichen Probleme, vor denen der
Kampf für die Frauenemanzipation gestellt ist, in diesem Gremium zum Zuge
kommen. Zur Erinnerung an die Gründung des BDF vor 100 Jahren organisierte der
Deutsche Frauenrat am 5. März 1994 eine Kundgebung in Bonn gegen die
„fortwährende Benachteiligung der weiblichen Bevölkerung“. Nur drei Tage
später, am Internationalen Frauentag des gleichen Jahres, hatte der DF zur
Benachteiligung von Frauen nicht mehr viel zu sagen.

Diese Organisation existiert trotz aller
gleichstellungspolitischen Phrasen nur, um die Interessen und den Kampf der
Frauen der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Systems unterzuordnen. Die
Organisationen der proletarischen Frauen haben darin nichts verloren.

Endnoten

(1) „Beteiligung am Erwerbsleben“, Quelle:
Statistisches Bundesamt.

(2) Mit einer Abiturientenquote von
13 % lag die DDR deutlich unter jener der BRD mit ca. 35 % pro
Altersjahrgang.

(3) Lesart nach „Kleines politisches
Wörterbuch“: „…In der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich die
Familie auf der Grundlage des gleichen sozialen Verhältnisses ihrer Mitglieder
zum sozialistischen Eigentum und der vollen Gleichberechtigung von Mann und
Frau immer mehr zu einer stabilen Lebensgemeinschaft, in der die Fähigkeiten
und Eigenschaften Unterstützung finden, die das Verhalten der Menschen als
sozialistische Persönlichkeit bestimmen. Insbesondere für die Charakterbildung
der Kinder, ihre Erziehung zu gesunden, lebensfrohen, allseitig gebildeten
Menschen und bewussten StaatsbürgerInnen haben harmonische Familienbeziehungen
eine große Bedeutung. Weil die Stabilität der Familie außerordentlich wichtig
für die Weiterentwicklung der ganzen Gesellschaft ist, garantiert die
Verfassung der DDR u. a. jedem/r BürgerIn das Recht auf Achtung, Schutz
und Förderung seiner/ihrer Ehe und Familie…“

(4) In der BRD wurde 1974 der
Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen legalisiert.

(5) Quelle: „Initial 4“: Artikel
„Deutschlands Frauen nach der Wende“ von Hildegard Maria Nickel.

(6) In den alten Bundesländern waren von
den 23,4 Millionen Haushalten 1991 9,4 Millionen, d. h. ca. 40 %
Familienhaushalte, davon 51 % Familienhaushalte mit einem Kind und
37,8 % mit zwei Kindern. In den neuen Ländern und Ost-Berlin sind die
Zahlen ganz ähnlich: 50,9 % Familienhaushalte mit einem Kind, 40,8 %
mit zwei Kindern.

(7) Quelle: „Initial4“: Artikel
„Deutschlands Frauen nach der Wende“ von Hildegard Maria Nickel.

(8) „Erwerbstätige nach
Wirtschaftsbereichen in Deutschland, April 1991“, in: Bernd Schäfer:
„Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“, S.185.

(9) 1,2 Millionen waren als arbeitslos
registriert. Der größere Teil war in „arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“
untergebracht bzw. verschwand durch Kurzarbeit, Frühpensionierung u. ä.
aus der Statistik.

(10) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(11) „Frauenanteile in Spitzenpositionen
verschiedener Institutionen, aus Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“, S. 247.

(12) „Typische“ Frauenberufe sind v. a.
HauswirtschaftsgehilfInnen und -verwalterInnen (97,1 %),
SprechstundenhelferInnen (99,6 %), KindergärtnerInnen und -pflegerInnen
(98,6 %), Krankenschwestern und -pfleger (83,6 %) und VerkäuferInnen
(80,2 %) – alle Zahlen 1984 für die alten Bundesländer. (Quelle: Bernd
Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“).

(13) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(14) Gegenüber 1990 gab es 1991 einen
Geburtenrückgang um 39,6 %. Dieses drastische Geburtentief verringerte
sich 1992 nochmals um 18,1 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher
Wandel in Deutschland“).

(15) Der Rückgang der Eheschließungen
gegenüber 1990 betrug 1991 50,4 % und sank 1992 gegenüber 1991 auf
4,5 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“).

(16) Der Rückgang der Ehescheidungen betrug
von 1990 auf 1991 72 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel
in Deutschland“).

(17) Tabelle „Ehescheidungen in der BRD/DDR
bzw. alten und neuen Bundesländern“, in: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher
Wandel in Deutschland“, S. 127.

(18) 1991 betrug der Prozentanteil
nichtehelicher Geburten in Deutschland 15 % mit einem sehr hohen Anteil von
40 % in den neuen Bundesländern. (Quelle: Bernd Schäfer:
„Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“).

(19) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(20) Wenn man als Schwellenwert für Armut
zugrunde legt, dass weniger als 50 % des durchschnittlichen
Haushaltsnettoeinkommens verfügbar sind, so mussten 1992 6,5 % aller
westdeutschen Haushalte und 12,7 % aller ostdeutschen Haushalte als arm
bezeichnet werden. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“).

(21) Der einzige größere Erfolg des UFV
war, maßgeblich daran mitgewirkt zu haben, dass für eine Übergangszeit auf dem
Gebiet der Ex-DDR die im Vergleich zum Westen fortschrittlichere
Fristenregelung zum Schwangerschaftsabbruch weiterbestand. Dies spiegelt sich
bis 1992 auch in den Zahlen wider: In den alten Ländern wurden 75.000
Schwangerschaften legal abgebrochen, davon fast 90 % aus „schwerer
Notlage“, in den neuen Ländern (mit etwa einem Viertel der Bevölkerung) wurden
44.000 Schwangerschaften abgebrochen.

(22) „Anteile der Produktionssektoren an
der Gesamtzahl der Erwerbstätigen in Deutschland seit 1950 in %“ und Tabelle
„Beiträge der Wirtschaftsbereiche zum Bruttoinlandsprodukt im früheren
Bundesgebiet in %“ (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“, S.183 f.). – In der DDR betrug 1990 der Anteil des primären
Sektors 8,2 %, des sekundären 44,8 % und des tertiären 47 %,
wobei die völlig andere Struktur des tertiären Sektors zu berücksichtigen ist.
Der Dienstleistungssektor war vernachlässigt, da er als nicht-produktiv galt
und dementsprechend in der Bilanzierung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
nicht auftauchte.

(23) „Feminismus und PDS“, Internetseite
der Frauenarbeitsgemeinschaft LISA in der PDS.




Revolution und Konterrevolution in der DDR, Teil 2: Vom Herbst 89 zur Wiedervereinigung

Bruno Tesch, Neue Internationale 242, November 2019

Im ersten Teil haben wir uns mit Entstehung und Niedergang der DDR beschäftigt. Im zweiten Teil widmen wir uns der Entwicklung bis zur Restauration des Kapitalismus.

Vom Sommer 1989 bis zur Wiedervereinigung
erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre Krise, die schließlich in
einer sozialen Konterrevolution mündete. Im Sommer hatte eine nicht mehr zu
bremsende Massenabwanderung eingesetzt. Im Herbst kam es dann zu
Massendemonstrationen, die sich gegen die Untragbarkeit der repressiven
Zustände wandten und nach politischen Reformen verlangten. Bis zum November
1989 befand sich die Bewegung in der Offensive. Der Parteiapparat und die
Staatssicherheitsorgane mussten Schritt für Schritt zurückweichen. Daran zeigte
sich, wie morsch das Regime schon war. Daran konnten selbst die
Palastrevolution und die Absetzung Honeckers im Oktober als Parteichef nichts
mehr retten. Auch die UdSSR war nicht mehr bereit, das Staatsgefüge zu stützen.

Der Zusammenbruch eines Teils der
Nachkriegsordnung im Osten, eine politisch-revolutionäre Krise in der DDR
konnte nur zu drei Resultaten führen: bürokratische Konterrevolution,
politische Revolution oder soziale Konterrevolution.

Grundfragen

Gerade wenn wir die zentralen Aufgaben der
politischen Revolution in der DDR – die Eroberung der Staatsmacht und
Reorganisation der Planwirtschaft – betrachten, wird unmittelbar deutlich, dass
diese von Beginn aufs Engste mit der ArbeiterInnenklasse und sozialen
Revolution im Westen verbunden waren. Wie hätte die DDR-Wirtschaft
reorganisiert werden sollen und können, wenn nicht im engen Verbund mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Westen?

Daher war die Losung einer Vereinigten
Sozialistischen Räterepublik in ganz Deutschland eine zentrale Frage vom Beginn
der Massenbewegung in der DDR an.

Sie musste jedoch konkret übersetzt werden in
Schritte zum sofortigen Aufbau von direkten Verbindungen zwischen den
Gewerkschaften, betrieblichen AktivistInnen in Ost und West, in ein
Aktionsprogramm zur Lösung der dringendsten Aufgaben auf wirtschaftlichem und
politischem Gebiet, das mit der Losung einer revolutionären
ArbeiterInnenregierung verbunden werden musste. Unsere Vorläuferorganisation,
die Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, hat von Beginn an
die Frage der revolutionären Wiedervereinigung sehr konkret aufgeworfen und
gleichzeitig die Notwendigkeit dargelegt, jede Rekapitalisierung der DDR
einschließlich einer kapitalistischen Wiedervereinigung entschieden zu
bekämpfen.

Die Frage der Wiedervereinigung war von Beginn
an virulent, obwohl sie in den ersten Wochen der Mobilisierung gegen die
Bürokratie nicht offen gestellt wurde. Das hing damit zusammen, dass gerade in
den Stellungnahmen des Großteils der kleinbürgerlichen „BürgerInnenbewegung“
die Forderungen im Wesentlichen auf demokratische Reformlosungen beschränkt
waren. Aber diese Ziele mussten auch von RevolutionärInnen in dieser Phase
aufgegriffen und zugespitzt werden. Das trifft besonders auf Losungen wie
Organisationsfreiheit, Reisefreiheit, Pressefreiheit zu.

Zugleich zeigte sich von Beginn an auch die
politische Schwäche der BürgerInnenbewegung darin, dass ihr größter Teil die
Krise in der DDR im Wesentlichen als „Demokratiefrage“ betrachtete und
weitgehend blind war gegenüber der Notwendigkeit, gerade auch eine Antwort auf
die tiefer liegende Krise der bürokratischen Planung zu geben.

Gründe für konterrevolutionären Umschwung

Wo die BürgerInnenbewegung und besonders ihr linker
Flügel ökonomische Konzepte entwickelten, stellten sie der bürokratischen
Planwirtschaft jedoch entweder nur eine Spielart des utopischen „Dritten Weges“
zwischen Kapitalismus und Kommunismus oder eine Form des „Marktsozialismus“
entgegen. Das traf auch auf die linkesten Strömungen wie Vereinigte Linke zu,
die in der „Böhlener Plattform“ einer Form der „ArbeiterInnenselbstverwaltung“
nach jugoslawischem Muster das Wort redete.

Hinzu kam, dass die BürgerInnenbewegung
insgesamt politisch eine Reformperspektive des SED-Staates vertrat. Der Druck
der Massenbewegung führte Ende 1989 zur Installation der sogenannten „Runden
Tische“, die der perspektivlosen und konfusen Opposition ein Forum boten, vor
allem aber der noch herrschenden SED-Bürokratie zupasskamen.

Sie erlaubten allen um die Tische versammelten
Kräften, die Massen zu demobilisieren, auf die Arbeit in den „neuen“ Gremien zu
vertrösten. Die zunehmende Orientierung auf bürgerliche parlamentarische Wahlen
zur Volkskammer trug ebenfalls dazu bei, die politische Energie von der Straße
an die Wahlurnen zu verlagern.

Die BürgerInnenbewegung übergab die Initiative
an die teilweise aus ihr, teilweise aus den Blockparteien entstandenen, offen
bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie einerseits, an die SED-PDS
andererseits.

Die tieferen Ursachen des „Umkippens“ der
Bewegungsrichtung bestanden in folgenden Faktoren:

  • Erschöpfung der Potentiale der bürokratischen Planwirtschaft;
  • Fehlen einer politischen Führung, die eine Alternative für die Avantgarde der ArbeiterInnenbewegung mit der Perspektive des revolutionären Sturzes des SED-Regimes und einer revolutionären Wiedervereinigung hätte weisen können;
  • weitgehende Zerstörung des Klassenbewusstseins des Proletariats

Dennoch entstanden in der Frühphase der Bewegung
Strömungen wie die Vereinigte Linke, die sich auf eine landesweite Bekanntheit
und einen Anhang unter der Intelligenz und Teilen der bewussten
ArbeiterInnenschaft berufen konnte und einige hundert AktivistInnen und
zehntausende AnhängerInnen umfasste. Außerdem kam es zu politischer
Oppositionsbildung in den Gewerkschaften – z. B. in der Initiative Unabhängige
Gewerkschaften – und, vor allem Ende 1989, zu einer tiefen politischen Krise in
der SED.

In diesen politischen Bewegungen nach links hätten
RevolutionärInnen eingreifen müssen und AnhängerInnen für die Bildung einer
wirklich revolutionären Partei finden können. Die Entwicklung wurde noch
dadurch erschwert, dass die ArbeiterInnenklasse nicht nur nicht als bewusstes
politisches Subjekt auftauchte, sondern auch betriebliche und kommunale Formen
proletarischer Selbstorganisation sehr rar blieben.

Revolutionäre Aufgaben 1989

Revolutionäre Agitation und Propaganda musste
sich auch stark auf die Notwendigkeit der Schaffung von räteähnlichen Strukturen
und Kampforganen der Arbeiter und Arbeiterinnen konzentrieren und diese mit der
Notwendigkeit der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbinden.
Eine solche wäre jedoch unmöglich gewesen ohne den revolutionären Sturz der
SED, die Zerschlagung des Staatsapparates, die Forderung nach Abzug der
sowjetischen Armee, nach Entwaffnung von Polizei, Armee, Betriebskampfgruppen
und der Übergabe ihrer Waffen in die Hände von ArbeiterInnenmilizen.

Ein zweiter zentraler Punkt war der Kampf gegen
demokratische Illusionen. Dazu war es angesichts des fehlenden
Klassenbewusstseins des Proletariats unbedingt notwendig, die Kritik des
Charakters der bürgerlichen Demokratie und die Propagierung des Rätesystems mit
Forderungen zu verbinden, die die Hoffnungen in die bürgerliche Demokratie
einem Test unterzogen hätten und gleichzeitig dazu angetan waren, den Schaden
dieser Illusionen zu minimieren.

Eine solche Herangehensweise war um so
dringlicher, als der politisch-revolutionäre Prozess November/Dezember 1989 seinen
Schwung verloren hatte, die spontane Massenmobilisierung mehr und mehr unter
die Fuchtel offen restaurationistischer Führungen geriet und auch SED, SED-PDS
(später die PDS) unter Krenz, Modrow und Gysi auf den Kurs der kapitalistischen
Wiedervereinigung umschwenkten. Sie willigten ein, im März 1990 bürgerliche
Parlamentswahlen abzuhalten.

Demobilisierung und  Rechtsentwicklung

Die „Runden Tische“ waren in dieser Hinsicht für
alle bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bürokratischen Kräfte ein Mittel, sich
dem Druck der ArbeiterInnen zu entziehen. In dieser Phase wurde von der
westdeutschen Bourgeoisie und der SPD auch die Frage der kapitalistischen
Wiedervereinigung offensiver ins Treffen geführt.

Durch die allgemeine Orientierung auf
Parlamentswahlen war die Massenbewegung damit von der Straße weg vor die
Fernsehschirme verbannt. Anfang 1990 war es noch die SPD, die nun die
Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten in der DDR auf sich
zog. Aber sie vertrat einen Wiedervereinigungsplan, der weder die
historisch-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus voll
befriedigte noch den Werktätigen der DDR eine vernünftige Perspektive bot:
Wiedervereinigung in zehn Jahren (womit die SPD in trauter Gemeinsamkeit mit
den MonetaristInnen der Deutschen Bundesbank gegen das „Abenteuer
Wiedervereinigung“ stand).

Die zögerliche Haltung der SPD hatte nichts mit
anti-imperialistischen Überlegungen zu tun, sondern spiegelte ihre soziale
Basis in der westdeutschen ArbeiterInnenaristokratie wider, die borniert, aber
nicht zu Unrecht fürchtete, die Zeche für die Expansion des deutschen
Imperialismus zahlen zu müssen. Statt gemeinsam mit den Klassenbrüdern und
-schwestern im Osten in die Offensive zu gehen, blieb die ArbeiterkInnenlasse
im Westen gegenüber den Ereignissen passiv, skeptisch, abwartend. Die SPD
redete einer Variante der kapitalistischen Wiedervereinigung das Wort, deren
Kosten allerdings nur die ostdeutschen ArbeiterInnen hätten begleichen müssen.

Diese sahen sich daher zu Recht von der SPD im
Stich gelassen. Dass die DDR-Wirtschaft mit bürokratischer Planung light nicht
aus der Krise gebracht werden konnte, wusste auch der/die unpolitischste
DDR-ArbeiterIn.

Eine einigermaßen große kämpfende
Propagandagruppe revolutionärer KommunistInnen hätte in dieser Phase zumindest
der Avantgarde eine politische Orientierung geben können. Es existierte aber
kein solcher Kern.

Die Haltung der westdeutschen
ArbeiterInnenbewegung, die Politik der SPD, aber selbst die Position eines
Teils der „radikalen“ Linken, dass die Revolution (und Konterrevolution) in der
DDR ausschließlich eine Angelegenheit der DDR-Bevölkerung sei, führten nicht
nur zum stetigen Terrainverlust im Osten, sondern sicherten dem Imperialismus
auch ein ruhiges Hinterland.

Kohls Sieg

Andererseits hatte die BRD-Regierung unter Kohl
als einzige Kraft die weltgeschichtlichen Potentiale der Situation nicht nur
begriffen, sondern auch sehr selbstbewusst im Interesse der langfristigen
Perspektiven des deutschen Imperialismus die Initiative ergriffen. Der „ideelle
Gesamtkapitalist“ hat in dieser Situation auch ganze Sektoren des deutschen
Kapitals, nicht zuletzt die Bundesbank, zur Seite geschoben und Kurs auf eine
rasche kapitalistische Wiedervereinigung genommen. Wenige Wochen vor der
letzten Volkskammerwahl ging der westdeutsche Imperialismus in die Offensive.
Die Ost-CDU, nunmehr Marionette der Bonner Regierung, gewann die Wahl. Der
eigentliche Sieger hieß Kohl.

Keine einzige größere Partei, die zur Wahl stand
(auch nicht die SED-PDS), hegte auch nur die Absicht, die kapitalistische
Wiedervereinigung und Abwicklung der DDR zu verhindern. Entscheidende
ökonomische Mechanismen – darunter die Gründung der Treuhand und die
Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 – waren schon unter
der Regierung Modrow auf den Weg gebracht worden. Nun folgte die endgültige
Zerstörung des degenerierten ArbeiterInnenstaats DDR mit der Wirtschafts- und
Währungsunion. Die Wiedervereinigung im Herbst war dann bloß der staatliche
Nachvollzug dieser Regelung.

Besonders skandalös war das Verhalten des DGB:
Im Herbst 1989 verhielt er sich passiv, stumm und gleichgültig gegenüber den
Klassengeschwistern in der DDR. Kaum aber war die Vereinigung unter
bürgerlich-kapitalistischen Vorzeichen ausgehandelt, vollzog er als Erstes den
‚Vereinigungsprozess‘ durch Übernahme des FDGB (Gewerkschaftsverband der DDR).
Der DGB liquidierte dabei kurzerhand alle bestehenden verbrieften
Errungenschaften der DDR-ArbeiterInnenklasse und kassierte außerdem
klammheimlich gleich noch den letzten Beschluss des FDGB, der ein Vetorecht der
Gewerkschaften gegen arbeiterInnenfeindliche Gesetze forderte. Die
DGB-BürokratInnen betätigten sich also als willfährige Speerspitze des
bundesdeutschen Imperialismus.

Nein zur kapitalistischen Vereinigung!

Zu den letzten Volkskammerwahlen konnten
RevolutionärInnen keine der antretenden Parteien unterstützen. Sie waren in
einer ganz entscheidenden Stunde einer Wahl, die im Grunde eine Abstimmung über
die Existenz der Errungenschaften der DDR war, allesamt auf der falschen Seite
der Barrikaden. Die soziale Konterrevolution nahm dadurch auch wie in den
meisten osteuropäischen Ländern eine bürgerlich-demokratische Form an.

Im Frühjahr 1990 hätte das Schwergewicht der
Intervention revolutionärer KommunistInnen auf folgende Punkte konzentriert
werden müssen: die Verteidigung der existierenden Errungenschaften, den Kampf
gegen den beginnenden Ausverkauf der DDR-Wirtschaft an das Kapital, ein klares
Nein zur kapitalistischen Wiedervereinigung bei gleichzeitiger Herstellung
enger Verbindung zu den ArbeiterInnen im Westen (besonders in jenen Konzernen
und Banken, die sich anschickten, den Osten zu „erobern“), den Kampf für volle
demokratische Rechte für die ArbeiterInnenbewegung und die Schaffung von den
Belegschaften verantwortlichen Kampforganen, die bei einer Generalisierung und
Zuspitzung der Abwehrkämpfe zu landesweiten räteähnlichen Organen, zu
OrganisatorInnen von Massenstreiks gegen Kapital und Bürokratie, gegen NATO und
sowjetische Truppen ausgebaut werden mussten.

Solche Organe hätten gleichzeitig die Grundlage
für eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung bilden können, für die
Zerschlagung der Reste des SED-Staatsapparates und die Errichtung einer
proletarischen Räterepublik in Deutschland. Eine solche Entwicklung hätte die
revolutionäre Wiedervereinigung mit unzweifelhaft progressiver Dynamik auf die
Tagesordnung gesetzt. Vor allem aber hätte der Zusammenbruch der alten
Weltordnung mit einem Fanal für die Ausweitung der Revolution nach Ost- und
Westeuropa begonnen.

Dass es nicht so gekommen ist, lag zweifellos an
ungünstigen politischen Voraussetzungen und der geringen Zeitspanne, die für
die Entstehung proletarischen Klassenbewusstseins und für eine grundlegende
Umgruppierung der Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung genutzt werden hätte
müssen. Die kapitalistische Wiedervereinigung war eine historische Niederlage
für die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und eine besonders schwere für das
Proletariat in der ehemaligen DDR.

Es ist kein Zufall, dass seit den frühen 1990er
Jahren fast alle zentralen Angriffe auf die Errungenschaften im Westen durch
„Probeläufe“ und „Vorstöße“ im Osten gestartet worden sind. Die
Deindustrialisierung und  der
Verlust an gewerkschaftlicher Kampferfahrung und -bereitschaft des Proletariats
in den neuen Bundesländern haben die ArbeiterInnenklasse in der ganzen BRD
geschwächt. Gleichzeitig wurde die weltpolitische Rolle des deutschen
Imperialismus gestärkt  Die
ArbeiterInnenbewegung in Deutschland steht seit 30 Jahren einem Klassengegner
gegenüber, der sich viel besser aufgestellt hat, als es die Betrachtung der
rein territorialen Ausdehnung wiedergibt.




Von Mao zum Markt – Wie die chinesische KP den Kapitalismus zurück holte

Peter Main, Revolutionärer Marxismus 39, August 2008

Im Dezember 1978 nahm der 11. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ein Wirtschaftsreformprogramm an, das die interne, fraktionelle Auseinandersetzung beendete, die die Partei mehr als 25 Jahre gequält hatte. Die Reformen markierten den Sieg von Deng Xiaoping, der kurz zuvor aus der innerchinesischen Verbannung zurückgekehrt war. Nun wurde er als „überragender Führer“ gefeiert.

Vor der Beschäftigung mit den Auswirkungen dieses Programms wenden wir uns noch kurz den Strategiewechseln der KPCh zu, die seit Begin ihrer Herrschaft 1949 zu beobachten waren, sowie den Fragen, über welche die Führung so lange zerstritten war.

Anders als Lenin, der den Machtantritt der Bolschewiki 1917 mit den berühmten Worten einleitete: „Wir werden uns nun anschicken, die sozialistische Ordnung aufzubauen“, kam Mao Tse-tung an der Spitze einer Partei zur Macht, deren erklärte Politik „die Wahrung privater und öffentlicher Interessen, der Nutzen für Unternehmer und Arbeiter, die Ermutigung der gegenseitigen Hilfe zwischen unserem und fremden Ländern zwecks Entwicklung der Produktion und Gedeihen der Wirtschaft” (1) war.

Kurz: Die Partei hatte ein „Volksfront“programm, das die kapitalistische Entwicklung des Landes unter einer Regierungsallianz aus KPCh und jener „patriotischen Bourgeoisie“ vorsah, die nicht mit Tschiang Kai Scheks Nationalisten in den späten Stadien des Bürgerkrieges paktiert hatte. In Einklang mit Stalins Etappentheorie herrschte die Meinung, dass der Sozialismus erst möglich sei, nachdem der Kapitalismus die Produktivkräfte zur notwendigen Höhe entwickelt hätte.

Doch von 1951-53 sah sich die KP vor dem Hintergrund des Korea-Krieges genötigt, einschränkende Maßnahmen politischer wie wirtschaftlicher Natur gegen die anfänglichen Verbündeten zu ergreifen. Die USA hatten damals die Tschiang Kai Schek-Kräfte, die inzwischen Taiwan besetzt und ihre Verbindungen mit der Bourgeoisie und den Großgrundbesitzern in China erneuert hatten, massiv unterstützt und eine Wirtschaftsblockade gegen Zentralchina verhängt.

1953 waren durch gesetzliche Strafen, die bis zur Enteignung reichten, die gesamte moderne Industrie und das Kommunikationswesen praktisch verstaatlicht worden. Auf dem Land löschte eine Bodenreform die Grundbesitzer als Klasse aus. Zum Schutz für die heimische Wirtschaft  vor billigen ausländischen Einfuhren und zur Unterbindung der Anbahnung jeglicher politischer Seilschaften über internationale Geschäftsbeziehungen wurde auch ein Staatsmonopol im Außenhandel errichtet.

Der wirtschaftliche Aufbau vollzog sich nunmehr entlang einer zentralen Planung, die sich im Wesentlichen auf das Vorbild der Sowjetunion bezog. Wie in der UdSSR schloss eine privilegierte Bürokratenkaste die Arbeiterklasse von den Entscheidungsprozessen über Ziele und Methoden der Wirtschaftsplanung aus. So blieb trotz der Niederlage der Kapitalisten der Weg zum Sozialismus versperrt. Die Kapitalistenklasse wurde zwar enteignet – ihre Herrschaft jedoch nicht durch eine Gesellschaftsordnung ersetzt, die auf demokratischer Planung und der politischen Herrschaft durch Arbeiterräte fußt.

Das neue politische und wirtschaftliche Regime vermehrte die Macht der KPCh und festigte sie als undurchdringliche Mauer gegen die Befreiung der Arbeiterklasse und somit auch gegen jede Entfaltung Richtung Sozialismus in China. Wie in allen im Kern stalinistischen Staaten hätte der Weg zum Sozialismus nur über den revolutionären Sturz der Diktatur der KP eingeschlagen werden können. China war in der trotzkistischen Begrifflichkeit ein degenerierter Arbeiterstaat.

Die folgenden 25 Jahre waren gekennzeichnet durch eine ständige Auseinandersetzung zwischen zwei Flügeln der Parteiführung. Der eine befürwortete eine Wirtschaftspolitik, die einen begrenzt freien Markt für landwirtschaftliche und Leichtindustriegüter zuließ und sich an das Bucharinsche Programm Mitte der 20er Jahre in der Sowjetunion anlehnte. Die andere Seite unter Führung Mao Tse-tungs befürchtete, dass dies die Parteidiktatur untergraben könnte. Sie legte größeres Gewicht auf zentral geplante Industrialisierung durch Massenkampagnen. Ihr Kurs entsprach dem ersten Fünfjahrplan in der Sowjetunion.

Die Auswirkungen dieser innerparteilichen Differenzen lassen sich an den heftigen Zickzacks der offiziellen Politik ablesen. Der anfänglichen Annahme des Plans folgten drei Jahre wohlwollender Duldung von Markttätigkeit, was die politische Lockerung in der „Hundert-Blumen“-Kampagne nach sich zog. Das wiederum ermutigte antibürokratische politische Strömungen, und im Gefolge von Chruschtschows Abrechnung mit Stalin wurde die Linie wieder abrupt in Richtung politische Unterdrückung geändert. Danach wurden Massenmobilisierungen für den „Großen Sprung nach vorn“ initiiert.

Innerhalb von zwei Jahren endete dieses Experiment in einer ökonomischen Katastrophe mit Hungersnöten. Danach verließ sich die KPCh wieder stärker auf Marktmechanismen, besonders in ländlichen Gegenden.

In den 60ern folgte Maos Vorstoß, der den verfälschenden Namen „Große Proletarische Kulturrevolution“ trägt, die Massen gegen seine politischen Gegner in der Partei zu mobilisieren. Als ArbeiterInnen in Wuhan seine Aufforderung zur „Bombardierung des Hauptquartiers“ allzu wörtlich nahmen, wurde ihr Aufruhr durch die Volksbefreiungsarmee (VBA) zermalmt, die von da ab eine zentrale Rolle in der Lenkung der Industrie spielte.

In den 70er Jahren war die Folge dieser bürokratischen Kämpfe ein Planungssystem, das nie so zentralisiert war wie in der Sowjetunion. Die Schwerindustrie wurde jedoch auch in China als wichtigster Sektor angesehen. Produktionsziele wurden durch Planziffern vorgegeben, die auch den Austausch zwischen den Erzeugern regelten. Die Preise wurden durch Planausschüsse festgesetzt. In der Landwirtschaft wurde die Erzeugung durch die Volkskommunen organisiert, die in der Regel örtliche Behörden waren und sich mit den zentralen Planzielen abstimmten.

Noch ehe Deng  Xiaoping jene Marktreformen startete, welche die Entwicklungsrichtung der chinesischen Wirtschaft fundamental änderten, hatten die chinesischen Regenten erkannt, dass sie sich von der Autarkiepolitik abwenden mussten, welche die letzten 10 Jahre der Herrschaft Mao Tse-tungs dominiert hatte. Damals machte der Außenhandel ungefähr 5% des Bruttosozialprodukts aus und erreichte damit nicht einmal 1% des Welthandels.

Binnen Monaten nach Maos Tod im September 1976 ordnete die neue Führung unter Hua Guofeng einen 10-Jahresplan an, der durch die wachsenden Auslandsdeviseneinkünfte finanziert werden sollte. Der Plan besaß die typischen Merkmale stalinistischer Großprojekte zur Entwicklung der Schwerindustrie durch Importe neuester Technologien aus den westlichen Ländern. Dies sollte aus Mitteln steigender Ausfuhren bestritten werden, v.a. aus der Öl-Förderung, die sich im abgelaufenen Jahrzehnt um 15% gesteigert hatte (2).

Zugleich wurde ein bedeutender Anstoß zur politischen Lockerung und zur Rationalisierung von während der Kulturrevolution angefangenen, aber nicht beendeten Industrieprojekten gegeben und führte zu einem deutlichen Produktionsschub. Das Wachstum beim Nettomaterialprodukt kletterte von 4% zwischen 1970-1976 auf über 10% bis 1978 (3). Angetrieben durch diese Entwicklung wurden Verhandlungen über 40 Milliarden Dollar  für Technologien, vornehmlich Stahlhütten, Kraftwerke und Düngemittelfabriken, aufgenommen (4). Doch wie schon bei früheren Projekten in China und der Sowjetunion machten sich – entgegen den überoptimistischen und willkürlichen Zielsetzungen und Erwartungen – bald die sinkenden Aussichten auf große Deviseneinkünfte durch Ankurbelung der Ölindustrie bemerkbar. Trotz ausgiebiger Erkundungen und Probebohrungen wurden keine weiteren größeren Vorkommen gefunden (5).

Im Sommer 1978, als sich die Parteiführung schon auf Verträge im Wert von $7 Milliarden eingelassen hatte, sah sie sich mit einer drohenden Zahlungsbilanzkrise konfrontiert. Unter diesen Vorzeichen, dass der Plan nicht zu realisieren und deswegen die eigene politische Macht gefährdet war, zogen die Spitzen der KP Chinas auf dem 3. Plenum des 11. Zentralkomitees im Dezember 1978 die Notbremse. Auf dieser Sitzung etablierte sich Deng Xiaoping als „unumstrittener Führer“ und setzte das „Reform“programm durch, mit dem die Wirtschaft durch einen größeren Spielraum für Marktanreize gefördert werden sollte. Der eigentliche Verfasser des Plans war Tschen Yun, ein betagter wirtschaftspolitischer Führer, der auch die ökonomischen Rettungsmaßnahmen nach dem „Großen Sprung“ und der „Kulturrevolution“ geleitet hatte.

Die Maßnahmen waren nicht völlig neu. Im industriellen Sektor hatten Pläne zur Steigerung der Effektivität und Produktivität durch größere Entscheidungsfreiheit von Fabrikdirektoren schon 10 Jahre zuvor in der Sowjetunion Anwendung gefunden. Dies hatte sich aber als unzureichend für die Überwindung der Trägheit der bürokratischen Planung erwiesen. Das gleiche Schicksal ereilte auch die chinesische Variante davon. Im Landwirtschaftsbereich bedeuteten die Verminderung der Zwangsabgabe an den Staat sowie eine gleichzeitige Erhöhung seiner „Aufkaufpreise“ und ein freier Markt für alle anderen Produkte eine Wiederholung der Neuen Wirtschaftspolitik (NEP) in der Sowjetunion ab 1921 und der Maßnahmen zur Überwindung der Hungersnot nach dem „Großen Sprung“ in China 1962.

Hauptakteure

Ob die Hauptakteure Deng Xaioping, Li Xiannian oder Tschen Yun schon damals bewusst an der Wiederherstellung des Kapitalismus arbeiteten oder nicht, mag dahin gestellt bleiben. Ihre Politik im folgenden Jahrzehnt und darüber hinaus lässt dies eher nicht vermuten. Aber klar ist, dass sie als eingefleischte Stalinisten stets ein Ziel verfolgten: die politische Macht in den Händen der KP China zu behalten, ungeachtet des Klassencharakters der Eigentumsverhältnisse in China. Der Weiterbestand der Parteiherrschaft darf jedoch nicht den Blick auf den gewandelten gesellschaftlichen Gehalt verstellen, den das Regime verwaltete.

Die „Reformen“ seit Ende der 70er Jahre verfolgten nicht die Absicht, die Planwirtschaft abzuwickeln, sondern sie durch schnelle Anstöße und Anreize zu stärken und dynamisieren. Die Reformen wirkten allerdings in Richtung einer Parallelwirtschaft, die nicht mehr dem Plan unterworfen war, sondern eine Eigendynamik entfaltete, v. a. weil sie Güter und Dienstleistungen erzeugte, die durch den Vorrang der Schwerindustrie und durch die bürokratische Planung der Landwirtschaft der chinesischen Bevölkerung lange vorenthalten blieben. Als dieser Sektor gedieh, legte er die Grundlage für weitere Experimente, weitere Lockerung der Kontrollen über den Markt und Unternehmer sowie für größere Bereitschaft, die Quellen des Plansektors anzuzapfen, um das Wachstum der „Parallelwirtschaft“ zu fördern.

Als die Kräfte des Marktes stärker wurden und die Zusammenhänge des Plansektors zu untergraben begannen, förderte dies unvermeidlich die politische Aktivität und eine Debatte über die künftige Richtung des Landes. Doch jegliche Diskussion gefährdete unmittelbar die Diktatur. Solche Debatten waren praktisch illegal, seitdem die Verfassung die führende Rolle der Partei zementiert hatte. Somit war eine Demokratiebewegung, auch wenn sie schon bis in die obere Riege der Bürokratie vorgedrungen war, untragbar für die Führung als ganzes.

Der Bruchpunkt kam, als Ende der 80er Jahre der Studentenprotest auf dem Platz des Himmlischen Friedens aktiven Rückhalt aus den Reihen der frisch gegründeten  Arbeiterorganisationen in Peking und darüber hinaus erhielt. Das Tiananmen-Massaker und die folgende landesweite Unterdrückung säuberten praktisch jegliche politische Opposition und verstärkten die Parteidiktatur. Als diese gesichert war, änderten die Führer ihre Strategie und beschlossen, die Überbleibsel der Planwirtschaft zu beseitigen bei gleichzeitiger Wahrung ihrer diktatorischen Befugnisse – jedoch nun über ein kapitalistisches China.

Der kapitalistische Weg

Den Entscheidungsträgern war bewusst, dass das Reformprogramm von 1978 die Einführung von kapitalistischen Elementen nach sich zieht. Deng selbst war von Mao Tse-tungs berühmtem Verdikt als „kapitalistischer Wegbereiter“ angegriffen worden, weil er die Marktreformen in den 60ern unterstützt hatte. Seine ebenso berühmte Entgegnung, dass es keinen Unterschied mache, „ob eine Katze schwarz oder weiß sei, Hauptsache sie fange Mäuse“, beschreibt im Grunde Dengs zweideutige Haltung in der Verteidigung der nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Obwohl er verstand, dass das Wirtschaftswachstum ein Gebot war, blieb sein Hauptziel stets die Erhaltung der Macht der Partei. Seine „Reformen“ erleichterten aber nicht nur die Wiederauferstehung des Kapitalismus in China, sondern waren auch ein Anreiz für die Rückkehr der chinesischen Bourgeoisie und eine Einladung an das Kapital aus den imperialistischen Ländern.

Zu Beginn der Reformperiode wurden förmlich alle Ein- und Ausfuhren über die Außenhandelsgesellschaften des Staates getätigt. Öl war der Hauptexportartikel (6). Zwischen 1978 und 1985 verdreifachte sich die Ausfuhr von Rohöl und raffiniertem Petroleum auf 36 Millionen Tonnen im Wert von etwa 6 Milliarden $. Nach diesem Höhepunkt jedoch fiel die Exportkurve in Umfang und Umsatz wieder. Das lag teils daran, dass die heimische Wirtschaft eingeengt wurde: 98% aller Steigerungen der Ölproduktion seit 1978 wanderten in den Export (7).

Andere Grundstoffe wie Grundnahrungsmittel, Tabak, Minerale, tierische und pflanzliche Öle, die zentral kontrolliert wurden, machten mit dem Öl 50% aller Ausfuhren dieser Periode aus und setzten damit die Politik der 60er Jahre fort. Nach 1985 wurde dieses Schema verändert. Der Anteil der Fertiggüter am Gesamtausfuhrwert stieg bis 1991 auf 77% (8). Bedeutend war, dass die Fertigwaren zunehmend außerhalb des zentralen Plansektors erzeugt wurden, entweder im Stadt- und Dorfunternehmenssektor (SDU) oder in den Wirtschaftssonderzonen (WSZ).

Obgleich diese Güter von staatlichen Behörden vermarktet wurden, hatte ein Politikwechsel 1984 die Gründung von neuen ausländischen Handelsgesellschaften in Stadt und Land gestattet. Weil diese im Wesentlichen unabhängige Körperschaften waren, ging die Warenkontrolle vom zentral dirigierten Handelsplan in ihre Hände über. Unmittelbar wirkte sich das in einer beschleunigten Preisgestaltung aus, die von der Weltmarktkonkurrenz vorgegeben wurde. Den Institutionen stand eine wachsende Geldmenge in Fremdwährungen zur Verfügung, die zentral schwer zu kontrollieren waren.

Als SDU-Sektor wurden jene anfangs kleinen Firmen bezeichnet, die aus den Gemeindewerkstätten und kleinen Fabriken hervorgingen. Zu Beginn der Reformperiode gab es davon 28 Millionen. Die meisten arbeiteten der Landwirtschaft zu und stellten Landbauwerkzeuge, Futtermittel, Haushaltswaren, Bekleidung und Schuhe her. Maos Dezentralisierungspolitik bedeute aber auch, dass einige in größerem Maßstab tätig waren (Wasserkraftwerke, Metall- und Zementindustrie). Sie waren offiziell als „staatlich“ und verfügten über Staatsressourcen, gehörten aber nicht zum Plansystem.

Landwirtschaft

Die Rückkehr zur familiären Landwirtschaft nach 1978 hatte große Auswirkungen. Örtliche Funktionäre wurden ermutigt, diese Form der Landwirtschaft „nach Kräften zu unterstützen“. Die stetig steigenden bäuerlichen  Einkommen und mehr vermarktbare Produkte belebten den Aufstieg der Werkstätten zu dynamischeren Unternehmungen. Die Verbindung von steigender Nachfrage nach landwirtschaftlichen Gütern, Haushaltswaren, Fertignahrung, Baumaterial und Transportmitteln und der erleichterte Zugang zu günstigen Krediten entweder von Staatsbanken oder ländlichen Kreditgenossenschaften und gepaart mit den um mehr als 40% niedrigeren Löhnen als in der Industrie, sorgte für rasches Wachstum. Das wird von folgenden Zahlen illustriert: die Zahl der ländlichen Märkte stieg von 38.000 (1980) auf 67.000 (1993) (9).

Ökonomisch bedeutete der SDU-Sektor trotz seines immer wieder betonten Charakters als kollektives Eigentum, dass diese Unternehmen vermehrt als kapitalistische Firmen in Erscheinung traten. Sie akkumulierten Kapital und etablierten Marktpreise für viele Güter, darunter manche, die auch Eingang in den Plansektor fanden. 1996 befanden sich 135 Millionen Betriebe in diesem Wirtschaftsteil. Ihr Anteil am Bruttosozialprodukt war von 6% (1978) auf 26% eines zugleich gewaltig angewachsenen Volkswirtschaftsumfangs 1996 empor geschnellt.

In jenem Jahr beschäftigte dieser Wirtschaftsbereich SDU in vorgeblichem Kollektivbesitz 60 Millionen ArbeiterInnen, etwa die Hälfte der gesamten Erwerbsbevölkerung. Der Rest bestand aus kleinen Gewerbetreibenden oder bildete die Belegschaft von „Haushalts- und Privat“firmen. Seither hat die nun offen durchgeführte Privatisierung den „Kollektivanteil“ auf 10 % gedrückt (10).

In diesem Sektor erstand eine neue Kapitalistenklasse in China. Obwohl sie zweifelsfrei von ihren Wurzeln aus dem Staatsfundus und von Vergünstigungen durch lokale Staats- und Parteifunktionäre profitierte, mussten im vergangenen Jahrzehnt und darüber hinaus diese Kapitalisten ihre Geschäftstüchtigkeit schärfen, um nicht nur auf dem Binnenmarkt, sondern auch international bestehen zu können. Besonders in Guangdong sind sie zu einem wichtigen Kanal für das Hongkong-Kapital geworden, Kapital-Anlagen im chinesischen Hinterland tätigen zu können (11).

Wirtschaftssonderzonen

Wie andere Elemente des Reformprogramms waren auch die Wirtschaftssonderzonen (WSZ) keine chinesische Idee. In diese geografisch begrenzten Gebiete konnte ausländisches Kapital fließen, die sonst in China geltenden Wirtschaftsgesetze fanden hier keine Anwendung.

Diese „Zugeständnisse“ zwecks Nutzung ausländischer Währungen, Technologien und Fertigkeiten waren bereits Teil des Programms der Linken Opposition in der Sowjetunion der 20er Jahre. Deren Konzept orientierte sich aber an der Notwendigkeit des staatlichen Außenhandelsmonopols und einer demokratischen Planung durch Wiederbelebung und politischen Herrschaft von Arbeiterräten (Sowjets). In jüngerer Zeit haben auch andere asiatische Staaten solche „Export fördernden“ Zonen eingerichtet, ironischerweise zuerst auf Taiwan.

Die ersten vier WSZ in China lagen an der Küste nahe Taiwan und Hongkong. Neben ihren Lagevorteilen (leichte Ein- und Ausfuhrbedingungen) waren diese Plätze strategisch wichtig, weil sie bewusst Investitionen aus Taiwan und Hongkong begünstigten. Obwohl das angelockte Kapital als „ausländische Direktinvestitionen“ (FDI) klassifiziert wurde, war dies auch ein deutliches politisches Signal an die chinesische Bourgeoisie, auf das Festland zurückzukehren. Dem Entwicklungsmodell der WSZ lag die Erwartung zu Grunde, dass Investoren ihre eigenen Rohstoffe und Produktionsanlagen einführen und ihre Produkte exportieren würden. Die WSZ-Behörden sorgten für Infrastruktur und Energiebedarf – und natürlich Arbeitskräfte zu „attraktiven“ Bedingungen. Diese Vereinbarungen zeugten davon, zu dieser Zeit eine strenge Trennung zwischen WSZ und der restlichen Wirtschaft zu wahren.

Eine Besonderheit stellt die WSZ Schenzhen in der Provinz Guangdong nahe Hongkong dar. Von Beginn an sollte sie mehr als eine reine Fertigungsenklave sein. Sie umfasste Wohnungs-, Einkaufs- und Freizeitgelegenheiten sowie touristische Sehenswürdigkeiten, um Besucher aus Hongkong anzulocken. Ihre Ausdehnung von 330 km2 übertraf die meist nicht mehr als 10 km2 großen übrigen drei WSZs deutlich. Der Handel zwischen Guangdong und Hongkong war ohnehin bereits gefestigt, die lokalen Amtsträger hatten sich schon vor Einführung der Marktreformen für die Schaffung einer solchen Zone stark gemacht. In dieser Region hatte die chinesische Bourgeoisie sich eine Plattform geschaffen oder – vielleicht genauer – erhalten und war bereits in der Lage, die Zentralregierung zu beeinflussen. Die längerfristige Bedeutung der Großzone lag in ihrem Einfluss auf die Gesamtprovinz, z. B. durch ihre Sogwirkung auf Arbeitskräfte, nicht nur für die Arbeit in der Produktion, sondern auch in der Bau- und Dienstleistungsbranche, die dafür sorgten, dass die Zone sich stabilisierte und ausweitete.

In den ersten vier Jahren waren die WSZ nicht sonderlich erfolgreich. Doch ihr Potenzial, FDI anzuziehen, das auch großenteils vor Ort gehalten werden konnte, blieb der Verwaltung anderer Provinzen und Städte nicht verborgen. Den Ausschlag für die Diskussion, ob die Rechte und Befugnisse der WSZ ausgedehnt werden sollten, gab ein Besuch von Deng Xiaoping 1984 in Schenzhen, der der Stadt Erfolg bescheinigte. Daraufhin wurden neue WSZ eingerichtet und WSZ-ähnliche Rechte an 14 „offene Städte“ verliehen, darunter besonders bedeutsam Schanghai, Chinas geschichtsträchtiger Haupthandelshafen.

Befürworter einer exportorientierten Strategie hatten argumentiert, dass die langsame Entwicklung der WSZ durch eine Verbindung von geringer Größe mit einem Mangel an Vertrauen von potenziellen Investoren hervorgerufen worden war. Die Resultate des geänderten Kurses schienen ihre Ansichten zu bestätigen. Der FDI-Kapitalfluss erhöhte sich von $1,4 Mrd. (1984) über $2,2 Mrd. (1985) bis zu $11,2 Mrd. 1992, dem letzten Jahr der Reformphase.

Ausländische Direktinvestitionen (FDI)

Es gab zwei Hauptquellen dieses Kapitals während der Reformphase. Es floss aus Händen chinesischer Kapitalisten in Taiwan, Hongkong und Macao, die mit $2 bis 3 Mrd. jährlich beteiligt waren, ehe 1992 ein Sprung auf $9 Milliarden erfolgte. Die übrigen Investoren aus den drei imperialistischen Hauptblöcken USA, Japan und EU hatten demgegenüber nur einen Anteil von etwa $1 Mrd. im Jahr (12). Das Kapital zur Ausbeutung billiger chinesischer Arbeitskraft stammte mithin nicht zur Hauptsache von den großen imperialen Mächten, sondern vornehmlich aus der chinesischen Diaspora, also jenen Elementen der chinesischen Bourgeoisie, die sich außerhalb des chinesischen Festlandes ihre Grundlage geschaffen hatten.

Das stete Anwachsen der Investitionen hatte beträchtlichen Einfluss auf Produktion und Produktivität. Exporte aus Unternehmen mit Auslandskapital waren noch 1985 in Chinas gesamtem Außenhandel ein vernachlässigbarer Posten mit einem Anteil von 1,1%, erreichten aber 1988 bereits 5,2% und 1992 über 20%. In jenem Jahr trugen sie mit 60% zur jährlichen Steigerung der Fertigwarenausfuhr bei (13).

Für eine Regierung, die auf eine vom Export bestimmte Strategie orientiert war, lag es auf der Hand, dass dieser Sektor nun die Waren produzieren konnte. Zwar waren die FDI nicht die einzige Finanzquelle, denn die chinesischen Spareinlagen hätten leicht die Investitionskosten decken können, aber sie waren der einzige Weg zu neuer Technologie, moderner kapitalistischer Betriebsführung und einem Verständnis für internationale Märkte und Vermarktungsstrategien. Es darf nicht vergessen werden: Trotz ihrer Einstufung als „ausländisch“ waren die meisten dieser Unternehmen Eigentum des chinesischen Bürgertums.

1992 trat der volle Einfluss der Ausweitung der WSZ und der „offenen Städte“ klar hervor. Die Gesamtbevölkerung in den Zonen belief sich nun auf 160 Millionen, in etwa die Bevölkerung von Deutschland und Frankreich. Wegen ihrer Lage entlang der Küste waren die WSZ praktisch eine Wirtschaftseinheit für sich. Innerhalb ihres Einzugsbereichs wurde die Einteilung nach strengen Demarkationslinien, zwischen Genossenschaftsunternehmen, Unternehmen auf Fremdkapitalbasis, Stadt- und Dorfunternehmen und auch rein staatlichen Unternehmen nicht mehr so ernsthaft befolgt.

Zwar kamen weiter Vorgaben aus dem Plansektor, z.B. Baumaterial und nichtmilitärischer Maschinenbau, Energie und Hafenanlagen, aber die Beziehungen zwischen verschiedenen Firmen wurden zusehends vom Markt bestimmt. Demzufolge vollzog sich bei aller Unreife von im Wesen kapitalistischen Firmen auch die Herausbildung einer Klasse von Kapitalisten sowie einer Schicht von Managern, die eng mit dem Geschäftssystem, das von der chinesischen Bourgeoisie auf Taiwan und in Hongkong beherrscht wurde, verzahnt war.

Dennoch blieb die zentrale Rolle der Partei unangetastet. Die Parteisekretäre waren die Schlüsselfiguren in den Entwicklungsprozessen, bauten bürokratische Hürden ab, bürgten für Kredite von staatlichen Banken usw. Der Staat unterhielt enge Verbindungen im gesamten WSZ-System und hatte die Befugnis, eigene Prioritäten zu setzen, um sich gegen seine Macht bedrohende Entwicklungen abzusichern.

Es gab Firmen mit Sitz auf dem Festland, die am Gesetz vorbei Kapital nach Hongkong oder Zollhäfen wie auf den britischen Jungferninseln exportierten, um es dann in China neu zu investieren mit allen Vorteilen, die Auslandskapital in China gewährt wird – so genanntes „Rundreisekapital“. Dies unterstreicht die mehr und mehr verfeinerten Verbindungen zwischen den Küstenprovinzen und den ausländischen Geschäftsinteressen, die fraglos von der chinesischen Emigranten-Bourgeoisie mit Duldung von KP-Parteigrößen zumindest auf Provinzebene vermittelt wurden.

Firmen konnten einen Teil der Einkünfte aus Fremdwährungen einstreichen, mussten aber im Binnenhandel mit der nationalen Währung, dem Renminbi Yuan, verrechnen. Deswegen blühte bald der Devisen-Schwarzhandel für den Renminbi Yuan. Um diese Sache nicht ganz aus dem Griff zu lassen, gestattete Peking die Schaffung von „Tauschzentralen“ in 30 Städten. Da der Renminbi Yuan offiziell höher bewertet wurde als auf den internationalen Märkten, wurde für diese Tauschzentralen ein inoffizieller, dafür aber aussagekräftigerer Wechselkurs eingeführt.

Einfluss von Reformen

Ende der 80er Jahre hatten die Reformen in Bezug auf Außenhandel eine große Rolle bei der Schwächung der drei miteinander verbundenen Hauptmerkmale von Chinas nachkapitalistischer Wirtschaftsordnung gespielt: dem staatlichen Eigentum an der Großindustrie, ihrer Unterordnung unter den Plan und das Staatsmonopol des Außenhandels.

Wo vordem kein bedeutender Bereich der Produktion bestand, der sich in Privatbesitz befand oder unabhängig vom Staat operierte, trat jetzt ein gedeihender und zunehmend vernetzter kapitalistischer neben dem Plansektor auf, der zudem in den Planbereich hineinwirkte (14). Zwar sollte die Produktion per definitionem in den WSZ, den Auslandskapitalunternehmen, den SDU sowie dem kleinen aber aufstrebenden Privatsektor außerhalb des Plans stattfinden, dennoch war sie nicht gänzlich abgeschieden von der Produktion im Plansektor. Aber weil die Planungsprioritäten den politischen Prioritäten des Staates untergeordnet waren – denn das vom Export bestimmte Programm und die Unterstützung für neue Unternehmen waren die Richtschnur -, wurde die Produktion für den Plan weiter nach deren Bedürfnissen ausgerichtet. Die zunehmende Unabhängigkeit für die Verwalter des Staatssektors ermutigte sie auch, eigene Geschäfte einzufädeln, besonders mit den SDU. Schließlich war auch das staatliche Außenhandelsmonopol in den meisten wirtschaftlich fortgeschrittensten Teilen des Landes praktisch aufgehoben. Es sollte ursprünglich die nationale Wirtschaft als ganze in Einklang mit den politisch vorrangigen Zielen vor dem internationalen kapitalistischen Wertgesetz schützen.

Die parallele Existenz zweier unvereinbarer Wirtschaftssysteme führte natürlich zu schweren Verwerfungen, ganz zu schweigen von Korruption und Vetternwirtschaft. Doppelte Preis- und Währungs-Verrechnungssysteme sowie lokale Investitionsentscheidungen neben zentralen Plananweisungen erzeugten widerstreitende Interessen und Differenzen über die Ausrichtung der Politik. Die Auswirkungen der Reformen riefen eine offene politische Diskussion hervor, die nicht auf die Partei eingegrenzt war. Das war der Anfang der Demokratiebewegung, die Mitte der 80er Jahre einsetzte und fast jeden Winkel der chinesischen Gesellschaft erreichte. Mit der Unterdrückung dieser Bewegung, an erster Stelle und am auffälligsten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und später im Gefolge des Massakers breiter und systematischer auf dem Land zeigte die Partei klar, was sie politisch dulden würde; zugleich zeigte sich auch der Mangel an Zusammenhalt der politischen Opposition.

Zwei Jahre lang schien Chinas Wirtschaftsleben zurückgeworfen, da die Führung unter Li Peng den Unterdrückungsapparat und die allgegenwärtige Parteimaschinerie nicht nur zur Niederhaltung von Widerspruch nutzte, sondern auch die noch beträchtlichen wirtschaftlichen Hebel des Staatssektors zur Eindämmung von Inflation, zur Wiederherstellung von Preiskontrollen und zur Lenkung von Beschaffung und Verteilung in Gang setzte.

Der neue Schwerpunkt verdeutlichte einen Sieg für jene Elemente in Partei und Staat, die das ganze Reformprogramm nur widerwillig unterstützt hatten und nun die Gelegenheit sahen, der Schwerindustrie und dem Staatssektor allgemein wieder den ihnen gebührenden Platz zuzuweisen. Das vermochte jedoch nicht das Problem der wachsenden Exporteinnahmen oder den Zugang zu neuen Technologien zu lösen, wie dies noch in den 70er Jahren funktionierte.

Hinter den Kulissen wurde die offenkundige Fähigkeit Pekings, „Ordnung“ zu schaffen, zum Anlass genommen, bei den Investitionen aus Taiwan und Hongkong aufzusatteln, während die imperialistischen Länder ihre Einlagen kaum erhöhten. Bereits 1991 trug dank des raschen Investitionszuwachses aus Hongkong, Taiwan und Macao eine neue Wachstumswoge die Wirtschaft, v.a. natürlich in Guangdong, empor.

Wieder einmal stellte ein Besuch von Deng Xiaoping während seiner „Südreise“, als er die Erfolge von Schenzhen und das Anhäufen von Reichtum lobte, die Signale für die Entscheidung auf höchster Ebene, nicht nur das Reformprogramm beizubehalten, sondern auch die Staatsmacht für den Abbau der Planwirtschaft und die bewusste Wiederherstellung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse einzusetzen.

Die formale Bestätigung für den Kurswechsel erfolgte auf dem 14. Parteikongress im Oktober 1992, als die Befürworter der neuen Politik ihre konservativen Widersacher aus der Führungsriege drängten und ein Drittel der Mitgliedschaft des Zentralkomitees von ihnen säuberten. Der Kongress markierte den qualitativen Wandel im Charakter des Staates. Seit dieser Zeit waren der Rückbau der Planwirtschaft und ihre Ersetzung durch den Kapitalismus erklärtes Ziel.

Obgleich die Umsetzung dieser Politik mehrere Vorbereitungsjahre erforderte, kann der chinesische Staat von diesem Zeitpunkt an als bürgerlicher Staat angesehen werden, weil Klassencharakter eines Staat durch die Eigentumsverhältnisse definiert ist, die er verteidigt und fördert, selbst wenn die ökonomische schlussendliche und erfolgreiche Durchsetzung des Wertgesetzes noch über Jahre von ebendiesem Staatsapparat vorangetrieben werden muss.

Deng Xiaoping blieb als „höchster Führer“ im Hintergrund, die politische Führung ging auf den Generalsekretär der Partei, Dschiang Tschemin, und seinen wirtschaftspolitischen Ressortchef, Tschu Rongdschi, über, der später Präsident und Premier wurde. Das neue Programm der KP China konnte nicht offen als Wiederherstellung des Kapitalismus bezeichnet werden. Es wurde als „Neuer Weg zum Sozialismus“ vorgestellt, als „sozialistische Marktwirtschaft“, auch gelegentlich „sozialistische Warenwirtschaft“ benannt. In einer Resolution des Zentralkomitees der Partei im folgenden Jahr beschreibt Dschiang selbst das Ziel als „den Markt zu befähigen, die fundamentale Rolle bei der Bereitstellung von Ressourcen zu spielen unter der makroökonomischen Kontrolle des Staates“ (15).

Wenn diese in sich widersprüchliche Formulierung überhaupt einen Sinn ergeben soll, Ressourcengarantie durch den Markt versus makroökonomische Kontrolle des Staates, so kann hier an Trotzki angeknüpft werden, der über die Stalinisten in der Sowjetunion äußerte, sie machten den Fehler, sich selbst mit der Revolution gleichzusetzen. In China haben Maos Nachfolger den „Sozialismus“ mit der Fortsetzung ihrer eigenen Herrschaft verwechselt. Der wahre Gehalt dieser Formel lautet deshalb „Kapitalismus unter der Diktatur einer Partei“.

Welthandelsorganisation (WTO)

Der Reformabschnitt 1978 bis 1992 zeichnete sich durch die wachsende Öffnung gegenüber dem Weltmarkt aus, die zu einem inneren Wandel Chinas führte. Die Entscheidung zur Wiedereinführung des Kapitalismus wiederum eröffnete eine Periode, in der Chinas Wandel die Weltwirtschaft zu verändern begann. Obwohl die Folgen der Wirtschaftsreformen in China offenkundig großen Anteil an der Entscheidung auf dem Parteikongress 1992 hatten, muss auch dem internationalen Zusammenhang großes Gewicht beigemessen werden.

Bald nach dem Massaker von Tiananmen vollzog sich auch der Zusammenbruch der stalinistischen Herrschaft in der Sowjetunion sowie in Ost- und Mitteleuropa. In unterschiedlichem Maß forderten auch dort populäre demokratische Bewegungen, die an die Demokratiebewegung in China erinnerten, die Einparteien-Diktaturen heraus. Als klar wurde, dass die Rote Armee nicht zur Stützung dieser unpopulären Regierungen einschreiten würde, war das Schicksal dieser stalinistischen Diktaturen besiegelt. An deren Stelle sorgten pro-kapitalistische Kräfte, die von westlichen Mächten und Institutionen wie Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank unterstützt wurden, für die sofortigen Abwicklung des Plans und für die Privatisierung von Staatsbesitz.

Diese „Urknall-Politik“ führte zum ruckartigen Zusammenbruch der Produktion, da die Versorgungslinien gekappt wurden, Fabrikdirektoren verkauften die Anlagen und Güter zu Schleuderpreisen und entließen die Belegschaft, als sie die Löhne nicht mehr zahlen konnten. In Peking wurde daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass die Aufrechterhaltung der politischen Macht einer kontrollierten Umgestaltung der Wirtschaft bedurfte, in der die staatliche Großindustrie in eine Reihe von unabhängigen Industriekomplexen umgewandelt werden müsste, die schließlich als kapitalistische Konzerne fungieren würden.

International machte der Zusammenbruch des Sowjetblocks die USA zur unangefochtenen Supermacht. Der US-Imperialismus schlug aus der neuen Situation jedes erdenkliche Kapital. Das US-Kapital zwang Land um Land zur Lockerung seiner wirtschaftlichen Schutzmaßnahmen wie Einfuhrquoten oder Zölle, und der Begriff „Globalisierung“ bürgerte sich allgemein ein (16). Wenn davon ausgegangen wird, dass die 90er Jahre das Jahrzehnt waren, in dem der chinesische Außenhandel, besonders für die USA zu einem bedeutenden Faktor in der Weltwirtschaft wurde, wäre es nahe liegend anzunehmen, dies wären nur zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Dies könnte als klassisches Beispiel für das leninsche Imperialismuskonzept herangezogen werden, worin das US- imperialistische Finanzkapital seine Extraprofite durch die Ausbeutung einer Halbkolonie, nämlich China, schöpft. Aber die Vorstellung, dass das globale Kapital einfach von der plötzlichen Einsetzbarkeit von billiger Arbeitskraft profitieren würde, verdunkelt genau soviel wie sie erhellt.

Auf einer sehr hohen Abstraktionsebene ist es natürlich möglich, “Kapital und Arbeit global zusammenzufassen“. Aber jeder Grad von Konkretisierung muss in Betracht ziehen, dass dieses globale Kapital sich in jeweils bestehende Kapitale aufspaltet, die besonderen Staatsgebieten zuzuordnen sind, die entweder imperialistisch oder allgemein halbkolonial verfasst sind. Die kapitalistischen Investitionen in China in den 90er Jahren stammten zum Großteil nicht aus imperialistischen Ländern. Somit spielte China als neue Quelle von Extraprofiten keine herausragende Rolle für die Einkünfte des Imperialismus.

Trotz der obskuren Terminologie wurde Pekings Ankündigung, nunmehr als Ziel die Schaffung einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ anzustreben, sofort von den Kapitalisten innerhalb und außerhalb Chinas als Zeichen verstanden, dass die Gegner von weit reichenden Marktreformen besiegt waren und auch das industrielle Kernstück der Wirtschaft in absehbarer Zeit „marktreif“ gemacht werden soll.

Dies verstärkte den Fluss der FDI, der schon 1991 wieder eingesetzt hatte. In jenem Jahr betrugen die FDI $ 4,3 Mrd., was einem Anteil von 37% am gesamten Kapitalstrom entsprach. (Der Hauptteil der restlichen Summe – 6,8 Milliarden – setzte sich aus niedrig verzinsten Darlehen von internationalen Institutionen wie der Weltbank zusammen.) 1992 erhöhte sich der FDI-Prozentsatz auf 57,3% bei einem Realbetrag von 11 Milliarden. Die Investoren hatten einige Vorinformationen über die neue wirtschaftspolitische Ausrichtung auf dem Parteikongress im November des Jahres erhalten. 1993 kletterten die Gelder bereits auf 27,5 Milliarden, anteilig 70,62%, während die Kredite an Bedeutung abnahmen (17). Obgleich der Löwenanteil weiter nach Guangdong ging, lockerte die Partei nun ihre Investitionskontrollen, so dass 1995 alle Teile des Landes „offen“ waren und zum ersten Mal Investitionen aus dem Ausland in neuen Anlagesphären wie Grundstücken, Energieerzeugung und Einzelhandel begünstigt wurden.

Obwohl die Direktinvestitionen von den imperialistischen Hauptmächten sich in den 90ern verstärkt haben, blieben auslandschinesische Anleger aus Hongkong, Taiwan, Singapur und Malaysia die Hauptinvestoren. Die Konten füllten sich mit „importiertem“ Kapital auf der „Rundreise“; besonders auffällig war der Investitionsumfang in China von den britischen Jungferninseln.

Während die großen multinationalen Konzerne von China als potenziellem Markt angezogen wurden, waren die chinesischen Investoren aus Taiwan oder Hongkong eher an der Verlagerung ihrer Produktionsanlagen auf das Festland interessiert, um in den Genuss der billigen Arbeitskraft, einer Aufsicht ohne große Vorschriften und von attraktiven Steuersätzen zu kommen. Für Hongkong, das die weitaus größte Investorenschaft stellte (18), war der Anlagentransfer über die Grenze nicht nur leicht, sondern auch wesentlich, weil seine Möglichkeiten als Niedriglohnstandort ausgereizt waren. Für Investitionen in Gemeinschaftsunternehmen im SDU-Bereich oder den WSZ konnten die Hongkonger Geschäftsleute ihre bereits bestehenden internationalen Handelsnetze nutzen und ihre eigene Kapazität für verfeinerte Spezialisierungen wie Design, Marketing und Finanzdienste erweitern und zugleich die Produktionskosten drastisch senken.

In China bedeutete dies eine gesicherte Ausweitung des SDU-Bereichs um einige Jahre. Dies war wichtig, weil der Sektor fortgesetzt überschüssige Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft aufsog, wo die Produktivität seit Mitte der 80er nicht mehr stieg. 1995 waren in den SDU schätzungsweise 128 Millionen Menschen beschäftigt. Dies sollte der Höchststand bleiben, denn als mehr Kapital einströmte, wurde der Sektor unweigerlich weniger arbeitsintensiv. Die Konkurrenz zwischen Firmen und städtischen sowie Provinzverwaltungen hielt die Kosten niedrig, so dass die Firmen, um weiter florieren zu können, ihren Produktionsumfang erweitern mussten. Wie bei jedem kapitalistischen Akkumulationszyklus begann die Maschinerie die lebendige Arbeitskraft zu ersetzen. In den 90er Jahren ist auch ein stetiges Ansteigen der Zahl von offiziell registrierten gänzlich privaten Firmen feststellbar: von 90.000 im Jahr 1990 auf 1,76 Millionen gegen Ende des Jahrzehnts (19). Diese Firmen erhielten jedoch keine Vergünstigungen, deren der SUD-Sektor teilhaftig war. Z.B. gestaltete sich die Krediterlangung von Staatsbanken als schwierig. Die reinen Privatfirmen mussten Investitionen entweder aus eigenen Rücklagen oder durch informelle Kanäle tätigen. Ihre Zunahme zeigt, dass dies zunehmend möglich war.

1997 führte dieser „natürliche“ Kreislauf der kapitalistischen Entwicklung zu ersten Bankrotten im SDU-Sektor. Dies fiel mit größeren Veränderungen im staatlichen Bereich zusammen. Dort gingen innerhalb von vier Jahren 27 Millionen Arbeitsplätze verloren (20). Damit war eine wichtige Station in der „Kapitalisierung“ dieses Sektors erreicht, als die Zahl der dortigen Unternehmen von 262.000 auf 159.000 sank (21). Trotz der 1992 festgeschriebenen Bemühungen, den Plansektor aufzulösen, der sich u.a. auf Schwerindustrie, Energieerzeugung, Bergbau und Ölindustrie erstreckte, versuchte Peking, den Zusammenbruch, den die Sowjetunion erlitt, zu vermeiden.

Paradoxerweise führte die Ankündigung, dass der Sektor in autonome Firmen zerstückelt werden sollte, zu einem Anstieg von Investition und Produktion. Die Erklärung dafür liegt darin, dass Direktoren und Funktionäre auf allen Ebenen „ihre“ Fabriken in Erwartung einer künftigen „Privatisierung“ aufstocken wollten. Wegen der engen Verzahnung von staatlicher Industrie und Banken – vermittelt über die Parteibürokratie – fiel es ihnen nicht schwer, sich Kredite zur Erweiterung ihrer Anlagen zu holen. In Übereinstimmung mit den Normen der bürokratischen Planung schien ihnen der einzig gangbare Weg zur Produktionssteigerung der Neuaufbau von Kapazitäten und die Anwerbung von Arbeitskräften zu sein. Als Folge dessen dehnte sich der Staatssektor Mitte der 90er aus und beschäftigte mit 76,4 Millionen noch mehr Menschen als fünf Jahre zuvor (73 Millionen) (22). Als Kehrseite davon waren die Staatsbanken immer stärker mit „faulen Darlehen“ belastet. Die gesteigerte Produktion war vielfach für die SDU und WSZ bestimmt, womit letztlich privates Kapital gefördert wurde.

Solche Praktiken konnten jedoch nicht einfach fortgeführt werden, als die staatliche Industrie dann systematisch zerlegt wurde. Diese Politik nach dem Motto „Das Große erhalten, das Kleine fallen lassen“ sonderte die großen, potenziell profitablen Fabriken aus, die im Verbund mit ihren unmittelbaren Zuliefer- und Verarbeitungsbetrieben belassen wurden. Sie sollten in eigenständige Konzerne nach dem Vorbild der koreanischen Verbundgesellschaften („Chaebols“) umgewandelt werden. Hingegen wurden die veralteten und Kleinbetriebe sich selbst überlassen. Viele davon sollten absichtlich als unprofitabel erscheinen, damit ihre Direktoren sie nun für einen Spottpreis kaufen konnten. Im gesamten Bereich jedoch war der Prozess einer Freisetzung von Arbeitskräften spürbar. Die Beschäftigung sank zur Jahrtausendwende auf 43,9 Millionen (23).

Die Verbindung von Schließungen in den SDU und Staatsbetrieben führte zu ernsten sozialen Spannungen. 1994 waren 77.794 ArbeiterInnen in Arbeitskonflikte verwickelt. 1997 hatte sich die Zahl fast verdreifacht, 1998 schnellte sie gar auf 359.000 (24).

Doch ein noch größerer Schock lauerte am Horizont. Die Südostasienkrise wurde ausgelöst durch den Zusammenbruch der thailändischen Währung und breitete sich rasch auf die anderen Ökonomien aus, als spekulative Investitionen zurückgezogen wurden. Die Krise beleuchtete die inneren Schwächen der vom IWF verordneten strukturellen Anpassungsprogramme und das Vertrauen auf „heißes Geld“, das durch günstige Zinsen angezogen wird. Gelder aus solchen Fonds konnten schneller wieder abfließen als die FDI, die in Chinas neuen Industrien angelegt waren. Fast über Nacht gingen Firmen bankrott, wurden Währungen entwertet, die Produktion schrumpfte.

Das hatte unmittelbare Auswirkungen auf China, weil der Nachschub an Ersatzteilen und Rohmaterial betroffen war; die Aufträge für Montagefabriken nahmen ab und potenzielle Auslandsinvestoren beschlossen, ihre Gelder bis zur Besserung der wirtschaftlichen Aussichten zurückzuhalten.

Der Wert des Renminbi Yuan

Chinas Antwort auf diese Krise war instruktiv. Viele auch in den USA hatten befürchtet, dass der Renminbi Yuan nun abgewertet werden würde, um die chinesischen Exporte nicht ins Stocken geraten zu lassen. Diese Maßnahme hätte die internationalen Auswirkungen der Asienkrise noch verschärft. Doch Peking versicherte den Amtskollegen in Washington, dass sie ihre Währung im Interesse der Stabilität offiziell nicht abwerten wollten. Formal war der Renminbi Yuan über die Anbindung an den Hongkong-Dollar letztlich an den US-Dollar gebunden.

Zugleich wurde ein Riesenprogramm von öffentlichen Investitionen zur Modernisierung der chinesischen Infrastruktur gestartet. Das Vertrauen in staatliche Finanzierung betont die anhaltende Bedeutung von Staatseigentum im Kernbereich der Industrie. Obwohl China keine Planwirtschaft mehr hat, geben die staatlichen Banken und Großbetriebe der Staats- und Parteiführung wirtschaftliche Hebel in die Hand, auf die andere halbkoloniale Länder unter dem Diktat der IWF-„Umstrukturierungsprogramme“ und dem „Washington-Konsens“ verzichten müssen.

Die Krise hat auch gezeigt, dass China auf die stetige Ausweitung seiner Exporte setzen muss. Angesichts der zusätzlichen Wirtschaftslast des Infrastrukturpro-gramms war es sogar unbedingt notwendig, dem Export weitere Anstöße zu geben. Seit 1986 stand China in Verhandlungen über den Beitritt zum allgemeinen Abkommen über Zölle und Handel (GATT), aber diese wurden durch westliche Forderungen nach Aufhebung von Importbeschränkungen gelähmt. Das spiegelt das veränderte internationale Kräfteverhältnis wider. Im kalten Krieg wurden Polen und Ungarn zum GATT zugelassen, sobald sie in den 60er und 70er Jahren einige Marktreformen eingeführt hatten, zumal dies den imperialistischen Mächten einen Türspalt zum Sowjetblock öffnete. China wurden später jedoch weit größere Zugeständnisse abverlangt – v.a. die Öffnung sämtlicher Binnenmärkte, was in den 80er Jahren der chinesischen Bürokratie noch zu weit ging.

In der Uruguay-Runde wurde der „Washington-Konsens“ festgelegt. Wer jetzt der Welthandelsorganisation (WTO), der Nachfolgeorganisation des GATT, beitreten will, muss noch mehr Vorleistungen erbringen. Alle Importkontrollen müssen fallen und darüber hinaus muss freier Kapitalverkehr im gesamten Wirtschaftsgebiet herrschen. Für internationale Konzerne darf es keine Hindernisse für Niederlassung im Land, Übernahme von chinesischen Firmen oder selbst bei Angeboten von Finanzdienstleistungen mehr geben. Überdies muss die chinesische Führung die Kontrolle über die Banken aus den Händen geben. Die Banken wiederum müssen sich an die internationalen Gepflogenheiten im Rechnungswesen und im Verhältnis von Einlagen und Geldverleih halten.

Diese Liste von Forderungen war einschüchternd, musste aber abgewogen werden gegen die erhöhten Exportchancen, die eine Mitgliedschaft in der WTO mit sich bringt. Es gab zu der Zeit noch wichtige Beschränkungen für Chinas Ausfuhren in die USA oder in die EU. Eine weitere „Globalisierung“ war andererseits ohne Einbezug Chinas schlecht möglich, so viel hatten die Imperialisten erkannt. Das Land kam ihnen als nicht zuletzt als Gegengewicht zu Indien und Pakistan, die im Mai 1998 beide ihr nukleares Drohpotenzial auffuhren, ebenfalls gelegen. Nach der Asienkrise wurden die Verhandlungen beschleunigt und China im Dezember 2001 schließlich als Mitglied der WTO aufgenommen.

Mitgliedschaft in der WTO

Die Bedeutung von Chinas Beitritt zur WTO und sein Zeitpunkt sind kaum zu überschätzen. Bis dahin hatte Peking die kontrollierte Restauration des Kapitalismus hinter den schützenden Schranken von Einfuhrregelungen, eingeschränkten Handelsrechten und Zöllen vollzogen. Hier nutzte die Führung die Verfügung über das Staatseigentum an Industrie und Banken, um ihren politischen Prioritäten nachzugehen. Das Was, Wo und Wie der Produktion wurde weitestgehend vom Weltmarkt bestimmt.

Nach marxistischer Analyse lag der Unterschied in der Wirkungsweise des Wertgesetzes. Während es in den Küstenprovinzen voll zur Anwendung kam, herrschte im übrigen China eine Mischung aus heimischem Wertgesetz und Regierungsdiktat. Durch Anerkennung der Mitgliedschaftskriterien der „Uruguay-Runde“ ließ Peking den Binnenmarkt für ausländische Waren relativ offen. Zölle wurden von 42 auf 15% gesenkt und der Handel nicht mehr ausschließlich über staatliche Gesellschaften abgewickelt. Nach kurzer Übergangszeit musste die Führung ab 2007 nun auch die Durchdringung der gesamten chinesischen Geschäfts- und Finanzdienste mit Fremdkapital gestatten. Kurzum: der Beitritt zur WTO öffnete potenziell die gesamte chinesische Ökonomie für das internationale Wertgesetz.

In der Theorie würde das bedeuten, dass Firmen, die bisher für den Binnenmarkt produzierten, sich nun der Konkurrenz durch Produkte der fortgeschrittensten kapitalistischen Ökonomien zu stellen hatten. Ihr Schicksal wäre, entweder vom Markt verdrängt oder von internationalen Konzernen geschluckt zu werden. Zuvorderst würden die halbflüggen Dienstleistungsbereiche, Banken, Versicherungen, Kommunikationswesen, Vermögensverwaltung, Gesundheitsdienste und Bildung rasch von ausländischem Kapital beherrscht werden.

Die Annahme des „Washington-Konsens“ würde also bedeuten, dass China zu einer Halbkolonie würde, die formal unabhängig, aber tatsächlich von den imperialistischen Mächten beherrscht wäre.

Im Weltmaßstab ergaben sich für China jedoch Ende 2001 unschätzbare Vorteile durch Umstände, die in eine andere Richtung wiesen – dass China selbst zu einer imperialistischen Macht werden könnte. In der asiatischen Region hatten sich die „Tigerstaaten“ noch nicht von der Krise 1997/98 erholt und tasteten sich erst zu neuen Strategien vor, um ihre exportorientierten Industrien wieder flott zu machen.

Die Weltwirtschaft insgesamt befand sich immer noch in den Nachwehen des Aktienmarktabsturzes aus dem Vorjahr, als die Spekulationsblase der „Neuen Ökonomie“ geplatzt war. Die Strategie der US-Notenbank bestand in der Anheizung des Verbrauchs durch günstige Zinsen und Steuersenkungen für die Mittelschicht. Sie war gerade in dem Bemühen, dem kommerziellen Vertrauensschwund nach dem Angriff auf die Zwillingstürme in New York im September 2001 entgegenzuwirken, verstärkt worden.

Die chinesische Wirtschaft zog unmittelbar Nutzen aus dem Zugang zur WTO. Wie US-Protektionisten niemals müde werden zu betonen, sind Chinas Ausfuhren in die USA, die schon bis 2001 erheblich waren, danach sogar noch schneller gewachsen. Die Gesamtexportziffern kletterten in fünf Jahren nach dem WTO-Beitritt von 20 auf 35% des Bruttoinlandsprodukts. (25) Die amtlichen BIP-Zuwachszahlen betrugen für 2001 8%, für 2002 9%, für 2003 10% sowie für das erste Halbjahr 2007 über 11%.

Die FDI zeigen dasselbe Muster; sie stiegen von  $40,7 Mrd. im Jahr 2000 auf 46,9 Milliarden 2001, 52,7 Milliarden 2002 sowie 53,5 Milliarden 2003. Entgegen den Annahmen verringerten sich die Investitionen aus den USA in den ersten drei Jahren von $4,4 auf 4,2 Mrd. Dafür wuchs der Anteil aus Hongkong, Taiwan, Singapur, Korea und den britischen Jungferninseln zusammen von $25,9 auf 34,4 Mrd. (26)

Mittelbar kam Chinas Wachstum nicht nur benachbarten asiatischen Ökonomien zu Gute, sondern auch entfernter liegenden. Für die asiatischen Ökonomien konnte die Krise Ende der 90er Jahre durch Belieferung Chinas mit Rohstoffen und Halbfertigwaren bewältigt werden, die dann als chinesische Waren endgefertigt und exportiert wurden. So behielten sie die meiste ihrer kapitalintensiven und qualifizierten Arbeit und gliederten die einfacheren Montagebereiche nach China aus und folgten damit den Spuren Taiwans und Hongkongs. Als Ergebnis wurde 2005 die Rekordsumme von $37 Mrd. in den 10 Mitgliedsstaaten des ASEAN Wirtschaftsverbundes investiert (27). Zugleich hat Chinas Rohstoff- und Energiehunger entlegene Volkswirtschaften wie Australien, Lateinamerika und Afrika belebt.

Dieses neue und wachsende Handelsgeflecht hat China den Titel „Motor der Weltwirtschaft“ eingebracht, aber er ist irreführend. Gewiss hat der Außenhandel, gemessen an seinem Anteil am BIP mit 64% (28) einen hohen Stand – verglichen etwa mit den 20% der USA. In Wertbegriffen ist China zurzeit das zweitgrößte Handelsland und könnte Deutschland im Laufe des Jahres sogar vom ersten Rang verdrängen. Diese Zahlen, welche die Werte von Im- und Export zusammenziehen, verschleiern aber, dass Chinas Handelsbilanzüberschuss gegenüber dem Rest der Welt im Allgemeinen sehr knapp ist.

Obwohl China seit vielen Jahren eine positive Handelsbilanz aufweist, ist der Anteil am BIP von 4% (1998) auf etwas über 2% zwischen 2001 und 2004 geschmolzen. Seither erlebt die chinesische Bilanz allerdings einen erheblichen Zuwachs auf 8% des BIP (29).

Eine neuere Untersuchung besagt, dass dies die Folge eines Rückgangs der Importe von relativ unspezialisierten Produkten ist, die entweder für die Wiederausfuhr oder den Inlandsverbrauch bestimmt sind und nun in China selbst hergestellt werden können (30). Nichtsdestotrotz ist die Gesamtsumme des Außenhandels hoch wegen des Wertes der chinesischen Einfuhren. Die Nachfrage hat die Preise für Rohstoffe und Energie nach oben getrieben. Obgleich China gegenwärtig mehr Bestandteile für Ausfuhrgüter erzeugen kann, macht der Wert der eingeführten Halbfertigwaren den Großteil des Wertes der hoch entwickelten Exporterzeugnisse aus, die lediglich in China zusammengesetzt werden.

Exporte

Dieses Verhältnis ist so geblieben trotz größerer Änderungen in der Zusammensetzung von Chinas Exporten. China gilt zwar weiterhin als Hauptquelle für billige Textilien oder Schuhe, aber im Wert haben komplexere Waren wie elektronische Artikel und Computer 2005 einen Anteil von 43% von Chinas Exporten erobert (31). Von besonderem Belang ist der Anstieg bei Exporten von Stahlerzeugnissen und Maschinen – ein Resultat des gewaltigen Aufschwungs in der Produktionskapazität seit der WTO-Anbindung. Jüngste Zahlen zeigen, dass „Kapitalgüter“ schon mehr als 40% des Gesamtausfuhrwertes ausmachen (32). China „verschiebt also die Produktkette nach oben.“ Das heimisch produzierte Exportsegment dehnt sich aus, außer bei hochkomplexen Waren wie Elektronik. Die Produktion dieser Sektoren ist jedoch entweder ganz im Besitz von Auslandsfirmen oder von gemeinschaftlichen Unternehmen auf Fremdkapitalbasis dominiert.

Der wirklich große Wandel vollzog sich dementsprechend durch die Integration von China in das internationale Handelssystem. Das Land ist zu einem Kanal geworden, durch den ein wachsender Teil des Welthandels fließt, aber der Handel ist letztlich bestimmt für die Märkte der imperialistischen Nationen, v.a. die USA. Dorthin gehen allein 21% der chinesischen Ausfuhren. Vor 10 Jahren war der Prozentsatz noch wesentlich kleiner. Zudem bezogen sich diese 17% auf einen geringeren Grundwert.

Dies illustriert die Bedeutung Chinas als Lieferant für eine steigende Konsumnachfrage in den USA, zu welcher der Handel selbst beigetragen hat. Wegen des Umfangs von Chinas Exporten in die USA haben sich Pekings Devisenreserven, großenteils in US-Dollar, seit dem WTO-Anschluss ständig vergrößert. Heute stehen sie bei über 1,3 Billionen Dollar. Ein großer Teil davon ist für den Ankauf von US-Schatzbriefen verwendet worden, womit ein nicht unbedeutender Beitrag für die Erhaltung niedriger Zinsen geleistet wurde, welche die US-Ökonomie im derzeitigen Zyklus gestützt haben.

Chinas Entwicklung zu einer größeren kapitalistischen Wirtschaft war nie nur auf die Erlaubnis für das „globale Kapital“ zurückzuführen, sich billiger chinesischer Arbeitskräfte zu bedienen. Während der letzten drei Jahrzehnte seit den ersten Reformen kam das Kapital in immer größeren Schüben durch die chinesische Bourgeoisie in halbkolonialen Nachbarstaaten ins Land. Dies ist mit der Aufnahme in die WTO so geblieben. 1999 investierten die USA $37 Mill. in der Chemieindustrie, dies steig auf $520 Mill. im Jahr 2005 an. Die FDI aus Taiwan steigerten sich gleichzeitig von $538 Millionen auf 2,4 Milliarden im Elektroniksektor und von $28 Mill. auf 373 Mill. im Bereich Präzisionswerkzeuge (33). Chinesische NiedriglöhnerInnen wurden in arbeitsintensiven Fabriken ausgebeutet und die Produkte anschließend in Ländern verkauft, deren eigene Produktionskosten viel höher waren, v.a. in den USA, Europa und Japan. Dadurch waren chinesische Kapitalisten in der Lage, einen Extraprofit einzustreichen, den sie mit Verkäufen über den eigenen Produktions-preisen realisieren konnten.

Ein Teil dieses Profits wurde durch das Kapital aus den Importländern abgeschöpft. Als schlagendes Beispiel soll hier die Supermarktkette Wal-Mart angeführt werden, die im vergangenen Jahr angeblich Waren im Wert von $14 Milliarden aus China bezogen hat. Dies war aber nicht der Hauptnutzen für die Kapitalistenklasse der imperialistischen Länder. Für die Haupteigner des „globalen Kapitals“, bestand der große Vorteil in der Senkung der Kosten von Verbrauchsgütern, um in deren Folge die Kosten der Arbeitskraft in den eigenen Werken niedrig zu halten oder gar zu drücken. Das hatte die Wirkung, dass der Anteil der „notwendigen Arbeit“ am Arbeitstag verringert werden konnte und darum einen absoluten Anstieg des Mehrwerts möglich machte. Es wäre schwierig bis unmöglich, diese Wirkung zu messen, doch eine Schätzung des Instituts für internationale Ökonomie in Washington legt dar, dass 2003  der „China-Preis“ eine Kostenersparnis zwischen 10 und 20% brachte, bis zu $30 Mrd. jährlich. Zusätzlich übte der „China-Preis“ Druck auf andere Produzentenpreise für Waren im Werte von $500 Milliarden aus Niedriglohnländern ebenso wie für Waren im Wert von $450 Milliarden von amerikanischen und japanischen Konkurrenzfirmen zu China aus (34).

Konstantes Kapital

Die Produktion in China weitete sich auf hoch entwickelte Produkte aus, die in die Wertbildung von konstantem Kapital (Rohstoffe, Gebäude, Maschinen), die Verkürzung von Umschlagszeiten und höhere Kommunikationsgeschwindigkeit Eingang finden konnten. Die niedrigeren Preise führten zu sinkenden Kosten des konstanten Kapitals und würden so dem tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate entgegenwirken. So wichtig diese Wirkungen auch sein mögen, sie sind nur ein vorübergehender Vorteil, bis sie sich über die ganze Wirtschaft ausgebreitet haben. Danach, wenn die Dinge sich ausgeglichen haben, lassen diese Wirkungen wieder nach. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass sich die Wirtschaftsstrategen der Imperialisten auch über den nur zeitweiligen Erfolg von billigen Exporten klar sind. Am 16.5.07 warnte der Direktor der Bank von England, dass der deflationäre Einfluss von chinesischen Importen „im Abnehmen“ begriffen ist.

Ohne die Erforschung der Möglichkeit, dass die ‚„Kreditklemme“ aus dem Zusammenbruch des faulen Hypothekenmarkts in den USA die Nachfrage sogar nach chinesischen Waren empfindlich dämpfen könnte, was in diesem Rahmen jedoch nicht untersucht werden kann, setzt schon der reine Erfolg von Chinas Exporteuren diesem Prozess Grenzen. Wenn China der Hauptproduzent der Welt für eine bestimmte Kategorie von Waren geworden ist, wird der „China-Preis“ zum alleinigen Preis, und die chinesischen Produzenten können nicht mehr diese Extraprofite ernten. Sie müssen nun miteinander konkurrieren und den klassischen Geschäftszyklus durchlaufen. In der globalisierten Ökonomie sind jedoch die Auswirkungen dieses Zyklus, ihre Auf- und Abschwünge nicht nur lokal spürbar, sondern auf der ganzen Welt.

Der WTO-Boom

Der Produktionsanstieg nach dem Eintritt in die WTO schuf in China Hochkonjunkturbedingungen. Zusätzlich zum bereits erwähnten Sturzbach ausländischer Direktinvestitionen (FDI) händigten nun auch die staatlichen Banken verstärkt Kredite aus. Laut Joe Studwell hatten im Dezember 2004 die gesamten Bankkredite um 58% auf einen Wert von $785 Mrd. zugenommen (35). Wichtigstes Ergebnis war die Ermunterung zu Investitionen in neue Fertigungskapazitäten, mit denen die Fabriken im Hinblick auf noch größere Ausfuhrströme durch die absehbare Abschaffung der Einfuhrquoten auf chinesische Textilien 2004 reagierten. Die Bruttoquote fixen Kapitalanteils am Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg von 34% 2001 auf 40% 2004 und erreichte 2005 50% (36).

Seit 2004 bestand die Regierungspolitik darin, diese Zahlen herunterzuschrauben und somit das allgemeine BIP-Wachstum auf 8% zu drücken. Das vollständige Scheitern, diese Ziele zu erreichen, betont die Tatsache, dass wir Zeugen eines ziemlich typischen kapitalistischen Booms sind, in dem die Kapazität zwecks Eroberung von Marktanteilen so schnell wie möglich aufgestockt wird – ungeachtet der Tatsache, dass das dadurch geschaffene Gesamtpotenzial viel größer wird, als der Markt hergibt. Unter solchen Bedingungen lässt der Trieb zur Produktionssteigerung die Rohstoff- und Energiepreise ebenso klettern wie die örtlichen Lohnkosten, wie sehr immer auch die Arbeitskraft sich global anbietet. All diese Phänomene kann man im aktuellen Boom in der VR China beobachten.

Besonders bedeutend sind die nachweislich steigenden Löhne, worauf Goldman Sachs und „The Economist“ aufmerksam gemacht haben. Gemäß “The Economist” ist die Entlohnung in den strategisch wichtigen Küstenprovinzen 2,5 bis 3 Mal so hoch wie auf den Philippinen und in Indonesien, geschweige denn in Vietnam (37). Derselbe Bericht lässt trotzdem darauf schließen, dass Chinas Ausfuhren allgemein wegen der Produktivitätszuwächse trotzdem konkurrenzfähig blieben. Jedoch hat Goldman Sachs ausgerechnet, dass die Lohnstückkosten im Bergbau, im verarbeitenden Gewerbe und in Versorgungsbetrieben fast um 10% seit 2005 jährlich zugelegt haben. Da diese aber Produktivitätsgewinne widerspiegeln, heißt das, die Werktätigen waren in der Lage, die Löhne hochzutreiben und ihren erhaltenen Anteil am Neuwert (Volkseinkommen) real zu steigern (38).

Der Umfang an Chinas Devisenreserven sowie die Prioritäten, Exportmärkte zu festigen und Rohstoffquellen zu sichern, schufen im Einklang die materielle Grundlage und ökonomische Notwendigkeit für den Beginn des eigenen Exports von Kapital. Der stellt selbstverständlich das offensichtlichste wirtschaftliche Signal für eine Entwicklung in Richtung imperialistischer Macht dar. Es muss aber festgestellt werden, dass solche Ausfuhren im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft Chinas und dem Volumen an Kapitalimporten noch winzig sind. Nichtsdestotrotz vervielfachten sich Chinas Übersee-FDI von praktisch Null Anfang der 1990er schnell bis zu einem Gipfel 1994 von $4 Mrd. über $6 Mrd. 2001 bis auf nahezu $12 Mrd. 2005 (39).

Noch im Januar 2007 meinte Ministerpräsident Wen Jiabao auf einem Treffen des Rates für Finanzangelegenheiten, die Entscheidung sei gefallen, dass China mittels Gründung einer neuen Regierungsagentur „die Bewirtschaftung der Auslandsdevisenreserven verstärken und aktiv Kanäle verbreitern und Methoden auskundschaften werde, die Reserven nutzbringend einzusetzen.“ (40) Kommentatoren rechnen damit, dass eine Reserve in Höhe von $ 700 Mrd. unangetastet bleiben wird und $ 500 Mrd. für strategische Kapitalanlagen freigestellt werden. Das stärkt sowohl Chinas Überseeinvestitionen wie es zugleich die eventuellen Verluste beim Halten solch umfangreicher Dollarreserven mindert, wenn sie wahrscheinlich an Wert verlieren werden. Die ersten Früchte dieser Politik bildeten chinesische Anlagen bei Blackstone, einem privaten Finanzinvestmentgeschäft, und bei Barclays Bank, um deren Gebot für die niederländische Bank ABN Amro zu stärken. Da jedoch beide Firmen wahrscheinlich etliche auf den Finanzmärkten erzielte Verluste mit sich schleppen, scheint vor Chinas Investmentagentur vor bitteren Erfahrungen zu stehen.

Auslandskapital

Was ist die Kehrseite der Medaille? In welchem Maß hat der WTO-Beitritt ausländischem, also imperialistischem Kapital gestattet, China über den Rahmen der Exportindustrien hinaus zu durchdringen? Ein Charakteristikum ist klar: FDI werden überwiegend in vollständig AusländerInnen gehörende Firmen gelenkt. Vordem lag die Betonung auf verschiedenen Formen von Gemeinschaftsbetrieben mit Unternehmen in chinesischem Eigentum. Mitte der 1990er Jahre verbuchten diese annähernd 70% „gegenwärtig getätigter Investitionen.“ 2005 war das auf wenig über 30% geschrumpft (41).

Im Jahresbericht 2005 bemerkte die OECD, dass ausländisch kontrollierte Unternehmen 13% des Binnenmarktes ausmachten. Doch „ausländisch kontrolliert“ ist nicht gleich „ausländisch kontrolliert“. Unter diese Kategorie fallen Dachgesellschaften im Kapitalbesitz Taiwans und Hong Kongs. Obwohl diese 13 Prozent im Verhältnis zum Exportmarkt, an dem Auslandsfirmen im Durchschnitt 55% Anteile, in einigen Branchen wie Elektronik sogar um 80% halten, gering erscheint, muss diese doch im Kontext verstanden werden.

Zunächst einmal stellen 13% Marktanteil in einem Land mit einer Bevölkerung von 1,35 Milliarden immer noch sehr großes Absatzgebiet dar. 10 Jahre vorher war diese Zahl noch unbedeutend. Mehr noch, der Marktanteil konzentriert sich auf die Stadtbevölkerung, die weiter wächst. Zweitens erfolgt unter den Bedingungen des Beitritts zur WTO eine stufenweise Öffnung von Chinas Binnenmärkten. Mit anderen Worten: die Zahl von 13% berücksichtigt nicht die Tatsache, dass diese Branchen, vor allem der Dienstleistungssektor, wo Auslandskonkurrenz noch nicht gestattet war, eine Null aufwiesen; umgekehrt war die Zahl höher als 13% in den Branchen, die FDI offen standen.

Schließlich wurden die meisten Beschränkungen formell 2007 abgeschafft, aber die Auswirkung der Auslandskonkurrenz wird nicht unmittelbar spürbar sein wegen der Zeit, die es braucht, um Büros zu eröffnen, Verteilerketten zu bilden und Fachkräfte heranzuziehen sowie alles andere, was nötig ist, um in nationalem Maßstab z.B. im Versicherungs-, Bank-, Gesundheits- und Bildungswesen physisch anwesend zu sein.

Es bleibt abzuwarten, bis zu welchem Grad die Annahme der WTO-Regeln dazu führt, dass China von multinationalen Konzernen beherrscht wird, die ihren Sitz in imperialistischen Ländern haben. Da diese Regeln ausdrücklich dafür gestaltet wurden, für diese Konzerne eine „offene Tür“ zu schaffen, indem nicht nur offen protektionistische Maßnahmen wie Zölle und Einfuhrquoten verboten sind, sondern auch weniger offensichtliche Formen von Subventionen und Vorzugsbehandlung, ist die Drohung mit der Unterwerfung unter einen halbkolonialen Status sehr realistisch.

Besonders das US-Kapital betrachtet China weiterhin vor allem als Markt. Unter den neuen Bedingungen hat sich das auszuzahlen begonnen. Laut der US-Handelskammer erreichen die Durchschnittsrenditen der Investitionen etwa 14% (42). Doch die schiere Undurchsichtigkeit chinesischer Geschäftspraktiken und praktischen Hindernisse dabei, die Vorherrschaft in einem so großen Land zu erringen, sollten nicht unterschätzt werden; ebenso gilt das für die Fähigkeit von Regierung und Partei, nationalistische und chauvinistische Gefühle zu mobilisieren, um einem zu aggressiven Ausbreiten innerhalb Chinas zu begegnen.

Klassenbildung

In diesem Moment, da wir uns dem 30. Jahrestag des ersten Dengschen Reformprogramms nähern, zeigt sich China ein einzigartiges Beispiel für kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung, einzigartig in Zusammensetzung und Ausmaß. Die anfänglichen Reformen gestatteten die Herausbildung von Kapital innerhalb der VR China, aber die strikte Regulierung durch die Partei stellte sicher, dass die im Inneren entstehende Kapitalistenklasse gegängelt und überwacht wurde. Gleichzeitig lieferte die Etablierung der Küstenenklaven ein Reservoir billiger Arbeitskräfte zwecks Ausbeutung durch die chinesische Exilbourgeoisie. Obwohl das diese sicher bereichert hat, blieb sie doch im Exil gespalten und war abhängig von Peking und der Kommunistischen Partei für die Garantie der Bedingungen, unter denen sie aufblühen konnte.

Die streng kontrollierte Restauration des Kapitalismus unterhöhlte die Planwirtschaft, erlaubte jedoch nicht nur viele Aspekte staatlicher Wirtschaftsüberwachung, sondern auch der vom degenerierten Arbeiterstaat ererbten politischen Struktur beizubehalten, v.a. die Partei und den Sicherheitsapparat.

Alle chinesischen Konzerne, die „nationale Spitzenreiter“ werden sollen wie Sinopec, Huawei, Lenovo, Baoshan Stahl, Schanghai Auto und Nanking Auto verdanken ihre Größe und Kapitalquelle ihren Wurzeln im Staatssektor und haben alle sehr enge Beziehungen zu Staat und Partei aufrechterhalten. Nur Haier, das Haushaltsverbrauchsgüter herstellt, scheint als unabhängige Gesellschaft von seinen Ursprüngen aus einer bankrotten Fabrik des kleinen und mittleren Stadt-Land-Sektors her aufgebaut worden zu sein.

Wegen der andauernden Parteidiktatur ist es besonders aus der Ferne unmöglich, das Ausmaß zu kennen, in dem die verschiedenen Bestandteile einer neuen chinesischen Kapitalistenklasse, die zweifellos „an sich“ existiert, zu einer Klasse zusammengeballt sind, die sich ihrer Interessen bewusst und fähig ist, diese in einem politischen Programm zu formulieren, dass die Bedürfnisse dieser Klasse „für sich“ formuliert.

Ein neuer Bericht legt jedoch nahe, dass dieser Prozess im Gang ist. Im August enthüllte eine amtliche Untersuchung illegaler Finanzgebaren die Existenz eines geheimen Bankunternehmens mit Sitz in Shenzhen. Dem Bericht nach hatte es seit 8 Jahren bestanden und Geschäfte in jeder Landesprovinz betrieben. Gerade in den letzten anderthalb Jahren hatte es Transaktionen im Wert von $544 Mio. allein in der Shenzhenzone vollzogen. Zu seinen Kunden zählten Staatsfirmen und ausländische Multis. “The Economist” schrieb, eine Studie der Zentraluniversität für Wirtschaft und Finanzen habe gezeigt, dass solche Banken „800 Mrd. Yüan jährlich (etwa $100 Mrd.)“ verliehen (43). Unternehmungen solchen Ausmaßes erklären, warum Peking unfähig war, die Wirtschaft zu kontrollieren und spekulative Investitionen niederzuhalten; sie verdeutlichen auch, dass Chinas neues Bürgertum bereits einen bemerkenswerten Grad gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhalts entwickelt hat.

In anderen Ländern, wo die „kombinierte und ungleichmäßige Entwicklung“ eine neue Bourgeoisie gegen ein politisches Regime formierte, das sich z. B. auf eine Grundbesitzerklasse stützte, traf es im Allgemeinen zu, dass die Klasse ungeachtet der Unterstützung bürgerlicher IdeologInnen für demokratische Rechte oder sogar Revolution selbst so schwach war, dass sie generell vor einer offenen Konfrontation mit dem ancien régime zurückschreckte. Mehr noch, in Anbetracht der Perspektive, dass ihr eigener Besitz durch die Klassenkämpfe der Arbeiterschaft und Bauernarmut in Gefahr geriet, würde sie sich bei Bedarf auf die Seite selbst des unterdrückerischsten Regimes schlagen.

Doch in China steht die Sache etwas anders. Alle Kapitalisten leiten einigen Nutzen aus der diktatorischen Macht der Partei ab. Die Partei aber ist in letzter Instanz Agentur einer bürokratischen Kaste, keine sozial verwurzelte Klasse. Schon nennen sich 20% der Parteimitglieder „Geschäftsleute“. Es ist kein Geheimnis, dass auf jeder Ebene Parteifunktionäre und -vorstände sicher dafür sorgen, dass ihre Söhne und Töchter in Führungspositionen der ehemaligen Staats-Unternehmen aufrücken, die nun darum wetteifern, große Aktiengesellschaften zu werden.

Wie wir aber gesehen haben, hat das Privatkapital in den letzten Jahren stark zugelegt. Man kann erwarten, dass es in Gegensatz zur Dauerherrschaft einer Partei gerät, die systematisch Ressourcen für ihre Kumpane und ausgesuchte Unternehmen abzweigt. Auf ähnliche Weise wird wohl das chinesische Bürgertum in Hong Kong und auf Taiwan niemals die „Kommunistische Partei“ als die ihrige ansehen. Die Bourgeoisie auf Taiwan verfügt über eine eigene Partei und Erfahrung in der Ausübung von Staatsmacht. Schließlich hätten die imperialistischen Mächte jeden Grund, die Zerstörung potenzieller KonkurrentInnen und das völlige Aufbrechen des chinesischen Marktes als Kreuzzug gegen KommunistInnen und Diktatur aufzuführen. So können wir davon ausgehen, dass ernsthafte gesellschaftliche Erschütterungen in China das Überleben der Partei in der gegenwärtigen Form bedrohen und deshalb eine Grundfrage aufwerfen: Wer soll herrschen?

Die Arbeiterklasse

Jede Entwicklung des Kapitalismus beinhaltet mit Notwendigkeit auch eine Veränderung der Lohnarbeiterklasse. In China ist diese auf ca. 350 Millionen angewachsen. Obwohl von einer homogenen Klasse weit entfernt, stellt sie eine Kraft dar, die bereits blutige Erfahrungen in Klassenauseinandersetzungen gemacht hat. Wie viele Schilderungen von Protesten und Streiks zeigen, hat sie die ersten Schritte zur Selbstorganisation zurückgelegt. 2006 verzeichnete das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit 317.000 Arbeitskonflikte mit davon betroffenen 680.000 ArbeiterInnen und verzeichnete weitere 130.000 Meinungsverschiedenheiten, in die es eingegriffen hatte, um zu verhindern, dass sich ein Konflikt entwickelt (44). Beständig zunehmende Zahlen und Ausmaße von Auseinandersetzungen schlagen sich im Entwurf für ein neues Arbeitsgesetz nieder, der gegenwärtig vor dem Nationalen Volkskongress verhandelt wird (45).

Unter der Parteidiktatur kann jedoch keine Rede von friedlicher Entstehung unabhängiger Arbeiterorganisationen sein – weder politischer noch gewerkschaftlicher. Die vom Staat genehmigten Gewerkschaften des Allchinesischen Dachverbands ACGB haben zwar gelegentlich Arbeiterbeschwerden aufgegriffen und gelten immer noch als mögliche Kanäle für Proteste und das Vertreten von Arbeiterinteressen, insbesondere im Bereich, der dem Ausland gehört. Ihre völlige Unterordnung unter Partei und Staat bedeutet aber, dass sie keinen unabhängigen Kurs einschlagen oder irgendeine Aktion anführen können, welche den Staat wirklich herausfordert.

Schließlich steht Chinas immer noch riesige Bauernschaft von vielleicht 800 Millionen mitten in einem grundsätzlichen Konflikt. Der ursprünglich dramatische Einkommenszuwachs der Höfe hielt nur bis Mitte der 1980er an. Seitdem hat eine Abfolge von Klassendifferenzierung und Wanderung das Leben umgekrempelt. Offizielle Zahlen zeigen, dass 114 Millionen in der größten Massenwanderung der Menschheitsgeschichte vom Land weggezogen sind (46). Der Verstädterungs- und Industrialisierungsgrad hat auch direkte Auswirkungen auf die LandwirtInnen gehabt, indem Provinz- und Gemeindefunktionäre ihr Land oft ohne Entschädigung an sich gerissen haben. Berichten zufolge gab es 87.000 amtlich registrierte öffentliche Proteste im Jahr 2006 als Reaktion auf solche Landnahmen. Solche Geschehnisse unterstreichen die innige Verknüpfung des „Landes“ mit der „Stadt“ in China.

Natürlich gibt es noch abgelegene, isolierte Gegenden, das Gros der Bevölkerung ist aber in den großen Flusstälern konzentriert. Diese stehen städtischen Einflüssen viel aufgeschlossener als früher gegenüber. Gerade der Umfang an Binnenwanderungen stellt im Zeitalter des Mobiltelefons sicher, dass es zwischen Stadt- und Dorfbevölkerung enge Kontakte gibt.

Das Tempo des Wandels auf dem Land wird sich unter dem Einfluss des Beitritts zur WTO noch beschleunigen, weil die Öffnung der Volksrepublik für Auslandserzeugnisse eine dramatische Verschiebung der Anbausorten und -methoden erzwingt. Die chinesische Agrarkultur brachte vor dem Beitritt etwa $5 Mrd. aus Exporten ein. 2005 berichtete die OECD von Nettoimportkosten von $11 Mrd. (47). Bereits 30% der Schweinefleischerzeugung und 70% der Geflügelproduktion werden von „spezialisierten“ Geschäften und nicht den traditionellen Bauernhöfen erbracht. Der kapitalistische Fortschritt wird die Landkonzentration fördern; gegenwärtig beträgt die durchschnittliche Farmgröße nur 0,65 Hektar, aufgeteilt auf mehrere nicht zusammenhängende Ackerflächen.

Dorf und Stadt

Politisch folgt das Dorf der Stadt. Die Bauernschaft in der VR China bildete das gesellschaftliche Rückgrat des Regiments der Kommunistischen Partei und stellt den Großteil der Streitkräfte. Nun müssen aber die innere Klassenspaltung der Bauernschaft und ihre ständigen Zusammenstöße mit Partei und Staatsbeamten ihre Treue in Frage stellen.

So hat die Restauration des Kapitalismus Kräfte freigesetzt, welche die chinesische Gesellschaft ummodeln, neue Klassen heranzüchten, Millionen umsiedeln und neue Städte in einer Größe und mit einem Tempo aus dem Boden stampfen, die man nie vorher gesehen hat – aber unter einem politischen Regime, der Einparteidiktatur, die von einem degenerierten Arbeiterstaat entlehnt ist, in welchem Wanderungen verboten waren und die Volkswirtschaft von Agenturen der Zentralregierung dirigiert wurde. Die Diktatur vereitelt, die volle Dynamik der Klassenherausbildung zu erkennen, weil Klassen sich im wirklichen Kampfgeschehen formieren. Solange der aktuelle Boom andauert, wird die chinesische Gesellschaft undurchsichtig bleiben. Doch alle Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass die energischsten Kräfte in der chinesischen Gesellschaft sich gegen die Partei richten und demokratische Rechte fordern werden, mittels derer sie sich zu verteidigen und ihre speziellen Interessen vorzutragen gedenken, sobald einmal diese Umstände in Frage gestellt sind.

Wir sollten keinen Zweifel haben, dass innerhalb jeder Massenbewegung für demokratische Rechte die Agenten nicht nur des chinesischen Bürgertums darauf bedacht sind, Massenmobilisierungen für die Förderung ihrer Interessen auszunutzen, sondern auch jene der imperialistischen Staaten. Diese sind entschlossen, demokratische Illusionen zu manipulieren, um China auf eine Halbkolonie zurechtzustutzen, wie sie es bei den Ländern Mittel- und Osteuropas praktiziert haben.

Wir können bereits einige der Themen vorweg bestimmen, um die es Organisationsversuche geben wird: „Menschenrechte“ für reaktionäre Bewegungen wie die Falun Gong, Unterstützung für „kämpfende Unternehmen“ gegen staatlich subventionierte Aktiengesellschaften, Pressefreiheit bei der Berichterstattung über politische Skandale und, vielleicht, wie einst in Polen, Aufbauhilfe für „freie“ Gewerkschaften. Die Verwicklung bürgerlicher Erfüllungsgehilfen in solche Bewegungen darf die arbeitende Klasse nicht hindern, berechtigten demokratischen Forderungen Nachdruck zu verleihen; das Hauptaugenmerk muss aber auf unabhängige politische Organisierung gelegt werden.

Innerhalb der Organisationen, die im Kampf ins Leben gerufen werden, treten revolutionäre KommunistInnen für die Bildung von Industriegewerkschaften auf nationaler Stufenleiter ein, die sich von den amtlichen Gewerkschaften dadurch unterscheiden, dass sie von ihren Mitgliedern mittels gewählter und abrufbarer Delegierter auf allen Ebenen direkt gelenkt werden. In den kleinen und großen Städten setzen sie sich für die Schaffung von auf dem Prinzip gewählter VertreterInnen fußenden Arbeiterräten ein, die die öffentliche Ordnung kontrollieren, Rationen austeilen und die Produktion unter Bewachung durch eine Arbeitermiliz am Laufen halten. Gleichzeitig appellieren sie dringlich an alle, die sich sowohl dem Sturz der Parteidiktatur wie der Kapitalherrschaft verschrieben haben – ob chinesischer oder fremder -, die eine neue revolutionäre Partei schmieden wollen, die dem Programm der Permanenten Revolution verpflichtet ist.

Großmacht

Das heutige China ist eine Gesellschaft im Übergang. Wir sahen, wie Elemente des alten degenerierten Arbeiterstaates mit Merkmalen sowohl einer Halbkolonie wie einer imperialistischen Macht ko-existieren. Es gibt eine zunehmende Durchdringung mit imperialistischem Kapital und die Überausbeutung großer Teile der LohnarbeiterInnen, aber auch einen beginnenden Kapitalexport. Diesem kann die militärische Dimension hinzugefügt werden: die Bildung des Schanghaier Rates für Zusammenarbeit, die jüngste Demonstration der Fähigkeit, Satelliten abzuschießen. Das ist ein instabiles und explosives Gemisch.

Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Pekings Pläne auf die Wiederherstellung Chinas als Großmacht zielen. Aber ein Land von der Größe Chinas kann nicht friedlich in eine Welt integriert werden, welche bereits zwischen den großen imperialistischen Mächten aufgeteilt ist. Um auf der Grundlage der wiederhergestellten kapitalistischen Eigentumsverhältnisse das Wirtschaftswachstum zu verstetigen, müsste China seine Ausfuhr weiter ankurbeln sowie den Binnenverbrauch und die Zentralprovinzen fördern. Das würde nicht nur bedeuten, Märkte zu sichern, sondern auch große Energie- und Rohstoffquellen, die damit anderen Mächten vorenthalten werden. Mit anderen Worten: China müsste selbst imperialistische Großmacht werden. Doch schon Lenin wies darauf hin, dass in der imperialistischen Epoche eine neue imperialistische Macht nur aus der Neuaufteilung der Welt hervorgehen kann. Jeder bedeutsame Schritt in diese Richtung würde sofort von der einen oder anderen – oder allen – imperialistischen Mächten als Drohung betrachtet werden und Maßnahmen provozieren, um Chinas Vormarsch zu stoppen bzw. für eigene Zwecke zu missbrauchen.

Geradezu gewiss ist, dass die existierenden halbkolonialen Züge verstärkt werden, bis China eine vollständig unterwürfige Halbkolonie geworden ist, falls es seine unabhängigen kapitalistischen Interessen nicht vorantreiben kann. Das Tempo mag schnell oder langsam sein; an einem gewissen Punkt würde es die KP-Diktatur in Frage stellen, deren Legitimität auf wirtschaftlichem Wachstum und – vielleicht vor allem anderen – auf Souveränität des Landes beruht.

Zu diesen destabilisierenden Kräften gesellen sich steigende soziale Spannungen im Gefolge eines Konjunkturabschwungs der chinesischen Wirtschaft. Jeder Versuch auszumachen, wann genau die Talfahrt erwartet werden darf, gerät zu fruchtloser Spekulation. Der gegenwärtige chinesische Zyklus startete vor der Jahrtausend-wende. Der gegenwärtige Fieberwahn der Wirtschaft mit fast unbekanntem hohen Investitionsvolumen, steigenden Rohmaterial- und Arbeitskosten und zunehmend hektischen Börsenumsätzen deuten darauf, dass er sich auf seinen Gipfel zu bewegt.

Doch China ist weit entfernt von einer „klassischen“ kapitalistischen Ökonomie. Der Staat spielt noch eine große Rolle in der Produktion und verfügt über riesige Hilfsquellen, die z.B. für die Ankurbelung des Binnenkonsums, die Stützung schwächelnder Firmen und Ermunterung der Ansiedlung von Produktionsstätten eingesetzt werden können. Ebenso steckt die Vergabe von Verbraucherkrediten in China noch in den Kinderschuhen. Das Maß kapitalistischen Fortschritts wechselt von einer Industrie zur andern; alles könnte die Geschwindigkeit beeinflussen, mit der der Niedergang eine Schneise durch die Wirtschaft schlägt.

Außerdem gibt es keinen Grund zur Annahme, eine politische Krise müsse mit einem offen „ökonomischen“ Anlass beginnen. Unterdrückungsmaßnahmen gegen Proteste zum Zeitpunkt der Olympischen Spiele, Umweltkatastrophen wie ein Dammbruch oder verseuchte Trinkwasservorräte, Bauernproteste gegen Landraub, Arbeitermobilisierungen gegen fehlende Lohnzahlungen, gefährliche Arbeitsbedingungen oder Bestrafung von AktivistInnen – all‘ dies könnte zum Auslöser für Massenproteste und Streiks werden, welche die Zukunft des Regimes viel ernster bedrohen könnten als zur Zeit der Demokratiebewegung und der Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz.

Schluss

Was perspektivisch zählt, ist: der chinesische Kapitalismus kann den Konsequen-zen seines eigenen Erfolgs nicht entrinnen! Seine modernsten Branchen brauchen sogar eine Bereinigungskrise, um die Ökonomie von den unproduktivsten Einzelkapitalen zu säubern, eine neue Runde von Konzentration und Zentralisation einzuläuten und die Voraussetzungen für bessere Verwertungsmöglichkeiten und höhere Profitraten zu schaffen. Das aber nicht ohne die gesellschaftliche Erschütterung einer Konjunkturkrise vor sich gehen. Im Kontext schrumpfenden Ausstoßes, von Schließungen und Entlassungen, Pleiten und Massenarbeitslosigkeit, unzureichender sozialer Absicherung für die besser gestellten Sektoren der Lohnarbeiterschaft und überhaupt keiner für über 100 Millionen illegaler WanderarbeiterInnen vom Lande kann man darauf zählen, dass Arbeiterklasse und arme Bauernschaft den Kampf aufnehmen. Um aber zu gewinnen, müssen sie eine auf ihren eigenen unabhängigen Organisationen gegründete neue politische Führung kreieren!

Die Strategie, China durch die Restauration des Kapitalismus voran- und die Bourgeoisie zurückzubringen, hat das Land an den Rand eines kolossalen internen Konflikts und der Aussicht auf erneute Auslandsherrschaft geführt. Auf kapitalistischem Fundament kann Chinas Zukunft entweder die einer imperialistischen Macht oder einer Semikolonie sein. Beide Ergebnisse würden eine herbe Niederlage für Arbeiterklasse und Unterdrückte landesweit wie international verkörpern. Aber in den kommenden Klassenkämpfen liegt das Potenzial für eine dritte Alternative: die StalinistInnen zu besiegen, die den Kapitalismus haben wiederauferstehen lassen, das chinesische Unternehmertum, das sich noch nicht als Klasse fest zusammengeschlossen hat sowie die Imperialisten, die noch keinen sicheren Rückhalt im Land haben.

Der Sieg über diesen dreifachen Feind könnte nur mittels Gründung eines Arbeiterstaates errungen werden, der sich nicht nur auf die Enteignung des Kapitals stützt, sondern vorrangig auf die Machtausübung der LohnsklavInnen und ihrer Verbündeten unter der Bauernarmut vermittels ihrer eigenen, demokratisch kontrollierten Räte.

So wie die kapitalistische Entwicklung die Bedingungen für die wirtschaftliche, soziale und politische Krise in China erzeugt hat, wird die Globalisierung dafür sorgen, dass die Nachwehen dieser Krise schneller als alle anderen in der Geschichte um die Welt gehen werden. Gerade weil China eine Schlüsselrolle in der Stabilisierung des globalen kapitalistischen Systems gespielt hat, wird jede Destabilisierung in der Volksrepublik sofort die Schwächen, die sich in den imperialistischen Ökonomien summiert haben, enthüllen und verstärken. Wie die verschiedenen Klassen weltweit auf eine womöglich international synchronisierte Krise antworten, kann nicht vorausgesagt werden. Es kann allerdings wenig Zweifel daran geben, dass das Ergebnis ihrer unvermeidlichen Konflikte einen Hauptfaktor bei der Gestaltung der nachfolgenden Geschichte des 21. Jahrhunderts ausmacht.

Fußnoten und Anmerkungen

(1) Das Gemeinsame Programm, zitiert nach J. Chesneaux, in China: The People’s Republic 1949-76, London, 1979, S.9

(2) Zahlen aus: B. Naughton, The Chinese Economy, Cambridge (Massachusetts), S. 78 und aus: Noland und Ash, China’s Economy on the Eve of Reform, in: China Quarterly 144, London, 1995, S. 982

(3) ebenda.

(4) Naughton, a.a.O., S. 78

(5) ebda.

(6) 1981 wurden 91% aller Exporte und 87% der Importe von Außenhandelsfirmen kontrolliert, die dem Ministerium für Auslandsbeziehungen und Außenhandel direkt unterstellt waren; 1984 beliefen sich ihre diesbezüglichen Anteile auf 79% bzw. 65% (Sun Wenxiu, zitiert nach Nicholas Lardy, im Kapitel Chinese Foreign Trade in: The Chinese Economy Under Deng Xiaoping, Oxford, 1996, S. 227)

(7) ebenda., S. 222

(8) ebenda., S. 224

(9) Zahlen aus T. Sinclair, Redefining State, Plan and Market in: China Quarterly, a.a.O., s. 1026

(10) Naughton, a.a.O., S. 286

(11) Für eine detaillierte Diskussion von Emporkommen und Einfluss der SUD siehe Trotskyist International 22, Juli 1997. Zum Zeitpunkt dieser Übersicht war es besonders wichtig, den grundlegend kapitalistischen Charakter des SUD-Sektors trotz seiner nominellen Bezeichnung als „Kollektiveigentum“ zu betonen, um die Dynamik hinter dem Restaurationsprozess zu begreifen. Die Schlüsselfunktion von Partei- und Staatsfunktionären in der erdrückenden Mehrheit von Betrieben blieb jedoch ein extrem bedeutsamer politischer Faktor, der Überwachung und Kontrolle gewährte, während der Bereich aufstrebte. Heute, da einige Firmen, die diesem Bereich entwachsen sind, sich zu Konzernen gemausert haben, bleibt die Bedeutung der engen Verzahnung vieler Unternehmen mit dem Partei- und Staatsapparat bestehen.

(12) Naughton, a.a.O., S. 403

(13) Lardy, a.a.O., S. 1074

(14) Eine ausführlichere Darlegung in Trotskyist International, a.a.O.

(15) Zitiert nach Jonathan Story in: China, the Race to the Market, London, 2003, S. 100

(16) Eine detaillierte Untersuchung der Globalisierung in: Globalisierung, Antikapitalismus und Krieg – Ursprünge und Perspektiven einer Bewegung, Berlin, Dezember 2001 sowie Anti-Capitalism, London, 2004

(17) Zahlen aus: David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, Oxford, 2005, S. 124

(18) Lt. amtlichen Zahlen stellte Hongkong die Quelle von 42% der gesamten FDI im Zeitraum 1985 – 2005 dar; zitiert nach: Naughton, a.a.O., S. 412

(19) Story, a.a.O., S. 192

(20) Harvey, a.a.O., S. 144

(21) Naughton, a.a.O., S. 144

(22) Harvey, a.a.O., S. 128

(23) ebenda.

(24) Zahlen nach: Nationaler Volkskongress, zitiert in: Green Left Weekly, 5. September 2007

(25) Zahlen aus: Global Economics Paper 147, Goldman Sachs, Oktober 2006

(26) Zahlen aus: OECD Economic Surveys, China, 2005, S. 36

(27) Zahlen aus: The Economist, 31. März 2007, S. 10

(28) Naughton, a.a.O., S. 377

(29) Zahlen aus: Li Cui und Murtaza Syed, The Shifting Structure of China’s Trade and Production, IWF-Arbeitspapier 07/214, S. 5

(30) ebenda., passim

(31) Zahlen aus: The Economist, a.a.O., S. 11

(32) ebenda., S. 7

(33) Li und Syed, a.a.O., S. 6

(34) Zahlen aus Fishman in: China Inc., London, 2005, S. 285

(35) Joe Studwell, The China Dream, 3. Auflage, London, 2005, S. 285

(36) Naughton, a.a.O., S. 145

(37) ebenda., S. 12

(38) Goldman Sachs, a.a.O.

(39) Zahlen aus: The Economist, a.a.O., S. 6

(40) Bericht in Asian Times Online, 27. Januar 2007

(41) Zitiert durch Naughton, a.a.O., S. 412

(42) Doch angesichts des verhältnismäßig geringen Ausmaßes an Investitionen seitens der USA ist selbst diese Ertragsmarge ganz unzureichend, um einen qualitativen Eindruck in der US-Wirtschaft insgesamt zu hinterlassen, die sich im BIP-Maßstab auf etwa 13 Bill. $ addiert.

(43) The Economist, 9. August 2007

(44) Zahlen aus Green Left Weekly, a.a.O.

(45) Die Substanz dieses Entwurfs war Gegenstand permanenten Lobbyismus‘ durch internationale Konzerne. Diese wollten jede Verbesserung von Arbeiterrechten verwässern. Details unter: www.fifthinternational.org/index.php?id=210,0,0,1,0,0

(46) Harvey, a.a.O., S. 127

(47) OECD-Überblick, a.a.O.