Staatsstreiche bedrohen Frankreichs Kontrolle über ehemalige afrikanische Kolonien

Dave Stockton, Infomail 1232, 20. September 2023

Am 26. Juli nahm die Präsidentengarde in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, unter Führung des Brigadegenerals Abdourahamane Tchiani den Präsidenten Mohamed Bazoum fest und verschleppte ihn. Gerüchte besagen, dass der Auslöser für diesen Putsch Bazoums Plan zur Ersetzung der Kommandostellen in Präsidentengarde und Armee war.

Der Rest der Armee unterstützte sofort den Staatsstreich, der auf den Straßen auch von Demonstrant:innen begrüßt wurde. Einige der Demonstrationen waren  vom M62-Bündnis politischer und sozialer Bewegungen organisiert, das während der letztjährigen öffentlichen Proteste gegen die gestiegenen Spritpreise gebildet worden war. Die Demonstrant:innen schwenkten nicht nur die Fahnen Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“. Redner:innen forderten den Einsatz der Truppen der russischen Wagnersöldner:innen in Niger wie schon im benachbarten Mali, wo diese 2020 den putschenden Führer:innen halfen, den Rückzug der französischen Streitkräfte aus dem Land zu beschleunigen.

Der Staatsstreich im Niger steht in einer Reihe mit gleichartigen Vorfällen im Südsaharagürtel Afrikas – Guinea, Burkina Faso, Tschad, Sudan und nun, knapp einen Monat nach Niger, Gabun in Äquatorialafrika. Alle außer dem Sudan waren früher französische Kolonien, in denen Frankreich starke Wirtschaftsverbindungen und oft Militärpräsenz unterhielt unter dem Deckmantel der „Bekämpfung des Terrorismus“. Gabun ist wiederum Mitglied des britischen Commonwealth.

Ein antikoloniales Erbe unter rangniederen Offizier:innen in westafrikanischen Streitkräften reicht zurück bis zu Leuten wie Thomas Sankara, der in Burkina Faso von 1983 – 1987 herrschte, und Jerry Rawlings in Ghana. Sie waren beide von panafrikanischen Idealen beseelt und von der kubanischen Revolution beeinflusst. Doch wenig spricht dafür, dass die jetzigen Putschist:innen von diesem Radikalismus angetrieben sind. Sie gehören eher einer anderen Tradition an, dem „Prätorianismus“, d. h. Revolten der privilegierten Präsidentengarde gegen ihre Vorgesetzten.

Heuchelei auf allen Seiten

Gewiss waren die „demokratischen“ Präsidenten, die sie aus dem Weg räumten, oft korrupt und ihre (Wieder-)Wahl mit schweren Makeln behaftet. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die Putschist:innen sich als weniger korrupt erweisen werden oder gar demokratischer als die Figuren, die sie ersetzt haben. Die Idee, dass die Wagnergruppe, Putins Russland oder chinesische Investor:innen den Staaten der Region zu größerer Unabhängigkeit verhelfen werden, ist völlig abwegig.

Genauso falsch sind die Behauptungen Frankreichs, der Europäischen Union oder USA, dass sie dagegen die Schöpfer:innen bedeutsamer Demokratie seien und jemals den extrem niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung dieser Länder heben würden. Niger weist einen der niedrigsten sozialen Entwicklungsindizes (HDI) in der Welt auf. 41 % der Einwohner:innen darben in absoluter Armut, nur 11 % haben Zugang zu medizinischer Versorgung und 17 % leben mit Strom.

Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich hat diesen Staatsstreich verurteilt, nicht allein, weil Bazoum ihr Schützling war, sondern weil Niger vorgesehen war als Zentrum für eine neu geordnete französische und US-amerikanische Dominanz in der Region nach den Rückschlägen in Mali und den Nachbarstaaten. Präsident Emmanuel Macron drohte damit, dass „kein Angriff auf Frankreich und seine Interessen geduldet werden wird“. Frankreich ist im Niger noch mit einer Truppenstärke von 1.500 Kräften vertreten, die USA hat 1.100, und sie haben sich geweigert, Brigadier Tchianis Verlangen nach ihrem Rückzug anzuerkennen.

Die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) hat sofortige Sanktionen verhängt, Flugverbotszonen und Grenzschließungen erlassen. Ihr dominierender Staat, Nigeria, hat die Energiezufuhr unmittelbar unterbunden, Grenzen geschlossen und Lebensmitteltransporte blockiert. Die Preise für Hauptnahrungsmittel wie Reis schossen innerhalb von wenigen Tagen der Blockade schlagartig in die Höhe. Ziel ist, die Bevölkerung auszuhungern, um die Wiedereinsetzung von Frankreichs Protegé herbeizuführen.

Die Verteidigungsminister:innen der Ecowas-Länder haben auf ihrer Zusammenkunft in der nigerianischen Hauptstadt Abuja auch eine militärisches Eingreifen angedroht, falls Bazoum nicht ins Amt zurückkehrt. Dieses würde von der nigerianische Armee angeführt, die den Großteil der Ecowas-Truppen stellt. Diese Aussicht wiederum hat Mali, Tschad und Burkina Faso veranlasst, Niger zu Hilfe zu eilen, falls die Ecowas-Verbände einmarschieren. Damit könnte ein Krieg in der gesamten Region entbrennen. Französische Minister:innen haben diesem Vorgehen zugestimmt, doch die Verantwortlichen der US-Administration gehen vorsichtiger zu Werke und scheinen Verbindungen zwischen den Militärregierungen der Region herstellen zu wollen, um russische Fortschritte aufzuhalten.

Ein Krieg in der Region wäre ein Geschenk für die verschiedenen dort operierenden  islamistischen Organisationen. Darunter befinden sich die Jama’a Nusrat ul-Islam wa al-Muslimin (Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime; JNIM), der Islamische Staat der Provinz Westafrika (ISWAP), der Islamische Staat in der Größeren Sahara (ISGS), al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM), Murabitunmiliz (Westafrika), Ansar Dine (Unterstützer des Glaubens), Katiba Macina (Befreiungsfront Macina; MLF)und Boko Haram (Übers. etwa: Verwestlichung ist ein Sakrileg). Sie haben sich bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber regionalen Armeen und deren französischen Ausbilder:innen erwiesen. Diese Gruppen terrorisieren Teile der ansässigen Bevölkerung, erhalten aber auch Unterstützung von anderen Teilen der Einwohner:innen. Die Brutalität der „antiterroristischen“ Einheiten hilft ihnen, arbeits- und perspektivlose Jugendliche zu rekrutieren.

Koloniale Ausbeutung

Der Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht allein die brutale koloniale Erfahrung zugrunde, selbst nicht die wiederholten militärischen Interventionen in den früheren Kolonien, um die „Ordnung zu bewahren“ oder „französische Bürger:innen zu retten“, sondern vielmehr die ökonomische Ausbeutung der reichen natürlichen Ressourcen der Region in Verbindung mit dem Scheitern, eine sichtbare Wirtschaftsentwicklung in Gang zu bringen.

Frankreich unterhält gegenwärtig etwa 30 Firmen oder Niederlassungen in Niger, darunter das Orano-Konsortium, das in der riesigen Tamgak-Mine nach Uran schürft. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Rohstoffe sind seit langem lebenswichtig für Frankreichs Nuklearindustrie, die 68 % des Stroms für das Land erzeugt. Es gibt auch größere Lithiumvorkommen, die immer wertvoller für die schnell wachsende Elektroautoindustrie werden. Doch dennoch oder gerade deswegen rangiert Niger immer noch auf Platz 189 unter 191 Ländern laut HDI der Vereinten Nationen von 2022.

Der Machtwechsel in Niger ist ein weiterer Schlag für Frankreich, und im weiteren Sinne auch für die USA, Großbritannien und Staaten wie Deutschland und Italien, die französische Truppen in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt und damit zugleich den Hass gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu angefacht haben, denn sie haben weder die versprochene Sicherheit gebracht noch die Armut gelindert. Diese Umstände haben die Infiltration der Wagnergruppe in der Region begünstigt. Die russische Söldnertruppe operiert bereits im benachbarten Mali wie auch in der Zentralafrikanischen Republik, wo sie auch an der Ausbeutung der dortigen Goldminen beteiligt ist. Das Wagner-Kommando befehligte 5.000 Einsatzkräfte in 12 Ländern innerhalb Afrikas. Der Anführer Jewgeni Prigoschin begrüßte noch kurz vor seinem Tod den Putsch im Niger.

Nigers Ex-Präsident Bazoum war ein besonders enger Verbündeter Frankreichs. Deswegen ist sein Sturz ein eminent harter Schlag für Emmanuel Macron. Nach der erzwungenen Auflösung von „antiterroristischen“ Gemeinschaftsoperationen mit fünf Nationen und der demütigenden Vertreibung seiner Truppen aus Mali hatte er das Land als neues Zentrum einer Operation geringeren Ausmaßes ausersehen, die mit Unterstützung von westafrikanischen Militärpartner:innen, ausgebildet von französischen Spezialist:innen vorgehen sollte.

Diese neue Strategie sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, die auf ihrem Höhepunkt 3.500 französische Soldat:innen im Einsatz sah. Frankreich hatte sich in einen neunjährigen militärischen Konflikt mit islamistischen Guerillas verwickelt und auch tausende Truppen in Niger und Burkina Faso stationiert. Ihre Präsenz erzürnte die Bevölkerung vor Ort. Unter wachsenden Streiks und Protesten waren die französischen Einheiten gezwungen, Mali zu verlassen, und ebenso eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen.

Das ganze Staatensystem der Region ist ein halbkolonialer Ersatz für Teile des französischen Imperiums und erlangte Anfang der 1960er Jahre nominelle Unabhängigkeit, genannt Françafrique, d. h. Frankreichs „Hinterhof“. Seine Bestandteile sind in den vergangenen 5 Jahren wie Dominosteine gefallen. Doch Frankreichs Banken und Minenkonzerne beherrschen immer noch die Ökonomien der westafrikanischen Länder. Diese äußerst schwachen Staaten sind trotz wiederholter Anstrengungen nicht in der Lage gewesen, ein gemeinsames Währungssystem unabhängig von der Banque de France aufzubauen. Der CFA-Franc ist weiterhin die gemeinsame Währung für 14 afrikanische Staaten, auch Gabun, und das bedeutet, dass jedes Mitgliedsland die Hälfte seiner Devisenreserven in Paris deponieren muss.

Dieses unverhüllt ausbeuterische halbkoloniale System und die wirtschaftlichen Entbehrungen, die es den Ländern auferlegt, erklärt etwas die anfängliche Begeisterung für den Staatsstreich. Aber die Hinwendung zum russischen oder chinesischen Imperialismus wird der Region keine Lösung für die Unterentwicklung bieten, die Hunderttausend in das Wagnis treibt, die Wüste und das Mittelmeer zu überqueren, um Europa zu erreichen.

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Tötung Prigoschins und des Führungskerns der Wagnergruppe und ihre Ersetzung durch russische Generäle sie weniger wirkungsvoll machen wird als bisher. Auch die neuen Militärregierungen werden nicht widerstandsfähiger sein gegen Korruption und Bestechung durch westliche, russische oder chinesische Regierungen und Unternehmen. Keines dieser rivalisierenden Lager kann diesem Teil Afrikas Entwicklung oder gar Unabhängigkeit bescheren.

Was tun?

Im Verlaufe einer französischen, US- oder Ecowas-Militärintervention sollten Arbeiter:innen und Jugendliche ihre Länder verteidigen, indem sie sich einem bewaffneten Kampf anschließen, und danach streben, an die Spitze einer nationalen Befreiungsbewegung zu gelangen. Doch sollten sie der Militärherrschaft der Putschführer:innen keine politische Gefolgschaft leisten, die sich dem russischen Imperialismus andienen und keine Freund:innen der Arbeiter:innenklasse sind.

Ein solcher Befreiungskampf könnte zur Schaffung von Arbeiter:innenräten führen, die Demokratie, Frauen- Gewerkschafts- und Minderheitenrechte verteidigen und als Organisatoren von Wahlen für  souveräne verfassunggebende Versammlungen mit abrufbaren Delegierten auftreten. Aber freie Wahlen allein werden nicht ausreichen, um die krasse wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zu lösen. Dafür müssen die großen ausländischen Firmen, die die Rohstoffindustrien und Handelsfirmen kontrollieren, unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und in einen Entwicklungsplan aufgenommen werden.

Damit dies eine realistische Perspektive wird, muss die Arbeiter:innenklasse  in Niger und ganz Westafrika revolutionäre Parteien aufbauen, die für das Ziel einer sozialistischen Föderation der gesamten Region kämpfen. Das heißt, Einheit herzustellen über die künstlichen Grenzen der Kolonialzeit hinweg und quer durch die französisch- und englischsprachigen Teilungen. Der Kampf muss aufgenommen werden für die Kontrolle über die gewaltigen natürlichen und industriellen Ressourcen dieser Länder und deren Einplanung in eine massive Hebung des Lebensstandards der Bevölkerungen. Kurzum, eine echte antiimperialistische Revolution muss unausweichlich zu einem Kampf für den Sozialismus auf Grundlage von Arbeiter:innendemokratie in Stadt und Land und bei den einfachen Soldat:innen geraten.

Gerade jetzt brauchen die Arbeiter:innen der afrikanischen Sahelzone die Hilfe und Solidarität der Arbeiter:innenschaft Europas und der USA. In diesen Ländern müssen Sozialist:innen gegen jede Ecowas-Invasion des Niger, gegen jede Beteiligung französischer, EU- oder US-Truppen auftreten und müssen für die Aufhebung aller Sanktionen von dieser Seite eintreten.




50. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma

Anlässlich des 50. Jahrestages der blutigen Zerschlagung der chilenischen Revolution veröffentlichen wir im Folgenden erneut eine Analyse aus dem Jahr 2003. Die darin dargelegten Schlussfolgerungen sind leider weiterhin gültig. Der Putsch des Generals Pinochet kostete Zehntausenden den Tod. Der demokratische Imperialismus der USA und ihrer Verbündeten zeigte einmal mehr sein wahres Gesicht. Die Zerschlagung der Revolution offenbarte aber auch die politische Sackgasse der chilenischen Volksfront unter Allende. Wenn wir heute die Revolutionär:innen, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen und Bäuer:innen ehren, die sich heldenhaften der Konterrevolution entgegenstellten, so müssen wir auch die politischen Lehren aus der Niederlage ziehen, auf dass sie sich nie wiederholen möge.

Hannes Hohn, Infomail 1231, 11. September 2023

Am 11. September 1973 ging in Santiago de Chile der Präsidentenpalast, die Moneda, in Flammen auf. Das Militär unter General Pinochet putschte gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende und errichtete eine blutige Militärdiktatur.

Der Putsch beendete die Hoffnung von Millionen Chilen:innen auf die Umgestaltung des Landes und auf die Einführung des Sozialismus. Stattdessen herrschte in Chile nun Friedhofsruhe. Fast alle demokratischen Rechte wurden von der Pinochet-Junta außer Kraft gesetzt und Gewerkschaften und Streiks verboten. Die Löhne wurden halbiert, während sich die Arbeitszeit gleichzeitig erhöhte. Diese Folgen des Putsches verdeutlichen, in wessen Sinn und Auftrag der Mörder Pinochet handelte: in dem der Kapitalist:innen.

Die Unidad Popular

Im Dezember 1969 verabschiedete die Unidad Popular (UP) ein Programm, das verschiedene Reformen und die Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche vorsah. Letztere betraf auch die US-amerikanischen Anteile von fast 50% am Hauptwirtschaftszweig Chiles, dem Kupferbergbau.

Doch anders, als es viele noch heute glauben, war das Programm der UP kein revolutionär-sozialistisches. Ein solches hätte beinhalten müssen, den bürgerlichen Staat (darunter auch den Gewaltapparat) zu zerschlagen und ihn durch Arbeiter:innenräte und -milizen zu ersetzen. Ein solches Programm hätte auch nicht bei der Verstaatlichung einiger Wirtschaftsbereiche stehen bleiben dürfen; es hätte auf die Enteignung der Bourgeoisie als Ganzes und die Einführung einer demokratischen, auf Räte basierenden Planwirtschaft gerichtet sein müssen.

Das Programm der UP Allendes war, trotz seiner sozialistischen Phraseologie, ein bürgerlich-demokratisches Programm.

Die UP war ein (Wahl)Bündnis aus verschiedenen Parteien und Bewegungen, deren wichtigste Kräfte die Sozialistische Partei (SP) und die stalinistische KP waren. Sie stützte sich sozial v. a. auf die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und die ländliche Armut.

Die Unidad Popular war keine zeitweilige, begrenzte Einheitsfront, sondern ein strategisches (Regierungs)Bündnis zwischen Parteien des Proletariats und offen bürgerlichen Kräften – auch wenn diese wie die „Radikale Partei“ zahlenmäßig relativ bedeutungslos geworden waren.

Damit diese – von Marxist:innen „Volksfront“ genannte – Allianz überhaupt zustande kommen konnte, war ein Programm nötig, das strategische Zugeständnisse an die herrschende Klasse machte: den Erhalt des Privateigentums, soweit es nicht zum ausländischen Großkapital gehörte, und des bürgerlichen Staatsapparats.

Nicht der revolutionäre Sturz des Kapitalismus, sondern der Versuch einer Aussöhnung der unvereinbaren Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie lag der Unidad Popular zugrunde.

Triumph mit Schatten

Im September 1970 wurde sie mit 36,3 % stärkste Kraft im Parlament und Salvador Allende (SP) zum Präsidenten gewählt. Der Sieg der Unidad Popular beruhte jedoch weniger auf der Originalität ihres Volksfrontprogramms, sondern v. a. darauf, dass ihre sozialistischen Versprechungen den Erwartungen der Massen entsprachen.

Seit Ende der 1960er war Chile in Unruhe. Die Wirtschaftskrise und die Verschlechterung der Lebenslage der Massen hatten Folgen: Proteste, Streiks und spontane Landbesetzungen nahmen zu. Die Arbeiter:innenklasse, die städtische und ländliche Armut waren in Bewegung geraten. Nicht verwunderlich also, dass die Massen ihre Hoffnungen auf eine grundsätzliche Wende in „ihre“ vorhandenen Arbeiter:innenparteien, die SP und die KP, projizierten. Als diese sich dann zur UP zusammenschlossen, schienen sie stark genug zu sein, „alles zu wagen“.

Doch die siegreiche Unidad Popular hatte zwei Gesichter. Das eine stand für Reformen. Die Neuerungen fingen bei einem täglichen Liter Milch für Chiles Kinder an und reichten bis zur Enteignung von US-Unternehmen.

Doch die Kehrseite der Politik der UP und ihres Präsidenten Allende sollte bald alle Verbesserungen der ersten Periode der Volksfront in Gefahr bringen. Der alte bürgerliche Staatsapparat nämlich blieb bestehen, v. a. die Machtpositionen der Armee und der Sicherheitskräfte blieben unangetastet – im Gegenzug für ihre „Loyalität“. Trotz aller Verstaatlichungen funktionierte die Wirtschaft immer noch auf kapitalistische Art und große Bereiche der Wirtschaft – v. a. der in Chile große Sektor der Klein- und Mittelbetriebe – blieben, wie sie waren.

Um überhaupt auf parlamentarischem Weg zum Präsidenten gewählt zu werden, war Allende auf die Stimmen nicht nur der Volksfront (einschließlich ihrer bürgerlichen Komponenten) angewiesen, sondern auch auf jene der Christdemokrat:innen, der klassischen Partei der chilenischen „nationalen“ Bourgeoisie. Diese lies sich ihre Zustimmung mit grundlegenden Garantien der bürgerlichen Legalität erkaufen – Unantastbarkeit der bestehenden staatlichen Institutionen (Justiz, Polizei, Armee), Verzicht auf die Bildung von Volksmilizen, Respekt vor den Rechten der bürgerlichen Opposition (Privateigentum an den Medien; Freiheit ihrer Organisationen einschließlich der faschistischen Patria y Libertad).

Der von der Volksfront angestrebte Klassenkompromiss und die Zusicherungen an die chilenische Klein- und Mittelbourgeoisie schienen Allende und seinen UP- Partner:innen ein Garant dafür zu sein, dass Wirtschaft, Staatsapparat und Armee sich verfassungskonform verhalten würden. Anfangs, als die Vertreter der alten Ordnung in der Defensive waren, schien das auch der Fall zu sein. Doch es sollte sich bald ändern.

Volksfront in der Krise

Die Anfangserfolge der UP zogen die Massen ebenso stark an, wie sie die Bourgeoisie abschreckten. Die bürgerlichen Kräfte formierten sich. Die faschistische Bewegung Patria y Libertad (PyL = Vaterland und Freiheit) wurde zum Attraktionspol für alle, die dem Volksfrontprojekt überhaupt den Garaus und alle Reformen und sozialen Errungenschaften rückgängig machen wollten. Die PyL griff mit offenem Terror Arbeiter:innen und Bäuer:innen, Gewerkschafter:innen und Linke an.

Aufgeschreckt durch die Enteignung des US-Kapitals übten die USA Druck auf den Kupferweltmarktpreis aus. Daraufhin verfiel dieser, wodurch Chile enorme Einnahmen entgingen. Zugleich wurden auf Druck der USA zugesagte Kredite zurückgezogen. Auch die chilenischen Kapitalist:innen zogen ihr Kapital aus Chile ab.

Die Folge davon waren leere Staatskassen. Dem versuchte die Regierung durch das Anwerfen der Geldpresse zu begegnen, was verstärkte Inflation zur Folge hatte. Die wirtschaftliche Flaute bewirkte, dass sich immer größere Teile der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums von der UP ab- und der bürgerlichen Opposition zuwandten. Zugleich übten sie auf den Staatsapparat und die Armee immer größeren Druck aus, Allende zu stürzen – ein Militärputsch wurde immer wahrscheinlicher.

Zunächst jedoch gingen nicht Soldaten, sondern (klein)bürgerliche Frauen auf die Straße und protestierten auf demagogische Weise mit leeren Töpfen gegen den Mangel, den sie selbst allerdings weniger verspürten als die Lohnabhängigen und die Armut auf dem Land. Dann – ab Oktober 1972 – streikten die Kleinkapitalist:innen, besonders die Fuhrunternehmer:innen und legten das ganze Land lahm.

Begleitet wurden diese dramatischen Ereignisse durch Komplotte und Intrigen hinter den Kulissen. Eine reaktionäre Allianz von CIA, US State Departement, PyL, Generälen und hohen Staatsbeamten plante Mordanschläge gegen Allende, boykottierte die UP-Politik, terrorisierte Arbeiter:innen und Bäuer:innen, ermordete linke Aktivist:innen und selbst regierungstreue Generäle.

Im Juni 1973 schließlich verhinderten zehntausende Proletarier:innen einen von der Reaktion geplanten Marsch auf Santiago. Diese Monate der Unruhe vor dem Sturm deuteten unübersehbar auf die nahe Entscheidungsschlacht hin. Allende und die UP jedoch hielten weiter an ihren Illusionen von Klassenkompromiss und Verfassungstreue fest.

Die Volksfront hatte ihr Reform-Pulver bald verschossen und geriet immer stärker unter Druck. Auch die Massen wurden nun mit Allendes Reformen zunehmend unzufriedener, ohne jedoch mit der UP politisch zu brechen.

Die Landreform wurde nicht konsequent umgesetzt, wodurch viele Landlose oder Landarme nicht genügend Fläche bekamen, um davon existieren bzw. mit größeren Betrieben konkurrieren zu können. Die Landbevölkerung griff deshalb zu spontanen Besetzungen und bildete gegen die reaktionär-faschistischen Terrorbanden der Reichen Selbstschutzorgane.

Wirtschaftskrise, Inflation und die von den (Transport)Kapitalisten erzeugte Versorgungskrise rief auch die Arbeiter:innenklasse auf den Plan. Sie verlangte nicht nur energische Maßnahmen gegen die Unternehmerboykotte von der Regierung. Sie organisierte sich auch selbst in betrieblichen und Wohngebietskomitees, sie bildete Milizen (die tw. bewaffnet waren), sie besetzte Betriebe und übte die Kontrolle aus – zum Schluss über fast 1.000 Unternehmen!

Wie reagierte Allendes „Regierung des Volkes“ auf diese Ansätze von Selbstorganisation und -bewaffnung der Massen?

Sie verurteilte die „linksradikalen“ Aktionen und rief zur „Mäßigung“ auf, um die Bürgerlichen nicht aufzuschrecken und zu noch größerem Widerstand zu ermuntern. Dabei tat sich die „kommunistische“ Partei besonders negativ hervor. Die PyL wurde nicht energisch bekämpft. Polizei und Armee wurden gegen Arbeiter:innen und Bäuer:innen eingesetzt, die „verfassungswidrig“ Unternehmen oder Land besetzt oder sich bewaffnet hatten.

Trotz aller rhetorischen Aufforderungen Allendes an die Massen, die Unidad Popular zu verteidigen, behinderte er real alles, was gegen die Reaktion nötig gewesen wäre. Gegen die Mobilisierungen der Reaktion und deren Putsch-Vorbereitungen gab es nur ein Mittel: Mobilisierung der Arbeiter:innen und der Landarmut.

Die besetzten Betriebe und Ländereien hätten zu Organisationszentren von betrieblichen und lokalen Räten und Milizen werden und diese regional und landesweit zentralisiert werden müssen. Anders als in der russischen oder auch in der deutschen Revolution gab es jedoch in Chile nie eine zentralisierte Rätestruktur, die als Gegenmachtzentrum zur Staatsmacht hätte fungieren können.

Diese hätte den Widerstand gegen die Konterrevolution landesweit organisieren, die Arbeiter:innen und Bäuer:innen bewaffnen und mittels ihrer bewaffneten Macht den bürgerlichen Staat – v.a. die Armee – zerschlagen oder zumindest eine reale Gegenmacht  organisieren können und müssen. Gegen den Wirtschaftsboykott gab es nur einen Weg: Enteignung der gesamten Bourgeoisie und Einführung einer demokratisch geplanten Wirtschaft.

Politik der Linken

Obwohl einige linke Organisationen, besonders die MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) Elemente dieser Strategie verfolgten, fehlte es an einer politischen Partei, die bereits vor 1973 ein revolutionäres Programm in die Vorhut der Arbeiter:innenklasse hätte tragen können und deshalb im entscheidenden Moment stark genug gewesen wäre, die Führung in der Revolution zu übernehmen. Die MIR, zu denen auch die „Trotzkist:innen“ des Vereinigten Sekretariats (VS) gehörten, pendelte aber zwischen opportunistischer Anpassung an die UP und revolutionärer Politik.

So charakterisierte die MIR die Volksfront in den ersten Monaten als „revolutionäre Volksregierung“. Das war die UP aber trotz unbestreitbarer materieller Verbesserungen für die Massen nie. Die UP war keine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung“, die sich gegen den Kapitalismus wandte und sich auf Machtorgane der Klasse stützte, sondern eine, wenn auch durchaus linke bürgerliche Regierung, die selbst ein Bollwerk gegen die Revolution der Massen bildete.

Die Politik der MIR in den ersten Monaten der Volksfront führte aber dazu, dass die Illusionen der Massen in die Regierung Allende bestärkt und nicht bekämpft wurden. Wenn selbst die „revolutionäre Linke“ die Volksfront als „revolutionäre Regierung“ betrachtete – wozu brauchten die Massen dann Räte und eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung? Erst als sich die Volksfront direkt gegen die Arbeiter:innen wandte, ändert die MIR ihre Politik – aber auch das nur inkonsequent.

Zudem hinderte sie ihre strategische Ausrichtung am Guevarismus daran, die Arbeiter:innenklasse als historisches Subjekt der Revolution zu begreifen und systematisch in diesem Milieu zu arbeiten. Die MIR war im wesentlichen eine Organisation, die unter Student:innen und unter der Bäuer:innenschaft verankert war, kaum jedoch im chilenischen Proletariat, das von SP und KP dominiert wurde.

Das Ende

Schon im Sommer 1973 war die UP-Regierung fast handlungsunfähig. Es gab eine Doppelmachtsituation. Hier die Massen mit wenigen Machtmitteln, ohne landesweite Gegenmachtorgane und ohne konsequente revolutionäre Führung hinter der Regierung Allende; dort die Reaktion, die den Staatsapparat und die Armee beherrschte und zu allem entschlossen war. Die UP unter Allende war keine Speerspitze der Massen gegen den drohenden Putsch, sie wollte noch vermitteln, als es die Entscheidung zu erzwingen galt!

Es ging nur noch um Wochen oder Tage. Doch Allende schürte weiter die Illusion der Verfassungstreue, er mobilisiert die Massen nicht und lullte sie mit seinen demokratischen Beschwörungen im Angesicht der Gefahr ein.

Als dann am 11. September die Moneda bombardiert wurde, blieb Allende mutig auf seinem Posten und rief das Volk noch einmal zur „Verteidigung der Revolution auf“. Doch trotz des verzweifelten Widerstands vieler Arbeiter:innen, gelang es dem Militär Dank seiner Überlegenheit und des rigorosen Terrors bald, das Land vollständig zu kontrollieren. Die Massen waren von der Volksfront zu lange demobilisiert und demoralisiert worden, als dass sie den Schlägen des Militärs hätten standhalten können. Zudem fehlte eine einheitliche politische und militärische Führung in Form einer revolutionären Partei.

Das chilenische Proletariat bezahlte einen hohen Blutzoll für die Illusionen ihrer Volksfront-Führer:innen. Nicht nur Präsident Allende kam um. Zehntausende – Linke, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen, Bäuer:innen – wurden von der Soldateska getötet, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Auf Allendes „halbe Revolution“ folgte eine ganze Konterrevolution.

Allendes Versuch, die gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie wie Feuer und Wasser miteinander zu versöhnen endete damit, dass die Volksfront selbst verdampfte.

Die bittere chilenische Erfahrung ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1930er war die Volksfrontstrategie die vorherrschende Strategie aller stalinistischen Parteien. Ihr lag die Idee zugrunde, dass die Revolution auf zwei separate Phasen „verteilt“ sei. In der Praxis hieß das, den Übergang von der bürgerlich-demokratischen Phase zur sozialistischen bewusst zu blockieren, der Bourgeoisie grundsätzliche Zugeständnisse zu machen und die Massen zurückzuhalten – zugunsten der Illusion, dass der Klassengegner sich loyal verhalten würde. Doch dieser politische Königsweg des Stalinismus als „Alternative“ zur Konzeption der Permanenten Revolution, erwies sich ohne Ausnahme immer nur als Sackgasse, als Weg in eine blutige Niederlage.




Niger: Putsch legt akute Krise offen

Dave Stockton, Infomail 1229, 8. August 2023

Am 26. Juli verhaftete in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, die Präsidentengarde unter der Führung von Brigadegeneral Abdourahamane (Omar) Tchiani Präsident Mohamed Bazoum und setzte ihn ab. Nach kurzem Zögern folgte der Rest der Armee diesem Beispiel.

Staatsstreich

Den Staatsstreich begrüßten zahlreiche Demonstrant:innen, von denen viele von der M62-Allianz (M62: Heilige Union zur Wahrung der Souveränität und der Würde des Volkes) politischer und sozialer Bewegungen organisiert wurden, die sich während der Straßenproteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise im vergangenen Jahr gebildet hatte. Sie schwenkten nicht nur die Flagge Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“ Die Redner:innen forderten, dass die Wagner-Truppen nach Niger kommen sollten, wie sie es in Mali getan haben. Auslöser für den Putsch waren offenbar die Pläne von Präsident Bazoum, die Chefs der Präsidentengarde und der Armee auszutauschen.

Unter den jungen Offizieren der westafrikanischen Streitkräfte gibt es eine Tradition der antikolonialen Politik, die auf Persönlichkeiten wie Thomas Sankara, der Burkina Faso von 1983 – 1987 regierte, oder Jerry Rawlings in Ghana zurückgeht. Sie waren beide von panafrikanistischen Idealen motiviert und von der kubanischen Revolution beeinflusst.

Es ist unwahrscheinlich, dass die heutigen Putschisten durch eine solche Radikalität motiviert sind. Die Vorstellung, dass die Hinwendung zu Wagner oder Putins Russland den Staaten der Region zu Unabhängigkeit oder Entwicklung verhilft, ist in der Tat eine völlige Illusion. Aber das ist auch die Vorstellung, dass Frankreich oder die EU/USA für Demokratie stehen. Sie sind gegen den Putsch, weil Bazoum ihr Mann war.

Kein Wunder also, dass seine größte Hoffnung auf Wiederherstellung seiner Präsidentschaft aus dem Ausland kommt. Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, hat den Staatsstreich sofort verurteilt und jegliche Hilfe für Niger eingestellt. Ein erhebliches wirtschaftliches Druckmittel, da 40 Prozent des nigrischen Staatshaushalts aus ausländischer Hilfe stammen. Emmanuel Macron drohte, dass „jeder Angriff auf Frankreich und seine Interessen nicht geduldet wird“. Seine Verurteilung wurde von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten unterstützt.

Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verhängte Sanktionen, darunter eine Flugverbotszone und Grenzschließungen, und ihr dominierender Staat Nigeria, der 70 Prozent der nigrischen Elektrizität liefert, unterbrach die Stromversorgung, so dass das Land in nächtliche Dunkelheit fiel.

Die Verteidigungsminister der ECOWAS, die in der nigerianischen Hauptstadt Abuja zusammentrafen, drohten mit einer militärischen Intervention, falls Bazoum nicht bis zum 6. August an die Macht zurückkehren würde. Die Frist ist bereits verstrichen, aber bisher gibt es keine Anzeichen für einen Angriff. Als Reaktion auf die Drohungen haben Nigers Nachbarstaaten Mali, Tschad und Burkina Faso jedoch versprochen, dem Land im Falle einer Invasion zu Hilfe zu kommen, wodurch ein umfassender regionaler Krieg droht.

Imperialistische Interessen

Frankreich ist mit 1.500 Soldat:innen in Niger vertreten, die USA mit 1.100. Angeblich sollen sie die nigrischen Streitkräfte ausbilden und bewaffnen, um islamistische Rebellen zu bekämpfen. Brigadier Tchiani hat alle Militärabkommen mit Frankreich aufgekündigt.

Der Grund für die Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht nur in seiner brutalen kolonialen Vergangenheit und auch nicht in den wiederholten militärischen Interventionen in den ehemaligen Kolonien zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ oder zur Rettung französischer Zivilist:innen, sondern in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region und dem Versagen, eine ernsthafte wirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen.

Frankreich hat derzeit rund 30 Unternehmen oder Tochtergesellschaften in Niger, darunter das Konglomerat Orano, das die riesige Uranmine im Tamgakgebirgsmassiv betreibt. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Produktion ist seit langem für die französische Atomindustrie, die 68 Prozent des Stroms des Landes produziert, von großer Bedeutung. Das Land verfügt auch über große Lithiumvorkommen, die aufgrund der schnell wachsenden Elektrofahrzeugindustrie immer wertvoller werden.

Trotz oder gerade wegen dieses immensen natürlichen Reichtums und derjenigen, die ihn ausbeuten, rangiert Niger im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen für 2022 immer noch auf Platz 189 von 191 Ländern. 40 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut.

Ein Wegfall von Niger wäre ein schwerer Schlag für Frankreich und die USA, Großbritannien und Länder wie Deutschland und Italien, die die französischen Streitkräfte in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt haben. Seit den US-geführten Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen hat sich das Zentrum der islamistischen Guerillabewegungen in die Regionen rund um die Sahara verlagert.

Die Anwesenheit der imperialistischen Truppen hat die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu entfacht, zum einen, weil die versprochene Sicherheit ausblieb, zum anderen, weil französische Unternehmen die Region weiter ausbeuten, wo die Armut zunimmt und der Klimawandel (z. B. Ausweitung der Wüste) die Spannungen zwischen der bäuerlichen und der nomadischen Bevölkerung verschärft hat.

Imperialistische Konkurrenz

Diese Bedingungen haben das Vordringen Russlands in die Region begünstigt, und zwar in Form der russischen Söldnergruppe Wagner, die bereits im benachbarten Mali und in der Zentralafrikanischen Republik operiert, wo sie auch die Goldminen des Landes ausbeutet. Vor dem Ukrainekrieg verfügte Wagner über schätzungsweise 5.000 Operationskräfte in Afrika. Bemerkenswert ist auch, dass der Anführer der Organisation, Jewgeni Prigoschin, den Staatsstreich in Niger sofort begrüßte, während Putin vorsichtig vor einer Militärintervention der ECOWAS warnte.

Niger ist ein besonders schwerer Schlag für Macron. Nachdem er gezwungen war, die gemeinsamen „Antiterror“-Operationen mit den fünf Sahel-Staaten aufzugeben, und nachdem er seine Truppen auf demütigende Weise aus Mali zurückziehen musste, hatte er das Land zum Zentrum einer niedrigschwelligeren Operation bestimmt, die sich auf westafrikanische militärische Vertreter:innen mit französischen „Ausbilder:innen“ stützen sollte. Diese sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, an der bis zu 3.500 französische Soldat:innen beteiligt waren. Der stark profranzösische Bazoum sollte der gehorsame Erfüllungsgehilfe dieser Politik sein.

Das gesamte Staatensystem, das früher als „Françafrique“, Frankreichs „Hinterhof“, bezeichnet wurde, ist in den letzten Jahren zusammengebrochen. Frankreichs Banken und Rohstoffkonzerne dominieren jedoch nach wie vor die Wirtschaft dieser Länder. Die westafrikanischen Staaten haben es trotz wiederholter Versuche nicht geschafft, ein gemeinsames, von der französischen Zentralbank unabhängiges Währungssystem zu schaffen. Der CFA-Franc ist nach wie vor die gemeinsame Währung der 14 afrikanischen Länder und dieses System erfordert, dass jedes Land die Hälfte seiner Reserven in Paris hält.

Die Staatsstreiche in Niger und in den umliegenden Staaten sind ein Resultat des halbkolonialen Systems in seiner unverhüllten und ausbeuterischen Form. Aber die Hinwendung zum russischen (oder chinesischen) Imperialismus ist keine Lösung für die Überausbeutung und Plünderung der Region, die Hunderttausende dazu bringt, die Überquerung der Sahara und des Mittelmeers zu riskieren, um Europa zu erreichen. Auch die Militärregime werden sich nicht als resistent gegen Korruption oder Anstiftung dazu durch westliche oder russische Imperialist:innen erweisen.

Die Jugend und die Arbeiter:innenklassen dieser Länder müssen sich über die künstlichen kolonialen Grenzen, über die frankophonen und anglophonen staatlichen Trennlinien hinweg zusammenschließen und dafür kämpfen, die Kontrolle über die enormen Ressourcen dieser Länder zu übernehmen und sie so zu nutzen, dass der Lebensstandard der Bevölkerung massiv angehoben wird. Kurz gesagt, eine wirklich antiimperialistische Revolution muss auch eine sozialistische werden, aber eine, die auf der Demokratie und Herrschaft der Arbeiter:innen in den Städten und auf dem Lande, auf Räten der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und der einfachen Soldat:innen und nicht auf ihrem Offizierskorps beruht.




Tragödie und Farce – der „Wagner“-Putsch

Martin Suchanek, Infomail 1226, 26. Juni 2023

Fast so schnell wie der Spuk begonnen hatte, war er auch vorbei. Am 23. Juni verkündete der Chef und Eigentümer der paramilitärischen russischen Gruppe Wagner, Prigoschin, einen „Marsch für Gerechtigkeit“ auf Moskau an. Auch wenn es hieß, dass sich nicht direkt gegen Putin, sondern „nur“ gegen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow richte, stand ein Putsch im Raum.

Bis zu 25.000 Soldaten mobilisierte die Wagner-Gruppe. Innerhalb weniger Stunden besetzte sie die militärischen Kommandostellen in Rostow/Don, dem Kommandozentrum der Armee im Ukrainekrieg, und rückte auf Moskau vor.

Putin erklärte die Wagner-Truppe zu „Verrätern“ und drohte mit allen erdenklichen Mitteln, um sie zu stoppen und bestrafen. Prigoschin seinerseits kündigte an, alle zu vernichten, die sich einen Söldern in den Weg stellten.

Rund 200 Kilometer vor der Hauptstadt endete der Vormarsch so überraschend, wie er begonnen hatte – mit dem Rückzug der Wagner-Truppen. Vermittelt hatte dieses Ende der Präsident von Belarus, Aljaksandr Lukaschenka. Eine große bewaffnete Konfrontation blieb aus. Die Anklage gegen Prigoschin wurde fallengelassen, die „Aufständischen“ pardoniert. Schließlich hätten sie ja in der Ukraine, in Syrien, Mali und bei sonstigen Schlächtereien „Großes“ für Russland geleistet.

Konflikt im Regime

Der ebenso überraschende wie überraschend abgeblasene Putsch erwischte nicht nur Putin auf dem falschen Fuß. Die gesamte Weltöffentlichkeit spekulierte, immer neue „Nachrichten“, Verlautbarungen, Insider(des)informationen und widerstreitende „Expert:innen“ warten mit ihren Einschätzungen auf. Der amerikanische Geheimdienst sollte schon vorab informiert gewesen sein, heißt es. Andere meinen, auch der russische hätte etwas gewusst. Die einen sprachen von einem Putschversuch, andere meinten, es wäre eher eine inszenierte Auseinandersetzung gewesen. Und wie der Beginn, so gab und gibt auch das Ende des „Marsches für Gerechtigkeit“ Raum zur Spekulation.

Fakt ist, dass die Episode den bisherigen Zenit eines Konfliktes zwischen zwei Flügeln des russischen imperialistischen Militärapparates und Regimes darstellt. Schon seit Monaten hatte Prigoschin den Spitzen der Armee vorgeworfen, in der Ukraine zu versagen, die Lage zu beschönigen, nicht brutal genug vorzugehen und seinen Kämpfern Nachschub vorzuenthalten. Außerdem hätte die Armee die Abzugsrouten von Wagner-Soldaten aus Bachmut vermint. Am 23. Juni beschuldigte Prigoschin das Verteidigungsministerium, einen Angriff auf seine Truppen gestartet zu haben.

Zweifellos zeigt der gesamte Konflikt eine innere Schwäche des russischen Regimes. Der Aufmarsch, die Passivität von Teilen der Armee, der, wenn auch nur zeitweilige, Kontrollverlust über Teile des Landes sind natürlich ein Zeichen der Schwäche für jedes Regime, zumal für ein bonapartistisches, das so sehr auf die „Allmacht“ eines Mannes zugeschnitten ist.

Dazu bedarf es keiner sonderlichen Kenntnisse. Verschärft wird das Problem dadurch, dass der Konflikt nicht gelöst, sondern nur befriedet wurde. Er dürfte zwischen der Armeeführung und der Wagner-Gruppe also weitergehen.

Und auch wenn Putin angeblich schon vor Monaten versucht hatte, ihn durch Vermittlung beizulegen, so darf man nicht vergessen, dass er in mehrfacher Hinsicht selbst eine Ausgeburt des Systems Putin darstellt.

Ursprung und Veränderung der Gruppe Wagner

Der russische Imperialismus hat über Jahre private, paramilitärische, eng mit dem Regime verbundene „Sicherheitskräfte“ aufgebaut. Die Wagner-Gruppe ist sicherlich die bekannteste, aber keineswegs die einzige. Für die Außerpolitik Russlands erfüllten sie über Jahre wichtige Funktionen, erledigten die besonders barbarische Drecksarbeit „privat“, so dass Putin und die Armee für diese „Exzesse“ keine Verantwortung übernehmen, ja sich zur Not sogar davon distanzieren konnten.

Über Jahre agierte u. a. die Wagner-Gruppe am Rande der russischen Legalität. Ironischer Weise war ihr heutiger Intimfeind Gerassimow einer der Inspiratoren ihrer Gründung. Prigoschin selbst bestritt noch bis 2019 irgendwelche Verbindungen zu dieser Organisation.

Die Gruppe Wagner selbst rekrutierte und rekrutiert sich bis heute vornehmlich aus ehemaligen Soldaten und Offizieren der russischen Armee. Auch wenn sie keine offizielle Ideologie hat, so war sie von Beginn an von völkisch-nationalistischen Kräften bis hin zu offenen Faschisten geprägt. Der Name Gruppe Wagner geht auf den ehemaligen Oberstleutnant Dmitri Uktin zurück, der selbst eine Teileinheit der privaten Söldnergruppe Slawisches Korps befehligte und dort den Kampfnamen Wagner führte. Uktin selbst war nicht nur ein Bewunderer des deutschen Komponisten, sondern auch von Adolf Hitler und des Dritten Reiches. Auch wenn die Wagner-Gruppe in ihre Gesamtheit keine faschistische Organisation darstellt, so tummeln sich seit ihrer Gründung russische Rechte darin.

Im Zuge des Ukrainekrieges veränderte sich aber die Größe und Rolle der Söldnertruppe. Es wurden zunehmend auch schlechter ausgebildete Soldaten wie auch Kriminelle in großer Zahl aufgenommen, die oft selbst als Kanonenfutter in der „Truppe“ fungieren. Insgesamt wir die Zahl der Kämpfer im Ukrainekrieg nach unterschiedlichen Quellen auf 30.000 bis 50.000 Mann geschätzt.

Putin als Geburtshelfer

Mit dem rasanten Wachstum veränderte sich zugleich auch die Stellung im System Putin und es steigerte sich auch die Konkurrenz mit dem Militärapparat, der ursprünglich deren Gründung angeregt hatte. Die Verluste im Ukrainekrieg verschärften diese Gegensätze.

Es wäre jedoch verkürzt, diese inneren Widersprüche unter den bewaffneten Kräften des russischen Imperialismus nur als Konflikte zwischen einzelnen Personen oder Institutionen zu betrachten. Das bonapartische Herrschaftssystem Putin hat lange selbst Konflikte und  Konkurrenz unter seinen Gefolgsleuten befeuert. Das funktioniert auch solange, als diese über ein gewisses Maß nicht hinausgehen. Putin kann dann als der „neutrale“, „vernünftige“ Schlichter auftreten und sich so als unersetzlicher Garant für Stabilität nicht nur für seine Gefolgsleute, sondern auch für die Bevölkerung beweisen.

Doch diese Konflikte haben im Ukrainekrieg eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, die am 23. Juni für einige aus dem Ruder gelaufen ist und – letztlich entgegen der Intention aller Beteiligten – auch das Herrschaftssystem des russischen Imperialismus als schwach erscheinen ließ.

Dass der Putschversuch unblutig endete, gibt ihm nicht nur einen unfreiwillig komödiantischen Touch. Der Ausgang verdeutlicht auch, dass letztlich alle Beteiligten das System Putin nicht ersetzen, sondern nur ihre Position darin behaupten wollen. Beschädigt wurde es jedoch.

Die Unternehmung der Gruppe Wagner verdeutlicht, dass Teile des bewaffneten Apparates wie auch der wirtschaftlichen Elite auch über Alternativen zu Putin nachzudenken beginnen – inklusive solcher, die einen womöglich noch barbarischeren Kurs verfolgen. Zweitens verweist sie auf eine tief sitzende Unzufriedenheit unter Soldaten an der Front, was für jedes Regime eine Gefahr darstellt. Für den Krieg in der Ukraine bedeutet das keineswegs eine Entspannung von russischer Seite. Kurzfristig ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Kriegsanstrengungen des russischen Imperialismus eher noch verstärkt werden, um die eigenen Eroberungen gegen die ukrainischen Gegenangriffe zu halten. Davon hängt heute das Regime Putin noch mehr ab als vor dem „Wagner“-Putsch.




Sudan: Krieg der Generäle erschüttert Illusion in friedlichen Übergang

Andy Young, Infomail 1221, 26. April 2023

Am 15. April griffen sich die regulären sudanesischen Streitkräfte (SAF) und die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) gegenseitig mit Luftangriffen, schwerem Beschuss und Feuergefechten in den Straßen der Hauptstadt Khartum sowie in anderen Städten und Regionen an.

Beide Seiten haben keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in den dicht besiedelten Gebieten genommen und sie in ihren Häusern eingeschlossen, so dass sie nicht in der Lage waren, sich Lebensmittel, Wasser oder medizinische Versorgung zu beschaffen. Innerhalb weniger Tage wurden Hunderte von Zivilist:innen getötet und die Straßen sind noch gefährlicher geworden, so dass eine Flucht vor den Kämpfen kaum mehr möglich ist. Anderswo, auch in Darfur, sollen Tausende Flüchtlinge die Grenzen des Landes überschreiten.

Die Kämpfe zeigen, wie zynisch die Behauptung des Militärs ist, einen „Übergang zur Demokratie“ zu vollziehen. In Wirklichkeit wurde die demokratische Revolution von 2019 mit dem Militärputsch vom 25. Oktober 2021 unter der Führung von General Abdel Fattah Burhan von der SAF und Mohamed Hamdan Daglo von der RSF, auch bekannt als Hemetti, zu Ende gebracht. Beide vertreten Fraktionen, die die großen Goldreserven des Sudan sowie Öl und andere Mineralien ausbeuten. Jetzt haben sich diese Diebe zerstritten und lassen ihr Volk den Preis dafür zahlen.

Diese Entwicklung hat einmal mehr gezeigt, wenn während einer Massenrevolution des Volkes die Kontrolle der Generäle über die Armee nicht gebrochen wird und die einfachen Soldat:innen nicht zu den Aufständischen überlaufen, eine Konterrevolution folgt wie die Nacht auf den Tag. Nur wenn die Generäle sich in ihren internen Konflikten erschöpfen, die Soldat:innen sich gegen das Töten auflehnen und die Massen wieder auf die Straße gehen können, besteht Hoffnung, den revolutionären Vormarsch wieder aufzunehmen.

Aber dieses Mal dürfen sie nicht aufhören, bis sie mit ihren eigenen Widerstandskomitees, denen sich die Delegierten der Soldat:innen anschließen, die Macht übernommen haben. Nur eine siegreiche Revolution der Arbeiter:innen und Bäuer:innen kann den Völkern des Sudan dauerhaften Frieden, demokratische Rechte und soziale Entwicklung bringen und die Völker in allen umliegenden Regionen zur Nachahmung anregen.

Bürger:innenkrieg

Die sudanesischen Streitkräfte (SAF) unter Burhan werden von seinem Verbündeten Ägypten ausgebildet und verfügen über schwerere Waffen, darunter Panzer und die Luftwaffe, die der RSF fehlen. Aber die 100.000 Personen starke RSF unter Hemetti ist kein Schwächling. Als Veteran:innen der Aufstandsbekämpfung und ethnischen Säuberung in Darfur und anderen Regionen haben bis zu vierzigtausend RSF-Soldat:innen im Jemen im Auftrag Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gekämpft.

Die VAE sind Hemettis Gönner und der Hauptabsatzmarkt für das Gold aus den von ihm kontrollierten Minen, was seine Familie zu einer der reichsten im Sudan macht. Dieser Reichtum hat seinen Streitkräften beträchtliche Unabhängigkeit von der SAF und dem sudanesischen Staat verschafft. Die Elite in Khartum mag die RSF als provinzielles „Gesindel“ betrachten, aber sie sind eine kampferprobte, gut ausgebildete und mit gepanzerten Fahrzeugen ausgestattete Truppe. Auch Hemettis Verbindungen zur mächtigen russischen Söldnergruppe Wagner, die gemeinsam die Minen im Sudan und in der Zentralafrikanischen Republik ausbeuten, können mehr Ausrüstung und Fachwissen, einschließlich Hubschraubern, liefern.

Hemetti, Sohn eines lokalen Häuptlings und Kamelhändlers, begann seine Karriere als Mitglied der um Ressourcen und Beute kämpfenden Stammesmilizen der „Dschandschawid“, die während des 2003 in Darfur ausgebrochenen Krieges in Erscheinung traten. Diese für ihre Grausamkeiten berüchtigten Milizen wurden 2013 von dem brutalen Diktator Omar (Umar) al-Baschir in der RSF organisiert und in die Hauptstadt und andere Großstädte gebracht, wo sie inzwischen Stützpunkte eingerichtet haben. Allein in Khartum sind 20 000 RSF-Kräfte stationiert. Al-Baschirs Ziel war es, sich vor Putschen des Militärs und einer wachsenden Opposition auch in Teilen der herrschenden Klasse zu schützen.

Doch Burhan und Hemetti wandten sich gemeinsam gegen al-Baschir und stürzten ihn im April 2019 in einem Präventivputsch, um eine Massenrevolution zu verhindern. Seitdem waren die RSF-Kräfte in einige der schlimmsten Angriffe auf die demokratische Volksbewegung verwickelt, darunter das Massaker vom 3. Juni 2019 in Khartum bei dem Versuch, die Revolution niederzuschlagen und die Militärherrschaft aufrechtzuerhalten, wobei mehr als hundert Demonstrant:innen getötet wurden.

Hemetti mag ein kriminelles Subjekt und Kriegsverbrecher sein, aber er ist nicht dumm. Sein erster Schachzug, der den Konflikt auslöste, war der Angriff auf Luftwaffenstützpunkte, wobei er sich auf Merowe konzentrierte und dabei zahlreiche ägyptische Truppen und Ausbilder:innen in seine Gewalt brachte. Burhan verfügt jedoch weiterhin über ausreichende Luftstreitkräfte, um Stützpunkte und Stellungen der RSF in Khartum, Omdurman und mehreren anderen Städten zu beschießen und zu bombardieren, und er hat die Kontrolle über einige Fernseh- und Radiosender, die neben Stützpunkten und Flughäfen ein Hauptziel der RSF-Revolte sind, aber auch die RSF verfügt über Kanäle für ihre Propaganda. Beide haben Verhandlungen ausgeschlossen, es ist ein Kampf auf Leben und Tod.

Regionale Hinterleute

Es gibt Berichte, dass die ägyptische Luftwaffe Burhan unterstützt und RSF-Depots angegriffen hat, während andere behaupten, dass Hemetti Waffen vom libyschen Armeechef Chalifa Hafta erhalten hat. Hemetti hat bereits Unterstützung von bewaffneten Oppositionsgruppen in den vom Krieg zerrissenen Gebieten Südkordofan (Dschanub Kurdufan) und Blauer Nil sowie im Osten gesucht, wo Milizen, die sich auf das Volk der Beja (Bedscha) stützen, Port Sudan (Bur Sudan) besetzt haben.

Die sudanesische Küste des Roten Meeres ist ein strategisch wichtiges Gebiet für ausländische Mächte, wobei die Genehmigung für einen russischen Marinestützpunkt seit 2019 in der Schwebe ist. Das nahegelegene Dschibuti, das an der Bab-al-Mandab-Straße liegt, die den Golf von Aden vom Roten Meer trennt, kontrolliert die Zufahrten zum Suezkanal. Daher beherbergt das Land einen chinesischen Marinestützpunkt, einen französischen Luftwaffenstützpunkt, einen italienischen und einen japanischen Stützpunkt. Und nicht zuletzt ist Camp Lemonnier die Heimat der „Vereinigten Kombinierten Eingreiftruppe am Horn von Afrika“ des U.S. Afrika-Kommandos, der einzigen ständigen U.S. Militärbasis in Afrika.

Wenn Hemetti sich erfolgreich verschanzt, könnte die Hilfe der USA, Großbritanniens, Chinas und Russlands sowie ihrer regionalen Verbündeten es den beiden Seiten ermöglichen, ihren Kampf fortzusetzen.

Hemetti appelliert jedoch an die Beendigung des Konflikts, die Wiederaufnahme des Übergangs, die Durchführung von Wahlen und an die unterdrückten Minderheiten in den Regionen. Dies könnte jedoch ein Zeichen dafür sein, dass die RSF in den Seilen hängt. Einige Kommentator:innen berichten, die SAF kontrolliere alle fünf Hauptstädte der Provinzen in Darfur, ein Gebiet, das die RSF eigentlich beherrschen sollte. Ein auf Al Jazeera (Al Dschasira) zitierter Analyst erklärte, die RSF habe keine Stützpunkte mehr, sondern nur noch Truppenteile „ohne Führung oder zentrales Kommando“.

Zweifellos würden Millionen einfacher Sudanes:innen jedes Ende der Kämpfe und des Leids begrüßen, aber ein Sieg von Burhan oder Hemetti, geschweige denn eine Annäherung zwischen ihnen, wird weder die demokratischen Rechte bringen, für die Arbeiter:innen, die Jugend und die Armen des Sudan seit 2019 kämpfen, noch eine Befreiung von der immer tieferen Armut, die durch Inflation, Schulden und vom Internationalen Währungsfonds erzwungene Sparmaßnahmen verursacht wird. Burhan klebt ebenso viel Blut an seinen Händen wie Hemetti und war für Baschirs Regime und dessen Völkermord ebenso wichtig, da er als Oberst des militärischen Geheimdienstes von 2003 bis 2005 die Angriffe der Armee und der Milizen in West-Darfur koordinierte.

Die demokratische Fiktion

Der Krieg zwischen Burhans SAF und Hemettis RSF ist nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen zwei „starken Männern“, sondern die bittere Frucht der unvollendeten Revolution von 2019. Nachdem Massenkämpfe und Streiks die SAF-Soldat:innen zu beeinflussen begannen, wurde im August ein Kompromiss geschlossen, dem zufolge Burhan und Hemetti als Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender einen „Souveränitätsrat“ beaufsichtigen, der zur Hälfte aus Militärs und zur Hälfte aus Zivilist:innen besteht, sowie den dreijährigen „Übergang“ zur Demokratie bis 2022.

Diese Strategie, die von den liberalen und reformistischen Führer:innen der Kräfte für Freiheit und Wandel und ihren US-amerikanischen und britischen Unterstützer:innen vorangetrieben wird, hat sich für die arbeitenden Menschen im Sudan als eine sehr blutige Sackgasse erwiesen. Was viele Arbeiter:innen, die 2019 kämpften, im August 2019 widerwillig als Notwendigkeit akzeptierten, um Blutvergießen zu vermeiden, hat das Militär und die Sicherheitsdienste intakt gehalten und die wiederholte Tötung von Demonstrant:innen nicht nur durch die RSF-Truppen, sondern auch Polizei und SAF ermöglicht.

Im September 2021 erklärte der Außenminister der Übergangsregierung, Mariam Sadiq al-Mahdi (Sadiq Abd ar-Rahman) von der Umma-Partei, dummerweise, dass der Sudan mit seinem gemeinsamen militärisch-zivilen Übergang „putschsicher“ geworden sei. Weniger als einen Monat später stürzte Burhan mit Hemettis Unterstützung die Zivilregierung, bevor er einen neuen „Übergangs“-Rat mit handverlesenen, loyalen Zivilpolitiker:innen ernannte und sogar den Premierminister und UN-Wirtschaftsexperten Abdalla Hamdok zur Rückkehr bewegen konnte, bis ihn Massenproteste im Januar 2022 zum Rücktritt zwangen.

Laut Sara Abdelgalil, einer Sprecherin der Sudanesischen Berufsvereinigung (SPA) im Jahr 2022, hat es „keine Reform der Justiz und keine Reform des Sicherheitssektors“ gegeben. Die Gerichte haben mehrere islamistische Führer freigesprochen, darunter auch den ehemaligen Vorsitzenden der Nationalen Kongresspartei (NCP), Ibrahim Ghandour, der den Staatsstreich von 2021 vorhersehbar als „Korrektiv“ unterstützte. Seit dem Putsch hat Burhan Schlüsselpositionen mit alten Baschir-Anhängern besetzt, vom Außenminister über den Gouverneur der Zentralbank bis hin zu den Ministern für Arbeit, Handel und Kabinettsangelegenheiten. Entscheidend ist, dass der Direktor des allgemeinen Nachrichtendienstes und der Leiter des Justizwesens beide aus der Baschir-Ära stammen und direkt für die Rehabilitierung der Figuren des alten Regimes oder die Unterdrückung von Aktivist:innen der Demokratiebewegung verantwortlich sind. Der Korruptionsuntersuchungsausschuss wurde kalt gestellt und neben diesen hochkarätigen Ernennungen wurden Hunderte von Beamt:innen aus der NCP-Ära, die wegen Korruption aus dem Amt entfernt worden waren, wieder eingesetzt. Die Sudan-Wissenschaftlerin Willow Berridge wies auf ein offenes „Iftar“ (Ramadan-Essen) hin, das von NCP-Führer:innen kurz vor dem Staatsstreich in dem Bezirk Kobar, in dem Baschir inhaftiert ist, veranstaltet wurde.

Hemetti hat jede politische Karte ausprobiert, um seine Position zu stärken, einschließlich des Vorwurfs, Burhan bringe die Islamisten zurück. Doch schließlich hat die alte Baschir-Hierarchie nichts übrig für diese verräterischen Dschandschawid. Unter dem Druck der „Viererbande“ aus den USA, dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Arabischen Emiraten und den Saudis stimmte Burhan am 5. Dezember 2022 einem anderen Plan für einen Übergang zu, einem „Rahmenabkommen“, das den Übergang noch weiter in die Zukunft verschob. Da dieser Plan jedoch eine frühzeitige Verschmelzung der RSF mit den Streitkräften vorsieht, wodurch Hemetti seine unabhängige Machtbasis verlieren könnte, von der aus er die Wirtschaft ausplündern kann, war nach Ablauf der Frist am 11. April eine große Auseinandersetzung unvermeidlich.

Permanente Revolution

Die Gewerkschaften und Widerstandskomitees, die die Revolution 2019 mobilisiert haben, wurden während des Putsches gezwungen, sich in Hilfsorganisationen zu verwandeln, die die Menschen mit Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe versorgen und die Zivilbevölkerung schützen. Wenn dies möglich ist, sollten sie sich mit den einfachen Soldat:innen verbrüdern und, wo immer möglich, politische Proteste organisieren, um Nahrung, Wasser und Krankenhäuser zu fordern und diese Dienste unter ihre eigene Kontrolle zu stellen.

Wenn Burhan gewinnt, aber ein Bürger:innenkrieg mit den RSF-Truppen an der Peripherie ausbricht, sollten diese fortschrittlichen Kräfte den Massenkampf für volle demokratische Rechte und Klassenforderungen nach sozialen Rechten, Arbeitsplätzen und Gewerkschaftsrechten wiederbeleben. Ein solcher Kampf ist die beste Voraussetzung, um die Widerstandskomitees in echte Räte der Massen (Sowjets) umzuwandeln, die von der organisierten Arbeiter:innenklasse geführt werden und die Autorität besitzen, sich an die wehrpflichtigen Soldat:innen, die Söhne und Töchter der arbeitenden Massen zu wenden. Das setzt voraus, dass die Widerstandskomitees zu einem nationalen Kongress von Fabrikkomitees und Räten ausgebaut werden, die sowohl die Macht als auch das produktive Eigentum der Generäle, Großgrundbesitzer:innen und Kapitalist:innen an sich reißen können.

Sozialist:innen im Sudan müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Wiederherstellung der Revolution und der Widerstand gegen den Bürger:innenkrieg eine Auseinandersetzung mit den militärischen Befehlshabern beider Seiten, die Ablehnung der bürgerlichen Politiker:innen aller Couleur, aber auch das Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Minderheiten bedeuten. Die Position der einflussreichen sudanesischen Kommunistischen Partei, die sich auf die stalinistische Strategie einer Revolution stützt, bietet eine reaktionäre Utopie: „eine professionelle, einheitliche nationale Armee auf der Grundlage von Kompetenz, Integrität und nationalem Bekenntnis, unabhängig von parteipolitischen, regionalen, nationalen, kommunalen und stammesbezogenen Zuordnungen“. In Wirklichkeit brachten die Arbeiter:innen und Bäuer:innen ihre eigenen Milizen und müssen die Soldat:innen vom Kommando ihrer reaktionären Offiziere brechen.

Nach dem gescheiterten Experiment des Zusammenlebens von ziviler und militärischer Herrschaft können Millionen erkennen, dass die Einführung der Demokratie die Zerschlagung des gesamten repressiven Staates mit den korrupten Generälen in seinem Zentrum bedeutet. Nur eine revolutionäre verfassunggebende Versammlung, organisiert von einer revolutionären Arbeiter:innenregierung, kann die brennenden Fragen der Demokratie, des Eigentums und der Unterdrückung lösen. Sie könnte die Bodenschätze des Sudan, seine Industrie und die großflächige Landwirtschaft in der Kornkammer Gezira für einen demokratischen Plan für die Bedürfnisse der Massen unter Führung der Arbeiter:innenklasse nutzbar machen und die Ausbeutung des Reichtums des Landes durch die räuberische Elite und die westlichen Banken beenden. Sie könnte eine wichtiges Sprungbrett für die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung werden, die sich auf Räte stützt. Dieser sozialistische Übergang kann durch die Ausweitung der Revolution auf Afrika und den Nahen Osten dauerhaft gemacht werden.




Peru: Die Massen verstärken den Widerstand gegen die Machthaber:innen

KD Tait, Infomail 1213, 13. Februar 2023

Peru ist in eine tiefe Krise gestürzt, nachdem der linke Präsident Pedro Castillo am 7. Dezember durch einen Staatsstreich des Parlaments (Kongress) abgesetzt worden war.

Bereits seit sechs Wochen protestieren und blockieren Arbeiter:innen sowie Bäuerinnen und Bauern im ganzen Land und fordern die aktuelle „Präsidentin“ Dina Boluarte – Castillos ehemalige Stellvertreterin – dazu auf, Neuwahlen und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung anzuordnen.

Die Reaktion der Regierung bestand darin zu versuchen, die Bewegung in Blut zu ertränken. Mehr als 50 Menschen wurden bisher getötet, darunter vor allem Mitglieder der bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen, der so genannten rondas campesinas, aber auch Unbeteiligte, wurden von der skrupellosen Polizei erschossen, die die Bevölkerung durch Terror zur Aufgabe zwingen will.

Zusammenstöße und Proteste

Am Mittwoch, den 18. Januar 2023, wurden die 35-jährige Sonia Aguilar und der 60-jährige Salomon Valenzuela nach einem friedlichen Protest in der südlichen Provinzhauptstadt Macusani von Scharfschütz:innen der Polizei erschossen. Diese kaltblütigen Morde haben die örtliche Bevölkerung derart aufgebracht, dass sie das Justizgebäude und die Polizeistation niederbrannte und die Polizei aus der Stadt vertrieb.

Dies ist nur einer von vielen vergleichbaren Vorfällen, die die Zustimmung zu den Protesten verstärken, die bisher am stärksten von den indigenen Aymara und Quechua im ländlichen Süden und in den Hochebenen der Anden getragen wurden, welche ihrerseits 2021 in großer Zahl für Castillo gestimmt haben.

Am 19. Januar kam es jedoch zu einer Ausweitung der Proteste, als die Campesinos ihren Kampf im Rahmen eines landesweiten Generalstreiks, der von den wichtigsten Bauernorganisationen und dem Gewerkschaftsverband CGTP unterstützt wurde, auf die Straßen der Hauptstadt Lima brachten.

Diese Demonstration wurde in Anlehnung an die Proteste aus dem Jahr 2000, die die neoliberale Fujimori-Regierung zu Fall brachten, als „Kundgebung der 4 Suyos“ bezeichnet. Ab Montagabend versammelten sich Zehntausende Bäuerinnen/Bauern und Arbeiter:innen in Lima, wo sie solidarisch von Anwohner:innen empfangen und in Universitätsgebäuden untergebracht wurden.

Die Regierung Boluarte, die von der politischen, juristischen und militärischen Elite des Landes unterstützt wird, hatte zuvor den Ausnahmezustand verhängt, Blockaden an den Hauptzufahrten zur Hauptstadt errichtet und ein Aufgebot von 12.000 militarisierten Polizist:innen, ausgerüstet mit Gewehren, Tränengas und gepanzerten Fahrzeugen, zusammengezogen.

All dies konnte die Delegationen aus den Provinzen jedoch nicht abschrecken, denen sich bei der Demonstration eine große Zahl von Arbeiter:innen und Jugendlichen aus der Hauptstadt anschloss. Ein Versuch, zum Kongress zu marschieren, wurde durch Polizeibarrikaden und Tränengas verhindert. Die Demonstration wurde von der Polizei angegriffen und artete in eine Schlägerei aus, bei der sich die Demonstrant:innen mit selbstgebauten Schilden verteidigten.

Der Aktionstag wurde darüber hinaus im ganzen Land begangen, mit Massenprotesten in vielen regionalen Hauptstädten. Im Süden des Landes wurden Versuche, die örtlichen Flughäfen zu besetzen, mit Schüssen beantwortet: Dabei wurde in der zweitgrößten Stadt der Region Arequipa der 30-jährige Jhancarlo Condori Arcana durch einen Bauchschuss getötet.

Am späten Abend des 19. Januar hielt Boluarte eine Fernsehansprache, in der sie die Proteste als einen Versuch von Gesetzesbrecher:innen bezeichnete, Unruhe zu stiften und die Macht an sich zu reißen. Sie erklärte, ihre Regierung bleibe „fest und geschlossener als je zuvor“. Als Reaktion auf das weitere Erstarken der Opposition weitete sie aber den Ausnahmezustand auf drei weitere Regionen aus und stellte damit fast ein Viertel des Landes unter Kriegsrecht.

Ein Putsch der herrschenden Klasse

Peru befindet sich seit dem Ende des Rohstoffbooms im Jahr 2014 in einer tiefgreifenden sozialen und politischen Krise. Das Land ist der zweitgrößte Kupferproduzent der Welt und ein bedeutender Lieferant von wichtigen Mineralien wie Gold, Zinn und Zink sowie von Gas. Allerdings ist seine Landwirtschaft stark von Getreide- und Düngemittellieferungen abhängig, die durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die von den USA verhängten internationalen Sanktionen unterbrochen wurden.

Die akute Wirtschaftskrise wurde bereits durch die Coronapandemie weiter verschärft. Der Anteil der im informellen Sektor beschäftigten Bevölkerung stieg fast über Nacht von 75 % auf 90 %. Das überforderte Gesundheitssystem brach faktisch zusammen, so dass Peru die weltweit höchste Coronatodesrate pro Kopf aufwies. Der Mangel an lebenswichtigen Gütern, der in den von der indigenen Bevölkerung bewohnten ländlichen Gebieten bereits gravierend war, breitete sich auf die Armenviertel der Großstädte aus.

Die großen Parteien gerieten zunehmend in Verruf, wurden von Korruptionsvorwürfen erschüttert, lösten und stellten sich bei jedem Amtsenthebungsverfahren und jeder Parlamentsauflösung neu auf.

Vor diesem Hintergrund wurde Pedro Castillo, ein Lehrer und Gewerkschaftsführer, im Juli 2021 gewählt, wobei er Keiko Fujimori, die Kandidatin der Oligarchen und multinationalen Bergbauunternehmen, knapp besiegte. Seine Wahl bedeutete eine Revolte der indigenen und städtischen Armen gegen die neoliberale Politik, die die ländlichen Gebiete weiter verarmt und die Mittel- und Oberschicht bereichert hat.

Castillos Anziehungskraft beruhte weitgehend auf seinem Ruf als unbestechlicher Außenseiter und Kämpfer für die Interessen der Armen, den er sich als Anführer des Lehrerstreiks 2017 erworben hatte. Sein politisches Programm war vage. Es beschränkte sich darauf, eine neue Verfassung vorzuschlagen, den Bergbausektor zu verstaatlichen und dies mit einem konservativen, gesellschaftspolitischen Programm zu verbinden, das sich u. a. gegen die Liberalisierung des Abtreibungsrechts, die gleichgeschlechtliche Ehe, die Abschaffung der Privilegien der katholischen Kirche aussprach.

In der Verfassung von 1993 ist das neoliberale Modell verankert, mit dem die riesigen natürlichen Ressourcen Perus von ausländischem Kapital und seinen peruanischen Agent:innen geplündert wurden. Reformen waren bereits früher vorgeschlagen worden, aber nie zustande gekommen. Trotz dieses zaghaften Programms und der schwachen, von einer Koalition abhängigen Partei waren die peruanischen Eliten, die Oligarch:innen, die Grundbesitzer:innen, der Unternehmerverband und ihre ausländischen Agent:innen entschlossen, nicht das Risiko einzugehen, dass Castillos Anhänger:innen seine Wahl als Signal verstehen könnten, sich das zu nehmen, was ihnen rechtmäßig gehört. Er musste mit allen Mitteln verschwinden.

Nachdem es der Oligarchie mit ihrer hysterischen antikommunistischen Kampagne nicht gelungen war, die Wahl Castillos zu verhindern, griffen sie auf die Methoden rechter Möchtegerndiktatoren wie Donald Trump und Jair Bolsonaro zurück: Sie prangerten die Wahl als Fälschung an, ungeachtet von Beweisen.

Die Anhänger:innen der rechten Parteien, die sich überwiegend aus spanischsprachigen Mittelschichten aus Lima und den Küstenstädten zusammensetzen, Nachfahr:innen der alten Siedlerelite, veranstalteten eine Reihe gewaltsamer Kundgebungen, bei denen das Konquistadorenkreuz und der Hitlergruß ihre rassistische Angst vor einer Übernahme des „europäischen“ Peru durch kommunistische „Indianer:innen“ zum Ausdruck brachten.

Das Scheitern der „Rosa Welle“

Von Anfang an war Castillo ein Gefangener der peruanischen Kapitalist:innen und ihrer Justiz, Polizei und ihres Militärs. In 16 Monaten ernannte er fünf verschiedene Kabinette, ernannte 80 Minister:innen, überstand zwei Amtsenthebungsverfahren und verließ seine Partei Perú Libre (Freies Peru).

Seine immer weiter nach rechts gerückten Ernennungen, darunter auch vom IWF vorgeschlagene „Expert:innen“, führten zu immer neuen Vorwürfen der Vetternwirtschaft und Korruption. Sein Versuch, sich die Gunst Washingtons zu sichern, indem er gemeinsam mit anderen Präsidenten der links-populistischen „Rosa Welle“ wie Gabriel Boric in Chile und Gustavo Petro in Kolumbien die venezolanische Regierung als „undemokratisch“ anprangerte, unterstrich nur seine Schwäche und Abhängigkeit vom Imperialismus.

Dies wurde durch seine Zustimmung zu einer neuen US-Militärmission auf peruanischem Boden zur Ausbildung der Armee und der Polizei des Landes noch verstärkt: eine auf Jahrzehnte angelegte Maßnahme, die die Kontrolle der USA über einen repressiven Sicherheitsapparat zementiert, auf den man sich bei der Verteidigung der Interessen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten in der Region verlassen kann.

Anstatt seine Anhänger:innen zu mobilisieren, um den Widerstand der Oligarchie durch die Besetzung und Enteignung ihres Eigentums zu brechen, versuchte Castillo, die Kräfte zu beschwichtigen, die sich für seinen Sturz einsetzen. Im November bat er die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), eine Abteilung des US-Außenministeriums, die für ihre Beteiligung an von der CIA organisierten Staatsstreichen berüchtigt ist, ihn gegen „eine neue Art von Staatsstreich“ zu verteidigen.

Ihre Antwort vom 1. Dezember, in der sie zu einem „politischen Waffenstillstand“ aufrief und davor warnte, dass die Aktionen beider Fraktionen „den demokratischen Institutionalismus“ Perus gefährdeten, wurde von allen Seiten als Weigerung gewertet, Castillo zu unterstützen, und gleichzeitig als Signal, dass man sich seinem Sturz nicht widersetzen würde.

Am 7. Dezember, angesichts seiner Lähmung und eines dritten Amtsenthebungsverfahrens gegen ihn, handelte Castillo mit unwahrscheinlicher Entschlossenheit, aber seiner charakteristischen Naivität: Er verhängte den Ausnahmezustand, um per Dekret bis zu Neuwahlen zu regieren. Doch ohne die Unterstützung von Armee und Polizei war Castillos 18. Brumaire ein Fiasko, das in einer Gefängniszelle endete, nachdem die Präsidentengarde, die ihn zu seinem Asyl in der mexikanischen Botschaft eskortieren sollte, ihn stattdessen im Polizeipräsidium ablieferte.

Castillos schmachvolles Ende beweist drei Dinge:

Erstens, dass die neue sogenannte „Rosa Welle“ der Linkspopulist:innen ebenso wenig willens oder fähig ist, notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Länder von imperialistischen Plünderungen zu befreien, wie ihre Vorgänger:innen.

Zweitens, dass der US-Imperialismus und seine lokalen Agent:innen in der Zeit drastischen wirtschaftlichen Abschwungs und zwischenimperialistischer Rivalität immer brutalere Mittel zur Unterdrückung der steigenden Flut von Kämpfen vorbereiten, die diese „pinken Linken“ vorerst auf die Chefsessel gebracht haben.

Drittens: Wenn die Arbeiter:innen, die Armen in den Städten und auf dem Lande, nicht mit dem Populismus brechen und ihre eigenen, bewussten politischen und kämpferischen Organisationen aufbauen, werden sie in die Vernichtung geführt, da demokratische Methoden von den aktuellen Machthaber:innen des Kontinents aufgegeben werden.

Sackgasse

Peru wird heute von einer Koalition aus Machthaber:innen regiert, die vordergründig zwar von Castillos ehemaliger Stellvertreterin Dina Boluarte angeführt wird, in Wirklichkeit aber von den rechtsextremen Fujimoristas, den Konzernmedien und der Nationalen Vereinigung für Bergbau, Erdöl und Energie (Sociedad Nacional de Minería, Petróleo y Energía; kurz: SNMPE) gesteuert wird, auf deren Unterstützung sie angewiesen ist.

Trotz der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit Castillo zum Zeitpunkt seiner Verhaftung – Forderungen nach seiner Freilassung sind nicht mit solchen nach seiner Rückkehr an die Macht verbunden – erkennen die Armen auf dem Land und in der Stadt, insbesondere in den indigenen Gebieten, den eigentlichen Charakter der Ereignisse: Ein vom Volk gewählter Präsident, der sabotiert und in eine ohnmächtige Marionette der Oligarch:innen und Konzerne verwandelt wurde, ist abgesetzt worden, um Platz für die Rückkehr der verhassten Fujimoristas und Faschist:innen zu machen, die sich der Verteidigung der Profite des Monopolkapitals verschrieben haben, indem sie die Verarmung der Indigenen, der Arbeiter:innen und der Armen verschlimmern.

In jeder Hinsicht folgen die herrschende Klasse und ihre CIA-Berater:innen dem Drehbuch, das während des Putsches gegen den bolivianischen Präsidenten Evo Morales im Jahr 2019 ausgearbeitet wurde – der selbst beschuldigt wird, in Peru den „Separatismus“ zu schüren –, was einen klaren Angriff auf die von ihnen verachtete indigene Bevölkerung darstellt.

Auf Betreiben der Bergbauunternehmen, die am 20. Januar die Rückkehr zur „Rechtsstaatlichkeit, zum Prinzip der Autorität und der Regeln in einem Umfeld des sozialen Friedens“ forderten, hat die Regierung das Kriegsrecht auf weite Teile des Landes ausgedehnt und Polizeikräfte eingesetzt, die Dutzende unbewaffnete Demonstrant:innen massakrierten. Hunderte von Menschen wurden verhaftet. Bei der jüngsten Razzia wurden mehr als 200 Personen in der Universität San Marcos in Lima verhaftet, wo sich Student:innen und Demonstrant:innen aus dem Landesinneren versammelt hatten.

Die mörderische Repression hat es jedoch nicht geschafft, die Opposition zu unterdrücken, und die diskreditierten etablierten Parteien können keine Unterstützung der Bevölkerung für eine neue Regierung erreichen. Die „demokratische“ Lockvogeltaktik, Castillo durch einen gefügigeren Abgeordneten zu ersetzen, hat die Massen nicht täuschen können. Boluarte sah sich bereits gezwungen, vorgezogene Neuwahlen anzukündigen – allerdings erst für 2024.

Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt hingegen würden der Rebellion einen unzulässigen moralischen und politischen Sieg bescheren. Auch die Forderungen der Bewegung nach einer verfassunggebenden Versammlung sind einem großen Teil der herrschenden Elite ein Dorn im Auge, die sich auf die „Wirtschaftsklauseln“ der Verfassung stützt, um ihren Raubzug zu legalisieren.

Gleichzeitig ist der Widerstand, obwohl er mit jedem Massaker an Größe zunimmt, heterogen und unkoordiniert. Die Führer:innen des größten Gewerkschaftsverbandes CGTP haben sich durch den Druck der Bewegung gezwungen gesehen, deren Forderungen nach Wahlen aufzugreifen und an den Aktionstagen zu Streiks aufzurufen, aber ihre Perspektive sind vorgezogene Wahlen, um die Situation zu entschärfen.

Vom Widerstand zur Revolution

Die Forderungen der Bewegung sind klar: die Absetzung der putschistischen Regierung, die Auflösung des Parlaments und Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung.

Aber die Institutionen der peruanischen „Demokratie“ sind die der Wirtschaftsdiktatur der Oligarchie. Zuzulassen, dass dieses oder ein neu gewähltes Parlament den Widerstand in eine bürgerliche verfassunggebende Versammlung lenkt, die von den offiziellen Institutionen organisiert wird, wäre ein fataler Fehler, der es dem Feind ermöglicht, sich neu zu formieren und für eine neue Offensive aufzurüsten.

Eine solche „legale“ verfassunggebende Versammlung, die unter den Bajonetten der Armee und der Propaganda der Konzernmedien inszeniert wird, wird niemals in die Eigentumsrechte und die militärische Gewalt des Regimes von 1993 eingreifen dürfen. Was wir jetzt brauchen, ist ein Kampfplan, um den Widerstand der Regierung, der Unternehmer:innen und der Sicherheitskräfte zu brechen.

Nach wochenlangem Zögern hat der mit mehr als 800.000 Mitgliedern größte Gewerkschaftsverband CGTP (Allgemeiner Dachverband peruanischer Arbeiter:innen) endlich zu einem unbefristeten, landesweiten Generalstreik aufgerufen, der am 9. Februar beginnen soll. Er fordert unter anderem den Rücktritt von Dina Boluarte als Präsidentin, eine Übergangsregierung, vorgezogene allgemeine Wahlen, ein Referendum über die Verfassung und ein Ende der Tötung protestierender Bürger:innen. Bei dem gewaltsamen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstration vom 4. Februar in Lima wurden Dutzende Menschen verwundet.

Dennoch kann auf die Führung der CGTP kein Verlass sein. Da sie vor allem die Beschäftigten des öffentlichen Sektors vertritt, muss der Streik auf die Beschäftigten im Bergbau, in der Erdöl-, Gas- und Stahlindustrie ausgedehnt werden, wenn er die Räder des Profits zum Stillstand bringen soll. Er muss unter der Leitung einer nationalen Koordination stehen, die aus Vertreter:innen der kämpfenden Organisationen der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und indigenen Massen gewählt wird. Kurz gesagt, die dringende Aufgabe besteht darin, eine Führung aufzubauen, die mit der Perspektive und der Strategie der Revolution gegen die Ausbeuter:innen und ihr System bewaffnet ist.

Die gesamte Logik des Kampfes zum Sturz des Boluarte-Regimes weist jetzt auf die Vorbereitung der Aufstandsbewegung hin, um eine Regierung der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Indigenen zu installieren, die den Volksmassen verantwortlich ist und von einer Arbeiter:innenmiliz gegen die Konterrevolution verteidigt wird.

Nur unter einer solchen Kontrolle wäre es möglich, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die die Autorität und Fähigkeit besäße, das gesamte reaktionäre Gebäude der Oligarchenverfassung hinwegzufegen, indem sie die politische und soziale Macht in die Hände von Räten und einer Volksmiliz legt. Dies wiederum würde den Weg für eine sozialistische Revolution nicht nur in Peru, sondern auf dem gesamten Kontinent ebnen.




Brasilien: Der gescheiterte Putsch – eine Warnung an die Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Infomail 1209, 10. Januar 2023

Tausende Anhänger:innen des abgewählten rechten Expräsidenten Bolsonaro stürmten am 8. Januar Kongress, Senat und Präsidentenpalast in Brasilia. Über Stunden hielt der Mob die Gebäude besetzt. Die Forderung war so einfach wie klar: der Sturz der Regierung Lula/Alckmin und die Machtübernahme durch einen Putsch.

Reaktionärer Spuk

Der reaktionäre Spuk war allerdings nach eigenen Stunden vorbei, nachdem regierungstreue Kräfte der Bundes- und Militärpolizei die Gebäude räumten und über tausend Möchtegernputschist:innen festsetzten.

Der missratene Sturm hatte wohl nie Aussicht auf Erfolg. Von Beginn an war nicht klar, wer eigentlich die Macht übernehmen sollte. Weder Bolsonaro noch irgendein namhafter Militär wollte sich an die Spitze einer Aktion stellen, von deren Aussichtslosigkeit sie von Beginn an überzeugt waren.

Bolsonaro verurteilte sogar die Angriffe, die gegen die „Regeln der Demokratie“ verstoßen hätten – freilich nicht, ohne auch gleich die Lüge aufzutischen, dass unter seiner Präsidentschaft Lula und seine Anhänger:innen ähnlich vorgegangen wären. Die über Twitter verbreitete Distanzierung darf außerdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ziel des Expräsidenten, der sich nach der verlorenen Wahl ins „Exil“ nach Florida zurückgezogen hat, weiterhin der Sturz der Lula-Regierung bleibt. Täglich empfängt er dort weiter Unterstützer:innen, darunter Abgeordnete und Gouverneur:innen. Erst vor kurzem erhielt er auch Besuch vom ehemaligen Sicherheitschef Brasilias, der über Stunden die Putischist:innen gewähren ließ und gegen den jetzt ermittelt wird.

Seit der Wahlniederlage des Expräsidenten, die die Bolsonaristas ohnedies für einen „Fake“ halten, demonstrierten diese „friedlich“ vor Kasernen und forderten einen Putsch. Im November organisierten sie Autobahnblockaden, die von rechtsgerichteten Unternehmer:innen finanziert wurden. Wie beim gescheiterten Putsch kommen viele dieser Kapitalist:innen aus dem Agrarsektor. Ende Dezember, also wenige Tage vor der Vereidigung Lulas, wurde in Brasilia ein Bombenanschlag vereitelt, der Chaos verursachen und eine Intervention des Militärs provozieren sollte.

Der Sturm auf die Parlaments- und Präsidentengebäude stellt einen weiteren Höhepunkt dieser Mobilisierungen dar, aber sicher nicht das Ende dieser Umtriebe.

Staatsapparat

Noch deutlicher als andere Aktionen belegte der missratene Putsch jedoch auch die mehr oder weniger offene Sympathie mit den Bolsonaristas im Polizei- und Staatsapparat. Die lokalen Einsatzkräfte waren nicht „überrumpelt“ worden oder nur „inkompetent“, sondern ließen den Mob gewähren. Polizeikräfte hießen die anreisenden Rechten willkommen , machten Selfies mit den Demonstrant:innen und drehten Videos, in denen ihre Sympathie zum Ausdruck kommt. Kein Wunder also, dass der Mob Kongress, Senat und Präsidentschaftspalast mühelos stürmen und verwüsten konnte.

Und natürlich handelt es sich dabei auch nicht bloß um das „Versagen“ von unteren Rängen, sondern die Anhänger:innen des Expräsidenten finden sich an der Spitze des Polizeiapparates. Der Sicherheitschef von Brasilia, Anderson Torres, war unter Bolsonaro Justizminister. Dieser ignorierte, Medien zufolge, Forderungen aus dem Senat, zusätzliche Sicherheitskräfte zu schicken, nachdem dort die Pläne der in einer Telegramgruppe organisierten Demonstrant:innen bekanntgeworden waren.

Noch am 8. Januar wurde Torres entlassen und die öffentliche Sicherheit der Hauptstadt wurde per Dekret Lulas unter Bundesaufsicht gestellt. Darüber hinaus wurde auch der Gouverneur der Hauptstadtregion von einem Bundesgericht für 90 Tage seines Amts enthoben.

Auch wenn der Spuk beendet wurde: Unterschätzt werden darf die Gefahr, die von der Rechten ausgeht, keineswegs. Im Gegenteil. Dass nur einige Tausend Hardcorereaktionär:innen ausreichten, um in die Parlaments- und Regierungsgebäude einzudringen, zeigt, was droht, wenn sich die soziale Lage weiter verschlechtert, die Klassenkonfrontation verschärft und Lula und die PT mit einer prokapitalistischen Politik ihre eigenen Wähler:innen enttäuschen.

Zur Zeit setzen nicht nur die Arbeiter:innen, die städtische und ländliche Armut, die rassistisch Unterdrückten und Indigenen, die Frauen- und Umweltbewegung auf eine Regierung Lula, sondern auch wichtige Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, die Vizepräsident Alckmin in der PT-geführten Regierung repräsentiert. Das ist der eigentliche Grund, warum der Putschversuch nie Aussicht auf Erfolg hatte. Doch diese Allianz gegensätzlicher Klassenkräfte und Interessen stellt keine Garantie gegen weitere Putschversuche dar, sondern eine Gefahr für die Zukunft.

Angesichts der rechten Gefahr setzen Lula und die PT wie schon im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie, die den Putsch gegen Dilma mitorganisierte, aus dem Bolsonaro hervorging. Lula und die PT setzen angesichts der rechten Gefahr und der Aktionen der Bolsonsaristas auf jenen Militär- und Polizeiapparat, dem der Expräsident entstammt und der Lula nur solange stützen wird, wie er die Interessen des brasilianischen Kapitals verteidigt und die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ruhig zu halten vermag.

Dies gilt auch für die Spitzen des westlichen, demokratischen Imperialismus. US-Präsident Joe Biden, der deutsche Kanzler Olaf Scholz und EU-Ratspräsident Charles Michel stellten sich ebenso auf die Seite von Lula/Alckmin wie die Staatschefs von Mexiko, Obrador, und Argentinien, Fernández. Mit scharfen Worten verurteilten sie den „Angriff auf die Demokratie“. Dabei vergaßen sie freilich zu erwähnen, dass sie solche von ihren Verbündeten in Israel, Saudi-Arabien oder der Türkei wenig kümmern. Sie vergaßen vor allem zu erwähnen, dass sie Lula/Alckmin vorrangig nicht wegen „Rechtsstaat“ und „Demokratie“ verteidigen, sondern weil sie sich von der neuen Regierung engere und friktionsfreiere Beziehungen zur USA und EU erhoffen als unter Bolsonaro.

Lehren

1. Die Anhänger:innen Bolsonaros werden sich formieren und radikalisieren. Auch wenn sie unmittelbar nicht über den Rückhalt verfügen, die Regierung zu stürzen, so werden sie weiter eine radikale, kleinbürgerlich-reaktionäre Bewegung aufbauen, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Polarisierung zu einer faschistischen Massenbewegung entwickeln kann. Auch wenn sie sich demagogisch als Kraft gibt, die gegen das Establishment mobilisiert, so richtet sie sich vor allem gegen die Arbeiter:innenbewegung, deren Parteien und Gewerkschaften, die sie als „Elite“ und „Parasiten“ imaginiert. Auf dieser Grundlage steht sie als Reserve des Kapitals zu Verfügung, eine Funktion, die sie im Agrobusiness schon heute ausübt.

2. Auch wenn die Militärpolizei und die Spitzen von Armee und anderen staatlichen Institutionen zur Zeit die Regierung verteidigen, so stellt das nur eine Momentaufnahme dar. Dass Bolsonaro und seine Partei im Repressionsapparat und bei Militärs viel Unterstützung fanden und finden, ist kein Zufall. Schließlich agierten die Repressionskräfte seit Jahren – einschließlich der Regierungszeiten von Lula und Dilma – als brutale Vertreter:innen der herrschenden Klasse. Die indigenen Gemeinden und die Favelas wurden und werden regelmäßig von diesen angegriffen – bis hin zum Mord.

3. Alle Verbindungen von Polizei, Militärpolizei und Streitkräften mit dem Sturm auf das Parlament und den Präsidentenpalast müssen öffentlich gemacht und untersucht werden. Das darf aber nicht Militärgerichten, korrupten Berufsrichter:innen oder einem Parlament überlassen werden, in dem die Bolsonaristas die größte Fraktion stellen. Dazu müssen nicht nur alle Akten öffentlich gemacht, sondern auch Arbeiter:innentribunale eingerichtet werden, die die Verwicklung des Staats- und Repressionsapparates in die rechten Aktionen, aber auch in die Angriffe auf Indigene und Favelas sowie deren Zusammenarbeit untersuchen und aburteilen.

4. Indem Lula und die PT weiter auf den bestehenden Staatsapparat im Kampf gegen die rechte Gefahr setzen, machen sie sich selbst von diesem abhängig, zu deren Geisel für den Fall größerer Klassenkämpfe. Angesichts der Inflation, der ökonomischen Stagnation, des Terrorismus der Großgrundbesitzer:innen gegen Indigene und die Umwelt – um nur einige zu nennen – sind diese unvermeidlich, wenn die Unterdrückten nicht die ganze Last der Misere tragen sollen.

5. Gegen die rechten Umtriebe wie gegen die Polizeigewalt dürften wir uns nicht auf den Repressionsapparat verlassen. Es reicht nicht, den Apparat von kriminellen und putschistischen Beamt:innen zu säubern. Die Gewerkschaften, die MST, die MTST, die PT, die PSOL, PSTU, PCO und andere linke Organisationen müssen vielmehr selbst Selbstverteidigungseinheiten der Lohnabhängigen und unterdrückten Massen aufbauen, die ihre Stadtviertel schützen, gegen etwaige Putschist:innen, Paramilitärs und kriminelle Banden vorgehen. Von Lula und der PT müssen wir fordern, diese aktiv voranzutreiben und die reaktionären Einheiten zu entwaffnen. In den Streitkräften müssen demokratische Soldat:innenkomitess aufgebaut werden, die die Kommandogewalt der Offizier:innen brechen.

6. Bei seinem Amtsantritt versprach Lula eine ganze Reihe von Reformen, darunter die Beendigung der Rodung des Regenwaldes, die Stärkung der Rechte der indigenen Bevölkerung, die Rücknahme neoliberaler Konterreformen der Bolsonaro-Regierung bezüglich Renten, Arbeitszeit, Mindestlohn sowie gewerkschaftsfeindlicher Gesetze. Deren Bekämpfung wurde zu einem Hauptziel seiner Regierung erklärt. Doch diese Reformen werden angesichts einer massiv gestiegenen Staatsverschuldung, ökonomischer Stagnation und der Stärke der Rechten im Staatsapparat und Parlament und der Abhängigkeit von bürgerlichen Koalitionspartner:innen an der Regierung mit parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzbar sein.

7. Ein solches Programm kann ebenso wie die Entwaffnung reaktionärer Kräfte nur umgesetzt werden, wenn es mit einer Massenmobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verbunden wird. Die aktuelle Massenunterstützung gegen die Putschist:innen muss für eine solche Offensive zur sofortigen Umsetzung aller Reformversprechen von Lula und der PT sowie eines Sofortprogramms gegen Inflation, Armut, Krise genutzt werden.

8. Es kann nur verwirklicht werden, wenn wir die Privilegien der herrschenden Klasse, deren Privateigentum in Frage stellen. Es ist unmöglich ohne Streichung der Auslandschulden, ohne massive Besteuerung der Reichen, ohne entschädigungslose Enteignung des Agrobusiness, der großen Industriekonzerne und Finanzinstitutionen. Ohne die Bündelung der Ressourcen des Landes unter Arbeiter:innenkontrolle kann ein Notfallplan im Interesse der lohnabhängigen Massen, der Landlosen und Indigenen sowie der Umwelt nicht durchgesetzt werden.

9. So wie Polizei und Armee als Garanten des Privateigentums im Staatsapparat fungieren, so fungieren Alckmin und andere offen bürgerlichen Kräfte als Garanten des Privateigentums, der herrschenden Klasse und des Imperialismus in der Regierung. In einer Koalition mit Alckmin wird ein Notprogramm für die Massen ebenso wenig  umsetzbar sein wie die Bewaffnung von Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten. Wir fordern daher von Lula und PT einen Bruch mit den bürgerlichen Minister:innen und die Bildung einer PT/PSOL/CUT-Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und ein Notprogramm durchsetzt. Eine solche Regierung muss mit allen Mitteln gegen jeden Putschversuch – sei es eines Bolsonaro und seine wild gewordenen Anhänger:innen, sei es gegen andere bürgerliche Kräfte verteidigt werden.

10. Lula und die PT-Führung (und wohl auch Teile der PSOL- und CUT-Führung) werden zweifellos einen Bruch mit Alckmin und dem bürgerlichen Staatsapparat mit allen Mitteln zu vermeiden versuchen – ganz wie sie schon im Wahlkampf auf eine Volksfront mit dem Kapital setzten. Es reicht jedoch nicht, diese Politik zu kritisieren und vor ihren fatalen Folgen zu warnen. Revolutionär:innen müssen auch Mittel und Taktiken propagieren, die es den Massen, die heute Lula und der PT folgen, die „ihren“ Präsidenten gegen den Putsch verteidigen, ermöglichen, sich von den Illusionen in Lula und seine Politik zu befreien. Dazu ist es nötig, Lula und die PT dazu zu zwingen, dazu aufzufordern, weiter zu gehen als sie wollen – also den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen voranzutreiben und zu unterstützen und mit der Bourgeoisie zu brechen.

11. Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Lula und die PT-Führung diesen Schritt gehen, so erlauben solche Forderungen, einen gemeinsamen Kampf mit seinen Anhänger:innen gegen die Rechte und die Reaktion aufzunehmen, sie erlauben es, den Widerspruch zwischen der klassenversöhnlerischen Kompromisspolitik der bürokratischen Führungen von PT und CUT einerseits und den Klasseninteressen der Masse ihrer Anhänger:innen nutzbar zu machen. Einerseits, indem diese Führungen praktisch auf die Probe gestellt werden können, andererseits, indem die Klasse auf die zukünftigen Kämpfe vorbereitet und, wo möglich, der Aufbau von Kampforganen in Angriff genommen wird.

12. Um eine solche Politik praktisch werden zu lassen, muss eine systematische Einheitsfrontpolitik gegenüber PT und CUT mit dem Kampf für eine neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei verbunden werden.




Sudan: Zerschlagung der Junta ist der alleinige Weg zur Freiheit

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1175, 12. Januar 2021

Einmal mehr erleben wir im ganzen Sudan einen massiven revolutionären Aufstand gegen die Militärjunta von General Abdel Fattah al-Burhan und seinem Stellvertreter, Generalleutnant Mohammed Hamdan Daglo (Hemeti), die durch den Staatsstreich vom 25. Oktober an die Macht gekommen ist.

Seit dem 2. Januar ist das Militär seines Feigenblattes als Premierminister, des zivilen Technokraten Abdalla Hamdok, beraubt. Sein Rücktritt erfolgte nach sechs Wochen im Amt, als klar wurde, dass er absolut keine Autorität besaß und die Massendemonstrationen wieder aufflammten, ebenso wie die Repression, die seit Oktober vergangenen Jahres bereits über 60 Tote gefordert hat.

Am 6. Januar füllten Demonstrationen, die von den OrganisatorInnen als „Marsch der Millionen“ bezeichnet wurden, die Straßen der Hauptstadt Khartum und der angrenzenden Städte Omdurman (Umm Durman)  und Ombada sowie Bur Sudan (Port Sudan). Andere Städte im Norden des Landes, Atbara, Ad-Damir (Ed Damer) und Dunqula (Dongola), schlossen sich ebenfalls an. Die DemonstrantInnen zogen durch die Straßen und skandierten „die drei Keins“: Keine Abkommen! Keine Verhandlungen! Keine Kompromisse! (und „Die Macht dem Volke!“). Sie forderten die SoldatInnen auf, in ihre Kasernen zurückzukehren und die Bildung einer vom Volk gewählten, rein zivilen Regierung zuzulassen.

Die Koordination der Widerstandskomitees von Khartum hatte den Republikanischen Palast als Ziel der DemonstrantInnen festgelegt. Die Junta reagierte wie am 19. Dezember und im Oktober 2021 mit harter Repression. Das Regime kappte die Internet- und Telefonnetzwerke in Khartum, blockierte die Nilbrücken mit Schiffscontainern und die Hauptstraßen mit Barrikaden aus Stacheldraht.

Paramilitärs der Schnellen Unterstützungstruppen (RSF) von Hemeti, die ihren Ursprung in den Dschandschawid-Milizen (sinngemäß: Teufel auf Pferden) haben, die in Darfur Völkermord begingen, sowie die Zentrale Reservepolizei und AgentInnen des Allgemeinen Nachrichtendienstes (GIS) setzten Blendgranaten und gefährliche Konzentrationen von Tränengas ein. In Umm Durman und Khartum wurden mindestens drei Tote und Dutzende von Verletzten gemeldet. Krankenhäuser, in denen DemonstrantInnen behandelt wurden, standen unter Beschuss. Dennoch gelang es einigen DemonstrantInnen, zum Republikanischen Palast im Zentrum von Khartum vorzudringen.

Die „demokratischen“ und „autoritären“ imperialistischen Mächte hüllten sich bisher in Schweigen

Auf seinem Online-„Demokratie-Gipfel“ im vergangenen Monat sprachen US-Präsident Joe Biden und sein Außenminister Antony Blinken das Problem der Unterdrückung und Militärdiktatur im Sudan nicht einmal an. Vielmehr hat Washington weiterhin die Legitimität von al-Burhan anerkannt und die MilitärführerInnen sogar gelobt. Blinken unterstützte eifrig die Vereinbarung zwischen dem Militär und Hamdok vom letzten Oktober.

Das Weiße Haus, Regierungssitz der USA, hat sogar angedeutet, dass die Forderungen der DemonstrantInnen nach „keinen Verhandlungen, keiner Partnerschaft und keiner Legitimität für das Militär“ „unrealistisch“ seien. Tatsächlich sind die USA und ihr britischer Staatsgefolge damit beschäftigt, ihre Sudan-Politik an ihre alles andere als demokratischen Verbündeten am Golf auszulagern, wie ihre mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterzeichnete Erklärung vom 16. Dezember 2021 zeigt, in der das Militärregime sogar für seine Bemühungen gelobt wird. Dies wiederum ist die Belohnung dafür, dass Saudi-Arabien sudanesische Streitkräfte, darunter auch Hemetis RSF-SchlägerInnen, zur Unterstützung seiner Interventionen im blutigen Bürgerkrieg im Jemen eingesetzt hat.

Es überrascht auch nicht, dass der Rivale der westlichen Demokratien, das neue Mitglied der imperialistischen Bande, das „kommunistische“ China, sich ebenfalls über die Verbrechen des sudanesischen Militärs ausschweigt. Seine globale Spezialität stellt die Unterstützung mörderischer Militärjuntas wie in Myanmar sowie die Begehung eigener Verbrechen in Xinjiang und Hongkong dar.

Kurzum, keiner der rivalisierenden Imperialismen, die sich in ihrem „neuen Kalten Krieg“ befinden, hat den KämpferInnen für Freiheit und Sozialismus weltweit etwas zu bieten, wie Putins Russland jetzt in Kasachstan zeigt. Die ArbeiterInnenklasse und die revolutionären Bewegungen in allen Ländern müssen alles tun, um ihre mutigen Klassenschwestern und -brüder im Sudan zu unterstützen.

Die Opposition

Eine Reihe ineinandergreifender demokratischer Bündnisse unterstützt die Massendemonstrationen und zielt darauf ab, das Militärregime durch eine zivile Regierung zu ersetzen. Von Beginn der Bewegung an spielte die Sudanese Professionals Association (SPA) eine wichtige Rolle. Sie wurde Mitte des letzten Jahrzehnts gegründet, als die Opposition gegen al-Baschir wuchs, und bestand im Kern aus drei der größten Freiberufsgruppen des Sudan: dem Zentralkomitee der sudanesischen ÄrztInnen, dem sudanesischen JournalistInnennetzwerk und der Demokratischen JuristInnenvereinigung.

Im Laufe der Entwicklung der Bewegung schlossen sich ihr rund 18 Gewerkschaften an, darunter AkademikerInnen und LehrerInnen, IngenieurInnen und Gesundheitsfachleute. Kurz gesagt, sie repräsentiert eine Kombination aus der radikalen Mittelschicht und ArbeiterInnenorganisationen, die sich gegen al-Baschirs erdrückenden politischen Islamismus und seine völkermörderischen Kriege in Darfur und Südsudan auflehnten.

Es gibt eine „breite Front“, die Kräfte der Freiheit und des Wandels (Forces of Freedom and Change, FFC), der große bürgerliche Parteien wie die National Umma Party (NUP) und die Sudanesische Kongresspartei angehören, aber auch die SPA und die Sudanesische Kommunistische Partei. Diese Konstellation nennen TrotzkistInnen eine Volksfront. Die konservativeren Teile des FFC, wie die NUP, haben Hamdoks Abkommen mit al-Burhan vom November aktiv unterstützt und seinen Rücktritt bedauert. Es liegt auf der Hand, dass diese Kräfte einen weiteren Kompromiss mit den Militärs begrüßen würden.

Siddig Yousef, ein Führer der Kommunistischen Partei (SKP), erklärte dagegen, Hamdoks Rücktritt sei längst überfällig. Die AktivistInnen seiner Partei stellen in der Tat eine ernstzunehmende Kraft der ArbeiterInnenklasse innerhalb der Widerstandskomitees dar, die die Demonstrationen und Streiks organisiert haben, die in den zwei Jahren seit dem Sturz der Diktatur von Umar al-Baschir im Jahr 2019 stattgefunden haben.

Die Parteiführung verfolgt jedoch eine, wie sie es nennt, „Doppelstrategie“, die für den radikaleren Flügel des Stalinismus in vielen halbkolonialen Ländern typisch ist. Während sie sich also für einen Generalstreik einsetzt, ArbeiterInnen- und BäuerInnenkomitees organisierte und kontrollierte, will sie gleichzeitig diese „breite Front“ mit liberalen und patriotischen bürgerlichen Kräften aufbauen. Ihr Plan ist es, radikalere Kräfte einzubinden, denn sie sieht vor, dass die Militärdiktatur durch eine demokratische, d. h. immer noch kapitalistische, Regierung ersetzt wird. Natürlich prangert sie auch den Einfluss der USA, des IWF, des Neoliberalismus usw. an.

Dies zeigt sich in der Antwort von Fathi Alfadl, ihrem Sprecher, auf die Fragen „In welchem Stadium befindet sich Ihrer Meinung nach die sudanesische Revolution? Wie wird sie sich entwickeln?“ in einem Interview auf Facebook. Er antwortete: „Im Moment laufen Gespräche, um die Führung der ,breiten Front’ zu erreichen, die Frauen- und andere zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien umfassen kann. Die Führung eines solchen Gremiums wird die vollständige Niederlage des derzeitigen Regimes und die Übernahme der Macht durch das Volk erleichtern.“ (https://www.facebook.com/SudaneseCommunistParty)

In der Tat wird diese Strategie der Klassenkollaboration und Volksfront jede unabhängige Aktion der Massen von ArbeiterInnen, BäuerInnen und Jugendlichen behindern, die nicht nur darauf abzielt, das Militär aus der politischen Macht zu drängen, sondern auch das Oberkommando und die gesamte korrupte Militärkaste und ihre Kontrolle über die einfachen Soldaten zu zerbrechen. Die letzten zwei Jahre im Sudan und davor der Arabische Frühling, vor allem im benachbarten Ägypten, sollten uns lehren, dass ein Putsch nach dem anderen stattfinden wird, wenn diese Kräfte intakt bleiben und die Kontrolle über die Streitkräfte behalten. Demokratie, d. h. die bürgerlich-kapitalistische Demokratie mit der Erlaubnis der Generäle, ist eine reaktionäre Utopie.

In Wirklichkeit wird die einzige Demokratie das sein, was die ArbeiterInnenschaft, die Jugend, die Frauen und die armen BäuerInnen aus den bestehenden Widerstandskomitees und den für einen aufständischen Generalstreik notwendigen Koordinierungsorganisationen schaffen können. Um wirksam zu sein, selbst wenn es nur darum geht, al-Burhan und Hemeti von der Macht zu vertreiben, muss die Bewegung die einfachen SoldatInnen dafür gewinnen, sich gegen die RSF-SchlägerInnen zu wenden, ihre OffizierInnen zu verhaften, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und selbst SoldatInnenräte zu bilden.

Die Basis der SKP muss dem Weg Lenins von 1917 folgen und sich für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung starkmachen, die in Wirklichkeit eine Diktatur des Proletariats im Bündnis mit allen kämpfenden Volkskräften ist. Wenn die sudanesische Revolution hingegen auf halbem Weg stehenbleibt, wird sie das Schicksal der mutigen KämpferInnen in Ägypten erleiden, die am Ende eine Diktatur bekamen, die noch repressiver ist als die von Husni Mubarak.




Stoppt den Putsch im Sudan!

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1168, 26. Oktober 2021

Am Morgen des 25. Oktober kam es in Khartum zu einem Staatsstreich. General Abdel Fattah Abdelrahman Burhan, Vorsitzender des Souveränen Rates, der die Macht zwischen Militär und ZivilistInnen teilt, kündigte die Verhaftung von Premierminister Abdalla Hamdok und seines Kabinetts an. Hamdok, ein Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger hoher UN-Beamter, der 2019 zum technokratischen Premierminister ernannt wurde, befindet sich derzeit an einem unbekannten Ort, nachdem er sich geweigert hatte, den Putschversuch zu unterstützen.

Widerstand

Tausende von DemonstrantInnen gingen sofort auf die Straße, wie bei der Revolution 2019. Sie marschierten, um das Hauptquartier des Militärs in der Hauptstadt zu belagern, wurden aber von den SoldatInnen unter Beschuss genommen. Zur Speerspitze der Konterrevolution gehören die Truppen der Rapid Support Forces (Schnelle Unterstützungskräfte; RSF), einer Einheit, die aus den Milizen hervorgegangen ist, die während des Krieges in Darfur und später während der Revolution 2019 mörderische Verbrechen verübt haben.

Unterdessen rief die Sudanese Professionals Association (Sudanesische Vereinigung der professionellen Berufe; SPA), eine der HauptorganisatorInnen der Revolution 2019, zum Widerstand auf:

„Wir rufen die Massen auf, auf die Straße zu gehen und sie zu besetzen, alle Straßen mit Barrikaden zu sperren, einen allgemeinen Arbeitsstreik durchzuführen und nicht mit den Putschisten zu kooperieren und ihnen mit zivilem Ungehorsam entgegenzutreten.“

Auch die Sudanesische Kommunistische Partei rief die ArbeiterInnen zum Streik und zum massenhaften zivilen Ungehorsam gegen den Putsch auf. Die KP hatte seit einem gescheiterten Putsch am 21. September vor der drohenden Gefahr gewarnt, als sie erklärte: „Wir brauchen ernsthaftere Maßnahmen, um die Säulen des früheren Regimes zu beseitigen, insbesondere in den Streitkräften, dem Sicherheitsdienst und der Polizei.“

Bei dieser Gelegenheit eilten Hemeti (Mohammed Hamdan Dagalo; Vizechef des Militärrates und Oberbefehlshaber der RSF) und Abdel Fattah Burhan in die Kasernen, die damit beschäftigt waren, den Putsch zu unterdrücken, und letzterer beruhigte die Soldaten: „Die Streitkräfte führen den Wandel an und bringen ihn dorthin, wo sie wollen“. Jetzt wissen wir genau, wohin sie wollen.

Die Machtübernahme durch das Militär erfolgte nach einem Putschversuch im September und einer Blockade der Häfen des Landes am Roten Meer, die von Kräften geschürt wurde, die der ehemaligen Diktatur von Umar al-Baschir treu ergeben sind.

Darüber hinaus hatten in den letzten Wochen knüppelschwingende Banden von AnhängerInnen des früheren Regimes mobilisiert und LoyalistInnen unter dem Schutz des Militärs zu einem Sitzstreik aufgerufen, bei dem sie offen einen Staatsstreich forderten. Diese wurden von Zehntausenden von DemonstrantInnen beantwortet, die das Primat ziviler Herrschaft verteidigen wollen, was von der Polizei mit Gewalt beantwortet wurde.

Es ist wahrscheinlich, dass die ominösen Ereignisse der letzten Wochen eine Vorbereitung der Generäle und konterrevolutionären Rebellen auf einen Staatsstreich darstellten. Gleichzeitig geriet die amtierende Regierung unter zunehmenden Druck der Bevölkerung, Schritte in Richtung einer stärkeren zivilen Kontrolle zu unternehmen, verbunden mit Frustrationen über die wirtschaftliche und soziale Leistung des Regimes.

In den Städten kam es zu einer zunehmenden Lebensmittelknappheit, die durch die Zustimmung der Hamdok-Regierung zu Preiserhöhungen bei Treibstoff und anderen lebenswichtigen Gütern, die der IWF als Bedingung für einen Schuldenerlass für den Sudan gestellt hatte, noch verstärkt wurde und zu einer galoppierenden Inflation führte. Aus Angst vor einer fortschrittlichen Lösung der gegenwärtigen Krise durch eine Welle sozialer Mobilisierungen haben sich die Militärs offenbar zum Handeln entschlossen.

Inzwischen haben die EU und die USA den Putsch verurteilt und sich für die Demokratie ausgesprochen. Aber es waren Institutionen unter ihrer Kontrolle, die zu dieser Situation beigetragen haben, sei es durch die Finanzierung der schnellen Eingreiftruppen im Rahmen des Khartum-Prozesses der EU, der darauf abzielt, Flüchtlinge zu stoppen, oder durch die Wirtschaftspolitik des IWF.

Dies zeigt die Gefahr der imperialistischen Mächte als Verbündete im Streben nach Demokratie. Ihre Demokratie fordert immer einen hohen Preis von den ArbeiterInnen und Armen. Ein Drittel der Bevölkerung leidet bereits unter schwerer Nahrungsmittelknappheit. Da die Regierung in ihrem Sinne gehandelt hat, haben die USA und die EU den Staatsstreich in diesem Fall scharf verurteilt. Ein US-Gesandter hatte Hamdok sogar gerade besucht.

Revolutionäre Aufgaben

Die Zukunft der 2019 errungenen begrenzten Demokratie hängt nun von der Macht der ArbeiterInnenklasse und der Jugend ab, um das Land zum Stillstand zu bringen, die einfachen SoldatInnen für sich zu gewinnen und die Revolution, die durch die Vereinbarung mit dem Militär über ein gemeinsames Regime bis zu den Wahlen im Jahr 2023 gestoppt wurde, fortzuführen. Die 2019 gebildeten Widerstandskomitees bestehen weiter und müssen zu Räten gestärkt werden, die alle ArbeiterInnen, Frauen, StudentInnen und SoldatInnen vertreten, die auf die Seite der Massen übergehen. Der Putsch beweist, dass die Teilung der Macht mit den Generälen des alten Regimes eine gefährliche Illusion war und bestätigt den Ausspruch des französischen revolutionären Jakobiners Saint Just: „Wer die Revolution nur halb macht, schaufelt sich sein eigenes Grab“.

Wir haben immer argumentiert, dass jedes stehende Heer – solange es unter dem Kommando der Generäle und des Offizierskorps steht – eine tödliche Waffe gegen das Volk bildet. Eine wesentliche frühe Aufgabe jeder echten Volksrevolution ist es, ihnen die Herrschaft über den Repressionsapparat zu entreißen, die einfachen SoldatInnen vom Kommando der Offiziere zu brechen und sie auf die Seite der Massen, insbesondere der ArbeiterInnen, zu bringen und ein revolutionäre Selbstverteidigungskräfte unter der demokratischen Kontrolle der ArbeiterInnen- und Volksräte zu bilden.

Entscheidend ist, dass der Generalstreik und der Massenwiderstand auf der Straße wirksam sind und die einfachen SoldatInnen sowie die UnteroffizierInnen und niederen Offiziersränge dazu bringen, zum Volk überzulaufen. Die aktuelle Widerstandsbewegung muss sich insbesondere auf die Stärke der revolutionären Frauen und Jugendlichen stützen, die bei der Revolution 2019 eine führende Rolle gespielt haben. Und wenn dies geschieht, darf die Revolution dieses Mal nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Sie darf sich auch nicht mit einer Regierung aus zivilen TechnokratInnen zufrieden geben, die Hand in Hand mit dem IWF, den USA, der EU und den anderen imperialistischen Mächten arbeiten.

Was die gegenwärtige Krise auf soziale, demokratische und nachhaltige Weise lösen kann, ist eine Regierung, die sich voll und ganz der Revolution verschrieben hat, eine Regierung, die sich auf ArbeiterInnen- und Volksräte stützt und in der Lage ist, sozialistische Maßnahmen zu ergreifen, um die dringenden Bedürfnisse der Land- und Stadtbevölkerung zu erfüllen.

In anderen Ländern müssen sich SozialistInnen und GewerkschafterInnen mit den Exil-SudanesInnen zusammentun, um gegen den Putsch zu demonstrieren und Nahrungsmittel- und medizinische Hilfe zur Bekämpfung von COVID und der Wirtschaftskrise sowie ein Ende des Diktats des IWF zu fordern.




Peru: Ein neues Muster für einen Putschversuch von rechts?

Markus Lehner, Neue Internationale 2021, Juli/August 2021

Offiziell waren die Präsidentschaftswahlen in Peru am 6. Juni gelaufen. Beim ersten Wahlgang Anfang April waren überraschenderweise der „linke“ Außenseiter Pedro Castillo (18,9 %) und die durch Korruptionsvorwürfe stark angeschlagene Establishment-Kandidatin Keiko Fujimori (13,4 %) vor allen anderen noch schwächer abgeschnitten habenden KandidatInnen gelegen. In der Stichwahl zwischen den beiden lag schließlich Castillo knappe 40.000 Stimmen (bei über 18 Millionen WählerInnen) vor Fujimori. Dieser enge Abstand führte zu einer Überprüfung durch die Wahlbehörden (in Peru das Jurado Nacional de Elecciones,, JNE; Nationales Wahlgericht). Das mag noch nachvollziehbar sein. Allerdings deutet die Dauer der „Überprüfung“ von über einem Monat samt der Mobilisierungen der Rechten darauf hin, dass hier etwas Tiefgehenderes vor sich geht.

Die Lage vor der Präsidentschaftswahl

Die Präsidentschaftswahl fand in einer äußerst zugespitzten Krisensituation statt. Erstens führten geringer werdendes Wirtschaftswachstum, das Sinken der Exporte und wachsende Schulden schon an sich in eine Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie zum Desaster wurde. Zweitens mündete dies in einer enormen sozialen Krise. Der informelle Sektor stieg von ohnedies schon für Lateinamerika hohen 75 % der Bevölkerung auf an die 90 %. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter extremen Armutsbedingungen. Insbesondere in den ländlichen, von indigenen Menschen bewohnten Gebieten, aber auch in den Armutsvierteln der Hauptstadt Lima herrscht eine prekäre Versorgungslage für so gut wie alles. Drittens ist in der Pandemie das Gesundheitssystem praktisch zusammengebrochen. Peru hat mit fast 200.000 Toten bei 32 Millionen EinwohnerInnen die größte Corona-Opferzahl pro Kopf auf der Welt. Viele flüchteten aus den Städten, womit sich die Situation auf dem Land noch weiter verschlechterte.

Viertens befindet sich Peru seit mehreren Jahren in einer schweren politischen Krise. Die letzten 5 Jahre sahen 4 verschiedene Präsidenten und zwei Kongresswahlen. Die politischen Institutionen blockieren sich gegenseitig. Massenproteste gegen korrupte und unfähige Regierungen lösten sich mit Amtsenthebungsverfahren und Parlamentsauflösungen teilweise im Wochenrhythmus ab. Praktisch alle traditionellen Parteien sind diskreditiert oder befinden sich in Neuformierungsprozessen.

Die Linke

Schon 2011 war ein sogenannter Linker gegen Keiko Fujimori zum Präsidenten gewählt worden: der Ex-Offizier Ollanta Humala. Dieser hatte bei seinem Wahlantritt 2006 noch die „bolivarischen Revolutionen“ als Vorbild genannt, 2011 dann nur noch Brasiliens sozialdemokratischen Staatspräsidenten Lula da Silva. Den Versprechungen zur Verstaatlichung des Bergbaus und zum Ausbau des Sozialsystems folgte dann jedoch nichts – außer dass Humala seit Ende seiner in einen schwerwiegenden Korruptionsprozess rund um den brasilianischen Odebrecht-Konzern verstrickt ist. Die linksnationalistische UPP (Unión por el Perú; Union für Peru) genauso wie die traditionelle peruanische Partei des Linksnationalismus, die APRA (Alianza Popular Revolucionario Americana; Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), sind seither diskreditiert und an den Rand des politischen Geschehens gedrängt.

Seit 2013 wurde damit die „Frente Amplio“ (Breite Front) zur stärksten parlamentarischen Kraft der Linken. Sie war ein Bündnis der kommunistischen Partei, mehrerer sozialdemokratischer und grüner Parteien sowie linksbürgerlicher Gruppierungen. Bei den Parlamentswahlen 2016 erhielt sie 20 von 130 Sitzen im Kongress. Ihre bekanntesten Führungsfiguren sind einerseits die Sozialistin Verónika Mendoza und der Priester und Umweltaktivist Marco Arana. Aufgrund des Versuchs von Arana, die Front mehr oder weniger in eine von ihm geführte grüne Partei umwandeln zu wollen, spaltete sich der Wahlblock. Die sozialistisch orientierten Parteien formten neue Wahlallianzen, die 2021 als „Gemeinsam für Peru“ (Juntos por el Perú, JPP) antraten, mit 7,8 % für Mendoza als deren Spitzenkandidatin (bei der Wahl 2016 hatte sie noch über 18 % erhalten).

Überraschenderweise etablierte sich 2021 jedoch die bis dahin eher unbekannte Partei Perú Libre (Freies Peru) als stärkste „linke“ Kraft. Diese Partei war ursprünglich das Produkt eines Provinzgouverneurs, Vladimir Cerrón, der damit über seine randständige Provinz Junin (im zentralen Hochland von Peru) ein nationales Standbein aufbauen wollte. Auch wenn er seiner Partei nach außen ein „marxistisches“ und „leninistisches“ Profil gab, war er zu eigentümlichen Wahlbündnissen z. B. mit der libertären Partei bereit (seine Präsidentschaftskandidatur 2016 blieb aber jenseits der Wahrnehmungsschwelle). Aufgrund schwerwiegender Korruptionsvorwürfe in Zusammenhang mit seiner Gouverneurstätigkeit war aber klar, dass er selbst nicht für die Partei zur Wahl 2021 antreten konnte.

Zunächst wurde mit der JPP über eine gemeinsame Kandidatur verhandelt, die aber in dieser wegen des „kriminellen“ Rufes von Cerrón auf große Vorbehalte stieß. Daher entschloss man sich schließlich, getrennt anzutreten und für die Perú Libre Pedro Castillo aufzustellen – der kein Berufspolitiker ist, sondern Grundschullehrer. Landesweite Bekanntheit erlangte er 2017 als kompromissloser und der Basis verpflichteter Anführer des Lehrerstreiks. Damals schon verband er die gewerkschaftlichen Forderungen der LehrerInnen mit einer Anprangerung des Elends der SchülerInnen selbst, mit dem die Schulen vollkommen überfordert sind. Seine Glaubwürdigkeit als unbestechlicher Anwalt der sozial Schwachen katapultierte Castillo in der Situation der aktuellen Krise sofort an die Spitze der Umfragen zur Präsidentschaftswahl.

Auch wenn die Rechte bis zur Stichwahl eine Unmenge an antikommunistischer Polemik gegen Castillo lostrat, konnte dies offensichtlich seine Popularität insbesondere in den sozial benachteiligten Regionen von Peru, aber auch in den Armenvierteln von Lima nicht entscheidend schwächen. Dabei sind weder seine Partei Perú Libre noch Castillo selbst eine gefestigte linke Kraft. Seine Wahlversprechen drehten sich um eine „neue Verfassung“, die die neoliberalen Reformen der Fujimori-Zeit zurückdrehen sollte, und um die Verstaatlichung des Bergbausektors – nichts anderes als das, was zuvor auch die LinksnationalistInnen wie Humala versprochen hatten. Dazu kommt, dass Castillo abseits der sozialen Forderungen ein äußerst konservatives Programm vertritt: gegen eine Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechtes, gegen die Homo-Ehe, gegen eine Beschränkung der Vorrechte der katholischen Kirche etc. Skandalös war auch ein Interview, in dem er die fürchterlichen Ausmaße der Femizide in Peru herunterspielte und diese als Auswuchs von Langeweile wegen der hohen Arbeitslosigkeit verharmloste.

Hinzu kommt, dass Perú Libre zwar jetzt auch stärkste Partei im Kongress ist (mit 37 von 130 Abgeordneten), aber stark auf Koalitionspartnerinnen, auch jenseits der JPP, angewiesen ist. Letztere stellt zudem gegenüber der Newcomerpartei PL auch sehr viel mehr „ExpertInnen“ für die Regierungsarbeit. Daher stammen auch bereits die wichtigsten WirtschaftsberaterInnen von Castillo aus diesem Teil des politischen Establishments. Und natürlich haben sie Castillo bereits Erklärungen zu Themen Verstaatlichung der Bergbauindustrie diktiert, die die globalen Märkte beruhigt haben. Man muss nur ins Nachbarland Chile blicken, um zu sehen, wie auch der Prozess der Bildung einer verfassunggebenden Versammlung in vom Kapital kontrollierte Bahnen gelenkt werden kann.

Die Rechte

Die entscheidende politische und ökonomische Wende in Peru, die mit den verschiedenen Experimenten des Linksnationalismus gebrochen hat, vollzog sich in den 1990er Jahren unter Keiko Fujimoris Vater Alberto. Wie in ganz Lateinamerika kam es mit dem „verlorenen Jahrzehnt“ in den 1980er Jahren zu einem völligen Buch mit dem Modell der sog. importsubstituierenden Industrialisierung. In Peru speziell bedeutete dies die völlige Abkehr von staatlicher Industrialisierung und den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Landes an internationale Konzerne. Marktliberalisierung und Neoextraktivismus gingen einher mit Abbau von Gewerkschaftsrechten, von sozialen Sicherungssystemen und einer extrem brutalen militärischen Bekämpfung jeglichen Widerstands, nicht nur der atavistischen maoistischen Guerilla des „Leuchtenden Pfades“. Bei Letzterem entwickelte das Fujimori-Regime auch einen extremen Rassismus gegen indigene Menschen, der bis zu Zwangssterilisierungsprogrammen führte. Fujimori ist überhaupt ein Beweis dafür, wie eng Rassismus und Liberalismus in Wirklichkeit immer noch verbunden sind.

Auch wenn er später bei Teilen des Establishments in Ungnade fiel (er wurde 2009 aufgrund seiner offensichtlichen humanitären Verbrechen zu 25 Jahren Haft verurteilt), so wurde von keiner der folgenden Regierungen grundlegend etwas am neoliberalen Zuschnitt seiner Reformen verändert. Auch Castillos Versprechen, eine Verfassung zu begründen, die das „System Fujimori“ beendet, wird nicht umzusetzen sein, wenn es nicht eine grundlegende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse samt Zerschlagung des bestehenden (bewaffneten) Staatsapparates geben sollte.

Allerdings ist offensichtlich, dass selbst die sehr vagen Ankündigungen von Castillo für die Herrschenden in Peru einen Grund zur Nervosität liefern. Dies war schon sichtbar an der krassen antikommunistischen Rhetorik während des Wahlkampfes, mit der die Gefahr eines neuen Venezuela beschworen wurde. Nach dem knappen Wahlerfolg von Castillo am 6. Juni setzte dann eine beispiellose Kampagne gegen die drohende Amtsübernahme durch den „Kommunisten“ ein.

Die „Betrugs“-Kampagne

Schon Donald Trump hat gezeigt, wie heutzutage die extreme Rechte mit Wahlen umgeht. Ein nicht passendes Wahlergebnis wird einfach als Betrug deklariert und alle entgegenstehenden Beweise werden als Fälschungen abgewiesen. Der Wahrheitsgehalt ist dabei nicht entscheidend, sondern die Massivität der Mobilisierung für den Wahlfälschungsvorwurf, der eine genügend umstürzlerische Wirkung entfalten muss. Dabei spielen Rassismus und Klassenhass eine wesentliche Rolle. Das Zentrum des Wahlbetrugsvorwurfs ist eigentlich, dass bestimmte „minderwertige“ Menschen gar nicht wählen können dürften bzw. sich das Wahlrecht irgendwie „unrechtmäßig“ erschwindelt hätten. Dazu kommen natürlich große „globalistische“ Verschwörungen, die die Wahlmaschinen oder die Wahlbeobachtung manipuliert hätten (der antisemitische Unterton mag dabei einmal offener, einmal wenig zum Vorschein kommen).

Auch in Peru sind die Beweise für Wahlbetrug praktisch nicht vorhanden. Alle WahlbeobachterInnen haben dem Verfahren ein mustergültiges Zeugnis ausgestellt. Selbst die sonst bei linken Erfolgen eher „kritischen“ BeobachterInnen der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) oder der USA haben nichts von Betrug wahrgenommen. Trotz alledem hat Fujimori eine wahre Armada der besten AnwältInnen des Landes aufstellen können, die das Wahlgericht mit Klagen im Umfang von 200.000 Stimmen überrollt hat. Auch wenn dieses bisher nichts gefunden hat, das größere Unregelmäßigkeiten erkennen lässt, wurde damit genug Sand ins Getriebe geworfen, um parallel mit rechten Massenprotesten starten zu können. Ein immer größer werdender rechter Mob droht mit immer aggressiveren Ausschreitungen – bei den Kundgebungen werden die Konquistadorenkreuze zusammen mit dem Hitlergruß gezeigt, um zu betonen, dass Peru „europäisch“ ist und nicht in die Hände „kommunistischer Indios“ kommen dürfe. Dazu kommen Aufrufe tausender Ex-Militärs, die ihre aktiven KameradInnen dazu auffordern, „Peru vor dem Kommunismus“ zu retten. Auch Nobelpreisträger wie der Dichter Vargas Llosa erklären sich inzwischen für den Eingriff des Militärs zur „Rettung des Vaterlands“. Tatsächlich ist bei einer weiteren Verzögerung der Verkündung des endgültigen Wahlresultats und gleichzeitiger Paralyse des Kongresses ein Eingreifen des Militärs womöglich nicht mehr in weiter Ferne.

Die Antwort der ArbeiterInnenklasse

Die rechte, antidemokratische Mobilisierung muss mit aller Macht in die Schranken gewiesen werden. Bei aller Kritik an Castillo und den linksreformistischen und populistischen Parteien, die er vertritt, müssen die demokratischen Rechte samt der Anerkennung von Wahlergebnissen verteidigt werden. Dies bedeutet auch, dass gegen die gewaltsamen Proteste der Rechten auch entsprechende Massenmobilisierungen und Selbstverteidigungsauschüsse von ArbeiterInnen, Indigenen, der ländlichen Armut sowie aller anderen unterdrückten Sichten der Gesellschaft organisiert werden müssen. Gegen jegliche Versuche, die demokratischen Rechte auf autoritäre Weise – sei es durch einen Militärputsch oder durch eine Aberkennung des Wahlsiegs durch die Wahlkommission – zu unterdrücken, muss der Generalstreik auf Grundlage der Basisorgane des Gegenprotestes und der Gewerkschaften organisiert werden. Diese Mobilisierung der ArbeiterInnen, Indigenen und armen Bauern/Bäuerinnen muss auch genutzt werden, um die von Castillo versprochene verfassunggebende Versammlung in ein Organ zu verwandeln, deren Wahl und Einberufung von ebendiesen Organen kontrolliert und überwacht wird.

In einer solchen verfassunggebenden Versammlung müssten RevolutionärInnen einen offenen Kampf für eine sozialistische Umwandlung, für die Enteignung des peruanischen und ausländischen Großkapitals unter ArbeiterInnenkontrolle, für die Streichung der Auslandschulden und die Enteignung des Großgrundbesitzes führen. Sie müssten für einen Sofortplan zur Bekämpfung von Armut und Pandemie eintreten.

Um dies zu sichern, wird der Kampf selbst den Rahmen einer solchen Versammlung sprengen müssen. Für eine sozialistische Umwälzung muss der bestehende bürgerliche Staats- und Repressionsapparat zerschlagen werden und die einfachen SoldatInnen müssen auf die Seite der Massen gezogen werden, indem sie sich weigern, den putschistischen Gelüsten der Rechten zu folgen und SoldatInnenkomitees und -räte bilden, die unabhängig vom militärischen Kommando agieren. Vor allem aber müssen die Strukturen des Kampfes gegen einen möglichen Putsch und für entschiedene Reformen in Räte und bewaffnete Organe zur Verteidigung dieser Umwälzung weiterentwickelt werden. Angesichts des Zustandes der Linken in Peru wird diese Zielsetzung letztlich nur erreicht werden können, wenn sich im Kampf um proletarische Unabhängigkeit in dieser Linken eine tatsächliche revolutionäre ArbeiterInnenpartei herausbildet, um diesen zum Sieg zu führen!