Debatte: War die DDR ein Unrechtsstaat?

Rex Rotmann, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2009)

Obwohl 1989 untergegangen, ist die DDR
immer noch lebendig. In schöner Regelmäßigkeit, oft aus Anlass von Jahrestagen
oder wenn es darum geht, die PDS bzw. DIE LINKE zu attackieren, ist sie
Gegenstand von Skandalen oder mehr oder weniger seriösen Diskussionen. Meist
ist es das Thema „Stasi“, welches wie ein Damoklesschwert über jeder
Darstellung der DDR oder der Beschäftigung mit bestimmten Aspekten dieses
Staates schwebt. Bisweilen ist die Beschäftigung mit dem Erbe der DDR auch
seriöser, z. B. wenn es um das Bildungs- oder das Gesundheitswesen des
ersten deutschen ArbeiterInnenstaates geht, an denen man dann manchmal positive
Seiten entdeckt. Mitunter geht es einfach nur um Ostalgie.

In jüngster Zeit war das Jubiläum von 60
Jahren (west-)deutschem Grundgesetz einigen Leuten wieder einmal Anlass, eine
grundsätzliche „Charakterisierung“ der DDR vorzunehmen. Das Jubiläum des
Mauerfalls vor 20 Jahren sowie die aktuelle Krise, welche Probleme wie die
Verstaatlichung aufwarf oder ganz und gar den Kapitalismus in Frage stellte,
rückten die DDR erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Dass über die Demokratie-Frage erneut oder
immer noch so heftig diskutiert wird (oder zumindest die bürgerlichen Medien
darüber berichten), hat nicht etwa neue Erkenntnisse zur Ursache, sondern den
einfachen Umstand, dass die Demokratie der heutigen Bundesrepublik ins Gerede
gekommen ist. Die Wahlbeteiligung sinkt, die „Volks“parteien schwächeln, viele
demokratische Grundrechte wurden und werden unterhöhlt: das Asylrecht, das
Streikrecht, der Datenschutz usw. usf. Gründe genug also für die ApologetInnen
der bürgerlichen Demokratie, eifrig einen monströsen „Unrechtsstaat DDR“ zu
konstruieren, damit vor dessen finsterem Hintergrund die Bundesrepublik, deren
demokratischer Lack immer mehr abblättert, umso heller leuchtet.

Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die DDR
ein „Unrechtsstaat“ war. Dabei geht es natürlich nicht etwa darum zu betonen,
dass es in der DDR an wichtigen demokratischen Rechten (z. B.
Versammlungsfreiheit, Organisationsfreiheit, Streikrecht usw. ) mangelte. Das
ist allgemein bekannt und wird höchstens noch von den allerdümmsten
StalinistInnen bestritten.

Es geht in der Debatte vielmehr darum zu
zeigen, dass die DDR im Vergleich zur BRD grundsätzlich undemokratischer war.
Die Frage der Demokratie, des „Rechtsstaats“ wird dabei zur zentralen, ja in
gewisssem Sinn zur einzigen Frage, um die es bei der Einschätzung der DDR geht.
Allein schon daran wird die idealistische Methode der Betrachtung deutlich.
Nicht etwa die Frage nach den materiellen, ökonomischen Verhältnissen, auf
denen sich rechtliche, politische u. a. Systeme gründen, ist von
Interesse, sondern die „Demokratie an sich“. Dass jedes Recht wie auch jede
Politik letztlich den (ökonomischen) Interessen einer Klasse dient, bleibt
dabei ausgespart. Doch immerhin setzt z. B. das Eigentumsrecht auch ein
handfestes Eigentum voraus, ohne das ein Gesetz einfach nur eine Fata Morgana
wäre.

Diese „Aussparung“ hat freilich Gründe. Einmal
lenkt man von der wesentlichen Frage des Eigentums an Produktionsmitteln ab,
zum anderen stellt man so die „Demokratie“ auch gleich als Wert an sich, als
Struktur dar, die sich scheinbar nur aus abstrakten Ideen ableiten würde. Doch
schon Marx postulierte, dass das Recht nie höher stehen könne, als die
materielle Basis, auf dem es sich erhebt.

Demokratie konkret

Ein Beispiel. Dass es in der DDR nur wenige
hundert RechtsanwältInnen gab, wird von einigen KommentatorInnen so
interpretiert, dass ein wichtiges Rechtsinstrument fast ganz fehlte.
Tatsächlich gibt es auch in Ostdeutschland inzwischen tausende, ja vielleicht
zehntausende RechtsanwältInnen. Doch ob es deren in der DDR nun zu wenige gab
oder nicht – die entscheidende Frage ist eine ganz andere: Warum musste es so
wenige geben? Die Antwort darauf ist relativ leicht, wenn man bedenkt, dass es
wesentliche Dinge, die eine/n Anwalt/Anwältin erfordern, nicht gab: erstens
konkurrierende PrivateigentümerInnen, die miteinander um ihr Eigentum oder
deren Verwertung streiten; zweitens einen Markt, der nach Verwertungskriterien
funktioniert. So waren Grund und Boden Volkseigentum oder – soweit privat –gab
es klare Regelungen, so dass niemand wie im Kapitalismus als MaklerIn mit
Immobilien Profit machen konnte. Dieses Fehlen so wesentlicher Merkmale des
Kapitalismus ist – ganz nebenbei – auch ein klares Indiz dafür, dass die DDR
kein Staatskapitalismus war.

Nach der „Wende“ konnten die
DDR-BürgerInnen mit der Wiedereinführung des Kapitalismus ganz hautnah erleben,
wie diese auch mit einer alles und alle erfassenden „Verrechtlichung“
einherging; jede Sache war plötzlich hoch kompliziert. So, wie die Konkurrenz,
wie „die Wirtschaft“, sich anarchisch hinter dem Rücken der AkteurInnen
durchsetzt, genauso spreizt sich die Demokratie vor unseren Augen.

Der „Rechtsstaat“ Bundesrepublik zeichnet
sich u. a. dadurch aus, dass er ein riesiges Gestrüpp von Regelungen,
Gesetzen, Institutionen kennt, um das Phänomen der Arbeitslosigkeit zu regeln
(Hartz IV-EmpfängerInnen würden eher sagen: um Arbeitslose zu schikanieren).
Soviel Juristerei gab es in der DDR dazu nicht. Da gab es tatsächlich einen
echten Mangel – an Lohnarbeitslosigkeit.

Nur der Vollständigkeit halber sei noch
darauf hingewiesen, dass die Juristerei komplett unproduktive Arbeit darstellt.
Eine Gesellschaft, die sich davon eine Menge sparen kann – nicht, weil sie sie
willkürlich abschafft, sondern weil diese nicht mehr nötig ist –, ist dann
insofern eine produktivere. Dass die DDR in einigen Bereichen dazu fähig war,
zeigt, dass sie tatsächlich – trotz all ihrer riesigen stalinistischen
Verkümmerungen, ihrer bürokratischen Wucherungen und ihrer nationalbornierten
Kleinbürgerlichkeit – im Ansatz auch eine Gesellschaft des Übergangs zu einer
neuen Ordnung verkörperte. Diese Dimension des „Nicht mehr Brauchens“ steckt
schon in Marx´ Postulat, dass der Staat im Kommunismus abgestorben sein wird.

Welche Demokratie?

Ein Zweck der Unrechtsstaats-Debatte ist
(ob gewollt oder ungewollt) eine doppelte Verschleierung. Zum einen wird der
wahre Charakter der Demokratie im Westen vertuscht. Sie erscheint nicht als ein
spezifisches Instrument der Herrschaft der Bourgeoisie (neben anderen,
z. B. der Militärdiktatur oder des Faschismus), um deren Herrschaft zu
verhüllen. Auch die formelle Form dieser Demokratie wird nicht betrachtet,
geschweige denn kritisiert. So sind Gewählte weder jederzeit kontrollierbar
noch abwählbar. Das Gros des Staatsapparates ist nicht wählbar (Armee, Polizei,
BeamtInnen, RichterInnen usw.). Entscheidende Fragen der Gesellschaft wie die
Wirtschaft, das Privateigentum usw. stehen überhaupt nicht zur Wahl.

Doch auch die Demokratie der DDR wird
verschleiert, nämlich insofern, als sie als typisch für den
Sozialismus/Kommunismus dargestellt und deren Geschichte, die eben auch und vor
allem eine Geschichte der Verhinderung, ja Zerstörung alternativer Formen von
Demokratie durch den Stalinismus war, ausgeblendet wird.

Im Grunde hat schon Walter Ulbricht die
Demokratie gut beschrieben, als er einmal sagte: „Wir müssen alles in der Hand
haben und es trotzdem demokratisch aussehen lassen.“ Ulbricht meinte damit die
DDR, aber es würde auch auf die BRD perfekt passen. Wenn man die DDR-Demokratie
auf eine kurze Formel bringen wollte, könnte man sagen, dass sie zwei Seiten hatte.
Eine war die fast lückenlose Machtmaschine aus Stasi, Polizei, Bürokratie und
Partei. Trotzki bemerkte einmal durchaus zutreffend, dass der stalinistische
Staat in seiner Form (nicht in seiner Funktion!) dem faschistischen sehr
ähnlich ist. Die andere Seite bestand aus dem Torso einer bürgerlichen
Demokratie mit Parteien, Wahlen usw. Es ist bezeichnend, dass der Stalinismus
fast jede Form von direkter Massendemokratie, von Räten, Fabrikkomitees usw.
verbot oder zerschlug, jedoch keinen Aufwand scheute, seine aberwitzige
Karikatur von bürgerlicher Demokratie aufzupolieren.

ArbeiterInnendemokratie

Doch auch auf dem Boden der ehemaligen DDR
gab es Ansätze einer anderen Demokratie. Als nach 1945 die Nazis geflohen oder
verhaftet waren, nahmen die ArbeiterInnen es selbst in die Hand, die Betriebe
wieder aufzubauen und in Gang zu setzen. Das war ArbeiterInnenselbstverwaltung.
Doch es fehlte eine politische Führung, die diese Ansätze zu einem System von
geplanter Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle hätte weiterentwickeln können
oder wollen. So war es der sowjetischen Militäradministration (SMAD) möglich,
die Betriebe der realen Verfügungsgewalt der ArbeiterInnen wieder zu entwinden,
indem sie sie zu sowjetischem Eigentum erklärte, womit diese dann der Moskauer
Bürokratie unterstanden. Das war der erste, besondere Schritt Richtung
bürokratische Planwirtschaft, bei der die ArbeiterInnenklasse viel zu arbeiten,
aber wenig zu sagen hatte.

Auch wenn die KommentatorInnen alljährlich
des ArbeiterInnenaufstands in der DDR im Juni 1953 gedenken, wird fein
säuberlich ausgespart, dass es damals eben nicht nur um bürgerliche
„Demokratie“ ging, sondern viele Losungen und Forderungen dezidiert die direkte
Machtausübung der ArbeiterInnenklasse forderten und diese sich nicht nur auf
die politische Ebene bezogen wie die bürgerliche Demokratie, sondern auch und
gerade soziale Fragen und die Wirtschaft selbst betrafen.

Wenn die Urteile der Bürgerlichen über die
DDR meist nur fade sind, so erweist sich die Verteidigung der DDR durch viele
Linke – und nicht nur StalinistInnen! – nur als peinlich. Diese Linken glauben
ernsthaft, sie täten etwas Gutes, wenn sie zu beweisen suchen, dass die DDR
kein „Unrechtsstaat“, sondern durchaus demokratisch – und zwar im Sinne von
bürgerlich-demokratisch war.

Peinlich ist an diesen Verteidigungsreden
dabei weniger, dass es natürlich auch in der DDR in vielen Bereichen nicht ganz
so wenig Rechtsstaat gab, wie es in den Medien oft hingestellt wird. Peinlich
ist vielmehr, dass diesen Linken offenbar gar nicht in den Sinn kommt, dass zu
einer nichtkapitalistischen Gesellschaft ein bürgerlicher Überbau nicht
besonders gut passt.

Nein, diese Liberos/Liberas des Stalinismus
verteidigen die DDR, weil sie keine Vorstellung davon haben, welche
Staatsstruktur, welche Art von Demokratie der ArbeiterInnenstaat zu seinem
Gedeihen braucht. Sie glauben offenbar tatsächlich, dass solche bizarren
demokratischen Staffagen wie die Volkskammer, die Wahlen, die Nationale Front,
die vom Schnürboden des demokratischen Theaters DDR heruntergelassen worden
waren, verteidigenswert seien.

Diese linken „RechtsstaatlerInnen“ sind es
aber auch, die dann in Diskussionen, in Bündnissen und in realen Konflikten im
Klassenkampf jede Forderung nach ArbeiterInnenkontrolle, nach direkter Wähl-
und Abwählbarkeit von Streikkomitees usw. ablehnen. Dort, wo
ArbeiterInnendemokratie anfängt, hört bei diesen Leuten das Denken auf.

Wenn es einen zentralen Widerspruch in der
DDR gab, dann jenen, dass die bürgerliche Form des Staatsapparates völlig
unvereinbar war mit den Entwicklungsbedürfnissen einer nichtkapitalistischen
Gesellschaft. Die Bourgeoisie in der DDR war enteignet, doch an deren Stelle
als bestimmendes Subjekt der Gesellschaft trat nicht die ArbeiterInnenklasse,
sondern eine bürokratische Kaste. Sie musste durch eine politische Revolution
der ArbeiterInnenklasse gestürzt werden. Das gelang – trotz mehrerer Versuche
in den Ostblockstaaten – leider nicht.

Wenn MarxistInnen die DDR verteidigen, dann
verteidigen sie deren soziale Errungenschaften – nicht die stalinistische
Bürokratie, die das Land geknebelt, die den Weg der internationalen Revolution
verlassen und die Straße zum Kommunismus blockiert hat. Die Bürokratie und ihre
beschränkten reaktionären Ideen sind historisch gescheitert – verschwunden sind
sie noch nicht. Sie fristen in der DKP oder der MLPD weiter ein kümmerliches
Dasein; jene, die einst die zweite und dritte Reihe der SED-Bürokratie
stellten, dominieren heute die Linkspartei. Sie haben sich etabliert, eine neue
Welt etablieren sie nicht mehr.

Systemalternative

Die Weltwirtschaftskrise hat viele Menschen
dazu animiert, den Kapitalismus als alternativlose Normalität in Frage zu
stellen. Die zaghaften Erwägungen der Regierung, marode Betriebe eventuell zu
verstaatlichen, haben andererseits aber auch Konservative dazu gebracht, Zeter
und Mordio ob dieser drohenden „Einführung des Sozialismus“ zu schreien.

Die schweren Turbulenzen der
Weltwirtschaft, ja die Gefahr des Zusammenbruchs des ganzen Ladens haben die
Frage nach einer Systemalternative erneut angefacht. Insofern soll die
„Unrechtsstaatsdebatte“ auch in dieser Hinsicht eine klare Botschaft
vermitteln: Staatseigentum und Planwirtschaft haben schon einmal nicht
funktioniert, sind also Teufelswerk.

Natürlich: Unterm Strich hat die Wirtschaft
der DDR und der anderen stalinistischen Länder nicht gut genug funktioniert, um
die Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend zu befriedigen. Und sie war schon
gar nicht dem Westen – genauer: den führenden imperialistischen Ländern – überlegen.
Doch daraus den Schluss zu ziehen, dass Staatseigentum und Planung per se nicht
funktionieren würden, ist falsch.

Falsch ist an der Kritik zunächst einmal,
dass nicht hinterfragt wird, wie das Staatseigentum konkret aussah und wie die
Planung funktionierte.

Gemäß Marx und allen anderen großen
MarxistInnen sind es im ArbeiterInnenstaat bzw. im Sozialismus die
ProduzentInnen und KonsumentInnen, also das Proletariat, das die Produktion
kontrolliert, organisiert und plant. Dazu braucht es Strukturen wie Räte,
Betriebskomitees, Gewerkschaften, Kontrollorgane usw.

In den stalinistischen Ländern gab es
solche Organe nie oder sie wurden bewusst zerstört oder ihres sozialen Inhalts
beraubt. Die Steuerung der Wirtschaft oblag einer bürokratischen Schicht, deren
Entscheidungen nicht transparent, diskutierbar oder gar änderbar waren. Auf der
Ebene der Verteilung von Ressourcen funktionierte diese Planung aber durchaus
nicht so schlecht; doch sie erwies sich als zunehmend hilflos, als es darum
ging, technische Innovationen zu fördern und in die Produktion zu überführen.
Das Wissen, die Erfahrungen der ArbeiterInnen, also der am engsten mit der
materiellen Produktion verbundenen Klasse, konnten so nicht zur Wirkung kommen.
Die permanente Gängelung und Bevormundung durch die Bürokratie, das Fehlen
offenen gesellschaftlichen Meinungsstreits führten zudem zu einer immer größer
werdenden Entfremdung der Klasse von dem Eigentum, das ihnen angeblich gehörte.

In der DDR wurde die Bourgeoisie entmachtet
–durchaus entgegen der ursprünglichen strategischen Zielsetzung Stalins, in
Mittel- und Osteuropa eine „neutrale“ Pufferzone zum Westen zu etablieren. Der
Stachel des Profitmachens war als zentraler Motor des Wirtschaftens eliminiert,
die Bourgeoisie als herrschende Klasse gestürzt worden. Doch der eigentliche
Antrieb, die eigentliche Quelle des Wirtschaftens, ja überhaupt allen
gesellschaftlichen Handelns im ArbeiterInnenstaat – die Bedürfnisse der
ArbeiterInnenklasse bzw. der Massen – wurden nicht zum Stachel der neuen Gesellschaft.
Diese Rolle des „Motors“ der Entwicklung übernahm die Bürokratie – ohne ihr
gerecht werden zu können.

Die Entmachtung, die Fesselung der
ArbeiterInnenklasse als sozialer Kraft bedeutete, dass die DDR immer mehr
verkrustete, erlahmte und schließlich – implodierte, letztlich weil das
revolutionäre Subjekt der Veränderung und des Übergangs zum Sozialismus
systematisch an der Bildung revolutionären Klassenbewusstseins gehindert wurde
– und, solange die Bürokratie herrschte – daran gehindert werden musste.

Nicht „das Staatseigentum“, nicht „die
Planung“, sondern deren stalinistische, bürokratische Formen und Methoden haben
nicht funktioniert. Dazu kam u. a. , dass die internationale Kooperation
und  Arbeitsteilung im Ostblock
aufgrund der Eigeninteressen der nationalen Bürokratien und der
Vormachtstellung Moskaus ein niedrigeres Niveau hatten als der kapitalistische
Weltmarkt.

Perspektive

Trotzki, die Linksopposition und später die
IV. Internationale hatten schon seit den 1920er Jahren die Fehlentwicklungen
des aufsteigenden Stalinismus kritisiert und für eine revolutionäre und
arbeiterInnendemokratische Alternative gekämpft. Gestützt auf diese Tradition
und bereichert durch die Erfahrungen unter dem Stalinismus haben wir heute ein
deutlich klareres Bild davon, welche Gefahren der Entwicklung eines
ArbeiterInnenstaates drohen, aber auch, welche großartigen Möglichkeiten eine
demokratische Planwirtschaft der Welt zu bieten hat. Angesichts der Krise und
der durch den Kapitalismus immer größer werdenden globalen Probleme der
Menschheit verbietet es sich fast, von einer Möglichkeit zu reden – die
Planwirtschaft ist eine existenzielle Notwendigkeit für die Menschheit.

Gerade die Tatsache, dass die DDR kein
kapitalistischer Staat mehr war, sondern eine Übergangsgesellschaft, deren
Fortschreiten zum Sozialismus jedoch durch die Herrschaft einer bürokratischen
Kaste strukturell blockiert war, verweist darauf, dass die Begriffe
„Rechtsstaat“ oder „Unrechtsstaat“ höchst untauglich sind, die Verhältnisse des
Landes zu erfassen.

Natürlich war die DDR, wie jeder Staat,
einer, der unterdrückt. Aber er – war 
und daran muss eine marxistische Kritik der DDR ansetzen – ein Staat der
Unterdrückung nicht nur jeder Opposition, sondern der ArbeiterInnenklasse.

Ist die BRD deshalb ein Rechtsstaat? Aber
ja. Doch was bedeutet das schon?

Der Begriff des „Rechtsstaats“ wurde im
Kampf gegen die feudale Aristokratie entwickelt und fand Eingang in die
Verfassungen der bürgerlichen Staaten, insbesondere in die US-Verfassung. Die
Staatsgewalt sollte als „Herrschaft des Gesetzes“ verstanden werden, nicht als
die eines/r MonarchIn oder DespotIn. Das Gesetz habe „über allem zu stehen“.

Natürlich war das immer eine Ideologie,
welche die realen Verhältnisse verschleiert und auf den Kopf stellt. Bequem
konnten die „Rechtsstaaten“ so auch mit der Sklaverei leben. Vor allem aber
blendet die Vorstellung vom Rechtsstaat die ökonomischen Grundlagen der
Gesellschaft aus.

Die bundesdeutsche Demokratie ist hohl und
heuchlerisch. In Wahrheit ist die Macht des Kapitals brutaler, größer und
folgenreicher als die aller Stasi-Generäle zusammen. Das ist die Realität des
heutigen „Rechtsstaats“. Einen Grund, ihn zu glorifizieren, ihm etwa
„sozialistisch“ nachzueifern, gibt es nicht. Im Kapitalismus in der Krise, in einer
Gesellschaft des Niedergangs werden auch die „demokratischen“ Rechtsformen
nicht mehr zur humanitären Blüte gelangen.

Trotzdem, oder gerade deshalb müssen auch
RevolutionärInnen, ja alle aufrechten DemokratInnen und klassenbewussten
ArbeiterInnen jede demokratische Errungenschaft gegen die Angriffe von Schäuble
und Co. verteidigen. Aber nicht, weil wir einer Fiktion huldigen und
irgendwelchen „Idealen“ des Rechtsstaats nachfeiern, sondern weil wir unsere
Kampfbedingungen verteidigen müssen.

Wenn derzeit wieder über die „Wende“ in der
DDR von 1989/90 geredet wird, dann wissen wir: der Kapitalismus hat seine Wende
noch vor sich. Dann wird es nicht um einen halben Sozialismus in einem halben
Deutschland gehen, sondern um die internationale sozialistische Revolution.
Wenn es stimmt, dass jede Generation ihre revolutionäre Möglichkeit bekommt,
dann ist die Zeit 20 Jahre nach der „Wende“ reif …




Bundesweite Verschärfung der Polizeigesetze: Keine bloße Ländersache

Jan Hektik, Neue Internationale 231, September 2018

Die Verschärfung des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) in Bayern ist vielen bekannt und hat ziemliche Aufmerksamkeit erregt. Weniger Menschen wissen, dass dies keine Ausnahme darstellt, sondern im Rahmen einer bundesweiten Entwicklung stattfindet, die ihren Anfang mit der Verschärfung des BKA-Gesetzes im Sommer 2017 nahm.

Die Verschärfungen weisen in den Bundesländern zwar Unterschiede auf, vor allem aber einige Gemeinsamkeiten. Alle laufen auf eine Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten durch die Polizei und das Verlagern auf die möglichen Maßnahmen vor dem Begehen einer Straftat (sogenannte GefährderInnen bzw. die sogenannte drohende Gefahr) hinaus. Alle führen zu einer massiven Aufrüstung, einer regelrechten Militarisierung der Polizei. In einigen Ländern werden Maßnahmen wie Fußfesseln eingeführt, Haftmöglichkeiten und ähnliche freiheitsbeschränkende Maßnahmen insbesondere für „GefährderInnen“, also Personen, die noch gar keine Straftaten begangen haben, ausgeweitet.

Im Einzelnen

Im Einzelnen sollen nun einige Beispiele für diese Verschärfungen angeführt werden. Im Grün-Schwarz regierten Baden-Württemberg etwa wurde schon im November beschlossen, dass die Polizei künftig Software zum Mitlesen verschlüsselter Chats auf den Geräten der Betroffenen installieren, elektronische Fußfesseln als Präventivmaßnahme einsetzen oder in Ausnahmefällen Handgranaten verwenden darf.

Die Befugnisse der bayerischen Polizei wurden bereits umfassend erweitert: Online-Durchsuchungen inklusive Datenveränderung und -löschung, der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware auf Demonstrationen, die erweiterte DNA-Analyse oder das Abfangen von Paketen gehören künftig dazu. Vor allem aber ist mit dem Konstrukt der „drohenden Gefahr“ eine rechtliche Kategorie geschaffen, die der Polizei ermöglicht, künftig auch ohne konkrete Verdachtsmomente aktiv zu werden.

Andere Länder planen ähnliche Verschärfungen. Laut Zeitungsberichten plant das Dresdner Innenministerium außerdem, die Panzerfahrzeuge der Polizei mit Maschinengewehren auszustatten. Zusätzlich sollen, wie in vielen anderen Bundesländern, sogenannte GefährderInnen mit Aufenthalts- und Kontaktverboten und einer Fußfessel belegt werden können, ohne jemals eine Straftat begangen zu haben. Außerdem ist das Abhören und Unterbrechen von Handyverbindungen geplant. Innerhalb eines 30-Kilometer-Korridors entlang der Grenze zu Tschechien und Polen soll es möglich sein, SchwerverbrecherInnen mittels Gesichtserkennung über stationäre Anlagen zu ermitteln. Die Einrichtung stationärer Systeme zur Kennzeichenerfassung ist folglich auch Teil des Entwurfs.

Diese Maßnahmen reihen sich ein in eine bundesweite Tendenz: die automatische Erfassung von Gesichtern, Kennzeichen und sonstigen Identifikationsmerkmalen voranzutreiben, eine Aufrüstung der Polizei (z. B. mit Maschinengewehren) und geheimdienstlichen Mitteln (z. B. Staatstrojaner und andere digitale Überwachungsmaßnahmen) sowie eine Vorverlagerung des Zeitpunktes zum Eingreifen, da für eine Überwachung in vielen Bundesländern keine Straftat mehr notwendige Voraussetzung ist, sondern eine drohende Gefahr oder eine Einschätzung des Opfers der staatlichen Überwachung als GefährderIn ausreicht.

Welche Länder sind betroffen?

In Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt sowie im Saarland gingen die Gesetzesänderungen bereits durch die Landtage. Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Niedersachsen wollen bald nachziehen. Veränderungen stehen auch in Schleswig-Holstein, Hamburg und Berlin an. Hier sind bislang aber kaum Details bekannt. In Brandenburg ist nur klar, dass das Polizeirecht verschärft werden soll. Bremen und Hessen sind Sonderfälle. In Bremen liegt eine von der SPD geplante Verschärfung nach Intervention der grünen Koalitionspartnerin gerade auf Eis. In Hessen ist zwar keine Polizeigesetz-Novelle geplant, dafür sollen die Befugnisse des Verfassungsschutzes ausgeweitet werden. Thüringen gibt an, sein Gesetz nur „geringfügig anpassen“ zu wollen. Also verschärfen eigentlich alle!

Die Proteste in Bayern und auch in Nordrhein-Westfalen haben zumindest eines gezeigt: Es besteht ein großer Unmut in der Bevölkerung und eine Bereitschaft, gegen die Verschärfungen auf die Straße zu gehen. Doch bisher wurden die Angriffe nur in den einzelnen Ländern bekämpft.

Wie dagegen kämpfen?

Das ist genau der Holzweg, auf den sie uns führen wollen, indem sie die (im Grunde gleichen) Änderungen in den Bundesländern einzeln und nacheinander durchführen. So besteht die Gefahr, dass der Protest auf die einzelnen Bundesländer und verschiedene Zeiträume beschränkt bleibt.

Wir brauchen eine bundesweite Protestbewegung gegen die Verschärfung aller Polizeigesetze – egal ob ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz) oder PAG (Polizeiaufgabengesetz) – und die Rücknahme aller bereits erfolgten Verschlechterungen, einschließlich der Verschärfung des BKA-Gesetzes.

Dazu ist zunächst eine Vernetzung der einzelnen Inititiativen und Bündnisse gegen die jeweiligen Gesetze notwendig. Im Berliner Bündnis, welches gegen die Verschärfung des ASOG kämpfen möchte, treten wir deshalb für die Koordinierung, Absprache und gemeinsamen Kampf aller dieser Bestrebungen ein. Dasselbe trifft für unsere GenossInnen in anderen Bundesländern zu.

Außerdem wird es notwendig, die Gewerkschaften und alle Organisationen, die sich auf die arbeitende Klasse stützen, einzubinden und einen gemeinsamen Kampf zu führen. Die Polizeigesetze richten sich schließlich nicht nur gegen Demos und Aktionen auf der Straße, sondern können und werden auch gegen Arbeitskämpfe und Streiks eingesetzt werden.

  • Rücknahme aller beschlossenen und drohenden Gesetzesverschärfungen, einschließlich des BKA-Gesetzes!
  • Für ein bundesweites Aktionsbündnis gegen die Polizeigesetze und eine gemeinsame, bundesweite Großdemonstration als ersten Schritt zur Bündelung der Aktionen!



Solidarität mit den Flüchtlingen in Ellwangen

Paul Neumann, Infomail 1003, 14. Mai 2018

Deutschland ist in größter Gefahr! Heimatminister Seehofer poltert: „Der Rechtsfrieden ist aufs Ernsteste bedroht!“ Es handle sich um einen „Schlag ins Gesicht aller rechtstreuen Bürger.“ „Dieser empörende Sachverhalt muss mit aller Härte und Konsequenz verfolgt werden (…) hier wird das Gastrecht mit Füßen getreten“. Eine „Anti-Abschiebeindustrie“ aus Flüchtlingen, ihren RechtsanwältInnen und Flüchtlingsorganisationen sieht CSU-Landesgruppenchef Dobrindt gar am Werk, die „mit Klagen versucht, die Ausweisung krimineller und gewaltbereiter Flüchtlinge zu verhindern“ und „gegen den gesellschaftlichen Frieden“ arbeite.

Was ist geschehen? In der Landeserstaufnahme-Einrichtung (LEA) in Ellwangen, im Norden Baden-Württembergs, haben am Montag, den 30. April, gegen 2:20 Uhr, ca. 200 BewohnerInnen die Abschiebung eines togolesischen Geflüchteten verhindert. „Der Mann sollte entsprechend der Dublin-Verordnung, ohne inhaltliche Prüfung seines Asylantrages, nach Italien überstellt werden, wo bekanntlich eine menschenwürdige Unterbringung und soziale Versorgung oftmals nicht gesichert ist und selbst anerkannte Flüchtlinge an den Bahnhöfen sitzen und um Weißbrot betteln müssen. Auch in anderen europäischen Staaten, etwa in Bulgarien oder Ungarn, finden Geflüchtete oft keine menschenwürdige Lebensperspektive vor, mitunter kommt es von dort aus zu rechtswidrigen Rücküberstellungen in nicht EU-Staaten oder gar in die Herkunftsländer“ (Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, 04.05.2018)

Law and Order-Kampagne

Dieser verzweifelte Akt der Solidarität, sich gegen die menschenunwürdige Abschiebepraxis deutscher Behörden zu wehren, wird von dem offen rassistischen Teil der Bundesregierung als Steilvorlage für eine „Law and Order“–Kampagne genutzt, die dankbar von der breiten Öffentlichkeit, der Polizei und den Medien aufgegriffen wird, um weitere Hetze gegen Flüchtlinge zu mobilisieren. Die CSU-Heimattreuen stehen in vorderster Front, sind doch im Herbst Landtagswahlen in Bayern, und es gilt der rechten Konkurrenz von der AfD den Schneid abzukaufen. Wahrlich, dies ist ein Lehrstück über den bürgerlich demokratischen Kampf gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Dieser kommt nämlich zu den gleichen Ergebnissen wie der althergebrachte Nazi-Rassismus, ganz ohne allzu viel Volk-, Vaterland- und Nationalismus-Ideologie. Die steht heute einer europäischen Führungsmacht, die beansprucht, Exportweltmeister und ambitionierter „Globalplayer“ in Sachen Weltordnung zu werden, schlecht zu Gesicht. Die bürgerlichen Parteien, bis hinein in die SPD, die Grünen und Teilen der Linken rufen dann lieber nach dem „Rechtsstaat“ und dem Vollzug seiner rassistischen Gesetze. Weil demokratisch beschlossen, werden sie gewissermaßen als „sakral“ ausgegeben. Während die offenen RassistInnen geradezu euphorisch auf rechtstreues Umsetzen bestehen, reden sich grüne, sozialdemokratische und linke RegierungsvertreterInnen in Bund und Ländern eben auf ihre „Pflicht“ heraus, dass sie die Gesetze umsetzen müssten, wie andere Menschen Luft zum Atmen bräuchten. Diese „demokratische Rechtsstaatlichkeit“, mit ihren imaginierten hohen moralischen Werten, hat bekanntlich keine Probleme damit, jährliche tausende Menschen im Mittelmeer ersaufen zu lassen.

Kein rassistisches Stereotyp hat die reaktionäre Öffentlichkeit ausgelassen, um den „gewalttätigen“, „bedrohlichen“, „undankbaren“, auf „unsere“ Kosten lebenden „SchwarzafrikanerInnen“ zu bebildern und ein imaginiertes „Wir gegen die Fremden“–Szenario aufzubauen. CSU-Dobrindt bringt es fertig, in einem Interview 13 Mal (!) von „kriminellen und gewaltbereiten Asylbewerbern“ (heute-Show, 11. Mai) zu sprechen. JedeR brave deutsche KleinbürgerIn soll sich AsylbewerberInnen nur noch als kriminell und gewaltbereit denken.

Da spielt es schon keine Rolle mehr, dass die Flüchtlinge in Ellwangen, sowohl am 30. April bei der Beschützung des Togolesen, als auch beim durch die Schwarz/Grüne Landesregierung angeordneten demonstrativen, bürgerkriegsähnlichen Großeinsatz am 4. Mai durch zwei, bis an die Zähne bewaffnete Hundertschaften, durchaus gewaltlos waren. Die anfänglich behaupteten „Angriffe auf Polizisten/innen“ und die „gehorteten Waffen“ gab es nicht. Von den behaupteten 3 verletzten PolizistInnen ist eine verletzte Polizistin übrig geblieben, aber ausdrücklich ohne „Fremdeinwirkung“, wie Deutschlandradio am 4. Mai berichtete.

Nicht gewalttätig? Selbstverständlich haben sich die Flüchtlinge mit ihrer Solidaritätsaktion strafbar gemacht! Widerstand gegen die Staatsgewalt heißt das Verbrechen, dessen sie jetzt angeklagt und weswegen einige Dutzend verhaftet wurden.

Um die Verzweiflung der Menschen in einer LEA zu verstehen, muss man wissen, welche Flüchtlingsgruppen dort untergebracht werden. Die meisten Einrichtungen wurden erst 2015/16 von den Ländern aufgebaut, weil die Kapazitäten der existierenden Landesaufnahmestellen (LAST) für den großen Zustrom an Geflüchteten nicht mehr ausreichend waren. Die LEA diente in dieser Phase der zentralen Aufnahme, Registrierung, Asylantragstellung und Verteilung auf die Stadt- und Landkreise der Länder. Mit der Abnahme des Zustroms der Geflüchteten und nach der Schießung der EU-Grenzen mit dem Türkei-Abkommen wurde die Selektion der Geflüchteten in Bleibeberechtigte und Nicht-Bleibeberechtigte von der CDU/SPD-Bundesregierung umgesetzt. Unter die Gruppe der vermeintlichen Nicht-Bleibeberechtigten fallen alle Geflüchteten vom Balkan, aus den nordafrikanischen Staaten (Maghreb-Staaten) und vor allen die Dublin-Flüchtlinge, also die, die vor ihre Einreise nach Deutschland über ein anderes EU-Land Transit genommen haben. Die vermeintlich Nicht-Bleibeberechtigten sollten nicht mehr auf die Stadt- und Landkreise verteilt werden, sondern in einer LEA verbleiben, um die Abschiebungen zu erleichtern. Zu diesem Zweck sollte diese Gruppe von Beginn an keinen Zugang zu Integrationsmaßnahmen wie Sprachkursen, Wohnung, Arbeitsgelegenheiten erhalten. Die LEA wurde zum Hort der Hoffnungslosen und Verzweifelten, zumal auch der Zugang zu RechtsanwältInnen, also zum Rechtsweg, den ja unser „Rechtsstaat“ so stolz vor sich herträgt, in der LEA erschwert wurde.

Aber unser Heimatminister Seehofer plant schon weiter: AnkER-Zentren will er schafften. AnkER steht hier nicht für „Anker-werfen, Bleiben“, sondern ist das Kürzel für „Ankunft-Entscheidung-Rückführung“. Alles unter einem Dach: bewachte Flüchtlingsunterkunft, BAMF-Außenstelle für die schnelle Ablehnung des Asylantrags, Polizei für die schnelle Abschiebung. Rechtsmittel können dann im Heimatland eingelegt werden. Der Zugang zu RechtsanwältInnen und Rechtsberatung soll weiter erschwert werden, ebenso soll die unabhängige Verfahrensberatung der Verbände in den Zentren einschränkt werden. Die Reduzierung des Rechtswegs wird von der CDU/CSU gefordert. So bekämpft der Staat die „Anti-Abschiebeindustrie“!

Für die ca. 500 Bewohner der LEA Ellwangen, zumeist AfrikanerInnen, die quotenmäßigen VerliererInnen der deutschen Asylpolitik, dürften nächtliche Abschiebungen zur Routine gehören. Regelmäßig werden einzelne Menschen aus ihrer Gemeinschaft gerissen, weil sie die Behörden für „ausreisepflichtig“ erklären. JedeR weiß, auch ihr/m steht die Abschiebung ins Ungewisse bevor. Dieser unmenschlichen eiskalten Routine haben sich die Asylsuchenden in der Nacht vom 30. April in den Weg gestellt.

Wir erklären und vorbehaltlos solidarisch mit den Geflüchteten in Ellwangen und anderswo

  • Stopp aller Abschiebungen in Deutschland!
  • Freilassung aller Verhafteten in Ellwangen und Einstellung der Verfahren!
  • Bleibe- und Arbeitsrecht für alle aus politischen, rassistischen, ethnischen, geschlechtlichen, sexistischen Gründen Verfolgten in Deutschland und der EU!
  • Keine Einschränkungen der Verfahrensberatung und des Rechtsweges von AsylbewerberInnen!
  • Freier Zugang von Verbänden und NGO’s zu den Flüchtlingsunterkünften!
  • Rücknahme der rassistischen Asylgesetze!
  • Weg mit der Dublin-Verordnung und dem EU-Grenzregime!
  • Offene Grenzen! Freier Zugang für alle Flüchtlinge nach Europa!

 

Dokument

Wir dokumentieren eine Stellungnahme von Bewohner*innen der Landeserstaufnahmestelle in Ellwangen zu den Ereignissen der letzten Woche.

Viel wurde über uns geredet, jetzt reden wir!

Stellungnahme von Geflüchteten in Ellwangen vom 5. Mai 2018

Wir, Bewohner*innen der Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen laden für Mittwoch den 9. Mai 2018, um 17 Uhr zu einer Pressekonferenz ein und rufen ab 18 Uhr zu einer Demonstration auf. Zwischen 12 bis 18 Uhr findet auf dem Marktplatz in Ellwangen eine Mahnwache statt.

Die Pressekonferenz wird direkt vor der Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen stattfinden. Dort wird auch die Demonstration beginnen. Wir rufen alle demokratisch gesinnten Menschen auf, sich an der Demonstration zu beteiligen und diese zu beschützen. Unterstützen sie unseren gerechten Protest und hören sie uns zu, was wir als Betroffene zu dem Polizeieinsatz zu sagen haben. Viele von uns sind durch den bürgerkriegsähnlichen Polizeieinsatz tief verunsichert.

Am Montag den 30. April gegen 2.30 Uhr sollte ein Togoer von der Polizei aus der Landeserstaufnahmeeinrichtung abgeholt werden. Der Protest entstand spontan. Einige Abschiebungen bei dem die Polizei laut und aggressiv vorgegangen ist, haben wir schon erlebt. Unser Protest war bestimmt, aber zu jedem Zeitpunkt friedlich. Vorwürfe, jemand sei gegen die Polizei mit Gewalt vorgegangen sind falsch und haben sich auch nicht bestätigt. Falsch ist auch, dass die Person die man abschieben wollte, bereits im Polizeiauto saß. Der Togoer stand entfernt neben uns in Handschellen. Die Polizei verließ während des Protests die Landeserstaufnahmeeinrichtung und gab einem dort beschäftigten Security-Mitarbeiter die Schlüssel für die Handschellen. Der Togoer war, nach dem die Polizei sich entfernt hatte, noch etwa eineinhalb Stunden in Handschellen, bis die Security ihm die Handschellen abnahm. Das ist die wesentliche Geschichte vom Montag. Der Betroffene ist auch nicht untergetaucht, wie behauptet wurde. Niemand ist bei dem spontanen politischen Protest zu Schaden gekommen.

Am Donnerstag den 3. Mai 2018 kam es in der Nacht zwischen 3 und 4 Uhr zu einem Polizeieinsatz an dem mehrere hundert Polizisten beteiligt waren. Auch ein Polizeihubschrauber war im Einsatz. Ziel waren drei Gebäude, wovon 292 Personen betroffen waren. In den Gebäuden positionierte sich die Polizei vor sämtlichen Türen und schlug zeitgleich alle Türen ein, obwohl man die Türen in der Einrichtung nicht abschließen kann. Wir waren alle im Bett. Die Polizei leuchtete mit Taschenlampen. Niemand durfte sich anziehen. Alle mussten die Hände in Höhe halten und wurden gefesselt. Die Zimmer wurden durchsucht. Viele wurden bei der Polizeiaktion verletzt. Wer Fragen stellte musste mit Gewalt rechnen. Wir dachten es handelt sich um eine großangelegte Abschiebeaktion. Wie wir später erfuhren, durften die Bewohner*innen der Nachbargebäude ebenfalls die Gebäude nicht verlassen. Die Polizei unterstellte in einer Pressemitteilung wir hätten Waffen und gefährliche Gegenstände. Nichts von dem ist wahr, nichts wurde bei den Durchsuchungen gefunden. Mehr dazu erfahren Sie am Mittwoch bei der Pressekonferenz.

Wer auch immer diesen Polizeieinsatz zu verantworten hat, er war politisch motiviert und inszeniert. Die bundesweite Berichterstattung und Diskussionen über eine nächtliche spontane, friedliche und politische Aktion, zeigt, wie stark dieses Land mit fremdenfeindlichen Ressentiments aufgeladen ist. Viel wurde in den letzten Tagen über uns geredet. Niemand hat uns nach unserer Meinung gefragt. Am Mittwoch möchten wir über die Polizeiaktion und über unsere Situation in der Landeserstaufnahmeeinrichtung sprechen. Wir hoffen, es werden uns viele zuhören.

 




Flüchtlingsdrama in München: Rechtsstaat in Aktion

Helga Müller, Neue Internationale 193, Juli/August 2013

Das war ein Novum für Münchens noble Innenstadt: Am Samstag, dem 22. Juni, errichteten unmittelbar nach einer Demonstration ca. 95 Flüchtlinge am Rindermarkt ein Protestcamp. Die meisten von ihnen gingen in den Hungerstreik. Unterstützt wurden sie von AktivistInnen v.a. aus der autonomen und linken Szene, viele Ärzte haben ehrenamtlich den Gesundheitszustand der Flüchtlinge überwacht. Von Anfang an aber war klar, dass nur die Flüchtlinge selbst entscheiden, wie der Protest geführt wird.

Hintergrund dieser Aktion ist, dass die Situation der Flüchtlinge – v.a. in Bayern – menschenunwürdig ist und die Bearbeitung der Flüchtlingsanträge (von Seiten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge) oft monatelang, ja teilweise jahrelang hinausgezögert werden.

Ein weiterer Anlass für den Protest ist die Residenzpflicht. Gemäß dieser Regelung dürfen AsylbewerberInnen ohne Genehmigung ihren Regierungsbezirk nicht verlassen. Nachdem auch Thüringen am 1. Juli die Residenzpflicht abgeschafft hat, gibt es diese nur noch in Sachsen und Bayern. Die Residenzpflicht blockiert wesentlich die Eingliederung der MigrantInnen. Zudem ist es ihnen während des Asylverfahrens auch untersagt, eine Arbeit annehmen.

Ein weiterer Grund für den Protest sind die skandalösen Bedingungen in den in oft total überfüllten Gemeinschaftsunterkünften. In München wurde z.B. die Bayernkaserne wiedereröffnet, die vor Jahren aus hygienischen Gründen geschlossen werden musste. In anderen Bundesländern ist man inzwischen dazu übergangen, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Sie erhalten statt Bargeld Essenspakete ohne Rücksicht auf ihre kulturellen Essgewohnheiten. Die bayerische Landesregierung und die Stadtbehörden zeigen den Flüchtlingen mit ihrer Flüchtlingspolitik überdeutlich, dass sie hier unerwünscht sind.

Das ist die Realität für Flüchtlinge in Deutschland, dessen offizielle Vertreter nicht müde werden, „undemokratische Verhältnisse“ in anderen Ländern zu kritisieren.

Die Hauptforderung der Flüchtlinge war jedoch die nach sofortiger Anerkennung als politisch Verfolgte nach Artikel 16a des Grundgesetzes. Damit wollten sie auch auf ihre unsichere Situation durch die langen Bearbeitungszeiten ihrer Asylanträge aufmerksam machen. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hatte in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Anträge bestimmter Bevölkerungsgruppen auf Eis gelegt werden, während andere im Eilverfahren „durchgeschleust“ werden.

Am Dienstag, dem 25. Juni, hatten die hungerstreikenden Flüchtlinge begonnen, das Trinken zu verweigern, was spätestens nach 7 Tagen zum Tod führt. Wie verzweifelt muss die Lage der Flüchtlinge sein, wenn sie bereit sind, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen!

Bürgerliche Demokratie konkret

Wie reagierten nun die bayerische Landesregierung und die Verantwortlichen der Stadt München auf diesen verzweifelten Protest?

Anstatt auf die Forderungen einzugehen, hatte die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) am folgenden Tag die Flüchtlinge zum Abbruch der Protestaktion aufgefordert und meinte: „Hierzulande ist Politik nicht erpressbar, wir leben in einem Rechtsstaat, wo man sich nicht durch Hungerstreiks eine Vorzugsbehandlung erzwingen kann.“ (Süddeutsche.de, 26.6.).

Zwei Tage später (!) meldete sich dann auch der bayerische CSU-Innenminister Joachim Herrmann zu Wort: „Erpressung als Mittel, um Asylrecht zu erhalten, ist völlig indiskutabel.“  Durch Hungerstreiks könne der Rechtsstaat nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. „Jeder, der in unserem Land Asyl beantragt, muss dabei auch unsere Regeln anerkennen und die rechtsstaatlichen Verfahren akzeptieren“, betonte er. (Süddeutsche.de, 27.6.)

Christian Ude, SPD-Oberbürgermeister der Stadt München, besuchte zwar die Flüchtlinge und „verstand“ deren Verzweiflung, aber auch er meinte, dass der Staat den „Drohungen“ nicht nachgeben könne.

Wie zynisch diese Haltung der verantwortlichen Landes- und Stadtpolitiker ist, zeigen diese Zitate mehr als deutlich. Kein Wort verloren sie darüber, dass die Art und Weise des Umgangs mit AsylbewerberInnen eventuell nicht in Ordnung sein könnte.

Der Höhepunkt des Zynismus und der vollkommenen Ignoranz gegenüber den Forderungen und Beweggründen der hungerstreikenden Flüchtlinge war dann die gewaltsame Räumung des Flüchtlingslagers am Sonntagmorgen 5 Uhr durch ein Sonderkommando der Polizei.

Augenzeugen berichteten, dass die Hungerstreikenden teilweise von den USK-Beamten gewaltsam zu Boden gedrückt, im Polizeigriff abgeführt und zu den Sanitätswagen geschleift wurden. Die Flüchtlinge berichteten in einer Presseerklärung, sie seien geschlagen und getreten wurden. Einige der Flüchtlinge seien „ohne medizinische Begleitung zur Polizeistation gefahren“ worden (nach Junge Welt vom 2.7.).

Dass das Flüchtlingscamp relativ problemlos ohne größeren Widerstand gewaltsam geräumt werden konnte, zeigt jedoch auch, wie passiv breite Bevölkerungsschichten gegenüber dem Schicksal Asylsuchender sind.

Mittlerweile hat sich jedoch ein  breiterer Unterstützerkreis gebildet, der den Kampf um das Asylrecht und für eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge weiterführen will. Wichtig ist nun, dass dieser Kampf nicht nur auf Flüchtlingsorganisationen beschränkt bleibt, sondern auch in die Organisationen der Arbeiterbewegung getragen wird.

  • Sofortige Anerkennung der Flüchtlinge als Asylberechtigte!
  • Aufhebung der Residenzpflicht u.a. Einschränkungen des Aufenthaltsrechts!
  • Nein zu allen Abschiebungen und Einreisebeschränkungen! Offene Grenzen! Gleiche Rechte für alle, die in Deutschland leben!



Hausdurchsuchungen am 22. Mai: Staat bekämpft Linke

Frederik Haber, Neue Internationale 180, Juni 2013

Am 22. Mai 2013 fanden bundesweit 21 Hausdurchsuchungen statt. Etwa 300 BeamtInnen durchsuchten neben privaten Wohnräumen auch Arbeitsstellen und Vereinsräumlichkeiten und beschlagnahmten Computer, Broschüren und Mobiltelefone. Betroffen waren u.a. Objekte in Stuttgart, Berlin und Magdeburg.

Vorgeworfen wird den Betroffenen die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 StGB. Konkret sollen sie den „Revolutionären Aktionszellen“ angehören bzw. diese unterstützt und bei der Herausgabe der Zeitschrift „radikal“ mitgewirkt haben.

Diese Durchsuchungen reihen sich in zahlreiche Kriminalisierungsversuche der vergangenen Jahre ein. Insbesondere die „Schnüffelparagraphen“ 129 kommen hierbei verstärkt zur Anwendung, so z.B. gegen AntifaschistInnen in Dresden und verstärkt gegen diverse migrantische Organisationen.

Diese Maßnahmen passen gut in das fatale Bild, das die stattlichen Repressionsorgane gerade abgeben. Für die erfolgreiche Blockade des Nazimarsches in Dresden werden langjährige Haftstrafen verhängt. Gegen die Mörderbande NSU war noch nicht einmal vorgegangen worden, als schon Erkenntnisse über Waffen- und Sprengstoffbesitz vorlagen und es neun Tote aus dem Feindbildbereich der Nazis gegeben hatte.

Der Staat ist immer der Staat der herrschenden Klasse. Der Staatsapparat in diesem Land schützt die Diktatur des Kapitals. Wer etwas verändern will in diesem Land, darf daher keine Illusionen in „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ haben.

Solidarität mit den Betroffenen! Wir schließen uns den Protesten gegen die Durchsuchungen an!

Solidaritätserklärung unterzeichnen unter: www.stuttgart.rote-hilfe.de




NSU-Prozess in München: Sumpfblüten des Rechtsstaats

Tobi Hansen, Neue Internationale 179, Mai 2013

Nun endlich hat der lang erwartete Prozess begonnen – mit seiner Verschiebung auf den 6. Mai. Grund war eine Verfassungsbeschwerde der türkischen Zeitung „Sabah“, welche das Oberlandesgericht München dazu bewegte, das Akkreditierungsverfahren für die Medien zu wiederholen. Dies war nötig geworden, da das Gericht unter Vorsitz von Manfred Götzl erst durch das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen werden musste, dass auch „ausländische“ Medien ein Recht auf Anwesenheit haben.

Das Oberlandesgericht wirkt deutlich überfordert, es wurde ein Saal für 250 TeilnehmerInnen für den Prozess gebucht – wohl wissend, dass es über 70 NebenklägerInnen nebst ihren 41 RechtsanwältInnen und natürlich ein besonderes Interesse der Öffentlichkeit und der Medien gibt.

Nach der Entscheidung zur Verschiebung waren daher auch die Koalition und die Opposition „zufrieden“, schließlich möchte die Koalition auch nicht zusätzliche Verstimmungen mit der Türkei. Als die türkischen Medien sich beschwerten, dass sie quasi aussortiert worden waren und keinen einzigen Beobachterplatz bekommen hatten, wiesen speziell die KoalitionspolitikerInnen noch alle Vorwürfe zurück. CDU-Abgeordneter Polenz (Ex-Generalsekretär) forderte „Vertrauen“ in das Oberlandesgericht und die deutsche Justiz, es würde alles „geordnet und geregelt“ verlaufen. Es ist makaber und bezeichnend zugleich, dass solche dummdreisten Statements zum NSU-Prozess nach all den Skandalen der letzten Zeit möglich sind. Wenn etwas im Ausland bei dem NSU-Prozess an „Ansehen“ verloren hat, dann doch sicher die Arbeit der deutschen Justiz, ihrer Behörden und ihrer Schlapphüte.

Herr Friedrich und die „Aufklärung“

Die mediale Krönung von Heuchelei und bewusster Täuschung gelang dann aber CSU-Bundesinnenminister Friedrich, als dieser die Angeklagte Zschäpe aufforderte, beim Prozess auszusagen. Diese hatte angekündigt, die Aussage zu verweigern, an sich das normale Recht eines jeden Angeklagten, aber der Herr Minister forderte Aufklärung – und dazu könnte die Angeklagte ja das meiste beitragen, oder?!

Natürlich braucht Friedrich jetzt die Infos von der Zschäpe, schließlich hatten ja alle mit der Sache befassten Staatsorgane – Verfassungsschutz, BKA, MAD und einige LKAs alle gesammelten Akten schreddern lassen. Wenn jetzt jemand noch was weiß, dann die Zschäpe.

Das Problem ist aber, dass Friedrich damit natürlich nur vom Versagen und den Verstrickungen der verschiedenen Behörden ablenken will. Diese haben eigentlich den Auftrag „terroristische Strukturen“ aufzuklären und auszuheben. Deswegen gibt es ja den ganzen Apparat. Darauf zu hoffen, dass die Täter sich stellen und alles erzählen, entsprach zumindest bislang nicht der Methode der Staatsorgane der BRD.

Der eigentliche Skandal ist die geduldete Aktivität der drei Mörder Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt unter Beobachtung und wahrscheinlich auch mit Unterstützung der Behörden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz schredderte alle Akten über die „Operation Rennsteig“ im November 2011, ließ diese Aktion auf Januar zurückdatieren und war damit Vorbild für einige Landesbehörden. Mal wurde die „rechte“ mit der „linken“ Ecke des Archivs verwechselt (Berlin), dann wieder einfach alles gelöscht (Thüringen, Sachsen-Anhalt). Wer dort an Zufall glaubt, der hätte auch an das Ende der Welt am 20.12.12 glauben können. Da wird vertuscht und jede Öffentlichkeit, wie auch die „Opposition“ für komplett bescheuert erklärt.

Gegen das NSU-Trio gab es seit 1998 einen Haftbefehl aus Gera, die „Operation Rennsteig“ war nämlich der Aufbau des „Thüringischen Heimatschutzes“ seit Mitte der 90er. Diese Operation und die Beteiligten der verschiedenen Ämter, von der im digitalen Zeitalter keine Akten mehr vorhanden sind (sic!), waren von Beginn an im Kontakt mit dem Mördertrio, das wie die ersten Truppen der Kameradschaften und der JN (Junge Nationaldemokraten) alle im Heimatschutz ihre „Karriere“ anfingen.

Einige Highlights, die fast alle die aktive Unterstützung des Trios untermauern, kamen auch in den verschiedenen Untersuchungsausschüssen im Bundestag und in den Landtagen ans Licht. So hatte das thüringische LKA schon zeitnah nach dem ersten Haftbefehl den Zugriff geplant, ein SEK war abfahrbereit, doch im letzten Augenblick wurde der Einsatz abgeblasen. Die Begründung des damaligen thüringischen Innenministers Dewes im Untersuchungsausschuss dafür war, dass er dies nicht beantworten könne, da er sich an „rechtliche Regeln“ zu halten habe. Eine wirklich kreative Ausrede für Täuschung, Lüge, Mitwisserschaft!

Ein anderes Highlight in Thüringen war die Vernehmung zweier Beamter des Verfassungsschutzes, die besonders eng mit den V-Leuten gearbeitet hatten. Das Ministerium schickte aber gar nicht die beiden Beamten, sondern zwei, die damit gar nichts zu tun hatten. Das ist reine Verzögerungstaktik. Wahrscheinlich hatten sich die eigentlichen Delinquenten noch nicht vorbereiten können, weshalb das Amt halt erst Mal wen anders schickt.

Aus verschiedenen Quellen und Zeugenaussagen lässt sich inzwischen ableiten, dass mindestens 5 V-Leute, also gekaufte Nazis, im Kontakt mit der NSU standen. Nicht selten ging es dabei um Waffen, Munition und Sprengstoff – was der Attentäter halt so braucht, und wozu V-Leute immer Zugriff haben. Bei dem Mord des Internetcafe-Besitzers Halit Yozgat saß sogar ein offizieller Beamter des hessischen Verfassungsschutz am Tatort, ohne allerdings einzuschreiten, geschweige denn, sich nachher als Zeuge zu melden. Dies sind keine Zufälle, dies sind Hinweise auf Duldung und Unterstützung des rechten Terrors durch den Staat.

Lange musste im Untersuchungsausschuss des Bundestags nachgefragt werden, um mehr Informationen zum Umgang mit V-Leuten zu bekommen. Schließlich kam heraus, dass es einen V-Leute-Führer mit dem Tarnnamen „Corelli“ gibt. Dieser war fast 10 Jahre V-Nazi und soll in dieser Zeit 180.000 Euro bekommen haben. Diese Summe hat der Verfassungsschutz zumindest zugeben müssen. Aus einer Anfrage der Linksfraktion ging hervor, das sechsstellige Summen keine Seltenheit sind und auch regelmäßige fünfstellige Beträge ausgehändigt wurden. Riesige Summen sind so vom Verfassungsschutz in die Nazi Szene geflossen – die so ein großes Waffenarsenal anlegen konnten.

Bei diesem Themen wäre es schön, die Anklageliste von München etwas zu erweitern – um die „Kameraden“ aus Behörden, Ämtern und Ministerien. Da könnte auch der Herr Friedrich einen Beitrag zur Aufklärung leisten.

Wandelt Wut und Trauer in Widerstand!

Für wie viele Jahre Frau Zschäpe letztlich in den Knast wandert, ist nicht entscheidend. Für eine radikale, antifaschistische Linke muss die NSU Warnung sein, aber auch Auftrag. Anhand dieses Falls ist es möglich, auch allen noch Staats-vertrauenden Linken zu zeigen, dass dieser Staat auch die blutigsten Mörder unterstützt – obwohl wir das Jahr 2013 schreiben und nicht das Jahr 1933.

Kein Vertrauen in diesen „Rechtsstaat“ zu haben, ist ein wichtiger Schritt, um den Klassencharakter dieses Staates zu erkennen. Dieser Staat schützt das Kapital und ist am Aufbau faschistischer Gewalt beteiligt oder zumindest außerstande, ihr etwas entgegen zu setzen. Wer immer noch glaubt, dass das Verbot rechter Gruppierungen auch nur ein Problem löst, der lasse sich durch die erschreckend effektiven Untergrundstrukturen der NSU eines Besseren belehren!

Die NSU kann zum Vorbild für andere Nazis werden, die „Taten sehen wollen“. Schon kurz nach dem Auffliegen kursierten verschiedene Fotos im Internet mit neuen NSU-Möchtegerns. Und: Feinde feige zu erschießen, war schon immer eine faschistische „Qualität“. Für diese Art von Terrorismus braucht auch niemand eine Ausbildung – schon gar nicht, wenn staatliche Behörden auch noch die Mittel dafür liefern.

Die Linke und die gesamte Arbeiterbewegung muss stärker reagieren, wenn es Brandanschläge auf Moscheen gibt, wenn Kameradschaften den griechischen Faschisten nacheifern und Chrisi Avgi gründen, wenn Linke, GewerkschafterInnen und MigrantInnen angegriffen werden!

Aber langfristig hilft da keine Antifa-Szene, die mit Steinwürfen auf die Polizei oder mit Überfällen auf ein Naziauto agiert. Dieser „Antifaschismus“ mag für die autonome Antifa-Szene ausreichend sein – für einen wirkungsvollen Kampf gegen Kapital, Staat und Faschos ist sie es nicht!

Dazu brauchen wir eine entschlossene antifaschistische Einheitsfront aus Gewerkschaften, der Linken und MigrantInnen.

Opfer des NSU-Terrors

Enver Simsek, Nürnberg, ermordet am 9.9.2000

Abdurrahim Özüdogru, Fabrikarbeiter und Änderungsschneider, Nürnberg, 13.5.2001

Süleyman Tasköprü, Obst- und Gemüsehändler, Hamburg, 27.6.01

Habil K?l?ç, München, 29.8.01

Mehmet Turgut, Dönerverkäufer, Rostock, 25.2.04

Ismail Yasar, Dönerladenbesitzer, Nürnberg, 9.6.05

Theodoros Boulgarides, Schlüsseldienst-Mitinhaber, München, 15.6.05

Mehmet Kubas?k, Kioskbesitzer, Dortmund, 4.4.06

Halit Yozgat, Internetcafé-Betreiber, Kassel, 6.4.06