Der aufhaltsame Aufstieg der AfD: Zum Charakter und Erfolg der Partei

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 281, April 2024

Ein geheimes Hinterzimmertreffen. Die Salonfähigkeit des Begriffs der Remigration oder sogenannter „negativer Aufnahmezahlen“. Die ersten Land- und Stadträte der Alternative für Deutschland. Zusammenarbeit mit der AfD auf Kommunal- und Landesebene. Mordanschläge und Gewaltverbrechen aus dem Umfeld der Partei. In den letzten Monaten erfährt die Partei gerade angesichts der Krise der Ampelkoalition einen starken Aufwind und ist auf einem Allzeithoch. In Thüringen läuft sie Gefahr, stärkste Kraft bei den Landtagswahlen im September zu werden mit prognostizierter 32- bis 35-prozentiger Zustimmungsquote. Expert:innen aus der Wahlforschung unterstreichen, dass die Wähler:innenschaft der Partei sich mittlerweile in fast allen Regionen und sozialen Milieus etabliert habe, städtischer und weiblicher geworden sei – kurz, die Partei im bürgerlichen Sinne immer mehr als „Volkspartei“ bezeichnet werden könne. Ein Grund mehr, sich mit ihrem Charakter und den Hintergründen ihres Aufstiegs zu befassen.

Die Partei damals

Die AfD wurde vor 11 Jahren gegründet. Hervorgegangen aus dem neoliberalen „Hamburger Appell“ (2005) und dem „Plenum der Ökonomen“ (2010) um den Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke und den ehemaligen BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel, war sie zu dieser Zeit vor allem eine „eurokritische Professor:innenpartei“. Doch keinesfalls unter einem fortschrittlichen Aspekt. Ihren Erfolg bei den Bundestagswahlen 2014 (4,6 %) konnte sie vor allem durch eine Position verbuchen: ihrem Dasein als Anti-Euro-Kraft. Bürokratieabbau, Insolvenzfähigkeit staatlicher Institutionen mit möglicher Privatisierung, kapitalgedeckte private Rentenversicherung, ein härterer Sparkurs in Europa und letzten Endes Bruch mit der EU rundeten die Mischung aus Neoliberalismus und Nationalismus ab. Das Wesen des Programms der AfD war immer eines für die Reichen.

Doch war das nicht das Einzige, was sie ausmachte. Seit ihrer Gründung ist die Alternative für Deutschland ein Sammelbecken von rechten Konservativen, Revanchist:innen, christlichen Fundamentalist:innen, Marktradikalen und Faschist:innen. Die unterschiedlichen Standpunkte drücken sich dabei in mehreren Flügeln aus. Das wirtschaftsliberale Credo des sozialen Kahlschlags blieb über die Zeit fraktionsübergreifend bestehen, das AfD-Programm erweiterte sich über die Jahre und ist in diesem Sinne eklektisch. Zentral ist jedoch der permanente Flügelkampf, der den Charakter der Partei maßgeblich prägt.

Aufstieg und Erfolge

Nach der Eurofrage kam die Geflüchtetenkrise und katapultierte die AfD in den Umfragen nach vorne. Mit dem Aufstieg verließ Lucke 2015 die Partei, die er selbst gründete, nachdem er die Auseinandersetzung gegen Frauke Petry verlor und sich „dem islamfeindlichen XYZ“ nicht ergeben wollte. Dies stellte den ersten Flügelkampf dar, bei dem sich die rechtere Position durchsetzen konnte. Es folgte bald die nächste Runde: Petry gegen Gauland 2017, mit Abstrichen Meuthen gegen Chrupalla/Weidel 2022. Abgeschlossen ist dieser nicht, auch wenn momentan eine von Götz Kubitschek (prominenter Vertreter der Neuen Rechten) ausgehandelte „Waffenruhe“ zwischen Weidel und Höcke herrscht.

In den Jahren hat sich die AfD verstärkt auf Ebenen des sogenannten Kulturkampfes gegen den linksgrünen Mainstream  – und konnte ihren Erfolg damit halten.

Dabei sprechen zuallererst die Zahlen für sich: Mittlerweile ist die AfD im Bundestag als fünftstärkste Fraktion und in 14 von 16 Landesparlamenten (Ausnahme Bremen, Schleswig-Holstein) vertreten. Bis auf die Zeit zwischen 2020 und 2022 hat sie bei fast allen Wahlen dazugewonnen. Laut Meinungstrend des INSA-Instituts steht sie in den Prognosen vom 11. März bei 18,5 %. Das ist der niedrigste Wert seit Mai 2023 und ein Punkt weniger als im Vormonat. Bei Allensbach waren es am 21. März 16 %, bei Forsa am 19.3 17 % und bei der Forschungsgruppe Wahlen 18 %. Nutznießerin des leichten Abstiegs ist die Union. Zur Bundestagswahl 2021 waren es 10,3 %. Doch der Erfolg der AfD besteht nicht alleinig aus ihren Wähler:innenstimmen.

a) Die AfD hat den Rechtsruck befeuert

Die Alternative für Deutschland ist Ausdrucks der Krise der deutschen Bourgeoisie, zeitgleich hat sie den Rechtsruck massiv befeuert. Während auf Demonstrationen der Spruch „Die AfD macht die Hetze, die Regierung die Gesetze“ zu hören ist, kann man auch sagen, dass sie es schaffte, das Motto des ehemaligen CSU-Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß „Rechts von mir ist nur noch die Wand“ zu widerlegen. Damit hat sie mehr erreicht als ihre Vorläufer:innen zusammen wie die DVU, Republikaner, Schill-Partei, ProDeutschland, Die Freiheit und wie sie nicht alle hießen.

Sie vermochte sich selbst nicht nur rechts neben der Union zu positionieren, sondern sämtliche bürgerlichen Parteien vor sich herzutreiben. Ob Abschiebungen oder „Genderwahn“: Viele Positionen der AfD sind mittlerweile salonfähig. Das jüngste Beispiel bildet ein AfD-Antrag vom März 2024 im Dresdener Stadtrat zur Einführung eines Bezahlkartensystems für Asylsuchende als kollektive Bevormundung, um ihnen das Bargeld zu verwehren. Mit den Stimmen von FDP, CDU und Freien Wählern fand er auch eine Mehrheit. Man wollte damit der Bundespolitik gegenüber Zeichen setzen, speziell um die Stellung der Grünen in der Ampelkoalition zu schwächen. Silke Schöps (AfD Dresden) twitterte darauf hin auf X, dass die Brandmauer krachend zusammengefallen sei. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz spielt mit Zusammenarbeitsgedanken und will sich das nun genauer anschauen.

b) Rechte Bewegung auf der Straße bündeln

Speziell im Verhältnis zu irrationalen sozialen Bewegungen auf der Straße hat sich die Partei fortentwickelt. Setzte sie in der Eurokritik noch verstärkter auf die Auseinandersetzungen in den Medien, so stellte sie die Pegida-Bewegung ab 2014 vor die Herausforderung, Position zu beziehen. Zu Beginn bestand noch eine Unvereinbarkeitserklärung. Bei den Protesten gegen die Coronamaßnahmen oder jüngst den Bauern-/Bäuerinnenprotesten existierten kaum noch Vorbehalte. Höchstens die Sorgen, nicht ausreichend stark aus ihnen zu Stimmen zu gewinnen.

Was ist …

Bevor wir den Charakter der Partei klären, wollen wir an dieser Stelle kurz die Begriffsdefinitionen skizzieren. Dabei wollen wir anmerken, dass für Rechtspopulismus wie Faschismus gilt, dass diese Formationen Ausdruck eines Wechselspiels sind von kapitalistischer Krise, Stellung der bürgerlichen Parteien und des Kleinbürger:innentums im Verhältnis zur Lage der Arbeiter:innenbewegung. Die Debatte über den Faschismus (oder Nicht-Faschismus) hat für uns als Marxist:innen keinen rein abstrakten Zweck. Es geht darum, ihn als politisches Phänomen zu begreifen, also dessen Rolle, Gefahren und Möglichkeiten zu erkennen, um daraus Taktiken zu seiner Bekämpfung abzuleiten. Denn wenn wir die AfD erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir die/den politische/n Feind:in verstehen.

a) Rechtspopulismus

Populismus ist ein Ausdruck der Krise bürgerlich-parlamentarischer Ordnung, in welcher die etablierten Parteien die Bindung zu Teilen ihrer Wähler:innenschaft verloren haben. Zumeist ist diese Entwicklung verbunden mit einer strategischen Krise der herrschenden Klasse innerhalb der jeweiligen Nationen und damit i. d. R. auch global. Das handelnde Subjekt des Populismus ist dabei das wiederentdeckte „Volk“. Je nach Zuspitzung stellen die „Etablierten“ oder gar „Volksfremde“ wie „Volksverräter:innen“ das Gegenstück dazu dar. Dementsprechend setzt der Populismus an den Widersprüchen herrschender Ordnung an, löst sie aber nicht auf.

Er fungiert vielmehr als Ideologie, die kleinbürgerliche und rückständige proletarische Schichten auf einen vermeintlichen gemeinsamen Feind aller Mitglieder der Nation im Gleichschritt mit einer sich selbst „antielitär“ gebenden Schicht der herrschenden Klasse in Anschlag bringt. Der Populismus muss sich daher immer nationalistischer, rassistischer Ideen als Kitt für seine klassenübergreifende Mobilisierung bedienen. An seiner Spitze steht oft nicht zufällig eine scheinbar über den Klasse stehende Führungsfigur, an der Regierung tendiert er zum Bonapartismus.

b) Faschismus

Der Faschismus teilt mit dem Rechtspopulismus oft ideologische Momente bzw. bedient sich vorgefundener nationalistischer, rassistischer oder antisemitischer Muster. Aber er unterscheidet sich auch fundamental davon.

Leo Trotzki fasst sein Verständnis im Text „Porträt des Nationalsozialismus“ (1933) kurz zusammen, wenn er schreibt: „Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpressten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums. Mussolini hat recht, die Mittelklassen sind nicht fähig zu selbstständiger Politik. In Perioden großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden Hauptklassen bis zur Absurdität zu treiben. Dem Faschismus gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen.“

Darin stecken einige Aspekte: Das Subjekt des Faschismus ist das Kleinbürger:innentum. Dieses ist unfähig zu einer eigenständigen Politik und wird zerrieben zwischen den gesellschaftlichen Hauptklassen. In Perioden großer Krisen spitzt sich dies deutlich zu. Der Faschismus ist dementsprechend historisch ein Angriff auf die Arbeiter:innenbewegung und davon abgeleitet auf den Überbau der bürgerlichen Demokratie. Er nutzt dabei das Parlament als Tribüne, zerschlägt Organe, die seinen Aufstieg oder Machterhalt im Inneren bekämpfen könnten, durch paramilitärische Straßenbanden, die zunehmend in den faschistischen Staatsapparat integriert werden.

In seiner ideologischen Struktur verfügt der Faschismus über keine besondere Qualität, es ist viel mehr sein Charakter, der ihn prägt. Er ist eine zugespitzte Form bürgerlicher Ideologie, in welcher bereits völkisches Denken, Nationalismus, Rassismus und die Unterdrückung das Bestehende herausfordernder Minderheiten bereits eingeschrieben ist. Nach außen ist der Faschismus zugleich die extremste Form imperialistischen Expansionsinteresses. In diesem Sinne ist der „Faschismus [ … ] ein chemisch reines Destillat der Kultur des Imperialismus“ (Trotzki 1940, „Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Revolution“).

Dies ist die Charakterisierung der faschistischen Kräfte während des Zweiten Weltkriegs. Unsere Strömung hat Mitte der 1990er Jahre das Konzept der faschistischen Frontorganisationen entworfen. Mit der Kategorie versuchen wir analytisch, den Fortbestand faschistischer Organisationen danach zu verstehen. Im Wesentlichen nahmen diese Kräfte in Europa und Nordamerika drei Erscheinungsformen an: (A) Sie tauchten ab als eine Form von Netzwerk in bürgerlichen Parteien. So schlossen sich die meisten höheren NSDAP-Mitglieder in den ersten Jahren der FDP an. (B) Sie bestanden als kleine Sekten fort. (C) Sie bauten faschistische Frontorganisationen auf. Letztere bestanden aus einem Widerspruch: einem faschistischen Kaderkern bei gleichzeitig verhältnismäßig gemäßigter, auf das Parlament ausgelegter Politik. Im Zuge dessen gewannen diese Parteien oftmals Mitglieder auf Basis ihres Wirkens und ihres öffentlichen Programms, was wiederum zur „Verbürgerlichung“ eines Teils führte. Die Parteien halten diesen Widerspruch nicht auf Dauer aus, sondern lösen ihn nach einer von beiden Seiten hin auf. Im Modell der faschistischen Frontorganisation geschah dies bisher hin zur bürgerlichen Politik. Beispiele dieser Organisationen sind vor allem die italienische MSI oder der französische FN, mit Abstrichen aber auch die österreichische FPÖ.

Was unterscheidet nun den Rechtspopulismus vom Faschismus?

Sowohl Faschismus als auch Rechtspopulismus in Form von bonapartistischen Regimen (bspw. Miliärdiktaturen oder durch große welthistorische Menschen Putin oder Erdogan) sind Ausdruck einer zugespitzten, krisengeprägten und expansionistischen Außenpolitik imperialistischer Nationen. Beide sind – wie bereits beschrieben – Formen bürgerlich autoritärer Politik.

Doch der Faschismus liefert eine Antwort auf eine Notlage der bestehenden Form bürgerlicher Herrschaft inmitten einer tiefen Krise des Systems, um die Gefahr seiner fortschrittlichen, somit proletarischen Überwindung zu vereiteln. Sein Ziel ist die Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung – nicht nur durch Angriffe auf gesetzlicher Ebene, sondern auch in militanter Form auf der Straße.

Somit sind es die Kampf- und Bewegungsformen, die ihn auszeichnen. Die faschistische Partei ist nicht bloß eine besonders reaktionär-kleinbürgerliche, sie ist die Partei des „wild gewordenen Kleinbürger:innentums“ (Trotzki), die gegen die organisierte Arbeiter:innenbewegung als atomisierender Rammbock fungiert. An der Macht errichtet sie jedoch nicht die Herrschaft des Kleinbürger:innentums, sondern verwirklicht das politische Programm des Monopolkapitals.

Die Partei heute

Mittlerweise scheint sich für die AfD und ihre Basis der bekannte Satz von Trump zu bewahrheiten, der meinte, dass selbst, wenn er auf dem New Yorker Times Square jemanden öffentlich erschießen würde, an Stimmen dazugewinnen würde. Denn während der Verfassungsschutz aktuell die Junge Alternative sowie die Landesverbände Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen als gesichert rechtsextrem einstuft, hat die Partei 2023 etwa ein Drittel ihrer Mitglieder im Zuge der weiteren Rechtsentwicklung gewonnen, die Ausdruck deren sind. Die Patriotische Plattform hat vor ihrer Auflösung 2018 angeblich knapp ein Drittel der damals 26.000 AfD-Mitglieder umfasst. Aktuell zählt die Partei etwa 40.000. Wir können also davon ausgehen, dass knapp die Hälfte der Partei entweder aus der erneuten Rechtsentwicklung der Partei des letzten Jahres gewonnen wurde oder bereits zuvor dem Flügel von Höcke oder gar dessen noch rechterem Pendant, der Patriotischen Plattform, angehörte. Von den etwa 40.000 Mitgliedern im Januar 2024 werden etwa 10.000 als „extremistisch“ kategorisiert.

Für diese ist Björn (Rufname: Bernd) Höcke Symbolfigur. Als Vertreter des formal aufgelösten Flügels, des Sammelbeckens rechter Kräfte in der Partei, ist er jedoch bis heute kaum direkt einflussnehmend auf die Bundespolitik. Im „kleinen Rahmen“ kann er in Thüringen wirken, während er als Redner ideologische Duftmarken für wachsende Teile der Partei setzt. Er bleibt dadurch als Faschist weitgehend unbeschmutzt durch den bürgerlichen Politikbetrieb anderer Teile seiner Partei. Damit kann er seine Stellung ausbauen. Für diesen Teil der Partei stellt die AfD eine Art der faschistischen Frontorganisation dar. Dabei läuft sie Gefahr, die Erste ihrer Art zu werden, der eine Transformation hin zu einer faschistischen Massenkraft gelingen könnte. Im November 2023 hat Bernd Höcke sein Landtagswahlprogramm für Thüringen vorgestellt. Es beabsichtigt den Umbau staatlicher Struktur weiterhin über das Parlament, wenn auch als autoritären mit offener Flanke zur Stärkung faschistischer Kräfte. Sein Fünf-Punkte-Programm lautet zusammengefasst: Klage Thüringens gegen die Geflüchtetenpolitik des Bundes, Umwandlung des Landesverfassungsschutzes, Streichung der Fördermittel für Demokratie und gegen rechts, Einstellung aller Klimaschutzmaßnahmen, Aufkündigung des Rundfunkstaatsvertrages.

Gleichzeitig hat das Programm der Partei seinen marktradikalen Kern behalten, trotz Höckes angeblich national-sozialen Kurses. Sie steht für die Insolvenzfähigkeit öffentlicher Institutionen, die Privatisierung weitreichender sozialer Absicherungen wie beispielsweise der Arbeitslosenversicherung, die Abschaffung von Spitzensteuern, der öffentlich-rechtlichen Medien und vieles mehr. Für den organisatorisch zusehends marginalisierten Pol marktradikaler Kräfte basiert die Strategie hingegen darin, einen Kurswechsel der Union zu erwirken, hin zum sozialen Kahlschlag und zur Stärkung von Exekutivorganen. Auch wenn dieses Lager weder einheitlich noch im Aufwind innerhalb der Partei ist, so sind es doch die Debatte über die Brandmauer, die Abstimmungen der AfD-Fraktionen in Landtagen speziell mit der CDU und FDP, die ihren bisherigen Gipfel in der kurzzeitigen Wahl des ersten FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich im Februar 2020 fanden.

Die Landratsmandate und pragmatische Arbeit auf Kommunalebene liefern die Begleitmusik zu einer möglichen künftigen Koalition. Der Teil der AfD, der diese Zusammenarbeit als strategisch und nicht taktisch begreift, wird immer marginaler. Alle bisherigen Versuche, ihn zu organisieren, scheiterten. Jedoch entspräche dies deutlicher dem, was das deutsche Monopolkapital von der AfD jetzt bräuchte. Wobei es nicht unbedingt darum geht, was die Herrschenden möchten, sondern worauf sie angewiesen sind.

Zugleich können wir nicht davon ausgehen, dass dieses brüchige Bündnis immer bestehen bleiben muss, es ist schließlich ein dynamisches Verhältnis. Während Weidel und Chrupalla den Parteivorsitz darstellen, wurde auf dem 13. Bundesparteitag in Riesa im Jahr 2022 das verpflichtende System Doppelspitze abgeschafft, was historisch für einen Ausgleich zwischen den Lagern sorgen sollte.

Was ist der Charakter der AfD?

Wie bereits erwähnt, nimmt die AfD gewissermaßen die entgegengesetzte Bewegungsrichtung ein, weshalb die Kategorie der faschistischen Frontorganisation nur als Orientierung nützt. Zugleich zeigt sie die Widersprüchlichkeit ihrer Bezeichnung als jeweils rein bürgerlicher oder faschistischer Formation. Rechtspopulistisches Programm ist mehr als ein oberflächlicher Politikstil. Das Sammelbecken hat Methode. Beide Orientierungen gehen weiterhin auf, jedoch sind die Stellungen innerhalb der Partei ungleich. Die AfD ist ein Betätigungsfeld für Nazis und wirkt auf die Praxis der klassischeren Naziorganisationen zugleich, ähnlich wie beispielsweise Pegida für weite Teile der klassischen Naziaufmärsche ein taktisches, vermutlich zeitweiliges Ende bedeutete. In diesem Sinne übt die AfD eine Scharnierfunktion aus.

Im Rechtspopulismus bestehen dabei wesentlich zwei Quellen der sozialen Basis der Parteien: aus Kernen nationalistischer bis faschistischer Organisationen und Bewegungen sowie aus bisherigen liberalen bis konservativen Parteien. Bei der AfD handelt es sich um eine Kombination, in der strategischen Orientierung unterscheiden sich ihre Teile anhand der Bedeutung der Regierungsfrage. Höcke formulierte seine Perspektive vor der Jungen Alternative im Januar 2017, „[d]ie AfD ist die letzte evolutionäre, sie ist die letzte friedliche Chance für unser Vaterland“. In einer Befragung vom Januar 2024 zu einer möglichen Koalition zwischen AfD und Union von de.statista lehnen knapp 93 % der befragten AfD-Wähler:innen die sogenannte Brandmauer ab, im BSW sind es knapp 40 %, gefolgt von 30 % in der FDP, 27 % bei den Freien Wähler:innen und 22 % bei der Union. Bei den Grünen (2 %), der SPD (10 %) und der LINKEN (12 %) sind es bedeutend weniger. Insgesamt lag die Zustimmung zu einer möglichen Koalition bei 30 %.

Den dynamischen Widerspruch innerhalb der AfD bildet dementsprechend die Frage der Regierungsbeteiligung mit der Union oder zumindest unmittelbar einer AfD-gestützten Minderheitsregierung aus Union und FDP einerseits oder die Orientierung auf Aufbau einer Kraft auf der Straße und in den Betrieben andererseits – also die Frage der Übernahme bürgerlich-demokratischer staatlicher Machtmittel oder Umwandlung des Staates zu einer faschistoiden Diktatur. Ein Spannungsverhältnis, das den Charakter der Partei auszeichnet, wenn es auch nie kaum unveränderlich bleiben muss. Ja, in diesem Sinne schlummert in der Partei ein faschistisches Potential und Teile ihrer Mitgliedschaft denken nicht nur, sondern handeln bereits jetzt als solches. Die Entwicklung der Parteirechten, der Jungen Alternative, der faschistischen Zellen wie des Hannibal-Netzwerks, der Mörder von Walter Lübcke, der faschistischen Terroranschläge der letzten Jahre wie Halle, Hanau, Celle – all das zeigt, welch giftige Mischung sich da bereits im Schatten dieser Partei zusammenbraut.

Gleichzeitig besteht der Erfolg ihres Aufstiegs darin, dass sie nicht genuin faschistisch ist, sondern die verschiedenen Flügel es erlauben, ein breiteres, rechtes Milleu abzudecken.

Die Krise des deutschen Imperialismus

Zugleich muss klar sein, dass sich der Charakter der Partei nicht nur aus ihren inneren Dynamiken erklärt. Vielmehr ergeben diese sich aus der allgemeinen politischen Lage. In diesem Kontext muss man also auch die Entwicklung des deutschen Imperialismus sowie die Interessen der unterschiedlichen Kapitalfraktionen einbeziehen und die Frage stellen: Wie faul ist der Zahn denn schon?

Die Welt befindet sich in der Krise und mit ihr die herrschende Ordnung. Deutschland und dessen strategische Orientierung auf den Multilateralismus als sogenannter Exportweltmeister in der Globalisierungsperiode droht im Zuge einer multipolaren Weltordnung inmitten des Kampfes um die imperialistische Hegemonie zwischen dem US- und dem chinesischen Imperialismus ökonomisch, wie politisch zerrieben zu werden. Zugleich stehen weite Teile der deutschen Schlüsselindustrie vor massiver Umstrukturierung, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen. Das zentrale Projekt des deutschen Imperialismus, die Europäische Union, ist ein Ausdruck dieser Krisenhaftigkeit.

Die Grünen stellten bereits in den vergangenen Jahren die bürgerliche Partei dar, die am deutlichsten einen Strategiewechsel formuliert hatte – hin zum Juniorpartner der USA. Die Union unter Merkel hingegen saß die Richtungsfrage tendenziell aus, auch wenn sie unter Merz hier immer deutlicher um eine Alternative ringt. Angesichts dieser Krise erscheint die AfD für immer mehr Menschen als politische Lösung, auch mangels einer sozialistischen Perspektive.

Die Partei ist weiterhin von ihrem Widerspruch geprägt. Sie ist eine nach rechts gehende rechtspopulistische Partei, die vor der Herausforderung steht, sowohl Betreiberin einer Nachfolgeregierung der Ampelkoalition als auch eine kämpfende Formation auf der Straße zu werden. Dieser Widerspruch gehört zur Strategie der sogenannten neuen Rechten. In diesem Sinne übt die Union einen vermutlich größeren Einfluss auf die Entwicklung der Partei aus, als es ihr sogenannter moderater Flügel vermag. Die Geschichte der AfD ist in diesem Sinne leider noch lange nicht auserzählt. Ihre Zukunft bleibt ungewiss, auch wenn ihr faschistoider Arm für Teile der Arbeiter:innenbewegung und der gesellschaftlich Unterdrückten immer militanter wird. Welches der beiden Elemente der Partei auch obsiegt, die AfD muss auf der Straße blockiert und wo nötig bekämpft werden, wie es gegenüber faschistischen Aufmärschen der Fall ist: durch massive Mobilisierung der Organisationen der Arbeiter:innenbewegung und Unterdrückten!




Portugal: Rechtsruck bei Wahlen

Dara O’Cogaidhin, Infomail 1250, 4. April 2024

Die nicht eindeutigen Ergebnisse der portugiesischen Parlamentswahlen vom 10. März führten zu einem knappen Sieg der Mitte-Rechts-Koalition Demokratische Allianz (AD) über die Mitte-Links-Partei Sozialistische Partei (PS). Zum ersten Mal seit 40 Jahren erreichte der prozentuale Stimmenanteil des so genannten „centrão“ einen Tiefstand von 60 %. Da es keinen eindeutigen Sieger gab, war die rechtsextreme Chega („Genug“) die eigentliche Nutznießerin der Wahl, denn sie vervierfachte ihre Sitze von 12 Sitzen im 230 Sitze zählenden Parlament im Jahr 2022 auf heute 48. Sie ist nun die drittstärkste Partei im Parlament und hält faktisch das Gleichgewicht der Macht.

Der AD-Vorsitzende Luis Montenegro sagte, er werde an seinem Wahlversprechen festhalten, keine Regierungskoalition mit Chega zu bilden, obwohl deren Chef André Ventura erklärte, er sei bereit, einige seiner umstritteneren Maßnahmen wie die chemische Kastration von Sexualstraftätern und die Einführung lebenslanger Haftstrafen fallen zu lassen, wenn dies die Einbeziehung in ein mögliches Regierungsbündnis ermögliche. Die Aussicht auf eine große Koalition zwischen der AD und der PS wurde ausgeschlossen, obwohl die PS angedeutet hat, dass sie die Bildung einer Minderheitsregierung der AD ermöglichen würde, indem sie sich bei wichtigen Abstimmungen im Parlament der Stimme enthält, um Chega in Schach zu halten.

Bedeutende Gewinne für Chega

Das Ergebnis unterstreicht den politischen Rechtsruck in ganz Europa. Portugal, das erst nach der Nelkenrevolution vor 50 Jahren zur Demokratie zurückkehrte, galt als immun gegen den Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem gesamten Kontinent. Die Chega, die vor fünf Jahren gegründet wurde, trat mit einem Antiestablishmentprogramm an und versprach, mit der Korruption aufzuräumen. Ihre Kampagne enthielt auch einwanderungsfeindliche und Anti-LGBTQ+-Rhetorik, wobei Ventura eine Wehmut für die als Estado Novo bekannte Diktatur und deren Verteidigung traditioneller katholischer Werte zum Ausdruck brachte. Ventura ist ein ehemaliger Priesteranwärter, der sich als Fußballkommentator im Fernsehen einen Namen gemacht hat.

Die Korruption wird von vielen als typisch für die beiden großen Parteien in Westeuropas ärmstem Land angesehen. Die Chega, deren wichtigster Wahlkampfslogan „Portugal säubern“ lautete, konnte aus einer öffentlichkeitswirksamen Korruptionsuntersuchung im Zusammenhang mit staatlich beauftragten Energieprojekten Kapital schlagen, die im vergangenen Jahr zum Rücktritt des PS-Ministerpräsidenten Antonio führte.

Trotz eines Haushaltsüberschusses und jährlicher Wachstumsraten von über 2 % hat die PS-Regierung eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter:innen zugelassen. Aufgrund der hohen Mietpreise herrscht eine Wohnungskrise, und Lissabon ist eine der teuersten Städte Europas, was die Miete angeht. Der durchschnittliche Monatslohn vor Steuern liegt bei etwa 1.500 Euro, was kaum ausreicht, um eine Einzimmerwohnung in der Hauptstadt zu mieten. Die PS-Regierung sah sich im vergangenen Jahr auch mit einer Streikwelle für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen konfrontiert.

Rückschläge für die Linke

Neben der PS waren die größten Verlierer:innen der Wahlnacht der Linksblock (Bloco Ezquierda, BE) und die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP). Der BE konnte die 5 Parlamentssitze, die er 2022 gewonnen hatte, halten, vermochte jedoch nicht von der Desillusionierung der Arbeiter:innenklasse in die PS zu profitieren und erhielt den schlechtesten Stimmenanteil seit 20 Jahren. Im Jahr 2015 gewann der BE 18 Parlamentssitze und unterstützte zusammen mit der PCP, die 17 Sitze gewann, eine Minderheitsregierung der PS in einem Pakt, der als geringonça („improvisierte Lösung“) bekannt wurde.

Die Unterstützung der PS-Regierung war sowohl für den BE als auch für die PCP eine Katastrophe. Statt  sich von den Intrigen der Regierung, die ihre Aktivist:innenkapazitäten absorbierten, zu befreien, weigerten sich sowohl der BE als auch die PCP, eine Führungsrolle zu übernehmen und die Kämpfe zu verallgemeinern, als es im Herbst 2021 zu einer Streikwelle kam. Sie unterstützten auch weiterhin die Regierung, als diese das Militär mobilisierte, um einen landesweiten LKW-Fahrer:innenstreik im Jahr 2019 zu brechen.

Indem sie einer wirtschaftsfreundlichen PS-Regierung eine linke Deckung boten, schufen sie den Raum für Chega, sich als „antisystemische“ Protestpartei zu präsentieren. Anstatt die PS für die akute Lebenshaltungskostenkrise verantwortlich zu machen, kritisierte die BE-Vorsitzende Mariana Mortágua stattdessen deren absolute Mehrheit und forderte die Parteien der Linken (einschließlich der PS) auf, vor den Wahlen im März „eine Mehrheitsvereinbarung für ein linkes Regierungsprogramm auszuhandeln“. Anstatt eine sozialistische Alternative zu präsentieren, nährte der BE die Illusion, dass eine fortschrittliche Linksregierung durch die PS möglich sei.

Der BE hat auch eine neuen politische Konkurrentin namens LIVRE („Frei“), eine Pro-EU-Partei mit grün-linker Ausrichtung. Ihr Vorsitzender Rui Tavares spaltete sich 2014 vom BE ab. Sie hat ihre Vertretung im Parlament von einem Sitz im Jahr 2022 auf heute vier Sitze erhöht. Anders als der BE und die PCP war sie nicht damit belastet, eine PS-Regierung zu stützen, und profitierte am meisten vom Zusammenbruch deren absoluter Mehrheit. LIVRE gewann auch ihre Sitze in den traditionellen Bastionen des BE, darunter Lissabon und Setúbal.

Der langsame Niedergang der PCP bei den Wahlen setzt sich fort. Die Zahl ihrer Sitze ging von 6 auf 4 zurück, was zum Teil auf die Überalterung ihrer Wähler:innenschaft zurückzuführen ist, die tief in den Kämpfen gegen die Diktatur verwurzelt ist. Ihr 76-jähriger langjähriger Vorsitzender, Jerónimo de Sousa, wurde wiederholt kritisiert, weil er sich weigerte, die imperialistische Invasion Russlands in der Ukraine zu verurteilen. Die PCP behält immer noch die Kontrolle über den größten portugiesischen Gewerkschaftsbund CGTP, der im vergangenen Jahr Teilstreiks organisierte, um gegen Sparmaßnahmen und die steigende Inflation zu protestieren, es aber versäumte, einen Generalstreik als nächsten Schritt in einem nachhaltigen Aktionsplan gegen die PS-Regierung zu organisieren.

Instabile Regierung: Widerstand aufbauen!

Im vergangenen Jahr kam es zu einer Eskalation des Klassenkampfes gegen die PS-Regierung. Das Fehlen einer koordinierten industriellen Offensive bedeutete jedoch, dass die PS-Regierung mit ihrer absoluten Mehrheit die Schläge auffangen konnte. Niedrige Löhne und hohe Lebenshaltungskosten, die im letzten Jahr durch einen Anstieg der Inflation und der Zinssätze noch verschlimmert wurden, bedeuten, dass eine konservative Minderheitsregierung der AD von Anfang an verwundbar sein wird. Sie muss nicht nur mit anderen Parteien verhandeln, um Gesetze von Fall zu Fall zu verabschieden, sondern es ist auch mit Neuwahlen zu rechnen, wenn die AD ihren Haushalt für 2025 nicht verabschieden kann.

Die Demonstrationen zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution sollten die Gelegenheit bieten, in jedem Betrieb Arbeiter:innenversammlungen zu organisieren, um den Kampf zu planen, die verschiedenen Sektoren zu vereinen und die rechte AD-Regierung zu stürzen. Auf der Grundlage ihrer reichen revolutionären Traditionen müssen die Arbeiter:innen und Jugendlichen eine kämpferische Partei aufbauen, die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist, um dem neoliberalen Angriff der AD zu widerstehen, bevor sie in der Lage sind, die Aufgaben zu erfüllen, die von der Revolution von 1974 – 1975 übrig geblieben sind.




Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




Rechtsruck, Krise und die Lage der Frauen

Kai Zumar, REVOLUTION, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 12, März 2024

Für Linke, Frauen, queere Menschen, rassistisch Unterdrückte und andere gesellschaftlich Unterdrückte und Menschen, die in Armut leben, fängt 2024 als gut geölte Rutschbahn in die Hölle an. Der Klimawandel droht nach wie vor, unseren Planeten buchstäblich höllisch heiß zu machen. Mit der Wirtschaft geht es bergab, Rechte sind auf dem Vormarsch, und alles scheint in deprimierender Perspektivlosigkeit zu versinken. Hinzu kommen Kriege und Auseinandersetzungen weltweit. Es wird weiterhin von einem sinkenden Produktionsniveau, Stagnation und Rezession, steigender Arbeitslosigkeit und hoher Inflation in Deutschland ausgegangen. Weltweit sieht es nicht besser aus, wie auch der ökonomische Kollaps von Halbkolonien wie Sri Lanka oder Pakistan verdeutlicht.

Wirtschaftskrise

„Schlechter war die Stimmung in diesem Punkt zuletzt im Jahr der Finanzkrise 2009“, meinte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Ende 2023. Dass direkt die Krise 2008/2009 zur Sprache kommt, ist kein Zufall. Denn die weltweite Wirtschaftskrise, die wir immer mehr beobachten können, ist direkte Folge dieser damals nicht voll aufgelösten Krise.

Eine massive Blase auf den Hypotheken- und Hausmärkten war 2008 geplatzt, als sich  Rückzahlungsausfälle häuften. In der Folge kam es zu einer enormen globalen Profitkrise. Doch während es üblicherweise zu einer Erholung kommen kann, wenn eine Reihe an Firmen pleitegeht und es damit zu einer Vernichtung (Außerdienststellung) von ihrem fixen Kapital (z. B. Maschinen) kommt, woraufhin der Anteil an menschlicher Arbeit in der Produktion und damit die Profitraten wieder steigen, wurde diese Entwicklung 2008/9 aufgeschoben. Erreicht wurde das durch Niedrigzinspolitik, die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen und internationale Koordination. Losgetreten und befeuert durch die Coronapandemie und die Energiekrise rollt die jetzige Krise als Folge dieser Politik über uns hinweg.

Für Frauen hat schon die Pandemie nicht nur einen unfassbaren Anstieg an häuslicher Gewalt und ein Eingesperrtsein mit ihren Tätern, sondern auch überdurchschnittlich oft Entlassung und Prekarisierung bedeutet, was sie zusätzlich ökonomisch abhängiger macht, als sie es ohnehin oft sind. Hinzu kam dann noch eine heftige Mehrfachbelastung dadurch, dass Frauen einerseits besonders oft in „systemrelevanten“ Jobs und im Gesundheitssystem arbeiten, das ohnehin kaputtgespart ist und wo sie Ansteckung noch mehr ausgesetzt sind, und andererseits, dass durch geschlossene Kindergärten und Schulen sowie Homeoffice viel mehr Reproduktionsarbeit in den privaten Familienhaushalt und damit die Frau in eine reaktionäre Geschlechterrolle als Hausfrau gedrängt wurden. Die Rückbesinnung auf die bürgerliche Kleinfamilie wirkt sich auch durch steigende Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen aus. Viele von ihnen mussten lange Lockdowns mit queerfeindlichen und/oder gewalttätigen Familienmitgliedern verbringen und waren gezwungen, sich tief im Schrank zu verschanzen. statt frei und geoutet zu leben. Für viele trans Personen bedeutete die Krise des Gesundheitssystems noch längere Wartezeiten oder die Aussetzung von lebensrettenden Operationen und Behandlungen, während Schutz- und Therapieangebote weiterhin völlig unzureichend sind.

Wie in einem Spießroutenlauf ging es nach der Zeit der Lockdowns weiter mit Inflation und einer Krise, die sowohl von ihrem Wesen her als auch in ihren Auswirkungen weitaus umfassender ist als 2008. Für Frauen, die öfter in sozialen Bereichen, anderen schlecht bezahlten Jobs und besonders in einigen Halbkolonien überdurchschnittlich oft im informellen Sektor arbeiten, macht eine Inflation von bis zu 8,8% in Deutschland 2023 und weitaus höher in anderen Teilen der Welt schnell den Unterschied zwischen gerade noch durchkommen und hungern müssen aus. Besonders, wenn man dann noch alleine Kinder großziehen muss. Auch queere Menschen, die überdurchschnittlich oft arm, arbeitslos oder wohnungslos sind, werden besonders hart von der Krise getroffen.

Die Lösungsansätze von 2008 waren für Arbeiter:innen und gesellschaftlich Unterdrückte nicht viel besser. Doch sie jetzt einfach zu wiederholen, geht auch nicht. Die mitgeschleppten Probleme der letzten Krise machen das unmöglich. Die Nullzinspolitik ist erschöpft, Quantitative Easing hat zu viele Nebenwirkungen, die Kosten sind nicht komplett auf Arbeiter:innen abwälzbar und die internationale Konkurrenz, entgegenstehende Kapitalinteressen und daraus entstehende militärische Konflikte verhindern internationale Koordinierung.

Geopolitische Lage

Solche politischen, wirtschaftlichen und militärischen Konflikte können wir gerade in großem Ausmaß an vielen Stellen beobachten – seien es der Handelskrieg zwischen China und den USA, der Genozid gegen die Palästinenser:innen oder der immer noch andauernde Ukrainekrieg. Als Folge von unsicheren Produktions- und Handelsketten durch die Pandemie und die globale Rezession verlagern die imperialistischen Zentren wichtige Industrien des nationalen Kapitals immer mehr in ihre eigenen Einflusszonen zurück und betreiben so eine Politik des „Reshoring“.  Das sehen wir beispielsweise an der Wiedereinführung von Zollschranken oder den Versuchen Chinas, eigene Alternativen zu dem internationalen Zahlungssystem SWIFT zu etablieren. Dieses Reshoring äußert sich auch in vermehrter imperialistischer Blockbildung. In einer Welt, in der jede Ressource und jedes Fleckchen schon von irgendwem/r kontrolliert wird, versuchen einzelne Kapitalfraktionen verzweifelt, während der Rezession ihren Einfluss zu behalten oder auszuweiten, um sich ihren Platz in der internationalen Konkurrenz zu sichern. Zunehmend nimmt dieser Kampf um die Neuaufteilung der Welt militärische Formen an.

Doch viele dieser Kriege sind geopolitische Konflikte von Imperialist:innen, bei denen für Arbeiter:innen nie was drin ist. Von welchem Imperialismus sie unterdrückt und ausgebeutet werden, macht kaum einen Unterschied. Für sie bedeutet Krieg die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, oft Nahrungsmittelknappheit, noch mehr Ausbeutung und, sich für fremde Interessen erschießen zu lassen.  Doch auf Frauen und queere Menschen haben auch Krieg und Flucht oft noch extremere Auswirkungen. Darum gilt es, besonders Kämpfe gegen nationale Unterdrückung wie in Kurdistan oder Palästina zu antiimperialistischen, revolutionären Befreiungskämpfen auszuweiten, in denen Frauen eine führende Rolle für ihre eigene Befreiung einnehmen.

Solange Frauen nicht in einem Befreiungs- oder Bürger:innenkrieg auf der fortschrittlichen Seite eine führende und aktive Rolle spielen (z. B. Rojava) wird sich ihre bestehende sexistische Unterdrückung nicht auflösen lassen. Neben einer allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen kommt es in Kriegssituationen oft zu einem enormen Anstieg an Gewalt gegen Frauen und queere Menschen. Besonders Vergewaltigungen als massenhaft angewendete, verbrecherische Kriegstaktik, um einer ganzen Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe nachhaltig zu schaden, kommt fern von jeden Beteuerungen über Menschenrechte und Schutz der Zivilbevölkerung oft vor (z. B. Ruanda 1994, Nanking 1937, Bosnien und Herzegowina 1992 – 1995). Konsequenzen hat das für die meisten Täter nicht, obwohl die UNO (erst) 2008 in einer Resolution zu einem sofortigen Stopp von sexueller Gewalt in der Kriegsführung aufrief. In dem UNO-Bericht dazu von 2023 wurde festgehalten, dass diese Verbrechen weiter eine relevante Rolle in der Kriegsführung spielen, im Kontext sich zuspitzender Konflikte sogar zugenommen haben, sie weiterhin auch von UNO-Soldat:innen ausgeübt werden und nach wie vor die meisten Taten unbestraft bleiben. Noch extremer als während Corona trifft auch der Zusammenbruch des Gesundheitswesens im Krieg Frauen und LGBTQ+-Menschen besonders stark, nicht nur weil sie häufig in diesem Bereich arbeiten. Oft gehen die Zahlen von Geburtensterblichkeit drastisch in die Höhe. Dazu kommt, dass eine Frühwitwenschaft durch Krieg die ohnehin bestehende Altersarmut von Frauen verstärkt. Auch werden im Krieg oft Kinderbetreuung, Bildung oder Sozialdienste ausgesetzt, wodurch Frauen mit noch mehr unbezahlter Reproduktionsarbeit zurückgelassen werden als sonst.

Doch nicht nur die zuhause Gebliebenen haben es schwer, auch auf der Flucht zeigt sich sexuelle Unterdrückung gegen Frauen und queere Menschen. Etwa die Hälfte der über 27 Mio. Menschen, die gerade auf der Flucht sind, sind Frauen. Auch hier erfahren sie häufig sexuelle Gewalt und tragen Verantwortung für Kinder und Familien. Auch queere Menschen erfahren oft Gewalt auf der Flucht. Die auch nur unzureichenden Schutzversuche der UNO für geflüchtete Frauen wie die Einrichtung von geschlechtergetrennten Sanitäranlagen bieten diesen Menschen dabei keinerlei Schutz. Und wenn sie ein sicheres Land erreichen, werden Verfolgungen aufgrund sexueller Orientierung oder des Geschlechts oft de facto nicht anerkannt.

Rechtsruck

Doch auch abgesehen von spezifischer Unterdrückung wird die Situation für Geflüchtete ja immer schlechter. Die AfD in Deutschland würde am liebsten wieder die Rassentheorie auspacken und nicht nur Geflüchtete, sondern gerne gleich alle, die kein „reines, deutsches Blut“ haben, abschieben. Schweden erlässt ein Gesetz, nach dem alle im sozialen Bereich Arbeitenden gezwungen sind, Menschen ohne Papiere, die ihre Hilfe aufsuchen, an den Staat zu melden. Die EU schafft fröhlich das Asylrecht nach und nach ab und verweigert Geflüchteten Grundrechte. Es scheint, als gäbe es keine Ecke mehr auf der Welt, aus der nicht Meldungen über neue rechte Regierungen oder rassistische Gesetzgebungen kommen. Analog zu der Wirtschaftspolitik des Reshorings und der Blockbildung greift auf ideologischer Ebene eine neue Welle des Nationalismus um sich. Wir erleben eine allgemeine Entwicklung nach rechts, die sich aus der Schwäche der Linken und der Wirtschaftskrise speist. Die Krise führt zu Abstiegsängsten beim Kleinbürger:innentum und zur Prekarisierung vieler Arbeiter:innen. Mangels irgendeiner fortschrittlichen Perspektive wenden sie sich zum Teil an Rechte, die versprechen, das Gefühl, es gäbe zu wenig, damit zu beantworten, dass halt noch weniger geteilt wird (was faktisch Rassismus und Umverteilung nach oben bedeutet). Auch das binnenmarktorientierte Kapital wendet sich den Rechten zu, die ihre Interessen viel eher vertreten als die der Kleinbürger:innen oder gar Arbeiter:innen.

Es ist also kein Zufall, dass AfD, Sverigedemokraterna (rechte Regierungspartei in Schweden) oder die Fratelli d’Italia gerade jetzt so stark sind. Und es ist auch kein Zufall, dass die Rechten in Italien Mussolinis alte Parole „Dio, patria, famiglia“ (Gott, Vaterland, Familie) wieder aufwerfen oder die AfD dafür ist, dass Kinder die ersten drei Jahre zu Hause von der Mutter betreut werden, während sie gleichgeschlechtlichen Paaren gerne Kinderkriegen und Heiraten verbieten würde.

Reproduktionsarbeit

Es ist kein Wunder, dass Krise und Rechtruck mit einer Rückbesinnung auf die bürgerliche Kleinfamilie und damit Angriffen auf die Rechte von queeren Menschen (siehe Transfeindlichkeit, besonders in den USA, Russland, Großbritannien …) und von Frauen (z. B. Kürzungen von Geldern für Frauenhäuser, Abtreibungsrecht) einhergehen. Denn die bürgerliche Kleinfamilie ist der Ort, an dem im Kapitalismus die Arbeitskraft reproduziert wird. Wer morgens brav zur Arbeit erscheinen soll, wurde irgendwann geboren, erzogen und hat Bildung erfahren, braucht einen vollen Magen, eine saubere Wohnung, in der sie/er leben und schlafen kann, gewaschene Klamotten etc. Und wer putzt die Wohnung, erzieht die Kinder, kocht Essen, geht einkaufen, wäscht Geschirr und Kleidung? Frauen wenden im Durchschnitt in Deutschland 52,4 % mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf (bei 34-Jährigen sind es sogar 110,6 %). Ganz schön praktisch für die Kapitalist:innen, die dadurch nicht für die Reproduktionsarbeit verantwortlich sind und mehr Profite machen können. Ideologien wie die Erzählung von der perfekten Hausfrau und dem umsorgenden weiblichen Wesen halten diese Arbeitsteilung (bzw. Mehrarbeit der Frauen) genauso aufrecht wie Regelungen wie z. B. die Bedarfsgemeinschaft für den Empfang von Sozialleistungen oder Ehegattensplitting. Und besonders in einer Krise gilt es für die Kapitalist:innen, Arbeitskraft so billig wie möglich, bestenfalls kostenlos zu mobilisieren. Sexistische Erzählungen kommen darum in Krisenzeiten oft mehr auf und rechtfertigen die unbezahlte Hausarbeit und das Abschieben von Frauen in prekäre Arbeitsverhältnisse. In Deutschland arbeitet momentan fast die Hälfte aller Frauen in Teilzeit (bei Männern sind es 12,7 %). In den fünf schlechtest bezahlenden Branchen arbeiten auch überdurchschnittlich viele Frauen, beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel mit über 80 %. Von ihnen wird erwartet, dass sie den Haushalt schmeißen, während sie gleichzeitig der Lohnarbeit nachgehen  müssen, um sich über Wasser zu halten. Die Familie als ökonomische Instanz wird so immer unattraktiver. Das möchten die Rechten gerne ändern. Allerdings nicht, indem sie Hausarbeit vergesellschaften und damit Frauen von dieser Doppelbelastung befreien. Außerdem sollen alle staatlichen Unterstützungen bitte nur für „klassische“ Familienmodelle (á la eine deutsche Mutter, ein deutscher Vater und deren leibliche Kinder) zur Verfügung stehen.

 Doch dieses Beharren auf sexistischen Erzählungen und der bürgerlichen Kleinfamilie, in der die Frau abhängig vom Mann ist, ist gefährlich. Zum einen sind da die Mehrbelastung, die ökonomische Abhängigkeit, die mit der Krise noch steigt, und fehlende Selbstbestimmung über den eigenen Körper sowie die sexuelle Gewalt. Aber da hört es nicht auf. Frauen werden täglich ermordet, einfach weil sie Frauen sind. Parallel zum Anwachsen sexistischer Ideologien ist auch die Zahl an Femiziden in den letzten Jahren immer noch erschreckend hoch. Mehr als 135 Frauen sind es weltweit täglich, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, zumal diese Statistik nur von Morden in der Familie oder Partner:innenschaften ausgeht. In Deutschland wird etwa jeden dritten Tag ein Mädchen oder eine Frau in einem Femizid ermordet. 2022 wurden so viele Frauen in einem Jahr ermordet wie noch nie. Österreich ist eines der wenigen Länder, in denen es regelmäßig sogar mehr ermordete Frauen als Männer gibt. Mehr als 70 % dieser Morde werden von (Ex-)Partnern begangen. Und auch in Ländern, in denen die allgemeine Mordrate sinkt, bleibt die Zahl der Femizide laut den (sehr unzureichenden) Studien relativ konstant. Neben den schon genannten Gründen, die aus Krise und Rechtsruck erwachsen, kommt hier noch dazu, dass die Krise auch die gesellschaftliche Position der Männer angreift. Viele können ihre zugeteilte Rolle als Ernährer und Familienoberhaupt nicht mehr spielen. Die ökonomische Abhängigkeit wächst und für Frauen und queere Menschen wird es sehr schwierig, den unter diesem Druck oft missbräuchlichen Familien- oder Beziehungsverhältnissen zu entfliehen.

Perspektive

So weit, so deprimierend. Doch all diese Umstände sind mehr als nur traurige Fakten. Uns als Revolutionär:innen zeigen sie Zusammenhänge auf, die wir zu ihrer Bekämpfung unbedingt verstehen müssen. Sie zeigen uns, dass wir wahrhaftig am Anfang einer „Zeitenwende“ stehen, wie Scholz es einmal ausdrückte. Und dass es an uns ist, dafür zu sorgen, dass sich die Zeit im Sinne der Arbeiter:innen, der Frauen, queeren Menschen, rassistisch Unterdrückten und all jenen wendet, die keinerlei Interesse am Fortbestehen des Kapitalismus und seiner Krisen haben. Gerade in solch umfassenden Krisen besteht im Rahmen des Möglichen unsere Pflicht und Aufgabe darin, dem voranschreitenden Rechtsruck und den drängenden Fragen und Problemen unserer Zeit eine fortschrittliche, linke Antwort auf die Krise entgegenzustellen.

Das bedeutet, Bewegungen gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen aufzubauen und sowohl Forderungen gegen die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen (z. B. Vergesellschaftung der Hausarbeit) als auch gegen Rassismus (z. B. offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle) aufzuwerfen und miteinander zu verknüpfen. Das bedeutet, dass wir demokratisch legitimierte Selbstschutzorgane aus der Arbeiter:innenbewegung brauchen, die sich gegen Sexismus und Rassismus sowie rechten Angriffen entgegenstellen können. Das bedeutet, dass Frauen und queere Menschen eine führende Rolle im Kampf um ihre eigene Befreiung einnehmen und gleichzeitig verstehen müssen, dass unsere vollständige Befreiung im Widerspruch zu den Interessen des Kapitalismus steht, alle unsere Kämpfe sich deshalb gegen diese Wurzel unserer Unterdrückung richten müssen. Und vor allem bedeutet das auch, den Imperialismus und seine Krisen als globales Phänomen zu betrachten, auf das es nur internationale Antworten geben kann. In jeder Bewegung gegen Krise, Krieg und Blockbildung müssen wir dabei für einen internationalistischen und antiimperialistischen Charakter eintreten. Jeden Konflikt, der einen fortschrittlichen Charakter trägt, etwa die Verteidigung Rojavas, die Befreiung Palästinas oder den Sturz des iranischen Regimes gilt es, in einen revolutionären Kampf gegen die „eigene“ Bourgeoisie und den Imperialismus zu verwandeln, in dem Frauen und LGBTQ+-Personen ihre Entrechtung beenden und Perspektiven für ein befreites Leben aufwerfen können. Im selben Atemzug gilt es, die Organe und Organisationen der Arbeiter:innenklasse unter Druck zu setzen und gegen die Krise zu mobilisieren: Vor allem die Gewerkschaften müssen sich gegen eine Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen stellen und fordern, dass stattdessen die Reichen zur Kasse gebeten werden. Es ist unsere Aufgabe als Revolutionär:innen, diese Forderungen und Perspektiven in die aktuellen sozialen Kämpfe zu tragen und gemeinsam für eine Welt ohne kapitalistische Krisen und Ausbeutung zu kämpfen.




Den Rechtsruck aufhalten – aber wie?

Emilia Sommer, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 12, März 2024

Die Umfragewerte der AfD sind so hoch wie nie. Sie stellt zum ersten Mal Bürgermeister:innen und plant auf Geheimtreffen massenhafte Abschiebungen. Gleichzeitig verabschiedete die Regierung ein Rückführungsgesetz, welchen ebendies erleichtert, und der  deutsche Staat geht mit extremer Gewalt gegen palästinasolidarische Meenschen vor, führt Razzien durch und kriminalisiert Aktivist:innen. Auch wenn sie sich aktuell medienwirksam auf den Anti-AfD-Protesten zeigt, ist klar, dass die Ampel-Regierung mit ihrer Umsetzung rechter Forderungen den Rechtsruck aktiv befeuert und den Aufstieg von AfD & Co mitermöglicht.

Ein internationales Problem

Auch international ist der Rechtsruck nicht zu übersehen: Ob Fratelli d’Italia in Italien, Geert Wilders in den Niederlanden, Milei in Argentinien oder die rechtspopulistischen „Schwedendemokraten“, alle zeigen, dass rechte Regierungen auf dem Vormarsch sind und eine kämpferische linke Perspektive noch immer auf sich warten lässt. Dabei schüren sie nicht nur Rassismus, sondern bringen auch für Frauen und Queers einen Rollback mit sich. So erließ  2020 das polnische oberste Gericht ein nahezu vollständiges Verbot von  Schwangerschaftsabbrüchen, viele US-amerikanische Bundesstaaten zogen nach und auch, wenn es in Deutschland seit knapp zwei Jahren nicht mehr strafbar ist, warten wir vergeblich auf Streichung des § 218, der diese nach wie vor kriminalisiert und lediglich duldet trotz großer Ankündigungen der Ampel. Doch die Liste geht noch weiter: In Italien stellte die Regierung kürzlich die Geburtsurkunden von Kindern in Regenbogenfamilien in Frage – also gleichgeschlechtlicher Eltern. Das Ziel: Nur der „leibliche“ Elternteil soll anerkannt bleiben. Dem oder der Partner:in wird demnach der Elternstatus entzogen. Das ungarische Parlament geht sogar so weit, ein Gesetz zu erlassen, welches dazu ermuntert, gleichgeschlechtliche Eltern wegen Verletzung der „verfassungsrechtlich anerkannten Rolle von Ehe und Familie“ bei den örtlichen Strafverfolgungsbehörden zu melden. Neben der Anzeige von Regenbogenfamilien erlaubt das Gesetz auch die anonyme Anzeige von „jedem/r, der/die die wahre Bedeutung von Familien, die in der ungarischen Verfassung definiert ist, leugnet oder ändert“.  All das führt uns zu der Frage: Was tun? So weitergehen kann es schließlich nicht. Doch bevor wir dazu kommen, müssen wir zuerst kurz anschauen, woher der Rechtsruck kommt und warum aktuell so viele rechts wählen.

Krise und Rechtsruck: die Ursache kennen

Dazu müssen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen: Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 hat sich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalisten:innen und ihren Staaten verschärft. Es kam zu einer massiven Konzentration von Kapital. Gerade die größeren Monopole konnten davon profitieren, während kleinere Unternehmen nicht mithalten konnten. Kleinere Unternehmer:innen, auch gerne als Mittelstand bezeichnet, haben Angst, ihre Stellung zu verlieren und pleitezugehen. Getrieben von der Angst vor sozialem Abstieg fangen sie an, laut herumzubrüllen: Protektionismus, Nationalchauvinismus, Standortborniertheit, das sind ihre Argumente, um sich zu schützen. Kurz gesagt: Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen, um nicht ihren Reichtum zu verlieren. Sie wollen den globalen Kapitalismus also auf reaktionäre Art bekämpfen. Mit der Fokussierung auf Nationalstaat und Protektionismus geht auch einher, dass das Ideal der „bürgerlichen Familie“ gestärkt werden muss. Denn im Kapitalismus ist die Arbeiter:innenfamilie der Ort, wo unbezahlte Reproduktionsarbeit stattfindet. Ob nun Kindererziehung, Altenpflege, Waschen oder Kochen – all das reproduziert die Arbeitskraft der einzelnen Arbeiter:innen und sorgt gleichzeitig dafür, dass dem Kapital die Arbeitskraft nicht ausgeht. Oftmals wird diese unbezahlte Hausarbeit von Frauen verrichtet. Diese Arbeitsteilung wird dadurch gefestigt, dass sie weniger Lohn als Männer erhalten und sie somit nach einer Schwangerschaft eher zu Hause bleiben. So verdienen sie beispielsweise im Schnitt immer noch weniger als Männer trotz öffentlichem Diskurses über den Gender Pay Gap, machen deutlich mehr der Beschäftigten in sozialen Berufen aus und arbeiten immer noch doppelt so lang im Haushalt wie Männer. Im Kontrast dazu stehen erkämpfte Rechte von Frauen und LGBTIAs. Ob nun Legalisierung von Homosexualität, die Gleichstellungsgesetze, das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper – all das lehnen die Rechten mit aller Macht ab. Das traditionelle Bild der Frau als Mutter, emotionale Versorgerin und Pflegende trägt also aktiv zur Profitmaximierung bei, Sexismus hat eine materielle Grundlage und queere Partner:innenschaften, Identitäten und Familien stellen dieses klassische Bild infrage.

Warum wählen aktuell so viele Menschen rechts?

Natürlich gibt es dafür mehrere Gründe. An dieser Stelle wollen wir uns jedoch auf einen konzentrieren – die Finanzkrise 2007/2008. Im Rahmen dieser nahm nicht nur die Konkurrenz zwischen einzelnen Kapitalfraktionen zu. Es kam auch zu einer wachsenden Verelendung der Arbeiter:innenklasse. Damals wurden die Kosten der Krise auf diese abgewälzt: Viele wurden entlassen, vielerorts sind Löhne nicht gestiegen, während zugleich die Lebenshaltungskosten in die Höhe kletterten. Dagegen passiert ist nicht viel. Massenproteste wurden im Namen der Sozialpartnerschaft klein gehalten oder konnten nicht gewonnen werden wie in Griechenland. Das hat viele enttäuscht und so wendeten sie sich beispielsweise der AfD zu, die sich als Alternative zu den etablierten Parteien mittels Ablehnung der EU und rassistischer Hetze darstellen konnte. Doch statt dem was entgegenzusetzen, gab es eine Verschiebung nach rechts. Viele Parteien haben sich vor den Karren spannen lassen. Während Rechtspopulist:innen hetzten, verabschiedeten sie Gesetze und stimmten in den Chor mit ein. Vorbei ist die Willkommenskultur, jetzt haben wir einen Olaf Scholz der sagt „Wir müssen endlich konsequent abschieben”. Das ist kein Zufall: Getrieben von der Angst vor Wähler:innenverlusten bildet Rassismus gleichzeitig ein gutes Mittel, um von Einsparungen und fehlenden Lohnerhöhungen abzulenken. Migrant:innen werden zum Problem gemacht, nicht nicht die Unterordnung aller politischen Ziele unter die Interessen des Kapitals. Die Krise im Zuge der Pandemie befeuerte diese Entwicklung erneut. Doch so abgefuckt diese Entwicklung ist: Es liegt in unseren Händen, etwas dagegen zu tun. Aber was braucht es, um den Rechtsruck aufzuhalten?

Gemeinsam gegen den Rechtsruck!

Um den Vormarsch der Rechten zu stoppen, müssen wir eine Bewegung aufbauen. Dabei braucht es nicht nur einzelne Mobilisierungen, bei denen sich Regierungsvertreter:innen, die letzten Endes den Aufstieg der AfD mit zu verantworten haben, ggenseitig auf die Schultern klopfen können ganz nach dem Motto: „Jetzt waren wir auch im Widerstand!”, während sie einen Atemzug später Gesetze verabschieden, die mehr von uns abschieben. Wir brauchen mehr:

1. Raus aus der Defensive: Gegen  Sparpolitik und soziale Unterdrückung!

Statt sich einfach nur an den Rechten abzuarbeiten und auf diese zu reagieren, müssen wir konkrete Verbesserungen erkämpfen. Das heißt, wir sind nicht nur gegen Abschiebungen, sondern für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle. Wir fordern nicht nur Abrüstung, sondern lehnen jede Finanzierung des staatlichen Gewaltmonopols, also der Polizei und Bundeswehr, getreu dem Motto, „Keinen Cent für Militarismus und Repression“ ab. Auch treten wir nicht nur gegen die zahlreichen Sparmaßnahmen, sondern für den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus, die Enteignung der Wohnungsspekulation, der großen Banken und Konzerne ein, für die Finanzierung unseres Gesundheits- und Bildungssystems durch Besteuerung von Profit und Vermögen der Reichen – unter Kontrolle der Arbeiter:innen, Mieter:innen, Lehrenden und Lernenden. Dabei ist es zentral, daran anzusetzen, was den Rechtsruck befeuert: Sparpolitik und Sozialpartnerschaft. Allerdings darf man auch nicht der Illusion verfallen, dass es nur ausreicht, die „sozialen Fragen“ zu betonen. Diese Forderungen müssen konsequent mit Antirassismus und -sexismus verbunden werden, denn nur in praktischen Kämpfen kann man den sich etablierenden Rassismus zu beseitigen anfangen. Widmet man sich in der jetzigen Situation nur den sozialen Fragen, vergisst man, dass soziale Unterdrückung spaltet, und kann sie schlechter bekämpfen:

  • Investitionen in Bildung, Gesundheit und Soziales, finanziert durch die Gewinne der Reichen, die aktuell noch einmal so richtig Gewinn aus der Krise ziehen!
  • Massive Lohnerhöhung und automatischer Inflationsausgleich in Form einer gleitende Lohnskala!

2. Druck ausüben und klaren Klassenstandpunkt beziehen

Breite Proteste, wie wir sie mit #wirsinddiebrandmauer sehen, scheinen auf den ersten Blick wünschenswert. Doch die große Einheit, die die scheinbar größte Stärke des Protestes ist, macht gleichzeitig ihre größte Schwäche aus. Doch uns helfen weder Versammlung aller linken Kleinstgruppen, die die besten Forderungen aufwerfen, aber keine reale Verankerung auf die Straße bringen, noch riesige Proteste, die nur abstrakte, verwaschene Parolen wie „Menschenwürde” und „Toleranz” vor sich her tragen.

Deswegen treten wir für ein Bündnis vor allem aus den Organisationen der Arbeiter:innenklasse, also Gewerkschaften, Sozialdemokratie und linken Reformist:innen, ein. Diese in Bewegung zu setzen, ist zentral, da sie einen Großteil der organisierten Arbeiter:innen hinter sich herführen. Das ist ein entscheidender Punkt, wenn es darum geht, Verbesserungen zu erkämpfen. Dies wird nicht nur mittels Demonstrationen passieren, sondern man muss beispielsweise mittels Streiks Druck ausüben. Das heißt nicht, dass Kräfte wie die Grünen nicht mitlaufen können – nur sollte man für deren Beteiligung keine Kompromisse eingehen. Denn Rassismus und Sexismus sind nicht einfach nur beschissen. Sie schwächen auch das objektive Interesse aller Arbeiter:innen. Anstatt zusammen für eine bessere Lebensgrundlageeinzutreten, bekämpft man sich gegenseitig („Teile und herrsche!“). Doch diese in Bewegung zu setzen, ist gar nicht so einfach. Deswegen muss man versuchen, in bestehenden Proteste zu intervenieren, und klar aufzeigen: Ihr wollt den Rechtsruck aufhalten? Dann lasst uns Verbesserungen für alle erkämpfen und mobilisiert richtig dafür! Wir brauchen nicht nur Floskeln, sondern konkrete Aktionen!

Um das zu ermöglichen, setzen wir uns im Rahmen solcher Bündnisse – auch Einheitsfronent genannt – für volle Kritik- und Propagandafreiheit ein. Denn es muss möglich sein, gemeinsam Proteste zu organisieren und gleichzeitig Unterschiede sowie Differenzen zu äußern, damit auch innerhalb der gesamten Bewegung politische Vorschläge diskutiert werden.

3. Rein in den Alltag: Für eine Basisbewegung an Schulen, Unis und in Betrieben!

Große Demonstrationen und Kundgebungen sind gut, aber reichen bei weitem nicht aus. Sie mögen vielleicht jenen, die schon überzeugt sind, Kraft geben. Aber das Ziel bleibt jedoch, mehr Menschen zu erreichen und überzeugen. Stattfinden kann das, indem man Kämpfe um reale Verbesserungen für alle organisieren hilft und diese an jene Orte trägt, wo wir uns tagtäglich aufhalten müssen: Schulen, Unis und Betriebe. Demonstrationen oder Kundgebungen können als Aufhängerinnen genutzt werden, um Vollversammlungen vor Ort zu organisieren, Aktionskomittees zu bilden, die die Forderungen der Bewegung erklären und gleichzeitig mit Problemen vor Ort verbinden. Deswegen ist es zentral, dass Organisationen, die den Protest unterstützen, nicht nur einen Aufruf unterzeichnen, Geld spenden und eine Pressemitteilung herausgeben, sondern auch ihre Mitgliedschaft dazu aufrufen, aktiv an Schulen, Unis und in Betrieben zu mobilisieren.

4. International is’ Muss!

Der Rechtsruck ist nicht nur ein deutsches, sondern internationales Problem. Hinzu kommt, dass mit Deals zwischen unterschiedlichen Ländern oder gemeinsamen „Initiativen“ wie Frontex vor allem imperialistische Länder versuchen, sich die Probleme der Geflüchteten vom Leib zu halten. Wenn wir uns dem Rechtsruck entgegenstellen, Festungen wie die Europas erfolgreich einreißen wollen, bedarf es mehr als einer Bewegung in einem Land. Deswegen müssen wir das Ziel verfolgen, gemeinsame Forderungen und Aktionen über die nationalen Grenzen hinaus aufzustellen. Das kann anfangen, indem man gemeinsame Aktionstage plant und schließlich gemeinsame Strategie- und Aktionskonferenzen organisiert, in denen Aktivist:innen gemeinsam über die Perspektive der Bewegung entscheiden.

Bewegung alleine reicht nicht!

Doch die Aufgabenliste endet für uns damit nicht: Bewegung alleine reicht nicht aus. Sie kann es  nicht schaffen, die Wurzeln von sozialer Unterdrückung wie Rassismus, Sexismus oder LGBTIA+-Diskriminierung auszureißen, da diese mit dem kapitalistischen System verwoben sind. Deswegen besteht die Aufgabe für Revolutionär:innen innerhalb dieser Bewegung darin, einen klaren antikapitalistischen, internationalistischen Pol zu bilden und eine deutliche Perspektive aufzuzeigen. Wir treten für Verbesserungen im Hier und Jetzt ein, müssen aber gleichzeitig den Weg aufzeigen, wie wir zu einer sozialistischen Gesellschaft kommen. Deswegen werfen wir auf, dass bei Finanzierungsfragen dies durch Besteuerung der Reichen oder Enteignung passieren muss sowie die Kontrolle über Verbesserungen und, wie diese umgesetzt werden, bei Arbeiter:innen und Unterdrückten liegen sollte. Um dies zu realisieren, braucht es unserer Meinung nach eine internationale Organisation mit einem revolutionären Programm, das deutlich macht, dass es keine Spaltung aufgrund Herkunft, Geschlecht, Alter oder Sexualität geben darf, und das aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Nur so können wir unserer Unterdrückung auch in der Arbeiter:innenbewegung selbst entgegentreten und gleichzeitig dem Rechtsruck die Stirn bieten.

Wir fordern deshalb:

  • Aufbau einer antifaschistischen und internationalen Einheitsfront aus allen linken Organisationen und solchen der Arbeiter:innenklasse! Offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle!
  • Kampf dem Rechtsruck heißt Kampf dem Kapital: Für ein revolutionäres Programm der Jugend und der Arbeiter:innenklasse!



Frauenbewegung in den USA und die Abtreibungsfrage

Jan Hektik, Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Seit Jahrzehnten stehen die Abtreibungsrechte im Fokus der Frauenbewegung in den USA – nicht erst seit dem 24.06.2022, als der Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof) die Grundsatzentscheidung „Roe vs. Wade” kippte (Entscheidung Dobbs vs. Women’s Health Organization). Dabei stellen sie nicht nur die Frage der Selbstbestimmung über den eigenen Körpers, des Lebens und der Gesundheit von Frauen auf die Tagesordnung. Der Stand der Bewegung zeigt auch auf, welchen Problemen die Frauenbewegung sich im Kampf gegen die (meist fanatisch christliche) Rechte gegenübersieht.

Rechtliche Situation

„Roe vs. Wade” wurde 1973 gefällt und garantierte seitdem Frauen grundsätzlich das Recht, über den Abbruch von Schwangerschaften selbst zu bestimmen – bis zum Juni 2022. In den Monaten nach dem Urteilsspruch  wurde der Zugang zu Abtreibungs- und Reproduktionsdienstleistungen in fast der Hälfte des Landes drastisch eingeschränkt oder verboten. Viele Kliniken bieten in den betroffenen Bundesstaaten keine Dienstleistungen mehr an, da die Rechtslage unberechenbar geworden ist, mit einer breiten Palette an staatlichen Maßnahmen, die nach dem Urteil eingeführt wurden – einschließlich Verboten, die vor Roe galten (einige davon stammen aus den 1800er Jahren), neuen Gesetzen und mehreren laufenden Gerichtsverfahren. Diese Unvorhersehbarkeit hat in vielen Staaten zu einer abschreckenden Wirkung geführt, so dass Anbieter:innen von Abtreibungen aus Angst vor rechtlichen Schritten ihre Dienste vorsorglich eingestellt haben. Die Lage gestaltet sich nun wie folgt:

In 14 Bundesstaaten ist Abtreibung bis auf wenige Ausnahmen illegal (Alabama, Arkansas, Idaho, Indiana, Kentucky, Louisiana, Mississippi, Missouri, North Dakota, Oklahoma, South Dakota, Tennessee, Texas, West Virginia). Dies bedeutet, auch bei sexualisierter Gewalt, psychischen Folgen oder unmittelbarer Gefahr für die Gesundheit der Mutter und unabhängig von den Überlebenschancen des Kindes ist ein Abbruch der Schwangerschaft in diesen Staaten nicht erlaubt. So verbot jüngst ein texanisches Gericht einer 31-jährigen die Abtreibung ihres höchstwahrscheinlich nicht lebensfähigen Fötusses, die einen Notfallschwangerschaftsabbruch beantragt hatte. Weitere 13 stehen Abtreibung generell feindlich gegenüber und planen entweder die Illegalisierung oder starke Einschränkungen. In 11 wurden der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen vereinfacht und besonders geschützt (Kalifornien, Connecticut, Hawaii, Illinois, Maryland, Minnesota, New York, Oregon, Vermont, Washington).

In den restlichen Staaten ist die Frage nicht so einfach zu beantworten. Beispielsweise versucht die Legislative in Florida, immer wieder Angriffe auf das Abtreibungsrecht durchzuführen, das oberste Gericht Floridas verhindert dies jedoch regelmäßig. Dabei ist herauszustellen: Die rechtliche Lage alleine gibt nicht wieder, wie der Zugang zu Kliniken, die Finanzierung des Eingriffs oder die Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten aussehen. Das heißt, selbst keine oder lediglich partielle Einschränkungen bedeuten nicht automatisch, dass Selbstbestimmung über den eigenen Körper so einfach möglich ist.

Seit dem Urteil des Supreme Court hat rund die Hälfte der Gesetzgeber:innen in den Vereinigten Staaten insgesamt mehr als 500 neue Gesetze zu Abtreibungen erlassen, die zu einer Verschärfung oder einem absoluten Verbot von Abtreibungen geführt haben, drohen allen, die Frauen helfen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, hohe Haft- und empfindliche Geldstrafen und als Arzt/Ärztin auch der Entzug der Berufslizenz. Die krassesten Forderungen der Abtreibungsgegner:innen sind die nach Verhängung der Todesstrafe (South Carolina), Verbot der Zulassung für die Abtreibungspille Mifepriston  und Streichung der Ausnahmen bei Vergewaltigung und Inzest (Texas).

Auswirkung

Schon vor Einschränkung der Selbstbestimmung war in keiner Industrienation die Müttersterblichkeit so hoch wie in den USA. Die Tendenz nimmt aktuell zu. Dabei zeigt die Realität, dass die Auswirkungen der Einschränkungen je nach Klassenlage unterschiedlich ausfallen: Der  Flickenteppich aus verschiedenen Regelungen, der eingeschränkte Zugang zu Krankenversicherungen sowie allgemein schlechte medizinische Versorgung in den USA führen dazu, dass vor allem proletarische Schichten ungleich stärker getroffen werden. Die emotionale Belastung, ungewollt schwanger zu sein, sowie die Ablehnung durch das Umfeld treffen zwar alle, es macht jedoch einen massiven Unterschied, ob man es sich leisten kann, nach Kalifornien zu fliegen, um dort eine Abtreibung durchzuführen, oder dies schlichtweg nicht bezahlen kann. Diesen bleibt dann nur übrig, Abtreibung illegal oder durch Freund:Innen vornehmen zu lassen – oder das Kind zu bekommen.

Dabei weisen viele der Bundesstaaten mit Abtreibungsverbot bereits jetzt die schlechtesten wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen für Frauen und Familien in den USA auf wie keinen garantierten, bezahlten Urlaub aus familiären und medizinischen Gründen, keine Ausweitung der MedicAid-Deckung auf 12 Monate nach der Geburt und schon jetzt höhere Armutsquoten von Frauen und Kindern als im Landesdurchschnitt. Diese Entscheidung sorgt letzten Endes dafür, dass die wirtschaftliche Stellung von Frauen sich weiter verschlechtert, und drängt sie in die Abhängigkeit von Beziehungen – und setzt sie auch der Situation aus, partnerschaftliche Gewalt aushalten zu müssen. Ebenso ist herauszustellen, dass nicht-weiße Frauen, insbesondere Schwarze, besonders davon getroffen werden, da sie schon jetzt überproportional in Gegenden mit schlechter medizinischer Infrastruktur leben, im Kindbett sterben und von rassistischen Übergriffen und Benachteiligungen im Gesundheitssystem betroffen sind.

Und der Widerstand?

Immer wieder kommt es zu größeren Protesten, zumeist angeführt von den Demokrat:innen wie zum 50. Jahrestag der „Roe vs. Wade”-Entscheidung, bei der Tausende auf die Straße gingen. Jedoch hat der Widerstand mehrere Probleme: Die sporadischen Proteste sind kaum miteinander koordiniert, was ihre Ausweitung erschwert. Vor allem ist jedoch die Strategie der Führung der Proteste – der bürgerlichen Demokratischen Partei – fehlerhaft. Hier zeigt sich sehr anschaulich, welche Probleme mit dem klassenübergreifenden Kampf für Unterdrückte verbunden sind.

Das Motto der Demokrat:innen lautet: wählen, bilden und überzeugen. Ganz nach dem Motto: „Wir müssen nur gut genug darlegen, warum es wissenschaftlich und gesundheitlich richtig ist, Menschen, die die das Recht auf Abtreibung anerkennen, in Positionen wählen, wo sie Entscheidungen treffen können, dann werden sich Gesetze und Gerichte danach richten. Schließlich haben doch auch die Rechten über Gesetzgebung und den Supreme Court diese Änderung bewirkt.“

Diese Überlegung krankt jedoch an zwei Denkfehlern: Zum einen vertauscht sie Ursache und Wirkung. Die US-amerikanische Rechte stellt eine Bewegung dar, welche durch Demonstrationen, Verbreiten von Propaganda und Angriffen ihre Ziele durchsetzt, damit die Republikanische Partei vor sich hertreibt und ihre Ziele umsetzt. Die Gesetzgeber:innen und Richter:innen im Supreme Court sind nämlich dabei nicht das Mittel, sondern Ergebnis einer kämpfenden Bewegung, welche auch nicht davor zurückschreckt, faschistoide Elemente zu verwenden. Dass sie Teile der Bevölkerung ansprechen kann, liegt auch nicht an mangelnder Aufklärung dieser, sondern entweder daran, dass diese ihre gesellschaftliche Stellung halten wollen oder sich bereits in einer schlechten ökonomischen Situation befinden und keine andere Alternative aufgezeigt bekommen, außer gegen marginalisierte Gruppen zu kämpfen.

Gerade deswegen ist zum anderen der Weg der Überzeugung fehlerhaft. Über 2/3 der US-Bevölkerung stehen dem Abtreibungsrecht grundsätzlich positiv gegenüber. Es gilt nicht, das letzte Drittel zu überzeugen, sondern sich zu fragen, weshalb 1/3 über 2/3 entscheiden kann und wie dies zu beheben ist. Wenn 70 % Mehrheit nicht reichen, warum sollten es 80 % tun? Wenn die Demokrat:innen seit den 1970er Jahren keine ihrer Mehrheiten genutzt haben, um Abtreibungsrechte gesetzlich zu verankern, warum sollten sie es in Zukunft tun?

Warum eigentlich?

Die Republikaner:innen und Rechten mit der gesellschaftlichen Dynamik über ein Werkzeug, ihre Position durchzusetzen. Die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung über weibliche Körper zementiert die Herrschaft von Männern über Frauen in Beziehungen, stärkt die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie und bietet Männern eine Ablenkung von der Krise (und individuell ein Gefühl ihrer Abschwächung), während es gleichzeitig Frauen bindet und daran hindert, dagegen zu kämpfen. Natürlich gibt es nicht irgendwo eine geheime Verschwörung rechter Köpfe, die einen Masterplan über die Stärkung der bürgerlichen Familie ausgeheckt haben, sondern es sind gesellschaftliche Kräfte und Tendenzen, die bestimmte Verhaltensweisen, Organisationen und Bewegungen stärken und andere schwächen.

Die Republikaner:innen und die Rechte profitieren gewissermaßen davon, dass ihre Ziele weniger widersprüchlich sind. Wer sich auf das religiös motivierte Verbot von Abtreibungen, Enthaltsamkeit als Verhütungsmethode und den Segen der bürgerlichen Familie beruft, kommt nicht nur gut bei religiösen Fundamentalist:Innen und konservativen Traditionalist:Innen an, sondern fördert auch nebenbei ein Umfeld, in welchem Frauen noch einfacher entlassen, unterbezahlt, teilzeitbeschäftigt und in die Reproduktionsarbeit getrieben werden können. Dies ist ein großes Plus für Unternehmer:innen – insbesondere in Krisenzeiten –,  welche Lohn- und Reproduktionskosten senken und nebenbei einen psychologischen Effekt der Überlegenheit bei ihren Arbeitern erzielen können, welcher sie ruhigstellt.

Die Demokrat:innen können sie sich in manchen Fragen zwar liberaler positionieren, kämpfen gegen offenen Sexismus, die Wurzel der Unterdrückung (die bürgerliche Familie) wollen sie jedoch nicht angreifen. Denn das würde bedeuten, dass sie mit ihrer Politik zugunsten der Profite der Unternehmen brechen müssten.

Wie kann die Bewegung Erfolg haben?

Um eine erfolgreiche Bewegung für Selbstbestimmung über den eigenen Körper auf die Beine zu stellen, bedarf es mehrerer Schritte:

Gemeinsame Forderungen, Slogans und koordinierte Proteste bilden einen ersten Schritt, um den bestehenden Aktivitäten einen gemeinsamen Deckel zu geben sowie mehr Ausstrahlung zu erreichen. Dies kann Ergebnis von Absprachen zwischen Organisationen sein, jedoch braucht es eine Strategiekonferenz, bei der Aktivist:innen zusammenkommen können und verbindliche Beschlüsse und Aktivitäten verabschieden. Dort muss diskutiert werden, wie die Bewegung aufgebaut werden kann – und wie ihr Weg verlaufen soll, ihre Forderungen zu erreichen. Unserer Meinung nach hat die Vergangenheit gezeigt, dass die Demokrat:innen sich zwar gerne an den Protesten beteiligen dürfen, ihre Strategie ist jedoch unzureichend und kann nicht als Grundlage genommen werden.

Wenn eine Bewegung Erfolg haben will, darf sie nicht nur Massendemonstrationen organisieren, sondern muss sich an Schulen, Universitäten sowie in Betrieben verankern und vor Ort präsent sein. Um das zu erreichen, ist es nicht nur wichtig, Aktivitäten vor Ort zu organisieren. Es ist auch notwendig, nicht nur gegen das Abtreibungsverbot zu kämpfen, sondern für konkrete Verbesserungen. Die Realität zeigt: Arme Schichten sowie insbesondere Nicht-Weiße sind besonders von den Abtreibungsverboten betroffen. Es müssen also Forderungen entworfen werden, die den Kampf um Selbstbestimmung mit dem für breitere Verbesserungen der Arbeiter:innenklasse insgesamt verbinden helfen. Ziel muss es sein, Druck auf die Gewerkschaften auszuüben, sodass diese sich aktiv an den Protesten beteiligen, selber mobilisieren und gemeinsam mit der Bewegung den politischen Streik als Waffe zur Durchsetzung der Forderungen lancieren können:

  • Reproduktive Gerechtigkeit jetzt: Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung!
  • Menschen statt Profite: Für ein staatliches Gesundheitssystem, in das alle einzahlen und welches alle Gesundheitsleistungen inklusive Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Geburten ohne Zusatzleistungen abdeckt (Single Payer HealthCare System)!
  • Schluss mit Abhängigkeit: Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Flächendeckender Ausbau von Schutzräumen für Betroffene von sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter, sowie LGBTIA+!
  • Für Aufklärungskampagnen an Schulen, Universitäten und in Betrieben durch Gewerkschaften zu Sexismus, sexuellem Konsens und Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

In so einer Bewegung ist es wichtig, dass Sozialist:innen eine revolutionäre Perspektive hereintragen. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass diese Probleme einer systematischen Umwälzung mindestens des US-Gesundheits-, Justiz-, Regierungs- und Polizeisystems bedürfen. Solange es einen Flickenteppich aus privaten Krankenkassen und Gesundheitseinrichtungen gibt, wird die Gesundheit (und werden damit sichere Abtreibungen, Schwangerschaften und Geburten) ein Privileg der Reichen sein! Das heißt: Wir unterstützen den Kampf für Reformen und Verbesserungen. Gleichzeitig muss dieser damit verbunden werden, dass Elemente von Arbeiter:innenkontrolle in die Forderungen mit eingebunden werden, um sicherzustellen, dass diese im Interesse der Klasse umgesetzt werden und aufzeigen, wie der Kapitalismus überwunden werden kann. Das kann beispielsweise so aussehen:

  • Versorgung garantieren: Verstaatlichung des Gesundheitssektors unter Kontrolle der Arbeiter:innen! Flächendeckender Ausbau von Kliniken, insbesondere in ländlichen Regionen, sowie massive Aufstockung des Personals!
  •  Schluss mit Diskriminierung in der Medizin: Für Sensibilisierungskampagnen gegen sexistische und rassistische Vorurteile!
  • Armut stoppen: Anhebung des Mindestlohns auf 15 USD/Stunde und Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Finanzierung durch die Besteuerung der Reichen und verbindliche Offenlegung der Geschäftskonten gegenüber den Gewerkschaften!

Bewegung alleine reicht nicht

Das zeigt die Richtung, in die es gehen muss. Die Aufgabe von Revolutionär:innen in den USA ist letzten Endes eine dreifache: a) der Aufbau einer Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit; b) Bildung eines Pols in dieser Bewegung, der eine revolutionäre Perspektive aufzeigt; und c) der Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, die es schafft, unterschiedliche Bewegungen zu sammeln und mit einer Perspektive, einem realen Programm zum Erfolg zu führen – also das kapitalistische System zu zerschlagen. Ihre Aufgabe besteht  somit nicht primär darin, zu Wahlen anzutreten, sondern die Kämpfe zu organisieren, planen und aktiv zuzuspitzen. Dabei muss sie als Bindeglied zwischen den verschiedenen kämpfenden Gruppen (People of Colour, Frauen, Gewerkschaften, LGBTIA+, Umweltbewegung) fungieren und den offenen Kampf gegen die Politik der Mitverwaltung des Kapitalismus seitens Demokrat:innen und Gewerkschaftsführung in diese tragen. Nur so kann letzten Endes gesichert werden, dass reproduktive Gerechtigkeit nicht nur als Wahlkampfslogan benutzt, sondern aktiv umgesetzt wird. Dabei ist essentiell, dass in Gewerkschaften oder politischen Organisation der Arbeiter:innenbewegung gesellschaftlich unterdrückte Gruppen das Recht haben, einen Caucus zu bilden, sich gesondert nur unter sich zu treffen, um die eigene Unterdrückung in einem Schutzraum diskutieren zu können!




Tradwive Trend: Was Hausfrauenromantik mit Rechten zu tun hat

Isma Johnson, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Habt ihr schon mal auf TikTok oder Instagram ein Video von jungen Frauen gesehen, die ganz ästhetisch Haushaltstätigkeiten wie Kochen, Putzen oder Kinderbetreuung nachgehen? So kommen viele Menschen, vor allem junge Frauen, das erste Mal mit „Tradwives“ in Kontakt. „Tradwives“ ist die Kurzform für „traditional wives“ und diese „traditionellen Frauen“ wollen den überholten Rollenbildern für Hausfrauen der 1950er Jahre nacheifern. Manche von ihnen tragen auch gleich die Mode dieser Zeit mit Petticoatkleidern und Lockenwicklerfrisuren. Andere orientieren sich eher am Landleben (oder daran, was sie sich darunter vorstellen, Stichwort: die Internetästhetik Cottagecore). Viele von ihnen behaupten, es ginge ihnen nur darum, zu Hause zu bleiben und nicht arbeiten gehen zu müssen, für ihren Mann und ihre Kinder zu sorgen und ihren Lebensstil nach außen zu tragen. Aber neben Kochvideos, Babyinhalten und ästhetischen Bildern tauchen etwa bei Estee Williams, einer Tradwife mit über 140 Tausend Follower:innen auf TikTok, Videos mit ganz anderen Inhalten auf. So erzählt sie ihren Follower:innen z. B.: „Gott erschuf zwei Geschlechter zu unterschiedlichen Zwecken“ und „Die Frau, die Ehefrau ist eine Hausfrau“, erklärt, wie sie den richtigen maskulinen Mann anziehen können, und fordert sie auf, sich ihm nach den Prinzipien der Bibel zu unterwerfen.

Warum sind Tradwives so gefährlich?

Tradwives definieren sich aber nicht nur über die Rolle als Hausfrau. Auch wenn sie diese Tätigkeit ausüben, macht eines sie viel mehr aus: warum sie das tut. Denn hinter der harmlos erscheinenden, ultrafemininen Ästhetik steckt meist, wie bei Williams, die Vorstellung, dass Frauen sich selbst hintanstellen und ihrem Mann unterwerfen sollten. Manche Tradwives distanzieren sich zwar ausdrücklich vom ultrarechten Teil der Bewegung und hängen verschiedenen (konservativen) Ideologien an, aber immer beruhen diese darauf, Geschlechterrollen zu festigen. Das zeigt sich schon darin, dass eine „traditionelle Frau“ ganz andere Aufgaben übernehmen soll als ein „traditioneller Mann“. Wie sie sich verhalten soll, ist festgeschrieben und etwas dazwischen soll es erst recht nicht geben.

Das Spektrum von Tradwifethemen beginnt bei eher konservativen Frauen, deren Fokus vor allem auf „traditionellen“ Rollen, konservativen Werten und Hausarbeit liegt, welche subtil in Vergleich zur abgelehnten modernen Welt gesetzt werden. Von da aus besteht ein fließender Übergang zu solchen mit größerem Fokus auf Tradition und Nationalismus, die offen Antifeminismus, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus und antiwissenschaftliche Standpunkte (insbesondere gegen Impfungen) vertreten und via Social Media bewerben. Also alles, was die extreme Rechte und Verschwörungstheorien zu bieten haben, aber eben unter dem Deckmantel einer harmlosen „Stay-at-Home-Mom“. Die Hyperfeminität dient also dazu, die dahinterstehende autoritäre Ideologie zu verschleiern und so massentauglicher zu werden. Der religiöse Teil der Bewegung versucht auch, durch Bibelverse Frauen von ihrer aufgezwungenen Geschlechterrolle zu überzeugen, zum Beispiel durch Epheser 5.22: „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn.“

Auch haben die unterschiedlichen Regulationen von Plattformen eindeutig einen Einfluss auf den Inhalt der Posts. Das etwas weniger regulierte und moderierte TikTok wird beispielsweise eher genutzt, um ideologische Inhalte zu posten, wohingegen auf Instagram eher ästhetische Inhalte verbreitet werden sollen und somit auch oftmals als Startpunkt für eine Radikalisierung dienen können. Auch die sind aber keineswegs harmlos, da neben #traditionalwomen auch rechte Dogwhistles (Nutzung einer Sprache, die je nach Publikum unterschiedlich verstanden werden kann) wie #redpillwomen unter den Posts genutzt werden – ein Hashtag der auf radikalen Antifeminismus und Incels verweist und den Abstieg in die Alt-Right-Bubble bedeuten kann. Nicht zufällig ist die Tradwife-Bewegung in den USA nach den Wahlen 2016, aber auch aus der europäischen Identitären Bewegung entstanden, um das sogenannte „Frauenproblem“ zu lösen, also bewusst mehr Frauen für die männerdominierten Bewegungen anzuwerben. Dabei ist die Beteiligung von Frauen an der extremen Rechten nichts Neues. Schon der Ku-Klux-Klan der 1960er Kahre hatte eine Frauenorganisation, die Männer bei rassistischen Angriffen bis zu Vergewaltigungen und Morden unterstützte, indem die Frauen aktiv ihre Ideologie verbreiteten, neue Mitglieder anwarben und Proteste organisierten. Sie halfen auch an der Schule, beispielsweise durch Bibelkunde, ihre Ideologie bereits in der Jugend zu verbreiten, und traten im Wahlkampf für ihre Kandidat:innen ein, indem sie negative Propaganda über die Gegner:innen verbreiteten, um sie auszustechen.

Auch manche Radikalfeministinnen oder TERF’s (trans exkludierende Radikalfeminist:innen) entwickeln sich in die Richtung von „Tradwifery“, obwohl sie zunächst entgegengesetzt erscheinen. Denn Tradwives wollen sich ja eigentlich von den „Ketten“ des modernen Feminismus befreien und ihren Follower:innen erzählen, die Ablehnung von Femininität, Häuslichkeit und Familie würde sie erst so derart depressiv machen und dafür sorgen, dass sie nicht als heiratsfähig angesehen werden würden. Trotzdem sind sich die beiden Gruppen in einer Hinsicht einig: dem biologischen Essentialismus. Beide behaupten, Frauen und Männer hätten tiefer liegende Eigenschaften durch ihre Biologie oder Genitalien, feiern die Rolle der Mutter (die für sie nur Frauen einnehmen können) und lehnen Geschlechtsidentitäten ganz ab.

Warum liegen Tradwives auf einmal so im Trend?

Aber warum bekommen Tradwives überhaupt so viel Aufmerksamkeit und Zuwachs? Sie stellen eine vermeintliche Flucht aus den Tiefen des Kapitalismus dar. Wer möchte nicht dem ständigen Stress des Alltags mit Leistungsdruck am Arbeitsplatz und der gleichzeitig ständig anfallenden Haus- und  Carearbeit entfliehen? Es ist ein Fakt, dass Frauen am Arbeitsmarkt und zuhause in der Reproduktionsarbeit mehr ausgebeutet werden als Männer, da sie einerseits nach wie vor weniger verdienen und andererseits aufgrund der Geschlechterrollen den Großteil der anfallenden Reproduktionsarbeit planen und durchführen. Sie müssen also arbeiten gehen und sich und ihre Familie in der „Freizeit“ wieder arbeitstauglich machen, indem sie die Ware Arbeitskraft reproduzieren. Das schließt das Kochen, Putzen etc. mit ein, aber auch emotionale Sorgearbeit und die Reproduktion der Klasse an sich, indem neue Kinder, später dann Arbeiter:innen, herangezogen werden. Tradwives wissen, dass das schwer möglich ist und für viele eine extrem Anstrengung darstellt, die sie bis zum Burnout bringen kann. Und so behaupten sie ganz nach dem Motto „Früher war alles besser“, Frauen sollten ihre Ausbeutung verringern, indem sie die Arbeitswelt einfach wieder verlassen. Hinzu kommen die Unsicherheiten des modernen Kapitalismus, dass man vielleicht auch erstmal gar nicht weiß, wer man sein will und was man mit sich und seiner Arbeitskraft anfangen soll, also z. B. welchen Job man ausführen soll. Das ist das Dilemma der doppelt freien Lohnarbeit, welches sich mit der Ausdifferenzierung des Kapitalismus immer weiter zugespitzt hat: frei von eigenen Produktionsmitteln, aber auch in der Entscheidung, wem eigentlich die Arbeitskraft verkauft werden soll. Tradwives bieten dagegen eine feste Rolle statt dieser Unsicherheiten und stellen die traditionelle Familie als Lösung für das ganze Dilemma dar. Damit soll ein Halt in dem ganzen Chaos geboten werden.

Außerdem sollen Kinder und Jugendliche durch die mütterliche Betreuung vor „schlechtem“ Einfluss geschützt werden. Müttern, besonders in den USA, wird Angst gemacht, dass ihre Kinder in der staatlichen Schule nur etwas über „woke Ideologie“, Genderwahn und letztendlich Kommunismus lernen würden, was natürlich weit von der Wahrheit entfernt ist. Aber auch sehr reale Probleme bewegen (werdende) Mütter dazu, sich nach anderen Modellen als der staatlichen Schule und der Kita zu sehnen. In Deutschland etwa Angst vor schlechter Betreuung durch überlastete Kitas und schlechte Betreuungsschlüssel.

Hausfrau werden ist nicht die Lösung!

Aber kann das Leben als Tradwife diese Probleme wirklich lösen? Bietet die Alt-Right wirklich eine Alternative zur modernen kapitalistischen Ausbeutung an? Natürlich nicht, denn sie will den Kapitalismus nicht überwinden. Vielmehr ist die Reproduktionsarbeit, die größtenteils die Frauen der Arbeiter:innenklasse verrichten, notwendig, damit der Kapitalismus funktioniert, denn ohne sie würde sich niemand mehr regenerieren und dann arbeiten gehen können. Die traditionelle, bürgerliche Familie, die Tradwives mit aller Kraft als das ideale Leben bewerben, ist entscheidend für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus und auch in rechten Ideologien spielt sie eine Schlüsselrolle. Dort soll nämlich das „Volk“ durch Fortpflanzung in der Kleinfamilie erhalten werden, ohne dass wiederum laut Rechten die Nation untergeht. Die Alt-Right sieht Tradwives als Lösung an, da sie genau ihr essentialistisches Weltbild, ihre Vorstellung davon, was eine Frau „natürlicherweise“ ist, ausleben.

Dass das ganze Konzept einen augenscheinlichen Klassencharakter beinhaltet, dürfte klar sein. Denn welche Familie der Arbeiter:innenklasse kann sich bitte eine Frau, die gar nicht arbeiten geht, leisten? Gerade in Zeiten von Krise, Inflation und massivem Reallohnverlust ist das vor allem ein Lebensentwurf des Kleinbürger:innentums und der lohnabhängigen Mittelschichten, was sich auch in der Verbindung zu rechten Bewegungen zeigt, für die, wie im Fall des Faschsimus, das Kleinbürger:innentum die Klassenbasis darstellt. Für die unteren Klassen – vor allem in Halbkolonien – ist es eher eine Utopie, die sich im Kapitalismus nicht erfüllen lässt. Für die herrschende Klasse stellt das Ganze sowieso nichts Erstrebenswertes dar, denn die lässt die Reproduktionsarbeit sowieso von Angestellten erledigen, da für sie kein Arbeitszwang besteht und die ganze Familie von der Ausbeutung anderer lebt. Früher war das etwas anders. Da konnten auch besserverdienende Schichten der Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel die Arbeiter:innenaristokratie, in den imperialistischen Kernzentren und in einigen Halbkolonien ihre Familie mit ernähren, ohne dass die Frau selber einer Lohnarbeit nachgehen musste. Aber das ist spätestens seit Beginn der Phase des Neoliberalismus in den 1980er Jahren immer weniger möglich, da das Profitstreben des Kapitals danach verlangte, auch Frauen immer mehr in den Arbeitsmarkt zu integrieren, während gleichzeitig die Löhne immer weiter sanken. Daher ist klar, dass dass das Ideal der bürgerlichen Familie für die Arbeiter:innenklasse noch nie vollumfänglich erreichbar war, heutzutage allerdings weniger denn je. Dennoch wurde die bürgerliche Familie zur prägenden ideellen und materiellen Form und damit auch zu einem Kern reaktionärer Geschlechterrollen. Diese Verallgemeinerung basiert auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Und durch die Tradwive-Bewegung kann es auch hier die Auswirkung haben, dass Geschlechterrollen wieder weiter gefestigt werden, indem die Arbeiterinnen weiterhin bzw. wieder vermehrt der Reproduktionsarbeit nachgehen, während sich ihre Lohnarbeit im vermeintlich flexiblen Niedriglohnsektor ansiedelt, da sie so eben auch in der Lage sind, neben ihr auch der Reproduktionsarbeit nachgehen zu können, da sie nicht Vollzeit arbeiten.

Obwohl argumentiert wird, dass das Hausfrau-Sein an sich unproblematisch ist und erst die Ideologie von Tradwives das Problem darstellt, muss ganz klar unterstrichen werden: Eine Hausfrau ist materiell abhängig. Frauen, welche Hausfrauen werden („wollen“), indem sie gar nicht arbeiten gehen oder auf Teilzeit- bzw. Minijobbasis angestellt werden, werden nach wie vor ausgebeutet, bekommen kein oder nur viel weniger Geld und werden so um einiges abhängiger von ihren Männern. Und das geben Tradwives auch offen zu und finden das sogar super: „Er überwacht die wichtigsten Finanzen. Wenn ich Geld und Kleingeld für ein Sofa ausgeben will, sagt er ,Nein’, denn er weiß, was rein- und rausgeht“, schreibt die britische Tradwife Alena Pettitt. Aber das ist wirklich gefährlich: Aus finanziellen Gründen schon können Frauen sich hier zum Beispiel nicht mehr trennen, und ihre Männer können mehr Kontrolle über sie ausüben – ihre „frei gewählte“ Ideologie wird also durch ihre materiellen Umstände zum Zwang. Es ist auch so, dass manchen Männern das sehr deutlich bewusst ist und sie dann teilweise (körperliche) Gewalt anwenden, um zu bekommen, was sie wollen, ohne sich darüber Sorgen zu machen, dass ihre Frau sich trennen wollen könnte. Auch das Thema Altersarmut darf nicht unterschätzt werden. In Deutschland beispielsweise bekommt man erst eine gesetzliche Rente, wenn man mindestens 5 Jahre gearbeitet und Beitrag gezahlt hat. Das kann zwar durch einen Anspruch auf Mütterrente oder diverse staatliche Zuzahlungen auch erreicht werden, jedoch fällt die Altersrente dann trotzdem deutlich geringer aus als bei Männern, die Vollzeittätigkeiten nachgegangen sind. Da Frauen häufiger im Niedriglohnsektor tätig sind und oftmals nicht Vollzeit arbeiten, bekommen sie in Deutschland durchschnittlich monatlich 314 Euro weniger Rente (Stand für das Rentenjahr 2022). Doch das ist natürlich nur ein Durchschnitt, wo es auch mitunter deutliche Schwankungen gibt.

Für eine echte Perspektive gegen Frauenunterdrückung!

Der bürgerliche Feminismus kann die aufstrebende Tradwife-Bewegung jedoch nur bedingt bekämpfen und gibt ihr sogar einen gewissen Aufschwung. Er bietet nämlich keine (langfristige) Lösung gegen Ausbeutung und Reproduktionsarbeit, sondern kann diese höchstens auf mehr Menschen verteilen. Doch hier zeigen sich bereits die Grenzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise: So leisten Frauen täglich immer noch durchschnittlich 74 Minuten mehr Hausarbeit in Deutschland als ihre Männer. Diese Messung bezieht sich jedoch nur auf ausgeführte Tätigkeiten und klammert das äußerst anstrengende Planen und Delegieren von Aufgaben aus, was auch zumeist Frauen übernehmen müssen. Hinzu kommen Reiche, die sich Angestellte holen und keinen Finger im Haushalt krümmen. Eine gerechte Aufteilung sieht wirklich anders aus. Denn selbst zu einer besseren Umschichtung von Reproduktionsarbeit ist insbesondere der liberale Feminismus überhaupt nicht in der Lage. Die Märchen des Girlboss-Feminismus und des Choice-Feminismus individualisieren die Frauenunterdrückung und zeigen als vermeintliche Lösung nur auf, dass jede sich ihren eigenen Platz im System erkämpfen solle und ihr freistünde, ob sie sich für Kinder, Küche oder Karriere (oder am besten alles zusammen) entscheidet. Auch die anderen Feminismen haben keinen Lösungsentwurf parat, da sie die Klassengesellschaft, auf der die Frauenunterdrückung basiert, nicht mit einbeziehen und das Patriarchat als etwas vom Kapitalismus bzw. der Klassengesellschaft Losgelöstes betrachten. So kommt es aber dazu, dass Arbeiterinnen und auch schon ihre Töchter sich eine Zukunft im Kapitalismus mitsamt Lohn- und Reproduktionsarbeit nicht vorstellen können und verzweifelt nach Alternativen suchen. Es ist unsere Aufgabe, ihnen eine echte Perspektive aufzuzeigen.

Dafür müssen wir das traditionelle Rollendenken hinter uns lassen, zusammen mit dem kapitalistischen System an sich. Auch einfach Lohn für Hausarbeit zu zahlen, würde das Problem nicht auflösen: Die ökonomische Abhängigkeit würde bedingt besser werden, aber die geschlechtliche Arbeitsteilung, sowie die Isolation von Frauen als Hausfrauen würden weiter bestehen bleiben. Deswegen muss unsere Lösung eine andere sein: Wir müssen die Reproduktionsarbeit auf alle Schultern der Gesellschaft aufteilen. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass statt individuellem Essen Mensen eingerichtet werden, wo jede/r lecker und gesund essen kann, aber auch jede/r mal für die Zubereitung und das Aufräumen zuständig ist. Ähnliche Konzepte muss es dann auch für das Putzen und die Kinderbetreuung geben.

Denn nur, wenn wir das kapitalistische System überwinden und Wohnraum sowie Hausarbeit vergesellschaften, die Betriebe unter Arbeiter:innnekontrolle stellen und massiv in Bildung, Soziales und Gesundheit investieren, können wir Frauen (und letztendlich auch alle anderen Menschen) entlasten und so auch die Gesamtarbeitszeit reduzieren. Nur indem wir als Arbeiter:innenklasse und Jugend gemeinsam und demokratisch die Arbeit aufteilen und die Produktion planen und verwalten, können wir der doppelten Ausbeutung von Frauen nachhaltig entgegenwirken und strukturelle Überlastung bekämpfen. Dafür müssen wir uns an Schulen, Unis und in Betrieben organisieren und Aktionskomitees aufbauen. Auch braucht es die Bekämpfung von Vorurteilen gegenüber Frauen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung sowie einen internationalen Zusammenschluss, der die Kämpfe koordiniert. Nur so können wir eine internationale multiethnische antikapitalistische Frauenbewegung aufbauen, die eng mit der Arbeiter:innneklasse zusammenarbeitet, welche dann gemeinsam mit allen Unterdrückten und Ausgebeuteten in der Lage ist, den Kapitalismus zu überwinden. Gleichzeitig besteht auch die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen Internationale, die die Kämpfe anführen und zuspitzen kann.

Auch Social Media – ein beispiellos falscher Begriff für die Datenkraken und Geldmaschinen im kapitalistischen Internet – müssen wir den Multimilliardär:innen und ihrem für uns schädlichen Profitinteresse entreißen und stattdessen demokratisch als Arbeiter:innen und Jugendliche überwachen und kontrollieren, damit niemand von uns mehr in eine Alt-Right-Falle tappt, nur weil wir ein Kochrezept geliket haben. Für ein sicheres Social Media für alle, statt maximalen Profiten für einige, müssen wir Konzepte entwickeln, die unseren Bedürfnissen als Gesellschaft entsprechen und ihre Rolle im Kapitalismus hinterfragen.




Warum gehört Palästinasolidarität auf die Anti-AfD-Proteste?

Georg Ismael, Infomail 1242, 22. Januar 2024

Ganz einfach, weil die AfD ihre rassistische Hetze momentan im Besonderen mit antipalästinensischer Stoßrichtung vorantreibt!

Das wusstest du nicht? Dann einige Fakten dazu:

Bereits am 10.10.2023 brachte die AfD-Fraktion zwei Anträge in den Menschenrechtsausschuss ein. Einer forderte die Streichung aller Zuwendungen an das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Der zweite behauptete, dass palästinensische Jugendliche systematisch zu „Attentätern, Mördern und Selbstmordattentätern“ erzogen würden. Daher sei die Entwicklungshilfe für palästinensische Bildungseinrichtungen vollständig einzustellen. Mittlerweile sterben Menschen in Gaza an Hunger. Die Mehrzahl aller Schulen und Universitäten ist zerstört, unzählige Lehrer:innen, Professor:innen und Student:innen sind tot. Die AfD hält an diesen Positionen fest.

Gleichzeitig sagte AfD-Chefin Alice Weidel sehr früh, dass sie gegen jegliche Aufnahme von palästinensischen Geflüchteten ist. Heute ist Palästina der Kriegsschauplatz, auf dem die meisten Zivilist:innen sterben. Südafrika klagt Israel vor dem Internationalen Gerichtshof des Genozids an.

Im Berliner Abgeordnetenhaus brachte die AfD im Januar 2024 einen Antrag ein. Dieser fordert einen vollständigen und bundesweiten Stopp der Aufnahme palästinensischer Geflüchteter. In Berlin soll dies unmittelbar vom Senat umgesetzt werden, denn das palästinensische Volk sei laut AfD eines von Terrorist:innen.

Währenddessen unterstützt sie mittlerweile offen und aggressiv den Krieg gegen Gaza. Auch ist sie für die Verzehnfachung der  Waffenlieferungen an Israel eingetreten, die die Bundesregierung 2023 genehmigt hat.

Die AfD spielt eine ähnliche Rolle wie ihre rechten bis rechtsradikalen Freund:innen in den USA. Sie ist laut Umfragen die Partei im deutschen Bundestag mit den meisten Antisemit:innen unter ihren Mitgliedern und Wähler:innen. Gleichzeitig ist sie eine brennende Verfechterin des israelischen Staates und der zionistischen Apartheid.

Das ist eigentlich vollkommen „logisch“

Der israelische Staat verwirklicht mit seiner brutalen Unterdrückung und Vertreibung der Palästinenser:innen genau die rassistischen Gewaltphantasien, die der AfD auch in Deutschland insbesondere für nicht-europäische Menschen im Allgemeinen als auch für Araber:innen und Muslim:innen im Speziellen vorschweben.

Israel ist zunehmend ein Vorbild für die westliche rechtsradikale Szene. Sie feiert Israels „Ethnopluralismus“ und die „Remigration“ der Palästinenser:innen.

Ethnopluralismus ist ihr „modernes“ Wort für die „Zusammensetzung einer Gesellschaft nach rassischen und völkischen Merkmalen“. Remigration ist ihr „modernes“ Wort für Deportation und Vertreibung.

Gleichzeitig ist die AfD und sind ihre rechtsradikalen Anhänger:innen glücklich darüber, dass die meisten Jüdinnen und Juden fernab von ihnen leben. Die Aussage eines Rechtsradikalen bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Ich freue mich zu sehen, was dort unten passiert. Egal wer von einer Kugel getroffen wird: es trifft immer das richtige Ziel.“ So treffen sich antimuslimische, antiarabische und antisemitische Einstellungen deutscher Faschist:innen.

Wir haben also allen Grund, Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen die AfD zusammenzubringen! Die Wahrheit ist: Gerade Palästinenser:innen stehen aktuell im Zentrum der rassistischen Hetze sowohl von rechtsaußen als auch aus der „Mitte der Gesellschaft“.

Scholz forderte Abschiebungen von Palästinenser:innen, weil sie angeblich Antisemit:innen seien. Es gab bereits Fälle von Abschiebungen propalästinensischer Aktivist:innen. Gleichzeitig verzehnfachte die deutsche Regierung ihre Waffenlieferungen an Israel. Ganz nach dem Motto „Ich bin ja keine Rassistin. Meine Waffen töten nur ein unterdrücktes Volk.“

Die Regierung kriminalisiert und diffamiert Proteste für einen Waffenstillstand. Ein Beispiel: In Berlin wird unter Schwarz-Rot das Oyoun, ein migrantisch geprägtes, kosmopolitisches Kulturzentrum geschlossen. Der Grund: Die jüdische Stimme, die größte linke jüdische Organisation in Deutschland, spricht sich dort zu ihrem 20. Jubiläum gegen die Unterdrückung der Palästinenser:innen aus.

Die CDU will die Ausbürgerung von deutschen Staatsbürger:innen legalisieren. Das ist ein Gesetzesvorschlag, der aktuell im Parlament diskutiert wird, „Remigration“ light also, die von den Konservativen vorangetrieben wird.

Ampelregierung und CDU betreiben selbst rassistische Hetze und Politik. Gleichzeitig sitzen die noch gefährlicheren Rassist:innen und Antisemit:innen der AfD am rechten Rand des Parlaments. Sie klatschen und reiben sich die Hände, dass die Bundesparteien über den „Import von Antisemiten“ phantasieren, anstatt über die Antisemit:innen der AfD zu sprechen.

Wir kommen also zu dem Ergebnis: In Wirklichkeit müssten propalästinensische Stimmen auf Anti- AfD-Protesten nicht nur willkommen sein. Gerade Palästinenser:innen und linke antizionistische Juden/Jüdinnen müssten als Redner:innen auf den Bühnen der Proteste eingeladen werden.

Dass dies nicht so passiert, zeigt, wie verlogen der „Antirassismus“ der momentanen Organisator:innen ist. Grüne, SPD, die Linkspartei oder Gewerkschaftsführungen mögen aktuell an der Spitze der Proteste stehen. Aber das ist unsere Bewegung. Wir werden nicht schweigen.

Gegen jeden Rassismus, gegen jede Vertreibung – ob durch deutsche oder durch israelische Rassist:innen!




Wieso, weshalb, warum? Eine Antwort an:  Wir // Jetzt // Hier

Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1237, 22. November 2023

Nach dem Parteitag der Linkspartei in Augsburg veröffentlichen „Linke aus verschiedenen Teilen der Zivilgesellschaft“ den Beitrag „Wir // Jetzt // Hier“ und kündigen ihren Eintritt in DIE LINKE an.

Wer im letzten Jahrzehnt die Politik der radikalen Linken in Deutschland verfolgen musste, den erinnern darin viele Formulierungen und Inhalte an die Interventionistische Linke und andere postautonome Gruppierungen. Diese ist seit Corona erstaunlich stumm, zum Ukrainekrieg lässt sie sich kaum blicken und zu Palästina hat sie praktisch nichts zu sagen.

Aber es bleibt letztlich nur eine Mutmaßung, woher die Autor:innen genau kommen, die schreiben. In einer Telegram-Gruppe haben die Initiator:innen über 500 Menschen gesammelt, am 20. November sollten möglich alle in die Partei eintreten. Doch das Schreiben wirft in vielerlei Hinsicht mehr Fragen auf, als es klärt. Deswegen fragen wir zurück und freuen uns auf eine Antwort.

Wieso?

Die stetig voranschreitende Klimakrise, der scheinbar unaufhaltsame Rechtsruck – all das scheint unerträglich ohne eine linke Alternative, insbesondere für Aktivist:innen, die „sich der parlamentarischen Politik nie verbunden gefühlt haben.“ Stattdessen haben sie „protestiert, blockiert, gestreikt und Politik und Kultur von unten“ organisiert. So weit so verständlich.

Im späteren kommt dann die weitere Erklärung: „Durch den Abgang des Wagenknecht-Lagers kann sie sich entweder als eine solche verbindende Organisation neu aufstellen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken.“ Aber schreibt der Abgang von Wagenknecht wirklich die Geschichte der Linkspartei neu?

Weshalb?

Nein, eigentlich nicht. Denn Wagenknecht sitzt nicht in Thüringen, Bremen oder Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung und schiebt dort auch nicht ab. Wagenknecht war auch nicht dafür verantwortlich, dass es keine Kampagne für offene Grenzen gegeben und man nicht versucht hat, mit den Gewerkschaftsmitgliedern der Partei dafür zu kämpfen, dass Geflüchtete in diese aufgenommen werden, man dort gemeinsam Arbeitskämpfe führen könnte, die rassistische Vorurteile abbauen und Verbesserungen für alle mit sich bringen.

Dass das nicht stattgefunden hat, ist vor allem das Werk des Flügels der Regierungssozialist:innen. Mit diesen hat kein Bruch stattgefunden, vielmehr hat sich die Bewegungslinke aus Angst vor dem Untergang an ihn geklammert und selbst angefangen, „Rebellisches Regieren“ auf ihre Fahne zu schreiben. Doch das wisst ihr selber. Deswegen schreibt ihr: „Es gibt kein ,rebellisches Regieren‘ mit SPD und Grünen. Das zeigt die zunehmende Abschiebepraxis in Thüringen ebenso wie die Blockade des Volksentscheids ,Deutsche Wohnen & Co enteignen‘ unter Rot-Rot-Grün in Berlin“ und „DIE LINKE hat sich mit diesen Regierungsprojekten für eine Koalitionsfähigkeit verbogen und sich zur Komplizin des rot-grünen Mitte-Extremismus gemacht.“

Das wollt ihr stoppen, das wollt ihr verändern und deswegen tretet ihr nun in die Partei ein. Aber wie genau das vonstattengehen soll, das verschweigt ihr. Mit dieser Entscheidung und ohne Plan lauft ihr Gefahr, einfach nur die neue Bewegungslinke zu werden. Ihr nehmt den Streit, der seit Gründung der Linkspartei stattfindet, auf. Aber bei Deutsche Wohnen & Co enteignen, da hattet ihr selber keinen Plan, wie man die Bewegung voranbringt, Druck auf die Linkspartei ausübt, damit sie nicht ihre eigene Regierungsbeteiligung über den Erfolg der Bewegung stellt. Was macht euch so sicher, dass es jetzt ganz anders läuft? Denn es war nicht Wagenknecht, die in Berlin den Volksentscheid blockiert hat.

Für eine Partei der Arbeiter:innen?

Die Forderungen nach einem durchschnittlichen Facharbeiter:innengehalt und auch nach begrenzten Amtszeiten für Abgeordnete sind super. Wir unterstützen diese. Aber eine Partei für Arbeiter:innen macht mehr aus, als dass Mandatsträger:innen Arbeiter:innen sind und einen Teil ihrer Gehälter abgeben. Das ist ein Mittel, das verhindern soll, dass eine Schicht von Fuktionär:innen entsteht, die sich verselbständigt und im Interesse ihrer eigenen ökonomischen Stellung handelt. Das reicht aber nicht aus.

Mandatsträger:innen müssen ihrer Basis gegenüber auch rechenschaftspflichtig – und zur Not auch abwählbar – sein. Passiert das nicht, können sich Bundestagsabgeordnete mit ihrem Mandat nicht nur aus dem Staub machen, sondern Mandatsträger:innen können soziale Bewegungen und Arbeiter:innenkämpfe verraten, ohne unmittelbar Konsequenzen zu tragen.

Und auch das reicht nicht, um eine Partei der Arbeiter:innen zu sein. Busfahrer:innen und Krankenpflegende können im Bundestag sitzen – das ist cool und notwendig –, aber inhaltlich trotzdem keine Politik machen, die den Kapitalismus überwindet. Darum geht’s doch hoffentlich. Das ist eine Annahme, denn ja, es ist wichtig, wie ihr schreibt, „eine radikale, linke Sprache der Gegenwart zu entwickeln“. Aber es hilft nicht, alles scheinbar Angestaubte zu ersetzen, wenn man niemand mehr weiß, ob man denn nun transformieren, zerschlagen oder doch nur reformieren will. Klare Inhalte und Vorhaben einfach verständlich zu kommunizieren, findet nicht dadurch statt, dass man schöne Umschreibungen für Worte wie „Arbeiter:innenklasse“ oder „Sozialismus“ findet. Es geht um konkrete Ideen, die man mit entsprechender Politik umsetzen will. Denn das Wort „Enteignung“ hat z. B. die Mehrheit der Berliner Bevölkerung beim Volksentscheid auch nicht verschreckt.

Warum?

Mit der Krise der Interventionistischen Linken ist es still um weite Teile der postautonomen Linken geworden. Dabei war ihre Stagnation ein Resultat der Krise der Linkspartei. Über Jahre ging dieser Teil der „radikalen Linken“ eine Art Arbeitsteilung mit ihr ein, die Luxemburg-Stiftung und andere Finanzquellen dienten als Verbindungsstück. Nun steht dieses Verhältnis in Frage, denn wenn DIE LINKE aus dem Bundestag und den Landesparlamenten verschwindet, versiegen auch diese Geldquellen. Und das trifft ganz offenkundig auch Linke, die sich ansonsten die Hände nicht schmutzig machen wollten im parlamentarischen Geschäft, wenn es heißt: „Soziale und ökologische Bewegungen brauchen ein ökonomisches Zuhause.“

Deswegen überrascht es nicht, dass Teile aus diesem Spektrum sich entscheiden, das was sie letzten Endes immer gewesen sind, nun auch zu formalisieren. Es ist keine große, neue Veränderung, sondern eine Konsolidierung der alten Kräfte. Eventpolitik kann nun unter einem neuen Banner betrieben werden – und das hält zusammen. Das ist schade, denn die Krise der Linkspartei muss genutzt werden, um über Strategien zu reden und aus vergangenen Fehlern zu lernen.

Denn für sozialistische Politik in der Linkspartei zu kämpfen, das haben schon andere versucht in den letzten Jahren. Die Resultate sind bescheiden: marx21 hat sich im Oktober in mehrere Teile gespalten, die SAV letztes Jahr, wenn auch aus anderen Gründen. Die Antikapitalistische Linke ist kaum wahrnehmbar. Also was ist es, was euch unterscheidet? Was ist es, das verspricht, dass ihr es tatsächlich besser macht? Was ist der Plan? Wenn ihr diese Fragen nicht genügend beantworten könnt, werdet ihr nur ein neues linkes Feigenblatt für eine Partei, die vielleicht dynamischer wird, ein paar schöne Kampagnen fährt – aber letzten Endes schweigt, wenn es darum geht, Deutsche Wohnen & Co zu enteignen.

Euer Aufruf fällt dabei hinter die Einschätzungen oben genannter Gruppierungen zur Linkspartei weit zurück. So heißt es: „Für alle, die es ernst meinen mit dem Klimaschutz, dem Feminismus, dem Antirassismus sowie dem Kampf gegen Antisemitismus, für LGBTIQA+-Rechte und andere umwelt- und gesellschaftspolitisch fortschrittliche Anliegen kann dieses Zuhause nur in einer antikapitalistischen Partei liegen. Die Parteispitze hat ihren Willen zu einer Erneuerung der Partei und einer Öffnung hin zu den sozialökologischen Bewegungen wiederholt deutlich gemacht.“

So weit her ist es mit dem Antikapitalismus der Linkspartei bekanntlich nicht. Und den Willen zur Erneuerung? Worin besteht der? Bloße „Öffnung“ und Wachstumspläne ändern am Inhalt, Programm und an der seit Jahren eingeübten bürgerlichen Reformpolitik in Parlamenten, Kommunen, Stadträten, von Landesregierungen und Bürgermeister:innen nichts.

Was also tun?

Keine linke Alternative zu haben, während die Rechten immer stärken werden, macht Angst. Die Klimakrise und Kriege tun ihr Restliches dazu und man fühlt sich ohnmächtig. Aber diese Angst sollte nicht dazu führen, dass der „Kampf für Demokratie“ und eine „Transformation“, unter der sich alle vorstellen können, was sie gerade wollen, wichtiger ist als der für Sozialismus. Wer das anders sieht, der hat nicht verstanden, warum die AfD immer stärker geworden ist und weiß letztlich keinen Ausweg, wenn es darum geht, den Rechtsruck zu bekämpfen.

Denn die aktuelle Hetze, die wir erleben, kommt nicht nur von der AfD, sondern wird von allen ach so demokratischen Kräften mitgetragen. Sie ist Ausdruck einer sich international verschärfenden Konkurrenz, die den Kampf um die gewaltvolle Neuaufteilung der Welt vorbereitet und gleichzeitig die Sparmaßnahmen im Innern zu übertünchen versucht.

Um effektiv dagegen vorzugehen, kann man nicht sagen: „Hey, wir brauchen eine Linke, weil es eine Rechte gibt, wir müssen diffus über Umverteilung reden und für eine geile Sozialpolitik eintreten!“ Denn die aktuelle Situation lässt nicht zu, dass genügend Geld für eine geile Sozialpolitik einfach da ist. Selbst für solche Umverteilungsforderungen muss man den Klassenkampf mit Streiks forcieren und diese mit der Eigentumsfrage verbinden. Dementsprechend müssen Kämpfe für Lohnerhöhung, Verbesserungen der Lebensbedingungen immer mit einer Perspektive zur Überwindung des kapitalistischen Systems aktiv und deutlich verbunden werden. Ansonsten rennen wir ins Leere, erfahren Niederlagen und schaffen es nicht, eine gesellschaftlich linke Perspektive sichtbar zu machen.

Das heißt nicht, dass man sagen soll: „Hey, lass‘ für höhere Löhne kämpfen und ach, vergiss nicht, gegen den Kapitalismus musst du auch sein!“ sondern, dass man es schafft, Forderungen aufzustellen, die eine Brücke weisen vom Kampf für unmittelbare Ziele zu dem gegen das System, welches diese in Frage stellen. Beispielsweise „Hey, lass uns für höhere Löhne kämpfen, die automatisch an die Inflation angepasst werden und deren Erhöhung von den Lohnabhängigen selbst kontrolliert wird. Das ist doch besser, als bei jeder Schwankung streiken zu müssen und zu hoffen, dass man dann ein bisschen was abbekommt. Und sinnvoll ist auch, dass ihr dann ein Komitee gründet, was kontrolliert, dass das auch umgesetzt wird.“ Das kann man nur durchsetzen, wenn man eine gewerkschaftliche Basisopposition gegen die Bürokratie organisiert, Bewegungen so aufbaut, dass sie Selbstermächtigungsorgane der Klasse (Komitees an Schulen, Unis und Betrieben, Vorformen von Räten also) schafft und in diesen für eine Politik der Zuspitzung, der gesellschaftlichen Veränderung eintritt.

Und irgendwie bleibt beim Lesen des Textes, das Gefühl, dass es eher die Angst vor rechts ist, die euch planlos in DIE LINKE treibt, ohne Weg zurück.  Also, was ist euer Plan?




Italien: Kein sozialer Frieden mehr!

Flugblatt der Partito Comunista dei Lavoratori zum landesweiten Streik der Basisgewerkschaften, Infomail 1234, 20. Oktober 2023

Vorspann: Für den 20. Oktober haben die Basisgewerkschaften S. I. Cobas (Berufsgruppenübergreifende Gewerkschaft des Basiskomitees) zu einem landesweiten Streik gegen die Angriffe der Regierung Meloni und Krieg aufgerufen. Wir veröffentlichen ein Flugblatt der Partito Comunista dei Lavoratori (PCL), einer italienischen trotzkistischen Organisation, mit der wir in Diskussion stehen.

Kein sozialer Frieden mehr!

Vereint die Kräfte der Klassengewerkschaft! Für eine anhaltende Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse!

Das neue Stabilitätsgesetz, das Meloni ankündigt, ist ein Betrug an den 18 Millionen Lohnempfänger:innen in unserem Land. Ein ganzes Jahr lang hat Giorgia Meloni eine arbeiter:innenfeindliche Politik betrieben. Dennoch hat sie einen sozialen Frieden genossen, der in Europa seinesgleichen sucht. Die maximale Aushöhlung der italienischen Löhne, die weitere Ausweitung der Arbeitsplatzunsicherheit, die Abschaffung des Bürgergeldes, die kriminelle Liberalisierung der Verträge, die Ablehnung jeder Form von Mindestlohn usw. haben nicht ausgereicht, um eine Massenmobilisierung der Lohnabhängigen wie in Frankreich, Großbritannien oder in Deutschland auszulösen.

Daher ist ein grundlegender Wandel erforderlich. Der heutige Generalstreik ist eine positive Tatsache. Aber es ist allen bewusst, dass er nicht ausreichen kann, um die Regierung zu stoppen. Er wird nur von einem Teil der Klassengewerkschaften unterstützt, und deshalb kann die Beteiligung trotz der Großzügigkeit und Selbstaufopferung seiner Organisator:innen nicht über einen bescheidenen Prozentsatz der Beschäftigten hinausgehen.

Es ist ein qualitativer Sprung erforderlich: ein Kampf für eine allgemeine Plattform, die Millionen von Lohnabhängigen als ihre eigene empfinden können – eine anhaltende Mobilisierung, die auf einen Sieg abzielt.

  • Für eine Lohnerhöhung von mindestens 400 Euro netto für alle Lohnarbeiter:innen

  • Für die Wiedereinführung der gleitenden Lohnskala

  • Für einen branchenübergreifenden Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde (1.500 Euro pro Monat)

  • Für einen angemessenen Lohn für Arbeitslose von mindestens 1.200 Euro

  • Für die Aufhebung aller Gesetze zur Prekarisierung der Arbeit, die in den letzten zwanzig Jahren von Regierungen aller Couleur verabschiedet wurden

  • Für Arbeiter:innenkontrolle über die Arbeitsbedingungen, angefangen bei der Sicherheit

  • Für eine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30/32 Stunden bei gleichem Lohn

  • Für eine außerordentliche Vermögensabgabe von mindestens 10 % auf die reichsten 10 %, um die Investitionen in Gesundheit, Bildung, ökologische Bodensanierung und erneuerbare Energien zu verdoppeln

  • Für die Streichung der Militärausgaben und der öffentlichen Schulden bei den Banken (derzeit 100 Milliarden allein an Zinsen pro Jahr!).

Wir brauchen eine nationale Versammlung von gewählten Delegierten, die eine Plattform für den Wandel definieren und einen ernsthaften Kampfplan beschließen können. Eine radikale Änderung der Kampfformen muss auf den Weg gebracht werden, mit der Besetzung aller entlassenden Unternehmen (wie bei GKN) und ihrer Verstaatlichung ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle. Alle Gewerkschaften der Arbeiter:innenklasse sollten ihre Kräfte in gemeinsamen Aktionen bündeln.

Schließlich können die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung nicht gleichgültig bleiben gegenüber den Verbrechen, die der Staat Israel gegen das palästinensische Volk und die gemarterte Stadt Gaza begeht, wo zionistische Bomben auf Schulen, humanitäre Organisationen, Journalist:innen und Krankenhäuser abgeworfen werden. Die Regierungen, die die arbeitenden Menschen in Europa ausbeuten und verarmen lassen, sind dieselben, die die israelischen Vergeltungsmaßnahmen unterstützen.

Das Gefühl der Einheit mit den unterdrückten Nationen gehört zur besten Tradition der Arbeiter:innenbewegung, die aufgerufen ist, die italienische Regierung, die sich bedingungslos auf die Seite Israels und seiner mörderischen Truppen stellt, auch aus diesem Grund herauszufordern. Für die revolutionäre Zerstörung des Staates Israel! Für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina, mit vollem Respekt für die Rechte des jüdischen Volkes, im Rahmen einer sozialistischen Nahost-Föderation.