Der Krise entgegen. Von der Krise der Globalisierung zur sozialistischen Revolution

Manifest der Liga für die Fünfte Internationale

Verabschiedet vom XII. Kongress, Juni 2023

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die neue Weltunordnung

2.1 Die Ursachen der Krise

2.2 Europa

2.3 Die Halbkolonien

2.4 Von der Rivalität zum Krieg

2.5 Klimakatastrophe

2.6 Rezession

3. Kampf und Führung

3.1 Fronten des Widerstands

3.2 Krise der Führung

4. Ein Programm von Übergangsforderungen

4.1 Einleitung

4.2 Gegen die kapitalistische Offensive

4.2.1 Ein existenzsicherndes Einkommen, Arbeit für alle und Kontrolle durch die Arbeiter:innen

4.2.2 Für universelle öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherheit

4.2.3 Enteignung des Vermögens der Reichen

4.2.4 Für einen Plan der Arbeiter:innen zu internationaler Produktion und Entwicklung

4.3 Militarismus und Krieg

4.4 Kampf gegen die Klimakatastrophe

4.4.1 Die Stadt umgestalten

4.4.2 Befreiung des ländlichen Raums

4.5 Die digitale Revolution

4.6 Die Gewerkschaften

4.7 Von der Streikpostenverteidigung zur Arbeiter:innenmiliz

4.8 Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen den Faschismus

4.9 Verteidigung der demokratischen Rechte

5. Der Kampf gegen soziale Unterdrückung

5.1 Für Frauenbefreiung

5.2 Gegen die Unterdrückung von Lesben, Schwulen und nicht-binären Menschen

5.3 Für die Befreiung der jungen Menschen

5.4 Rassismusbekämpfung – Verteidigung von Flüchtlingen und Migrant:innen

5.5 Nationale Befreiung und die permanente Revolution

6. Der Kampf um die Macht

6.1 Für eine Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen

6.2 Der Aufstand

6.3 Unser Ziel: Weltrevolution und Kommunismus

7. Eine revolutionäre Partei und Internationale

7.1 Für eine neue, Fünfte Internationale!

1. Einleitung

Die Welt steht vor einer tieferen und weiter reichenden Krise als vor der großen Rezession von 2008 – 2010. Auf den schwachen Aufschwung, der durch historisch niedrige Zinssätze gestützt wurde, folgte ein Jahrzehnt der Beinahe-Stagnation. Dies hat zu einem weltweiten Inflationsanstieg geführt, dessen Folgen eine Krise der Lebenshaltungskosten sind, die den Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse dramatisch zu senken droht, sowie Not, Unterernährung und buchstäbliches Verhungern für Dutzende von Millionen Armen in der Welt bedeutet.

Die durch die Pandemie verursachte wirtschaftliche Verwerfung der globalen Produktions- und Handelsketten, die beispiellosen Kosten der durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Sanktionen und Aufrüstungsprogramme und die sich beschleunigenden und vervielfachenden Folgen des Klimawandels – diese miteinander verknüpften Krisen konfrontieren die Menschheit mit einem starken Sturm, der nur eine Ursache hat: die kapitalistische Produktion und die imperialistische Weltordnung, die sie aufrechterhält.

Die wiederholten Wirtschaftskrisen, die sich verschärfende Rivalität der Großmächte, Überschwemmungen, Brände, Dürren und Hungersnöte spiegeln sich auch in der politischen Arena wider. Dies äußert sich im Erstarken populistischer und rechtsextremer Straßenbewegungen, im Wuchern reaktionärer, irrationalistischer Ideologien und Verschwörungstheorien in den sozialen Medien. Militärputsche nutzen die Unfähigkeit der schwachen „demokratischen“ Regierungen in den Halbkolonien aus, die sich verschärfende soziale Krise zu bewältigen; die Wahl reaktionärer Demagog:innen, die sogenannte „Kulturkriege“ führen, dient dazu, den sozialen Fortschritt und die Rechte der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten zu untergraben.

Angesichts dieser sich vervielfachenden Krisen sind die traditionellen reformistischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, ob „sozialistisch“ oder stalinistisch, angesichts ihrer Unfähigkeit, ihre Massenbasis zu verteidigen, verwelkt. Das „neue“ Modell der linkspopulistischen, neoreformistischen oder zentristischen Parteien, das an ihre Stelle treten sollte, hat entweder kapituliert oder sich aufgelöst. An ihre Stelle sind immer extremere rechtsradikale und sogar offen faschistische Parteien getreten, die religiöse, rassistische und nationale Vorurteile ausnutzen.

Spontaner Widerstand gegen diese Krisen flammt überall in der Welt auf und wirft die Notwendigkeit einer Führung der Arbeiter:innenklasse auf, die einen Weg zum Sieg bahnen kann. Die mal ausbrechende, mal schwelende Kette von Bevölkerungsaufständen vom Arabischen Frühling über die Antiausteritätsbewegungen der EU-Schuldenkrise bis hin zu den Frauen an vorderster Front der iranischen und sudanesischen Revolutionen zeigt: All diese Gelegenheiten, die das Potenzial für einen entscheidenden Bruch mit dem herrschenden System in sich trugen, verstrichen ungenutzt, wobei der Preis der Niederlage nicht überall der Abstieg in eine brutale Konterrevolution war.

In jedem Fall liegt gerade im Fehlen einer gefestigten und verankerten Organisation, die mit der Strategie und Taktik – dem Programm – bewaffnet ist, um die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten zur Machtergreifung zu führen, der elementare subjektive Faktor für die Ursache der Niederlage. Das Scheitern der revolutionären Ausbrüche in den Halbkolonien ist nur der lokale Ausdruck der Krise der Führung, einer Krise, die sich in den Gewerkschaften, den Parteien und den revolutionären Organisationen der Arbeiter:innenklasse insgesamt manifestiert.

Dieses Dilemma begründet sich nicht nur in der jeweiligen nationalen Situation. Es stellt sich weltweit in der Notwendigkeit einer neuen revolutionären Internationale dar, einer Nachfolgerin der vorherigen vier, die aus deren Fehlern und Erfolgen lernt. Die Menschen, die den Grundstein für eine neue Internationale legen können, finden sich bereits unter der Avantgarde der Massenkämpfe in aller Welt. Es ist von größter Dringlichkeit, sie sowohl international als auch in jedem Land zusammenzubringen. Vor allem müssen sie für ein revolutionäres Aktionsprogramm gewonnen werden, das weltweit gilt und die notwendige Antwort auf die Machtfrage gibt, die die strategische Lösung für die allgemeine Krise des kapitalistischen Systems darstellt.

Die Liga für die Fünfte Internationale veröffentlicht dieses Programm als Beitrag zu einer Diskussion und Annäherung der revolutionären Kräfte in den kommenden Jahren, verbunden mit Vorschlägen für gemeinsame Aktionen und Kampagnen, neben einer ernsthaften Debatte über das Programm, das eine neue, revolutionäre Internationale entwickeln muss. Was wir vorschlagen ist weder vollständig noch umfassend, aber es wird als unser Angebot für gemeinsame Aktionen und ernsthafte Diskussionen mit denjenigen präsentiert, die die zwingende Notwendigkeit einer neuen Internationale akzeptieren, deren Organisation und Führung die Voraussetzung dafür ist, den Kreislauf von spontanem Widerstand und Niederlage zu durchbrechen.

2. Die neue Weltunordnung

2.1 Die Ursachen der Krise

Die Ursachen für die Systemkrisen des Kapitalismus liegen nicht im Mangel oder in der Unfähigkeit, das zu produzieren, was die Menschheit braucht. Die Fabriken, ihre Arbeitskräfte, die Produktions-, Logistik- und Kommunikationsmittel, neue und alte, sind im Überfluss vorhanden, ebenso wie die wissenschaftlichen und technologischen Mittel, um Pandemien und den Klimawandel zu bekämpfen. Die sozialen Mittel für eine globale Planung sind bereits in den multinationalen Konzernen und den riesigen Banken vorhanden, aber durch Privateigentum und interne Konkurrenz nur separat verfügbar. Dieser Widerspruch hat sich bei der Reaktion auf die Pandemie gezeigt: einerseits die rasche Entwicklung von Impfstoffen, andererseits deren ungleiche Verteilung an die Bevölkerungen unseres Planeten. Bis Juni 2023 haben 29,9 % von ihnen noch keine einzige Impfung erhalten.

Die grundlegende Ursache für die Krise des Systems liegt in der massiven Überakkumulation von Kapital, das nicht in der Lage ist, in gleichem oder höherem Maße als in der Boomphase der Globalisierung ausreichende Gewinne aus der Produktion zu erzielen. Dies ist der Grund dafür, dass der „Aufschwung“ nach der letzten Rezession schnell an Dynamik verloren hat und in weiten Teilen der Weltwirtschaft in Stagnation übergegangen ist. Da es nach der Großen Rezession nicht gelungen ist, dieses Problem auf die einzige Art zu lösen, die Kapitalist:innen immer anwenden, nämlich durch Kapitalvernichtung auf breiter Front, droht nun der Massenbankrott sogenannter Zombieunternehmen, die schätzungsweise 16 % bis 20 % aller Firmen in den USA ausmachen.

Da dies die Zerstörung großer Industrie- oder Handelszweige bedeuten würde, ist eine solche Entwicklung ein letzter Ausweg und eine riskante Option für das Kapital. Im Jahr 2008 hätte es die Spitzen des Finanzkapitals getroffen, die Investment-, Hypothekenbanken und multinationale Automobilhersteller wie General Motors und Chrysler, die als „zu groß zum Scheitern“ eingestuft worden sind. Viele von ihnen wurden auf Kosten der Steuerzahler:innen aus der Arbeiter:innen- und Mittelschicht gerettet. Die Maßnahmen der Federal Reserve Bank der USA führten die Welt auch zu einer enormen Ausweitung der Geldmenge (Quantitative Easing), die es Unternehmen, Staaten und Einzelpersonen ermöglichte, noch mehr Schulden anzuhäufen und den Grundstein für einen zukünftigen Zusammenbruch zu legen.

Die von der neoliberalen und monetaristischen Theorie diktierte Lösung, die gigantische Kapitalvernichtung zur Wiederherstellung der Profitraten, kann nur zu enormen Kosten für die Arbeiter:innenschaft der ganzen Welt erfolgen. Natürlich besteht die Antwort darin, sich Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit entgegenzustellen, aber große Zugeständnisse seitens der Unternehmer:innen würden keine Rückkehr zum vorherigen Status quo bedeuten, sondern das Chaos eher noch vertiefen. Daraus ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, die Kontrolle über die Produktion denjenigen anzuvertrauen, die die Arbeit verrichten, und die Staatsmacht in die Hände der arbeitenden Menschen zu legen, nicht in die der wenigen Ausbeuter:innen. Dies kann nur auf dem Weg der Revolution – der Zerstörung der Staatsmacht der Kapitalist:innenklasse – geschehen, nicht auf dem Weg der Reform.

Die Globalisierung erwies sich als eine vorübergehende Lösung für den Kapitalismus. Sicherlich hat sich der Grad der internationalen Integration zwischen den großen Zentren der Kapitalakkumulation unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer internationalen Finanzinstitutionen, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation, enorm erhöht. Sie beruhte in hohem Maße auf einer wohlwollenden Symbiose der USA und der EU mit China als Markt für Spitzentechnologie und als neue Produktionsstätte der Welt. Doch in der Epoche der vollen Reife des Kapitalismus, ja seiner Überreife, der Epoche des Imperialismus, musste eine schnell wachsende neue kapitalistische Macht wie China entweder der bestehenden hegemonialen Weltmacht untergeordnet werden und zu dem werden, was Marxist:innen eine Halbkolonie nennen, oder selbst zu einer imperialistischen „Großmacht“ emporsteigen.

Chinas Bereitschaft, in den exklusiven Klub der imperialistischen Mächte aufzusteigen, zeigte sich nach 2008, als es eine wichtige Rolle dabei spielte, die Weltwirtschaft aus der Großen Rezession herauszuziehen. Doch dann begann es, als Investor in Regionen zu expandieren, die bis dahin von den alten Imperialismen Nordamerikas, Westeuropas und Ostasiens beherrscht wurden. Dies führte unweigerlich zu einer Verschärfung der Rivalität und des Konflikts zwischen den alten und neuen Mächten. Die Fähigkeit der Kommunistischen Partei Chinas, mit Repressionen im Stil von Tian’anmen und Präsident Xi Jinpings Einführung eines Massenüberwachungsstaates zu drohen, beruht auf dem Aufstieg der chinesischen Bevölkerung aus der Armut und der Rolle des Landes als zweitstärkster Wirtschaft der Welt. Jeder ernsthafte oder anhaltende Rückzug von diesem Wohlstand, sei es durch wirtschaftlichen Abschwung oder militärische Abenteuer, wird diesen untergraben und das Gespenst der Revolution heraufbeschwören.

Im Gegensatz dazu fußte Russlands Fähigkeit, dem Schicksal der Unterordnung unter die Supermacht USA zu entgehen, eher auf der Rente aus seinen reichhaltigen natürlichen Ressourcen als auf dem industriellen Wachstum. Während der „Schocktherapie“, mit der Russland in den Kapitalismus eingeführt wurde, schrumpfte seine Wirtschaft um 40 Prozent, während die Inflation in die Höhe schoss. Engpässe bei den Grundnahrungsmitteln wurden zur Norm und ein Drittel der Bevölkerung fiel in Armut. Die sozialen Sicherungen der Sowjetära wurde dezimiert. Als unter Präsident Jelzin Russland 1992 in den IWF aufgenommen wurde, beschleunigte eine Reihe von Krediten mit harten Bedingungen (Kürzungen bei Sozialleistungen, Bildung usw.) den Abwärtstrend.

Präsident Putins Popularität war, zumindest anfangs, nicht das Ergebnis einer brutalen Unterdrückung der Opposition. Nach 2000 gelang es ihm, die schamlose Ausplünderung der Wirtschaft durch die Oligarch:innen und die Abzweigung des Reichtums in westliche Banken und Steuerparadiese zu unterbinden. Durch die Übernahme der Kontrolle über die Öl- und Gaskonzerne Lukoil, Rosneft usw. konnte er den wirtschaftlichen Niedergang aufhalten und den Lebensstandard in bescheidenem Maße wiederherstellen. Doch seine Versuche, den Westen dazu zu bewegen, Russland eine Einflusssphäre in den Staaten der ehemaligen UdSSR sowie in denen Afrikas und des Nahen Ostens, die früher enge Beziehungen zur UdSSR unterhielten, zuzugestehen, wurden wiederholt abgelehnt. Im Jahr 2005 bezeichnete er den Zusammenbruch der Sowjetunion (an dem er maßgeblich beteiligt war) als „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ und eine „echte Tragödie“ für das russische Volk, da sich „Dutzende Millionen“ von ihnen außerhalb des russischen Staatsgebiets wiederfanden.

Heute ist Russland wirtschaftlich nicht mit China gleichzusetzen. Es gehört nicht einmal zu den zehn größten Volkswirtschaften; sein Bruttoinlandsprodukt von 1,4 Billionen US-Dollar wird von dem der Vereinigten Staaten (20 Billionen US-Dollar) und Chinas (14 Billionen US-Dollar) in den Schatten gestellt. Es entspricht in etwa dem von Brasilien, liegt aber unter dem von Indien und sogar Südkorea. Seine technologischen Stärken finden sich in der Weltraumforschung, der Kernenergie und der militärischen Ausrüstung. Doch obwohl es ein wirtschaftlicher Zwerg ist, bleibt Russland ein militärischer Riese, der in Bezug auf die weltweite Feuerkraft und – zumindest vor dem Ukrainekrieg – auch in Bezug auf die militärischen Kapazitäten an zweiter Stelle hinter den USA stand. Dies war die Grundlage für Putins Fähigkeit, im Nahen Osten, in Afrika sowie im nahen Ausland als Friedensstörer aufzutreten.

2.2 Europa

Die beiden dominierenden Volkswirtschaften der Europäischen Union, Deutschland und Frankreich, sind seit langem bestrebt, die Unabhängigkeit des Blocks gegenüber den USA zu stärken und Europa als weltweiten Konkurrenten des chinesischen und amerikanischen Kapitals zu etablieren. Eine Reihe von Veränderungen in der internationalen Dynamik, beginnend mit Barack Obamas Hinwendung zu Asien, dem Austritt Großbritanniens, des engsten Verbündeten der USA, aus dem Block, der Förderung engerer Verbindungen mit Eurasien durch den Öl- und Gashandel und Chinas Seegürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) schienen eine zunehmend unabhängige Rolle für einen europäischen Imperialismus zu begünstigen. Doch der Ukrainekrieg hat mit einem Schlag die Vorherrschaft der USA auf dem Kontinent wiederhergestellt und die Pläne von Paris und Berlin zunichtegemacht.

Trotz Großbritanniens Austritt bleibt die EU einer der drei großen Blöcke des Kapitals. Während die Produktivkräfte des europäischen Kapitalismus längst über die Staatsgrenzen seiner Nationen hinausgewachsen sind, zeigt die anhaltende Krise, die die Union seit 2008 heimgesucht hat, dass die kapitalistischen Klassen Europas nicht in der Lage sind, die historisch fortschrittliche Aufgabe der Einigung des Kontinents zu erfüllen.

Die Europäische Union mit ihren Verträgen, ihrer Kommission, ihrer Europäischen Zentralbank und ihrer Währung ist ein Zwangsapparat zur Ausbeutung der Peripherie durch den imperialistischen Kern. Sie hat die südeuropäischen Staaten zum Schutz der imperialistischen Finanziers zu brutaler Sparpolitik gezwungen, stellt ein Reservoir an materieller und diplomatischer Hilfe für die Abenteuer des US-Imperialismus bereit und führt ihre Geschäfte hinter den Mauern der NATO und der Festung Europa. Diese imperialistische Architektur kann nicht umgestaltet werden, um sozialen Zielen zu dienen: Sie muss durch eine sozialistische Revolution abgeschafft werden, die in einem sozialistischen vereinigten Europa gipfelt.

Revolutionäre Kommunist:innen haben jedoch immer die Illusion zurückgewiesen, dass der Weg zur Vereinigung auf einer höheren, demokratischen, sozialistischen Grundlage notwendigerweise über die Zerlegung großer politischer oder wirtschaftlicher Einheiten in ihre Bestandteile führt. Wir versuchen vielmehr, sie so zu vergesellschaften und zu planen, dass sie die Menschheit voranbringen. Der Sozialismus erfordert einen kontinentalen, ja globalen Maßstab der integrierten Produktion. Die Perspektive des Sozialismus in einem Land ist heute noch reaktionärer, als sie es war, als Stalin sie vor einem Jahrhundert proklamierte.

Die Zurückdrängung der Produktivkräfte in 28 Nationalstaaten, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Zollschranken, die Unterbrechung des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs, die Behinderung der Entwicklung der Produktivkräfte, die Verschärfung der zwischenstaatlichen Rivalitäten, die weitere Spaltung der Arbeiter:innenklassen dieser Staaten im Namen einer vorgetäuschten wirtschaftlichen Souveränität können nur den nationalen Antagonismus, den wirtschaftlichen Niedergang und schließlich den Rückgriff auf einen imperialistischen Krieg fördern.

Die Aufgabe der Einigung Europas, die von den Kommunist:innen vor mehr als einem Jahrhundert vor dem Gemetzel zweier Weltkriege als notwendig erkannt wurde, fällt der Arbeiter:innenklasse zu, wenn sie einen Dritten Weltkrieg vermeiden will. Das Mittel, mit dem sie dies erreichen kann, ist die europaweite Revolution. Ausgehend von den heutigen Kämpfen gegen Sparhaushalte, Privatisierung, Krieg, Ungleichheit, Rassismus und Umweltzerstörung müssen die europäischen Arbeiter:innen ihre Kämpfe vereinen und ihnen ein gemeinsames Ziel geben – den Sozialismus im kontinentalen Maßstab.

2.3 Die Halbkolonien

Im globalen Süden hat die Illusion, dass die fortgeschrittenen halbkolonialen Länder den chinesischen Weg zur Entwicklung beschreiten, einen Todesstoß erhalten. In der Hochphase der Globalisierung wurden viele als „aufstrebende Volkswirtschaften“ bezeichnet, die für eine nachhaltige Entwicklung prädestiniert schienen – die asiatischen Tigerstaaten, die sogenannten BRICS-Länder, Mexiko, Indonesien, Nigeria und die Türkei. Aus diesem Optimismus heraus wurde im Jahr 2003 die G20-Gruppe gegründet. Doch in den folgenden zwei Jahrzehnten entkam mit Ausnahme von Russland und China keines dieser Länder der imperialistischen Vorherrschaft.

Die Situation der schwächeren Halbkolonien wurde nach der Krise von 2008 auf grausame Weise offengelegt. Die Dollarflucht machte die hohe Verschuldung deutlich; die von den Gläubiger:innen auferlegten Kürzungen der Lebensmittel- und Treibstoffsubventionen lösten eine Kette von Ereignissen aus, die im Arabischen Frühling gipfelte.

Die Folgen der imperialistischen Missgeschicke im Irak und in Afghanistan (und später in Syrien und der Ukraine) haben die Verarmung und den Mangel an Sicherheit der Völker noch verstärkt. Beim Widerstand gegen die Wiedereinführung noch härterer autoritärer Regime in Algerien, im Sudan und in Rojava hat die Arbeiter:innenklasse oft eine wichtige, aber keine entscheidende Rolle gespielt; nirgendwo hat sie die Regime gestürzt.

In ganz Subsahara-Afrika behalten Großbritannien und Frankreich ihren Einflussbereich auf ihre ehemaligen Kolonialgebiete mit mehr oder weniger großem Nachdruck bei. Frankreich übt zwar immer noch die Kontrolle über die Währungspolitik der CFA (Cooperation Financière en Afrique) -Länder Zentralafrikas aus, doch seine Fähigkeit, Regierungen zu stützen oder zu ersetzen, wird durch den Rückgriff auf den Schutz durch russische Stellvertretertruppen zunehmend in Frage gestellt. Die Flut schwer bewaffneter islamistischer „Terrorist:innen“ in der Sahelzone war in hohem Maße das Ergebnis der US-Intervention in Libyen, obwohl sie auch mit der fortschreitenden Wüstenbildung in der Region zusammenhängt, die ein Produkt des Klimawandels ist und die Viehzüchter:innen gegen die sesshaften landwirtschaftlichen Gemeinschaften aufbringt.

In Lateinamerika haben die von Inflation, Arbeitslosigkeit und Schuldknechtschaft geplagten Volkswirtschaften einige rechte Regierungen zu Reformen herausgefordert, aber überall haben sich die Oppositionellen als unwillig erwiesen, die Arbeiter:innen und die Armen auf dem Land und in der Stadt gegen die Elite zu führen. Putsche und konterrevolutionäre Bewegungen waren der Preis dafür.

Die Europäische Union hat in den 2000er Jahren 13 Länder aufgenommen, darunter den größten Teil des ehemaligen Ostblocks. In allen Fällen waren diese an die imperialistischen Bedürfnisse Deutschlands und in geringerem Maße Frankreichs und Italiens als Quelle billiger Arbeitskräfte und Standort für die durch Produktionsauslagerung erzielten Superprofite gebunden. Autoritäre Regierungen neigen dazu, sich mit einer Mischung aus rechtem Nationalismus und neoliberalem „Wachstum“ auf dieses Pulverfass zu setzen.

Die halbkoloniale Abneigung gegen die westlich dominierte imperialistische Ordnung wurde von China geschickt durch die sogenannte „Schuldendiplomatie“ ausgenutzt, indem es Kredite ohne menschenrechtliche Auflagen anbot. Aber wie Sri Lanka zeigt, hat der Austausch eines imperialistischen Kredithais gegen einen anderen diese Länder weder vor den Verwüstungen der internationalen Märkte geschützt noch ihren neuen Gläubiger daran gehindert, seine Eigentumsrechte an seinen Investitionen geltend zu machen.

2.4 Von der Rivalität zum Krieg

In den letzten zehn Jahren hat sich eine neue Phase der Rivalität zwischen den alten imperialistischen Mächten Europa, Nordamerika und Japan und den Neuankömmlingen China und Russland entwickelt, die ihren Platz an der Sonne einfordern. Früher oder später musste dies in einen offenen Konflikt münden. Die Ära der wohlwollenden Synergie zwischen den USA und China in den 1990er und frühen 2000er Jahren, die den Anspruch Washingtons untermauerte, eine neue Weltordnung geschaffen zu haben, ist längst vorbei. Russland, dessen kapitalistische Restauration sich endlich von den Nachwirkungen der „Schocktherapie“ erholt hatte, war der Ansicht, dass diese „Ordnung“ seinen Einflussbereich verkleinert hatte, und machte sich daran, ihn durch militärische und politische Interventionen wiederherzustellen – im Kaukasus, im Nahen Osten, in Afrika südlich der Sahara und in Osteuropa.

Jetzt erleben wir nicht nur einen Verdrängungswettbewerb, sondern auch Handelskriege, einen neuen Kalten Krieg und stellvertretende heiße Kriege. Libyen, Syrien, Jemen, Äthiopien, Sudan, Myanmar, Mali und andere sind Opfer einer neuen Periode der Großmachtrivalität, in der regionale und imperialistische Mächte Bürger:innenkriege schüren und die Bestrebungen nach Wirtschaftsentwicklung und Bekämpfung des Klimawandels zunichtemachen.

Darüber hinaus droht ein Krieg zwischen den Großmächten, deren Pulverfässer in Osteuropa, im Nahen und Fernen Osten liegen. Neue Allianzen werden ins Leben gerufen (AUKUS: Militärbündnis USA, Großbritannien mit Australien)) und alte aufgefrischt (NATO, Quad: Quatrilateraler Sicherheitsdialog; Block aus USA, Australien, Indien und Japan). Dazu gehören auch das Säbelrasseln im Südchinesischen Meer und der Versuch der westlichen imperialistischen Mächte, Putin durch massive Waffenlieferungen an die Ukraine und beispiellose Wirtschaftssanktionen zu demütigen und stürzen.

Das von den USA und dem Vereinigten Königreich geführte Sanktionsregime und die Aussetzung der russischen Öl- und Gaslieferungen nach Europa stellen einen großen Rückschlag für das deutsch-französische Projekt dar, die EU in einen unabhängigen imperialistischen Block zu verwandeln. Die Widersprüche innerhalb Europas werden immer größer, je länger der Krieg andauert. Europa ist das schwächste Glied in der imperialistischen Kette und trotz aller Niederlagen, die seine Arbeiter:innen im letzten Jahrzehnt erlitten haben, bleibt es der Kontinent mit den politisch erfahrensten Arbeiter:innenbewegungen, wenn auch mit den Führungen, die am routiniertesten darin sind, sie zu verraten.

Doch die Machthaber:innen in Washington, Berlin, Paris und London, auch in Peking und Moskau, spielen mit dem Feuer. Das Erbe von Donald Trumps Präsidentschaft und seine Umwandlung der Republikaner:innen in eine rechtspopulistische Partei, die demokratische Konventionen wie die Anerkennung von Wahlergebnissen verachtet, ist ein wichtiger Destabilisierungsfaktor, auch wenn sich Präsident Bidens Außenpolitik nur in den Schwerpunkten von der seines Vorgängers und potenziellen Nachfolgers unterscheidet. Schon jetzt setzt Trumps Oberster Gerichtshof eine reaktionäre Agenda gegen Frauen um (Aufhebung des Urteils Roe versus Wade, das Abtreibungen erlaubte) und ist bestrebt, Farbigen ihre hart erkämpften Bürger:innenrechte zu entziehen. Die giftigen Unterschiede zwischen liberalen und reaktionären US-Bundesstaaten und Wähler:innenblöcken bedrohen die Supermacht der Welt mit lähmenden internen Konflikten. Die Rolle der Vereinigten Staaten als Polizist einer „Weltordnung“ verkehrt sich in ihr Gegenteil, in die eines Brandstifters.

In Russlands vermeintlicher Einflusssphäre flammten im Kaukasus Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach und in Zentralasien zwischen Kirgistan und Tadschikistan um das Gebiet Batken auf. Das Vorhandensein mehrerer gemischter Ethnien ist eine Einladung an die despotischen Herrscher:innen dieser Gebiete, den internen Druck durch Kriege und ethnische Säuberungen zu lösen, wie sie in den 1990er Jahren Jugoslawien zerrissen haben.

Im Nahen Osten, in Syrien, wo die russischen Truppen noch immer präsent sind, und in Rojava, wo das US-Militär noch immer stationiert ist, sowie in der Türkei, die die kurdischen Streitkräfte auf beiden Seiten ihrer Grenze bedroht, schlummert ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann; trotz der chinesischen Vermittlung wird sich der Bürger:innenkrieg im Jemen wahrscheinlich als hartnäckiger Ausdruck der von den Großmächten angeheizten saudi-iranischen Regionalkonkurrenz erweisen. Unterdessen nutzt Israel den Krieg in Europa, um seine Besiedlung des Westjordanlands und Ostjerusalems zu verstärken. Seine westlichen Unterstützer:innen, ob sozialdemokratisch, liberal oder konservativ, arbeiten unermüdlich daran, die Palästinasolidaritätsbewegung mit dem Vorwurf des Antisemitismus zum Schweigen zu bringen.

Trump, Biden und Putin, die alle behaupteten, ihre Staaten seien „wieder da“, finden ihre Nachahmer:innen in Delhi, Ankara, Brasilia, Jerusalem und Riad. Jetzt tauchen solche „Störenfriede“ auch in Europa auf – in Ungarn, Polen und möglicherweise auch in Schweden, Italien oder Spanien.

Hinter diesen autoritären Führer:innen haben im letzten Jahrzehnt reaktionäre, oft rassistische Massenbewegungen zugenommen, die sich gegen Minderheiten richten und sich unter den Bedingungen einer tiefen und lang anhaltenden sozialen Krise zu vollwertigen faschistischen Bewegungen entwickeln können. All diese Prozesse stellen nach den Entwicklungen der vorangegangenen Jahre einen bedeutenden Rechtsruck dar; sie sind eine ernsthafte Herausforderung für die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten in der Welt, ihre Kampfkräfte zur Verteidigung der vergangenen Errungenschaften neu zu formieren. Aber der Erfolg erfordert die Vorbereitung der Mittel, um in die Offensive zu gehen, um die Gesellschaft dauerhaft von diesen Kräften zu befreien, die die Welt in die Katastrophe zu führen drohen.

Internationalist:innen auf der ganzen Welt müssen sich dagegen wehren, in eines der sich bekriegenden imperialistischen Lager hineingezogen zu werden, auch nicht durch deren Behauptung, Demokratie oder Antiimperialismus zu vertreten. Die USA und ihre NATO-Verbündeten sind nicht mehr das einzige imperialistische Lager, und China und Russland sind keine Antiimperialist:innen. In den alten „demokratischen“ imperialistischen Ländern Nordamerikas und Europas nutzen die herrschenden Klassen die berechtigte Empörung der Massen über Russlands Gräueltaten in der Ukraine oder Chinas Unterdrückung der Uigur:innen, der Tibeter:innen oder die Zerschlagung der demokratischen Rechte in Hongkong aus, um ihre kalten Kriege, ihre Aufrüstung und den Einsatz von Kriegen wie dem der Ukraine als Stellvertreterin zu rechtfertigen, um Russland zu schwächen. Ihre Behauptung, die Demokratie gegen die Autokratie zu verteidigen, ist lediglich eine Waffe, um fortschrittliche Menschen zu täuschen und rekrutieren.

Andererseits umwerben Moskau und Peking die Regierungen der halbkolonialen Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, indem sie die Heuchelei des Westens anprangern, seine wirtschaftliche Ausbeutung und Nötigung durch den IWF, die Auferlegung rücksichtsloser Sparmaßnahmen, seine brutalen Invasionen, die denen Russlands völlig gleichkommen, und seine Besetzungen, seine Wirtschaftsblockaden (Kuba, Venezuela, Iran, Nordkorea) beim Namen nennen und beschämen. Beide Lager können sich gegenseitig schwere ideologische Schläge versetzen, weil beide Anschuldigungen weitgehend wahr sind. Aber die Wahrheiten über die Verbrechen der einen Seite dürfen uns nicht blind machen für die ebenso entsetzlichen Verbrechen der anderen. Nichtsdestotrotz müssen Revolutionär:innen die Berechtigung derjenigen, die legitimen Widerstand gegen die Plünderungen einer der imperialistischen Mächte leisten, objektiv bewerten und anerkennen, während sie gleichzeitig den eigentlichen Grund der Gegner:innen aufdecken, sich für ihre Opfer einzusetzen, und damit das Gebot der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse vom und den Widerstand gegen den Imperialismus in Ost und West zu verteidigen.

So können wir uns für den Kampf der Ukraine um Selbstverteidigung oder für die von Peking bedrohten oder unterdrückten Völker einsetzen, ohne die Kriegsvorbereitungen und das Wettrüsten der NATO-Mächte zu unterstützen, geschweige denn direkt militärisch zu intervenieren. Gegenüber allen imperialistischen Mächten vertreten wir den striktesten revolutionären Defätismus: Mit den Methoden des Klassenkampfes, um ihre Kriegspläne zu vereiteln und zu besiegen, bereiten wir die revolutionären Kräfte und die objektive Grundlage für die soziale Revolution und den Sturz unserer eigenen Herrscher:innen vor. In den Ländern, die politisch und wirtschaftlich dem Imperialismus untergeordnet sind (Halbkolonien), verteidigen wir diese gegen den Imperialismus, wobei wir eine unbedingte politische Opposition und Unabhängigkeit von ihren bürgerlichen Führungen aufrechterhalten. In diesen Ländern ist unsere Perspektive die der permanenten Revolution: durch den Kampf, die Arbeiter:innenklasse an die Spitze eines legitimen Krieges zu bringen, den Weg zu einer sozialen Revolution unter ihrer Führung zu öffnen.

2.5 Klimakatastrophe

Die ungebremste Zerstörung der Umwelt, die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und der Ausstoß von Treibhausgasen, die den Planeten erwärmen, haben einen entscheidenden Wendepunkt erreicht, der eine tödliche Bedrohung für die natürlichen Lebensgrundlagen und die menschliche Zivilisation darstellt.

Die Zunahme extremer Wetterereignisse, Überschwemmungen, Brände, Hungersnöte und Dürren von nie dagewesener Intensität und das beschleunigte Abschmelzen des Polar- und Gletschereises mit der damit einhergehenden existenziellen Bedrohung für niedrig gelegene Länder sind alles Anzeichen dafür, dass der Klimawandel in eine tödliche und unkalkulierbare neue Phase eintritt.

Die Erwärmung des Klimas stellt die unmittelbarste Bedrohung dar, aber sie ist keineswegs die einzige. Die Versauerung und Verschmutzung der Ozeane, die Überlastung und Unterbrechung der Nährstoffkreisläufe, die Erschöpfung des Grundwasserspiegels, die Dezimierung der biologischen Vielfalt und die Anhäufung giftiger Chemikalien in der Umwelt und den Nahrungsketten – all dies stellt eine Bedrohung für die Existenz der Menschheit dar.

Angesichts der realen Auswirkungen, der apokalyptischen Modellierung der wahrscheinlichen Entwicklungen sind die Vorschläge zur Verlangsamung und Umkehrung der drohenden Katastrophe klar, aber die Großmächte der Welt weigern sich, echte Maßnahmen zu ergreifen. Der Wiedereintritt der USA in das Pariser Abkommen zur Begrenzung der Emissionen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedes Klimaabkommen lediglich die Weigerung der größten Umweltverschmutzer:innen und ihrer aufstrebenden Konkurrent:innen unterstreicht, die Profite ihrer Konzerne durch die Auferlegung echter Emissionsreduzierungen zu gefährden.

Der Kapitalismus zerstört nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern hat sich zu einem globalen System des Umweltimperialismus entwickelt, das durch ungehemmte Weltmärkte gekennzeichnet ist, auf denen der Handel zugunsten der reichen imperialistischen Länder organisiert wird. Die Grundlage dafür ist die immer stärkere Konzentration des Kapitals und die Unterdrückung der halbkolonialen Länder durch die Kontrolle über kritische Technologien und Kapitalexporte.

Die Ausbeutung der halbkolonialen Länder durch den imperialistischen Kern wird ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen intensiviert; die sozialökologischen Kosten der kapitalistischen Produktion werden systematisch auf die Halbkolonien übertragen. In den meisten Fällen können sich die monopolistischen Agrar-, Bergbau- und Energiekonzerne darauf verlassen, dass die lokalen Regierungen als willige Vollstreckerinnen gegen die Proteste der Bevölkerung auftreten. Währenddessen wird in den imperialistischen Zentren die räuberische und unhaltbare Ausbeutung des globalen Südens hinter der zynischen Vermarktung von „nachhaltiger“ Produktion und „fairem“ Handel verborgen – eine einfache, aber wirksame Propaganda im Dienste des „business as usual“ für Monsanto (Bayer), Glencore und Unilever.

Während die Nutzung und Veränderung der Umwelt zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse notwendig ist und im Sozialismus fortbestehen wird, sieht sich der Kapitalismus durch seinen grenzenlosen Drang zur Akkumulation in Richtung Zerstörung der Umwelt getrieben. Es ist das unersättliche Streben nach Profit, die Ausbeutung der Menschen und des Planeten, die die kapitalistische „Entwicklung“ unvereinbar mit den Bedürfnissen der Umwelt und dem Fortschritt der Menschheit machen. Die Tatsache, dass der Kapitalismus unaufhaltsam die natürlichen Grundlagen seiner eigenen Existenz untergräbt, beweist, dass er ein sterbendes System ist. Es stellt sich die Frage: Wird er mit der sozialistischen Umgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beendet oder wird die Menschheit auf dem Weg in die Barbarei weiterschlittern?

2.6 Rezession

Die Bemühungen der Zentralbanken der Großmächte, die Inflation zu bekämpfen, indem sie die Zinssätze nach einem Jahrzehnt mit historischen Tiefstständen von nahezu null anheben, führen zu einer neuen Rezession. Die unvermeidliche Folge ist ein Einbruch der Nachfrage, eine Zunahme der Insolvenzen und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Staatshaushalte sind bereits durch die enormen Schulden aus den Bankenrettungen von 2008 – 2010, die Stützung von Zombieunternehmen und die Aufrechterhaltung der beispiellosen staatlichen Aufwendungen durch die Pandemie überlastet. Hinzu kommt ein enormes Ausufern der unproduktiven Ausgaben für Aufrüstungsprogramme.

Die Inflation senkt den realen Wert der Löhne und der Ausgaben für Gesundheits-, Sozial- und Bildungsprogramme – ganz zu schweigen von den bereits unzureichenden Zusagen der Weltgipfel zur Bewältigung der Herausforderung des Klimawandels. Angesichts dessen werden die Rufe nach Sozialabbau, Lohnzurückhaltung und Haushaltskürzungen immer lauter.

In den USA, dem reichsten Land der Welt, lag die offizielle Armutsquote im Jahr 2021 bei 11,6 Prozent, was 37,9 Millionen Menschen entspricht. Weltweit lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung von 5,50 US-Dollar pro Tag oder weniger. Etwa 2,6 Milliarden Menschen haben keine sanitäre Grundversorgung und 1,6 Milliarden leben ohne Strom. Mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung bewohnen Länder, in denen die Ungleichheit zunimmt.

Multinationale Konzerne nutzen Millionen und Abermillionen prekär Beschäftigter als Reservearmee, die ausgebeutet werden, wenn die Gewinne am höchsten sind, und die in Zeiten der Rezession oder Stagnation für sich selbst sorgen müssen. Angetrieben von der unerbittlichen Logik der kapitalistischen Konkurrenz verlagern sie ihre Fabriken, Banken und Büros dorthin, wo sie den größten Profit erzielen können. So wird die Arbeitslosigkeit, die seit der CoVid-Pandemie bereits fortschreitet und durch den Sanktionskrieg noch verschlimmert wurde, wie ein Tsunami über die Welt hereinbrechen. Die Lohnabhängigen werden auf die spärlichen Ressourcen der Familie zurückgeworfen – auf die Lebensmitteltafeln in den imperialistischen Ländern und in die Flüchtlingslager der abgehängten Halbkolonien.

Darüber hinaus droht eine weitere technologische Revolution, die künstliche Intelligenz (KI) und die Robotik, die lebendige Arbeit massiv zu ersetzen, um die Produktivität zu steigern, obwohl sie in Wirklichkeit langfristig die Profitrate senken und die Krise des Systems insgesamt verschärfen wird. Die Kapitalist:innen träumen nur davon, die Arbeitskosten zu senken und die Zahl ihrer Beschäftigten zu reduzieren, nicht aber die Zahl ihrer Arbeitsstunden. Nunmehr bedroht die KI die Arbeitsplätze von mittleren Angestellten, Bürokräften und Dienstleister:innen in enormem Ausmaß.

Die Arbeiter:innenklasse hat vor zwei Jahrhunderten gelernt, dass der Widerstand gegen die Einführung und Anwendung neuer Technologien, etwa durch Maschinenstürmerei, zwecklos ist. Die Antwort der Arbeiter:innen besteht darin, die neuen Technologien zu nutzen, um die Arbeitszeit zu verkürzen und die für Körper und Geist schädlichen Arbeitsformen abzuschaffen. Die Technologie selbst kann die Kontrolle der Menschheit über die Produktion und die Interaktion mit unserer natürlichen Umwelt enorm erleichtern. Damit dies zu einem gesellschaftlichen Ziel wird, müssen wir die Überwachung und Kontrolle durch die Arbeiter:innenschaft, die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit und die Anhebung der Löhne, Renten und Sozialleistungen auf ein angemessenes Lebensniveau durchsetzen, das mit dem Preisanstieg Schritt hält. In einer geplanten und vergesellschafteten Wirtschaft könnten KI und der Einsatz von Robotern einen starken Impuls für die Emanzipation der Arbeit geben, indem sie es ihr ermöglichen, kreativer zu werden und generell die Bereiche zu vergrößern, die die menschliche Intelligenz abdecken kann.

3. Kampf und Führung

3.1 Fronten des Widerstands

Die Große Rezession von 2008 löste eine Welle demokratischer Revolutionen im Nahen Osten aus, bei denen Arbeiter:innenstreiks wie in Ägypten und Tunesien eine entscheidende Rolle beim Sturz der alten Diktatoren spielten, aber nicht zu einer „dauerhaften“ Revolution in dem Sinne wurden, dass die Arbeiter:innenklasse die politische Führung übernahm und es zur Bildung von Arbeiter:innenregierungen kam. Selbst als demokratische Revolutionen scheiterten sie also, und islamistische und militärische Kräfte gelangten an die Macht.

Im gleichen Zeitraum verliehen die Massenproteste, Platzbesetzungen und Streiks gegen die Sparmaßnahmen in Europa, insbesondere in Spanien und Frankreich, den ersten Jahren des Jahrzehnts einen explosiven Charakter. Im Jahr 2010 kündigte die französische Regierung drastische Rentenkürzungen und eine Anhebung des Renteneintrittsalters an, was einen dreiwöchigen Generalstreik auslöste, der an Mobilisierungen wie die von 1995 und 2006 erinnerte, die die Regierung zum Rückzug zwangen. Dieses Mal blieb der Kampf trotz der seltenen Einigkeit zwischen den Gewerkschaftsverbänden, der starken Unterstützung durch die Öffentlichkeit und der regen Beteiligung vieler Teile der Arbeiter:innenbewegung letztlich erfolglos. In anderen Ländern, in denen „soziale Bewegungen“ wie der britische Rentenstreik und die Student:innenrevolte von 2010/2011 stattfanden, gelang es den Regierungen, die Unruhen ohne Zugeständnisse zu überstehen.

Doch nirgendwo war der Kampf so langwierig und intensiv wie in Griechenland. Ab 2009 durchlief das Land eine Finanz- und Industriekrise, die ein Viertel der Wirtschaft des Landes vernichtete. Als Reaktion auf eine Reihe brutaler Kürzungsprogramme, die – auf Geheiß der deutschen Regierung – von der „Troika“ aus EZB, EU-Kommission und IWF diktiert wurden, starteten die griechischen Gewerkschaften zwischen 2010 und 2015 eine Reihe von 28 verschiedenen Generalstreiks (20 von 24 Stunden und vier von 48 Stunden). Die Syriza-Regierung, die mit einem Programm gewählt wurde, in dem sie sich den Forderungen der Troika widersetzte, und die durch das überwältigende Mandat des „Oxi“-Referendums unterstützt wurde, brach bald zusammen und verhängte die geforderten Sparmaßnahmen.

Nach den Niederlagen der sozialen Bewegungen, den Enttäuschungen, dem Scheitern und Verrat durch verschiedene sozialdemokratische oder linkspopulistische Parteien und der Niederschlagung des Arabischen Frühlings durch die Konterrevolution kam es zu einem allgemeinen Rückgang des Niveaus der Klassenkämpfe, der in den Schließungen von CoVid-19 und der Rezession gipfelte.

Jetzt gibt es überall auf der Welt Anzeichen für eine Erholung des industriellen Widerstands und die Entwicklung neuer revolutionärer Möglichkeiten.

Die brisanteste Situation in der Zeit nach der Pandemie begann mit dem Aufstand gegen die klerikale Diktatur im Iran, der durch die Ermordung von Jina Mahsa Amini durch die sogenannte Sittenpolizei ausgelöst wurde. Zwei Monate lang füllten Massenproteste unter den Slogans „Frauen, Leben, Freiheit“ und „Nieder mit den Mullahs“ die Straßen. Die Proteste, zu denen auch Streiks und das symbolische Ablegen des Kopftuchs durch Frauen gehörten, waren eine der größten Herausforderungen für das Regime seit Jahren. Da es der Bewegung jedoch nicht gelang, den Protest in einen Aufstand in Form eines Generalstreiks und der Bildung von Schoras (Räten) zu verallgemeinern, hatte der Staatsapparat Zeit, seine Position zu stabilisieren und konnte ihn schließlich mit seinen Waffen – Massenverhaftungen, Folter und Mord – niederschlagen. Während das Fehlen einer revolutionären politischen Führung es dem Regime ermöglichte, dieses Mal die Initiative zu ergreifen, ist ein großer Teil der iranischen Massen dem herrschenden System nun endgültig entfremdet: Die nächste Explosion wird noch größer ausfallen.

In den USA gab es eine Welle von Streiks in Fabriken, Schulen und in der Logistik sowie gewerkschaftliche Aktionen in den neuen Online-Dienstleistungsunternehmen wie Amazon und der sogenannten Gig-Economy mit ihren befristeten Arbeitsverträgen. Zu den wichtigen Siegen und Zugeständnissen für die Beschäftigten zählen die einmonatigen Aktionen von 10.000 Mitgliedern der Automobilarbeiter:innengewerkschaft UAW bei John Deere und die gefeierten Lehrer:innenstreiks.

In Großbritannien führte der Inflationsanstieg zu einer Reihe von eintägigen Streiks der Beschäftigten im Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungswesen, wobei die Zahl der durch Streiks für die Kapitalist:innen verlorenen Tage so hoch war wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Während die Weigerung der Gewerkschaftsführer:innen, die Maßnahmen zu eskalieren und koordinieren, in einer Folge von Abschlüssen unterhalb der Inflationsrate endete, hat sich der Widerstand gegen diese Ausverkäufe zu den ersten Versuchen seit vielen Jahren verdichtet, eine Organisation der Basis aufzubauen.

Die entschlossene Offensive des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gegen das Rentensystem löste eine Welle von eintägigen Streiks und Mobilisierungen aus. Zum ersten Mal handelten alle großen Gewerkschaftsverbände gemeinsam – doch statt einer Eskalation kam es zu einer Abwiegelung, da die Gewerkschaften abwarteten, ob das Parlament, das keine Macron-freundliche Mehrheit hatte, das Gesetz blockieren würde. Macron vermied dieses Szenario, indem er auf die Verordnungsbefugnisse zurückgriff, die den Präsident:innen unter der bonapartistischen Verfassung der Fünften Republik zustehen. Die französischen Arbeiter:innen, die kämpferischsten in Europa, haben wieder einmal gezeigt, welchen Preis jede noch so militante Bewegung zahlt, der es an einer revolutionären Führung mangelt, die in der Lage ist, einen Kampf zum Sieg zu führen.

Im August 2022, als die Inflation bei über 70 Prozent lag, zwangen die argentinischen Gewerkschaften die Regierung und die Unternehmer:innen zu einer Erhöhung der Löhne und der Arbeitslosenunterstützung. Im selben Monat gingen 600.000 südafrikanische Lohnabhängige in allen neun Provinzen auf die Straße, um ein Grundeinkommen, einen existenzsichernden Mindestlohn und eine Begrenzung der Kraftstoffpreise und Zinssätze zu fordern. In Indien folgte auf den eintägigen Streik von 150 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Sektors im Jahr 2016 im November 2020 ein weiterer 24-stündiger Streik, an dem sich 250 Millionen Beschäftigte beteiligten. In China ereignen sich in der riesigen Industriezone des Perlflussdeltas jedes Jahr bis zu 10.000 Arbeitskonflikte.

Kann diese neue Welle auf die große Zahl der derzeit nicht organisierten Proletarier:innen übergreifen? Können Aktivist:innn an der Basis dafür sorgen, dass diese neuen kämpferischen Arbeiter:innen sich Gehör verschaffen, ja, dass sie entscheidend sind? Wie alle Aufschwünge des Klassenkampfes zeigen, werden diese Gelegenheiten verpasst werden, wenn es keine alternative Führung zu reformistischen bzw. zentristischen Parteien und Gewerkschaftsbürokratien oder libertärem „spontanem“ Durcheinander gibt, und Gegenreform oder Konterrevolution werden den Sieg davontragen. Die Frage ist, wie kann eine revolutionäre Führung, eine Partei, aus der heutigen Verwirrung hervorgehen?

An diesem Punkt wird das politische Eingreifen in die Gewerkschaftskämpfe, um die Schaffung einer anderen politischen Führung voranzutreiben, die mit einer alternativen Strategie bewaffnet ist, die auf dem Klassenkampf basiert und auf den Sturz des Kapitalismus abzielt statt auf Verhandlungen und Kompromisse innerhalb seiner Grenzen, von größter Bedeutung. Die Entwicklungen innerhalb der Power Loom Workers‘ Union (Webereiarbeiter:innengewerkschaft) in Faisalabad, Pakistan, wo es Bestrebungen gibt, die Masse der Arbeiter:innen in Richtung einer solchen „klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung“ zu bewegen, sind nur ein Beispiel. Das Ziel dieses Ansatzes ist die Schaffung von Arbeiter:innenmassenparteien, die von allen bürgerlichen Kräften unabhängig sind und deren Organisation und Führung die Kampfkraft der gesamten Arbeiter:innenfront und der damit verbundenen Kämpfe der national, rassistisch und sozial Unterdrückten qualitativ verändern können.

Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse, kämpferische Aktion und Basisdemokratie sind entscheidende Fragen in der kommenden Periode. Sie können der Entwicklung von revolutionären Parteien auf internationaler Ebene und einer Fünften Internationale enorm helfen. Es ist daher die Pflicht der Vorhut-Elemente in den Gewerkschaften und revolutionären Organisationen, den Kampf zu verstärken, um das Gewerkschaftsbündnis mit bürgerlichen Parteien zu brechen – wie zum Beispiel zwischen der Demokratischen Partei und der AFL-CIO in den USA oder die Unterordnung der Gewerkschaft unter die Peronist:innen in Argentinien – mit dem Ziel, wirklich unabhängige Arbeiter:innenparteien zu gründen.

3.2 Krise der Führung

Sozialdemokratische, Labour- und kommunistische Parteien haben den Kapitalist:innen lange Zeit als alternative Regierungsparteien in den europäischen imperialistischen Staaten gedient. In Indien hat die Linksfront (CPI, CPI(M) [indische KPen] und andere) dies auf regionaler Ebene ebenfalls getan; ebenso die südafrikanische kommunistische Partei innerhalb des ANC (Partei Afrikanischer Nationalkongress) seit dem Ende der Apartheid; ein Weg, der wiederum von der brasilianischen Arbeiter:innenpartei (PT) im 21. Jahrhundert beschritten wurde.

Was diese Parteien gemeinsam haben, ist eine privilegierte Schicht professioneller Bürokrat:innen und Parlamentarier:innen, die in der Praxis den Kapitalismus als dauerhaftes System betrachten und den Bossen dienen, ob an der Regierung oder in der Opposition. Sie vereiteln die Versuche ihrer Mitglieder aus der Arbeiter:innenklasse, diese Parteien als wirksame Waffen des Kampfes einzusetzen. In Europa und Asien haben diese Organisationen, obwohl sie einst ihre Dienste für begrenzte soziale Reformen angeboten haben, in den letzten zwanzig Jahren die von der Kapitalist:innenklasse geforderte neoliberale, marktfreundliche Politik übernommen, und in der Zeit nach 2008 gerieten ihre „Reformen“ zu Sparpolitik, Privatisierung und Angriffen auf die Löhne.

Mit der Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion, Osteuropa und China sind auch die stalinistischen kommunistischen Parteien der Welt weit nach rechts gerückt. In West- und Mitteleuropa haben sie einen Teil des politischen Raums eingenommen, den die neoliberale Sozialdemokratie verlassen hat. In Worten haben sie den Neoliberalismus kritisiert, aber in der Praxis war selbst der kleinste Anteil an der Regierung ein ausreichender Preis, um die Kapitulation und Durchführung von Kürzungen und Privatisierungen durch Parteien wie Rifondazione Comunista (Italien), die französische kommunistische Partei und DIE LINKE in Deutschland zu erkaufen.

Das Regieren für den Kapitalismus führte dazu, dass die CPI-CPI(M)-Regierung in Westbengalen als Vollstreckerin für ausländisches und einheimisches Kapital gegen die dörfliche und Stammesbevölkerung auftrat, deren Land sie enteignen wollte. Die Unterdrückung der Dorfbewohner:innen von Nandigram in Westbengalen wurde weltweit berüchtigt. Ihr „Lohn“ war ein erdrutschartiger Wahlsieg im Jahr 2011 durch die bürgerliche Allianz aus Trinamool Congress und Indischem Nationalkongress, und bei den Wahlen im Mai 2019 wechselte fast ihre gesamte soziale Basis zur BJP, einer hindunationalistischen Partei.

In den 2010er Jahren gab es neue reformistische Formationen, Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, den Bloco de Esquerda in Portugal und die Corbyn-Bewegung in Großbritannien. In den USA führten die Vorwahlen der Demokratischen Partei mit der Kandidatur von Bernie Sanders 2016 und 2019 dazu, dass sich die Democratic Socialists of America, wenn von der zweiten Partei des US-Imperialismus halb abgesetzt hat.

Maoistische Parteien, insbesondere die in Nepal und Indien, haben ebenfalls eine radikalere Rolle gespielt. Die Kommunistische Partei Nepals (NCP) ist ein Zusammenschluss der CPN (Einheitliche Marxistisch-Leninistische Partei) und der CPN (Maoistisches Zentrum) aus dem Jahr 2018, dessen beide Parteien bei den Wahlen 2017 einen Erdrutschsieg errangen. Ihr Bekenntnis zur stalinistisch-maoistischen Strategie der „Revolution in Etappen“, die offen sozialistische Maßnahmen und Arbeiter:innenmacht ablehnt, stellt sicher, dass sie die Fehler und den Verrat ihrer Schwesterparteien anderswo wiederholen wird.

Die Kommunistische Partei Indiens (Maoist:innen) entstand als Guerillatruppe unter den landlosen und armen Bauern und Bäuerinnen und Adivasi (indigene Völker), die sich dagegen wehren, dass ihr Land von multinationalen Unternehmen oder indischen Milliardär:innen übernommen wird. Sie verfolgen die alte maoistische Strategie der „Umzingelung der Städte“, aber in einem Land mit einer riesigen und wachsenden Arbeiter:innenklasse, in dem die Grenzen der Etappentheorie und der Guerillastrategie immer deutlicher werden, können sie keine Strategie für eine sozialistische Revolution bieten.

Viele Linke, angeführt von der Vierten Internationale (Vereinigtes Sekretariat), sahen im raschen Aufstieg von Syriza eine Bestätigung ihrer Ablehnung des leninistischen Parteimodells zugunsten „breiter“ Bündnisse, die sowohl revolutionäre als auch reformistische Strömungen umfassen. Es ist zwar richtig, sich solchen Formationen wie Syriza anzuschließen, wo immer sie eine Abkehr einer ernstzunehmenden Zahl von Arbeiter:innen und Jugendlichen vom Liberalismus, der rechten Sozialdemokratie oder dem Populismus darstellen, aber die Kritik an den grundlegenden Schwächen des Syriza-Projekts zu unterdrücken, bedeutet, die revolutionäre Politik aufzugeben. Ebenso trugen die sogenannten Revolutionär:innen, die in Erwartung des Scheiterns beiseitestanden, nichts zur Vorbereitung der Arbeiter:innenklasse auf die bevorstehenden Schlachten bei.

In Lateinamerika haben die Regime und Bewegungen, die den von Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador) und Lula (Brasilien) proklamierten „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ vertraten, zahlreiche Niederlagen erlitten oder sind nach rechts gerückt. Nirgendwo war dies schockierender als im Fall von Chávez‘ Nachfolger Nicolás Maduro, auch wenn diese Degeneration zum repressiven Bonapartismus durch die US-Blockade, die wirtschaftliche Sabotage der venezolanischen Bourgeoisie und Putschversuche begünstigt wurde. Der Höhepunkt der braunen Flut reaktionärer Siege war die Wahl von Jair Bolsonaro 2018.

Dennoch hat sich mit der Wahl von Andrés Manuel López Obrador (Mexiko, 2018), Alberto Fernández (Argentinien, 2019), Luis Arce (Bolivien, 2020), Pedro Castillo (Peru, 2021), Gustavo Petro (Kolumbien, 2022) und Gabriel Boric (Chile, 2022) eine Gegenströmung des gemäßigten Linkspopulismus entwickelt. Alle diese Vertreter der neuen „rosa Flut“ sehen sich jedoch mit einem schwierigeren Umfeld konfrontiert als ihre Vorgänger:innen zu Beginn des Jahrtausends in der Zeit der starken Globalisierung. Die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der rechtsextremen Oppositionskräfte bedeuten, dass der Spielraum für die Erfüllung der dringenden Bedürfnisse ihrer Anhänger:innen extrem eingeschränkt ist. Das Gleiche gilt für die kürzlich gewählte Lula-Koalition in Brasilien, die als linker Deckmantel für die reaktionäre Politik eines Teils der brasilianischen Kapitalist:innenklasse dient. Diese Koalition wird von Bolsonaros Unterstützer:innen herausgefordert, die noch offener faschistisch und besser bewaffnet sind als die Gefolgschaft des abgewählten US-Präsidenten Trump. Der jüngste Putschversuch als Reaktion auf die Wahl der Lula-Koalition erinnerte stark an die Erstürmung des US-Kapitols durch Trumpist:innen im Jahr 2021.

Obwohl einige „sozialistische“ Führer:innen der 2000er Jahre bedeutende soziale und demokratische Reformen durchführten, fielen die meisten von ihnen der Krise von 2008 zum Opfer und in jedem Fall enteigneten sie nie die entscheidenden Sektoren der Bourgeoisie oder der multinationalen Konzerne. Wenn sie mit Streiks und Besetzungen konfrontiert wurden, griffen sie meist zu Repressionen und Verhaftungen. In Brasilien ergriffen weder Lula noch seine Nachfolgerin Dilma nennenswerte Maßnahmen gegen den brasilianischen Kapitalismus, noch brachen sie endgültig mit dem Imperialismus oder seinen Agenturen wie dem IWF. Diese Koexistenz kam kaum überraschend, da die PT stets in Koalition mit offenen bürgerlichen Parteien regierte, und es waren diese Kräfte, die sich beim „Putsch“ 2015 gegen die PT wandten, als Dilma abgesetzt und durch ihren Stellvertreter Michel Temer von der bürgerlichen Partei Brasilianische Demokratische Bewegung (PMDB) ersetzt wurde.

Ihr Kompromiss zwischen sozialen Reformen und der Verteidigung des Kapitalismus war damals nicht tragbar und wird es auch in Zukunft nicht sein. Auf jeden Fall werden Maßnahmen wie Verstaatlichungen nur dann „sozialistisch“, wenn ein Arbeiter:innenstaat sie koordiniert und mit der Waffe in der Hand verteidigt. Nur mit Arbeiter:innenkontrolle am Arbeitsplatz und Arbeiter:innenmacht im Staat ist es möglich, eine Wirtschaft zu planen, die die Verschwendung und das Chaos des Marktes beseitigt. Erst wenn die bewaffnete Macht in den Händen der Arbeiter:innen liegt und der militärisch-bürokratische Apparat des bürgerlichen Staates zerschlagen ist, kann der Weg zum Sozialismus national und international geebnet werden.

Ältere lateinamerikanische Regime, die von linksreformistischen oder stalinistischen Kräften geführt werden, wie Kuba, Nicaragua und Venezuela, haben auf die US-Blockaden mit immer repressiveren Maßnahmen reagiert, anstatt die Entfaltung der Demokratie der Arbeiter:innen und Bäuer:innen zuzulassen, geschweige denn die Idee eines echten Antiimperialismus, der die Ausbreitung einer kontinentalen (permanenten) Revolution bedeuten würde.

In Afrika haben Militärputsche, bonapartistische Präsidentschaften, islamistische Aufstände und Terrorismus das Elend der imperialistischen Ausbeutung und Umweltzerstörung noch verschlimmert. Der Traum vom „afrikanischen Sozialismus“, der in der Ära der Entkolonialisierung aufkam, ist längst ausgeträumt und unter der Ausbeutung durch multinationale Konzerne und westliche Banken zerbrochen, die eng mit der enormen Schuldenlast und den vom imperialistisch kontrollierten IWF und der Weltbank auferlegten „Reformen“ verbunden ist.

Die Befreiungsbewegungen in Simbabwe, Tansania, Angola und Mosambik versanken schnell in der Korruption der neuen Eliten und Unterdrückung der Opposition. Die Hoffnungen auf soziale und wirtschaftliche Befreiung, die mit dem Ende der Apartheid in Südafrika verbunden waren, wurden grausam enttäuscht, während die alten weißen Geschäfts- und Grundbesitzeliten geschützt wurden.

Die Unfähigkeit radikaler kleinbürgerlicher Guerillabewegungen und einer „schwarzen Bourgeoisie“, entschieden mit dem Kapitalismus und dem Imperialismus zu brechen, verdammte diese Länder dazu, sich weiterhin dem globalen Imperialismus unterzuordnen. Jetzt ist ein neues Gerangel um Afrika im Gange zwischen den alten Kolonialmächten, vor allem Frankreich und Großbritannien, die von den USA unterstützt werden, und China und Russland; Erstere bieten neue Investitionsquellen in Industrie und Infrastruktur, Letztere Waffenlieferungen und die zynische „Hilfe“ der Wagner-Söldner, die Militärregierungen stützen.

4. Ein Programm von Übergangsforderungen

4.1 Einleitung

Zu lange zerfielen die Programme der Arbeiter:innenparteien in ein Minimalprogramm mit stückweisen Reformen, von denen jede von den Kapitalist:innen wieder weggenommen werden kann, solange sie die Macht im Staate haben, und ein Maximalprogramm – wenn es überhaupt auftaucht –, das zwar das Ziel des Sozialismus formuliert, es aber als eine ferne Utopie darstellt, die von den Erfordernissen der gegenwärtigen Auseinandersetzungen abgekoppelt ist.

Das Programm einer neuen Internationale muss mit diesem gescheiterten Modell brechen. Es muss eine Reihe integrierter Übergangsforderungen aufstellen, die die Losungen und Kampfformen, die zur Abwehr der kapitalistischen Offensive notwendig sind, mit den Methoden verbinden, die wir brauchen, um die bürgerliche Herrschaft zu stürzen, die Arbeiter:innenmacht zu errichten und einen sozialistischen Produktionsplan einzuführen.

Das Übergangsprogramm befasst sich mit den entscheidenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen der Zeit, einschließlich der unmittelbaren und demokratischen Forderungen, die vor dem Sturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse erfüllt werden können, wie z. B. ein garantierter existenzsichernder Lohn, echte Lohngleichheit für Männer und Frauen, hohe Besteuerung der Reichen und der großen Unternehmen. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass der Kapitalismus in seiner historischen Krise solche Reformen nur dann zulassen wird, wenn er mit einer realen Bedrohung seiner Macht und seines Eigentums konfrontiert ist. Selbst dann werden die Kapitalist:innen versuchen, ihre Zugeständnisse rückgängig zu machen, sobald die unmittelbare Gefahr vorüber ist oder der Druck des Klassenkampfes nachlässt.

Die Vorstellung, dass wir den Sozialismus auf einem allmählichen und friedlichen Weg von Sozialreformen und Gewerkschaftsverhandlungen erreichen können, ist heute utopischer denn je. Ein Programm für den Sozialismus muss die grundlegenden „Rechte“ der Kapitalist:innen in Frage stellen: das Recht auf Ausbeutung, das Recht, den Profit über den Menschen zu stellen, das Recht, sich auf Kosten der Armen zu bereichern, das Recht, die Umwelt zu zerstören und unseren Kindern eine Zukunft zu verweigern.

Die Schlachten von heute zu gewinnen, heißt, mit Blick auf die Zukunft zu kämpfen. Eine Fünfte Internationale muss daher Forderungen aufstellen und Organisationsformen vorschlagen, die nicht nur den heutigen lebenswichtigen Bedürfnissen entsprechen, sondern auch die Arbeiter:innen so organisieren, dass sie die Macht ergreifen und ausüben können. Die Kombination dieser Elemente ist keine künstliche Übung; diese Elemente sind durch die realen Bedingungen des Klassenkampfes in dieser Periode des kapitalistischen Niedergangs miteinander verbunden.

Um das Tor zur zukünftigen Gesellschaft aufzustoßen, fordert unser Programm die Durchsetzung der Arbeiter:innenkontrolle über die Produktion und ihre Ausweitung auf immer weitere Bereiche, von den Fabriken, Büros, Transportsystemen und Einzelhandelsketten bis hin zu den Banken und Finanzhäusern. Dies bedeutet die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, ein Vetorecht der Beschäftigten gegen Entlassungen, die Inspektion und Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter:innen, eine automatische Lohnerhöhung bei jedem Preisanstieg zur Bekämpfung der Inflation und die entschädigungslose Verstaatlichung (Enteignung) der entscheidenden Wirtschaftssektoren.

Darüber hinaus erfordert der Kampf um diese Forderungen, um sie den Bossen aufzuzwingen, neue Formen der Organisation, die über die Grenzen der Gewerkschaftsbewegung oder der Parlamentswahlen hinausgehen. Auf jeder Ebene des Kampfes muss die Entscheidungsfindung durch demokratische Versammlungen aller Beteiligten zur Norm werden. Von diesen Versammlungen gewählte und abrufbare Delegierte sollten mit der Umsetzung von Beschlüssen und der Kampfleitung beauftragt werden. Von Streikkomitees, die von der gesamten Belegschaft gewählt werden, bis hin zu Preisüberwachungskomitees, die alle Arbeiter:innen in den Gemeinden umfassen, von Arbeiter::inneninspektionskollektiven, die die Geschäftsunterlagen von Firmen prüfen, bis hin zu Streikpostenverteidigungsverbänden, die die Streikenden schützen, sind solche Organisationen nicht nur notwendig, um die heutigen Klassenauseinandersetzungen zu gewinnen, sondern auch, um die Grundlage für die Kampforganisationen von morgen im Sturm auf die Staatsmacht und dann die zukünftigen Organe des Arbeiter:innenstaates zu bilden.

Arbeiter:innen, die sich heute gegen Sozialabbau und Sparprogramme zur Wehr setzen, können diese Forderungen einzeln und gemeinsam gegen spezifische Angriffe erheben, aber das sozialistische Ziel des Programms wird nur erreicht werden, wenn sie als ein zusammenhängendes System von Losungen für die Umgestaltung der Gesellschaft aufgegriffen und erkämpft werden. Das vollständige Übergangsprogramm ist eine Strategie für die Macht der Arbeiter:innenklasse. Aus diesem Grund sind unsere Forderungen keine passiven Appelle an Regierungen oder Unternehmer:innenschaft, sondern Kampfparolen für die Arbeiter:innenklasse, um die Kapitalist:innen zu stürzen und zu enteignen.

4.2 Gegen die kapitalistische Offensive

Gegen jeden Attacke der Kapitalist:innen auf unseren Lebensstandard ist unsere Politik die der Einheitsfront der Arbeiter:innen: die gemeinsame Aktion aller Kräfte der Arbeiter:innenklasse in jedem Land und über Grenzen und Ozeane hinweg.

4.2.1 Ein existenzsicherndes Einkommen, Arbeit für alle und Kontrolle durch die Arbeiter:innen

  • Im Kampf gegen die Inflation, die die Einkommen der Arbeiterklasse entwertet, setzen wir uns für eine gleitende Lohnskala ein – eine Erhöhung von einem Prozent für jedes Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten. Ein Lebenshaltungskostenindex für Lohnabhängige sollte von Preisüberwachungsausschüssen etabliert werden, die sich aus Delegierten zusammensetzen, gewählt von den Betriebsversammlungen, den Arbeiter:innenorganisationen, den Armensiedlungen und den Organisationen von Frauen, Verbraucher:innen sowie Kleinerzeuger:innen und -händler:innen.

  • In Ländern, die mit Hyperinflation konfrontiert sind, werden eine gleitende Einkommensskala und Preisüberwachungsausschüsse nicht ausreichen. Die Verteilung lebenswichtiger Güter und der Zugang zu Nahrungsmitteln erfordern ein unmittelbares Eingreifen: Arbeiter:innenausschüsse müssen in engster Abstimmung mit den landwirtschaftlichen Erzeuger:innen die Kontrolle über die Nahrungsmittelversorgung übernehmen.

  • Für einen landesweiten Mindestlohn, dessen Höhe von Arbeiter:innenausschüssen festgelegt wird, um ein angemessenes Leben für alle zu gewährleisten. Die Renten müssen an die Inflation angepasst, vom Staat garantiert und dürfen nicht der Gnade der Aktienmärkte überlassen werden.

  • Gegen alle Schließungen und Entlassungen kämpfen wir für Streiks und Besetzungen unter dem Motto: Abbau der Stunden, nicht der Arbeitsplätze! Wir setzen uns für eine gleitende Arbeitszeitskala ein, um den Arbeitstag zu verkürzen und die verfügbare Arbeit zu verteilen, ohne dass die Löhne oder Arbeitsbedingungen verschlechtert werden.

  • Überall auf der Welt berufen sich staatliche und private Unternehmen auf Konkurs, Effizienz und Produktivität, um den Abbau von Arbeitsplätzen zu rechtfertigen. Unsere Antwort: Offenlegung aller Geschäftsunterlagen! Alle Konten, Datenbanken, Finanz-, Steuer- und Managementdaten müssen für die Einsichtnahme durch gewählte Arbeiter:innendelegierte geöffnet und geprüft werden.

  • Jedes Unternehmen, das Entlassungen vornimmt, die Produktion ins Ausland verlagert, gegen Mindestlohn-, Arbeitsschutz- oder Umweltvorschriften verstößt oder Steuern hinterzieht, ist ohne Entschädigung zu verstaatlichen. Die Produktion muss unter Kontrolle und Leitung der Arbeiter:innen fortgesetzt werden!

  • Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten zur Verbesserung der sozialen Dienste, der Gesundheitsfürsorge, des Wohnungswesens, des Verkehrs und der Umwelt unter Kontrolle der Arbeiter:innen und ihrer Gemeinschaften.

  • Nein zu Produktionsausgliederung und -verlagerung in Billiglohnländer. Anstelle der Konkurrenz zwischen Arbeiter:innen verschiedener Nationen um dieselben Arbeitsplätze sollten internationale Zusammenschlüsse von Arbeiter:innen in denselben Unternehmen und Produktionszweigen gebildet werden, um eine Angleichung der Löhne und Arbeitsbedingungen auf Höchststandard zu erstreiten. Tarifverträge und gesetzliche Rechte müssen auch für die Beschäftigten von Zulieferbetrieben gelten.

  • Für sichere Arbeitsplätze: Ablehnung aller Formen von unsicheren, informellen, prekären und Null-Stunden-Arbeitsverhältnissen. Alle Arbeiter:innen sollen mit unbefristeten Verträgen und garantierten Arbeitszeiten beschäftigt werden. Löhne und Arbeitsbedingungen müssen durch Tarifverträge geregelt werden, die von Gewerkschaften und betrieblichen Vertreter:innen kontrolliert werden.

  • Bekämpfung der Intensivierung der Arbeit durch Beschleunigung und „Effizienzsteigerungen“, die lediglich Maßnahmen zur Intensivierung der Ausbeutung und Steigerung der Profite sind und unsere Gesundheit, Sicherheit und unser Leben gefährden.

  • Gegen „Mitbestimmung“, „Sozialpartner:innenschaft“ oder andere Formen der Klassenzusammenarbeit, bei denen die Gewerkschaften die Politik der Kapitalist:innen verwalten, kämpfen wir für die Kontrolle durch die Arbeiter:innen. Das bedeutet das Recht auf ein Veto gegen Managemententscheidungen über Beschäftigung, Produktion, Einführung und Anwendung von Technologie.

4.2.2 Für universelle öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherheit

Die erbarmungslose Reihe von zynisch als „Reformen“ bezeichneten Einschränkungen öffentlicher Dienstleistungen sind nichts anderes als Sparprogramme, mit denen die Kosten für den Niedergang der öffentlichen Dienstleistungen von den Reichen auf die Arbeiter:innenklasse abgewälzt werden sollen. Lebenswichtige Dienstleistungen und Ressourcen, von Wasser und Energie bis hin zu Gesundheit und Bildung, die über Generationen aus Steuerbeiträgen und Arbeit der Arbeiter:innenklasse und Mittelschichten bezahlt wurden, sind zu Schleuderpreisen an Kapitalist:innen weitergereicht worden, die sie für ihren privaten Profit ausbeuten, nicht für den öffentlichen Bedarf. Die Milliardär:innen, die einmal von unserer Arbeit profitieren, wollen zweifach auch noch aus unserer Kindheit, unserem Alter und unserer Gesundheit Profit scheffeln. Gleichzeitig besitzen sie die Frechheit zu fordern, dass Sozialhilfe und Renten gekürzt werden, um „Eigenverantwortung zu fördern“ und „die Kultur der Abhängigkeit zu verringern“!

Als Reaktion auf die schamlose Ausplünderung des öffentlichen Vermögens durch private Spekulant:innen fordern wir:

  • Keine einzige Kürzung, keine einzige Privatisierung mehr! Verstaatlichung der wesentlichen Infrastrukturen –Wasser, Energie, Verkehr und Kommunikation – ohne Entschädigung. Beendigung aller öffentlich-privaten Partner:innenschaften und Privatinvestor:innenförderungsprogramme.

  • Verstaatlichung und Ausweitung der besten Bildungs-, Gesundheits-, Wohlfahrts- und Sozialfürsorgesysteme auf die Milliarden von Menschen, die überhaupt nicht versorgt sind. Bildung, Gesundheit und Sozialfürsorge sollten der Kontrolle von Arbeiter:innen und Nutzer:innen unterstehen und für alle kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

  • Das Rentenalter sollte schrittweise gesenkt und nicht erhöht werden. Anhebung der Renten auf ein existenzsicherndes Minimum und Deckung auf allgemeingesellschaftlicher Grundlage, (also unter Einbezug der Reichen). Die privaten Rentensysteme sollten verstaatlicht und zu einer einzigen staatlich garantierten Rente zusammengefasst werden.

  • Öffentliche Dienstleistungen, die am Ort der Erbringung kostenlos sind und aus progressiven Steuern oder Versicherungen bezahlt werden, sind ein wichtiges Mittel, um einen Mindeststandard und einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialer Sicherheit für Arbeiter:innen und Arme zu gewährleisten. Öffentliches Eigentum ist jedoch kein Sozialismus. Verstaatlichte Unternehmen und Dienstleistungen kaufen Vorleistungen von Kapitalist:innen, entschädigen frühere Eigentümer:innen, konkurrieren mit Privateigentümer:innen, wenden kapitalistische Managementtechniken an und arbeiten unter der ständigen Bedrohung durch Kürzungen und Privatisierung. Sie können der Zwangsjacke des Profitsystems nie entkommen. Die Arbeiter:innen müssen lernen, die kapitalistische Verstaatlichung von der Vergesellschaftung und Enteignung durch die Arbeiter:innenklasse zu unterscheiden, die dazu dient, die Bosse endgültig zu entmachten. Nur so können Dienstleistungen höchster Qualität von der Wiege bis zur Bahre geplant und erbracht werden, um die Not zu beseitigen und Gleichheit herzustellen.

  • In jedem Fall müssen die Arbeiter:innen- und Nutzer:innenorganisationen die Interessen der Arbeiter:innenklasse gegen die Besitzenden durchsetzen, indem sie sich gegen Rettungsaktionen wenden, die bankrotte Kapitalist:innen auf Kosten der Steuerzahler:innen schonen. Wir sagen: Vergesellschaftung der Vermögenswerte, nicht der Verluste! Die Verstaatlichung unter Arbeiter:innen- und Nutzer:innenkontrolle ist notwendig, um zu verhindern, dass die Regierungen die Verluste übernehmen und die profitablen Vermögenswerte reprivatisieren.

4.2.3 Enteignung des Vermögens der Reichen

Zwischen 2016 und 2022 ist die Zahl der Milliardär:innen von 1810 auf 2668 gestiegen. Damit eine winzige Minderheit in unvorstellbarem Luxus leben kann, müssen Milliarden in unbeschreiblicher Armut existieren. Die Investitionsentscheidungen dieser Finanziers und Industriellen können ganze Länder in die Knie zwingen. Neben den Milliardär:innen leben Hunderttausende von Multimillionär:innen in schamlosem Luxus auf unsere Kosten, während 852 Millionen Menschen hungern und täglich mehr als 1.000 Kinder an den Folgen des Hungers sterben.

Diese Schmarotzerschicht lehnt jeden Versuch, ihren Reichtum zu besteuern und umzuverteilen, vehement ab. Sie versteckt ihr Geld in Steuerparadiesen und manipuliert ihre Staatsbürger:innenschaft und ihren Aufenthaltsstatus, um die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Sie führt eine unaufhörliche Kampagne, damit die Arbeiter:innenklasse den Großteil der Steuerlast trägt, indem die indirekten Steuern auf Grundgüter wie Kraftstoff und Lebensmittel erhöht und die Steuern auf Unternehmen und Vermögen gesenkt werden.

Der Reichtum der Kapitalist:innen, der Finanziers und Industriellen stammt letztlich aus der Arbeit der Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen. Wir sagen:

  • Finanzierung eines massiven Ausbaus der öffentlichen Dienste und von Programmen zur Beseitigung der Armut durch Enteignung des Privatvermögens der Reichen. Abschaffung aller indirekten Steuern und Zerschlagung der Steuerhinterziehungsindustrie durch Schließung von steuerfreien Oasen, Verstaatlichung der vier großen Wirtschaftsprüfungskonzerne.

4.2.4 Für einen Plan der Arbeiter:innen zu internationaler Produktion und Entwicklung

Anstelle eines Flickenteppichs aus staatlichem und privatem Eigentum, das nur durch die Anarchie des Marktes verbunden ist, erfordert die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschheit und der Natur einen demokratischen Produktionsplan, mittels dessen die Ressourcen der Welt, einschließlich der menschlichen Arbeitskraft, rational verteilt werden, entsprechend dem Willen der Menschen, die arbeiten, um alles zu produzieren, zu verteilen und zu bedienen. Nur wenn wir die Anarchie des Marktes durch die bewusste Planung einer Weltwirtschaft unter Gemeineigentum ersetzen, werden wir in der Lage sein, die Produktion zur Grundlage kollektiven Wohlstands anstelle der privaten Akkumulation zu machen. In jedem Fall verbinden revolutionäre Kommunist:innen den Kampf für die Enteignung dieses oder jenes Industriezweigs mit der Notwendigkeit, die Kapitalist:innenklasse als Ganzes zu expropriieren. Denn, wie Leo Trotzki es ausdrückte, wird das Staatseigentum nur dann zu günstigen Ergebnissen führen, „wenn die Staatsmacht selbst vollständig aus den Händen der Ausbeuter:innen in die Hände der Werktätigen übergeht“.

Genauso wie die großen Monopole der Welt ihre Produktions- und Vertriebssysteme international planen müssen, muss dies auch eine sozialisierte Wirtschaft tun. Sozialistische Planung bedeutet jedoch, die Wirtschaft nach einem Plan unter demokratischer Kontrolle der Produzent:innen und Verbraucher:innen zu führen und entfalten; sie ist nicht die Herrschaft einer privilegierten Bürokratie, wie sie sich mit der Degeneration des ersten Arbeiter:innenstaates der Welt entwickelte und nach 1945 in anderen Staaten nachgeahmt wurde. Die Existenz einer Weltwirtschaft setzt eine internationale Planung voraus; die „Theorie“ des Sozialismus in einem Land ist eine Illusion. Die sozialistische Planung muss sich weltweit ausbreiten und den kapitalistischen Handel durch den internationalen Austausch von Produkten, Ressourcen und Arbeit ersetzen, um alle Länder und Völker auf das optimale Niveau der sozialen Entwicklung zu bringen. Eine internationale Planwirtschaft ist das zentrale Instrument nicht nur zur Beseitigung von Armut und Ungleichheit, sondern auch zur Verhinderung und Umkehrung der Klimakatastrophe.

Das einzige internationale Planungssystem, das der Kapitalismus vorweisen kann, ist das der imperialistisch dominierten Finanzinstitutionen – IWF, WTO und Weltbank. Die betrügerische Behauptung, sie würden die Schulden der imperialisierten Länder lindern und echte Entwicklungsziele verfolgen, wurde durch die Massenmobilisierungen der antikapitalistischen Bewegung von Seattle 1999 bis Genua 2001 entlarvt. Die darauf folgenden Welt- und Kontinentalsozialforen von 2002 bis 2006 haben ein wichtiges Vermächtnis hinterlassen, nämlich ein globales Bewusstsein für die gemeinsamen Interessen und Kämpfe der Arbeiter:innen, Jugendlichen, Bauern, Bäuerinnen und indigenen Völker des globalen Nordens und Südens.

Die leeren Versprechen der Globalisierungsinstitutionen, ein „neues Paradigma“ für eine krisenfreie Welt zu schaffen, sind mit dem Crash 2008 endgültig geplatzt. Die Aufgabe von Entwicklungszielen und Kürzung der Entwicklungshilfehaushalte beschleunigten den Rückzug jener Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von der politischen Bühne, die mit der Illusion hausieren gegangen waren, dass sich diese Ausbeutungsinstrumente irgendwie reformieren ließen oder verschwinden würden. Als der Vorwand der Krisenbekämpfung den Sparprogrammen wich, griffen der IWF und seine Helfershelfer:innen wieder an. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, neue Bewegungen aufzubauen, die in der Arbeiter:innenklasse und der Bauern- und Bäuerinnenschaft verwurzelt sind und sich weder in die Institutionen der „liberalen Weltordnung“ noch in NGOs, staatliche „Hilfsprogramme“ oder milliardenschwere Wohltätigkeitsorganisationen Illusionen machen. Stattdessen müssen sie ein Programm vorantreiben, das auf der Zerschlagung der imperialistischen Institutionen, der Enteignung der Banken und Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle und der Umverteilung des Bodens an diejenigen, die ihn bearbeiten, beruht.

  • Unmittelbar bedeutet dies den bedingungslosen und vollständigen Erlass der Schulden aller halbkolonialen Länder, verbunden mit Maßnahmen, die die imperialistischen Mächte zwingen, die halbkoloniale Welt für die Ausplünderung ihrer natürlichen und menschlichen Ressourcen zu entschädigen. Das Eigentum und die Kontrolle über die Geschäfte der multinationalen Konzerne müssen an die Arbeiter:innen übergehen, die ihren Reichtum produzieren.

  • Beendigung des Protektionismus gegen die Produkte des globalen Südens. Schafft NAFTA (nordamerikanisches Freihandelsabkommen), die Gemeinsame Agrarpolitik und andere protektionistische Waffen der imperialistischen Staaten ab. Wir unterstützen jedoch das Recht der halbkolonialen Länder, ihre Märkte gegen Billigimporte aus imperialistischen Ländern zu verteidigen.

  • Abschaffung des IWF, der WTO, der Weltbank und aller Sonderwirtschaftszonen.

  • Verstaatlichung der Aktienmärkte. Entschädigungslose Enteignung der Großindustrie unter Arbeiter:innenkontrolle. Verstaatlichung und Fusion der Banken zu einer einzigen nationalen Bank unter Arbeiter:innenkontrolle.

4.3 Gegen Militarismus und Krieg

Als wichtigste Veränderung der Bedingungen, mit denen die Arbeiter:innenklasse seit 2008 konfrontiert ist, erweist sich das Entstehen von zwei neuen imperialistischen Großmächten, die möglicherweise einen strategischen Militärblock miteinander bilden, um die Vorherrschaft der USA und ihrer untergeordneten Verbündeten in Europa und Asien herauszufordern. Dies stellt die alten Weltanschauungen der Arbeiter:innenparteien und linkspopulistischen Bewegungen des globalen Nordens und Südens ernsthaft auf die Probe, die aus den vierzig Jahren des ersten Kalten Krieges stammen.

Die Sozialdemokratie und die Arbeiter:innenbewegung unterstützten weitgehend die „demokratischen“ Imperialismen gegen die „autoritären“ Regime (Russland, China usw.) und betrachteten den „Westen“ als eine fortschrittliche Kraft, die sie entweder an der Regierung oder in der Opposition unterstützen sollten, unabhängig von ihrem sozialen Charakter. Der linke Flügel dieser Parteien lehnte jedoch die kolonialen und halbkolonialen Kriege und Unterdrückungen ab, bezog Stellung aufseiten der blockfreien Länder im Kalten Krieg und beteiligte sich auch an Friedens- und antiimperialistischen Bewegungen.

Die stalinistischen kommunistischen Parteien hingegen unterstützten nicht nur die degenerierten Arbeiter:innenstaaten gegen die imperialistischen Mächte, sondern entschuldigten deren Diktatur über die Arbeiter:innenklasse und in vielen Fällen ihre brutale Repression (Ungarn, Tschechoslowakei, Polen, Tian’anmen). Sie traten auch für antiimperialistische Bewegungen und Befreiungskriege wie in Vietnam und Kuba ein. Obwohl die sehr deutliche und fast unbestreitbare Restauration des Kapitalismus in Russland dazu geführt hat, dass nur wenige KP-Anhänger:innen Putin unterstützen, ist dies in Bezug auf China nicht der Fall. Die meisten, die immer noch den Stalinismus als Hauptströmung des Sozialismus und Kommunismus ansehen, betrachten daher die USA/NATO als „die“ imperialistische Kraft schlechthin und jede/n, der/die sich ihr entgegenstellt, als das kleinere Übel.

In einer Zeit, in der sich der Konflikt zwischen Russland und China auf der einen und dem Westen auf der anderen Seite entwickelt, neigt die stalinistische und linkssozialistische Linke dazu, sich auf die Seite der Erstgenannten zu stellen oder zumindest nicht gegen sie zu opponieren, während die der Mehrheit aus sozialdemokratischen und Labourtraditionen die Letzteren unterstützen. Eine wirklich revolutionäre Position, die von den beiden rivalisierenden imperialistischen Lagern unabhängig ist, verfolgt jedoch die von Lenin im Ersten Weltkrieg vertretene und von Trotzki im Zweiten Weltkrieg wiederholte Haltung gegenüber allen imperialistischen Ländern. Für sie war der Unterschied des politischen Regimes (Demokratie/Autokratie) nicht entscheidend. Was zählte, war ihr gemeinsamer Charakter als Ausplünderer und Unterdrücker kleinerer, schwächerer Nationen, die entweder ihre Kolonien oder Halbkolonien waren oder werden sollten.

Es waren und sind nur diese unterdrückten Nationen, die die Arbeiter:innenklasse verteidigen sollte, unabhängig vom Charakter ihrer politischen Regime. Das Ziel besteht nicht nur darin, die imperialistischen Herrscher:innen im In- und Ausland zu schwächen, sondern der Arbeiter:innenklasse der Länder, die von den imperialistischen Mächten blockiert, angegriffen oder unterdrückt werden, zu helfen, sich an die Spitze des nationalen Befreiungskampfes zu setzen und die Macht zu übernehmen (Strategie der permanenten Revolution).

In den Kriegen zwischen den imperialistischen Mächten hingegen war und ist die Position der Revolutionär:innen, dass „der/die Hauptfeind:in im eigenen Land steht“ und dass die Revolutionär:innen in allen reaktionären Kriegen die Niederlage der Kriegführenden wünschen müssen, eine Niederlage, die dadurch erreicht wird, dass ihr Krieg in einen Bürger:innenkrieg, d. h. eine Revolution, umgewandelt wird.

Unter den heutigen Bedingungen eines intensiven zwischenimperialistischen Konflikts ist es wahrscheinlich, dass jeder halbkoloniale Widerstand gegen eine/n imperialistische/n Unterdrücker:in von seinen/ihren imperialistischen Rival:innen ausgenutzt werden wird. Solange eine solche Intervention ein untergeordneter Faktor bleibt, wird sie den Charakter des Krieges nicht ändern, und die internationale Arbeiter:innenklasse muss die unterdrückte Nation unterstützen, ungeachtet des Charakters ihrer Führung oder angegriffenen Regimes.

Aber wie wir im Fall des Krieges um die Ukraine sehen können, kann ein solcher zum Mittelpunkt des aktuellen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt werden. Obwohl die NATO nicht offiziell in den Krieg verwickelt ist, hat sich der zwischenimperialistische Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten als entscheidender Faktor in diesem Krieg entpuppt, wobei die westlichen Imperialist:innen Wirtschaftssanktionen von historischem Ausmaß gegen Russland verhängen und die Ukraine als Stellvertreterin bewaffnen und ausbilden.

Der Krieg um die Ukraine hat daher einen kombinierten Charakter angenommen. Auf der einen Seite gibt es den neuen Kalten Krieg zwischen den westlichen imperialistischen Mächten und auf der Gegenseite Russland (und seinem Unterstützer China), der auf dem Terrain der Ukraine ausgetragen wird. Auf der anderen Seite bedeutet dies jedoch nicht, dass die Selbstverteidigung des ukrainischen Volkes, auch wenn sie von einer reaktionären bürgerlichen und prowestlichen Regierung geführt wird, bisher zu einem untergeordneten Faktor geworden ist. Deshalb muss die Arbeiter:innenklasse weltweit das Recht der Ukrainer:innen auf Widerstand gegen die russische Invasion anerkennen und sich die dafür notwendigen Mittel aneignen. Gleichzeitig darf die nationalistische, prowestliche Selenskyj-Regierung keine politische Unterstützung erhalten. Ihre Bestrebungen, der NATO beizutreten oder ihre Wirtschaft der EU unterzuordnen sowie ein Regime auf der Krim zu errichten, deren Bevölkerung eindeutig nicht Teil der Ukraine sein will, müssen verurteilt werden.

In Russland müssen die Revolutionär:innen eine Politik des revolutionären Defätismus verfolgen und dafür kämpfen, Putins reaktionären Krieg in einen Klassenkrieg zu verwandeln, um sein Regime zu stürzen. In den NATO-Ländern müssen sie sich jeder westlichen Intervention widersetzen. Sie müssen sich den Kriegszielen der NATO, ihren Sanktionsmethoden, ihrer großen Aufrüstung und ihrer Ausdehnung auf bisher neutrale Staaten entgegenstellen. Es ist notwendig, sich gegen all diese Maßnahmen im Rahmen der Konfrontationspolitik des westlichen imperialistischen Blocks gegenüber dem russischen (und chinesischen) Imperialismus aufzulehnen. Dieser Beginn eines neuen Kalten Krieges bringt die Menschheit näher an einen Dritten Weltkrieg, der leicht ihr letzter sein könnte. Die gleichen Prinzipien würden gelten, wenn China in Taiwan einmarschierte. Xi Jinping und die parteiübergreifenden Kräfte im US-Kongress bewegen sich in diese Richtung. Es ist von entscheidender Bedeutung, sich dafür zu engagieren, dass die Arbeiter:innenbewegungen und antiimperialistischen Kräfte auf der ganzen Welt nicht in ein imperialistisches Lager eintreten.

Der Rüstungswettlauf und die zunehmende Stationierung von Kampftruppen, Militärstützpunkten und Flottillen auf der ganzen Welt sowie die Anheizung der Gegensätze durch eine Reihe von Stellvertreter:innenkriegen können bekämpft werden, wenn es eine Millionenbewegung gibt, wie sie dem katastrophalen Irakkrieg entgegenzutreten versuchte, aber mit größerem Durchhaltevermögen und größerer Bereitschaft, alles zu tun, um die Kriegstreiber:innen von der Macht zu vertreiben. Vor allem aber bedarf es einer Bewegung mit einer qualitativ besseren, d. h. revolutionären Führung. Eine solche Bewegung muss international sein, ja sie muss eine Internationale werden.

Wenn die Arbeiter:innenklasse es unwidersprochen lässt, dass unsere Herrscher:innen Sanktionen verhängen, die zu Hunger und Inflation, zu neuen Rüstungswettläufen, die die für die Gesundheit, die Bildung, die Abwendung von Klimakatastrophen benötigten Ressourcen verbrauchen und zu zerstörerischen Kriegen führen, dann ist es unser Schicksal, deren Opfer zu sein und gegeneinander aufgehetzt zu werden. Deshalb hat die Arbeiter:innenklasse, wie Karl Marx 1864 in der Gründungserklärung der Ersten Internationale schrieb, „die Pflicht, sich die Geheimnisse der internationalen Politik anzueignen, die diplomatischen Handlungen ihrer jeweiligen Regierungen zu beobachten und ihnen, wenn nötig, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzuwirken“.

Die große Antikriegsmobilisierung von 2003, die 20 Millionen Menschen in jeder größeren Stadt der Welt auf die Straße brachte, zeigte die potenzielle Kraft einer internationalen Koordination. Das Scheitern der vom Europäischen und Weltsozialforum initiierten Bewegung war darauf zurückzuführen, dass die Organisator:innen dieser Demonstrationen nicht willens und in der Lage waren, weitere Massenaktionen, einschließlich Generalstreiks und Meutereien, zu organisieren, um die Bewegung zu stoppen oder die Mobilisierungen in Revolutionen zu verwandeln. Daraus ergab sich die Notwendigkeit einer disziplinierteren Organisation mit entschlosseneren Zielen, einer Fünften Internationale.

Im Kapitalismus haben die Arbeiter:innen kein Vaterland. In den imperialistischen Ländern kann die Arbeiter:innenbewegung niemals die „nationale Verteidigung“ unterstützen und muss immer die Niederlage ihrer Herrscher:innen anstreben, sei es in den kolonialen Besatzungskriegen im Irak und in Afghanistan oder in jedem Zusammenstoß mit rivalisierenden imperialistischen Staaten wie Russland oder China. Es ist die Pflicht der Revolutionär:innen, den Krieg zu nutzen, wie es die Zweite Internationale 1907 beschlossen hatte, um das System zu stürzen.

In halbkolonialen Ländern ist es notwendig, die Nation gegen jeden Angriff einer imperialistischen Macht oder einer/s ihrer lokalen Stellvertreter:innen oder „Gendarm:innen“ zu verteidigen. Gleichzeitig unterstützen die Revolutionär:innen nicht die Kriegsführung der Bourgeoisie. Indem sie für eine Einheitsfront aller nationalen Kräfte gegen den Imperialismus kämpfen, die Schwäche, das Zaudern und die Zaghaftigkeit der besitzenden Klassen im antiimperialistischen Konflikt entlarven, streben Revolutionär:innen danach, unabhängige Kräfte der Arbeiter:innenklasse an die Spitze des Kampfes zu bringen, um die Nation vom Imperialismus zu befreien und den Weg zum Sozialismus zu bahnen. In geschwistermörderischen Auseinandersetzungen zwischen Halbkolonien um Territorien oder Ressourcen stellt die Niederlage des „eigenen“ Landes ein geringeres Übel dar als die Aussetzung des Klassenkampfes im eigenen Land; der Krieg muss in einen Aufstand für die Macht der Arbeiter:innenklasse und den Frieden verwandelt werden.

Die imperialistischen Großmächte USA, Großbritannien, China und die EU-Staaten geben Hunderte von Milliarden für ihre Kriegsmaschinerie aus. Sie geben heute vor, im humanitären Interesse zu handeln, aber das ist eine Tarnung für ihr eigentliches Ziel, nämlich die Durchsetzung und Aufrechterhaltung ihrer militärischen Vorherrschaft in der Welt. Auch in ärmeren Ländern werden riesige Teile des Staatshaushalts für die Armee aufgewandt. In Ländern wie Pakistan und der Türkei versucht das Militär, selbst eine direkte politische Rolle zu spielen.

  • Nein zu imperialistischen Kriegen, Sanktionen und Blockaden. Nieder mit allen imperialistischen Besatzungen wie der russischen in der Ukraine und zuvor in Tschetschenien, der Besatzung Afghanistans und des Irak durch die NATO-Mächte, der Besatzung Palästinas durch den zionistischen Staat, der US-Blockade Kubas, des Iran, Nordkoreas und Venezuelas. Wir stärken den Widerstand gegen all diese Besatzungen und Blockaden.

  • Für die Schließung aller imperialistischen Militärbasen auf der ganzen Welt! Nein zu den Militärinterventionen der USA, der EU und anderer imperialistischer Staaten.

  • Für die Auflösung aller imperialistisch dominierten Militärbündnisse wie NATO, CSTO (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit; OVKS; Bündnis Russlands mit Zerfallsprodukten der ehemaligen Sowjetunion), AUKUS usw.

  • Keinen Pfennig und keinen Menschen für eine kapitalistische Armee, sei es eine Berufs- oder eine Wehrpflichtarmee. Die Arbeiter:innenvertretungen im Parlament müssen sich allen Militärausgaben der kapitalistischen Regierungen widersetzen.

  • Militärische Ausbildung für alle unter Kontrolle der Arbeiter:innenbewegung.

  • Für volle bürgerliche und politische Rechte für Soldat:innen einschließlich Marine- und Luftwaffenangehörigen, die Einrichtung von Ausschüssen und Gewerkschaften in den Lagern und Kasernen und die Wahl von Offizier:innen. Verteidigt alle, die sich dem Befehl widersetzen, Zivilist:innen anzugreifen, zu vergewaltigen, zu foltern usw.!

  • In allen imperialistischen Kriegen oder Kriegen der Ausplünderung und Unterdrückung von nationalen Minderheiten (z. B. der kurdischen in der Türkei, der tamilischen in Sri Lanka, der Rohingya in Myanmar) befindet sich der/die Hauptfeind:in der Arbeiter:innenklasse im eigenen Land. Für die Niederlage der herrschenden Klassen, für den Sieg des Widerstands.

4.4 Kampf gegen die Klimakatastrophe

Klimawandel und Umweltzerstörung können nur eingedämmt und rückgängig gemacht werden, wenn die Kontrolle über die Produktion aus den Händen der großen Kapitalformationen genommen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein starker Widerstand gegen die Umweltzerstörung und Bedrohung durch den Klimawandel entwickelt, der von lokalen Initiativen gegen bestimmte Großprojekte über große Bewegungen gegen umweltschädigende Politik und Widerstand in Halbkolonien bis hin zu Umweltbewegungen in den imperialistischen Zentren reicht.

In Europa war es die Jugend, die mit weltweiten Student:innen- und Schulstreiks und direkten Aktionen die Vorreiter:innenrolle übernommen hat. Die Arbeiter:innenbewegung, die zurückgeblieben ist, muss sich mit ihnen verbinden und ihre Aktionen und Kampagnen unterstützen und ausweiten, ohne zu versuchen, ihren kämpferischen Geist zu unterdrücken. Gleichzeitig muss sie die reformistische oder bürgerliche Ausrichtung der Führungen der Klimabewegung, wie die bürokratische von Fridays for Future, in Frage stellen und sich für eine Ausrichtung der Bewegung auf die Arbeiter:innenklasse starkmachen.

In bestimmten Bereichen konnte das bisher ungehemmte Handeln von Großkonzernen und ihren Helfer:innen in Umweltfragen gebremst werden. Es ist notwendig, diese Erfolge auf die soziale Kontrolle der sozialökologischen Auswirkungen wirtschaftlicher Entscheidungen auszuweiten. Es müssen demokratische Kontrollgremien aus Arbeiter:innen, Verbraucher:innen, Betroffenen von Großprojekten, jungen Menschen, die um ihre Zukunft ringen, etc. gebildet werden, die über Projekte, Risikostufen, Grenzwerte, ökologische Maßnahmen etc. entscheiden. Das Kapital muss systematisch mit einer sozialen Kontrolle hinsichtlich der sozialökologischen Auswirkungen seines Handelns konfrontiert werden.

Letztlich wird nur die sozialistische Revolution das System des Umweltimperialismus überwinden und die geplante optimale Nutzung der Ressourcen unter Kontrolle der Mehrheit weltweit ermöglichen. Jedes Programm im Kampf gegen den Imperialismus muss, ausgehend von den betroffenen Menschen und den globalen Interessen der Arbeiter:innenklasse, zentral auch Forderungen für den Kampf gegen den globalen ökologischen Raubbau, insbesondere auf Kosten der Halbkolonien, entwickeln.

Die folgenden Forderungen richten sich nicht nur an die staatliche und Umweltpolitik über bestimmte Landesgrenzen hinweg, sondern sind dergestalt, dass sie nur von einer internationalen Bewegung umgesetzt werden können, die die zuvor beschriebene Form der demokratisch legitimierten gesellschaftlichen Kontrolle über die hier geforderten Maßnahmen durchführt.

  • Für einen Notfallplan zur Umstrukturierung der Energie- und Verkehrssysteme – für eine Perspektive zur Beendigung des weltweiten Verbrauchs fossiler Brennstoffe!

  • Die großen Konzerne und imperialistischen Staaten wie die USA und EU müssen Reparationszahlungen für die Umweltzerstörung leisten, die sie im Rest der Welt verursacht haben, um den halbkolonialen Ländern zu helfen, den notwendigen ökologischen Wandel zu vollziehen.

  • Für einen Plan zum Ausstieg aus der fossilen und nuklearen Energieerzeugung. Für massive Investitionen in erneuerbare Energieformen wie Wind-, Wasser- und Sonnenenergie sowie in geeignete Speichertechnologien.

  • Für ein großes globales Programm zur Wiederaufforstung zerstörter Wälder bei gleichzeitigem Schutz der bestehenden naturnahen Ökosysteme der indigenen Völker!

  • Für die Unterstützung der Kämpfe der indigenen Völker und von der Umweltzerstörung bedrohten Bevölkerungsgruppen! Für ihren Schutz und ihr Recht auf Selbstbestimmung.

  • Für ein globales Programm zum Schutz der Wasserressourcen. Für massive Investitionen in die Trinkwasserversorgung und Abwasserreinigung!

  • Für ein globales Programm zur Ressourcenschonung, Abfallvermeidung und -bewirtschaftung.

  • Für die Umstellung der Landwirtschaft auf nachhaltige Anbaumethoden. Für die Enteignung von Großgrundbesitz und die Verteilung von Land an die Menschen, die es bewirtschaften (wollen).

  • Für tiergerechte Haltungsbedingungen in allen Betrieben! Für die Intensivierung der Forschung zu nachhaltigen Anbausystemen unter Kontrolle der Bauern, Bäuerinnen und Arbeiter:innen! Wo nötig, verpflichtende Anwendung ökologisch nachhaltiger Anbaumethoden wie des ökologischen Landbaus, unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Ernährungssicherung.

  • Der Konsum von tierischen Produkten (vor allem Fleisch) muss drastisch reduziert werden, einschließlich der Abschaffung von Subventionen, die den großen Viehzüchter:innen zugutekommen, aber gleichzeitig die Kleinbauern und -bäuerinnen nicht ruinieren. Auf Grundlage der Enteignung der großen Agrarkonzerne kann die Nahrungsmittelproduktion durch einen von der ländlichen und städtischen Arbeiter:innenklasse demokratisch erarbeiteten gesamtgesellschaftlichen Plan neu ausgerichtet werden, der den Ernährungsbedürfnissen der Menschen entspricht und dabei die Auswirkungen des Klimawandels bekämpft.

  • Kostenlose öffentliche Verkehrsmittel für alle und massive Investitionen in öffentliche Verkehrssysteme! Umstellung des Verkehrssystems auf den Schienenverkehr, sowohl für die Personen- als auch für die Güterbeförderung. Gleichzeitig massive Reduzierung des PKW-, LKW- und Flugverkehrs!

Abschaffung der Geschäftsgeheimnisse! Abschaffung des Patentschutzes! Zusammenführung dieses Wissens, um nachhaltige Alternativen zu bestehenden Technologien zu schaffen. Echte Hilfestellung für weniger entwickelte Länder durch Technologietransfer!

  • Verstaatlichung aller Umweltressourcen wie Böden, Wälder und Gewässer.

  • Verstaatlichung aller Energiekonzerne und Unternehmen mit Monopolen auf grundlegende Güter wie die Wasserwirtschaft, Agrarindustrie sowie alle Fluggesellschaften, Schifffahrts- und Eisenbahnunternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für eine restriktive Politik gegenüber chemischen Produkten nach dem Vorsorgeprinzip! Für ein Verbot von Chemikalien, die nachweislich oder wahrscheinlich gesundheits- und/oder umweltgefährdend sind wie z. B. Glyphosat! Grenzwerte bzw. Gefahrenstufen für den Einsatz von Chemikalien müssen durch Organe der demokratisch legitimierten gesellschaftlichen Kontrolle festgelegt werden.

4.4.1 Die Stadt umgestalten

Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt heute in Städten, aber die meisten von ihnen in Barackensiedlungen und Elendsvierteln ohne angemessene Straßen, Beleuchtung, sauberes Trinkwasser oder Abwasser- und Abfallentsorgung. Ihre nicht tragfähigen Strukturen werden von Erdbeben, Wirbelstürmen, Überschwemmungen und Tsunamis weggefegt, wie wir in Indonesien, Bangladesch, New Orleans und Haiti gesehen haben. Hunderttausende sterben nicht nur durch diese „natürlichen“ Ereignisse, sondern auch durch die verarmte menschliche Infrastruktur. Die Menschen strömen in die Städte, weil Kapitalismus, Großgrundbesitz und Agrarindustrie nicht in der Lage sind, den Lebensunterhalt auf dem Lande zu sichern.

Nur wenige Bewohner:innen dieser Quartiere haben einen festen oder sicheren Arbeitsplatz. Für ihre Kinder gibt es keine Kindergärten, Kliniken oder Schulen. Die Menschen werden von kriminellen Banden, Drogenhändler:innen und der Polizei gleichermaßen schikaniert und erpresst. Frauen und Jugendliche werden in die Prostitution, sexuelle Sklaverei oder in die Halbsklaverei in gefährlichen und gesundheitsschädlichen Klitschen getrieben. Tatsächliche Sklaverei und Menschenhandel sind wieder im Kommen. Dies ist ein weiteres Phänomen, das nach Abschaffung des Kapitalismus schreit. Diese zunehmende Anhäufung menschlichen Elends muss ein Ende haben!

Dies kann nicht mit der spärlichen Hilfe der reichen Länder, den Millenniumszielen, NGOs oder den von Kirchen, Moscheen und Tempeln betriebenen Wohltätigkeitsorganisationen erreicht werden. Auch Selbsthilfe- oder Kleinstkreditprogramme können so große Probleme nicht lösen. Die Bevölkerung in den Barrios, Favelas und Townships kann, wie sie bewiesen hat, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Durch Massenmobilisierung in Venezuela, Bolivien und Südafrika haben die Bewohner:innen der Barackensiedlungen bedeutende Reformen durchgesetzt. Aber nur durch eine soziale Revolution, im Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, können sie den repressiven Staat und die ausbeuterische Ökonomie der Kapitalist:innen zerschlagen und an ihrer Stelle eine Gesellschaft errichten, die auf Komitees und Räten der Arbeiter:innen und Armen beruht, als Instrument für die vollständige Umgestaltung der Städte.

  • Für Wohnungen, Licht und Strom, Abwasser- und Abfallentsorgung, Krankenhäuser und Schulen, Straßen und öffentliche Verkehrsmittel für die Bewohner:innen der riesigen und schnell wachsenden Armutsviertel, die alle großen Städte der „Entwicklungsländer“ von Manila und Karatschi bis Mumbai, Mexiko-Stadt und Sao Paulo umgeben.

  • Für ein Programm öffentlicher Arbeiten unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Armen. Für einen kostenlosen öffentlichen Nah- und Pendler:innenverkehr für die Arbeiter:innen!

  • Für massive Investitionen in Sozial- und Gesundheitsdienste, Wohnraum, öffentliche Verkehrsmittel und eine saubere, nachhaltige Umwelt.

  • Unterstützung der Kämpfe der Kleinbauern und -bäuerinnen, der Landarbeiter:innen und Landlosen auf dem Land und in der Industrie, um den Widerspruch zwischen Stadt und Land schrittweise zu beseitigen.

4.4.2 Befreiung des ländlichen Raums

Etwa 43 Prozent der Menschheit leben noch auf dem Land, in Dörfern, auf Plantagen und in den ländlichen Gemeinschaften indigener Völker, doch die Vereinten Nationen sagen voraus, dass dieser Anteil bis 2050 auf ein Drittel sinken wird. Der Grund für die Landflucht ist nicht nur der Reiz des Stadtlebens. Für die meisten Migrant:innen überwiegen dessen Nachteile durch das Leben in den Slums, die Kriminalität und die Überausbeutung. Vielmehr ist es das Versagen des Kapitalismus, auf dem Lande ein einigermaßen menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Das Scheitern der Landreformen hat die Arbeits- und Landlosigkeit dort verschärft. Die Kluft zwischen ihrem Einkommen, Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Bildung und Kommunikation und den Möglichkeiten in den Städten ist oft enorm. Darüber hinaus sind sie mit der Zerstörung der ländlichen Umwelt durch Industriezweige wie Holzeinschlag und Bergbau sowie durch Monokulturen und Aktivitäten konfrontiert, die zu Überschwemmungen und Auslaugung des Bodens führen. Der Klimawandel beschleunigt diesen Prozess gewaltig.

Gleichzeitig konzentriert der Kapitalismus den Landbesitz unerbittlich in den Händen einer wohlhabenden Elite oder des internationalen Agrobusiness. Von China und Bengalen bis Südamerika und Afrika werden Bauern, Bäuerinnen und indigene Gemeinschaften von den besten Böden vertrieben und gezwungen, in die Slums der Städte abzuwandern.

Das Leben auf den Plantagen, auf denen Zucker, Kaffee, Tee, Baumwolle, Sisal, Kautschuk, Tabak und Bananen angebaut werden, weist viele Merkmale unfreier Vertragsverhältnisse oder der Leibeigenschaft auf. Die Plantagenarbeiter:innen werden oft in Schuldknechtschaft gehalten. Eine Revolution auf dem Lande, die vom Proletariat, den Landlosen oder Kleinbauern und -bäuerinnen angeführt wird, wäre eine mächtige Verbündete der städtischen Arbeiter:innen und Letztere wären ein unverzichtbarer Beistand für ihre Schwestern und Brüder auf dem Lande.

– Enteignung des Landes der Oligarch:innen, der ehemaligen kolonialen Plantagen und der multinationalen Agrarunternehmen, um es unter die Kontrolle der Arbeiter:innen, armen Bauern, Bäuerinnen und Landarbeiter:innen zu stellen.

  • Land für diejenigen, die es bearbeiten.

  • Abschaffung der Pacht und Erlass aller Schulden der armen Bauern und Bäuerinnen.

  • Freie Kredite für den Kauf von Maschinen und Düngemitteln; Anreize für Subsistenzlandwirt:innen, sich freiwillig Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften anzuschließen.

  • Freier Zugang zu Saatgut, Abschaffung aller Patente in der Landwirtschaft.

  • Modernisierung des ländlichen Lebens. Vollständige Elektrifizierung, Internetzugang und moderne städtische Einrichtungen. Stopp der Abwanderung der Jugend aus dem ländlichen Raum durch Förderung kreativer und kultureller Aktivitäten.

  • Gegen die Armut auf dem Lande; Angleichung der Einkommen, des Zugangs zu Gesundheit, Bildung und Kultur an die Städte.

Indem wir diese Kämpfe in den Städten und auf dem Land miteinander verbinden, können wir die krankhafte Verstädterung des Kapitalismus, die Ausbeutung des Bodens und die Abholzung der Wälder rückgängig machen und den Weg zu dem im Kommunistischen Manifest formulierten Ziel freimachen: „Die Vereinigung der Arbeit auf dem Lande und in der Industrie, wodurch der Widerspruch zwischen Stadt und Land allmählich beseitigt wird.“

4.5 Die digitale Revolution

Seit den 1960er Jahren sind die Fortschritte in der Computertechnologie und der Vernetzung sowie deren Anwendung in vielen Bereichen der Produktion und des täglichen Lebens entscheidende Faktoren für die Entwicklung der Produktivkräfte. Mit dem Internet, der mobilen Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz (KI) wurden in den letzten Jahren in immer schnellerem Tempo neue Etappen dieser Entwicklung erreicht. Gemeinsamer Datenzugriff und andere Elemente der Personen übergreifenden Nutzung von Ressourcen, die immer engere Verknüpfung von Produktanforderungen und Produktbereitstellung, die sichere Abwicklung von Transaktionen und komplexen Logistikketten über Blockchain etc. haben große Potenziale für Produktivitätssteigerungen geschaffen. In all diesen Bereichen dominieren riesige Monopole (Amazon, Microsoft, Alphabet Inc., Facebook …), die den Zugewinn an Produktivität für ihre Monopolprofite nutzen.

Ein wesentlicher Faktor dabei ist ihre enorme Kontrolle über die Daten und Informationen der Nutzer:innen, aus deren Verkauf diese Datenkraken enorme Profite erzielen. Viele Unternehmen versuchen nun, Daten über alle Aspekte ihrer Mitarbeiter:innen zu sammeln, um sie besser kontrollieren und in einen Leistungswettbewerb treten lassen zu können. In ähnlicher Weise nutzen Staaten (nicht nur China und die USA) künstliche Intelligenz und ihren Zugang zu den Netzen, um immer umfassendere Informationen über ihre Bürger:innen zu sammeln, sie zu bewerten, identifizieren, lokalisieren und überwachen.

Diese Technologien werden von den Geheimdiensten der Welt eingesetzt, um eine allumfassende Überwachung zu realisieren. Die Enthüllungen über den Skandal der National Security Agency (NSA) im Jahr 2013 sind ein Beleg dafür. Seitdem hat sich die Ausweitung der Überwachung beschleunigt. Revolutionär:innen müssen sich bewusst sein, dass Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, trojanische Programme und die massenhafte Speicherung von Daten Teil des Klassenkampfes der Kapitalist:innen sind und massiv gegen sie und die Arbeiter:nnenbewegung eingesetzt werden und nicht für die „Sicherheit“ der Bevölkerung.

Die Datenschutzbestimmungen, mit denen Hasspostings kontrolliert werden sollen, sind kaum mehr als Feigenblattaktionen. Kaum ein/e private/r Nutzer:in kann sie wirklich verwenden, um seine/ihre Daten zu kontrollieren. Die Masse der Missbrauchsmöglichkeiten durch Staat, Konzerne und rechte Organisationen wächst in einem Tempo, dem all diese Maßnahmen nur hoffnungslos hinterherhinken.

Die alten Probleme des „Datenschutzes“ erscheinen heute klein im Vergleich zu denen der neuen Generation von Entwicklungsumgebungen der KI-Anwendungen. Mit den gesteigerten Fähigkeiten und dem viel einfacheren gemeinsamen Zugang zu Modulen für tiefes maschinelles Lernen, große Sprachmodelle, Texterzeugung und -umwandlung, Verarbeitung natürlicher Sprache usw. ist nicht nur die unkontrollierbare Anzahl von Datenbanken, auf die bei Suchvorgängen und Problemlösungen zugegriffen wird, explodiert, sondern KI-Anwendungen scheinen erweiterte Antworten auf jede Art von Fragen zu beinhalten. Diese Fähigkeit, Antworten in erstaunlicher sprachlicher und inhaltlicher Qualität zu generieren, basiert auf sehr einfachen statistischen Modellen. Während sie in erstaunlich vielen Fällen gute Ergebnisse liefert, erzeugt diese einfache statistische Interpolation in komplizierteren Fällen auch Unsinn und neigt dazu, weitverbreitete Vorurteile zu reproduzieren. Falsche Informationen, auf denen die Ableitungen beruhen, werden nicht erkannt usw.. Ein relevanter Anteil der Antworten besteht aus dem, was Expert:innen als „KI-Halluzinationen“ bezeichnen.

Auch wenn diese neuen KI-Anwendungen dazu beitragen können, viele Arbeiten im Zusammenhang mit der routinemäßigen Erstellung von Texten (im Journalismus, in Büros, Kontaktzentren usw.) zu erleichtern, ist das Bestreben des Kapitals, diese Techniken als Ersatz für menschliche Arbeitskräfte einzusetzen, sehr gefährlich: Jedes Produkt dieser Anwendungen muss immer noch von Menschen kontrolliert und nachbearbeitet werden, um grobe Fehler mit potenziell schädlichen Folgen zu vermeiden.

Wir kämpfen für:

  • Enteignung großer IT-Monopole unter Kontrolle von Beschäftigten und demokratisch legitimierten Nutzer:innenkomitees!

  • Für einen Plan zur gesellschaftlich sinnvollen Nutzung des produktiven Fortschritts der IT-Technologie.

  • Weg mit der Überwachung und Kontrolle von Bürger:innen und Arbeitskräften durch Privatunternehmen und Kapital wie Google, Facebook. Eine erste Forderung sollte sein, dass sie die Algorithmen und Systeme, die sie zum Sammeln von Informationen verwenden, öffentlich machen.

  • Für die gesellschaftliche Kontrolle (durch demokratisch legitimierte Nutzer:innenkomitees) der von Staat und Unternehmen erhobenen Daten und Verfahren zu deren Nutzung und Vernetzung.

  • Nein zu Überwachungsinstrumentarien, die das Netzverhalten von Nutzer:innen und Mitarbeiter:innen ausspähen! Nein zu Anbieterfiltern für Dateien und anderen Methoden, die die freie Verfügung über die im Netz geteilten Inhalte verhindern und ihnen die Warenform aufzwingen wollen! Stattdessen wollen wir den Ausbau der Beteiligungsökonomie und die staatliche Finanzierung ihrer Basis (z. B. von offen zugänglichen Anwendungen unter Hersteller:innenkontrolle statt Abhängigkeit von den „Spenden“ der IT-Unternehmen)!

  • Die Anwendung oder der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt sollte nur dann erlaubt sein, wenn ihre Auswirkungen und die Generierung von Ergebnissen für die Arbeitenden selbst und die davon betroffenen sozialen Gemeinschaften kontrollierbar sind. Die Anwendungen müssen ein Protokoll liefern, das die Teile der Arbeit, die Ergebnis der KI-Verarbeitung sind, klar identifiziert und die Kette der Überlegungen enthält, die die KI in Bezug auf Daten und statistische Schlussfolgerungen verwendet.

  • Kontrollkommissionen von Arbeiter:innen und Gemeinden sollten diese Protokolle regelmäßig überprüfen und im Falle von Fehlern oder schädlichen Auswirkungen in der Lage sein, die Probleme in den Anwendungen zu lokalisieren und korrigieren. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf Datenschutzverletzungen und schädliche Schlussfolgerungen in Bezug auf Einzelpersonen oder soziale Gruppen, die sich aus den „autonomen“ Aktionen der KI ergeben. Solange solche Kontrollmechanismen nicht implementiert sind, sprechen wir uns für ein Einfrieren der Nutzung der neuen Generation von KI-Anwendungen aus.

4.6 Die Gewerkschaften

Überall auf der Welt werden unsere Gewerkschaften von den Kapitalist:innen angegriffen. Das größte Hindernis im Kampf gegen die Offensive der Kapitalist:innen ist der lähmende Einfluss der Bürokrat:innenkaste, die unsere Organisationen an das Kapital, ihre Regierungen und ihre Gesetze bindet. Die Vorstöße der Bosse sind unerbittlich und bösartig. In den schwächeren und weniger entwickelten Ländern, den Halbkolonien, haben diktatorische Regierungen die Gewerkschaften zu Werkzeugen des Staates gemacht, indem sie Streiks verboten und die freie Wahl der Gewerkschaftsführer:innen untersagt haben. Unabhängige Gewerkschaften und betriebliche Organisationen müssen in der Illegalität kämpfen und mit Verhaftungen, Folter und Ermordung rechnen.

In den letzten Jahrzehnten sind die Gewerkschaften im globalen Süden unter Beschuss geraten. Sehr große Teile der Arbeiter:innenklasse, selbst in den großen Industrien und den staatlichen Sektoren, sind infolge neoliberaler Angriffe und repressiver Gesetze überhaupt nicht gewerkschaftlich organisiert. Die Zersplitterung der Gewerkschaften spiegelt dies wider und verstärkt es noch, ebenso wie die Verwirrung, der Sektoralismus und der Verrat der Gewerkschaftsführungen. Revolutionär:innen müssen nicht nur die Organisierung der Unorganisierten fordern und für die Überwindung dieser Politik in den bestehenden Gewerkschaften streiten, sondern auch die Initiative zum Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung ergreifen.

In den fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien errangen jahrzehntelange Klassenkämpfe den Gewerkschaften gesetzliche Rechte, so dass der Staat anstelle der völligen Illegalität die Gewerkschaften einbezog, indem er ihren Führer:innen Privilegien gewährte und sie in die Strukturem der Klassenzusammenarbeit einband. Doch die Kapitalist:innen fuhren fort, die Rechte zu beschneiden und den Gewerkschaften immer stärkere gesetzliche Beschränkungen aufzuerlegen, was eine wirksame Gewerkschaftsarbeit und die Rekrutierung von Mitgliedermassen behinderte. Westliche Gerichte demonstrieren immer wieder den Klassencharakter des bürgerlichen Rechts, indem sie eingreifen, um Streikabstimmungen zu kippen, Gewerkschaftsgelder zu beschlagnahmen und gewerkschaftsfeindliche Unternehmen zu unterstützen.

Heute findet das Kapital unabhängige Gewerkschaften immer unerträglicher. Wir müssen unsere Gewerkschaften verteidigen, für ihre Unabhängigkeit von den Kapitalist:innen und dem Staat kämpfen, den Kampf aufnehmen, um Millionen neuer Mitglieder aus bisher nicht organisierten Sektoren, aus den in unsicheren Verhältnissen beschäftigten und hochgradig ausgebeuteten Teilen der Arbeiter:innenschaft, viele von ihnen junge Menschen, Migrant:innen oder „Illegale“, zu rekrutieren. Dieser Kampf wird auf unnachgiebigen Widerstand von innen stoßen, von der hochbezahlten und undemokratischen Gewerkschaftsbürokratie, die als ihre ewige Aufgabe das Aushandeln von Verträgen in einer ewigen kapitalistischen Wirtschaft ansieht. In Krisenzeiten werden diese Abmachungen zu „Rückzahlungen“ an die Bosse, Errungenschaften und erreichte Mindeststandards werden gegen Arbeitsplätze getauscht und umgekehrt.

Die Ideologie der bürokratischen Gewerkschaftsführer:innen ist Gift für das Klassenbewusstsein des Proletariats. Statt auf Internationalismus setzen sie in den imperialistischen Zentren vor allem auf eine unternehmenszentrierte Logik und verteidigen die Konkurrenzfähigkeit „ihres“ Unternehmens. Damit tragen die Gewerkschaftsbürokrat:innen zusammen mit dem sozialchauvinistischen Reformismus der Sozialdemokratie und den selbsternannten „Sozialist:innen“ die Verantwortung dafür, dass sich rassistische Ideologien und nationale Engstirnigkeit in Zeiten des Rechtsrucks auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse einnisten können oder nicht wirksam bekämpft werden.

Die Bürokrat:innen agieren oft als Polizei für den Staat und die Unternehmen, schikanieren Aktivist:innen und helfen, sie aus dem Betrieb zu vertreiben. Revolutionär:innen organisieren sich innerhalb der Gewerkschaften, um ihren Einfluss zu vergrößern, bis hin zur Übernahme der Führung, wobei sie immer ehrlich gegenüber der Basis bleiben und so offen darüber sprechen, wie es staatliche Repression und Gewerkschaftsbürokratie erlauben. In den bürokratischen Gewerkschaften werden wir die Schaffung von Basisbewegungen anregen, die darauf abzielen, die Durchführung von Streiks und anderen Formen des Kampfes zu demokratisieren und die hauptamtliche und überbezahlte Kaste der Spitzenfunktionär:innen durch gewählte und jederzeit abrufbare Führer:innen zu ersetzen, die den gleichen Lohn erhalten wie ihre Mitglieder.

Aber selbst die demokratischste Gewerkschaftsbewegung reicht nicht aus. Die syndikalistische Idee, dass die Gewerkschaften nicht nur von den Bossen, sondern auch von den politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse unabhängig sein sollten, kann den Widerstand der Arbeiter:innen und den Kampf um die Macht der Arbeiter:innenklasse nur schwächen. Stattdessen zielen Revolutionär:innen darauf ab, die Gewerkschaften so zu orientieren, dass sie nicht nur für die Interessen der einzelnen Branchen kämpfen, sondern für die Interessen der Gesamtklasse, über alle Industrie-, Berufs- und Betriebsgrenzen hinweg, für befristete Arbeitskräfte ebenso wie für Stammpersonal, für die gegenwärtigen und zukünftigen Beschäftigten, nicht nur in einem Land, sondern international. Wir fördern das Klassenbewusstsein, nicht nur das enge Gewerkschaftsbewusstsein. Auf diese Weise können die Gewerkschaften wieder zu echten Schulen für den Sozialismus und zu einem massiven Stützpfeiler für eine neue revolutionäre Arbeiter:innenpartei werden.

Eine neue Arbeiter:inneninternationale und revolutionäre Parteien in jedem Land haben die Pflicht, sich für die Erneuerung der bestehenden Gewerkschaften einzusetzen, wo immer dies möglich ist, dürfen aber nicht vor einem formellen Bruch und der Gründung neuer Gewerkschaften zurückschrecken, wo die reformistische Bürokratie eine Einheit unmöglich macht. Unorganisierte prekär Beschäftigte können ebenso organisiert werden wie neue Hochtechnologieindustrien, trotz tyrannischer Firmenchef:innen oder Systeme, die kollektives Handeln durch Klassenzusammenarbeit am Arbeitsplatz verhindern. Wir brauchen Organisationen in den Betrieben, die sich weder dem Diktat noch den Schmeicheleien der Bosse beugen, sondern die Arbeiter:innen mit militanten Kampfmethoden wie Massenstreiks, Besetzungen und, wenn nötig, einem Generalstreik verteidigen. Die Gewerkschaften dürfen nicht bürokratisch von oben herab kontrolliert werden, sondern müssen demokratisch sein, wo Differenzen frei diskutiert werden können, wo die Führer:innen kontrolliert und, wenn nötig, unverzüglich abgewählt werden können.

Wir können nicht warten, bis die Gewerkschaften umgestaltet werden; wir müssen jetzt kämpfen. Wir fordern, dass die derzeitigen Gewerkschaftsführer:innen sich für die dringenden Bedürfnisse der Massen verwenden, und wir warnen die Basis, ihnen nicht zu vertrauen. Wir kämpfen für die Bildung von Basisbewegungen in den bestehenden Gewerkschaften, damit der Würgegriff der Funktionär:innen gebrochen werden kann und trotz allem Aktionen durchgeführt werden können. Während wir für eine politisch-fraktionelle Organisierung innerhalb der Gewerkschaften eintreten, lehnen wir politisch getrennte Gewerkschaften ab, weil dies nur dazu dient, die Arbeiter:innen zu spalten und viele unter den Einfluss reformistischer oder sogar klassenfremder Führungen zu stellen. Wir kämpfen für die Bildung von Industriegewerkschaften, die das kollektive Gewicht der Lohnabhängigen bei Verhandlungen mit den Unternehmer:innen maximieren. Dort, wo derzeit mehrere Gewerkschaften entweder innerhalb einer Branche, von Konzernen oder Betrieben existieren, setzen wir uns für ihren Zusammenschluss auf Grundlage des Klassenkampfes und für gemeinsame Ausschüsse unter Kontrolle der Basis für Verhandlungen und Aktionen ein.

Wir kämpfen für die gewerkschaftliche Organisierung der großen Zahl unserer Schwestern und Brüder, die noch nicht organisiert sind, für die Öffnung der Gewerkschaften für Jungarbeiter:innen und die rassistisch Unterdrückten. Wenn die Gewerkschaftsbürokrat:innen dies verhindern, dann müssen neue Gewerkschaften gegründet werden. Unsere Losung muss lauten: Zusammenarbeit mit den offiziellen Führer:innen, wo es möglich ist, aber ohne sie, sogar gegen sie, wo es nötig ist.

Wir brauchen Gewerkschaften und Massenorganisationen, die wirklich die Masse der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten vereinen können und nicht von männlichen Mitgliedern und Angehörigen bessergestellter Schichten dominiert werden, die ausschließlich aus der dominierenden nationalen oder anderweitig privilegierten Gruppe innerhalb eines bestimmten Landes stammen. Das bedeutet, dass wir den unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse und den Armen, den Frauen, der Jugend, den Minderheiten und den Migrant:innen volle Rechte und volle Vertretung in ihren Führungsstrukturen zugestehen.

Deshalb kämpfen wir für:

  • Die Organisation der nicht organisierten Arbeiter:innen, einschließlich Frauen, Migrant:innen und befristeten Arbeitskräften.

  • Die Gewerkschaften müssen unter der Kontrolle ihrer Mitglieder stehen.

  • Für das Recht auf unabhängige Treffen (Caucusrecht) für alle sozial unterdrückten Gruppen: Frauen, ethnische Minderheiten, LGBTIA+-Menschen.

  • Einheit aller Gewerkschaften auf einer demokratischen und kämpferischen Basis, völlig unabhängig von den Bossen, ihren Parteien und Staaten.

4.7 Von der Streikpostenverteidigung zur Arbeiter:innenmiliz

Jede/r entschlossene Streikende weiß, dass Streikpostenketten notwendig sind, um Streikbrecher:innen abzuschrecken. Kein Wunder, dass die Kapitalist:innen überall auf drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze drängen, die unsere Streikposten so schwach und unwirksam wie möglich machen sollen. Gleichzeitig dürfen die Bosse Sicherheitsleute und private Schläger:innentrupps anheuern, um die Arbeiter:innen einzuschüchtern. Von Angriffen auf Arbeiter:innenmärsche durch hoch gerüstete Polizei wie in Griechenland bis hin zur Verhaftung und Einkerkerung von Gewerkschafter:innen im Iran reicht die andauernde Verfolgung kämpferischer Arbeiter:innen. Wenn die Polizei und Schläger:innenbanden der Bosse zu offener Repression greifen, können sich selbst die militantesten Massenstreikposten als unzureichend erweisen, wie es beim historischen britischen Bergarbeiterstreik von 1984/1985 der Fall war.

Der berüchtigtste Fall dieses Jahrhunderts war das Massaker von Marikana, bei dem die südafrikanische Polizei auf Anweisung des heutigen Präsidenten und ehemaligen Bergarbeiterführers Cyril Ramaphosa 42 Streikende tötete. Jeder ernsthafte Kampf zeigt die Notwendigkeit eines disziplinierten Schutzes mit Waffen, die denen entsprechen, die gegen uns eingesetzt werden.

Wir sollten mit der organisierten Verteidigung von Demonstrationen, Streikposten, Gemeinden, die rassistischen und faschistischen Überfällen ausgesetzt sind, sowie mit der Selbstverteidigung der sexuell Unterdrückten beginnen. Unter ständiger Bekräftigung des demokratischen Rechts auf Selbstverteidigung sollten Militante eine öffentliche Kampagne für eine Arbeiter:innen- und Bevölkerungsverteidigungsgarde starten, die auf einer Massenbewegung fußt.

In Ländern, in denen das Recht besteht, Waffen zu tragen, sollte die Arbeiter:innenverteidigungsgarde dieses voll ausschöpfen. Wo die Kapitalist:innen und ihr Staat das Gewaltmonopol besitzen, sind alle Mittel gerechtfertigt, um dieses zu brechen. Revolutionär:innen müssen innerhalb der Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse und der Bauern und Bäuerinnen auf die Schaffung von Verteidigungskräften drängen, die diszipliniert, kampferprobt und mit den geeigneten Erfolg verheißenden Waffen ausgestattet sind. In Schlüsselmomenten des Klassenkampfes sind Massenstreikwellen, ein Generalstreik, die Schaffung einer Arbeiter:innenmassenmiliz unerlässlich, sonst wird die Bewegung in Blut ertränkt wie in Chile 1973 oder auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989. Wenn man sich der Herausforderung stellt, können die Mittel der Bevölkerungsverteidigung zum Instrument der Revolution werden.

4.8 Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen den Faschismus

Die kapitalistische Krise ruiniert die Mittelschichten und lässt sie krampfhaft nach Sündenböcken suchen, während die Langzeitarbeitslosen immer tiefer in die Verzweiflung sinken, was sie anfällig für religiöse Demagogie, rassistische, rechtsnationalistische, und unverhüllt faschistische Propaganda und Bewegungen macht. In den imperialistischen Ländern nimmt dies oft die Form des klassischen Faschismus an, der ethnische, nationale und religiöse Minderheiten, Migrant:innen und Roma als Zielscheibe ins Visier nimmt. Insbesondere in Europa ist die Islamophobie, der Hass auf Muslim:innen, eine schnell wachsende Bedrohung, mit Aufmärschen gegen Moscheen und Hetze gegen Hidschab und Burka, die sich unter dem Deckmantel der offiziellen Ideologie des „Antiterrorismus“ und der angeblichen Gefahr der „Islamisierung Europas“ ausbreitet. Auch der Antisemitismus ist nicht tot, denn die schnell wachsende ungarische Nazibewegung Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) vereint beides in einem giftigen Absud aus reaktionären Demagogien.

In der halbkolonialen Welt entstehen faschistische Kräfte oft aus Kommunalismus und religiösem Fanatismus, die die Emotionen der Massen gegen Minderheiten wie Muslim:innen in Indien, Tamil:innen in Sri Lanka, Hindus, Christ:innen, Ahmadiyyabewegung und Schiit:innen in Pakistan richten.

Der Faschismus ist ein Mittel des Bürger:innenkriegs gegen die Arbeiter:innenklasse. Indem er alten Hass aufrührt und irrationale Ängste schürt, mobilisiert er die kleinbürgerlichen und lumpenproletarischen Massen, um die Organisationen der Arbeiter:innenklasse und demokratische zunächst zu spalten und dann zu zerstören. Danach konzentriert der Faschismus den gesamten staatlichen Kontrollapparat in seinen Händen, um den Arbeiter:innen ein Regime der Superausbeutung unter direkter Aufsicht der Polizei und ihrer Hilfstruppen aufzuzwingen. Die Bewunderung der Faschist:innen für Massenmörder wie Anders Breivik (Norwegen) und Brenton Tarrant (Neuseeland) belegt ihre brutalen Ziele.

Sein Wachstum als Massenbewegung zeugt von der Intensität der Krise, die Millionen von Menschen wütend macht und in die Verzweiflung treibt, sowie von dem Verrat und dem Versagen der Führung der Arbeiter:innenklasse. Er kann nur besiegt werden, indem die revolutionäre Bewegung der Arbeiter:innenklasse und ihrer Verbündeten entfesselt wird, indem zu einer Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen gegen den Faschismus und zu einer antifaschistischen Arbeiter:innenmiliz aufgerufen wird, um seine Attacken auf die Arbeiter:innenbewegung und auf unterdrückten Minderheiten abzuwehren. Wie Leo Trotzki sagte, ist der Sozialismus Ausdruck der revolutionären Hoffnung, während der Faschismus Ausdruck der konterrevolutionären Verzweiflung ist. Um ihn zu besiegen, muss sie in eine revolutionäre Klassenoffensive gegen den krisengeschüttelten Kapitalismus umgewandelt werden, das System, das den Faschismus immer aufs Neue gebiert. Da der Faschismus seine Kraft aus der Mobilisierung von Massen bezieht, deren Wut sich aus die Auswirkungen der kapitalistischen Krise speist, wird der Kampf gegen ihn erst dann vollendet sein, wenn seine Wurzel, der Kapitalismus, ausgerottet ist.

  • Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die Faschist:innen.

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Repressionsapparat.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen. Eine antifaschistische Miliz kann es schaffen, faschistische Kundgebungen, Demonstrationen und Versammlungen aufzulösen und den rassistischen und faschistischen Demagog:innen jegliche offene Propagandaplattform zu entziehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten die faschistischen Kaderorganisationen die Taktik, Gruppierungen innerhalb der faschistischen Frontorganisationen, z. B. des Front National in Frankreich, aufzubauen. Solche Organisationen haben einen elektoralistischen Flügel, der mit reaktionärer rechter Politik an den politischen Aktivitäten des bürgerlichen Parlamentarismus teilnimmt und gleichzeitig mit faschistischen Gruppen innerhalb der Partei koexistiert. Im Zuge der Globalisierung haben solche Frontorganisationen stark zugenommen und konnten sich in vielen Ländern mit erheblichem Gewicht auf der politischen Bühne etablieren. Während offen faschistische Organisationen mit einer strikten „Keine Plattform“-Politik bekämpft und soweit wie möglich mit physischer Gegengewalt konfrontiert werden müssen, muss gegen faschistische Frontorganisationen eine flexiblere Form der Taktik angewendet werden. Soweit der faschistische Flügel in der Aktion dominiert, muss er wie jede faschistische Kraft behandelt werden. Andererseits werden wir dort, wo ihre nicht direkt faschistische Propaganda verzweifelte unterprivilegierte Schichten mit reaktionärer Wahlpropaganda erreicht, Taktiken anwenden, um diese Menschen durch Gegenpropaganda von den Demagog:innen zu lösen und ihnen echte Alternativen zur Bekämpfung ihrer sozialen Not aufzuzeigen.

4.9 Verteidigung der demokratischen Rechte

In vielen Staaten der Welt, auch in nominell bürgerlichen Demokratien, gibt es mächtige Präsidialsysteme mit außerordentlichen Machtbefugnissen für ein Staatsoberhaupt, undemokratisch gewählte Senate und ernannte, nicht gewählte Richter:innen, die oft sehr lange, mitunter sogar auf Lebenszeit amtieren. Selbst in den ältesten Republiken, den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich, herrschen viele dieser Einschränkungen – einschließlich der systematischen Blockierung der Registrierung von schwarzen und farbigen Wähler:innen, dem politischen Zuschnitt von Wahlbezirken usw. Als Resultat zeigt sich, dass die Verabschiedung wichtiger politischer Maßnahmen für Frauen, die organisierte Arbeiter:innenklasse und die rassistisch Unterdrückten vereitelt wird, wie es der Oberste Gerichtshof der USA heute tut. Außerdem sind diese undemokratischen Strukturen oft in den Verfassungen verankert und lassen sich nur sehr schwer ändern. Sie aus der Welt zu schaffen, bildet eine wahrhaft revolutionäre Aufgabe.

In Ländern wie der Türkei sind die etablierten Parteien in der Lage, durch die Kontrolle der Medien und die Verhaftung von Aktivist:innen der Oppositionsparteien oder deren völlige Illegalisierung Wahlen in Plebiszite mit einem Slogan zu verwandeln – „entweder ich oder das Chaos“. In so unterschiedlichen Ländern wie Frankreich und der Türkei haben solche bonapartistischen oder halbbonapartistischen Regime die Parlamente umgangen. In Afrika ist eine Epidemie von Präsidentschaften zu beobachten, die ihre Amtszeit verlängern, und im Nahen Osten und in Ostafrika hat das Militär wiederholt die Macht an sich gerissen. In diesen Ländern, in denen Arbeiter:innen, Frauen und Jugendliche wiederholt demokratische Massenbewegungen ins Leben gerufen haben, ist eine dauerhafte Lösung nicht möglich und wird es auch nie sein, solange die revolutionären Kräfte nicht die Basis der Streitkräfte für sich gewinnen und die Macht der Generalstäbe und Oberkommandos für immer brechen. Andernfalls werden schreckliche Ereignisse wie im Sudan auch weiterhin selbst die stärksten sozialen Bewegungen ausbremsen.

Im In- und Ausland geben sich die westlichen Imperialist:innen als Verteidiger:innen und Verfechter:innen der Demokratie aus. Das ist gelogen. Nach dem 11. September 2001 und den Terroranschlägen des Dschihads in Europa im letzten Jahrzehnt verhängten die nordamerikanischen und europäischen Regierungen Antiterrorgesetze, die eine Überwachungsgesellschaft geschaffen und die in jahrhundertelangen Kämpfen von der Bevölkerung errungenen Rechte eingeschränkt oder abgeschafft haben.

Im globalen Süden werden die demokratischen Rechte, die es der Arbeiter:innenklasse, den Bauern und Bäuerinnen, den städtischen und ländlichen Armen ermöglichen, sich zu organisieren und wehren, von den Gerichten, der Polizei und den Killerkommandos der Bosse untergraben. Auf den Philippinen hat Rodrigo Dutertes „Krieg gegen die Drogen“ innerhalb von zwei Jahren zu einer Flut von außergerichtlichen Tötungen durch die Polizei geführt, die auf 12.000 bis 20.000 geschätzt wird. Auch in Mexiko und anderen mittel- und südamerikanischen Staaten forderte der Krieg gegen die Drogen Opfer von Morden durch Armee und Polizei, die vor allem Linke und Anführer:innen der Gewerkschaften und Bäuer:innenschaft aufs Korn nehmen.

In Palästina und insbesondere im blockierten und immer wieder bombardierten Gazastreifen sind die Palästinenser:innen ein ständiges Ziel des zionistischen Siedlers:innenstaates. In Israel und im Westjordanland herrscht ein Regime, das dem der Apartheid in Südafrika nicht unähnlich ist. Der unermüdliche und heldenhafte Kampf des palästinensischen Volkes verdient die vollste Unterstützung, einschließlich der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Unser Ziel muss das Recht auf Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge, die Zerschlagung des zionistischen Staates und die Schaffung eines einzigen Staates für zwei hebräisch und arabisch sprechende Nationen in Israel-Palästina sein. Ein solcher Staat kann den durch den Zionismus geschaffenen Antagonismus zwischen den beiden Völkern nur dadurch lösen, dass er ein sozialistischer Staat wird, in dem landwirtschaftliche Betriebe, Fabriken usw. sich in Gemeineigentum befinden und demokratisch geplant werden, um soziale Gleichheit zu gewährleisten.

Das Gift des Rassismus und der Pogrome gegen Minderheiten und Migrant:innengemeinschaften wird dazu benutzt, den Widerstand zu spalten und auszuhöhlen. Überall auf der Welt sind es die eigenen Organisationen der Massen, die den Kampf für den Schutz und die Ausweitung der demokratischen Rechte aufnehmen müssen. Unsere demokratischen Kampforganisationen sind das Fundament einer wirklichen „Herrschaft des Volkes“. Durch regelmäßige Wahlen, die Abwählbarkeit von Delegierten und Repräsentant:innen, durch Opposition gegen die Bürokratie und ihre Privilegien kann die Arbeiter:innenbewegung das Sprungbrett für eine neue Gesellschaft werden.

  • Verteidigung des Streikrechts, der Rede- und Versammlungsfreiheit, der Freiheit, sich politisch und gewerkschaftlich zu organisieren, der Presse- und Sendefreiheit.

  • Aufhebung aller gewerkschaftsfeindlichen Gesetze.

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Fort mit Monarchien, zweiten Parlamentskammern, Präsident:innen mit Befehlsgewalt, ungewählten Gerichtshöfen und Notstandsgesetzen.

  • Für das uneingeschränkte Recht auf ein Schwurgerichtsverfahren und die Wahl der Richter:innen durch das Volk.

  • Weg mit der zunehmenden Überwachung unserer Gesellschaft, einschließlich des Internets, und der wachsenden Macht der Polizei und Sicherheitsdienste.

  • Auflösung des Repressionsapparates, der Polizei, der Sicherheitsdienste. Für deren Ersetzung durch Milizen, die aus der Arbeiter:innenschaft und Masse der Bevölkerung stammen und von ihnen kontrolliert werden. Ermutigung von Soldat:innen zum Bruch mit ihren Vorgesetzten, um Teile von ihnen für die Revolution zu gewinnen.

Überall dort, wo grundlegende Fragen der politischen Ordnung aufgeworfen werden, fordern wir eine verfassunggebende Versammlung, um demokratische Rechte neu festzuschreiben und tatsächlich über die gesellschaftliche Grundlage des Staates zu entscheiden. Die Arbeiter:innen sollten sich dafür starkmachen, dass die Abgeordneten der Versammlung auf die demokratischste Weise gewählt werden, unter Kontrolle ihrer Wähler:innen stehen und von diesen abberufen werden können. Die Versammlung muss gezwungen werden, sich mit allen grundlegenden Fragen der demokratischen Rechte und sozialen Gerechtigkeit zu befassen: Agrarrevolution, Verstaatlichung der Großindustrie und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle, Selbstbestimmungsrecht für nationale Minderheiten, Abschaffung der politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Reichen.

5. Der Kampf gegen soziale Unterdrückung

5.1 Für Frauenbefreiung

Die kapitalistischen Demokratien versprachen den Frauen Gleichheit. Doch das galt nicht für alles, und vieles bleibt unerfüllt.. Im 20. Jahrhundert wurde den meisten Frauen das Wahlrecht zugestanden, auch dank der ersten Welle feministischer und sozialistischer Agitation vor dem Ersten Weltkrieg und der Notwendigkeit, Frauen in die Produktion und das öffentliche Leben einzubeziehen, weil die Kriegsanstrengungen der Großmächte es erforderte, Frauen in der Produktion zu beschäftigen. Das Frauenwahlrecht wurde zumeist parallel zum allgemeinen Stimmrecht eingeführt, das bis dahin auch den männlichen Arbeitern vorenthalten worden war. Das Wahlrecht bedeutete jedoch weder für die Frauen noch für die Arbeiter:innenklasse echte politische Macht. Der Zweite Weltkrieg zog noch mehr Frauen in die Produktion ebenso wie in die Planwirtschaft der UdSSR. Frauen traten in immer größerer Zahl den Gewerkschaften bei.

Die anhaltende Belastung durch Kinderbetreuung und Hausarbeit behinderte den Zugang von Frauen zu ebenso gut bezahlter Arbeit oder einer ununterbrochenen Berufslaufbahn. Die militante Arbeiter:innenbewegung und die zweite feministische Welle in den imperialistischen Ländern und die nationalen Befreiungsbewegungen in den Halbkolonien errangen eine Reihe wichtiger Siege für die Frauen: Selbstbestimmte Geburtenkontrolle und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in einigen Ländern ermöglichten es ihnen, über die Anzahl und den Zeitpunkt der Geburten zu entscheiden.

In dieser Zeit rückten auch die patriarchalische Ideologie und die geringe Zahl von Frauen in Führungspositionen in Bildung, Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft stärker ins Blickfeld. Auch gegen häusliche Gewalt in der Familie, Vergewaltigung und sexuelle Belästigung wurde vorgegangen. Den Gesetzen zur Lohngleichheit zum Trotz entsprechen die Löhne für weibliche Arbeitskräfte in Europa und Nordamerika jedoch im Durchschnitt nur zu 70 Prozent denen ihrer männlichen Arbeitskollegen und liegen oft noch viel niedriger. Frauen tragen immer noch die Doppelbelastung der Kinderbetreuung, Altenpflege und Haushaltsführung „neben“ ihrer Berufstätigkeit. Vergewaltigung, sexuelle Belästigung und häusliche Gewalt sind nach wie vor weitverbreitet. Die reproduktiven Rechte der Frauen sind beschränkt und werden ständig angegriffen.

In den USA hat die Aufhebung des Urteils Roe versus Wade durch den Obersten Gerichtshof, das Frauen ein (wenn auch eingeschränktes) Recht auf Abtreibung zugestanden hat, die Kampagne zur Rücknahme des in den 1970er Jahren errungenen eingeschränkten Rechts auf Abtreibung auf Ebene der Bundesstaaten gefördert. Die Republikanische Partei verabschiedet Gesetze, um die Abtreibung zu verbieten und die für eine sichere Durchführung notwendigen Kliniken zu schließen. In vielen halbkolonialen Ländern droht der Aufstieg religiös-populistischer Parteien, die Frauen in das patriarchalische Heim zurückzudrängen, was in Afghanistan unter den Taliban bereits fast vollständig geschehen ist, wo sie aus dem Gesundheits-, Bildungswesen und dem öffentlichen kulturellen und politischen Leben verbannt werden.

Selbst die Teilerfolge der Frauenbefreiung ergeben im Weltmaßstab ein äußerst uneinheitliches Bild. Im globalen Süden verstärken die internationale Arbeitsteilung, alte patriarchalische Verhältnisse auf dem Land und religiöse Vorurteile, die von Fundamentalist:innen aller Glaubensrichtungen wiederbelebt werden, diese Ungleichheiten. Frauen wird das Recht verweigert, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, zu entscheiden, ob oder wie viele Kinder sie haben wollen. Häusliche Gewalt, Vergewaltigung in der Familie und sogar Mord (so genannte „Ehrenmorde“) bleiben oft weitgehend ungestraft.

Dennoch wurden in den letzten Jahrzehnten Millionen von Frauen in die Massenproduktion gezogen, vor allem in der verarbeitenden Industrie in den Städten Süd- und Ostasiens und Lateinamerikas. In Krisenzeiten sind sie in der Textil-, Elektronik- und Dienstleistungsindustrie, wo Frauen etwa 80 Prozent der Beschäftigten ausmachen, oft die Ersten, die entlassen werden, wobei die Unternehmen die Löhne nicht zahlen, die gesetzlichen Kündigungsfristen nicht einhalten und die Regierungen und Gerichte ein Auge davor zudrücken. Am grausamsten ausgebeutet wird die große Zahl von Wanderarbeiterinnen, deren Familien in ihrer Heimat ohne ihre Überweisungen verhungern.

Heute mühen sich männlich dominierte Regierungen auf der ganzen Welt begierig, die Frauen bei der Wahl ihrer Kleidung zu kontrollieren. In Europa fordern Rassist:innen Einschränkungen für das Tragen des Hidschab (Kopftuch) oder Niqab (Gesichtsschleier) und verhängen Verbote für Frauen, die islamische Gesichtsbedeckungen tragen. In Staaten wie Saudi-Arabien und dem Iran hingegen setzt die Religionspolizei obligatorische islamische Kleidervorschriften durch. Radikale salafistische Gruppen und Dschihadisten haben versucht, Frauen alte und unterdrückerische Regeln wieder aufzuerlegen. Wir stehen für folgende Positionen:

  • Gegen alle Formen der gesetzlichen Diskriminierung von Frauen. Gleiches Recht für Frauen, zu wählen, zu arbeiten, sich zu bilden und an allen öffentlichen und sozialen Aktivitäten teilzunehmen.

  • Hilfe für Frauen, um der Beschränkung ihrer Beschäftigung auf den informellen Sektor und Familienunternehmen zu entkommen. Öffentliche Arbeitsprogramme zur Schaffung von Vollzeitstellen mit angemessenen Löhnen für Frauen.

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

  • Alle Frauen sollten unabhängig von ihrem Alter Zugang zu kostenloser Verhütung und Abtreibung haben.

  • Vorgehen gegen sexuelle Gewalt in allen Formen. Ausbau von in öffentlichem Besitz befindlichen, selbstorganisierten Schutzräumen vor häuslicher Gewalt und Vergewaltigung. Selbstverteidigung gegen sexistische Gewalt, unter Kontrolle der Arbeiter:innen- und Frauenbewegung.

  • Nein zu Gesetzen, die Frauen dazu verpflichten, religiöse Kleidung zu tragen, oder es ihnen verbieten. Frauen sollten das verbriefte Recht haben, sich nach ihrem Belieben kleiden zu dürfen.

  • Für ein Verbot von Kinderehen und Zwangsverheiratung.

  • Beendigung der Doppelbelastung der Frauen durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit. Für eine kostenlose 24-Stunden-Kinderbetreuung und einen massiven Ausbau von preisgünstigen, qualitativ hochwertigen öffentlichen Kantinen, Gemeinschaftsküchen, Restaurants und Wäschereien.

Wir können niemals eine Gesellschaft erreichen, in der alle Menschen gleich sind, wenn wir unsere Entschlossenheit zur Überwindung der sexuellen Ungleichheit nicht in unseren eigenen Widerstandsbewegungen zeigen. Wir müssen das Recht der Frauen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung einfordern, sich unabhängig zu treffen, um Diskriminierung zu erkennen und bekämpfen. Wir sind für das Recht von Frauen auf eine angemessene Vertretung in den Führungsstrukturen und auf die Bildung formeller eigener Strukturen in Parteien und Gewerkschaften.

Für eine internationale proletarische Frauenbewegung, um Frauen im Kampf für ihre Rechte zu mobilisieren, um die Klassenkämpfe überall zu stärken. Für die Verbindung des Kampfs gegen das Kapital mit dem für die Emanzipation der Frauen und eine neue Gesellschaftsordnung, die auf wirklicher Freiheit und Gleichheit beruht. Die Aufgabe kommunistischer Frauen ist es, eine solche Bewegung aufzubauen und sich dafür starkzumachen, sie auf den Weg der sozialen Revolution zu führen.

5.2 Gegen die Unterdrückung von Lesben, Schwulen und nicht-binären Menschen

Die historische Ungleichheit der Geschlechter, die Jahrtausende zurückreicht bis zur Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates als Instrument der Ausbeutenden gegenüber den Ausgebeuteten, führte zu repressiven Regeln und Gebräuchen in Bezug auf Sexualität und männliche und weibliche Geschlechterrollen. Mit dem Aufkommen der kapitalistischen Gesellschaft wurden heterosexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe, der Familie oder des Kastensystems sowie Homosexualität streng bestraft, bis hin zur Todesstrafe. Menschen, die gegen die binären Geschlechterrollen verstießen, wurden stigmatisiert, gemobbt, in den Selbstmord getrieben oder ermordet. Nur in einer Minderheit von Ländern sind sie rechtlich gleichgestellt. In Afrika wurden Lesben und Schwulen, als sie gleiche Bürger:innenrechte einforderten, mit einer Welle von Gewalt und Repression überzogen. Die meisten Religionen billigen diese hasserfüllte Unterdrückung.

In sogenannten „liberalen Demokratien“ wie den USA und Westeuropa stehen transsexuelle Menschen im Fadenkreuz der Reaktion. Die extreme Rechte wird bei diesen Attacken von einigen vermeintlich linken und feministischen oder gar „marxistischen“ Gruppen unterstützt, die behaupten, dass trans Rechte die der Frauen verletzten. Die Arbeiter:innenbewegung und die sozialistische Jugend müssen sich überall für LGBTQIA+-Menschen einsetzen.

  • Volle rechtliche Gleichheit für LGBTQIA+-Personen, einschließlich des Rechts auf Lebenspartner:innenschaften und Ehen.

  • Beendigung aller Verfolgungen durch den Staat, die Kirchen, Tempel und Moscheen: Respekt für jede Art von sexueller Orientierung. Jede einvernehmliche sexuelle Aktivität zwischen Erwachsenen sollte eine Frage der persönlichen Entscheidung sein.

  • Verbot jeglicher Diskriminierung und Hassverbrechen gegen LGBTQIA+-Personen.

  • Für das gesetzliche Recht von trans Personen, als das Geschlecht zu leben, sich so zu kleiden und sozialisieren, als das sie sich selbst identifizieren.

  • Für das Recht von trans Personen, sich selbst als das von ihnen gewählte Geschlecht zu identifizieren, einschließlich des Rechts, öffentliche Einrichtungen (einschließlich öffentlicher Toiletten usw.) entsprechend ihrer Geschlechtsidentität zu nutzen.

  • Keine Diskriminierung bei der Wohnungssuche, beim Zugang zu Lebensversicherungen, bei der medizinischen Behandlung, beim Zugang zur Arbeit oder zu Dienstleistungen.

  • Für das Recht von LGBTQIA+-Personen, Kinder zu erziehen.

  • Für das Recht von trans Personen auf uneingeschränkten Zugang zu geschlechtsangleichender Behandlung unter ärztlicher Aufsicht, einschließlich des Rechts von vorpubertären trans Personen auf uneingeschränkten Zugang zu ihre Pubertät hemmenden Medikamenten.

  • Keine Verbote der Aufklärung über die sexuelle Orientierung von Menschen! Keine Einmischung in das Sexualleben von Erwachsenen in beiderseitigem Einvernehmen. Für den freien Ausdruck aller Formen von Sexualität und Beziehungen!

  • Für das Recht von LGBTQIA+-Personen auf gesonderte Treffen und Gruppierung (Caucusrecht), um die Unterdrückung in den Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien zu bekämpfen.

5.3 Für die Befreiung der jungen Menschen

Kapitalistische Krisen treffen Jugendliche besonders hart, weil sie der am wenigsten abgesicherte Teil der Arbeiter:innenschaft sind und am leichtesten entlassen werden können. In den Jahren nach der großen Krise 2008 lag die Jugendarbeitslosigkeit doppelt so hoch wie die der Erwachsenen. Es gab weniger Arbeitsplätze für Schulabgänger:innen und Kürzungen von staatlichen Bildungsbudgets, die die Alternative eines Vollzeitstudiums an einer Hochschule stark einschränkten. In den halbkolonialen Slums hat die Verarmung der Familien die brutale Behandlung von Kindern verstärkt. Es ist sicher, dass die nächsten Krisen ähnliche Folgen haben werden.

Gleichzeitig tun die Gewerkschaftsbürokratie und reformistischen Apparate der Arbeiter:innenparteien in vielen Ländern so gut wie nichts, sich für die Jugend einzusetzen, beschneiden und unterdrücken vielmehr ihre Begeisterungsfähigkeit und Rechte. Kein Wunder: Die Jugend hat das Potenzial, in allen Ländern als mächtige revolutionäre Kraft zu wirken, erfüllt von Kampfgeist, frei von vielen Vorurteilen und konservativen Gewohnheiten, die von bürgerlichen und reformistischen Parteien sowie Gewerkschaften eingeimpft werden. Sie sind ein wesentliches Element der revolutionären Vorhut. Eine Fünfte Internationale muss es ihnen ermöglichen, aus ihren eigenen Erfahrungen zu lernen und ihre eigenen Kämpfe zu führen, indem sie die Gründung einer Revolutionären Jugendinternationale fördert. Wir kämpfen für:

  • Arbeitsplätze für alle jungen Menschen zu gleichen Löhnen und Bedingungen wie für ältere Beschäftigte.

  • Abschaffung schlecht bezahlter Praktika, stattdessen Berufsausbildung bei voller Bezahlung mit anschließender Beschäftigungsgarantie.

  • Schluss mit jeder Kinderarbeit.

  • Kostenlose Bildung für alle vom Säuglingsalter bis zum 16. Lebensjahr sowie folgende Weiterbildung für alle, die es wollen, mit einem garantierten Lebensunterhalt. Erlass aller Schulden aus Studienkrediten.

  • Für das Wahlrecht ab 16 Jahren oder mit Eintritt ins Erwerbsalter, falls dieses früher beginnt.

  • Keine Ächtung von Kleidung, Musikstilen oder der Kultur der Jugend. Volle Freiheit der Meinungsäußerung.

  • – Beendigung des verlogenen „Kriegs gegen Drogen“. Legalisierung aller Drogen unter einem staatlichen Monopol, um die Reinheit zu garantieren und die Drogenbanden auszuschalten, mit Bildungs- und Gesundheitsdiensten zur Eindämmung und Beseitigung von Suchtabhängigkeit und gesundheitsgefährdendem Missbrauch.

  • Für Jugendzentren und angemessene menschenwürdige Unterkünfte, die vom Staat finanziert werden, aber unter der demokratischen Kontrolle der Jugendlichen stehen, die sie nutzen.

  • Stoppt die Kürzungen im Bildungswesen. Für massive Investitionen in das öffentliche Bildungssystem. Mehr Lehrpersonal und höhere Löhne. Bau von mehr staatlichen Schulen. Verstaatlichung von Privatschulen.

  • Gegen alle Beschränkungen des freien Zugangs zu allen Bildungseinrichtungen. Keine Schul- und Universitätsgebühren.

  • Nein zu jeglicher religiösen oder privaten Kontrolle über das Schulwesen und für weltliche, staatlich finanzierte Bildung.

  • In der Entwicklung ihres Sexuallebens sind junge Menschen Intoleranz, Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt. Sexualerziehung muss in staatlichen Schulen ohne religiöse oder elterliche Einmischung möglich sein, damit die Jugendlichen ihre Sexualität so leben können, wie sie sich entwickelt, entsprechend ihrer sexuellen Orientierung und ihren eigenen Entscheidungen. Für den freien Zugang zu Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit.

  • Keine polizeiliche Überwachung der Beziehungen und Sexualität junger Menschen! Für die freie Entfaltung der Sexualität junger Menschen, frei von Eingriffen des bürgerlichen Staates, religiöser Moral oder familiärer Unterdrückung!

  • Für strenge Gesetze gegen Vergewaltigung und sexuelle Belästigung in der Familie, zu Hause, an Schulen, in Kinderheimen und Waisenhäusern sowie am Arbeitsplatz. Schutz der Kinder vor Missbrauch, egal von wem er ausgeübt wird, von Geistlichen, Lehrkräften, Eltern.

  • Keine Kontrolle des Bildungssystems durch den bürgerlichen Staat! Schüler:innen, Lehrer:innen und Vertreter:innen der Arbeiter:innenbewegung sollten die Lehrpläne selbst festlegen und die Schulen demokratisch verwalten.

5.4 Rassismus bekämpfen – Verteidigung von Flüchtlingen und Migrant:innen

Rassismus ist eine der weitestgehenden und bösartigsten der vielen Formen der Unterdrückung, die der Kapitalismus hervorbringt. Seine Wurzeln liegen tief in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung. Der Weltmarkt und der Handel wuchsen unter der Vorherrschaft mächtiger kapitalistischer Staaten, die schwächere Gemeinwesen ausplünderten. Die Sklaverei in Amerika, die Früchte des britischen, holländischen und französischen Imperiums, die Eroberungskriege Deutschlands und Japans – sie alle erforderten, dass die Unterdrücker:innen jenen, die sie versklavten, ihre Eigenschaft als vollwertige Menschen absprachen. Die Afrikaner:innen, die Inder:innen, die Chines:innen, die Südostasiat:innen und das jüdische Volk wurden von den neuen imperialen Mächten als Untermenschen dargestellt, die der Rechte, die sie ihren Bevölkerungen im eigenen Land, wenn auch nur widerwillig, zugestanden, nicht würdig wären.

Durch die systematische Verbreitung der neuen Ideologie des Rassismus rechtfertigten die imperialen Mächte ihre Verbrechen in Übersee, banden ihre eigene Bevölkerung an die Unterstützung nationaler militärischer Abenteuer, wie kriminell diese auch sein mochten, schirmten ihre eigenen Arbeiter:innen vom rebellischen Geist ihrer kolonialen Geschwister ab und förderten tiefe Spaltungen zwischen einheimischen und zugewanderten Teilen der Arbeiterk:innenklasse im Heimatland.

Heute, nach der großen Bürger:innenrechtsbewegung in den USA und den siegreichen nationalen Bewegungen, die die Kolonialist:innen aus Indien, Algerien und Vietnam vertrieben und die Apartheid in Südafrika besiegten, schwört die Bourgeoisie der imperialistischen Mächte auf den Antirassismus. Dennoch diskriminieren dieselben Regierungen systematisch schwarze, afrikanische, asiatische und Migrant:innengemeinschaften in ihren Heimatländern, führen rassistische Einwanderungskontrollen durch und setzen nicht-weiße Minderheiten den schlechtesten Wohnverhältnissen, niedrigsten Löhnen und ständigen Drangsalierungen durch die Polizei aus. Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat die Aufmerksamkeit auf die Tötung junger Afroamerikaner:innen durch bewaffnete Polizist:innen und ähnliche Verfolgungen gegenüber Asiat:innen und Latinos/as gelenkt. In Europa, im Osten wie im Westen, sind Roma und muslimische Gemeinschaften die Opfer von Polizeirazzien und Zwangsabschiebungen, angestachelt durch die unablässige abscheuliche rassistische Propaganda der millionenschweren Medien.

Die so genannte Flüchtlingskrise der EU hat dazu geführt, dass Syrer:innen, Afghan:innen, Iraker:innen und Jemenit:innen, die vor Krieg fliehen, sowie Afrikaner:innen aus Ländern südlich der Sahara auf der Flucht vor Armut und den Auswirkungen des Klimawandels an der Überquerung des Mittelmeers gehindert werden und ihnen Lagerhaft und Abschiebung drohen. Die Arbeiter:innenbewegung muss die Arbeitsmigrant:innen in einen gemeinsamen Kampf gegen Rassismus und Kapitalismus einbinden.

  • Öffnung der Grenzen. Gewährung des Asylrechts für alle, die vor Diktatur, brutalen Kriegen und Unterdrückung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder Geschlechtsidentität fliehen.

  • Abschaffung der Kontrollen, die die Freizügigkeit von Arbeitssuchenden behindern, und Gewährung der vollen Staatsbürger:innenschaft, der Sozialhilfe, der Wohn- und Arbeitsrechte.

  • Schluss mit jeder Form der Diskriminierung von Migrant:innen.

  • Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Religion oder Staatsbürger:innenschaft. Volle Bürger:innenrechte für alle Migrant:innen, einschließlich des Wahlrechts!

  • Für das Recht muslimischer Frauen, in allen Bereichen des öffentlichen Lebens religiöse Kleidung (Schleier, Niqab, Burka) zu tragen, wenn sie dies wünschen, und für das Recht von Frauen in muslimischen Ländern und Gemeinschaften, keine religiöse Kleidung zu tragen, frei von gesetzlichem, klerikalem oder familiärem Zwang.

  • Volles Asylrecht für alle Menschen, die vor Krieg, Unterdrückung und Armut aus ihren Heimatländern fliehen.

  • Gegen Rassismus und alle Formen der Rassendiskriminierung. Dem Rassismus muss in allen Bereichen der Arbeiter:innenbewegung entgegengetreten werden. Nein zu Streiks gegen die Beschäftigung ausländischer oder migrantischer Arbeitskräfte.

  • Die Arbeiter:innenbewegung, insbesondere in den Medien tätige Gewerkschafter:innen, müssen eine Kampagne starten, begleitet von direkten Aktionen, um rassistische Hasspropaganda zu beantworten und zu stoppen.

5.5 Nationale Befreiung und die permanente Revolution

Die Worte, die die Dritte Internationale der Ersten hinzufügte: „Arbeiter und unterdrückte Völker aller Länder, vereinigt euch“, spiegeln die Tatsache wider, dass eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur internationalen Befreiung der Arbeiter:innenklasse die nationale Unterdrückung ist: das Weltsystem, das auf der systematischen Unterdrückung der meisten Nationen durch eine Handvoll anderer beruht. Eine dauerhafte Einheit zwischen den Mehrheitsklassen aller Völker kann nicht erreicht werden, wenn eine Nation eine andere unterdrückt.

Heute wird ganzen Nationen – der palästinensischen, kurdischen, Rohingyas, uigurischen, belutschischen, Kaschmiris, tschetschenischen, tamilischen in Sri Lanka, tibetischen und vielen anderen – das Recht auf Selbstbestimmung verweigert. Das Gleiche gilt für viele indigene oder in Stämmen lebende Völkerschaften in Nord- und Südamerika, Südostasien und Afrika. Sie sind ethnischen Säuberungen, Einpferchungen in Konzentrationslagern, der Unterdrückung von Sprache und Kultur und sogar Völkermord ausgesetzt.

Die Arbeiter:innenklassen, insbesondere in den imperialistischen Staaten, deren herrschende Klassen für diese Unterdrückung verantwortlich sind, müssen dem Befreiungskampf der unterdrückten Nationen in vollem Umfang Beistand und praktische Hilfe leisten.

  • Für das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Völker, einschließlich ihres Rechts, einen eigenen Staat zu gründen, wenn sie dies wünschen, und ihres Rechts, ihren Willen frei von jeglichem Zwang und jeder Einschüchterung zu äußern.

  • Für das Recht der indigenen Völker, ihr Land zurückzuerhalten, frei von Siedlungen, die sie zu einer Minderheit machen sollen. Materielle Entschädigung (Wohnraum, Dienstleistungen, Infrastruktur) für das, was sie erlitten haben, bezahlt von den herrschenden Klassen, die ihnen das angetan haben.

  • Für gleiche Rechte und volle Staatsbürger:innenschaft für Angehörige nationaler Minderheiten.

  • Gegen alleingültige Amtssprachen. Gleiches Recht für nationale Minderheiten, ihre Sprachen an den Schulen, bei Gerichten, in Medien und im Umgang mit der öffentlichen Verwaltung zu verwenden.

  • Für das Recht von Migrant:innengemeinschaften, ihre Muttersprache in der Schule zu gebrauchen.

In den halbkolonialen Ländern, die nur dem Namen nach unabhängig sind und der politischen Einmischung und wirtschaftlichen Kontrolle durch die imperialistischen Großmächte unterliegen, haben die Massen immer noch nicht viele der Grundrechte erlangt, die in den ersten kapitalistischen Ländern, in der Englischen Revolution der 1640er Jahre, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 eingeführt wurden. Auch in der halbkolonialen Welt von heute sind viele grundlegende Aufgaben der kapitalistischen Entwicklung wie nationale Unabhängigkeit, Agrarrevolution, demokratische Rechte und die rechtliche Gleichstellung der Frauen noch nicht erfüllt.

Infolgedessen glauben heute viele nationalrevolutionäre Kräfte, die vom bürgerlich-demokratischen Denken und von der „Etappentheorie“ Stalins beeinflusst sind, wie sie immer noch von den offiziellen kommunistischen Parteien vertreten wird, dass die Lösung für die halbkoloniale Unterentwicklung darin besteht, die demokratische Revolution zu vollenden und eine echte nationale Unabhängigkeit und eine moderne Republik zu errichten, und zwar durch ein Bündnis aller Klassen, die sich der Fremdherrschaft widersetzen und die demokratische Entwicklung unterstützen.

Dieses Schema ist die gemeinsame Strategie unterschiedlicher Kräfte in der halbkolonialen Welt, von der Fatah und der PFLP in Palästina bis hin zur demokratischen Bewegung im Iran, der Kommunistischen Partei auf den Philippinen und den Maoist:innen in Nepal. Die Geschichte hat jedoch immer wieder gezeigt, dass die nationale Bourgeoisie in solchen Ländern zu schwach und zu eng mit dem ausländischen Kapital und den imperialistischen Mächten und Konzernen verbunden ist, um eine klassische bürgerliche Revolution zum Sieg zu führen.

Diese Aufgabe fällt der Arbeiter:innenklasse zu. Um die nationale Revolution im Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen anzuführen, müssen die Arbeiter:innen ihre strikte Unabhängigkeit von den Kapitalist:innen bewahren und nicht nur die vollsten demokratischen Rechte durchsetzen, sondern auch die Beschränkungen des Kapitals überwinden; sie können die Macht nicht in den Händen einer bürgerlichen Klasse belassen, die von Natur aus unfähig ist, mit dem Imperialismus zu brechen und nur ihre eigenen Privilegien vor den Massen sichern will. Die Arbeiter:innen müssen unmittelbar die soziale Revolution ansteuern. Dies ist die Strategie der ununterbrochenen oder permanenten Revolution.

Die Arbeiter:innenklasse muss sich für die Durchsetzung voller demokratischer und nationaler Rechte in unterdrückten und halbkolonialen Nationen einsetzen. Sie muss sich an die Spitze des Kampfes gegen die imperialistische Herrschaft stellen, die sich entweder auf Verschuldung, Besetzung, Kontrolle durch multinationale Konzerne oder aufgezwungene und Marionettenregierungen gründet.

Die Organisationen der Arbeiter:innenklasse müssen zur Bildung einer antiimperialistischen Einheitsfront aller Bevölkerungsschichten unter Wahrung ihrer eigenen Unabhängigkeit aufrufen.

Keine Beteiligung der Arbeiter:innenorganisationen an einer bürgerlichen Regierung, wie radikal ihre antiimperialistische Rhetorik auch klingen mag.

  • Für Arbeiter:innen- und Bäuer:innen-Delegiertenräte.

  • Für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung, die von der demokratischen zur sozialen Revolution übergeht, das Eigentum vergesellschaftet und die Kontrolle über Industrie und Landwirtschaft übernimmt, imperialistische Schulden streicht und die Revolution auf andere Länder ausweitet, regionale Föderationen von Arbeiter:innenstaaten und die sozialistische Entwicklung in Angriff nimmt.

6. Der Kampf um die Macht

6.1 Für eine Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen

Aus Wirtschaftskrisen und Kriegen und großen Aufschwüngen im Klassenkampf können sich leicht vorrevolutionäre oder tatsächlich revolutionäre Situationen ergeben, in denen die herrschende Klasse gespalten ist und die reformistischen Führer:innen die Kontrolle verlieren, was die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse vor die Notwendigkeit stellt, eine Regierungslösung in ihrem Interesse zu finden. Solche sozialen Krisen warten nicht darauf, dass die Arbeiter:innenklasse eine revolutionäre Massenpartei schafft, die bereit ist, die Macht zu übernehmen. In Ermangelung einer solchen blickt die Klasse weiterhin auf ihre bestehenden Gewerkschafts- und reformistischen Parteiführungen. Wenn rechte Parteien an der Macht sind, wollen reformistische Arbeiter:innen vielleicht nicht erst die nächsten regulären Wahlen abwarten, sondern versuchen, eine rechte Regierung durch direkte Aktionen, Generalstreiks oder Fabrikbesetzungen aus dem Amt zu jagen, und so „ihre eigenen“ Parteien an die Macht zu bringen.

Revolutionär:innen müssen davor warnen, dass die reformistischen Führungen, selbst wenn sie durch Massenaktionen an die Macht gebracht werden, immer noch alles tun werden, um der Kapitalist:innenklasse diese Macht zurückzugeben, indem sie die kampfbereite Klasse demobilisieren. Es dabei zu belassen, die Reformist:innen nur anzuprangern, hieße jedoch, die Methode unseres Übergangsprogramms aufzugeben. Es stellt kein Ultimatum, verlangt nicht, dass die Arbeiter:innen zunächst ihre bestehenden Organisationen oder Führungen aufgeben müssten, bevor sie für die entscheidenden Forderungen und Losungen der Stunde tätig werden könnten, ja, bevor sie für die Machtübernahme kämpfen.

Unter diesen Umständen rufen wir alle bestehenden Arbeiter:innenführungen, sowohl Gewerkschaften als auch Parteien, dazu auf, mit den Kapitalist:innen zu brechen und eine Regierung zu bilden, die die Krise im Interesse der Arbeiter:innenklasse löst und sich gegenüber deren Massenorganisationen verantwortlich zeigt. Die Arbeiter:innenorganisationen sollten fordern, dass eine solche Regierung wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen die kapitalistische Sabotage ergreift, ihre Industrien, Banken usw. enteignet und die Kontrolle der Arbeiter:innen über sie anerkennt und zulässt.

Wenn die Arbeiter:innenklasse eine Regierung erstrebt, die die ökonomischen, ökologischen und kriegerischen Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind, löst, kann sich diese nicht auf die bestehenden Organe des bürgerlichen Staates stützen, seien sie politisch, repressiv oder ökonomisch, da diese untrennbar mit der Klasse verbunden sind, die die Probleme verursacht hat und ihre Lösung behindert und die auf ihren höchsten Ebenen mit deren Gefolgsleuten besetzt sind. Sie muss sich stattdessen auf die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse verlassen und bereit sein, dem Großkapital ihr Programm der Kontrolle und Enteignung aufzuzwingen. Diese Aufgabe erfordert eine andere Art von Staat als den demokratischsten kapitalistischen, oder, wie Lenin sagte, einen Halbstaat, der durch die Demokratie, Selbstverwaltung und Selbstverteidigung der Produzent:innen funktioniert.

Um die unvermeidliche Sabotage durch die Spitzen des öffentlichen Dienstes, polizeiliche Provokationen, militärische oder „verfassungskonforme“ Putsche zu verhindern, werden wir den Aufbau und die Bewaffnung einer Arbeiter:innenmiliz brauchen und die Kontrolle der Offizier:innenkaste über die einfachen Dienstgrade innerhalb der Armee brechen müssen.

In einer Phase, in der Revolutionär:innen eine wachsende Alternative zu den Reformist:innen darstellen, könnte eine solche Arbeiter:innenregierung als Brücke zur revolutionären Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse dienen, wobei die gesamte Macht in die Hände direkt gewählter Räte aus jederzeit abrufbaren Arbeiter:innendelegierten (Sowjets) übergehen und sich so die Gründung eines revolutionären Staates vollziehen kann.

  • Bruch mit der Bourgeoisie: Alle Arbeiter:innenparteien müssen ihre strenge Unabhängigkeit bewahren und sich weigern, mit den Parteien der Kapitalist:innen auf lokaler oder nationaler Ebene Koalitionsregierungen einzugehen.

  • Für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung: Enteignung der Kapitalist:innenklasse. Verstaatlichung aller Banken, Konzerne, des Großhandels, des Verkehrs, des Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Kommunikationswesens und der Dienstleistungen ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Die verstaatlichten Banken sollten zu einer einzigen staatlichen Bank unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verschmolzen werden, wobei die Entscheidungen über Investitionen und Ressourcen demokratisch getroffen werden sollten, als Schritt zur Bildung eines zentralen Plans unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und zur Entfaltung einer sozialistischen Wirtschaft.

  • Einführung eines Außenhandelsmonopols und von Kontrolle der Kapitalbewegungen.

  • Die Machtbefugnis einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung sollte auf den Räten (Sowjets) und bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der städtischen Armen gegründet sein.

  • Die volle Staatsgewalt der Arbeiter:innenklasse kann nur durch die Zerschlagung der bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates, seines militärischen und bürokratischen Apparates und seine Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte und der Arbeiter:innenmiliz erreicht werden.

6.2 Der Aufstand

Unser Ziel ist die politische Macht, die Macht, die Welt für immer zu verändern, damit Ungleichheit, Krisen und Kriege, Ausbeutung und Klassen eine ferne Erinnerung werden. Aber Revolutionär:innen allein machen die Revolution nicht. Es braucht objektive Voraussetzungen: eine tiefe wirtschaftliche, politische und soziale Krise, die die herrschende Klasse nicht lösen kann, so dass sie selbst gespalten wird. Auch subjektive Bedingungen sind erforderlich: Die Arbeiter:innenklasse und die untere Mittelschicht dürfen nicht länger bereit sein, die alte Ordnung aufgrund des Leids und des Chaos, das die herrschende Klasse verursacht hat, weiterhin zu unterstützen. Unter diesen Bedingungen entstehen eine vorrevolutionäre oder revolutionäre Situation, und unter diesen Voraussetzungen kann eine beträchtliche Anzahl von revolutionären Avantgardekämpfer:innen die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse für die Perspektive der Revolution gewinnen.

Revolutionär:innen müssen vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen erkennen und in ihnen die mutigsten Protagonist:innen des Umsturzes der Macht sein. Sie müssen durch entschlossene und richtige Propaganda und Agitation in Massenbewegungen, Aufständen oder Bürgerkriegen um die Führung kämpfen und zielstrebig den Weg weisen. Für revolutionäre Organisationen und Parteien bedeuten das Versäumen revolutionärer Situationen, passives Kommentieren, das Führen eigener Kämpfe getrennt von den Massen, Angst vor der revolutionären Bewegung oder gar Unterordnung unter nichtrevolutionäre Kräfte unverzeihliche zentristische Fehler, die in der Vergangenheit immer wieder zur Niederlage der Arbeiter:innen geführt haben.

Die Übertragung der Macht von einer Klasse auf die andere kann nur durch den Aufstand der ausgebeuteten Massen unter Führung einer revolutionären Partei mit ihrer kämpferischen Vorhut erreicht werden. Da der bürgerliche Staat ein bewaffnetes Unterdrückungsinstrument verkörpert, kann seine Macht nur gebrochen werden, indem man dem Oberkommando und dem Offizier:innenkorps die Kontrolle über diese Kräfte entzieht, die einfachen Soldat:innen für sich gewinnt und die der Konterrevolution treu gebliebenen Truppenteile gewaltsam auflöst.

Wir können den alten Staatsapparat nicht übernehmen; wir müssen ihn zerstören und durch einen völlig neuen Staat ersetzen, einen Staat, in dem die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die städtischen Armen die Gesellschaft durch in den Betrieben, den Barrios, den Dörfern, den Schulen und Universitäten gewählte Delegiertenräte verwalten. Immer wieder sind solche Gremien in revolutionären Krisen entstanden, von der Pariser Kommune über die russischen Sowjets, die deutschen Räte, die chilenischen Cordones bis zu den iranischen Schoras. Sie entstehen als Kampforgane, Räte der Aktion, aber nur eine klare revolutionäre Führung kann sie befähigen, zu Organen des Aufstands und dann zu einer neuen Staatsmacht der Arbeiter:innenklasse zu werden.

Solange es noch eine alte herrschende Klasse gibt, die in der Lage ist, die Macht zurückzuerobern, muss die Arbeiter:innenklasse alles Notwendige tun, um dies zu verhindern. Ein Arbeiter:innenstaat wird zwar die umfassendste und freieste Demokratie für die ehemals ausgebeuteten Klassen sein, aber gleichzeitig eine Diktatur gegen diejenigen, die den Kapitalismus wiederherstellen wollen. Nicht mehr und nicht weniger bedeutet die Diktatur des Proletariats in Wirklichkeit. Auf sie kann erst verzichtet werden, wenn die mächtigsten herrschenden Klassen unseres Planeten entwaffnet und enteignet worden sind.

Ein Arbeiter:innenstaat darf jedoch nicht zulassen, dass eine Kaste von Bürokrat:innen die Diktatur über die Arbeiter:innen ausübt, und er kann auch kein Staat sein, in dem nur eine Partei existieren darf. Die arbeitenden Massen müssen die Möglichkeit haben, ihre unterschiedlichen Ansichten in verschiedenen Parteien zum Ausdruck zu bringen, die auf demokratische Weise in Wettbewerb miteinander treten, um eine Mehrheit in den Arbeiter:innenräten zu gewinnen und behalten. Unser Sozialismus darf auch keiner sein, in dem ein Präsident, ein Caudillo oder ein lider maximo alle Initiative in seinen Händen konzentriert und sich mit einem Personenkult umgibt wie ein Stalin, ein Mao, ein Castro oder ein Chávez.

Die volle Staatsgewalt der Arbeiter:innenklasse kann nur durch die Zerschlagung der bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates, seines militärischen und bürokratischen Apparates und seine Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte und der Arbeiter:innenmiliz selbst erreicht werden.

6.3 Unser Ziel: Weltrevolution und Kommunismus

Der Sozialismus, für den wir kämpfen, braucht Produktionsmittel in großem Maßstab in den Händen der Arbeiter:innenklasse, die ihre Entwicklung demokratisch planen kann, um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen und Ungleichheit und soziale Klassen schrittweise zu beseitigen.

In einem revolutionären Arbeiter:innenstaat wird es keinen monströsen, bürokratischen Plan geben wie unterm Stalinismus, wo eine Kaste privilegierter Bürokrat:innen versuchte, alles zentral zu entscheiden. Nach der Revolution wird die Arbeiter:innenklasse die Banken, die wichtigsten Finanzinstitutionen, die Verkehrs- und Versorgungsunternehmen und alle wichtigen Industriezweige vergesellschaften. Dies wird die Grundlage für eine Reihe von ineinandergreifenden Plänen bilden, die von der lokalen über die regionale bis zur nationalen und internationalen Ebene integriert und koordiniert sind und jeweils nach einer Debatte von einer Arbeiter:innen- und Verbraucher:innendemokratie beschlossen werden.

Dies ist kein Traum, wie die bürgerlichen Propagandist:innen behaupten. Moderne Technologien machen es möglich, Bedürfnisse und Notwendigkeiten rund um den Erdball in Sekundenschnelle zu entdecken und zu kommunizieren und dann die Produktion und den Transport zu koordinieren, um sie zu erfüllen. Jeder moderne multinationale Konzern arbeitet bereits auf diese Weise. Aber im Gegensatz zu den kapitalistischen Konzernen werden wir die Errungenschaften der modernen Technologien nicht für den Profit einiger weniger, sondern zum Nutzen der gesamten Menschheit einsetzen.

Handwerker:innen, Ladenbesitzer:innen und Kleinbauern und -bäuerinnen werden ihre Familienbetriebe als Privateigentum behalten können, wenn sie dies wünschen. Gleichzeitig werden sie ermutigt, sich von der Unsicherheit des Marktes und der Verdrängungskonkurrenz zu befreien, indem sie ihre Produktion auf den gesamtgesellschaftlichen Plan zur wirtschaftlichen Entwicklung ausrichten. Die Vorstellung, dass der Sozialismus auf Privateigentum in kleinem Maßstab oder auf Genossenschaften beruhen kann, ist eine rückwärtsgewandte Utopie, die mit der Zeit nur die Bedingungen der Marktwirtschaft wiederherstellen und die Kapitalakkumulation erneut fördern kann.

Die Vergesellschaftung des bäuerlichen Kleinbesitzes, der kleinen Läden usw. muss jedoch schrittweise und freiwillig erfolgen und nicht zwangsweise wie unter Stalin.

Unabhängig davon, ob die Revolution zuerst in einem rückständigen, halbkolonialen oder in einem fortgeschrittenen, imperialistischen Land ausbricht und triumphiert, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie sich rasch über die Grenzen des betreffenden Staates hinaus ausbreitet. Dies ist notwendig, um das Erreichte zu verteidigen und das volle Potenzial der sozialistischen Gesellschaft auszuschöpfen. Wo immer die Arbeiter:innen die Macht ergreifen, werden sie von ausländischen kapitalistischen Mächten angegriffen, v. a. von den imperialistischen Großmächten. Die wirksamste Form der Verteidigung ist daher die Ausbreitung der Revolution in diesen Ländern durch den vollen Einsatz für die dortigen Arbeiter:innenklassen im Machtkampf. Außerdem ist es unmöglich, den Aufbau des Sozialismus auf nationaler Ebene zu vollenden, wie der Niedergang und der endgültige Zusammenbruch der Sowjetunion bewiesen haben. Der „Sozialismus in einem Land“ bleibt eine reaktionäre Utopie.

Die vom Kapitalismus über Jahrhunderte entwickelten Produktivkräfte erfordern eine internationale Ordnung. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Nationalstaat selbst zu einem Hindernis für ihre Weiterentwicklung geworden. Die Notwendigkeit der Strategie der permanenten Revolution ergibt sich daher nicht nur aus der Notwendigkeit, den anhaltenden Widerstand der alten herrschenden Klassen zu bekämpfen, sondern aus dem Umstand, dass eine rationale und nachhaltige Entfaltung der Produktivkräfte der Menschheit letztlich nur auf Weltebene erfolgen kann.

Auf Grundlage einer weltumspannenden Planwirtschaft und einer Weltföderation sozialistischer Republiken können wir uns schließlich auf ein gemeinsames Wohlstandsniveau und die vollständige Gleichberechtigung der gesamten Menschheit zubewegen. Als Ergebnis dieses Prozesses werden soziale Klassen und die repressiven Merkmale des Staates allmählich absterben – es wird das erreicht, was Marx, Engels und Lenin Kommunismus nannten. Aber zuerst müssen wir diesen Prozess ins Werk setzen. In einem Land nach dem anderen, das von der historischen Krise des Systems erschüttert wird, müssen wir den Kapitalismus in den Abgrund stürzen. Die Weltrevolution, und nichts anderes, ist die Aufgabe der kommenden Fünften Internationale.

  • Arbeiter:innen und unterdrückte Völker der Welt – vereinigt euch!

  • Vorwärts zu einer neuen, einer Fünften Internationale!

7. Eine revolutionäre Partei und Internationale

Es war Karl Marx, der zuerst erklärt hatte, dass die Befreiung der Arbeiter:innenklasse von der kapitalistischen Herrschaft nur das Werk der Arbeiter:innenklasse selbst sein könne und niemals durch „Retter:innen von oben“ erreicht werden könne. Im Gegensatz zu den Anarchist:innen stellte er jedoch nicht die Mystik der „Selbsttätigkeit“ oder des „Sozialismus von unten“ der politischen Aktion, sei sie „direkt“ oder „durch Wahlen“, entgegen, sondern die Notwendigkeit, eine von allen kapitalistischen Parteien oder Persönlichkeiten unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen. Eine solche Partei, so betonte er, muss internationalistisch sein, wie es der Kampfruf aus dem Kommunistischen Manifest und der Eröffnungsrede der Ersten Internationale „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch“ zum Ausdruck bringt.

Sie muss die revolutionäre Theorie mit der Praxis vereinen. Ausgangspunkt ist das Verständnis der Bewegungsgesetze des Kapitalismus, des Charakters der Ausbeutung, der Wiederkehr wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen, die die Bedingungen für die Befreiung nicht nur der Arbeiter:innen, sondern aller Unterdrückten schaffen. Die revolutionäre Theorie steht bereit, um angewendet zu werden und die Welt zu verändern. Im Gegenzug bereichert die Praxis einer solchen Partei ihrerseits die Theorie und entwickelt sie weiter.

Es war der russische Revolutionär Lenin, der diese Lehren zu einem praktischen Leitfaden für den Aufbau einer revolutionären Partei destillierte, einer Partei, deren Aufgabe es sein sollte, die Arbeiter:innenklasse in all ihren großen Kämpfen zum Angriff auf den kapitalistischen Staat und seine ausgeklügelten Instrumente der Unterdrückung und Täuschung sowohl in der Gesellschaft insgesamt als auch innerhalb der Arbeiter:innenbewegungen selbst (reformistische Parteien, Gewerkschaftsbürokratie) zu führen. Das Modell der Partei, das Lenin entwickelt hat, der Bolschewismus, kann nicht als fertige Formel, auf jede Situation aufgepfropft werden. Das Aussehen einer revolutionären Partei kann und wird sich je nach den historischen und nationalen Bedingungen ändern und anpassen.

Es gibt jedoch ausschlaggebende Grundprinzipien, die das Fundament jeder wirksamen revolutionären Partei bilden müssen. Diese wurden zuerst in Lenins klassischem Werk „Was tun?“ beschrieben. Darin findet sich auch die bis heute sehr umstrittene Aussage: „Klassenpolitisches Bewusstsein kann der Arbeiter:innenklasse nur von außen, d. h. nur von außerhalb des ökonomischen Kampfes vermittelt werden“. Damit wird weder geleugnet, dass Klassenbewusstsein im Kapitalismus oft in den alltäglichen Auseinandersetzungen mit den Kapitalist:innen und ihrem Staat seine Keimzelle hat, noch bedeutet es, dass die Arbeiter:innenklasse sich nicht selbst emanzipieren kann, dass die Arbeiter:innen von „Außenseiter:innen“ geführt werden müssten, von einer Elite von Intellektuellen aus der Mittelschicht oder „Berufsrevolutionär:innen“, die als Parteibürokratie missverstanden werden könnten. Es bedeutet ganz einfach, dass Kämpfe um Löhne und Arbeitsbedingungen, also ausschließlich wirtschaftliche Kämpfe, die von den Gewerkschaften allein geführt werden,sich nicht spontan zu einem Kampf für den Sozialismus entwickeln werden; sie werden nicht automatisch ein revolutionäres sozialistisches Bewusstsein schaffen.

Die „spontane“ Perspektivee der Gewerkschaften geht von der des jeweiligen Berufs oder der jeweiligen Branche aus, und ab einem bestimmten Punkt behindern diese Unterteilungen eine klassenumgreifende Sichtweise. Zweitens sind die Arbeiter:innen immer starken Einflüssen „von außen“ ausgesetzt, d. h. von einer Gesellschaft, in der die herrschenden Ideen die der herrschenden Klasse sind. Dies wird durch die unaufhörliche Propaganda in den Schulen, Medien, Kirchen, Moscheen und Tempeln erreicht, die alle betonen, dass der Kapitalismus das einzig mögliche System sei.

Dieses propagandistische Trommelfeuer, das darauf abzielt, die Arbeiter:innenschaft zu spalten und von den Ideen der herrschenden Klasse beherrschen zu lassen, kann nur durch die Prinzipien des Sozialismus und der Revolution gekontert werden – und diese kommen „von außerhalb“ der Sphäre der reinen und einfachen Gewerkschaftsbewegung. Sie können systematisch nur von einer politischen Partei geschaffen und verbreitet werden, deren Ziel es ist, alle zersplitterten und sektoralen Kämpfe auf eine politische Dimension zu heben, auf der der Kapitalismus als Feind identifiziert werden kann. Natürlich kann diese Partei nicht „außerhalb“ der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse stehen. In dieser Hinsicht muss sie sich radikal von den reformistischen parlamentarischen Parteien unterscheiden, die den Kampf in den Betrieben den Gewerkschaften oder vielmehr ihren Funktionär:innen überlassen, die Politik weitgehend auf Wahlen beschränken und deren Parteiprogramme die Ziele auf das verkürzen, was die Führer:innen für populär halten und ihnen „Macht“, d. h. ein Regierungsamt in der Zwangsjacke des kapitalistischen Staates, verschaffen wird.

Eine leninistische Partei braucht Mitglieder, die die unermüdlichsten und aufopferungsvollsten Aktivist:innen sind, die nicht nur richtungweisend in die gegenwärtigen Kämpfe eingreifen, sondern auch erklären können, dass der Kapitalismus die Ursache für Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit und Sozialkahlschlag und darüber hinaus auch für Rassismus, Sexismus und Krieg ist. Sie müssen an den gefährlichsten Orten des Klassenkampfes zu finden sein. Sie müssen sich die Anerkennung ihrer Kolleg:innen als die zuverlässigsten Anführer:innen, die Vorhut des Klassenkampfes, erarbeiten.

Laut Lenin müssen die Parteimitglieder Kader sein, eine militärische Analogie, die sich auf das Netzwerk von Unter- und Feldoffizier:innen einer Armee bezieht. Sie müssen Berufsrevolutionär:innen sein, Personen, die nicht nur ein paar freie Abende der Politik widmen, sondern sie zum Mittelpunkt ihres Lebens machen. Die große Mehrheit dieser Menschen muss aus Arbeiter:innen bestehen, wenn sie im Klassenkampf führend sein will. Eine revolutionäre Partei kann das Wachstum einer Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse, mit der sie untrennbar verschmolzen ist, sprunghaft ankurbeln. Das Beispiel der bolschewistischen Partei zeigt, warum sie in der Lage war, die „spontane“ Revolution vom Februar 1917 in die bewusste Machteroberung durch die Arbeiter:innenräte im Oktober zu verwandeln. Diese Schlüsselprinzipien revolutionärer Politik, des revolutionären Programms und des Internationalismus sind heute genauso ausschlaggebend wie zu der Zeit, als Lenin sie entwickelte, und es ist die brennende Aufgabe der revolutionären Sozialist:innen, sie in den gewaltigen Kämpfen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen, in die Tat umzusetzen.

Nachdem sie gesehen hatten, dass die Massenparteien der Arbeiter:innenbewegung, sozialdemokratische, Labour und solche, die sich „kommunistisch“ nennen, allgemein ein Hindernis für die Entfaltung der Kampfkräfte darstellten, zogen leider viele junge Aktivist:innen während der Massenkämpfe von 2009 – 2015 daraus den Schluss, dass politische Parteien als solche den Kampf nicht voranbringen könnten. Sie setzten ihnen spontane soziale Bewegungen entgegen wie bei der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo, der Wall Street in New York, der Puerta del Sol in Madrid oder des Syntagma-Platzes in Athen. Die Alternative sei, so dachten sie, sich auf eine direkte Massendemokratie zu beschränken. Aber das Leben hat bewiesen, dass die Demokratie eines einzigen Ortes oder eines kurzen Augenblicks, auch wenn sie manchmal zum Sturz von Regierungen oder Diktator:innen führt, diese nicht durch die Macht der einfachen arbeitenden Menschen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten ersetzen kann. Ein solcher tatsächlicher Machtwechsel innerhalb der Gesellschaft wird nur dann stattfinden, wenn sich eine politische Gegenformation zu den alten Parteien herausbildet, mit der Entschlossenheit und Fähigkeit, diesen auch zu verwirklichen.

Eine revolutionäre Partei muss mit dem Reformismus der alten Linken brechen. Ihre eigenen Mitglieder müssen sie demokratisch kontrollieren. Ihre Aufgabe besteht nicht in erster Linie darin, Wahlen zu gewinnen, und deshalb sollte sie nicht von ihren Abgeordneten und örtlichen Funktionär:innen kontrolliert werden, die über die Mitgliedschaft herrschen, ihre eigene Politik machen und dafür Spitzengehälter und Spesen kassieren.

Im Gegensatz zu den kapitalistischen Parteien darf die revolutionäre Partei keine Versprechungen machen und dann, wenn sie an der Macht ist, das tun, was die Bosse und Bänker:innen diktieren. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Anhänger:innenschaft von Millionen von Menschen zu gewinnen, indem sie diese zum Handeln anleitet. Die Wahlen sollten dazu genutzt werden, ihr Programm für Massenaktionen bekanntzumachen, Propagandist:innen und Agitator:innen in die Räte und Versammlungen zu schicken, um die Vertreter:innen der Kapitalist:innen anzuprangern, aber vor allem, um in aller Öffentlichkeit zu den Massen zu sprechen. Ihre Aufgabe ist es nicht, vorgeblich populäre, in Wirklichkeit aber von den millionenschweren Medien diktierte Ideen zu propagieren. Wenn Parteiangehörige Mandate als Abgeordnete bzw. Ratsmitglieder gewinnen, dürfen nicht diese die Partei kontrollieren, sondern müssen umgekehrt der Kontrolle der Partei unterstehen.

Eine solche revolutionäre Partei könnte heute einen enormen Einfluss innerhalb der Widerstandsbewegungen ausüben, indem sie für Taktiken argumentiert, die die Bewegung voranbringen, allen Ausgebeuteten und Unterdrückten eine Stimme gibt, Rassismus, Sexismus und imperialistische Kriege ebenso bekämpft wie Ausbeutung und Armut. Es ist die Aufgabe einer revolutionären Partei, sich in jede Bewegung zu stürzen, sei es für höhere Löhne oder mehr Demokratie, für Gerechtigkeit zugunsten der national, rassistisch oder geschlechtlich Unterdrückten, und in jedem Fall die Praxis einer einheitlichen Kampffront zu verfechten, während sie geduldig ihre Politik und ihr Programm erklärt und die besten Kämpfer:innen in ihre Reihen holt. In den Gewerkschaften würde eine solche Partei die Basis organisieren, um die Führung zu übernehmen. Während die Gewerkschaftsspitzen zögern, wirksame Maßnahmen gegen die Kürzungen zu ergreifen, könnte eine revolutionäre Partei die Arbeiter:innen darauf orientieren, einen Generalstreik zu koordinieren, mit oder ohne die Gewerkschaftsführer.:innen. Nur mit den Erfahrungen solcher prinzipienfesten Kämpfe wird eine revolutionäre Partei, die diesen Namen verdient, auf eine revolutionäre Situation vorbereitet sein, in der der Kapitalismus gestürzt werden kann.

7.1 Für eine neue, Fünfte Internationale!

Die Arbeit zum Aufbau neuer revolutionärer Parteien in jedem Land muss von Anfang an mit dem Kampf für eine neue Internationale verbunden sein. Die objektive Notwendigkeit, die dies gebietet, sind die globalen Antworten, die zur Bekämpfung von Krieg, kapitalistischer Krise und Klimakatastrophe erforderlich sind. Das Programm zur Bekämpfung dieser und vieler anderer damit verbundener Gefahren muss auf einer internationalen Aktion und einer internationalen Organisation beruhen, die sich dafür starkmacht. Diese Organisation ist eine Fünfte Internationale, die an die Errungenschaften der Ersten, Zweiten, Dritten und Vierten Internationale vor ihrem Zusammenbruch und ihrer Degeneration anknüpft und auf deren Programmen und Praxis aufbaut.

Es ist eine völlig falsche Vorstellung, dass es vor der Gründung einer Internationale zunächst eine Reihe von starken nationalen Parteien geben muss, die jeweils in „ihrer“ Arbeiter:innenklasse fest verankert sind. Diese Konzeption verkennt, dass alle Organisationen, wenn sie isoliert voneinander aufgebaut werden, dazu neigen werden, eine Politik zu verfolgen, die die Grenzen ihres spezifischen Milieus widerspiegelt, und Gefahr laufen, dem Druck und den Verzerrungen eines nationalen Charakters zu erliegen. Die Marx’sche Losung – Arbeiter:innen aller Länder, vereinigt euch – ist keine rhetorische Floskel.

Dieses Ziel für die Parteien der Arbeiter:innenklasse muss damit verbunden sein, alle bestehenden Massenorganisationen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu ermutigen, den gleichen Weg zu gehen, angefangen beim Aufbau organisierter ständiger Verbindungen der Solidarität und gemeinsamer Aktionen mit Gleichgesinnten in aller Welt. Der Aufbau einer neuen Internationale ist keine Aufgabe, die auf kleine revolutionäre Propagandagruppen beschränkt ist, und sie muss auch nicht auf deren Vereinigung oder die Lösung ihrer strategischen und taktischen Differenzen warten, so wichtig dies auch sein mag.

Die Aufgabe, eine Nachfolge der vier historischen Internationalen aufzubauen, muss der Massenvorhut der Arbeiter:innen gestellt werden, denjenigen, die heute an der Spitze der Kämpfe stehen. Es ist möglich, dass die Schicht der Arbeiter:innenmilitanten und die Aktivist:innen der vielen Bewegungen der sozial, ethnisch oder geschlechtlich Unterdrückten, die nicht von bürgerlichen Führungen dominiert werden, eine internationale Versammlung oder ein internationales Forum schaffen können, in denen dieser Aufbau – ähnlich wie bei der Internationalen Arbeiter:innenassoziation (der Ersten Internationale) oder der sogenannten antikapitalistischen Bewegung um die Wende zum 21.Jahrhundert – beginnen kann.

Das schließt jedoch nicht aus, dass kleine Tendenzen wertvolle Arbeit leisten, indem sie Propaganda betreiben und sich in begrenztem Umfang im Klassenkampf engagieren, internationale Organisationen aufbauen und gemeinsame Programme entwickeln. Trotzki war der Auffassung, dass revolutionäre Kommunist:innen schon in den frühesten Vorphasen der Partei Gesinnungsgenoss:innen auf der ganzen Welt suchen und die Strategie, Taktik und organisatorischen Grundlagen für eine „Weltpartei der sozialistischen Revolution“ schaffen müssen. So gründeten er und seine Mitstreiter:innen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs die Vierte Internationale. Aufgrund der ungünstigen objektiven Bedingungen – der Zweite Weltkrieg und das Überleben und die Ausbreitung sowohl der bürgerlichen Demokratie als auch der degenerierten Arbeite:innenrstaaten – übten der Stalinismus und die Sozialdemokratie enormen Druck auf die winzigen Kaderkerne aus, und die Vierte Internationale machte eine zentristische Degeneration und Zersplitterung durch, lange bevor sie mit den revolutionären Massenvorhutkräften verschmelzen konnte.

Nichtsdestotrotz hat die trotzkistische Tradition in ihren verschiedenen Abspaltungen und innerhalb einer Vielzahl von internationalen Tendenzen oft einige wichtige Prinzipien ihres Gründers bewahrt. Ihr Fehler bestand und besteht darin zu glauben, dass sie mit ihren geringen Kräften immer noch die Vierte Internationale Trotzkis repräsentiere oder auch dass entweder durch einfaches Wachstum oder die Wiedervereinigung einiger oder aller ihrer entarteten Fragmente eine neue Internationale gegründet werden könnte. Es ist ein ähnlicher Irrtum zu glauben, dass kleine Propagandagesellschaften, die Dutzende oder gar Tausende zählen, in Wahrheit revolutionäre Parteien darstellen.

Die Revolution des 21. Jahrhunderts und eine erneuerte klassenbewusste Arbeiter:innenbewegung, die politisch unabhängig von allen bürgerlichen Kräften ist, muss von Anfang an auf dem Prinzip des Internationalismus aufbauen, d. h. im Hier und Jetzt die Aufgabe angehen, eine neue, proletarische internationale Kampforganisation aufzubauen.

Der Kampf gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit, die Internationalisierung der Produktion, die Angriffe auf die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen und Migrant:innen, die Bedrohung durch Handels- und heiße Kriege zwischen rivalisierenden imperialistischen Blöcken, um nur einige der Schlagzeilen unserer Agenda zu nennen, erfordern einen koordinierten gemeinsamen Kampf über Grenzen hinweg und revolutionäre Veränderungen im Weltmaßstab. Ein Rückzug auf nationale „Lösungen“ kann die Reaktion nur stärken, ja ist selbst ein Ausdruck des Erstarkens dieser Kräfte.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelte die Antiglobalisierungsbewegung Foren des Austauschs und setzte auf ihrem Höhepunkt Massenaktionen in Gang oder verband sie miteinander, darunter Demonstrationen von Millionen gegen den Irakkrieg. Einige ihrer führenden Köpfe sprachen die Möglichkeit einer Fünften Internationale an, um sie dann wieder fallen zu lassen, als sich eine neue Krise, die Große Rezession, am Horizont abzeichnete. Letztlich scheiterte sie jedoch daran, dass ihre reformistische und kleinbürgerliche Führung nicht bereit war, in national verankerten Massenorganisationen, seien es Gewerkschaften oder politische Parteien, für verbindliche internationale Entscheidungen aufzutreten.

Die Große Rezession und die verheerenden Auswirkungen der Krise, die Massenbewegungen des Arabischen Frühlings, die Kämpfe in Griechenland und die Besetzung von Plätzen haben die Notwendigkeit einer Internationale erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Doch auch hier versagte die Linke auf globaler und kontinentaler Ebene. So ist die europäische reformistische, aber auch die radikale und antikapitalistische Linke an der Aufgabe, den Widerstand gegen den kapitalistischen Sozialraubzug europaweit zu vereinen, völlig gescheitert. Sie hat sich als unfähig erwiesen, auch nur ansatzweise ein europäisches Aktionsprogramm gegen Krise und Kapitalismus zu entwickeln. Trotz ihres populistischen Charakters hatten der Chávismus und die bolivarische Bewegung vorübergehend den gemeinsamen Kampf in Lateinamerika und darüber hinaus proklamiert. Doch dies erwies sich als Märchen.

Nach dem Beginn einer neuen globalen Krisenperiode, nach der größten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, hat sich die reformistische Arbeiter:innenbewegung auf das nationale Terrain zurückgezogen. Ihr „Internationalismus“ beschränkt sich im Wesentlichen auf Sonntagsreden und Grußadressen. Dies entspricht der Position der Arbeiter:innenbürokratie, deren „Verhandlungsmacht“ an ihre nationale Kapitalist:innenklasse gebunden ist und dabei hinter der Internationalisierung des Kapitals selbst zurückbleibt.

Auch die „radikale“ linksreformistische, zentristische, anarchistische oder libertäre Linke sucht heute ihr Heil in der Orientierung auf das nationale Rückzugsgebiet. Selbst den meisten „internationalen Organisationen“ gelingt es heute nicht mehr, ihre Politik auf ein internationales Programm, eine gemeinsame Strategie und Taktik zu gründen. Entweder sind sie national ausgerichtete Sekten, um die andere Sektionen wie Satelliten kreisen, oder sie sind zunehmend nur noch lose Netzwerke, die sich weigern, verbindliche Beschlüsse zu fassen. Damit werfen sie nicht nur alle Lehren aus dem Scheitern der Antiglobalisierungsbewegung, sondern auch der Degeneration der Zweiten und Dritten Internationale über Bord.

Das bedeutet, dass der größte Teil der globalen Linken eine politisch passive, wenn nicht gar bremsende Haltung gegenüber den spontanen Tendenzen zur Bildung internationaler Bewegungen einnimmt. Dabei haben sich in den letzten Jahren internationale Kampagnen und Bewegungen über nationale Grenzen hinweg ausgebreitet wie die #MeToo-Frauenbewegung gegen sexistische Übergriffe, der Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawandels und die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, die Flüchtlingsbewegungen, die die Abgrenzungspolitik der EU und USA in Frage stellten.

Dann gab es Ansätze zur grenzüberschreitenden Koordinierung von Arbeiter:innenkämpfen, Solidaritätsbewegungen gegen imperialistische Interventionen und reaktionäre Putschversuche. All diese Mobilisierungen stellen Möglichkeiten für grenzüberschreitende, ja, Erdteile übergreifende Kämpfe und koordinierte Aktionen dar. Sie gehen jedoch noch nicht über die „Vernetzung“ eigenständiger nationaler Kampagnen hinaus, erst recht entwickeln sie kein internationales Programm für koordinierte Aktionen. Dies ist jedoch nicht die Schuld der Aktivist:innen, die sie in Gang gesetzt haben. Es ist vor allem das Versäumnis der organisierten Linken.

Viele von ihnen haben aus den Niederlagen die grundfalsche Schlussfolgerung gezogen, dass internationale Kämpfe und der Aufbau einer Internationale heute nicht auf der Tagesordnung stehen könnten, größere Organisationen und Bewegungen zunächst auf nationaler Ebene aufgebaut und entwickelt werden müssten. Nur auf dieser Grundlage sei eine grenzüberschreitende Koordination von Kämpfen und Organisationen möglich und sinnvoll. Dieses platonische Verhältnis zum internationalen Klassenkampf stellt ein grundsätzliches politisches Problem unserer Zeit dar, es ist selbst Ausdruck eines globalen Rechtsrucks, eines Erstarkens des Nationalismus, und so verschärft die nationalbornierte Politik das Problem.

Revolutionäre Marxist:innen, Internationalist:innen und Antikapitalist:innen müssen diese reaktionäre Tendenz unversöhnlich bekämpfen. Sie müssen sich den spontanen internationalistischen Tendenzen unter den Arbeiter:innen, in der Frauenbewegung, der Jugend, den Kämpfen gegen Imperialismus und Umweltzerstörung zuwenden. Nur so wird es möglich sein, diese Aktivist:innen und Kämpfer:innen für ein revolutionäres Programm zu gewinnen. So wie Revolutionär:innen für die Umgestaltung der Gewerkschaften auf internationaler Ebene kämpfen müssen, so müssen sie sich für länderübergreifende Aktionskonferenzen und eine demokratisch verantwortete Kampfkoordination einsetzen. Die Sozialforen, die sich Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts formierten, können als Modell dienen, ohne ihre Schwächen, das Fehlen verbindlicher Beschlüsse und gemeinsamer Aktionen, zu wiederholen.

In den entstehenden globalen Bewegungen der Unterdrückten wie auch in Erhebungen auf nationaler Ebene sollten Revolutionär:innen stets die Notwendigkeit einer neuen Internationale betonen. Die Gefahr eines imperialistischen Krieges, die uns jetzt droht, macht dies umso dringlicher. Wir treten zwar von Anfang an für ein revolutionäres Programm ein, aber wir können die Zustimmung zu diesem Programm nicht zur Vorbedingung für gemeinsame internationale Kampfstrukturen und echte Schritte zum Aufbau einer neuen Masseninternationale machen. Um wirksam und zielstrebig für eine solche Perspektive eintreten zu können, müssen Revolutionär:innen selbst auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms von Übergangsforderungen, eines Programms der sozialistischen Weltrevolution, kämpfen.

Wir rufen alle Genoss:innen, alle sozialistischen, kommunistischen und trotzkistischen Strömungen, die mit einer solchen Perspektive übereinstimmen, dazu auf, ein internationales Programm, das wir hier zur Diskussion stellen, als eine gemeinsame revolutionäre Antwort auf die bevorstehenden Angriffe zu erarbeiten.

LFI-Kongress, 25. Juni 2023




Indien: Modis Streben nach „Hindu Rashtra“

Minerwa Tahir/Shahzad Arshad, Neue Internationale 282, Mai 2024

Bis zu 969 Millionen Inder:innen werden in den nächsten sechs Wochen ihre Stimme bei den indischen Wahlen 2024 abgeben, die am 19. April begonnen haben. Das sind mehr als 10 Prozent der Weltbevölkerung. Dass die von Narendra Modi geführte Nationale Demokratische Allianz (NDA) die Wahl für eine dritte Amtszeit gewinnen wird, ist weitgehend unumstritten. Im Mittelpunkt dieser Wahl steht die Frage, ob es der Hindutva-Rechten gelingen wird, 400 der 543 Sitze zu gewinnen oder nicht (Hindutva: Hindunationalismus). Ein solch massiver Sieg würde sie in die Lage versetzen, eine entscheidende Änderung der weltlichen indischen Verfassung durchzusetzen – eine Änderung, die das Land formell als „Hindu Rashtra“, d. h. als hinduistischen Mehrheitsstaat, festschriebe.

Unter der Aufsicht von 15 Millionen Menschen, die von der indischen Wahlkommission eingesetzt werden, wird die Wahl schätzungsweise rund 8,6 Milliarden US-Dollar (USD) kosten. Die Stimmabgabe endet am 1. Juni, die Ergebnisse werden am 4. Juni bekanntgegeben.

Mehr als 2.600 Parteien treten zu den Wahlen an, aber Modis Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) ist sowohl subjektiv siegessicher als auch objektiv in den Umfragen vor den Wahlen führend. Die Partei, die seit 2014 fest an der Macht ist, strebt bei dieser Wahl eine dritte Amtszeit an. Im Jahr 2019 gewann die BJP von Narendra Modi 303 Sitze, und die von ihr gebildete Koalition erhielt 352 Sitze im indischen Parlament, der Lok Sabha (1. Kammer, Unterhaus). Die BJP hat das Ziel ausgegeben, bei der diesjährigen Wahl mehr als 400 Sitze zu gewinnen. Die Partei unterscheidet sich von den anderen Hauptkonkurrentinnen durch ihre hindunationalistische Politik und ihr Bestreben, den säkularen Kern der indischen Verfassung, der die formale Gleichheit aller Glaubensrichtungen garantiert, auszuhöhlen und durch eine hinduistische Mehrheitsherrschaft zu ersetzen. Diese reaktionäre Politik ist mit Versprechungen zur wirtschaftlichen Entwicklung verknüpft.

Die BJP ist die reichste Partei Indiens und wird von Großkapitalisten wie Mukesh Ambani und Gautam Adani unterstützt, die in Asien an erster bzw. zweiter Stelle der reichsten Menschen stehen. Dies hat es der BJP auch ermöglicht, die indischen Medien fest im Griff zu behalten. Adani kaufte den Medienkonzern NDTV, woraufhin sich der kritische Nachrichtensender in ein Sprachrohr der BJP verwandelte. Im Gegenzug hat die BJP-Regierung viele Energie- und Infrastrukturaufträge der Regierung an Adani-Firmen vergeben. Ein kürzlich ergangenes Gerichtsurteil enthüllte, wie sehr die BJP von einer undurchsichtigen Form der Wahlkampffinanzierung, den so genannten Wahlanleihen, profitiert hat. Die Partei erhielt mehr als 60 Mrd. Rupien (570 Mio. Britische Pfund/GBP) an Spenden, weit mehr als jede andere politische Partei. In der Zwischenzeit sahen sich andere wichtige Kandidat:innen des Oppositionsbündnisses (Indian National Developmental Inclusive Alliance, abgekürzt: INDIA), das sich aus über 27 Parteien einschließlich des Indischen Nationalkongresses zusammensetzt, staatlichen Repressionen ausgesetzt. Der Vorsitzende der Aam Aadmi Party (AAP; Partei des einfachen Mannes), der auch Ministerpräsident des Unionsgebiets Delhi ist, Arvind Kejriwal, wurde vor den Wahlen in einem Korruptionsfall inhaftiert, während die Kongresspartei ihre Parteigelder von den Steuerbehörden einfrieren lassen musste.

Die indische Wirtschaft im Wandel der Zeit

Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1947 war der indische Kapitalismus durch ein hohes Maß an staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft gekennzeichnet, um die industrielle Entwicklung und das Wachstum zu fördern und die soziale Stabilität zu gewährleisten. Politisch wurde dies von der Kongresspartei überwacht, die das Land jahrzehntelang regierte. Doch dieses Modell stieß an seine Grenzen, wie andere Formen kapitalistischer Staatsintervention auch.

In den 1990er Jahren ergriff die vom Kongress geführte Regierung Liberalisierungsmaßnahmen, die die wirtschaftlichen Beschränkungen lockerten und dem Privatsektor die Möglichkeit gaben, sich zu entfalten. Dennoch behält die Regierung ihr Monopol in den Bereichen Verteidigung, Energie, Banken und einigen anderen Branchen bei. Der Beitrag der Landwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt ist gesunken, was jedoch nicht auf einen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, sondern auf eine Zunahme des Industrie- und Dienstleistungssektors des Landes zurückzuführen ist. Die chemische und pharmazeutische Industrie sowie die Auto- und Motorradherstellung bilden zusammen mit dem Abbau von Eisenerz, Bauxit, Gold, Kohle, Öl und Gas das industrielle Rückgrat Indiens. Die große Zahl qualifizierter, englischsprachiger und gut ausgebildeter Arbeitskräfte bildet den Sektor Informationstechnologie und Outsourcing von Unternehmensdienstleistungen. Die wichtigsten Sektoren sind Informationstechnologie, Dienstleistungen, Landwirtschaft und verarbeitendes Gewerbe. Der Dienstleistungssektor machte im Jahr 2022 48,4 % des BIP aus, während der Anteil der Landwirtschaft auf 16,7 % [1] sank.

Heute will Indien in die Fußstapfen Chinas treten und Milliarden in den Bau von Straßen, Häfen, Flughäfen und Eisenbahnen investieren. Die Modi-Regierung hat das nationale Straßennetz zwischen 2014 und 2022 um 50.000 Kilometer erweitert, was einer Steigerung der Gesamtlänge um 50 Prozent entspricht. Diese Investition in die Infrastruktur soll die Verbindungswege in der kolossalen Geografie Indiens verbessern und so den Gütertransport erleichtern. Ein Teil der Aufträge für diese Megaprojekte wird an Großkapitalist:innen vergeben, die Modis Verbündete sind. Die Herrschaftsform ist extrem bonapartistisch, wobei die Unabhängigkeit der Medien, Justiz und Strafverfolgungsbehörden bis hin zur offenen Unterstützung des Regimes untergraben wird. Um ihre Herrschaft über die Massen durchzusetzen, stützt sich die Regierung nicht nur auf repressive Staatsapparate wie Polizei und Armee, sondern auch auf die paramilitärischen Milizen der verschiedenen rechtsextremen Hindutva-Gruppen der Sangh Parivar (Familie der Organisationen; Dachorganisation der hindunationalistischen Parteien und Organisationen).

Nach Angaben der Weltbank schrumpfte das reale BIP in Indien im Wirtschaftsjahr 2020/2021 aufgrund der COVID-19-Pandemie, doch erholte sich das Wachstum im Geschäftsjahr 2021/2022 stark. Im Zeitraum 2022/2023 wuchs das reale BIP um schätzungsweise 6,9 Prozent. Dieses Wachstum erklärt sich durch „eine robuste Inlandsnachfrage, eine starke Investitionstätigkeit, die durch die von der Regierung forcierten Infrastrukturinvestitionen gestützt wurde, und einen lebhaften privaten Verbrauch, insbesondere bei den Besserverdienenden“.

Indien liegt heute auf Platz fünf der BIP-Weltrangliste und hat damit seinen ehemaligen Kolonialherrn, das Vereinigte Königreich, überholt. Gemessen am BIP hat es nur noch USA, China, Deutschland und Japan vor sich. Mit einem BIP von 3,94 Billionen USD liegt es knapp hinter Japan mit 4,11 Billionen USD und vor imperialistischen Mächten wie Russland mit 2,06 Billionen USD und Frankreich mit 3,13 Billionen USD [2]. Indiens Pro-Kopf-BIP ist zwischen 2014 und 2023 um 55 % gestiegen und wird in den nächsten Jahren voraussichtlich um mindestens 6 % pro Jahr wachsen.

Das indische Pro-Kopf-BIP, das ein Maß für den Lebensstandard ist, beträgt jedoch nur 2.730 USD. Das Pro-Kopf-BIP Japans liegt bei 33.140 USD, das des Vereinigten Königreichs bei 51.070 USD. Die Unterernährung bei Kindern ist hoch, 67 % der Kinder in der Altersgruppe von sechs bis 59 Monaten sind unterernährt. Kurzum, das Wirtschaftswachstum schlägt sich nicht wirklich in einer Verbesserung des Lebensstandards der indischen Bevölkerung nieder.

Mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren hat Indien eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt. Dennoch sind laut ILO gebildete Inder:innen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren eher arbeitslos als solche ohne Schulbildung. Die Arbeitslosenquote junger Inder:innen mit Hochschulabschluss liegt bei über 29 % und ist damit fast neunmal so hoch wie die derjenigen, die weder lesen noch schreiben können, so der Bericht. Die Ungleichheit zwischen den Klassen ist extrem festgefügt. Einerseits leben etwa 60 Prozent der 1,3 Milliarden Menschen in Indien von weniger als 3,10 USD pro Tag, der mittleren Armutsgrenze der Weltbank. Andererseits schenkte Mukesh Ambani seiner Frau zu ihrem 44. Geburtstag einen Airbus im Wert von 60 Millionen USD, der über ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, Satellitenfernsehen, Wi-Fi, eine Skybar, Duschen und ein Büro verfügt.

Zwar hat Indien in den letzten Jahrzehnten ein massives Wachstum erlebt, doch muss man dies relativieren, wie es beispielsweise der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts in seinem Artikel „Modi and the rise of the billionaire Raj“ [3] tut. Er untersucht die offiziellen Wachstumsstatistiken und argumentiert, dass all das Gerede, Indien werde China irgendwann einholen, nur ein „Hype“ ist, und weist auf grobe Ungenauigkeiten in den Wachstumszahlen selbst hin: „Nehmen Sie die Wachstumszahlen. Wenn westliche Ökonom:innen die Wachstumszahlen für China erhalten, schreien sie immer, dass sie gefälscht sind. Doch in Wirklichkeit ist es Indiens nationales Statistikamt, das ,mit der Wahrheit sparsam umgeht’.  Die BIP-Zahlen enthalten dubiose Kategorien wie ,Diskrepanzen’.  Diese beziehen sich auf die Differenz zwischen dem realen BIP-Wachstum von etwa 7,5 % pro Jahr und dem realen Wachstum der Inlandsausgaben von nur 1,5 % pro Jahr.“

Darüber hinaus weist er auf zwei wichtige Unterschiede zwischen der indischen und der chinesischen Wirtschaft (und damit ganz allgemein zu den imperialistischen Staaten) hin:

  • Das Wachstum hat das niedrige Produktivitätsniveau in großen Teilen der Wirtschaft, insbesondere in der Landwirtschaft, nicht überwunden.

  • Zwei Drittel der Arbeiter:innenklasse sind in Kleinbetrieben mit weniger als 10 Beschäftigten tätig. Die dort erzielten Profite beruhen darauf, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter:innen unter die Reproduktionskosten gedrückt werden, so dass sie trotz ihrer extrem rückständigen technologischen Basis einige Gewinne erzielen können.

Andererseits hat Indien auch einige hochqualifizierte Sektoren entwickelt, aber auch ein wucherndes Parasitentum im Immobilien- und Finanzsektor, die zu einem eher fiktiven Wachstum beitragen. Alles in allem ist die indische Wirtschaft ein Beispiel für eine ungleichmäßige und kombinierte Entwicklung des Kapitalismus mit einer Regierung, die eindeutig das Ziel verfolgt, Indien zu einer „Weltmacht“ zu machen – allerdings auf der Grundlage der Wirtschafts- und Sozialstruktur eines halbkolonialen Landes mit enormen Disproportionen und inneren Widersprüchen.

Indien auf der Weltbühne

Mit seiner stark zunehmenden Bevölkerung und einer rasch wachsenden Wirtschaft will Indien ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne werden. Das Land ist von Ölimporten abhängig und ist der drittgrößte Ölverbraucher der Welt. Für Investor:innen, Hersteller:innen und Konsumgütermarken wird Indien zunehmend als aufstrebende Alternative zu China gesehen. Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Peking und dem größten Teil der westlichen Welt – insbesondere nach dem Wiedererstarken der US-Hegemonie im Gefolge der russischen Aggression gegen die Ukraine – erfreut sich Indien gesunder Beziehungen zu den meisten großen Volkswirtschaften und zieht Investitionen an.

Dies hat die Modi-Regierung auch dazu veranlasst, die traditionellen Positionen des indischen Kapitalismus zu ändern, einschließlich ihrer Haltung zur Besetzung Palästinas. Nach den Ereignissen vom 7. Oktober hat sich die indische Regierung im Washingtoner Lager offen auf die Seite Israels gestellt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Adanis  Rüstungsunternehmen Aero Defence seit 2016 einen Pakt mit dem israelischen Waffenhersteller Elbit geschlossen hat.

Doch ebenso wie auf wirtschaftlicher Ebene stehen auch die internationalen Ambitionen Indiens vor echten Herausforderungen. Während der globale Antagonismus zwischen den USA und China und ihren jeweiligen Verbündeten einen gewissen Handlungsspielraum zulässt, bedeuten die gleichen Spannungen, dass die „Partner:innen“ darauf drängen werden, Indien auf Linie zu bringen, was es zu einem wichtigen, aber dennoch untergeordneten Verbündeten macht.

Die widersprüchliche Lage, in der sich der indische Kapitalismus befindet, erklärt auch den Vorstoß zur bonapartistischen Herrschaft im Landesinneren und die Notwendigkeit, durch Populismus, Rassismus und Hinduchauvinismus eine soziale Massenbasis dafür zu schaffen.

Muslimische Minderheiten gegen rechtsextreme Mobs

Dieser Wandel ist nicht nur auf die Hinwendung der aufstrebenden Regionalmacht zum Westen zurückzuführen, sondern auch auf eine jahrzehntelange staatlich sanktionierte Politik der Unterdrückung der 200 Millionen Muslim:innen des Landes. Während der BJP-Regierung wurde Islamophobie als staatliche Politik normalisiert. Der Bau des Ram Mandir (hinduistischer Tempel in Ayodhya) an der Stelle, an der einst die Babri-Masjid-Moschee stand, ist der extremste Ausdruck des antimuslimischen Rassismus und Hasses in Indien. Dieser Rassismus äußert sich auch in der politischen Unterdrückung muslimischer Aktivist:innen wie Umar Khalid und Sharjeel Imam, die seit Jahren unter nicht kautionsfähiger Anklage inhaftiert sind.

Vor den diesjährigen Wahlen kündigte Innenminister und Modis rechte Hand Amit Shah Pläne zur Verabschiedung und Umsetzung des reaktionären Citizenship Amendment Act (CAA; Staatsbürger:innenschaftsänderungsgesetzes) an. Das Gesetz wurde im Dezember 2019 verabschiedet und löste Massenproteste aus, bei denen Dutzende von Menschen getötet und andere verhaftet wurden. Es erlaubt nur nicht-muslimischen religiösen Minderheiten aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan, die Staatsbürger:innenschaft in Indien zu beantragen. Im selben Jahr entzog das Modi-Regime auch Dschammu und Kaschmir seinen Sonderstatus und annektierte das besetzte Gebiet effektiv. Darüber hinaus wurde im nordöstlichen Bundesstaat Assam das Nationale Bürger:innenregister (NRC) eingeführt, was dazu führte, dass etwa zwei Millionen Menschen, zumeist Muslim:innen, die indische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Amit Shah versprach die landesweite Umsetzung des NRC im November 2019, gefolgt von der Verabschiedung des CAA im Dezember. Die diskriminierende Absicht der Regierung wurde offensichtlich.

Die Gewalt, die im Anschluss an die CAA-NRC-Einführung in Delhi ausbrach, wurde zu Recht als Pogrom gegen Muslim:innen bezeichnet [4] [5]. Es handelte sich um systematische und organisierte Gewalt gegen Muslim:innen, und alles, was als Beweismittel gegen die Täter:innen verwendet werden konnte, wie etwa Überwachungskameras, wurde von den Polizist:innen zerstört. Geschäfte und Häuser, die Muslim:innen gehörten, wurden identifiziert und so gezielt angegriffen, dass alle anderen, die sich in der Nähe befanden, unversehrt blieben. Muslimischen Frauen wurden die Kopftücher heruntergerissen und sie wurden sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Es gab eine beunruhigende Ähnlichkeit mit den Pogromen gegen Juden und Jüdinnen in den 1930er Jahren in Deutschland, als Hindumobs Moscheen und islamische Schreine angriffen, religiöse Schriften verbrannten und verschiedene Waffen einsetzten, um die Minderheitengemeinschaft zu töten, zerstören und terrorisieren. Die Polizei weigerte sich entweder einzugreifen, oder in den Fällen, in denen Beamt:innen an den Schauplätzen der Gewalt eintrafen, unterstützte sie die Täter:innen, warf Steine auf die Muslim:innen oder stand als gleichgültige Zuschauer:innen da, während der Mob „Delhi Police Zindabad“ (Lang lebe die Polizei von Delhi) rief.

Eine Reihe von Muslim:innen war nach diesen Ereignissen gezwungen, ihre Häuser für immer zu verlassen. Die Polizei zwang einige von ihnen später, ihre Klagen gegen Angriffe auf ihr Leben und Eigentum zurückzuziehen. Die Gewalt des Mobs wurde von einer gezielten Dehumanisierung und Verunglimpfung der muslimischen Gemeinschaft in den Mainstream- und „sozialen“ Medien begleitet. Es ist kaum zu übersehen, dass der Versuch des Modi-Regimes, die Staatsbürger:innenschaft neu zu definieren, an die nationalsozialistischen Staatsbürger:innenschaftsgesetze von 1935 erinnert, die den ersten Schritt zum Völkermord an Juden und Jüdinnen markierten. Tatsächlich hat eine Reihe von BJP-Vertreter:innen sowie Führer:innen anderer rechter und faschistischer Hindutvaparteien der Sangh Parivar ausdrücklich die Absicht geäußert, einen solchen Völkermord an den Muslim:innen zu begehen. Kurz gesagt, muslimische Menschen werden gezwungen, aus gemischten Vierteln abzuwandern, was zu einer Ghettoisierung führt [6].

Der Ruf „Jai Shri Ram“ (Gegrüßet seist du, Herr Ram) ist nicht mehr nur ein religiöser Ausdruck. Er ist zu einem Mordaufruf geworden. Zahlreiche Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Hindumobs Muslim:innen angreifen und schikanieren und sie zwingen, den Gesang zu wiederholen. Muslim:innen werden häufig als „Ausländer:innen“ beschimpft, und muslimische Männer werden beschuldigt, einen „Liebesdschihad“ zu begehen, d. h. eine angebliche Verschwörung, um Hindu-Frauen „wegzustehlen“, indem man sie dazu bringt, sich in sie zu verlieben.

Ermutigte Hindumobs haben Muslim:innen gelyncht, weil sie Rindfleisch gegessen haben, und sind ungestraft davongekommen. Sie haben Journalist:innen getötet. Andere virale Videos zeigen, wie muslimische Frauen am hinduistischen Holi (Frühlingsfest) belästigt werden, indem sie mit farbigem Wasser bespritzt werden. Diese Täter:innen wurden von verschiedenen rechtsextremen und faschistischen Organisationen der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation), der Modi seit seinem achten Lebensjahr angehört, radikalisiert und indoktriniert. Der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundesstaates Uttar Pradesh, der fanatische Antimuslim Yogi Aditjanath, drohte, jede/n im Meer zu ertränken, die/der sich weigere, den yogischen Gruß an die Sonne zu sprechen. Seine inzwischen formell aufgelöste, aber immer noch existierende Privatarmee, die Hindu Yuva Vahini, mobilisierte junge Männer, um den Schutz der Kühe durchzusetzen, den „Liebesdschihad“ zu bekämpfen und „Ghar Wapsi“ (Heimkehr) durchzuführen, d. h. die „Rückbekehrung“ von Muslim:innen und Christ:innen zum Hinduismus und in geringerem Maße zum Sikhismus.

Ghar Wapsi ist ein Programm, das auch von der RSS und der Vishva Hindu Parishad (VHP; Welt-Hindu-Rat, einer weiteren rechtsextremen hindunationalistischen Organisation, die zu Sangh Parivar gehört) verfolgt wird und auf der irrigen Vorstellung beruht, dass alle Menschen in Indien von Haus aus Hindus sind. Das eigene Überlegenheitsgefühl als Wesen des Programms lässt sich daran ablesen, dass der Prozess der Konversion als „Shuddhi“ bezeichnet wird, was Reinigung bedeutet, und als Rückkehr zur „wahren“ Religion angesehen wird.

Warum die BJP möglicherweise keine 400 Sitze gewinnt

Trotz des überwältigenden Sieges im Jahr 2019 hat Modis Partei bei der letzten Wahl nur 37 Prozent der Stimmen erhalten. Die BJP dominiert im Hindi-Sprachgürtel in Nordindien, aber die östlichen und südlichen Bundesstaaten, insbesondere Kerala und Tamil Nadu, haben sich dem Hindumehrheitsrausch nicht angeschlossen. Die BJP hat sich bemüht, sich in diesen Gebieten populär zu machen. Der Erfolg dieser Bemühungen muss sich erst noch zeigen.

Der Kongress unter damaliger Führung von Rahul Gandhi hatte 2019 einen Stimmenanteil von 20 Prozent. Zu den zentralen Wahlkampfthemen der Partei, deren Anhänger:innenschaft sich aus säkularen Hindus, Muslim:innen und anderen Minderheiten zusammensetzt, gehören in diesem Jahr, Modi als Bedrohung für die Demokratie zu brandmarken und eine Politik gegen Ungleichheit vorzuschlagen, z. B. ein gesetzliches Recht auf einen Ausbildungsplatz, Mindestpreise für Landwirte, Bargeldtransfers in Höhe von 100.000 Rupien an arme Familien und ein Mindestlohn von 400 Rupien pro Tag. Trotz dieser Versprechen bleibt die Kongresspartei eine Partei des Kapitals, was sich in den Positionen der Parteiführung zu Schlüsselfragen wie der Einweihung des Ram Mandir in Ayodhya, der von der Partei vorgeschlagenen Kastenzählung für positive Maßnahmen und der Reaktion auf die Ereignisse vom 7. Oktober zeigt. Darüber hinaus ist das INDIA-Bündnis nach wie vor zersplittert, da eine Reihe von Parteiführer:innen zur BJP übergelaufen ist und andere sich untereinander über verschiedene Themen streiten.

Im letzten Wahlkampf hat die BJP versprochen, Arbeitsplätze für die Millionen von arbeitslosen Inder:innen zu schaffen und das Leben der Massen durch Wohlfahrt zu verbessern. Das hat sie nicht gehalten. Die chronische Arbeitslosigkeit, insbesondere bei jungen Menschen, und die hohe Inflation könnten sich bei den Wahlen gegen die BJP auswirken.

Die indische Linke

Kommunistische Parteien und Gewerkschaften haben in einigen Teilen Indiens immer noch eine gesellschaftliche Basis und hätten mit einem sozialistischen Programm eine Alternative zum Aufstieg der Rechten bieten können. Sie sind jedoch ihrer stalinistischen Tradition der Klassenkollaboration treu geblieben und haben sich dem von der Kongresspartei angeführten Bündnis INDIA angeschlossen. Die Kandidat:innen von INDIA, einschließlich der Stalinist:innen, sind mit der Idee hausieren gegangen, dass die einzige Möglichkeit, die hinduistische NDA-Allianz an der „Zerstörung der Demokratie“ zu hindern, darin besteht, eine INDIA-Regierung zu wählen.

Angesichts der Stärke der Modi-Regierung, ihrer Kontrolle über die repressiven staatlichen Kräfte und des Einsatzes hinduchauvinistischer und halbfaschistischer Kräfte, um die Arbeiter:innenklasse und die Bauern- und Bäuerinnenschaft, religiöse und ethnische Minderheiten, Student:innen und Frauen anzugreifen, sehen viele von ihnen ein solches Bündnis als kleineres Übel gegenüber Modi und als einzige Möglichkeit, die Macht der BJP zu stoppen oder zumindest einzudämmen.

Auf den ersten Blick scheint ein solches klassenübergreifendes Bündnis, das Parteien, die Teile der indischen Bourgeoisie vertreten, und Parteien wie die kommunistischen Parteien, die organisch mit der Arbeiter:innenklasse und den Gewerkschaften verbunden sind, umfasst, die Kräfte gegen den hindunationalistischen Feind zu verstärken. Aber in Wirklichkeit summieren sich die Kräfte der antagonistischen Klassen nicht zu einer stärkeren Kraft, sondern lähmen sich gegenseitig. Genauer gesagt werden sie die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Schichten der Gesellschaft lähmen. Der Kongress als Partei der indischen Bourgeoisie wird einem solchen Bündnis nur zustimmen, wenn die kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sich den bürgerlichen Interessen unterordnen. Eine Kongressregierung würde den Kampf in ihrem eigenen Interesse eindämmen und dadurch die Massenbasis schwächen und demoralisieren. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass INDIA gewinnt, wäre dies also eine Katastrophe für die Arbeiter:innenorganisationen.

Deshalb lehnen wir ein solches Bündnis entschieden ab. Sollte eine INDIA-Regierung an die Macht kommen, wäre es immer noch ein rechtskapitalistisches Regime, das die langjährige Tradition der Kongresspartei fortsetzen würde, neoliberale kapitalistische Politik einzuführen und umzusetzen.

Das Großkapital unterstützt Modi, weil er alle seine Wünsche in Bezug auf die Privatisierung und Angriffe auf die Arbeiter:innenrechte erfüllt hat und das aggressive Ziel verfolgt, Indien als eine Kraft zu etablieren, mit der auf der Weltbühne gerechnet werden muss. Modi würde dieses politische Programm nach seiner Rückkehr an die Macht sicherlich fortsetzen. Das würde auch Rahul Gandhi tun, nur dass er das gleiche Programm in einem sozialdemokratischen Jargon verkaufen würde. Die indische Wirtschaft ist unter diesem Programm gewachsen und das Land ist zu einer Weltmacht aufgestiegen, aber es ist ein „arbeitsloses Wachstum“ geblieben. Nichts davon würde sich unter einer von Gandhi oder Kejriwal geführten Regierung ändern, denn trotz der populistischen Rhetorik über die Beschäftigungskrise und die Inflation teilen die wichtigsten bürgerlichen Oppositionsparteien Modis Abscheu vor den arbeitenden Massen und demokratischen Rechten für die Massen und Minderheiten. Die Anti-Pakistan-Rhetorik, Kejriwals Untätigkeit während des Pogroms in Delhi und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel durch die Kongresspartei in den 1990er Jahren sowie die Tatsache, dass die rechtsextreme Shiv Sena (SHS; Shivajis Armee) Teil dieser Allianz ist, sind nur einige Merkmale dieser „säkularen“ Front. Daher weisen wir die Illusion zurück, dass die indischen Massen für diese Volksfront namens INDIA stimmen sollten, um das Land durch ein kleineres Übel zu schützen.

Der Weg nach vorn

Stattdessen rufen wir die kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und alle sozialen Bewegungen der Student:innen, Frauen, Bauern und Bäuerinnen, der Dalits, der national und religiös Unterdrückten auf, mit ihren bürgerlichen „Verbündeten“ zu brechen und sich auf die kommenden, unvermeidlichen Kämpfe vorzubereiten.

Bei den indischen Wahlen können Koalitionen in jedem Wahlkreis nur eine/n Kandidat:in aufstellen. Wir rufen die Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und alle unterdrückten Menschen Indiens, wie Frauen, sexuelle, religiöse und nationale Minderheiten auf, in Wahlkreisen, in denen ein/e bürgerliche/r Kandidat:in der INDIA-Allianz kandidiert, ungültig zu wählen. In den Wahlkreisen, in denen Kandidat:innen der kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften kandidieren, rufen wir die ausgebeuteten und unterdrückten Massen auf, zu ihren Gunsten zu stimmen, und fordern sie auf, sich auf den kommenden Kampf vorzubereiten.

Eine solcher Aufruf wäre jedoch äußerst kritisch. Das heißt, wir rufen dazu auf, für sie zu stimmen, weil sie sich auf die Unterstützung der Massen der Arbeiter:innenklasse berufen können, zumindest in einer Reihe von Wahlbezirken. Aber gleichzeitig lehnen wir ihre klassenkollaborationistische Politik und ihr reformistisches Programm ab. Die verschiedenen kommunistischen Parteien Indiens haben die Erfahrung gebracht, dass sie arbeiter:innenfreundliche Versprechungen machen, wenn sie nicht an der Macht sind, und dann eine investor:innenfreundliche Politik betreiben, wenn sie durch die Stimmen der Arbeiter:innenklasse an die Macht kommen. Sie waren ihrer Basis gegenüber nie rechenschaftspflichtig und haben wenig getan, um sicherzustellen, dass die Macht den ausgebeuteten und unterdrückten Massen gehört. Das muss sich ändern.

Deshalb rufen wir diese Kandidat:innen und ihre Parteien auf, eine Einheitsfront gegen Angriffe auf demokratische und soziale Rechte zu bilden, die alle unterdrückten Schichten einschließt. In Zeiten zunehmenden rechten Terrors müssen wie Selbstverteidigungsmilizen gegen organisierte faschistische Mobs, Streikbrecher :innen oder staatliche Repression aufbauen. Diese Aufgaben sind notwendig, auch wenn die Führer:innen der reformistischen Arbeiter:innenparteien sie ablehnen. Wir rufen die arbeitenden und unterdrückten Massen auf, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und mit Hilfe der folgenden Forderungen eine Einheitsfront und Selbstverteidigungsmilizen aufzubauen:

  • Nieder mit CAA, NRC! Aufhebung der reaktionären Gesetze: gleiche Rechte für alle, unabhängig von Kaste, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung!

  • Arbeitsplätze für alle! Arbeitszeitverkürzung, um mehr Jobs zu schaffen!

  • Mindestlohn von 20.000 Rupien für alle! Gleitende Lohnskala: für jedes Prozent Inflation 1 % Lohnerhöhung!

  • Subventionen für Bauern und Bäuerinnen! Landumverteilung durch Enteignung der Großgrundbesitzer:innen!

  • Kostenloser Strom, Gas, Lebensmittel und Wohnungen!

  • Von Arbeiter:innen geführte Unterkünfte für Frauen und sexuelle Minderheiten!

  • Freilassung aller politischen Gefangenen einschließlich Umar Khalid und Sharjeel Imam! Aufhebung des Gesetzes zur Verhinderung rechtswidriger Handlungen (Prevention of Unlawful Activities Act)!

  • Freiheit für Kaschmir! Autonomie wiederherstellen, indische Truppen raus aus Kaschmir! Autonomie für alle Staaten im Nordosten!

  • Für eine massive Besteuerung der Reichen und Gewinne! Enteignet die Ambanis, Adanis und andere Reichtumsanhäufer:innen! Nutzt ihren Reichtum unter Kontrolle der Arbeiter:innen um eine allgemeine Gesundheitsversorgung, Arbeitslosenunterstützung und andere Sozialleistungen bereitzustellen!

Solche Forderungen würden zentrale Probleme der Massen ansprechen. Aber sie würden von einer neuen Modi-Regierung und der Kapitalist:innenklasse (und in der Tat auch von einer Kongress-geführten Regierung) als Kriegserklärung angesehen werden. Sie können nur durch entschlossenen Kampf durchgesetzt werden.

In den letzten zehn Jahren haben die Gewerkschaften, die Bauer:innenorganisationen, die Frauen- und Student:innenbewegungen oder der Kampf gegen die CAA und NRC mit mehreren eintägigen Streiks, an denen mehr als 100 Millionen Arbeiter:innen beteiligt waren, gezeigt, dass die sozialen Kräfte, die eine Modi-Regierung letztendlich besiegen könnten, existieren und bereit sind, in großer Zahl auf die Straße zu gehen.

Aber eine solche Bewegung müsste über eintägige, symbolische Streiks oder Massendemonstrationen hinausgehen. Sie müsste eine Bewegung sein, die den indischen Kapitalismus durch Massenstreiks – bis hin zum Generalstreik – durch Besetzungen, Demonstrationen und andere Formen des Massenkampfes zum Stillstand bringen könnte. Eine solche Bewegung müsste nicht nur eine Einheitsfront der Führungen der KPen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sein. Sie müsste vor allem eine Einheitsfront der Massen selbst sein, die sich auf kämpferische Organisationen in den Betrieben, an Schulen und Universitäten stützt. Sie muss auf Aktionsräten in den Fabriken und Büros, in der Stadt und auf dem Land fußen.

Ein solcher Kampf, auch wenn er mit wirtschaftlichen und demokratischen „unmittelbaren“ Forderungen beginnt, könnte sich zu einem Kampf um die Macht entwickeln – zum Teil wegen seiner inneren Dynamik, aber auch wegen der Reaktion, die ihm von einer Modi-Regierung entgegengebracht würde. Daher müsste er auch Selbstverteidigungsorgane schaffen und dafür kämpfen, den Repressionsapparat zu lähmen und schließlich zu zerschlagen, indem er die einfachen Soldat:innen aufruft, Soldat:innenkomitees zu bilden.

Der Traum der Rechtsextremen von der Errichtung eines Ethnostaats, der von einer Hindutvadiktatur geführt wird, kann durch den Kampf der Arbeiter:innenklasse zerschlagen werden, der die Notwendigkeit aufwirft, eine Arbeiter:innenregierung zu schaffen, die sich nicht auf die Institutionen des bürgerlichen Staates stützt, sondern auf die durch den Kampf geschaffenen und entwickelten Organe, d. h. auf die Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine bewaffnete Volksmiliz. Eine solche Regierung würde das Großkapital enteignen und einen Notfallplan einführen, um die Bedürfnisse der Massen zu befriedigen, und sich zu einer zentralen Planwirtschaft entwickeln. Sie würde echte Gleichberechtigung und Chancengleichheit für alle ausgebeuteten und unterdrückten Massen einführen. Um diese Regierung zu bilden, brauchen wir die Arbeiter:innenklasse, die die Führung für eine solche Revolution übernimmt.

Die Führungskrise, die jahrzehntelang unbewältigt blieb, muss durch den Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf einem revolutionären Programm gelöst werden. Wahrer Frieden und Gleichheit für alle können nur durch eine Arbeiter:innenregierung erreicht werden, die den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Südasien aufnimmt. Wir rufen alle Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, Sozialist:innen und Unterdrückten auf, sich uns in dieser Mission anzuschließen und Teil des Aufbaus einer Fünften Internationale zu sein!

Endnoten

[1] https://www.investopedia.com/articles/investing/043015/fundamentals-how-india-makes-its-money.asp

[2] www.imf.org

[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/19/india-modi-and-the-rise-of-the-billionaire-raj/

[4] https://www.aljazeera.com/opinions/2021/2/24/why-the-2020-violence-in-delhi-was-a-pogrom

[5] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/02/what-happened-delhi-was-pogrom/607198/

[6] https://www.aljazeera.com/news/2021/2/23/fear-migration-a-year-after-anti-muslim-violence-in




Vom Widerstand zur Befreiung. Wie kommen wir zu einem sozialistischen Palästina?

Jaqueline Katherina Singh, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, April 2024

Frieden. In Sicherheit zu leben, ohne dass Städte zerbombt werden. Sich frei bewegen zu können, ohne Kontrollen. Eine Möglichkeit zurückzukehren. Die Olivenbäume, die niedergebrannt wurden, wieder pflanzen zu können. Davon träumen viele. Doch was heißt das praktisch und wie kommen wir dahin? Wir wollen im Folgenden erläutern und erklären, was wir meinen, wenn wir für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina eintreten.

Es würde bedeuten, dass alle Bewohner:innen – egal welcher Religion oder Nation, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung oder Geschlecht nicht nur neben-, sondern miteinander leben können. Praktisch würde es bedeuten, dass an Schulen alle Sprachen angeboten würden – ob Hebräisch, Arabisch oder Jiddisch. Und dieses Angebot hört nicht dort auf, sondern erstreckt sich auf alle staatlichen Institutionen und kulturellen Räume. Es würde bedeuten, dass Palästinenser:innen und arabische Israelis nicht von höherer Arbeitslosigkeit betroffen sind, sondern die Arbeit auf alle aufgeteilt wird. Es würde bedeuten, dass in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen Quotierungen eingeführt werden, sodass alle Zugang zu allen Berufen und Bereichen haben und systematische Verarmung verhindert wird. Es würde bedeuten, dass das Rückkehrrecht auch für alle Palästinenser:innen gilt und die Siedler:innenkolonien aufgelöst werden. Dass die Bereiche, die in Schutt und Asche gelegt worden sind, wieder aufgebaut werden und Wasser, Elektrizität, Wärme, Lebensmittel sowie medizinische Versorgung nicht mehr Mangelware sind, sondern nach Bedarf für alle verfügbar – unter Kontrolle der Nutzenden und Arbeitenden.

Im Grunde handelt es sich dabei v. a. um grundlegende demokratische Rechte. Doch die Geschichte von über 75 Jahren Vertreibung und Besatzung seit Gründung des Staates Israel zeigt, dass diese durch Reformen oder die illusionäre Zweistaatenlösung nicht verwirklichbar sind. Dies gilt umso mehr angesichts eines Vernichtungskrieges gegen die Bevölkerung Gazas, einer Bodenoffensive, der bisher rund 40.000 Menschen – in der Mehrzahl Zivilist:innen – zum Opfer gefallen sind. Daher scheint selbst die Verwirklichung von demokratischen Rechten als eine unfassbar weit entfernte Utopie.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Verweigerung ebendieser in die imperialistische Ordnung des Nahen Ostens, wie sie nach 1945 etabliert wurde, in den zionistischen Staat von Beginn an eingeschrieben ist. Eine demokratische Lösung des sog. Nahostkonflikts ist unmöglich, solange Israel als rassistischer Staat existiert. Der Ausschluss und die Vertreibung der Palästinenser:innen sind in seine Existenzweise eingeschrieben. Daher kann er auch nicht reformiert, sondern muss revolutionär zerschlagen und durch einen binationalen sozialistischen Staat ersetzt werden.

Wir müssen dabei streng zwischen dem zionistischen Staat Israel und dem jüdischen Volk unterscheiden. Die Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h. die Berechtigung von Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von Sozialist:innen zu verteidigen. Genauso rückschrittlich ist jedoch auch die Erwartung, dass die Palästinenser:innen als Staatsbürger:innen zweiter Klasse (wenn überhaupt) existieren müssen und sich unterzuordnen zu haben.

Im Folgenden werden uns daher damit beschäftigen, welche Strategie nötig ist, um den heutigen Kampf gegen den völkermörderischen Krieg mit dem für ein sozialistisches Palästina zu verbinden, und wie diese untrennbar mit dem Kampf gegen Zionismus und Imperialismus in der gesamten Region und in den imperialistischen Ländern zusammenhängt.

Grundannahmen

Dabei ist es vollkommen klar, dass im Hier und Jetzt der Kampf für einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Arme und Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen ohne jegliche Kontrollen und Bedingungen durch die Besatzungsmacht im Vordergrund aller Bemühungen stehen muss. Denn die Bomben fordern hier und jetzt ihre Opfer, während gleichzeitig mehr Land in der Westbank annektiert wurde und sich mehr Palästinenser:innen in israelischer Haft befinden als je zuvor. Die Lage scheint manchen aussichtslos, vor allem, da die israelische Offensive in aller Härte mehr als 7 Monate andauert. Doch wir glauben, dass es wichtig ist, nicht nur über eine (dauerhafte) Waffenruhe zu reden. Denn letzten Endes verschafft diese zwar Milderung, aber sie wird nicht die Unterdrückung und Gewalt beenden, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Das heißt nicht, dass man nicht auch für direkte Verbesserungen kämpft – einen sofortigen Rückzug der israelischen Truppen beispielsweise.

Zeitgleich braucht es jedoch darüber hinaus eine Debatte darüber, was ein freies Palästina ist – und wie wir dahin kommen. Deswegen halten wir es für notwendig, dass wir über Taktiken und Strategien diskutieren und versuchen, aus der Vergangenheit zu lernen – um eine Einstaatenlösung mit Rückkehrrecht für die Vertriebenen möglich zu machen. Bevor wir zu konkreten Forderungen und Vorschlägen für die aktuelle Solidaritätsbewegung kommen, wollen wir ein paar Grundannahmen festhalten:

1. These: Der palästinensische Befreiungskampf ist ein internationalistischer. Weder können die aktuelle Situation drastisch verändert noch ein eigener Staat allein aus Palästina oder Israel heraus selbst erkämpft werden.

Es ist klar: Ohne den jahrzehntlangen heroischen Widerstandskampf der palästinensischen Massen wäre der „Konflikt“ längst reaktionär befriedet worden. Daher ist Solidarität mit ihm Voraussetzung für jeden Internationalismus, auch wenn dies keineswegs bedeutet, die Politik der palästinensischen Führungen zu unterstützen. Angesichts der militärischen Übermacht, dem Andauern des Konfliktes und dem aktuellen Kräfteverhältnis vor Ort wird deutlich, dass selbst der entschlossenste Widerstand alleine nicht ausreicht. Da der israelische Staat seitens der USA, Deutschlands und anderer imperialistischer Mächte gestützt wird, braucht es massiven Druck, der nur seitens der internationalen Arbeiter:innenklasse erbracht werden kann. Ob Massenproteste, Solidaritätsstreiks und/oder Boykotte: Die Palette der Möglichkeit ist vielfältig.
Dabei muss auch deutlich werden, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Ob nun beim Kampf in Syrien gegen Assad, in Rojava gegen Erdogan oder in Kaschmir gegen die indische Besatzung – Solidarität mit diesen Bewegungen ist nicht nur eine moralische Frage, sondern ein zentraler, notwendiger Schritt um das Gelingen der jeweiligen Befreiungskämpfe zu sichern.

2. These: Der Kampf für ein freies Palästina kann nur erfolgreich sein, wenn er sich gegen die imperialistische Machtinteressen richtet – und gegen die (ausländische wie einheimische) Bourgeoisie.

Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass eine Zweistaatenlösung nicht möglich ist. Stetiger Kampf um Land sowie Ressourcen sorgt nicht nur für Vertreibung, sondern auch dafür, dass der Zugang zu gewissen Ressourcen für einen Teil limitiert bleiben muss, solange diese Verteilung unter kapitalistischen Verhältnisse stattfindet. So wie zwei Individuen nicht beide zur selben Zeit über exklusives Privateigentum an etwas Gleichem verfügen können, können auch nicht zwei Völker exklusives Eigentum an einem Territorium besitzen. Ebenso kann ein bürgerliches, kapitalistisches Palästina nur möglich sein, wenn sich eine imperialistische Macht dazu entscheidet, als Schutzmacht zu fungieren. Das bedeutet nicht nur Abhängigkeit und Ungewissheit, sondern Ausbeutung der palästinensischen Bevölkerung durch diese – sowie die nationale Kapitalist:innenklasse. Dass das keine Alternative sein kann, zeigen schon jetzt die Auswüchse der Korruption unter PNA (Palästinensische Autonomiebehörde)- und Hamas-Verwaltung.

Die einzige fortschrittliche Lösung ist deshalb das Gemeineigentum, also die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Das heißt: Wenn das Ziel ist, dass vorhandene Ressourcen in der Region unter allen, die dort leben, gleichmäßig aufgeteilt werden sollen, dann bedarf es einer Einstaatenlösung, bei der Produktionsmittel und Boden verstaatlicht werden und unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern stehen. Der Kampf gegen Besatzung, Zionismus und Imperialismus muss also immer aktiv verbunden werden mit dem gegen Ausbeutung. Daraus resultiert, dass der Kampf für ein befreites Palästina einer für ein sozialistisches, für einen binationalen Arbeiter:innenstaat sein sollte – vor Ort und international.

3. These: Keine Befreiung ohne Revolution

Weder Besatzungsmacht noch Kapitalist:innen werden ihre Position friedfertig aufgeben. Das ist dem Großteil der sich im Widerstand befindenden Kräfte klar. Die Taktik des Guerillakriegs baut auf langfristigen Auseinandersetzungen mit einer militärischen Übermacht auf. Doch während die militärischen Anstrengungen vor Ort dafür sorgen können, die Kosten der Besatzung in die Höhe zu treiben – sie alleine können das Morden und systematische Unterdrückung nicht stoppen und limitieren gleichzeitig die eigenen Mittel des Widerstandes.
Statt darauf zu hoffen, dass andere arabische Staaten oder der Iran sich in den Krieg hineinziehen lassen, braucht es vielmehr den Aufbau einer internationalistischen Arbeiter:innenbewegung – die sich auch in ihrem eigenen Interesse aktiv dazu entscheidet, in den Konflikt einzugreifen.

Darüber hinaus hat die 1. Intifada gezeigt, dass Massenproteste der gesamten Bevölkerung das Mittel sind, am effektivsten den zionistischen Staat und seine scheinbare Allmacht erschüttern zu können. Angesichts des Landraubs im Westjordanland, der bewaffneten Siedler:innen, die willkürlich die palästinensischen Bewohner:innen drangsalieren und vertreiben, bedarf es einer revolutionären Massenbewegung, die in einem Massenaufstand mündet. Die Erfahrung zeigt dabei, dass alle großen Bewegungen wie Massenstreiks, Blockaden usw. bewaffneter Selbstverteidigungsorgane bedürfen, um sich gegen die israelische Armee und rassistische und faschistische bewaffnete Siedler:innen zur Wehr setzen zu können.

Eine revolutionäre Bewegung in Palästina und in den umliegenden arabischen Staaten ist zugleich auch entscheidend, um die klassenübergreifende Einheit im zionistischen Staat aufzubrechen. Je stärker der Kampf gegen die imperialistische Ordnung und Besetzung, umso eher werden Teil der jüdischen Arbeiter:innenklasse in Israel ihr Vertrauen in den rassistischen Staat verlieren und für den Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden. Dann hat die Stunde der Revolution geschlagen.

4. These: Eine revolutionäre Partei und Internationale sind notwendig

Um den gemeinsamen Kampf in den verschiedenen Bereichen koordiniert führen zu können, braucht es mehr als Bewegungen, Bündnisse, Kampagnen. Es braucht eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei und Internationale – in Palästina und weltweit. Eine revolutionäre Partei in Palästina würde sich dabei vor allem auf die palästinensischen Lohnabhängigen

stützen müssen. Sie müsste zugleich die antizionistischen Teile der jüdischen Intelligenz und der Arbeiter:innenklasse organisieren, enge Verbindungen zu revolutionären Parteien in den arabischen Staaten und auf der gesamten Welt aufbauen, um den Kampf zu koordinieren.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, gegen den Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der von der Hamas geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der unterdrückenden Macht anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung erwächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende und jede Kollaboration mit der Besatzung. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei Erstere nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie die im Iran, in Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien. Dabei verfolgen wir auch eine Politik, jeden Bruch, jede Spaltung im zionistischen Lager auszunutzen, zu vertiefen und im besten Fall Lohnabhängige vom Zionismus zu brechen.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hegt daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen. Die jüdisch-israelische Arbeiter:innenklasse wird sich – wie jede Klasse, die den Kolonialismus ihrer „eigenen“ Bourgeoisie unterstützt – nur befreien können, wenn sie mit diesem bricht und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkennt.

2. Die Arbeiter:innenklasse im Nahen Osten

Eine zentrale Rolle im Kampf für die Befreiung Palästinas kommt den umliegenden Nachbarländern zu. Schon allein die Millionen palästinensischen Geflüchteten und die zentrale Rolle der Geflüchtetencamps in Jordanien oder im Libanon für den palästinensischen Befreiungskampf zeigen, dass dieser eng mit dem Schicksal der umliegenden Länder verbunden ist. So gab es im Zuge des Vergeltungsschlags Israels gegen die palästinensische Bevölkerung Gazas massive Protestwellen in den umliegenden Ländern. Im Irak, Iran, in Ägypten, Syrien und Jordanien sind Hunderttausende in Solidarität mit den Palästinenser:innen auf die Straße gegangen. Diese Proteste stellen Ansatzpunkte dar, die Arbeiter:innenklasse für revolutionäre Forderungen zu gewinnen.

a) Solidarität mit Palästina heißt Kampf dem Imperialismus!

Gleichzeitig hegen viele die Hoffnung, dass die dort Herrschenden Palästina befreien werden. Doch solchen Illusionen müssen wir entschieden entgegentreten. Weder Nasser oder Chomeini haben Palästina befreit, noch werden es El-Sisi oder Erdogan tun. Ihre Solidarität ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Sie zeigen sich vermeintlich an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes, um die eigene Bevölkerung zu besänftigen. Sie sind weder gewillt, in größerem Umfang palästinensische Geflüchtete aufzunehmen, noch eine wirkliche Konfrontation mit den imperialistischen Schutzmächten Israels zu suchen. Ihre zeitweilige zumindest verbale Konfrontation mit Israel liegt mehr in ihrer Konkurrenz um die Gunst der imperialistischen Länder begründet.

Außer den Huthis im Jemen hat kein Staat wirkliche Angriffe auf die imperialistische Präsenz unternommen. Doch nicht einmal zu einer Verurteilung der Angriffe auf den Jemen und die Huthis können sich sie meisten arabischen Regime durchringen. Ägypten könnte, wenn es denn wollte und bereit zur Konfrontation mit den USA und der EU wäre, den Suezkanal für den internationalen Warenverkehr sperren und so einen massiven wirtschaftlichen Druck auf die imperialistischen Staaten ausüben. Doch statt dessen bringt man sich lieber als „Vermittler“ und Verbündeter ins Geschäft.

Sie verraten den palästinensischen Befreiungskampf, sobald ihrer eigenen Stellung als Herrschende oder ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu den imperialistischen Ländern Gefahr droht, denn ein wirklich befreites, sozialistisches Palästina würde selbstverständlich auch ihr eigenes Ende bedeuten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass neben Ägypten und Jordanien in den letzten Jahren auch weitere Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain die Beziehungen zu Israel normalisiert und es international anerkannt haben. Das heißt: Wir können wir uns im Kampf nur auf Organisationen der Arbeiter:innenklasse verlassen, welche die heuchlerische Solidarität der Herrschenden aufdecken muss.

Deswegen ist ein wichtiger Punkt, den Einfluss imperialistischer Kräfte wie USA, EU, Russland und China auf die Region zurückzudrängen. Während die US-Invasionen der Vergangenheit die heutige Realität maßgeblich prägen, so muss man auch gegen „das kleinere Übel“ kämpfen, wie den russischen Imperialismus, der das Assadregime stützt. Die Praxis zeigt: Russland und China vertreten ihre eigenen imperialistischen Interessen, auch ihre Solidarität mit Palästina kommt über reine Lippenbekenntnisse, um Handelsbeziehungen aufzubessern, nicht hinaus.

  • Stopp aller Wirtschaftsbeziehungen mit, aller Waffenlieferungen an Israel!

  • Für die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel!

  • Für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum!

  • Streiks, Blockaden und Arbeiter:innenboykott, um effektive Sanktionen gegen Israel durchzusetzen und strategische Versorgungsgüter für seine imperialistischen Unterstützer:innen zu blockieren.

b) Solidarität mit Palästina heißt Sturz der eigenen Regime!

Es muss der Zusammenhang aktiv dargestellt werden zwischen dem Leid der palästinensischen Bevölkerung und dem Elend vor Ort. Nicht nur, dass die Regierungen sich weigern, ernsthafte Maßnahmen im Interesse der Palästinenser:innen zu tätigen, sie tragen die Vorherrschaft und Ausbeutung seitens der imperialistischen Mächte aktiv mit – und sorgen so für eine Verelendung der Bevölkerung vor Ort. Doch wie? Ansatzpunkte für den Kampf können beispielsweise die Verschlechterung der Lebensqualität vor Ort und die aktuell sehr hohe Inflationsrate sein. Arbeiter:innen müssen in Protesten Forderungen, wie die gleitende Anpassung der Löhne an die Inflation, aufwerfen und diese mit Streiks durchsetzen.

Die Solidaritätsproteste müssen genutzt werden, aus der aktuellen Defensive zu kommen, die beispielsweise die Militärdiktaturen mit sich gebracht haben. Das schreibt sich leichter als getan, schließlich agieren Revolutionär:innen und Linke vor Ort unter halb- oder illegalen Umständen. Aber gleichzeitig bieten eben diese Proteste, die Möglichkeit, die Organisierungsarbeit wieder aufzunehmen.

Die gemeinsame Organisierung mit palästinensischen Geflüchteten erhöht die Kampfkraft. Diese muss mit der Forderung nach gleichen Löhnen und demokratischen Rechten für alle verbunden werden. Revolutionär:innen müssen dabei für die Öffnung der Grenzen zu Gaza und der Westbank kämpfen und eine Verbindung zum palästinensischen Befreiungskampf suchen.

  • Gegen Inflation! Für eine gleitende Lohnskala: 1 % Lohnzuwachs bei jedem Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten! Wahl von Vertreter:innen aus Betrieben, Elendsvierteln, Arbeiter:innenorganisationen, Frauen, Kleinhändler:innen und Verbraucher:innen zur Ermittlung eines Lebenshaltungskostenindexes für die Arbeiter:innen! Renten/Pensionen müssen gegen Inflation indexiert und vom Staat garantiert werden und dürfen nicht dem Auf und Ab der Aktienbörsen überlassen bleiben!

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Unterdrückungsapparat:

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Weg mit Monarchien, zweiten Kammern, Exekutivpräsident:innen, ungewählten Gerichten und Notstandsgesetzen!

c) Aus Fehlern lernen: Für einen zweiten Arabischen Frühling!

Dabei kann es jedoch nicht stehenbleiben. Es braucht das Aufflammen eines zweiten Arabischen Frühlings, in welchem sich die Arbeiter:innen in den umliegenden Ländern gegen ihre eigenen Unterdrücker:innen organisieren und die Bourgeoisie als herrschende Klasse stürzen. Das heißt auch, aus den existierenden Erfahrungen Lehren zu ziehen.

Nicht nur der Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfs ist in großem Maße davon abhängig, ob es das Proletariat der umliegenden Länder schafft, den Klassenkonflikt zuzuspitzen, eigene demokratische Organe aufzubauen, Industrien unter ihre Kontrolle zu stellen, das Kapital zu enteignen und die Macht zu übernehmen. Auch die eigenen Despot:innen aus ihren Machtpositionen zu jagen, hängt davon ab. Es ist  zentral, dass Arbeiter:innenstrukturen auf eine Doppelmachtsituation hinarbeiten und schließlich die Macht erkämpfen, damit die Aufstände nicht wieder in Militärputschen enden. Dabei müssen Revolutionär:innen die Verbindung der palästinensischen Befreiung mit dem Kampf der Arbeiter:innenklasse in den Nachbarländern aufzeigen und für Solidaritätsstreiks, also politische Streiks eintreten. Hier wird schnell deutlich, dass es nicht nur den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken braucht, sondern auch demokratische Selbstverteidigungsmilizen, um die Kämpfe zu verteidigen. Denn die Herrschenden werden weder massenhafte Aufstände noch Generalstreiks zur Umsetzung politischer Forderungen, geschweige denn den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken freiwillig dulden. Damit massenhafte Aufstände und revolutionäre Situationen nicht im Sande verlaufen oder durch konterrevolutionäre Bewegungen zunichtegemacht werden, braucht es die Kampfkraft der internationalen Arbeiter:innenklasse. Das heißt, auch wir in den imperialistischen Ländern müssen in Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand auf die Straße gehen und den Klassenkampf vor Ort zuspitzen.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen! Enteignung des Großkapitals unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für Regierungen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die sich auf Räte und Milizen stützen und die Wirtschaft auf Grundlage demokratischer Planung reorganisieren. Für die permanente Revolution in Palästina und im Nahen Osten! Für revolutionär-kommunistische Parteien als Teil einer wiedergegründeten Internationale!

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Ob Belgien, Italien oder die Niederlande: Welche positive Rolle die Arbeiter:innenklasse in den westlichen Zentren spielen kann, haben bereits einige Vertreter:innen gezeigt. Sie sind dem Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften nicht nur mit warmen Worten begegnet, sondern mit Taten. Doch wie kann die Kriegstreiberei insgesamt gestoppt werden?

a) Schluss mit der Komplizenschaft: Stoppt die Waffenlieferungen und Unterstützung der Kriegsindustrie!

Der westlichen Arbeiter:innenklasse kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie.

Gegen Repression und für mehr Druck ist es zentral, dass die bestehenden Bewegungen sich koordinieren und gemeinsame Aktionen, Forderungen und Slogans hervorbringen. Dabei stellen Blockaden seitens der Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar. Es braucht aber eine politische Kampagne, die das Verbot jeglicher Waffenexporte und Unterstützung des Krieges in finanzieller Form fordert. Statt Waffen braucht es medizinische Soforthilfe, statt finanzieller Unterstützung der israelischen Kriegsindustrie Mittel zur sofortigen Versorgung der Bevölkerung und zum Wiederaufbau Gazas – unter Kontrolle der Palästinenser:innen selbst, nicht durch irgendwelche NGOs oder Statthalterregime.

  • Schluss mit Komplizenschaft: Für den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen nach und finanzieller Unterstützung an Israel! Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste! Für die Offenlegung aller Verträge!

  • Massive finanzielle Hilfe und Unterstützung ohne Auflagen für den Wiederaufbau der Infrastruktur, des Gesundheits- und Bildungssystems, einschließlich eines Impfprogramms, in Gaza und im Westjordanland, bezahlt von den imperialistischen Mächten!

b) Schluss mit Repression und antimuslimischer Hetze!

Eine weitere Aufgabe bildet der Kampf gegen massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze, die seit Oktober massiv zugenommen haben. Sie versuchen dabei nicht nur, den Widerstand der Palästinenser:innen zu diskreditieren, sondern helfen auch dem weiteren Erstarken von rechten Kräften in den westlichen Staaten. Das heißt: Wir müssen der Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, entschlossen entgegentreten. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt. Ebenso müssen wir gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina einstehen. Wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Antiterrorlisten der EU und USA.

  • Volle demokratische Rechte für alle palästinensischen politischen Organisationen und Vereine! Abschaffung aller sogenannten Antiterrorlisten der USA, EU oder anderer Mächte!
  • Hände weg von der BDS-Kampagne und allen anderen Solidaritätskampagnen für Palästina!
  • Für offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

Revolutionäre Organisation ist notwendig

Der Aufbau einer Massenbewegung, die sich vernetzt und koordiniert, ist mehr als notwendig. Aber um Generalstreiks, Enteignung und die Zerschlagung bürgerlicher Staaten durchzusetzen, braucht es Kräfte innerhalb der Bewegung, die dafür argumentieren und bereit sind, den Kampf aktiv zuzuspitzen. Dies entsteht nicht aus reiner Spontanität. Die historischen Kämpfe der Arbeiter:innenklasse haben gezeigt, dass diese aus sich heraus eher reformistisches Bewusstsein tragen, sich demnach im Kampf spontan eher innerhalb der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bewegen. Das Verständnis für die Notwendigkeit der Zerschlagung des Kapitalismus geht darüber hinaus und muss daher von außen in die Arbeiter:innenklasse hineingetragen werden. Dafür brauchen wir ein revolutionäres Programm, das eine dialektisch-materialistische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen beinhaltet, vergangene und aktuelle Kräfteverhältnisse in den Blick nimmt und daraus entsprechende Strategien und Taktiken entwickelt. Forderungen und Grundannahmen dafür haben wir versucht zu skizzieren. Sie sollen uns Revolutionär:innen als gemeinsame Handlungsgrundlage dienen und als Vermittlung zwischen revolutionärer Theorie und Praxis fungieren. Wichtig dabei ist, dass sie an die spezifischen Situationen der verschiedenen internationalen Kämpfe angepasst werden und an den jeweiligen Gegebenheiten ansetzen. Sie müssen ein System von Übergangsforderungen darstellen, das die Brücke schlagen kann von Minimalforderungen, die theoretisch schon im Kapitalismus umgesetzt werden könnten, über die Grenzen kapitalistischer Herrschaft hinweg und dadurch die soziale Macht von der einen Klasse in die Hände der anderen überführen.

Für uns ist der palästinensische Befreiungskampf kein Selbstzweck. Das stetige Morden, die anhaltende brutale Unterdrückung mögen zeitweilig die Hoffnung rauben, aber die Geschichte ist nicht zu Ende geschrieben. Der Kampf für ein befreites, sozialistisches Palästina ist notwendig für alle Palästinenser:innen, die dort leben, für alle Palästinenser:innen, die zurückkehren wollen – und für all jene, die durch die Fesseln des Imperialismus erdrückt werden.




Linksradikale Bündnispolitik zwischen Sektierertum und Pragmatismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 281, April 2024

Auf den ersten Blick scheint Bündnispolitik eine einfache Sache zu sein. Zwei oder mehr Gruppierungen, Parteien, Organisationen schließlich sich für einen bestimmen gemeinsamen Zweck zusammen. Doch welchen Zweck verfolgen diese Bündnisse eigentlich? Geht es darum, ein bestimmtes gemeinsames Ziel durchzusetzen? Oder darum, eine längerfristige Einheit von „Revolutionär:innen“ in Form eines „revolutionären Bündnisses“ zu schaffen? Mit wem können diese eingegangen werden? Nur mit „Linken“? Mit welchen Klassenkräften? Nur mit der Basis oder auch mit der Führung reformistischer (bürgerlicher) Arbeiter:innenorganisationen? Oder sind für bestimmte Aktivitäten – z. B. im Kampf gegen den Faschismus – für uns sogar alle „Demokrat:innen“ Bündnispartner:innen? Wie weit kann sich ein solches Bündnis erstrecken? Nur für bestimmte Aktionen oder auch den Eintritt in eine Regierung?

Auf diese Fragen geben die verschiedenen Organisationen der deutschen Linken fast ebenso viele Antworten. Auf sich alleine gestellt kann keine linke Kraft etwas durchsetzen. Diese Binsenweisheit betrifft nicht nur die radikale Linke, sondern auch die reformistischen Organisationen (z. B. die Linkspartei), populistische Kräfte wie BSW, linke Sozialdemokrat:innen. Kein Wunder also, dass die Frage nach gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit in der „radikalen“ Linken, die selbst politisch, programmatisch und hinsichtlich ihres Klassenstandpunktes überaus heterogen ist, eng an „Bündnispolitik“ gekoppelt ist.

Und das durchaus mit Recht. Schließlich erfordern die Abwehr grundlegender politischer und wirtschaftlicher Angriffe wie auch die Erringung von Verbesserungen (Reformen) Massenkräfte, über die die radikale Linke schlichtweg nicht verfügt. Ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit stellt im Grunde kein Rätsel dar – und die Lösung desselben besteht nicht darin, dass die „radikale“ Linke für sich stark genug wird, etwas „alleine“ durchzusetzen.

Keine Bündnispolitik ist auch keine Lösung

Der Charme dieser Vorstellung, sofern man davon überhaupt sprechen kann, besteht wohl darin, dass man sich damit sämtliche Fragen von Bündnispolitik mit „nicht-revolutionären“, nicht „antikapitalistischen“ Kräften spart, diese allenfalls auf episodische Aktionen beschränkt und ansonsten hofft, irgendwann einmal so stark zu sein, wenn schon nicht die Welt selbst aus den Angeln heben, so doch seinen eigenen „Freiraum“ oder „Space“ verteidigen zu können.

Ironischerweise ähnelt diese linksradikale Vorstellung dem sozialdemokratischen Gradualismus mehr, als ihr lieb sein kann. So gingen die Parteien der Zweiten Internationale vor dem Ersten Weltkrieg davon aus, dass der Aufbau der eigenen, einheitlichen Arbeiter:innenbewegung schrittweise, aber faktisch unaufhaltsam so vorangehen würde, bis eine expandierende Gewerkschaftsbewegung, eine parlamentarisch und organisatorisch immer stärkere Partei sowie zahlreiche Vorfeldorganisationen dereinst so stark würden, dass  ihnen bei einer tiefen Krise der Gesellschaft die Macht als Mehrheit der Gesellschaft zufiele.

Die Vorstellung, sich selbst durch den Aufbau eigener „Gegenstrukturen“, durch eine „autonome“ Gegenwelt, Kiezarbeit oder den Aufbau „eigener“ Gewerkschaften, unabhängig von existierenden, wenn auch verbürokratisierten und sozialdemokratisch geprägten, aufzubauen und schließlich mehr und mehr „Gebiete“ für sich zu erringen, weiter zu expandieren, reproduziert im Grunde den sozialdemokratischen Gradualismus, wenn auch mit viel verbalradikalem Glitzern.

In beiden Fällen erscheint die Frage der Bündnispolitik und damit des Verhältnisses zu anderen Kräften der Arbeiter:innenbewegung, der gesellschaftlich Unterdrückten wie auch gegenüber klassenübergreifenden Bewegungen, die oft von kleinbürgerlichen oder gar bürgerlichen Kräften dominiert sind, allenfalls als Nebenfrage. „Revolutionäre“ oder „linksradikale“ Politik ist in diesem Kontext letztlich wesentlich selbstreferentiell, fokussiert sich im Grunde auf die Ausdehnung des eigenen Milieus, der eigenen Kiezstrukturen oder, im Falle des Anarchosyndikalismus, der eigenen Gewerkschaft.

Veränderte Lage und Fehler

Doch die Erfahrung zeigt, dass die Angriffe der herrschenden Klasse und der Rechtsruck diese „eigenen“ Strukturen mehr und mehr zurückdrängen. Dies führte dazu, dass viele linksradikale Gruppierungen einen Kurs auf eine „flexiblere“ Bündnispolitik eingeschlagen haben, wobei dann oft genug das selbstreferentielle Sektierertum in sein Gegenteil, nämlich Pragmatismus und Opportunismus, umschlägt. Häufig erleben wir zudem eine Mischung aus beiden Phänomenen.

So stellen sich gerade deutsche Linke, die Bündnisse schmieden wollen, oft nicht so sehr die Frage, welche Kräfte für eine bestimmte gemeinsame Aktion, eine Demonstration gewonnen werden können, sondern wer als möglicher Partner erst gar nicht infrage kommt. Andere wiederum gehen davon aus, dass Bündnisse beinhalten, dass die teilnehmenden Organisationen ihre Differenzen zumindest für dessen Dauer hintanstellen, ihre Partner:innen nicht öffentlich kritisieren.

Zumeist treten diese beiden Fehler kombiniert auf – und zwar nicht nur bei gesellschaftlich wenig relevanten Kleinstaktionen, sondern auch in den wenigen Fällen, wo die radikale Linke wirklich relevante Kampagnen auf die Beine stellt. So z. B. in Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Einerseits verteidigte die politisch maßgebliche Interventionistische Linke dort jahrelang eine Politik, die die Linkspartei nicht nur richtigerweise als Verbündete ins Boot holte, sondern zugleich auch vor jeder Kritik abschirmte. Sie verhielt sich opportunistisch gegenüber dem Reformismus. Gegenüber revolutionären Organisationen wie der Gruppe Arbeiter:innenmacht verhielt sie sich hingegen sektiererisch und führte einen regelrechten Kleinkrieg, um Diskussionen und demokratische Debatten über die Strategie von DWe abzuwürgen. Diese Politik war letztlich mitverantwortlich dafür, dass DWe trotz eines riesigen Abstimmungserfolges und einer breiten Aktivist:innenbasis keine Antwort auf die Taktik des rot-rot-grünen Senats (einschließlich der Linkspartei) hatte, die den Volksentscheid in einer sog. Expert:innenkommission politisch entsorgte.

Bedeutung

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Frage einer korrekten Bündnispolitik keineswegs nur eine von theoretischen Diskussionen ist, sondern trotz der Marginalisierung und geringen Größe der „radikalen Linken“ eine aktuelle darstellt. Daraus folgt die Notwendigkeit, diesen Themenkomplex systematischer zu diskutieren und fassen.

Es zeigt sich dabei, dass der Begriff „Bündnispolitik“ selbst ein oberflächlicher ist. Die Frage nach einer revolutionären Politik gegenüber anderen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung kann letztlich nur beantwortet werden, wenn wir sie im Rahmen des Klassenkampfes, des Kampfes um die sozialistische Revolution und Transformation der Gesellschaft begreifen.

Für Revolutionär:innen folgen die Prinzipien einer korrekten Bündnispolitik aus dem Verständnis des Klassenkampfes sowie des Verhältnisses zu anderen Organisationen der Bewegung der Lohnabhängigen, zu Parteien und Gewerkschaften.

Klasse und revolutionäre Organisation

Die Arbeiter:innenklasse tritt in den Klassenkampf immer schon als historisch geformte. Sie ist nie einheitlich, sondern schon aufgrund der Kapitalbewegung, die ihrer eigenen Formierung den Stempel aufdrückt, in sich differenziert. Hinzu kommt, dass das gesellschaftlich grundlegende Klassenverhältnis immer mit anderen Unterdrückungsverhältnissen verwoben ist und mit diesen reproduziert wird.

Schließlich ist jede Klasse auch ideologisch, politisch und gewerkschaftlich sowie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Klassen geformt. In Deutschland z. B. prägten (und prägen bis heute) der Reformismus der Sozialdemokratie, den die Linkspartei letztlich nur „links“ kopiert, sowie die Gewerkschaftsbürokratie die Arbeiter:innenklasse. Dies beinhaltet auch eine spezifische Form der Trennung zwischen ökonomischen und politischem Kampf. Die radikale Linke war gegenüber diesen Kräften über Jahrzehnte weitestgehend marginalisiert, was auch die relative Stärke kleinbürgerlicher Ideologien in ihren Organisationen erklärt.

Uns geht es an dieser Stelle jedoch nicht um eine detaillierte Analyse der deutschen Arbeiter:innenklasse, sondern vor allem um ein alle kapitalistischen Gesellschaften charakterisierendes Phänomen. Die Lohnabhängigen selbst sind politisch-ideologisch gespalten. Der Kampf gegen das Kapital und für politische Reformen (ganz zu schweigen von der Revolution) erfordert aber in allen seinen Formen eine größtmögliche Einheit. Das wird in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen unmittelbar nachvollziehbar. Kein Streik ist lange durchhaltbar, wenn ihm eine Mehrheit der Arbeiter:innen feindlich gegenübersteht.

Doch wie entsteht diese Einheit? Wären alle oder jedenfalls die überwiegende Mehrheit der Arbeiter:innen in einer revolutionären Partei vereinigt, so würde sich die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Organisationen nicht stellen. Aber diese Phase der alle Lohnabhängigen umfassenden Arbeiter:innenbewegung gab es allenfalls in Ansätzen in der vorimperialistischen Epoche. Mit der grundlegenden und historisch unwiderruflichen Trennung von revolutionär-kommunistischer Arbeiter:innenbewegung und Reformismus als bürgerlicher Kraft in der Arbeiter:innenbewegung, dessen Wurzeln selbst in der imperialistischen Ordnung liegen, ist diese Phase unwiederbringlich vorbei. Die langfristige, strategische Einheit von Revolutionär:innen und Reformist:innen ist in der imperialistischen Epoche utopisch und reaktionär, weil beide letztlich gegensätzliche Klassenstandpunkte vertreten – den Sturz des Kapitalismus oder dessen Verwaltung. Der Reformismus ist nicht einfach ein langsamerer Weg zum sozialistischen Ziel, sondern verteidigt vielmehr in allen entscheidenden großen Klassenkämpfen die bestehende Ordnung.

Doch revolutionäre Politik, also die kommunistischer Parteien (oder von Organisationen, die eine solche aufbauen wollen), kann ihr strategisches Ziel – die sozialistische Revolution und die Errichtung der Diktatur des Proletariats – letztlich nur erreichen, wenn sie die nicht-kommunistischen Arbeiter:innen für den gemeinsamen Kampf gegen das Kapital gewinnt, ihnen praktisch den bürgerlichen Charakter der Politik ihrer reformistischen Führungen vor Augen führt und so deren verräterische Praxis entlarvt.

Strategie und Taktik

Die Kommunistische Internationale hat diese Fragen der „Bündnispolitik“ unter Führung Lenins und Trotzkis beim Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale unter dem Begriff Arbeiter:inneneinheitsfront systematisiert. Dabei überwand sie zahlreiche linksradikale Fehler und Irrtümer, die sich jedoch mit der Degeneration der KI unter Sinowjew sowie unter Stalin wiederholten (z. B. in der sog. Dritten Periode), um schließlich durch die opportunistische Politik der Volksfront ersetzt zu werden.

Für das Verständnis der Einheitsfrontpolitik stellen die Debatten und Beschlüsse der ersten vier Kongresse der KI, Lenins Polemiken gegen den „Linksradikalismus“ sowie Trotzkis Arbeiten zur Einheitsfront (z. B. in den „Schriften über Deutschland“) einen unschätzbaren Fundus dar.

Dabei sind mehrere Punkte von entscheidender Bedeutung. In der KI wurden – anders als in der Zweiten Internationale – Fragen der Taktik im Rahmen der kommunistischen Strategie der Machteroberung des Proletariats systematisch behandelt. Dabei bleibt natürlich die Taktik immer der Strategie untergeordnet, was aber keineswegs bedeutet, dass taktische Fragen einen nebensächlichen Charakter trügen. Vielmehr bleibt das strategische Ziel unerreichbar, wenn der Weg dahin nicht durch eine korrekte Durchführung kommunistischer Taktiken beschritten wird. Ohne diese Konkretisierung und Vermittlung hängt die strategische Zielsetzung im luftleeren Raum, verkommt zu einem bloßen Bekenntnis.

Ziele der Einheitsfront

Für die KI verfolgt die Einheitsfronttaktik zwei Ziele. Einerseits die Herstellung der größtmöglichen Kampfeinheit aller Arbeiter:innenorganisationen. Andererseits die Entlarvung der reformistischen, kleinbürgerlichen, bürokratischen Führungen dieser Organisationen als Agent:innen der Bourgeoisie, die unfähig sind, das Proletariat zum Sieg zu führen.

Eine korrekte Anwendung der Einheitsfronttaktik darf dabei keines der beiden Ziele zum „eigentlichen“ oder gar alleinigen verklären. Eine Einheitsfronttaktik, die nur auf die Denunziation des Reformismus zielt, beispielsweise indem Forderungen zur Vorbedingung für den gemeinsamen Kampf gemacht werden, die reformistische Arbeiter:innen und Führer:innen ablehnen, weil sie Reformist:innen sind, ist nutzlos und schadet mehr, als sie nützt. So macht es keinen Sinn, die reformistischen Führungen dadurch vorzuführen zu wollen, dass man den Kampf für die Diktatur des Proletariats oder sozialistische Revolution zum „Programm der Einheitsfront“ machen will. Dies wird vielmehr von Führung wie Basis des Reformismus als Ultimatum begriffen werden. Es macht das Ziel der Einheitsfronttaktik – nämlich die reformistischen Arbeiter:innen durch die gemeinsame Aktion oder das Angebot dafür von der Untauglichkeit des Reformismus zu überzeugen – letztlich zur Vorbedingung für die Einheitsfront.

Ein umgekehrter Fehler bestände jedoch darin, einen Einheitsfrontvorschlag immer nur darauf zu begrenzen, was für die reformistischen Führungen annehmbar ist. So wäre es z. B. ein schwerer Fehler gewesen, im Kampf gegen die Rentenreform Macrons, einen Generalangriff auf die gesamte Arbeiter:innenklasse, dessen Abwehr einen Generalstreik erfordert hätte, auf die Generalstreiklosung zu verzichten oder diese nicht an die Führungen der Gewerkschaften zu richten, weil diese ja ohnehin dagegen wären. Kommunist:innen müssen vielmehr einen Einheitsfrontvorschlag für ein bestimmtes Ziel – in diesem Fall die Abwehr der Rentenkürzungen – damit verbinden, Kampfmethoden vorzuschlagen, die für sein Erreichen notwendig sind.

Es geht also nicht darum, immer die radikalste Aktionsform vorzuschlagen, sondern eine, die einem bestimmten Ziel angemessen ist. So wäre es z. B. albern, in jedem Tarifkampf auch gleich den Generalstreik zu fordern. Damit würden nicht die Bürokrat:innen entlarvt. Vielmehr erschienen die Revolutionär:innen in den Augen der Arbeiter:innen nur als Maulheld:innen und unverantwortliche Abenteuer:innen.

Führung und Basis

In jedem Fall ist es aber von grundlegender Bedeutung, Einheitsfrontangebote und Forderungen nicht nur an die Führungen der reformistischen Arbeiter:innenorganisationen, sondern auch an deren Basis zu richten. Umgekehrt stellt ein Vorschlag, der sich nur an die Basis richtet, die sog. „Einheitsfront von unten“, selbst einen ultimatistischen Bruch mit der gesamten Taktik dar. Ähnlich wie rein denunziatorische „Angebote“ setzt die Forderung an die Mitglieder der Linkspartei oder der SPD oder jeder anderen bürgerlichen Arbeiter:innenorganisation, ohne ihre Führung, ohne ihre Partei in ein Bündnis einzutreten, im Grunde den Bruch mit ihrer Organisation voraus.

Schließlich geht es auch darum, der jeweiligen Einheitsfront angemessene Formen zur Organisierung des Kampfes vorzuschlagen. So wäre es z. B. bei Streikkämpfen immer notwendig, die Frage von Belegschafts- und Abteilungsversammlungen sowie der Wahl und Abwählbarkeit von Streikkomitees aufzuwerfen, gewissermaßen der Basisstrukturen der Einheitsfront.

Unterschiedliche Formen

Da die Arbeiter:inneneinheitsfront sehr viele Formen annehmen kann, von einmaligen Aktionen (z. B. eine Solidaritätsdemonstration) bis hin zu längerfristig angelegten Formen (z. B. die Arbeiter:inneneinheitsfront gegen Faschismus, Aufbau von Selbstverteidigungsorganen) und sie zudem in sehr verschiedenen Klassenkampfsituationen angewandt wird, gibt es kein festgelegtes Programm dafür. Um welche Forderungen eine solche gebildet werden soll und was dabei im Vordergrund steht, hängt vielmehr von der Klassenkampfsituation ab. In jedem Fall sollten Revolutionär:innen die Einheitsfront auf den Kampf um klar umrissene, konkrete Ziele und Forderungen konzentrieren, ja beschränken.

Das Ziel der Einheitsfront bzw. der Anwendung der Einheitsfronttaktik besteht nicht darin, einen möglichst langen Katalog gemeinsamer Ziele zu formulieren, sondern darin, eine verbindliche und überprüfbare Aktion durchzuführen. Weniger ist hier in der Regel besser. Lange Forderungskataloge, die neben den eigentlichen Aktionszielen zahlreiche andere an sich wünschenswerte, gar radikale, antikapitalistische Formulierungen enthalten, bringen die Aktion nicht weiter. Entweder liefern sie den Reformist:innen einen Vorwand, sich nicht zu beteiligen. Oder sie erlauben ihnen, sich durch verbale Bekenntnisse als linker hinzustellen, als sie sind. Hier schlägt die Absicht, einen radikalen Aufruf zu verbreiten, ungewollt in eine politische Hilfeleistung für den Reformismus um.

Massenorganisationen

Entscheidend bei der Einheitsfronttaktik ist schließlich auch, dass sie sich an Massenorganisationen richtet. Für die KI bezog sie sich vor allem auf die reformistischen, sozialchauvinistischen Parteien und die von ihnen geführten Gewerkschaften. Die Einheitsfront ist ausdrücklich kein Personenbündnis oder eine Sammlung möglichst vieler Individuen. Die Tatsache, dass die Einheitsfront auch erklärten Feind:innen der Revolution vorgeschlagen wird und mit ihnen eingegangen werden kann und soll, führte und führt immer wieder zu Vorbehalten gegenüber dieser Taktik. Schließlich hatte die deutsche Sozialdemokratie nicht nur den imperialistischen Krieg unterstützt, sondern maßgeblich zur Niederschlagung der Revolution samt der Ermordung von Luxemburg, Liebknecht und Tausender revolutionärer Arbeiter:innen beigetragen. Diese Kritik, so die KI, dürfen Revolutionär:innen natürlich nie verschweigen. Aber die Frage der Einheitsfront, die, so Lenin, auch mit des Teufels Großmutter möglich wäre, wenn sie eine verbürgerlichte, proimperialistische Arbeiter:innenpartei führen würde, bezieht sich letztlich darauf, wie Kommunist:innen die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und vor allem ihren reformistischen Teil für ihre Programmatik gewinnen können. Wie lange die Taktik notwendig bleibt, hängt nicht davon ab, wie viele Verbrechen die reformistischen Führungen schon begangen haben, sondern davon, wie lange sie sich einen Einfluss über einen bedeutenden Teil der Arbeiter:innenklasse bewahren können.

Wenn wir diese historischen Lehren heute anwenden wollen, so müssen wir auch verstehen, dass die Grundprinzipien der Einheitsfrontmethode für kommunistische Parteien, nicht für Propagandagruppen entwickelt wurden. Eine Arbeiter:inneneinheitsfront im eigentlichen Sinn ist ein Abkommen zwischen revolutionären und reformistischen Massenorganisationen, nicht zwischen kleinen Gruppen. Denn nur Erstere sind in der Lage, auch wirklich die gemeinsamen Ziele gegenüber dem Klassenfeind durchzusetzen, weil sie – im Gegensatz zu kleinen Gruppen – über die dazu nötigen Machtmittel verfügen.

Der KI war darüber hinaus bewusst, dass die Reformist:innen in der großen Mehrzahl der Fälle eine Einheitsfront erst gar nicht eingehen würden, dass ihre Führungen es vorziehen, den Kampf zu hintertreiben oder mit offen bürgerlichen Kräften zu paktieren, statt mit den Kommunist:innen gemeinsame Sache zu machen. Darin drückt sich die vom reformistischen Standpunkt aus durchaus nachvollziehbare, antirevolutionäre Position aus, dass der gemeinsame Kampf mit Kommunist:innen die reformistischen Arbeiter:innen deren Argumenten stärker aussetzt, die Kommunist:innen den Unmut der reformistischen Arbeiter:innen aufgreifen. Daher antworteten sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaftsführungen in der Geschichte oft ablehnend auf kommunistische Einheitsfrontangebote. Doch dieses Nichtzustandekommen macht die Taktik keineswegs nutzlos, vielmehr erstreckt sie sich auch auf diesen vorbereitenden Weg. Lehnen nämlich die reformistischen Führer:innen einen in den Augen der reformistischen Arbeiter:innen vernünftigen und ernsthaften Vorschlag ab (oder gehen sie gar repressiv gegen Mitglieder vor, die für die Einheitsfront eintreten), so nützt auch das den Kommunist:innen.

Umgekehrt kann eine Einheitsfront von Kommunist:innen auf keinen Fall zurückgewiesen werden, weil die Reformist:innen bei einem erfolgreichen Kampf auch an Einfluss gewinnen könnten. In manchen Fällen mag das durchaus der Fall sein. Doch kommt dies einem klassenpolitischen Tunnelblick gleich, zumal in Krisenperioden. Nehmen wir einmal an, die Gewerkschaftsbürokratie würde unter dem Druck von unten und einer sich formierenden klassenkämpferischen Opposition einen erfolgreichen Streik führen müssen und echte Lohnzuwächse oder eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich erzielen. Das Prestige dieser Führung würde steigen, eventuell auch die Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems, weil man ja eine erfolgreiche Reform durchgesetzt hat.

Aber es würde auch das Selbstvertrauen und -bewusstsein der Arbeiter:innen in diesem Wirtschaftszweig sowie der gesamten Klasse heben. Gleichzeitig würde sich die herrschende Klasse, die ohnedies unter verschärfter globaler Konkurrenz steht, mit einem solchen Abkommen nicht abfinden wollen, sondern möglichst rasch versuchen, den Erfolg rückgängig zu machen und den Arbeiter:innen eine Niederlage beizufügen. Die reformistischen Führer:innen würden so von allen Seiten unter Druck geraten und die Aufgabe der Revolutionär:innen bestünde darin, diesen durch eine systematische Einheitsfrontpolitik zu verstärken und die Arbeiter:innen auf die nächste Runde des Kampfes vorzubereiten. Denn auch wenn reformistische und bürokratische Führungen durchaus an der Spitze erfolgreicher Teilkämpfe stehen können, so lässt die aktuelle Lage nicht zu, dass sich ein längerfristiges System des sozialpartnerschaftlichen „Klassenausgleichs“ wieder stabilisiert.

Und genau darin – diese Teilkämpfe als Teil eines längerfristigen Ringens um den Sozialismus zu begreifen und führen – unterscheidet sich die revolutionäre von der reformistischen Strategie. In diesem Kontext bildet die Einheitsfronttaktik historisch wie aktuell ein unerlässliches Mittel des Kampfes für die Revolution.

Zu Recht wurde die Einheitsfrontmethode oft mit der militärischen Metapher „Getrennt marschieren – vereint schlagen!“ zusammengefasst. Sie stellt eine flexible, sehr variantenreiche Taktik der gemeinsamen, einheitlichen Aktion gegen den Klassenfeind dar. Zugleich erfordert sie jedoch unbedingt, dass Revolutionär:innen in keiner Phase – auch nicht in der gemeinsamen Aktion – ihre eigentlichen Ziele vor den Massen verbergen und auf die notwendige und berechtigte Kritik an nicht-revolutionären Verbündeten verzichten. Einheitsfront und Propagandafreiheit müssen vielmehr Hand in Hand gehen. Nur so können die beiden Ziele dieser Taktik – größtmögliche Einheit gegen das Kapital und Entlarvung der reformistischen Führungen – erreicht werden. Nur so kann die Taktik als unerlässliches Werkzeug zum Aufbau einer revolutionären Partei fungieren.

Anhang: Einheitsfront und Propagandagruppen

Die Einheitsfronttaktik im eigentlichen Sinn ist die einer kommunistischen Partei gegenüber Massenorganisationen. In Deutschland befindet sich die radikale Linke seit Jahren in einem Zustand der Marginalisierung, der es ihr in der Regel verunmöglicht, Massenorganisationen unter Druck zu setzen oder gar zur Aktion zu zwingen. Dies ist allenfalls möglich, wenn es größere gesellschaftliche Bewegungen gibt und kleinere Gruppen ihre Kräfte bündeln, um Druck auf Massenorganisationen für bestimmte, spezifische Forderungen auszuüben.

Unabhängig davon besteht für Vorformen revolutionärer Organisationen auch immer die Pflicht zu skizzieren, welche Taktiken, welche Bündnisse, welche Forderungen und Aktionsformen notwendig wären, um zentrale gesellschaftliche Kämpfe zum Erfolg zu führen. Das schließt notwendigerweise die Propagierung der Einheitsfronttaktik ein, d. h. eine Skizze, welche Massenkräfte in Bewegung gesetzt, welche Forderungen gegenüber bestehenden Massenorganisationen erhoben werden müssen, um diese in Bewegung zu bringen. Ansonsten bleibt die Propaganda letztlich abstrakt. Die Erarbeitung und Herleitung eines richtigen Verständnisses der Einheitsfrontpolitik ist selbst ein unerlässlicher Bestandteil dieser Arbeit.

Die deutsche radikale Linke will davon in der Regel jedoch nichts wissen. Das spiegelt selbst die Isolierung von der Arbeiter:innenklasse wider, die sich nicht nur auf politischer, sondern auch auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene offenbart. Hinzu kommt, dass ein Teil der Linken dieses Problem durch Anpassung an die Apparate (Entrismus in DIE LINKE, Posten in den unteren Rängen der Gewerkschaftsbürokratie, Versorgungsposten in der akademischen Welt) löst. Dies gilt anderen Teilen der Linken durchaus nachvollziehbar als abschreckendes Beispiel.

Daher verfällt ein anderer, scheinbar radikalerer Teil der deutschen Linken auf den ultralinken Fehler, am liebsten Bündnisse mit sich selbst zu machen, bis hin zu sog. „revolutionären Bündnissen“. Für die Tradition der KI stellen diese eigentlich ein Unding dar, bezieht sich doch das eigentliche Problem der gesamten Einheitsfrontpolitik auf das Verhältnis von revolutionären zu nicht-revolutionären, bürgerlichen, letztlich oft konterrevolutionären Arbeiter:innenorganisationen.

Nehmen wir das „revolutionäre“, „linksradikale“ Bündnis beim Wort, so handelt es sich um keine Einheitsfront. Sollte sich ein solches Bündnis als revolutionär bezeichnen, so wirft das unmittelbar die Frage auf, was eigentlich „revolutionär“ bedeutet. Sollte es wirklich so viele Gemeinsamkeiten geben, dass Übereinstimmung nicht nur bezüglich des allgemeinen Zieles, sondern auch zu vielen grundlegenden theoretischen Fragen, zur Einschätzung der Weltlage, zu programmatischen und taktischen Schlüsselfragen (Krieg, Krise, Taktik gegenüber Gewerkschaften und anderen Arbeiter:innenorganisationen, sozialer Unterdrückung, Übergangsmethode usw.) besteht, so müssten sich die in einem solchen Bündnis versammelten Gruppen nicht die Frage nach einem Bündnis, sondern nach einer programmatischen Diskussion mit den Ziel der revolutionären Vereinigung stellen.

Ein Blick auf die meisten „radikalen“ oder „antikapitalistischen“ Bündnisse zeigt aber, dass die Gruppen darin im Grund nur ein Bekenntnis zur „Revolution“ oder einer „anderen Gesellschaft“ eint, ansonsten aber grundlegende Differenzen vorherrschen. Es handelt sich um eine Pseudoeinheit, die weder für den konkreten Kampf hilfreich ist noch zur politischen Klärung beiträgt. Im schlimmsten Fall ist es ein politisches Stillhalteabkommen, bei dem falsche Programmatik und Politik der „Bündnispartner:innen“ nicht weiter kritisiert werden.

Im Grunde legen alle solche Bündnisse immer eine Tendenz zu einem Propagandablock und politischen Stillhalteabkommen politisch-ideologisch weit entfernter oder gar gegensätzlicher Gruppen an den Tag. Sie werden direkt kontraproduktiv für den Klassenkampf und daher für Kommunist:innen unzulässig, wenn sie sich als Alternative zur Gewinnung von Massenorganisationen für den Kampf betrachten.

Bündnisse und Initiativen auch kleiner linker Gruppen können jedoch eine fortschrittliche Rolle spielen, wenn sie nicht einfach das bleiben wollen, was sie sind. So waren verschiedene kleinere linke Gruppen und die Gewerkschaftslinke Anfang des Jahrhunderts im Anschluss an die Bewegung gegen Hartz IV in Aktionskonferenzen in der Lage, große Proteste gegen die Angriffe der Regierung Schröder/Fischer zu organisieren. Diese mündeten in einer bundesweiten Demo gegen Sozialabbau mit 100.000 Teilnehmer:innen, die ihrerseits den DGB zu regionalen Demonstrationen mit weit über eine halben Million Gewerkschafter:innen zwang, wenn auch nur einmalig. Auch die Bildungsstreikbewegung ging ursprünglich von kleineren Gruppen und Bündnissen aus, zwang aber Student:innenvertretungen und größere Organisationen zu Mobilisierungen, an denen sich bundesweit weit mehr als 100.000 Jugendliche beteiligten.

Ein weiteres, wenn auch weniger spektakuläres Beispiel dafür sind klassenkämpferische Blöcke am Ersten Mai. Sie stellen Mittel dar, um einen gewissen Einfluss auf gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen zu nehmen und diese mit einer weitergehenden Perspektive zu konfrontieren. Daher arbeiten wir auch in der VKG, die selbst sowohl Züge eines linken Bündnisses trägt, zugleich aber den Keim einer klassenkämpferischen Basisbewegung, einer Art Einheitsfront gegen die Bürokratie in den Betrieben und Gewerkschaften darstellt. In dem Maße, in dem sie die Gewinnung der Massenorganisationen der Arbeiter:innen für die jeweiligen Ziele des Kampfes in den Vordergrund rücken und, wie im Falle der VKG, die klassenkämpferische, antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften, können auch Bündnisse von Propagandagruppen als Formen der Einheitsfront verstanden werden. Es muss aber immer bewusst sein, dass diese Miniaturfronten nur einen schwachen Keim dafür pflanzen können. Unter dieser Voraussetzung aber können sie zum wirklichen Mittel geraten, damit auch kleine Gruppierungen in der Lage sind, Massenkräfte in die Aktion zu zwingen, sodass die Keimform zum Mittel wird, wirkliche Einheitsfronten der Arbeiter:innen und Unterdrückten herzustellen. Dadurch können auch kämpfende Propagandagruppen einen Faktor bei größeren Mobilisierungen darstellen und eine aktive Rolle darin spielen.




Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




Defender 2024: Nur wer übt, wird kriegstüchtig

Linda Loony, Infomail 1248, 15. März 2024

„Kriegstüchtig“ und zum „Rückgrat der Abschreckung“ müsse die Bundeswehr lt. Verteidigungsminister Pistorius wieder werden. Dafür legt sich die Truppe zur Zeit mächtig ins Zeug.

Das „Steadfast Defender“-Manöver der NATO (STDE24/SD24; deutsch: standhafte Verteidigung), aktuell im Gange, markiert die größte militärische Übung des Bündnisses seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren. Die Simulation eines Konfliktszenarios mit Russland als potenziellem Gegner an der Ostflanke ist keine bloße Übung, sondern eine ernsthafte Vorbereitung. Denn nach Einschätzungen der Bundeswehr könnte Russland in wenigen Jahren bereit sein, einen Krieg gegen die NATO zu führen – und darauf will sich das Bündnis vorbereiten, indem die eigene Angriffsfähigkeit demonstriert und geübt wird.

Doch der Aufschrei in Bevölkerung und Medien scheint im kollektiven Halse steckengeblieben zu sein. Auf der Straße gibt es keine Großdemonstrationen gegen Krieg und Aufrüstung, die Berichterstattung über das Manöver und seine Ziele ist begrenzt und im Betrieb oder Freund:innenkreis dürften die wenigsten bisher darüber in Diskussionen geraten sein. Laut einer Bevölkerungsumfrage mit rund 2.200 Personen sind 70 % überzeugt, dass Deutschland weiterhin der NATO angehören muss, 65 % befürworten die finanziellen Zusagen an sie. Die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke werden ebenfalls überwiegend unterstützt.

Die Einstellung zur Bündnisverteidigung hängt jedoch stark von der Wahrnehmung Russlands als Bedrohung der „Freiheit“ ab, also wie sehr die NATO-Ideologie verfängt, dass es sich nicht um einen immer schärferen innerimperialistischen Gegensatz handeln würde, sondern um einen Konflikt zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“. Zweifellos wirkt diese Darstellung besonders angesichts der imperialistischen Aggression und Besatzung Russlands gegenüber der Ukraine. Der Kenntnisstand über die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke selbst ist jedoch eher gering (1). Dabei rasseln die Säbel in Europa so laut wie lange nicht mehr.

Dieser Artikel soll zunächst einen Überblick über das aktuell laufende Steadfast Defender- Manöver der NATO geben. Im Anschluss wird eine globale politische Einordnung vorgenommen. Abschließend beschäftigt sich der Artikel mit der Frage der Programmatik, für die die Arbeiter:innenklasse in diesen Zeiten gewonnen werden muss.

Alle machen mit

Die Teilnahme an diesem gigantischen Manöver erstreckt sich über alle 32 NATO-Mitgliedsstaaten. Ziel ist es, die Alarmierung nach dem Bündnisfall zu üben, sich auf den Einsatz vorzubereiten, Truppen in die Einsatzräume zu verlegen und letztlich „den Aggressor im Gefecht abzuwehren“ (2). Mit einer Stärke von 90.000 Soldat:innen soll die NATO ihre Schlagkraft demonstrieren und Russland zugleich vor Augen führen, welche Konsequenzen ein Angriff auf das Bündnisgebiet haben würde. Abschreckung ist das erklärte Ziel an der NATO-Ostflanke.

Das Manöver erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Monaten und umfasst verschiedene Übungen: Grand North, Grand Center, Grand South und schließlich die Abschlussübung Grand Quadriga. Dabei operiert die Bundeswehr nicht nur in Deutschland, sondern auch in Norwegen, Polen, Ungarn, Rumänien und Litauen. Diese umfangreiche Präsenz verdeutlicht, dass es nicht nur um eine regionale Verteidigungsübung geht, sondern um eine Koordination auf internationaler Ebene.

Der Menschen- und Materialeinsatz ist beeindruckend: Rund 90.000 Soldat:innen, 50 Marineschiffe, 80 Flugzeuge und über 1.100 Kampffahrzeuge werden mobilisiert. Die Bundeswehr ist mit ihrem Manöver Quadriga 24 Teil der NATO-Operation. Generalinspekteur Breuer betont die Bedeutung Deutschlands als Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung Europas (3). Quadriga 24 beinhaltet die Verlegung von Militärkonvois in vier Teilmanövern zu unterschiedlichen Zeiten, und es handelt sich um die größte Übung deutscher Landstreitkräfte seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Mit 12.000 Soldat:innen, 3.000 Fahrzeugen und 30 Luftfahrzeugen ist dies ein beachtliches Aufgebot.

Der Gegner Russland

Seit zwei Jahren tobt nun ein heißer Krieg in der Ukraine. Dies hat die Konfrontation zwischen den westlichen Imperialismen und ihrem russischen Gegenspieler in einem Maß verschärft, das es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Obwohl keine kämpfenden Einheiten der NATO direkt involviert sind, wurden und werden die ukrainischen Streitkräfte vor und während des Krieges massiv ausgerüstet. Die Unterstützung umfasst Waffen, Logistik, Informationsdienste und Ausbildung an modernen Waffensystemen. Die gelieferte Ausrüstung stammt aus westlichen Armeen, begleitet von einer Modernisierung der eigenen Rüstungsindustrie.

Der westliche Imperialismus hat sich dabei hierzulande die moralische Deutungshoheit über die Kriegssituation gesichert: Russland als undemokratischer, reaktionärer Staat greift die Ukraine an und bedroht damit den Frieden, die Freiheit und Demokratie in ganz Europa, während der Westen nur als selbstloser Helfer agiere. Auch wenn die Selbstverteidigung der Ukraine gegen die Invasion berechtigt ist und es zynisch wäre, den ukrainischen Massen vorzumachen, dass es egal wäre, ob ihr Land besetzt wird oder nicht, so geht es der NATO und der Bundesrepublik darum, selbst die Kontrolle über möglichst große Teile der Ukraine zu erlangen, diese als ihr Ausbeutungs- und Investitionsgebiet zu sichern und die NATO selbst nach Osten auszudehnen.

Dies soll demnach auch sämtliche Aufrüstungsprogramme der NATO legitimieren und dient den Herrschenden als Propagandamittel. Die Moral des westlichen Imperialismus bei der Verurteilung despotischer Regierungen wird aufmerksamen Beobachter:innen jedoch als recht dehnbar auffallen, denn sie hängt lediglich von der Nützlichkeit des betreffenden Staates für die Umsetzung eigener nationaler Interessen ab. So hat die EU weniger Probleme damit, den autoritären Staat Türkei im Krieg gegen die Kurd:innen gewähren zu lassen, denn schließlich hält dieser Massen geflüchteter Menschen zurück, die anderenfalls potenziell Zuflucht hinter der Mauer der Festung Europa suchen würden. Sie haben offenkundig auch kein Problem damit, die Bombardierung Gazas politisch und militärisch zu unterstützen – denn schließlich verteidigt das zionistische Regime westliche imperialistische Interessen.

Diese propagierte moralische Notwendigkeit der Verteidigung schmeckt jedenfalls deutlich besser, als würde offen propagiert werden, dass seit jeher der westliche wie auch der russische Imperialismus jeweils ihre eigenen geopolitischen und damit ökonomischen Interessen verfolgen, die nun in der Einflusssphäre Ukraine kollidieren. Das bedeutet, der Konflikt geht nicht nur darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern er ist zugleich mit der Frage verwoben, ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute sowohl Schauplatz eines Kampfes gegen die russische Invasion wie zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Neuaufteilung der Welt.

Der Kampf um Einflusssphären

Die NATO verfolgt seit den 1990er Jahren das Projekt der Erweiterung ihrer Mitgliedsstaaten und Einflussgebiete nach Osten. Die Aufnahme Nordmazedoniens im Jahr 2020 bildet die vorläufig letzte Etappe der Integration ehemaliger „sozialistischer Länder“. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde dann deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland sagte im Juni 2023 zu, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zurzeit sind rund 40.000 NATO-Soldat:innen in Osteuropa stationiert.

Russland wiederum erlebt dadurch seit jeher eine Bedrohung seiner eigenen Einflusssphären und forderte darüber hinaus als Reaktionen auf bevorstehende oder mögliche Beitritte immer wieder die militärische Neutralität von Staaten in Ost- und Südosteuropa als „Pufferzonen“ zwischen sich und der NATO ein. Hier ist ersichtlich, dass Russland umgekehrt die NATO als Angreiferin auf seine Souveränität und Sicherheit propagiert und auf Nationalismus als ideologisches Bindeglied setzt. Russland reagiert außerdem auf diese Aktivitäten seinerseits mit provokanten Manövern.

Hieraus wird deutlich, dass die militärische Mobilmachung des westlichen Imperialismus keine unmittelbare Folge des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine darstellt, sondern vielmehr eine fortbestehende Notwendigkeit im Kampf um Einflusssphären ist. Es wird ebenso deutlich, dass selbst ein Ende des Krieges in der Ukraine nicht das der Aufrüstung bedeuten würde, denn ein kriegsfähiges Militär ist essenziell im Konkurrenzkampf imperialistischer Staaten um die Ausbeutungshoheit über ihre Halbkolonien (4).

Kriegsvorbereitung

Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt der westliche Imperialismus über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome, die die Arbeiter:innenklasse zu spüren bekommt, Russland in die Schuhe zu schieben und damit auch wirtschaftliche Angriffe auf soziale Errungenschaften der Lohnabhängigen als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen. So stimmte beispielsweise die Führung der IG Metall als gewerkschaftliche Vertretung in der deutschen Rüstungsindustrie in ihrem Positionspapier zur Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Januar 2024 in den Tenor ein und unterstrich ihrerseits, dass sie die Aufrüstungsziele der Bundesregierung unterstütze. Die Gewerkschaft stellt die so gewonnenen bzw. erhaltenen Arbeitsplätze als Errungenschaft heraus und erklärt, Waffenexporte zu unterstützen. Die Gewerkschaftsbürokratie bewegt sich hier also vollständig auf Kurs der deutschen Bourgeoisie.

Auch die reformistische SPD stellt sich nicht gegen das Mantra der Aufrüstung, während DIE LINKE nicht so recht weiß, ob sie für oder gegen eine solche „Sicherheitspolitik“ sein soll. Während sie auf Parteitagen immer noch ein Bekenntnis zum „Frieden“ abgibt, verstoßen Parlamentarier:innen und Funktionär:innen vom rechten, „regierungssozialistischen“ Flügel immer wieder gegen diese Beschlüsse. In der Praxis fällt DIE LINKE vor allem dadurch auf, dass sie der Kriegsfrage möglichst aus dem Wege geht.

Jedoch ergaben sich auch kürzlich Konflikte innerhalb der Herrschenden darüber, welche der Zugeständnisse an die Lohnabhängigen für die Aufrüstungspläne gestrichen werden sollen. So hatte die SPD den Vorschlag des FDP-Vorsitzenden und Finanzministers Lindner kritisiert, bei denen das Sondervermögen für die Aufrüstung durch Einsparungen in den Sozialleistungen gedeckt werden sollte. Doch dieses kleinen Aufbegehren der Reformist:innen darf nicht als wahrer Einsatz für die Arbeiter:innenklasse verkannt werden, denn sowohl die SPD als auch die Grünen befürworten und gestalten die aktuelle Aufrüstungspolitik.

Welche Bewegung?

Laut der bereits zitierten Bevölkerungsumfrage sprach sich letztes Jahr über die Hälfte der Befragten weiterhin für eine Erhöhung des Verteidigungsetats, eine Aufstockung der Soldat:innen und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus. Nur 8 % plädieren für eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben und des Personals.

Die ideologische Mobilmachung scheint zu fruchten: Bürgerliche Arbeiter:innenparteien wie die SPD und Gewerkschaftsführungen (und in Teilen auch die Linkspartei) tragen die Staatsraison mit und versuchen, die Lohnabhängigen durch kurzfristige ökonomische Argumente sowie durch den Kampf für das vermeintlich moralisch „richtige“ Ziel zu binden, also die Verteidigung westlicher Freiheit und Demokratie.

Für revolutionäre Kräfte gilt es, den Widerspruch zwischen den Zielen der Bourgeoisie und dem objektiven Interesse der Lohnabhängigen aufzuzeigen, und das nicht nur durch symbolische Aktionen auf der Straße. Es muss ein politischer und ideologischer Kampf in der Arbeiter:innenbewegung geführt werden. Es gilt, die ideologische Mobilmachung aufzubrechen.

Dies gilt für die Arbeiter:innenschaft in Russland wie auch in den westlichen imperialistischen Staaten. Dieser Kampf bedeutet auch, mit Antikriegsforderungen, die einer pazifistisch-kleinbürgerliche Grundlage entspringen, zu brechen. Es geht nicht darum, Phrasen wie „Nie wieder Krieg“ zu wiederholen oder gar die Hoffnung zu schüren, dass uns eine „europäische Verteidigungsarchitektur“ besser als die NATO beschütze oder die Bundesregierung unseren Forderungen nachkommen würde.

Eine Antikriegsbewegung, die über dies nicht hinauskommt oder sich auf die Seite einer imperialen Macht stellt, ignoriert den systemischen Charakter des Krieges und ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn der Krieg ist im Rahmen der Klassengesellschaft und der imperialistischen Weltordnung ein politisches Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie. Der (Irr-)Glaube, man müsse sich beim Kräftemessen der Großmächte und deren Kriegsvorbereitung nur auf die „moralisch“ richtige Seite des Friedens stellen oder die Regierung um Einhalt bitten, greift vielleicht die Auswirkung des Krieges kurzfristig an, doch verfehlt es, seiner Voraussetzung den Kampf zu liefern: dem kapitalistischen System.

Proletarischer Antimilitarismus

Das Programm für die Arbeiter:innenklasse muss daher ein konsequenter proletarischer Antimilitarismus sein, d. h. ein Bekenntnis zum Defaitismus im neuen Kalten Krieg.

Der Hauptfeind ist nicht in einem imperialistischen Konkurrenten zu sehen, sondern im eigenen Land, in der eigenen nationalen Bourgeoisie. Und ein unmittelbares Ziel besteht darin, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zu einem offenen globalen Krieg zwischen den imperialistischen Mächten eskaliert.

In Russland muss die Arbeiter:innenklasse gegen den Einmarsch in die Ukraine kämpfen und die sofortige Beendigung des Krieges sowie den Abzug aller russischen Truppen fordern. Angesichts des autokratischen Charakters des Putin-Regimes ist der Kampf für demokratische Rechte, Meinungsfreiheit und die Freilassung politischer Gefangener entscheidend. Dieser muss mit dem Ziel verbunden werden zu verhindern, dass die Arbeiter:innen die Kosten des durch Sanktionen verursachten Elends und der Kriegstreiberei tragen müssen. Die Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit Massenstreiks und der Enteignung der Oligarch:innen verbinden. In der Ukraine ist der Kampf gegen die Besatzung zwar ein gerechtfertigter, aber er muss mit einem politischen Kampf gegen die reaktionäre Regierung Selenskyj, die falschen Hoffnungen in den westlichen Imperialismus und für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung und revolutionären Partei verbunden werden.

In den NATO-Ländern muss dazu aufgerufen werden, sich als Arbeiter:innenschaft gegen Kriegstreiberei, Aufrüstung und Sanktionen zu stellen, die kein reaktionäres Regime stürzen, sondern in ihrer Konsequenz der russischen Arbeiter:innenklasse schaden, vor allem aber die imperialistische Konfrontation weiter zuspitzen. Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Kräfte müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen ablehnen und gegen reaktionäre Gesetze kämpfen. Eine echte Antikriegsbewegung muss die imperialistischen Interessen der westlichen Unterstützung für die Ukraine aufdecken. Dabei müssen Revolutionär:innen gegen Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus vorgehen und den wahren Charakter des Krieges den Massen verständlich machen.

Perspektivisch bedeutet das auch, dass revolutionäre Kräfte Arbeit in der Armee leisten müssen, gerade bei einer potenziellen Wiedereinführung der Wehrpflicht, die das Heer aus der breiten Masse der Arbeiter:innenklasse zusammensetzen würde, statt wie aktuell nur aus Freiwilligen. Antimilitaristische Arbeit unter den und Organisierung der einfachen Soldat:innen und Wehrpflichtigen sind Schritte auf dem Weg zum Kampf gegen die Militarisierung und Aufrüstung der eigenen Nation.

Die Enteignung der Rüstungskonzerne und damit verbundene Kontrolle über die Produktion muss eine weitere Kernforderung der proletarischen Antikriegsbewegung sein. Ein proletarisches Antikriegsprogramm muss aber gleichzeitig auch Lösungen für die Arbeiter:innenschaft dieser Konzerne vorschlagen, d. h. für die dort Beschäftigten müssen Umschulungsangebote geschaffen werden, die ihnen einen Branchenwechsel zu gleichem Einkommen ermöglichen.

Es braucht einen Kursumschwung in der Arbeiter:innenbewegung und die beschriebene programmatische Methode gilt es sinngemäß auf sämtliche kriegerische Auseinandersetzungen anzuwenden, die vom westlichen Imperialismus unterstützt werden wie bspw. der Krieg im Gazastreifen. Die Schaffung einer internationalistischen Antikriegsbewegung ist das unabdingbare Mittel, den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen Klassenkampf gegen die Kapitalist:innenklasse zu transformieren.

Endnoten

(1) Quelle: ZMSBw-Bevölkerungsbefragung: https://zms.bundeswehr.de/de/bevoelkerunsgbefragung-zeitenwende-in-den-koepfen-5730686

(2) Quelle: Quadriga 2024: NATO-Landstreitkräfte üben den Bündnisfall [bundeswehr.de]

(3) Ebenda

(4) Mehr zu dem Thema auch hier: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/09/der-krieg-in-der-ukraine-und-der-kampf-um-die-neuaufteilung-der-welt/ bzw. hier https://arbeiterinnenmacht.de/2024/02/12/100-milliarden-sondervermoegen-fuer-die-bundeswehr-hochruestung-fuer-deutsche-kapitalinteressen/




Kritik des transnationalen Feminismus

Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Transnationaler Feminismus? Viele, insbesondere im deutschsprachigen Raum, haben diesen Begriff wahrscheinlich noch nicht gehört. Doch Autorinnen wie Arruza, Bhattacharya und Fraser, die „Feminismus für die 99%“ verfasst haben oder Verónica Gago, die in„How to change everything“ einen Vorschlag für eine feministische Internationale skizziert – sie alle sind  von theoretischen Konzeptionen des transnationalen Feminismus geprägt. Daher durchziehen diese Ideen auch die Frauen-/Fem*Streikbewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern am 8. März viele Personen auf die Straße bringen konnten.

Feministische Streikwelle

Die Streiks haben ihren Ursprung 2016 in Lateinamerika im Rahmen der ursprünglich argentinischen Bewegung #Ni Una Menos (Nicht eine mehr), welche sich vor allem auf die vielzähligen Femizide bezog, und breiteten sich bis 2019 weltweit aus. So gingen am 8. März 2018 in über 177 Ländern Menschen für die Rechte der Frauen auf die Straße. Allein in Spanien streikten 2018 und 2019 6 Millionen Frauen gegen sexuelle Gewalt, für gleiche Löhne und das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In der Türkei demonstrierten mehrere Tausende trotz starker Repression seitens des Erdogan-Regimes. In Pakistan beteiligten sich am Aurat-Marsch in den größeren Städten wie Lahore, Karatschi, Hyderabad und Islamabad ebenfalls Tausende an den Aufmärschen. Doch Pandemie und daraus resultierende Einschränkungen von Protestmöglichkeiten haben scheinbar zu einem Abflachen der Bewegung geführt. Es folgten Solidarisierungen mit dem Protest iranischer Frauen sowie lokale Streiks, welche über das Jahr verteilt stattfanden, wie in der Schweiz, Baskenland oder in Island (siehe Artikel dazu in dieser Ausgabe).

Doch die immense Kraft des internationaler Frauen-/ Fem*Streiks konnte auf lokaler Ebene nicht derartig reproduziert werden. Denn wenngleich sich die Organisator:innen immer wieder auch auf Frauen in anderen Ländern und deren Kämpfe bezogen, das Ausbleiben von internationaler Absprache und Koordinierung, die diese Streikbewegung auf ein höheres Level heben könnten, blieb aus.

Die Potenziale und die ursprüngliche Anziehungskraft, die die Frauen-/Fem*Streikbewegung ausübte, wurden also nicht genutzt. Im Folgenden wollen wir uns deswegen anschauen, welche Rolle der transnationale Feminismus dabei spielt. Dafür wollen wir zuerst betrachten, was diesen überhaupt ausmacht, wie er entstehen und sich etablieren konnte, und gehen dann über in eine Kritik der theoretischen Ansätze. Im letzten Teil wollen wir dann aufzeigen, was unserer Meinung nach stattdessen notwendig ist, um den Imperialismus und seine patriarchalen Strukturen weltweit zu schlagen.

Was ist überhaupt transnationaler Feminismus?

Wie bei den meisten politischen Strömungen, gibt es auch im transnationalen Feminismus unterschiedliche Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen. Den gemeinsamen Kern bildet jedoch die Ablehnung einer globalen, international zusammenhängenden und koordinierten feministischen Bewegung. Dies entspringt aus der Annahme, dass nicht alle Frauen auf die gleiche Weise und aus gleichen Gründen unterdrückt werden. Somit haben und können sie auch  keine gleichen Interessen vertreten. Die Ausmaße dieser Ablehnung sind von Theoretiker:in zu Theoretiker:in unterschiedlich stark ausgeprägt. So fordern fordern manche durchaus eine lose Zusammenarbeit, eine gegenseitige Bezugnahme und einen Erfahrungsaustausch, wie sie auch in der Frauen-/Fem*Streikbewegung stellenweise umgesetzt wurden.

Dem zugrundeliegende Idee ist die Ablehnung der „globalen Schwesternschaft“, die vom westlichen Feminismus propagiert wird. Das schließt auch ein, dass feministische Ideale oder Werte, wie sie von westlichen Feminist:innen auf Frauen aus Halbkolonien projiziert werden, als eurozentrisch, unangebracht sowie paternalistisch verstanden werden. Das Leben in der westlichen Welt solle als Ideal übergestülpt werden – obwohl es komischerweise auch dort noch Frauenunterdrückung gibt. Ein nachvollziehbares Beispiel sind Vertreter:innen wie Alice Schwarzer, die der Meinung sind, Frauen aus Halbkolonien müssten in erster Linie gegen religiöse Unterdrückung kämpfen und wären frei, sobald sie beispielsweise das Kopftuch ablegen „dürften“ – ganz egal ob diese vielleicht ganz andere Probleme für ihre Unterdrückung als Frau identifizieren (zum Beispiel imperialistische Ausbeutung und Abhängigkeiten). Oftmals geht dies damit einher, Frauen aus Halbkolinien in eine Opferrolle zu drängen. Schließlich müssen die „erstmal über ihre Rechte aufgeklärt werden“. Gleichzeitig gehen Teile des transnationalen Feminismus (z. B. Spivak, Mitbegründerin der postkolonialen Theorie) sogar von einer Kompliz:innenschaft westlicher Frauen mit dem westlichen Imperialismus aus, weswegen das Ziel von Spivak nicht darin besteht, Gemeinsamkeiten in ihrer Lage als unterdrückte Frauen zu erkennen, sondern die Verbindung („linkage“) zu begreifen. Daraus resultiert auch eine Ablehnung von  generalisierenden Theorien wie etwa der marxistischen über Imperialismus oder eines Klassenbegriffs, da diese den Blick von den spezifischen lokalen Zusammenhängen ablenken würden.

Zuerst das Positive: Eine Kritik am Begriff der „globalen Schwesternschaft“ ist mehr als notwendig und berechtigt. Es gibt zwar Probleme, die alle Frauen treffen, aber eben nicht auf die gleiche Art und Weise – sei es beim Kampf gegen Gewalt an Frauen, Selbstbestimmung über den eigenen Körper oder der Ungleichverteilung der Hausarbeit. Das erzeugt letzten Endes trotzdem die Illusion von Frauen als Gesamtheit. Nachvollziehbar ist das am besten am Beispiel der „Girlboss“-Mentalität. Während auf der ganzen Welt Frauen in schlechten, zumeist informellen Arbeitsbedingungen angestellt sind sowie der Gender Pay Gap ein reales Problem ist, wird oftmals der Fokus auf Forderungen wie „Frauenquote in Führungsetagen“ gelegt oder die Förderung von Frauen als Unternehmerinnen, ganz nach dem Motto „Representation matters“. Sind diese jedoch in der Führungsriege angekommen, liegt es – Überraschung! – nicht in ihrem Interesse, dass  Löhne steigen, denn das könnte den Profiten schaden. Sie werden nicht zugunsten der „globalen Schwesternschaft“ anfangen, höhere Löhne zu zahlen oder  unbefristete Verträge auszustellen. Das würde ihre eigene Position innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz gefährden. (Und wenn sie es tun, würden sie aufgrund dieser untergehen.) Somit hilft die Girlboss-Mentalität der Mehrheit der Frauen der Arbeiter:innenklasse sowohl in imperialistischen Staaten als auch in Halbkolonien kein Stück. Für sie ist es letzten Endes egal, wer in der Führungsetage sitzt, wenn es darum geht, ob man vom Lohn das Leben bestreiten kann. Dabei muss angemerkt werden, dass die Lage der Arbeiterinnen nicht komplett gleich ist. In den imperialistischen Staaten ist die Arbeiter:innenklasse natürlich privilegierter als die in Halbkolonien. Doch auf diese Frage wollen wir später noch einmal zurückkommen.

Herauszustellen ist, dass auch wir die Idee des bürgerlichen Feminismus ablehnen, es würde eine globale klassenübergreifende Schwesternschaft geben. Ein damit einhergehendes Problem ist nämlich auch, dass die bürgerlichen Feminismen keine Antwort darauf haben, wie Frauenunterdrückung eigentlich überwunden werden kann. Sie setzen sich nur für Reformen und somit für die Festigung ihrer eigenen Stellung ein und da sie daher den Imperialismus nicht angreifen (wollen), müssen sie sich auch umso mehr aufklärerisch und eurozentristisch gegenüber Frauen in Halbkolonien verhalten. Somit basiert der weiße bürgerliche Feminismus auch auf der Überausbeutung der Frauen in Halbkolonien. Dies entspringt jedoch nicht aus kulturellen Unterschieden, einer  „besonderen Psychologie“ der Frauen in den Halbkolonien oder einer grundsätzlichen, klassenunabhängigen Kompliz:innenschaft westlicher Frauen. Das Problem liegt woanders und zwar in der Klassengesellschaft und im Imperialismus selbst. Diese benötigen die doppelte Ausbeutung der Arbeiterin, da diese einerseits Mehrwert in der Produktion erwirtschaftet und andererseits die unentlohnte Reproduktion der Ware Arbeitskraft in der Arbeiter:innenfamilie verrichtet. Hier sehen wir also den Grund, warum es keine globale Schwesternschaft gibt: Die Interessen der Frauen verschiedener Klassen unterscheiden sich genauso wie die konkrete Lage der Frauen in imperialistischen Staaten und in Halbkolonien. Doch gleichzeitig hegen Frauen der Arbeiter:innenklasse international nicht nur ein gemeinsames objektives Interesse, die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung, den Kapitalismus, zu überwinden; sondern auch die Fähigkeit dazu aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess.

Wie ist der transnationale Feminismus entstanden und wie hat er sich entwickelt?

Verfasst wurden die Grundlagen des transnationalen Feminismus bereits in den 1970er, 1980er Jahren und stellen eine Reaktion auf das Fehlen eines internationationalistischen Programms dar, das weder bürgerliche Feminist:innen aufgrund ihres Fehlschlusses der globalen Schwesternschaft geben konnten noch die damalige Arbeiter:innenbwegung, in der Reformismus sowie Stalinismus die führenden Kräfte darstellten. So gewann diese Strömung mit dem Zusammenbruch des Stalinismus sowie  der Veränderung der Weltlage – dem Beginn der Globalisierung – schließlich mehr Relevanz in den 1990er Jahren. Diesen Prozess wollen wir im Folgenden skizzieren, um für die kommende Auseinandersetzung mit den Theoretiker:innen eine Grundlage zu schaffen.

a) Verrat und Zerfall des Stalinismus

So wie der transnationale Feminismus eine Strömung innerhalb des feministischen Spektrums ist, so der Stalinismus eine der Arbeiter:innenbewegung, die noch dazu als Marxismus auftritt. Einen vollen Abriss der Entwicklung können wir an dieser Stelle nicht geben, jedoch halten wir es für notwendig, auf eine Punkte einzugehen, um aufzuzeigen, warum einige Kritikpunkte seitens der transnationalen Feminist:innen berechtigt sind – aber letzten Endes nicht den Marxismus, wohl aber seine stalinistischen und reformistischen, verfälschenden Lesarten treffen. Dabei können wir an dieser Stelle nicht auf alle Kritikpunkte eingehen. Für den Gegenstand relevant sind jedoch vor allem zwei Punkte: Die dem Stalinismus zugrundeliegende Etappentheorie sorgte für fehlerhafte politische Außenpolitik, da sie zur illusionären Strategie der globalen „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus führt. So wurden Initiativen der Arbeiter:innenklasse wie in Griechenland oder Polen und Revolution wie in Spanien und anderen Ländern verraten, da Unterstützung nur in in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus stattfand. Zudem spielte in den 1980er Jahren die UdSSR beispielsweise in Afghanistan eine konterrevolutionäre Rolle sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus. Auch die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen Analphabetismus unter Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiss zu kommen. Doch der Stalinismus verriet die Interessen der proletarischen Frauen auch auf anderer Ebene: Während es nach der Oktoberrevolution 1917 diverse Anstrengungen gab, die Hausarbeit zu vergesellschaften und Rechte auf körperliche Selbstbestimmung umzusetzen, drängte der Stalinismus darauf, die sogenannte „neue Familie“ umzusetzen, letztendlich auch nichts anderes als das Ideal der bürgerlichen Familie mit sowjetischem Anstrich, bei dem die Mutterrolle auf eine reaktionäre Art und Weise stark unterstrichen und die Frau somit wieder in die häusliche private Reproduktionsarbeit gedrängt wurde. Auch die Mangelwirtschaft der UdSSR fiel insbesondere den Frauen zur Last, da sie nicht die Möglichkeit hatten, Küchengeräte zu nutzen, die in imperialistischen Ländern längst Einzug gehalten hatten und dort die Intensität der Hausarbeit massiv verkürzten. Auch die Nahrungsmittelknappheit fiel vor allem Frauen zur Last. Die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. blieben außerdem auch eine Domäne der Männer. Es gab zwar auch diverse Errungenschaften, aber nicht im Ansatz genügend, was notwendig gewesen wäre, um die Frauenbefreiung wirklich voranzutreiben. Im Angesicht dieser Politik ist es nicht verwunderlich, dass diese, unter dem Label des Marxismus betrieben, kein Mittel zur Befreiung sein kann – ob nun für Frauen insgesamt oder in der halbkolonialen Welt.

Die Restauration des Kapitalismus in Russland, China und Osteuropa stellt zwar auch eine Niederlage der Arbeiter:innenbewegung dar und wurde von vielen als Beweis betrachtet, dass sich gezeigt habe, dass der Marxismus nicht siegen könne und gescheitert wäre. Somit kehrten viele ihm den Rücken zu und suchten nach anderen Ideen und Theorien, die „moderner“ erscheinen sowie die Fehler des angeblichen Marxismus nicht wiederholen sollten – z. B. Theorien des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus. Auch der Queerfeminismus von Butler entspringt dieser Zeit.

b) Aufkommen der Globalisierung

Gleichzeitig kam es unter anderem aufgrund dessen, dass kein Systemantagonismus mehr bestand, zu einer Periode der Globalisierung. Die USA mussten sich als Hegemon beweisen, um der ganzen Welt eine einheitliche ökonomische Politik aufzuzwingen. Gleichzeitig mussten sie die Überakkumulation mitsamt den immer weiter fallenden Profitraten in der heimischen Wirtschaft vorerst versuchen zu kompensieren. Dafür stülpten sie ihr Wirtschaftssystem immer größeren Teilen der Welt über und dehnten ihre Konzerne ebenso in diese Regionen aus. Die Unternehmen hatten zwar bereits früher zweitrangige Niederlassungen in Halbkolonien, doch sie wurden nun wirklich multinational. Ein bedeutender Teil der Warenproduktion selbst wurde weg aus den imperialistischen Staaten in die Halbkolonien ausgelagert, da billigere Arbeitskraft und generell die geringeren Produktionskosten dort höhere Profite versprachen. Das ging auch mit dem Anspruch auf Steuererleichterungen und diverse Sonderrechte gegenüber den Regierungen der Halbkolonien einher. Die Folge davon sind „Löhne“ am absoluten Existenzminimum, hochgefährliche Arbeitsplätze (z. B. hinsichtlich des Feuer- oder Gesundheitsschutzes), Sklaverei und Kinderarbeit. Ebenso wurden Freihandelszonen errichtet. Zusätzlich wurden staatliche Vermögen von diesen Unternehmen aufgekauft und wurde Geld von ausländischen Regierungen geliehen. Somit spitzte sich auch der Imperialismus immer weiter zu, da die Arbeiter:innen der halbkolonialen Staaten nun in Teilen direkt von der westlichen Bourgeoisie ausgebeutet und auch die Regierungen und die regionale Bourgeoisie immer abhängiger vom USA-Finanzkapital wurden. Durch die sich verschärfende Situation in den Halbkolonien gewann die Idee des transnationalen Feminismus an Bedeutung und die Kämpfe bezogen sich nun explizit auf die Ausbeutung von Frauen in dortigen multinationalen Unternehmen, antikoloniale sowie Kämpfe indigener Bevölkerungen gegen Vertreibung und Zerstörung bzw. Landgrabbing ihrer Landflächen durch imperialistische Konzerne.

Zu einem besonderen Höhepunkt kam es während der Invasion der USA in Afghanistan: Durch die Instrumentalisierung von Frauenrechten im Kampf gegen die Taliban versuchten die USA, ihre geopolitischen Interessen in diesem Krieg zu verstecken. Westliche Feminist:innen beteiligten sich an dieser Stimmungsmache, wo die andere Kultur allgemein rassistisch verunglimpft wurde und sie als barbarisch im Gegensatz zur eigenen, zivilisierten dargestellt werden sollte. Ähnliches passierte beim Irakkrieg: Die Rechte der Irakerinnen wurden auf einmal zu einem wichtigen Ansatzpunkt der USA während der Invasion, während man sich davor jedoch gar nicht um sie scherte. Insbesondere diese Ereignisse verliehen der Theorie des transnationalen Feminismus mehr Bedeutung innerhalb der feministischen Debatten.

Dekonstruktivistische Elemente und Ablehnung von Generalisierungen

Im Gegensatz zur marxistischen Zielsetzung der Überwindung der materiellen Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung liegt das Ziel transnationaler Feminist:innen darin, den westlichen Feminismus auf einer postkolonialen, antiimperialistischen und intersektionalen Ebene zu kritisieren und daraus Schlüsse für das lokale Vorgehen in feministischen Kämpfen zu ziehen. Dafür bedienen sie sich in gewissem Maß des Dekonstruktivismus, wie bereits im „transnational“ zu erkennen ist: Die Vorsilbe „trans“ soll hier darauf hinweisen, dass nicht nur  nationalstaatliche Grenzen überwunden werden sollen und der Kampf auch in „Sphären“ außerhalb staatlicher Strukturen geführt werden (zum Beispiel in der Nachbarschaft, der Familie, der Freund:innengruppe), sondern auch, dass die Nation an sich als Kategorie in Frage gestellt werden soll. Somit werden Nationalstaaten nicht als „real existierende Gebilde“ angesehen, welche eine wichtige Funktion für Kapitalismus und Imperialismus erfüllen und die es natürlich durchaus zu kritisieren und zu überwinden gilt, sondern eher als Narrative, die subjektive Meinungen widerspiegeln würden und mit anderen Ideen anstatt mit tatsächlich radikalem Handeln bekämpft werden müssten.

Ein weiteres Element des Dekonstruktivismus im transnationalen Feminismus ist die bereits erwähnte Annahme, dass es keine generalisierenden Theorien geben könne. Damit einher geht die Idee, es würde keine außerhalb des Diskurses existierende, objektive Wahrheit geben. Jede Erfahrung von Unterdrückung ist somit grundsätzlich anders und die Verbindungen müssen alle berücksichtigt werden, um sie nachvollziehen zu können. In diesem Fall soll allerdings der subjektive Idealismus dieser Annahme dadurch verschleiert werden, dass es sich bei den Betroffenen nicht um Einzelpersonen handelt und sie in einem regionalen Kollektiv zusammengeschlossen werden können. Trotzdem sei diese regionale Erfahrung völlig anders als jede andere und könne nicht kategorisiert werden. Solch eine Auffassung nimmt offensichtlich den Nährboden für jegliche objektive Analyse weg und vor allem für eine gemeinsame Praxis der Unterdrückten für gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Sie ist einerseits idealistisch und andererseits rückschrittlich, da sie verhindert aufzuzeigen, woher gemeinsame, aber auch unterschiedliche  Unterdrückungserscheinungen kommen. Im Gegensatz dazu gibt es im Marxismus durchaus die Möglichkeit einer Überwindung von reiner Subjektivität: das revolutionäre Bewusstsein, welches von den geschichts- und erkenntnisstiftenden Elementen in der gesellschaftlichen Arbeit und ihren Wandlungen im historischen Materialismus getragen wird und der Anerkennung dessen, dass es durchaus eine objektive, materialistische Realität gibt, die dafür sichtbar gemacht werden muss. Warum dies notwendig ist, um kollektive Befreiung zu erreichen, wollen wir um Folgenden argumentieren, indem wir uns mit verschiedenen Theoretiker:innen näher auseinandersetzen.

Khaders Kritik am westlichen Feminismus

Die transnational-feministische Theoretikerin Serene Khader bezeichnet den westlichen Feminismus auch als missionarisch, da die westlichen Feminist:innen von ihrer ideologischen Vormacht überzeugt seien. Sie bezieht sich hierbei auf ihre folgenden Werte:

1. die westliche Überlegenheit, legitimiert durch das quasi theologische Paradigma der Aufklärung, und damit einhergehend:

2. der Unabhängigkeitsindividualismus, was bedeutet, dass es als Ideal gilt, wenn Frauen in keinerlei Abhängigkeit zur Familie und Beziehungspersonen stehen,

3. Aufklärungsfreiheit, was das Infragestellen von Traditionen und religiösen Überzeugungen zu einem Ideal macht, und

4. der Ansatz, dass Genderrollen Geschlechtergerechtigkeit verhindern und für die Befreiung von sexistischer und sexueller Unterdrückung aufgehoben werden müssen.

Diese Werte und daraus hervorgehenden Lebensarten würden imperialistische Strukturen festigen, da sie zur Idealisierung westlicher Werte und Verschleierung des Einflusses der imperialistischen Ausbeutung auf die Halbkolonien beitragen würden. Um diese Probleme zu überwinden, seien Ansätze notwendig, die Wertschätzung der Beziehungsabhängigkeiten, Tradition, Religion und Geschlechterrollen ermöglichen sollen. Deswegen sei es nötig, die spezifischen Kontexte in Betracht zu ziehen und eine konkrete Praxis anstelle idealistischer, abstrakter Moralvorstellungen zu etablieren. Denn bei einer Generalisierung könne es sonst dazu kommen, dass die Unterdrückung in den lokalen Unterschieden und nicht im imperialistischen System verortet wird. Des Weiteren solle der Widerstand gegen antifeministische Praktiken nur von den Betroffenen selber kommen und keine Intervention von außen erfolgen, um sie nicht zu entmündigen. Erstmal ist es natürlich völlig richtig, den westlichen bürgerlichen Feminismus und seinen Überlegenheitsanspruch in Frage zu stellen. Jedoch sollte hier differenziert werden, denn manche seiner Ideen und Forderungen stellen zumindest keinen falschen Ausgangspunkt dar.

a) Fortschritt und Entwicklung im historischen Materialismus

Die Grundsätze der Aufklärung wie Kritik der Kirche als Institution, Fokus auf Vernunft und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Bürger:innenrechte stellen – auch wenn sie bürgerliche Errungenschaften sind –  innerhalb der historischen Entwicklung einen Fortschritt dar. Zwar dienten sie zur Legitimation der bürgerlichen Herrschaft gegenüber dem Feudalsystem, also letztendlich des Kapitalismus, verkörperten aber gleichzeitig eine Verbesserung gegenüber dem religiös geprägten Austausch. Zudem ist die Behauptung, die Aufklärung sei eine rein westliche Erfindung bereits eine Rückkehr zum Orientalismus, den die postkolonialen Theorien, auf die sich der transnationale Feminismus bezieht, eigentlich kritisiert hatten. So gab es auch beispielsweise im Osmanischen Reich vergleichbare Ansätze und der Bezug auf Rationalität und Naturwissenschaftlichkeit ist kein rein „europäisches Phänomen“.

Wichtig ist, dass der Fortschritt einer einzelnen Gesellschaftsformation nicht als „ewig“, starr und unantastbar gelten darf, sondern im Verhältnis zu seinen eigenen Potentialen und auch Entwicklungshemmnissen beurteilt werden muss. Denn jede dieser von Widersprüchen geprägten Gesellschaftsform verliert irgendwann ihren fortschrittlichen Charakter und muss sich ihrer Fesseln entledigen (oder fällt zurück). Das heißt, dass es nur Brüche und Umwälzungen der Produktionsformen sind, die einen wirklichen Fortschritt bringen können, nicht die unaufhörliche Weiterentwicklung der jeweiligen Gesellschaftsform. Sichtbar kann das zum Beispiel werden, wenn wir die rückschrittlichen Tendenzen des Kapitalismus in seinem aktuellen Stadium betrachten: Er ist zu einer Fessel des Fortschritts und der Befreiung der Menschheit geraten.

Demnach ist es jedoch völlig richtig, im Rahmen der Imperialismustheorie die halbkolonialen Staaten als unterentwickelt zu betrachten. Das soll keine Herabwürdigung darstellen, sondern beschreibt ihr materialistisches, dialektisches Verhältnis zu den imperialistischen Staaten. Halbkolonien sind gar nicht in der Lage, sich gleichsam wie diese zu entwickeln, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit die Entwicklung nicht aufholen können. Es ist sogar ein erklärtes Ziel der imperialistischen Staaten, sie unterentwickelt zu halten, auch wenn mit „Entwicklungshilfe“ etwas anderes suggeriert werden soll. Das darf jedoch nicht in eine ideologische Vormachtstellung insofern umschlagen, als dass man die Unterdrückten selbst auch als „unterentwickelt“ einschätzt und sie somit rassistisch abwertet, ihnen die eigene Perspektive aufzwingt oder dies zur Legitimierung des bestehenden Systems nutzt.

Gleichsam darf man nicht zur Schlussfolgerung kommen, wie sie auch Stalinist:innen entwickelten, es sei erst eine bürgerliche Revolution in den Halbkolonien notwendig, um dann diese noch einmal erneut überwinden zu müssen. Sehr wohl müssen aber die bürgerlich-demokratischen Aufgaben vollendet werden, was einen wichtigen Ansatzpunkt für revolutionäre Kräfte darstellt. Dazu aber  später mehr. Erstmal stellt sich hier natürlich die Frage nach der Notwendigkeit des Bruches mit der vorkapitalistischen Ausbeuter:innenordnung: Dieser ist nicht notwendig, da die Halbkolonien bereits in das imperialistische Weltsystem und dessen grenzenlosen Drang nach Wertschöpfung integriert sind. So haben bereits gemäß Trotzkis Gesetz der kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung die fortschrittlichen Technologien in den Halbkolonien Einzug erhalten, denn die Produktivkräfte kennen den nationalen Rahmen nicht und müssen nicht in jeder Region neu erfunden werden. Das äußert sich auch darin, dass die Entwicklung in den Branchen, welche für die Kapitalbewegung interessant sind, vorangetrieben wird. Daher breitet sich zum Beispiel die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien immer weiter aus, während gleichzeitig die rückschrittlichen Produktionsformen und -techniken trotzdem weiterhin gefestigt werden, zum Beispiel in der Landwirtschaft, um die Reproduktionskosten und damit das Lohnniveau weiterhin so günstig wie möglich zu halten. Was könnte eine bürgerliche Revolution nun ändern? Vermutlich wenig. Denn die lokale Bourgeoisie kann sich aufgrund ihrer geringen Größe und ihres unbedeutenden Einflusses nicht von den internationalen Investor:innen lossagen und fürchtet die Rebellion der eigenen Bevölkerung viel mehr. Vor allem aber stellen diese rückständigeren Formen im modernen Kapitalismus im Wesentlichen keinen „störenden Überrest“ einer vorhergehenden Produktionsweise dar, sondern wurden in das kapitalistische Gesamtsystem integriert.

Auch in den Halbkolonien müssen Traditionen, kulturelle Praktiken und Religionen Kritiken unterzogen werden, um einen gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten zu können, da sie oftmals reaktionäre Elemente enthalten, die sich schon über Jahrhunderte entwickelten. So übte beispielsweise auch Marx Religionskritik aus, da er davon ausging, dass diese in jeder Klassengesellschaftsformation zur Verschleierung der materiellen Lage und Ausbeutung dient. Eine Kritik der Religion ist demnach notwendig, um die wahren Ursachen – die Klassengegensätze – zu Tage zu bringen. Das heißt, dass Religion nicht die Basis der Unterdrückung liefert, sondern ihren Überbau, der benötigt wird, um sie aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Herleitend ist es also sogar im Sinne der Bourgeoisie, diese beizubehalten, da so die imperialistischen und neokolonialen Unterdrückungsmechanismen mystifiziert werden können. Letztendlich stellt sich die Behauptung Khaders, man müsse Konzepte entwickeln, die Religion und Co wertschätzen, genau in diesen Dienst der Imperialist:innen. Da Marxist:innen erkennen, dass die Religion eine materielle Basis in den bestehenden Verhältnissen hat, jedoch auch, dass diese wie jede andere bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologie nicht „abgeschafft“ werden kann, solange die Verhältnisse weiter bestehen, die sie hervorbringen.

Daher ist es falsch, von Frauen in Halbkolonien grundsätzliche Ablehnung ihrer Religion zu fordern, um ihre antisexistische Emanzipation voranzutreiben oder es gar zu einer Bedingung für den gemeinsamen Kampf zu machen. Jedoch ist der gegen theokratischen Regime fortschrittlich, denn diese errichten i. d. R. Diktaturen zum Leidwesen von Frauen, LGBTIA*-Personen, nationalen Minderheiten sowie der gesamten Arbeiter:innenklasse. Demnach können die Forderungen im Sinne der permanenten Revolution Trotzkis nach bürgerlichen Rechten wie Demokratie, gleichen Persönlichkeitsrechten für alle, Befreiung von feudalistischen und anderen vorkapitalistischen Rückständen, Frieden und Wohlstand jedoch als revolutionäres Vehikel funktionieren. Denn es ist klar, dass sie sich eben unterm Kapitalismus für Halbkolonien nicht erfüllen lassen, sondern die Strukturen der Klassengesellschaft überwunden werden müssen, um gleiche Rechte für alle und wirkliche Demokratie gewährleisten zu können. Ebenso dürfen diese Kämpfe nicht im nationalen Rahmen stehenbleiben, sondern müssen so viele Gebiete wie möglich umfassen und zu einer Weltrevolution werden.

b) Unabhängigkeitsindividualismus und Geschlechterrollen

Auch dieser Punkt an Khaders Kritik bedarf einer näheren Betrachtung. Für sie stellt der westliche Feminismus die unabhängige Karrierefrau in den Mittelpunkt, die keine Zeit für Familie, Kinder und Haushalt hat. Daraus resultiert, dass sie die Reproduktionsarbeit, die ihr durch die Geschlechterrollen als Frau aufgehalst werden würde, anders lösen muss: nämlich, indem sie andere Frauen dafür einstellt. Somit kann man sagen, dass die Reproduktionsarbeit auch im Kapitalismus schon in einer gewissen Hinsicht vergesellschaftet ist, allerdings unter dem Vorzeichen der herrschenden Klasse. Wer sich die Auslagerung von Reproduktionsarbeit leisten kann, hat Glück. Hierbei wird vor allem deutlich: Es handelt sich nicht um „den westlichen“ Feminismus per se, sondern um bürgerlichen Feminismus. Denn auch in halbkolonialen Ländern ist diese Form der Auslagerung für Frauen aus der herrschenden Klasse und Teile der Mittelschicht möglich.

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit kann also im Kapitalismus nicht wirklich für alle Beteiligten zufriedenstellend aufgelöst werden. Es ist zwar richtig, dass durch den Kapitalismus eine Entfremdung von der Gemeinschaft, die vorher in einer gewissen Hinsicht z. B. im Feudalismus existierte, ausgelöst wurde, das kann jedoch in den jetzigen Strukturen nicht überwunden werden, da sie auf der aktuellen Produktionsweise beruht. Angebliche Konzepte vorkapitalistischer Gemeinschaft und der Abhängigkeit fördern nicht die Frauenbefreiung. Ökonomische Abhängigkeiten sorgen oftmals dafür, dass Frauen eben nicht ihrem gewalttätigen Mann entfliehen können, da sie in ihrem Job aufgrund ihrer Verpflichtungen zur Reproduktionsarbeit, die ihnen mithilfe der Geschlechterrollen auferlegt wurden, zu wenig verdienen, um wirklich unabhängig zu leben. Das trifft natürlich auch Frauen, die gar nicht berufstätig sein dürfen (sei es aufgrund des Verbots durch Mann oder Staat). Es ist aber auch so, dass zum Beispiel alleinerziehende Mütter, die keine gesellschaftliche Unterstützung erfahren, auch nicht unbedingt bessere Lebensbedingungen haben. Um ihre Kinder großziehen zu können, sind sie oftmals auf flexible Arbeitsstellen mit Schichtarbeit angewiesen, damit sie alles unter einen Hut bekommen können. Flexible Jobs sind meistens auch im Niedriglohnsektor angesiedelt. Jedoch ist ihre Lage genauso darin zu verorten, dass die Reproduktionsarbeit ins Private verschoben wurde, anstatt eine gemeinschaftliche Pflege und Erziehung von Kindern bzw. Alten zu gewährleisten. Auch die Abhängigkeit von der eigenen Verwandtschaft geht sehr wohl mit patriarchaler Unterdrückung einher, wenn es zum Beispiel um Konzepte von Familienehre oder Zwangsheirat geht.

Natürlich sollte das Ziel nicht darin liegen, ein einsames zurückgezogenes Leben zu führen, um jeglicher Abhängigkeit zu entfliehen und alleine erfolgreich zu sein oder sich zumindest gerade so über Wasser halten zu können.

Der zentrale Punkt ist jedoch, dass für die Aufhebung der Strukturen, die Frauen in die Abhängigkeit drängen, wie das Ideal der bürgerlichen Familie, die der damit einhergehenden Geschlechterrollen und der ins Private gedrängten Reproduktionsarbeit den Schlüssel darstellen und nicht eine Illusion von spirituellen Gemeinschaften und traditionsreichen Abhängigkeiten. Denn diese stellen nur den ideologischen Ausdruck (den Überbau) der Frauenunterdrückung dar. Auch eine bloße Kritik der Geschlechterrollen kann keine Befreiung herbeiführen. Erst die Überwindung des Kapitalismus und die Kollektivierung von Produktion und Reproduktion können die aktuelle Entfremdung überwinden und zu einer neuen Gemeinschaft führen, die geprägt von vielerlei zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Die Annahme, Geschlechterverhältnisse seien in Halbkolonien grundsätzlich anders und hätten auch einen anderen Ursprung als in imperialistischen Staaten, entbehrt jeder Logik. Der ideologische Überbau und der Grad der sozialen Unterdrückung können sich zwar unterscheiden, aber zum Beispiel fortschrittlichere Gesetzgebungen können in imperialistischen Staaten auch wieder zurückgenommen werden, wie man an Abtreibungsrechten in den USA oder der Aberkennung von Rechten queerer Eltern in Italien in den letzten Jahren sieht. Gleichstellung auf dem Papier heißt nicht, dass diese wirklich konsequent umgesetzt und verfolgt wird, wie man  an der Anzahl der Femizide und sexualisierter Gewalt auch in imperialistischen Staaten feststellen kann.

Es mag in Halbkolonien vielleicht Strukturen geben, wo Gemeinschaft und Hausarbeit anders gelebt und geleistet werden, als das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie suggerieren soll. Das überschreitet aber trotzdem meistens nicht den Rahmen einer Familie und beschreibt dann eher die Zusammenarbeit von Frauen aus verschiedenen Generationen innerhalb ihrer, wie es auch in feudalen und anderen vorkapitalistischen Verhältnissen üblich war. Diese Umstände werden auch in manchen Fällen von den Imperialist:innen bewusst gefördert oder zumindest unangerührt gelassen. Es mag auch indigene Völker geben, deren Gesellschaftsstruktur mehr noch der des „Urkommunismus“ ähnelt, trotzdem stellen sie eine Seltenheit dar. Somit bleibt die Hausarbeit in den Halbkolonien also trotzdem im Privaten. Des Weiteren ist die Klasse der Lohnarbeiter:innen auch mittlerweile so ausgedehnt, dass die Notwendigkeit der Reproduktion im privaten Bereich dort ebenso besteht und ausgeführt wird. Die Grundlage der Unterdrückung der Frau bleibt also dieselbe: die Klassengesellschaft.

c) Entstehung des Bewusstseins

Die Annahme, es dürfe im Kampf gegen Antisexismus keine Interventionen von „außen“ geben, geht ebenso auf die bereits erwähnte Idee zurück, dass es keine objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit geben könne und lediglich die subjektiven Wahrnehmungen der Betroffenen ihnen Erkenntnisse über ihre individuelle Situation bringen könnten. Das heißt also, ausschließlich die Frauen in der jeweiligen Halbkolonie haben die Möglichkeit zu erkennen, warum sie unterdrückt werden, da sie die Betroffenen sind.

Erst einmal kommt niemand zum Bewusstsein, nur weil die Person unterdrückt wird. Sonst würde es bereits jetzt keinen Kapitalismus mehr geben. Natürlich kann die eigene Betroffenheit eine Anregung sein, um sich tiefergehender mit Hintergründen zu beschäftigen und Ideen dagegen zu entwickeln. Aber man kann genauso auch komplett falsch in seiner Analyse liegen. Denn das Bewusstsein ist eine kollektive Frage, welche ihre Grundlage und ihren Gradmesser von Wahrheit zwar in den ökonomischen Strukturen und im gemeinsamen Kampf gegen diese hat, jedoch auch mit theoretischen Erkenntnissen verknüpft werden muss, welche von außen in die Klasse getragen werden müssen. Das gilt auch für eine proletarische Frauenbewegung. Das soll natürlich nicht heißen, dass westliche Feminist:innen alles bestimmen, jedoch, dass es neben gemeinsamen Kämpfen auch eine gemeinsame internationalde Analyse der Welt braucht, wobei Internationalismus das Fundament bilden muss, um zu gewährleisten, dass die objektive Lage auch erfasst wird und nicht von nationalistischen Ideen bzw. imperialistischem Chauvinismus geprägt ist. Darauf aufbauend kann es dann Diskussionen über die gemeinsame Ausrichtung geben. Außerdem ist es auch notwendig, dass aus Erfolgen und Misserfolgen von Arbeiter:innen- und Frauenbewegungen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. Denn wenn jede:r Unterdrückte erst einmal unbehelligt wieder denselben Fehler machen soll, nur um nicht bevormundet zu werden, sieht es für unsere klassenlose und befreite Zukunft wahrscheinlich eher düster aus. Aber das darf natürlich keineswegs eine Einbahnstraße sein. Genauso muss der westliche Feminismus mitsamt seinen neoliberalen und individualisierenden Tendenzen scharf kritisiert werden, damit eine sinnvolle klassenkämpferische Einheit gegen Frauenunterdrückung gebildet werden kann, die sich auch wirklich Antiimperialismus und Antikapitalismus auf die Fahne schreiben kann und erfolgversprechend ist.

Kritik des Marxismus von Kaplan, Grewal und Spivak

Ein Blick auf die transnationalen Feministinnen Kaplan und Grewal zeigt jedoch, dass solch ein Ansatz nicht im Sinne des transnationalen Feminismus ist. Sie stellen in ihrem Text „Transnational Feminist Cultural Studies: Beyond the Marxism/Poststructuralism/Feminism Divides (1994)“ hauptsächlich infrage, dass es ein homogenes Weltproletariat gibt, und wollen damit beweisen, dass die marxistische Theorie veraltet sei. So würde es bei Anwendung eines Klassenbegriffes zu einer Gemeinmachung von Mann und Frau kommen, sowie würden soziale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung nicht beachtet werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass das Kapital heutzutage keine Konformität mehr produziert, also kein generalisiertes revolutionäres Subjekt, sondern, es die Personen in ihrem zugrundeliegenden kulturellen Kontext anspricht. Communities anstatt Klassen produzieren Bewusstsein, insbesondere durch den Versuch, mit Diversität die Ausbeutung zu verschleiern. Mit Bezugnahme auf Spivak argumentieren sie, es würde durch die imperialistische Wertschöpfungskette nicht nur der Wohlstand für die imperialistischen Staaten, sondern auch gleich die Möglichkeit zur kulturellen Selbstrepräsentation von den Halbkolonien produziert werden. Spivak geht davon aus, dass die Marx’sche Wertschöpfungstheorie nicht genügend erklären kann, wie soziale Unterdrückung entsteht. Sie schlussfolgert, dass kulturelle Dominanz und Ausbeutung Hand in Hand gehen und sich gegenseitig formen. Daraus herleitend lehnen Kaplan und Grewal jegliche generalisierenden Theorien und Kategorien ab, da diese nicht in der Lage seien, die Komplexität zu erfassen. Sie schlagen Solidarität und Koalitionen vor, aber keinen konkreten gemeinsamen Kampf oder gar gemeinsame Organisierung.

a) Zur Frage des Weltproletariats

Zuerst einmal ist es keine falsche Annahme, dass es kein homogenes Weltproletariat gibt. Der marxistische Klassenbegriff ist keine starre Kategorie, die die Arbeiter:innenklasse an ihrem monatlichen Einkommen misst, sondern argumentiert, dass die Arbeiter:innenklasse im Verhältnis zur Kapitalist:innenklasse und zu den Produktionsmitteln existiert. Der Weltmarkt schuf internationale Wertschöpfungsketten. Im Zuge der Globalisierung wurden vor allem in Asien, aber auch in weiteren Teilen der Welt Millionen in diesen integriert – als Arbeiter:innen, Landlose oder Arbeitslose ohne Zugang zu Produktionsmitteln. Die Kapitalbewegung bestimmt hier die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse und die konkrete Form der Ausbeutung, welche in Zeiten des Aufschwungs durchaus etwas liberaler oder bequemer ausgestaltet sein kann. In Zeiten von Krisen hingegen nehmen die Unterschiede zwischen der Lage der Klasse in imperialistischen Staaten und in den Halbkolonien immer weiter massiv zu. Die Arbeiter:innen der imperialistischen Staaten sind zweifelsohne privilegiert gegenüber denen in den halbkolonialen Staaten, aber sie bleiben dennoch die Ausgebeuteten, sie werden nicht selbst zur herrschenden Klasse. Abgeleitet aus diesen Punkten muss man schon die Existenz einer internationalen Arbeiter:innenklasse an sich gegen diese Annahme sprechen. Diese ist jedoch – wie bereits geschrieben – nicht homogen und es gibt Hindernisse, die dazu führen dass sie nicht als Klasse für sich auf internationaler Ebene agiert.

Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Schicht der Arbeiter:innenklasse, die wir als Arbeiter:innenaristokratie bezeichnen. Sie stellt in den imperialistischen Kernzentren einen privilegierten Teil dar – finanziert aus den Extraprofiten, d. h. der Überausbeutung der Arbeiter:innen der halbkolonialen Welt, und ist teilweise durch Kampfkraft entstanden, teilweise weil sie an einer derartig relevanten Stelle im Wertschöpfungsprozess angesiedelt ist, dass diese Schichten aus Mitteln der imperialistischen Überausbeutung heraus sozial befriedet wurden. Bedeutend ist diese Schicht, weil sie die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft bildet, die die Politik der Sozialpartnerschaft stützt. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist historisch zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt – als politische Polizei, verlängerter Arm des Staatsapparats. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das ist der Kern der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter:innenbürokratie bindet die Klasse somit an die Lohnform, selbst verschleierter Ausdruck des Klassengegensatzes. Sie ist in diesem Sinne ein strategisches Hindernis für Revolutionär:innen, die sich der Aufgabe stellen, den alltäglichen Widerstand (von Teilen) der Arbeiter:innenklasse in unerbitterlichen Widerspruch gegen die Klassengesellschaft zu bringen. Nicht nur, weil das Programm der Sozialpartnerschaft verhindert, dass Kämpfe in imperialistischen Zentren erfolgreich geführt werden, sondern weil die Idee der „Standortlogik“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit“ eine reale Hürde für die Herausbildung eines internationalistischen Standpunkts ausmachen und die Klasse spalten. Deswegen ist es auch zentral, diesem ein politisches Programm entgegenzustellen, anstatt die Unterschiede zwischen Arbeiter:innen in imperialistischen Ländern und Halbkolonien als gegeben hinzunehmen. Dies naturalisiert letzten Endes die vorhandene Spaltung.

Denn gleichzeitig sind die Privilegien der Arbeiter:innenaristrokatie nicht automatisch dauerhaft. Während diese Schicht selbst immer kleiner wird, wie man an Ländern wie Deutschland sehen kann, findet paralell eine fortschreitende Fragmentierung der Klasse in ihrer Gesamtheit statt. Das heißt: Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors nehmen Prekarisierung sowie Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zu und der Unterschied zwischen der Arbeiter:innnenaristokratie und den Arbeiter:innen der Niedriglohnsektoren in den imperialistischen Kernzentren wird größer. Auch die doppelte Ausbeutung in Produktion und Reproduktion der Arbeiterin werden in einer marxistischen Analyse nicht unter den Teppich gekehrt.

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dass die Arbeiter:innenklasse von der Überausbeutung ihrer Kolleg:innen in den Halbkolonien profitiert, so liegt es letzten Endes nicht in ihrem objektiven Interesse, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Dies kann letztlich nur auf einer internationalen Ebene erfolgreich sein oder ist zum Scheitern verurteilt. Um das zu gewährleisten, müssen Forderungen aufgestellt werden, die sich gegen die Auswirkungen des Imperialismus stellen – sei es beispielsweise im Falle von imperialistischen Interventionen, Sanktionen, der Auslagerung umweltschädlicher Produktion oder Ausbeutung. Dies ist möglich, da die entscheidende Gemeinsamkeit in der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft besteht. Demnach vereint diese auch das objektive Interesse, diese Ausbeutung zu überwinden und ermöglicht, es gemeinsame Kämpfe zu führen. Doch die postkoloniale Tradition des transnationalen Feminismus stellt hier die Differenz zwischen Ländern anstatt zwischen Klassen in den Vordergrund.

b) Kulturelle Vorherrschaft und Mehrwertschöpfung

Auch kann nicht behauptet werden, dass die kulturelle Vorherrschaft durch die Wertschöpfungsketten gleich mitproduziert wird, so wie von Spivak behauptet. Es handelt sich hierbei um ein völlig falsches Verständnis von Mehrwertschöpfung und Kapital. Die kulturelle Vorherrschaft dient dem Imperialismus als Begründung und Verschleierung der Ausbeutung, sie bildet einen Teil des gesellschaftlichen Überbaus. Hiermit wird die Spaltung der Klasse vertieft, werden Lohndumping und Differenzen begründet und die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern im Geiste „kultureller“ oder „rassischer“ Überlegenheit erzogen.

Im Endeffekt ist es zwar überhaupt nicht im objektiven Interesse des westlichen Proletariats, aber diese reaktionäre Ideologie stellt eine extrem wichtige Waffe in den Händen der herrschenden Klasse zur Sicherung ihrer globalen Herrschaft dar. Diese wird durch die Privilegien verstärkt, die die Lohnabhängigen – hier vor allem die Arbeiter:innenaristokratie – der imperialistischen Nationen im Verhältnis zu jenen der Halbkolonien genießen. Aber längerfristig und vom historischen Interesse der Lohnabhängigen aus betrachtet, bieten diese nicht nur keine Perspektive zur Überwindung der Ausbeutung, sondern stellten vielmehr eine Fessel für die Arbeiter:innenklasse auch in den imperialistischen Ländern dar, die sie an ihre Ausbeuter:innen bindet.

Diese Annahmen der kulturellen Vorherrschaft kritisieren zwar Spivak, Kaplan und Grewal zu Recht und der Kampf gegen diesen Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus muss in der Arbeiter:innnenklasse und ihren Organisationen entschlossen geführt werden – und zwar sowohl im Hier und Jetzt wie sicher auch nach erfolgreicher Revolution, denn selbst dann werden rückständige, über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte fest verankerte Ideen und Verhaltensweisen nicht ohne bewussten Kampf dagegen verschwinden. Die Theorie kritisiert zwar reaktionäres Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder – sie kapituliert aber letztlich davor, dieses zu bekämpfen. Direkt reaktionär ist ihre Ideologisierung rückständiger Bewusstseinsformen, z. B. religiöser Ideen in der Arbeiter:innenklasse der halbkolonialen Länder. Diese sind letztlich nichts anders als Mittel, mit denen die herrschende Klasse der Halbkolonien „ihre“ Arbeiter:innen (und armen Bauern/Bäuerinnen) politisch-ideologisch an eine kapitalistische Ordnung bindet. Hier zeigt sich der Klassencharakter dieser Theorien (wie postkolonialer Theorie). Scheinbar springen sie den „rückständigen“ Massen der Halbkolonien gegen „eurozentristische“ oder „universalistische“ Kritik bei. In Wirklichkeit zementriert ihr bürgerlicher Paternalismus ideologisch die Unterordnung und Ausbeutung der Lohnabhängigen in der halbkolonialen Welt.

Gagos Vorschlag einer feministischen Internationale: nichts Halbes, nichts Ganzes

Zum Schluss wollen wir uns noch Verónica Gago als zeitgenössische Vertreterin des transnationalen Feminismus kurz näher anschauen. Sie kann als Theoretikerin der mehr oder weniger aktuellen Frauen-/Fem*streikbewegung verstanden werden. Dabei ist herauszustellen, dass die Vernetzung und eine Gleichzeitigkeit der Aktionen am 8. März einen Fortschritt darstellen. Das beweist auch der anfängliche Erfolg der Bewegung, der in der Einleitung beschrieben wurde. Allerdings sind es die theoretischen sowie strategischen Mängel, die dafür sorgten, dass es nicht so bahnbrechend weitergehen konnte, wie die Bewegung begann. In der Tradition des transnationalen Feminismus lehnt Gago natürlich jegliche Homogenisierung der Bewegung durch ein gemeinsames Programm ab. Es ist zwar richtig, dass ein solches auf die unterschiedliche Lage von imperialistischen Staaten und Halbkolonien eingehen muss, jedoch kann es dennoch zwangsläufig einen gemeinsamen Kampf und ein gemeinsames Ziel geben. Schließlich sind die Gegenspieler, die imperialistischen Kapitale, auch dieselben Feinde, die nur in der Masse geschlagen werden können. Stattdessen kann die feministische Internationale Gagos überall praktiziert werden, sei es im Bett, auf derArbeit oder Straße.

Die Annahme, dass ein Streik außerhalb der Lohnarbeit genauso effektiv sein kann, und sei er noch so klein, wie zum Beispiel auf ein Lächeln zu verzichten, geht auch aus dem neuen Klassenbegriff von Gago hervor, welcher Arbeiter:innen, das Bäuerinnen-/Bauerntum und das niedere Kleinbürger:innentum zusammenschließen will, als ob diese in irgendeiner Form wirklich ein gemeinsames objektives Klasseninteresse hätten. Natürlich sollten Marxist:innen versuchen, auch diese Klassen und Schichten auf die Seite der Arbeiter:innenklasse zu ziehen, aber dennoch formen diese oft selbstständige Zwischenklassen, da sie durchaus Produktionsmittel besitzen, sich aber selber ausbeuten müssen und Gefahr laufen, zwischen dem Hauptklassenantagonismus zerrieben zu werden. Trotzdem ist die grundsätzliche Generalisierung nicht unproblematisch und verhindert in gewisser Hinsicht auch, ein konkretes Programm aufzustellen. Denn das revolutionäre Subjekt ist weiterhin die Arbeiter:innenklasse, da nur sie das objektive Klasseninteresse hat, den Kapitalismus zu stürzen, um sich von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, und insbesondere da sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess auch die Möglichkeit hat, diese gesellschaftliche Macht als Kollektiv zu entfalten.

Die Ablehnung von Strategie, Taktik und Programm und das Setzen auf spontane Erhebungen, wie Gago es beschreibt, bezieht sich auf die Annahme, das Bewusstsein der feministischen Bewegung würde spontan entstehen können. Es stellt in gewisser Weise eine Übertragung des Ökonomismus auf Frauen- und LGBTIA* -Kämpfe dar. Aber die Geschichte hat schon oft genug bewiesen, wie zum Beispiel beim Arabischen Frühling, dass spontanes Bewusstsein eben nicht einfach so entsteht und auch kein Programm ersetzen kann, wenn der Aufstand oder die Bewegung erfolgreich sein will. Ein loser Zusammenhang ohne Diskussionen und Debatten über konkrete Forderungen, Taktiken und Strategien führt nicht zur anhaltenden Wirkung der Bewegung.

Was wir stattdessen brauchen

Es braucht eine länderübergreifende Organisierung, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame und koordinierte Handeln verfolgt. Hierbei können nicht die Unterschiede zwischen der gemeinsamen Lage im Vordergrund stehen, wie es zum Beispiel Spivak forderte. Diese müssen anerkannt werden und Raum finden, doch angesichts der globalen Krisen und des Rollbacks gegenüber Frauen (sowie LGBTIA*-Personen) und des Rechtsrucks bleibt unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbezug in den Produktionsprozess!

Auch wenn es als positiv dargestellt worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zum Mann.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine wesentliche Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Diese kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Vom Frauen-/Fem*streik zur proletarischen Frauenbewegung

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da die patriarchalen Strukturen und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße cis Frau“ geht, wie es zurecht vom transnationalen Feminismus kritisiert wurde. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrücken in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden bspw. mit der Organisierung und den Streiks in der Pflege, der Umweltbewegung oder der gegen Rassismus. Beispielsweise könnte gerade der gemeinsame Kampf mit Pflegekräften und betroffenen Frauen im Rahmen der Abtreibungsproteste relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung  ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen zu führen. Jedoch darf es nicht nur bei diesen alltäglichen Forderungen bleiben, sie müssen in ein umfangreiches Aktions- und letztendlich in ein revolutionäres Übergangsprogramm eingeschlossen werden, um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft aufweisen zu können. Für dieses müssen revolutionäre Frauen kämpfen, ebenso wie sie auch für Solidaritätsstreiks der gesamten Arbeiter:innnenklasse agitieren müssen.

Entscheidend ist demnach, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und kommunistische Führung kämpfen.

Eng damit verbunden ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Das hängt eng zusammen mit der notwendigen Zerschlagung des imperialistischen Weltsystems. Denn wer keinen Plan dafür hat und davon ausgeht, dass das sowieso dann alles spontan funktioniert, nimmt in Kauf, dass Leute sich nach dem Misserfolg der Bewegung demoralisiert abwenden, was keine Seltenheit ist. Die stalinistische Idee des „Sozialismus in einem Land“ ist im 21. Jahrhundert noch deutlich illusorischer, als sie es im 20. Jahrhundert war, und bereits hier hat der Stalinismus durch Umsetzung dieser Idee schon Millionen von Arbeiter:innen verraten und dafür gesorgt, dass der Marxismus als gescheitert angesehen wird. Gleichzeitig sind aber durch die internationalisierten Produktionsketten und aufgrund der enormen Fortschritte in der Geschwindigkeit des Austausches und der Kommunikation die Bedingungen für internationale Solidarität um einiges einfacher geworden. Antworten auf diese Fragen und, wie die Kämpfe zu gewinnen sind, können wir nur ausreichend beantworten (und vor allem umsetzen), wenn wir an allen Orten der Welt die fortschrittlichsten Arbeiter:innen, Frauen und Jugendlichen organisieren und für die Perspektive des antikapitalistischen Kampfes gewinnen. Außerdem braucht eine Bewegung nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen-/Fem*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in den Frauen-/Fem*streiks und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen. Auch jene Kräfte, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, müssen wir zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen adressieren, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen. So kann nicht nur die aktuelle Schwäche der Frauen-/Fem*streikbewegung überwunden werden.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




ITO-LFI-Erklärung

Internationale Trotzkistische Opposition (ITO) und Liga für die Fünfte Internationale (LFI), 8. Februar 2024, Infomail 1244, 8. Februar 2024

Die Internationale Trotzkistische Opposition (ITO) und die Liga für die Fünfte Internationale (LFI) haben über die letzten anderthalb Jahre eine Reihe von Treffen und anderen Begegnungen sowie darüber hinaus Briefwechsel und Dokumentenaustausch geführt.

Am 17. Dezember 2023 hielten die führenden Gremien der ITO und der LFI eine Videokonferenz ab, in der bestätigt wurde, dass sie in vielen programmatischen Positionen und einer Analyse der weltpolitischen Lage im Wesentlichen übereinstimmen.

Wir erkennen beide an, dass die gegenwärtige Periode durch einen sich verschärfenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten, den alten imperialistischen Staaten wie den USA und ihren Verbündeten (den westeuropäischen imperialistischen Mächten, Japan, Australien und anderen) auf der einen und den neuen imperialistischen Mächten, China und Russland, auf der anderen Seite gekennzeichnet ist.

Wir sind uns einig, dass alle diese imperialistischen Mächte und aufstrebenden Blöcke bekämpft werden müssen. Die Arbeiter:innenklasse darf keine/n von ihnen unterstützen. In allen imperialistischen Staaten muss sie erkennen, dass die Hauptfeindin in diesem Kampf „im eigenen Land steht“, ihre „eigene“ imperialistische Bourgeoisie.

Gleichzeitig erkennen wir an, dass diese globale Rivalität und dieser Konkurrenzkampf die Notwendigkeit, das Recht auf Selbstbestimmung und die demokratischen Kämpfe unterdrückter Nationen zu verteidigen, nicht in den Hintergrund drängen.

Im Ukrainekrieg müssen wir nicht nur die Kriegstreiberei des russischen Imperialismus zurückweisen, sondern auch die Wirtschaftssanktionen und den neuen Kalten Krieg, der von den USA, Großbritannien, Deutschland und der gesamten EU geführt wird. Allerdings macht der globale imperialistische Konflikt den ukrainischen Kampf gegen die russische imperialistische Invasion nicht reaktionär. Die Arbeiter:innenklasse muss die Ukraine gegen Putins Angriff verteidigen, ohne die reaktionäre Selenskyj-Regierung zu unterstützen, und für die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse von allen bürgerlichen Kräften kämpfen.

Wir stimmen auch darüber überein, dass Revolutionär:innen den palästinensischen Widerstand in Gaza und im Westjordanland gegen den von Israel geführten Krieg mittragen müssen. Es ist die dringende Pflicht aller Revolutionär:innen, die weltweite Bewegung der Solidarität mit Palästina maximal zu fördern und gleichzeitig eine klare revolutionäre antikapitalistische Perspektive für seine Entwicklung aufzuzeigen, indem sie für einen säkularen, demokratischen, sozialistischen Staat in ganz Palästina als Teil einer sozialistischen Föderation im Nahen Osten eintreten.

Wir sind uns einig über die Notwendigkeit der Neugründung einer revolutionären Arbeiter:innen-Internationale und über das Gebot, sofortige praktische Schritte zur Neuformierung zu unternehmen. Dieser Prozess hat dazu geführt, dass beide Seiten zugestimmt haben, in eine Phase der Diskussion einzutreten, die auf eine Fusion auf der Grundlage einer programmatischen Übereinstimmung abzielt.

In zwei wichtigen methodischen Fragen, die mit diesem Prozess zusammenhängen, sind wir jedoch weiterhin unterschiedlicher Meinung.

Punkte der Diskussion

Die ITO und die LFI sind sich einig, dass keine Bewegung, auch nicht die der Gewerkschaften, eine revolutionäre Internationale aufbauen kann, und zwar im Wesentlichen aus den gleichen Gründen, aus denen keine Bewegung, auch nicht die Gewerkschaftsbewegung, eine revolutionäre Partei aufbauen kann. Wie Lenin in „Was  tun?“ erklärt hat, ist Spontaneität nicht genug. Um dieses Ziel zu erreichen, sind ein revolutionäres marxistisches Programm und eine Führung erforderlich.

Wir stimmen zu, dass in einigen Ländern und zu bestimmten Zeiten – wenn es keine Vertretung der Arbeiter:innenklasse im politischen Spektrum gibt, wichtige Gewerkschaftsorganisationen existieren und die revolutionäre Bewegung schwach ist – Revolutionär:innen möglicherweise vorschlagen müssen, dass Massenorganisationen der Arbeiter:innen oder Unterdrückten eine eigene politische Partei gründen. Dieser Vorschlag könnte an die Gewerkschaften in Form einer Arbeiter:innenpartei oder an eine dynamische Massenbewegung eines Sektors der Arbeiter:innenklasse gerichtet werden.

Revolutionär:innen sollten ein antikapitalistisches Übergangsprogramm für eine solche Partei vorschlagen und gleichzeitig erklären, dass die Gründung der Partei einen Schritt nach vorn für die Arbeiter:innenklasse darstellen würde, unabhängig davon, ob ihr Programmvorschlag angenommen wird oder nicht.

Wir stimmen mit Trotzki, Cannon und den amerikanischen Trotzkist:innen von 1938 darin überein, dass diese Partei nicht mit der revolutionären marxistischen Partei oder einer Sektion einer revolutionären Internationale verwechselt werden darf, da diese sich auf aktive Kämpfer:innen stützen müssen, die sich auf der Grundlage des vollständigen marxistischen Programms und der marxistischen Theorie neu gruppieren und entlang demokratisch-zentralistischer Linien organisiert sind.

Die LFI ist allerdings der Auffassung, dass eine solche Arbeiter:innenpartei unter günstigen Umständen als Brücke oder Übergang zu einer vollständig revolutionären Partei dienen könnte, je nachdem, ob es den revolutionären Kräften gelingt, sie für ihr Programm und die leninistische Parteiorganisation zu gewinnen.

Die ITO hingegen sieht diese mögliche Arbeiter:innenpartei als eine Einheitsfrontorganisation wie die Gewerkschaften, deren politischer Ausdruck sie ist. Das Ziel der revolutionären Partei wäre es, zu versuchen, maximalen Einfluss und möglicherweise die Hegemonie in der Arbeiter:innenpartei zu gewinnen, um sie als unterstützendes Instrument im Kampf um die Macht zu nutzen.

Die ITO argumentiert, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass spontane Bewegungen internationale Organisationen gründen, es sei denn, sie werden von Gewerkschaftsbürokrat:innen, reformistischen politischen Parteien und Nichtregierungsorganisationen so stark dominiert, dass die Taktik der Arbeiter:innenparteien nicht mehr angemessen ist.

Die LFI vertritt dagegen die Auffassung, dass Gewerkschafts- und Bewegungsaktivist:innen ein internationales Forum schaffen könnten, das, wenn es nicht wie die Sozialforen des ersten Jahrzehnts des Jahrhunderts von bürokratischen und kleinbürgerlichen Kräften dominiert würde, von Revolutionär:innen mit der Taktik angegangen werden könnte, sie zum Aufbau einer neuen Internationale zu bewegen. Die LFI ist der Ansicht, dass es keinen guten Grund für die Annahme gibt, dass dies prinzipiell weniger fruchtbar ist als die von Trotzki in den späten 1930er Jahren entwickelte „Arbeiter:innenparteitaktik“.

Es könnte damit beginnen, koordinierte gemeinsame Aktionen zur Verteidigung von Arbeiter:innen im Kampf in verschiedenen Ländern und Kontinenten zu organisieren, einschließlich derjenigen, die unter geschlechtsspezifischer, rassistischer oder nationaler Unterdrückung leiden, oder im Widerstand gegen imperialistische Kriege und Interventionen. Aber gleichzeitig wäre es notwendig, unermüdlich für ein vollständig revolutionäres Programm und die Schlüsselelemente des demokratischen Zentralismus zu kämpfen, um dadurch eine revolutionäre Führung und eine Internationale in der Tradition der vorherigen vier zu schaffen.

Die ITO wiederholt auf internationaler Ebene unsere oben beschriebene Analyse der Position von Trotzki und Cannon in den 1930er Jahren, die einfach die Verteidigung der leninistischen Grundsätze zur Notwendigkeit und Rolle der revolutionären Arbeiter:innenpartei in Bezug auf eine komplexe Taktik gegenüber der allgemeinen Arbeiterbewegung darstellt.

Sollte die von der LFI vorgebrachte Hypothese eintreten – was uns (der ITO) äußerst unwahrscheinlich erscheint –, würde die ITO sie nicht als einen Schritt in Richtung der revolutionären Internationale unterstützen, sondern als den Aufbau einer Einheitsfrontorganisation, die auf internationaler Ebene eingesetzt werden soll, wie wir es für eine Arbeiter:innenpartei auf nationaler Ebene angedeutet haben.

Wäre das Forum klassenübergreifend, wie die Weltsozialforumbewegung oder Fridays for Future, wäre die Aufrechterhaltung der politischen Unabhängigkeit und der demokratisch-zentralistischen Disziplin der revolutionären Organisation sowohl in klassenbezogener als auch politischer Hinsicht notwendig.

Der Unterschied hat keine unmittelbaren praktischen Auswirkungen, da der Weltgewerkschaftsbund (WGB) und andere derzeit bestehende internationale Foren von bürokratischen und kleinbürgerlichen Kräften dominiert werden und die LFI nicht vorschlägt, ihnen gegenüber eine Taktik nach Art der Arbeiter:innenparteien anzuwenden. Aber wir müssen die methodologische Meinungsverschiedenheit untersuchen, um zu sehen, ob sie in der Zukunft zu Problemen führen könnte.

ITO und LFI sind sich einig, dass es notwendig ist, sich in einem gemeinsamen Kampf und einer gemeinsame Debatte mit uns nahestehenden revolutionären marxistischen und linksgerichteten zentristischen Organisationen zu engagieren, ihre politischen Positionen zu untersuchen und sich mit ihnen zu vereinigen, wenn wir zu einer prinzipiellen Übereinstimmung kommen.

Wir sind jedoch uneins darüber, wie andere trotzkistische Organisationen zu charakterisieren sind. Die ITO betrachtet die trotzkistischen Organisationen, denen sie den Vorrang gegeben hat, als wirklich revolutionäre Organisationen mit verschiedenen politischen Grenzen und theoretischen oder praktischen Fehlern. Die LFI betrachtet sie als linke Zentrist:innen, die sich hoffentlich nach links bewegen, wie diejenigen, die Lenin in die Dritte und Trotzki in die Vierte Internationale hineingezogen hatten.

Wir sind verschiedener Meinung, ob es ein allgemeines Muster gibt, dass linksgerichtete Aktivist:innen vom Trotzkismus angezogen werden, und daher unsererseits die Notwendigkeit einer allgemeinen Politik der revolutionären Umgruppierung gegenüber konsequent trotzkistischen und linksgerichteten trotzkistisch-zentristischen Kräften besteht.

Die LFI begrüßt zwar alle linksgerichteten nationalen Organisationen oder internationalen Strömungen und wird auf deren Einheit hinarbeiten, glaubt aber nicht, dass eine neue Internationale einfach eine vergrößerte Sammlung von Propagandagruppen sein kann, sondern ein Ziel ist, das in den kämpfenden Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten angestrebt und erkämpft werden muss.

Die ITO stimmt zu, dass eine neue Internationale nicht einfach eine vergrößerte Sammlung von Propagandagruppen sein kann, sondern die Masse der Arbeiter:innenavantgarde einbeziehen muss. Das Problem ist, dass die ITO, die LFI und andere revolutionäre marxistische internationale Gruppen noch zu klein sind, um in den Massenorganisationen viel Einfluss zu haben. Wir sind kämpfende Propagandagruppen, greifen in Kämpfe ein, um unsere Orientierung zu entwickeln und zu demonstrieren. Wir sind dabei, die Kräfte neu zu gruppieren, um in einem größeren Rahmen zu intervenieren. Wir befinden uns in der Phase der „Erklärung der Vier“ in der Entwicklung der Vierten Internationale.

Die ITO und das LFI werden Dokumente austauschen und Treffen organisieren, um die beiden ungelösten Fragen zu erörtern. Um eine unbestimmte Verlängerung der gegenwärtigen Diskussionsphase zu vermeiden, werden wir uns maximal achtzehn Monate Zeit lassen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn die Schlussfolgerung positiv ausfällt, werden wir eine Vorkongressdiskussion über einen Fusionskongress eröffnen, an der nach Möglichkeit auch andere gleichgesinnte Kräfte teilnehmen.

In der Zwischenzeit werden wir die gegenwärtige Phase unserer Diskussion fortsetzen und vertiefen, und zwar durch einen Meinungsaustausch über aktuelle Ereignisse, durch gemeinsame Erklärungen zu wichtigen Fragen, durch die weitere Prüfung von Dokumenten und durch Treffen, um unseren praktischen Ansatz bei klassenkämpferischen Interventionen kennenzulernen und zu überprüfen, ob wir wirklich so einig sind, wie wir in anderen Fragen zu sein scheinen.




Pakistan-Wahlen: Nieder mit der Scheindemokratie! Vorwärts zu einer Arbeiter:innen-Alternative!

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1244, 6. Februar 2024

Am 8. Februar finden in Pakistan Parlamentswahlen statt. Dies wäre zwar das dritte Mal in Folge, dass die Pakistaner:innen eine zivile Regierung wählen, die nicht von Militärdiktaturen unterbrochen wird. Doch die Grenzen dieser demokratischen Struktur sind unübersehbar. Der zum Politiker gewordene Cricketspieler Imran Khan befindet sich heute in der gleichen Lage wie Nawaz Sharif bei der Wahl 2018. Die beiden scheinen die Plätze in dem Rollenspiel getauscht zu haben, das alle etablierten politischen Parteien abwechselnd vor dem mächtigen Militär des Landes spielen.

Wahlen an einem entscheidenden Punkt

Innenpolitisch ist Pakistan mit einer hohen Inflation und Arbeitslosigkeit konfrontiert, und ein Ende der Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ist nicht in Sicht. Aufgrund des hohen Zinssatzes haben Unternehmen mit Schließung gedroht. Die Übergangsregierung hat auch die Privatisierung und den Verkauf der nationalen Fluggesellschaft als Teil der IWF-Vereinbarung abgeschlossen, wobei die Pakistanische Muslimliga Nawaz (PML-N) versprochen hat, den Prozess nach ihrer Regierungsübernahme zu beschleunigen.

Die Inflation ist so hoch, dass Menschen Selbstmord begangen oder ihre eigenen Frauen und Kinder getötet haben. Am 31. Januar erhöhte die geschäftsführende Regierung den Benzinpreis um weitere 13,55 Rupien pro Liter für die nächsten vierzehn Tage. Er liegt nun bei 272,89 Rupien pro Liter, verglichen mit 95 Rupien im Jahr 2018. Der Strompreis pro Einheit für Haushalte ist von 12 im Jahr 2018 auf 30 Rupien angestiegen. Die Gaspreise haben sich mehr als verdoppelt. Der US-Dollar war im August 2018 123 Rupien wert. Heute liegt er bei 279 Rupien. In der Zwischenzeit hat die nationale Unterdrückung verschiedene Gemeinschaften dazu veranlasst, gegen das Leid, das ihnen durch das mörderische kapitalistische System zugefügt wird, auf die Straße zu gehen. Belutschische Frauen haben eine massive Kampagne gegen die ihrer Meinung nach staatlichen Entführungen und außergerichtlichen Tötungen von belutschischen Männern und Jugendlichen ins Leben gerufen. In Gilgit-Baltistan eine Massenbewegung gegen die Streichung der Subventionen für Weizenmehl im Gange, während im pakistanisch verwalteten Kaschmir Millionen von Menschen sich weigern, ihre Stromrechnungen zu bezahlen. In Chaman, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Afghanistan, protestieren zahlreiche Menschen seit drei Monaten gegen diskriminierende Gesetze, die sich gegen die lokale paschtunische Bevölkerung (Achakzai) richten.

Nach außen hin ist Pakistan von Nachbarn wie Afghanistan, Indien und Iran umgeben, zu denen die Beziehungen von offener Feindseligkeit bis hin zu Verhärtungen reichen. Die jüngsten Eskalationen mit dem Iran sowie die Massenabschiebungen afghanischer Flüchtlinge haben Pakistan ins internationale Rampenlicht gerückt. China, der vermeintliche Freund Pakistans, tritt oft als Vermittler auf, wenn die Spannungen in der Region eskalieren. Es ist auch die imperialistische Macht, deren Einflussbereich auf Pakistan immer größer zu werden scheint, insbesondere durch den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC). Zugleich setzt sich die Unterordnung Pakistans unter die USA und andere westliche Mächte fort. Neben der Bindung an den IWF zeigt sich diese Unterordnung am deutlichsten in der drastischen Änderung der pakistanischen Haltung gegenüber Palästina. Während Pakistan den Staat Israel nicht anerkennt, hat der geschäftsführende Premierminister offen darüber gesprochen, wie der Frieden im Nahen Osten durch eine Zweistaatenlösung erreicht werden könnte, und ist damit in die Fußstapfen seiner saudischen Geldgeber getreten und hat den Weg für die Anerkennung des zionistischen Gebildes geebnet.

Prekäre Lage

Zudem ist die Sicherheitslage rund um die Wahlen prekär. Am 31. Januar wurde ein der Pakistan Tehreek-e-Insaf-Partei (PTI; Bewegung für Gerechtigkeit, Partei Imran Khans) nahestehender Kandidat bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Region Bajaur in Khyber Pakhtunkhwa erschossen. Am selben Tag kam es in Belutschistan zu zwei weiteren Zwischenfällen: Ein Mitglied der Awami-Nationalpartei (ANP) wurde während einer Wahlkampfveranstaltung der Partei in Chaman getötet, während fünf weitere Personen bei einem Granatenangriff auf das Wahlbüro der Pakistan Peoples Party (Pakistanische Volkspartei, PPP) in Quetta verletzt wurden. Am 30. Januar wurden bei einer Bombenexplosion auf einer PTI-Kundgebung im Verwaltungsdistrikt Sibi (Belutschistan) vier Menschen getötet und sechs weitere verletzt. Die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte sich zur Verantwortung dafür. Die Aktivitäten der belutschischen Aufständischen und die staatliche Repression gegen sie gehen ebenfalls weiter. Die Belutschische Befreiungsarmee (BLA) soll 15 Menschen getötet haben, während das Militär am 2. Februar erklärte, dass in den vergangenen drei Tagen bei Feuergefechten und Räumungsaktionen in den Städten Mach und Kolpur 24 „Terrorist:innen“ der BLA getötet worden seien. Das Ausmaß der Sicherheitsprobleme in Pakistan lässt sich an der Tatsache ablesen, dass es im Jahr 2023 bei 789 Terroranschlägen und Antiterroroperationen 1.524 gewaltbedingte Todesopfer und 1.463 Verletzte gab, darunter fast 1.000 Todesopfer unter Zivilist:innen und Sicherheitskräften. Trotzdem sollen die Wahlen abgehalten werden.

Die Wahl in Pakistan wird auch internationale Auswirkungen haben. Welche Partei auch immer an die Regierung kommt, wird den künftigen Kurs des Landes in Bezug auf Schlüsselfragen wie die Abhängigkeit des Landes vom imperialistischen Gendarmen IWF, die Neutralität oder deren Fehlen im Russland-Ukraine-Krieg, die Haltung gegenüber den großen Rivalen China und USA, gegenüber dem Iran, insbesondere vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts im Nahen Osten, und die Anerkennung des Staates Israel bestimmen. Pakistan könnte in dem sich zunehmend verändernden globalen Konflikt eine wichtige Rolle spielen, vor allem jetzt, da es Berichte gibt, dass die Saudis noch vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Militärabkommen mit den USA abschließen könnten, solange die Israelis bereit sind, die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung mündlich zu bestätigen. Pakistan ist eines der wenigen Länder, das weiterhin Handelsbeziehungen mit dem Iran unterhält. Eine US-freundliche Regierung in Pakistan könnte unter Druck gesetzt werden, den Iran weiter zu isolieren, um die amerikanisch-saudische Verflechtung in der Region zu stärken. Dies würde auch Auswirkungen auf den chinesischen Einfluss in Pakistan und der Region zeitigen.

Wenig Begeisterung für die Wahlen

Weniger als eine Woche vor dem Wahltag ist die Stimmung in Pakistan alles andere als wahlbewegt. Bei einer Bevölkerung von 270 Millionen werden schätzungsweise 120 Millionen zur Wahl gehen. Doch die Massen scheinen wenig begeistert zu sein. Die Parteien beklagen, dass sie aufgrund steigender Kosten nicht genug Geld haben, um in Wahlkampfaktivitäten zu investieren. Angriffe auf Wahlkundgebungen durch nichtstaatliche Akteur:innen, ein hartes Vorgehen gegen diejenigen, die in Ungnade gefallen sind (Imran Khan und seine Partei), und das mangelnde Vertrauen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in das Wahlsystem haben ebenfalls zu dieser gedämpften Stimmung beigetragen.

Ein großer Teil derjenigen, die Vertrauen in den Staat und seine Wahlpolitik hegen, ist unzufrieden mit der repressiven Behandlung von Khan und seiner Partei. In einem Eilurteil verurteilte ein Antikorruptionsgericht Khan am 31. Januar zu 14 Jahren Haft wegen illegalen Verkaufs von Staatsgeschenken, nur einen Tag, nachdem er in einem anderen Fall zu 10 Jahren Haft verurteilt worden war. Dies ist seine dritte Verurteilung in den letzten Monaten. In den letzten Tagen vor den Wahlen wurden er und seine Frau in einem weiteren Fall wegen „unrechtmäßiger Heirat“ verurteilt. Das Gericht hat entschieden, dass ihre Ehe unislamisch und illegal war, da die Frau die „Iddah“-Frist (Wartezeit) nach der Scheidung von ihrem früheren Ehemann nicht eingehalten und Imran Khan vor Ablauf der vorgeschriebenen Dreimonatsfrist geheiratet hat.

Der ehemalige Cricketstar wurde außerdem für 10 Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen. Seiner Partei wurde das Wahlsymbol entzogen, und eine Reihe von Parteiführer:innen wurde ausgeschlossen oder ihre Ernennungsunterlagen wurden abgelehnt. Diejenigen, die noch zu den Wahlen antreten können, müssen als Unabhängige kandidieren. Zwar ist keine dieser Taktiken neu, doch das Ausmaß der Repression ist für „demokratische Wahlen“ beispiellos. Der Zeitpunkt der Verurteilung Khans deutet auch darauf hin, dass die Wähler:innenschaft für seine Partei gestimmt hätte. Inzwischen ist Sharif, ebenfalls ein ehemaliger Premierminister, aus seinem luxuriösen Exil in London zurückgekehrt. Er wurde abgesetzt und abgelehnt, weil er beim militärischen Establishment in Ungnade gefallen war, als Khan deren Unterstützung genoss und an die Regierungsmacht kam. Heute ist Sharif der Favorit für das Amt des nächsten Premierministers, während seine Vorstrafen in den Papierkorb gewandert sind.

Alle etablierten Parteien haben in jedem Wahlzyklus ein ähnliches Schicksal erlitten. Dennoch schaffen sie es nie, sich gegen diese Umgangsmethode zusammenzuschließen. Und warum sollten sie auch? Schließlich liegt es in ihrem Interesse, das System aufrechtzuerhalten, das sich auf ein allmächtiges Militär stützt, das das Sagen hat, während diese nationalen Spitzenpolitiker:innen abwechselnd als ihre Marionetten fungieren. Die Widersprüche des globalen kapitalistischen Systems zwingen sie dazu, sich irgendwann in ihrer Amtszeit gegen ihre Herr:innen in Uniform zu stellen, was dazu führt, dass Ausschlüsse und Entlassungen zur Routine zu werden scheinen. Man lasse sich aber nicht täuschen. Jedes Mal, wenn sich ein pakistanischer nationaler Bourgeois gegen die Streitkräfte stellt, ist dies darauf zurückzuführen, dass sie sich nicht einig sind über die Strategie zur Verteidigung der Interessen eines Teils der pakistanischen Kapitalist:innen. Meistens beruhen diese Spaltungen auf imperialistischen Rivalitäten. Verschiedene Teile des pakistanischen Kapitals sind mit verschiedenen globalen Mächten verbündet. Es geht immer darum, welcher Teil seinen Anteil am Kuchen bekommt, indem er seine Vorherrschaft durchsetzen kann. Doch für welche Seite sich ein:e Premierminister:in auch immer entscheidet, für die ausgebeuteten und unterdrückten Massen hat das wenig bis gar keine Auswirkungen. Die Kapitalfraktionen sind Bollwerke des neoliberalen Kapitalismus und Förder:innen der imperialistischen Enteignung. Das politische Programm einer jeden etablierten Partei basiert praktisch auf Privatisierung, Sparmaßnahmen, Inflation und Personalabbau. Insbesondere die PML-N und PTI sind Parteien des Großkapitals.

Und dann sind da noch die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die Armen des Landes, deren Leben sich unter dem erdrückenden Diktat des IWF, das sowohl die Regime von Nawaz als auch von Khan gerne akzeptiert hatten, nur verschlechtert hat. Diese Schichten haben aus ihren Erfahrungen gelernt, dass die Wahl für sie nichts ändern wird. Das Grundverständnis des Wahlmanifests der PML-N besteht darin, wie man im Interesse des Großkapitals regiert, indem man die Industrie effizient betreibt, die Exporte steigert und die Inflation als Ergebnis dieser wirtschaftlichen Entwicklung senkt. Die PPP von Bilawal Bhutto Zardari hat ein vergleichsweise „besseres“ Manifest vorgelegt, aber Bhutto entlarvte dessen Realität, indem er es als einen Traum bezeichnete. Jede PPP-geführte Regierung hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie die Partei des neoliberalen Kapitalismus ist, die sich in einem leicht sozialdemokratischen Jargon präsentiert.

Was tun?

Die von Belutsch:innen bewohnten Bezirke des Punjab (Pandschab) und die Regionen Belutschistan, Kaschmir, Gilgit-Baltistan und Khyber Pakhtunkhwa haben sich gegen die wirtschaftliche und nationale Unterdrückung erhoben. Vor allem die Frauen der Belutsch:innen haben mit ihrem gefahrvollen Marsch von Turbat nach Islamabad ihr Bewusstsein unter Schichten der pandschabischen Massen verbreitet. Die Aufstände der Unterdrückten haben das Potenzial, den Widerstand in ganz Pakistan zu inspirieren. Alle politischen Parteien Pakistans haben gezeigt, dass sie Söldnerinnen des globalen Kapitalismus sind. Die Politik dieses Systems und die herrschenden Klassen, die die Show leiten, werden zunehmend entlarvt. Alle Herrscher:innen sind entblößt und abgelehnt. Wir sind zwar gegen das harte Vorgehen gegen die PTI, frönen aber gleichzeitig auch keinen Illusionen in diese Partei.

Deshalb brauchen wir eine Alternative aus der Arbeiter:innenklasse. Bei jeder Wahl mobilisiert die Bourgeoisie die plebejischen Massen, aber sie sorgt auch dafür, dass die politische Macht nicht mit ihnen geteilt wird. Auf diese Weise bleiben wir selbst bei sogenannten demokratischen Wahlen entrechtet, weshalb die vom IWF auferlegten Privatisierungen und Sparmaßnahmen unhinterfragt angenommen werden.

Während die Labour Qaumi Movement (LQM) ihre Kandidat:innen aufgrund technischer Probleme und rechtlicher Einschränkungen nicht aufstellen konnte, treten 45 Kandidat:innen anderer linker und fortschrittlicher Organisationen in verschiedenen Regionen zu den Wahlen an. Wir rufen Arbeiter:Innen, Gewerkschaften, Unterdrückte und alle linken, feministischen und fortschrittlichen Kräfte auf, für die Genoss:Innen der Barabri Party Pakistan, Awami Workers‘ Party, Haqooq-e-Khalq Party (HKP; vormals: Haqooq-E-Khalq Movement, HKM), Mazdoor Kisan Party und andere ArbeiterInnen- und fortschrittliche Organisationen zu stimmen, ohne deren im Wesentlichen reformistische Programme zu unterstützen. Gleichzeitig fordern wir diese Kandidat:innen auf, unmittelbar nach den Wahlen die folgenden Vorschläge aufzugreifen.

Wir rufen alle Arbeiter:innenorganisationen und fortschrittlichen Kräfte auf, eine Einheitsfront zu bilden, um sich auf die bevorstehenden Angriffe der nächsten Regierung vorzubereiten und dagegen zu kämpfen, die von der Auferlegung eines arbeiter:innenfeindlichen IWF-Programms und der Fortsetzung der Angriffe auf demokratische Freiheiten bis hin zur Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten und der Abschiebung und Diskriminierung von Flüchtlingen reichen werden. Wir rufen die Arbeiter:innenorganisationen auf, eine landesweite Arbeiter:innenkonferenz einzuberufen, um den Kampf gegen die nächste kapitalistische Regierung zu koordinieren.

Gleichzeitig betonen wir die Notwendigkeit, dass die Arbeiter:innenklasse über eine eigene Partei verfügt. Wir unterstützen die Schritte der Labour-Qaumi-Bewegung in diese Richtung, und dies muss mit Entschlossenheit fortgesetzt werden. In dieser Hinsicht plädieren wir dafür, dass eine solche Partei eine revolutionäre Partei wird, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die Klassenkämpfer:innen in die Lage versetzt, sich den Herausforderungen des Kapitalismus zu stellen, die Kämpfe der Arbeiter:innenschaft und Unterdrückten zu vereinen und für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu kämpfen, die sich auf Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine Arbeiter:innen- und Volksmiliz stützt, die das Großkapital und die imperialistischen Unternehmen enteignet und einen Notfallplan einführt, der den Bedürfnissen der Massen und nicht den Profiten einiger weniger dient.




Neue Konflikte zwischen Kosovo und Serbien

Frederik Haber, Infomail 1243, 24. Januar 2024

In den letzten zwölf Monaten haben sich die Konflikte zwischen Serbien und dem Kosovo mehrfach verschärft, nachdem sich die Lage über viele Jahre hinweg beruhigt zu haben schien. Diese Spannungen entstanden vor allem wegen drei Themen. Die Medien und Politiker im Westen gehen nur selten auf die Einzelheiten ein, sondern ziehen es vor, immer wieder das gleiche Narrativ zu verbreiten: Die Serb:innen wollen nur Ärger machen. Sie können immer noch nicht akzeptieren, dass der Kosovo für sie verloren ist, das Ergebnis der Kriege der 1990er Jahre, der Nato-Intervention und der einseitigen Unabhängigkeitserklärung von 2008. Die Botschaft der Medien lautet, dass hinter all dem Ärger die Russ:innen stecken, die immer bereit sind, einen Krieg anzuzetteln. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Dinge alles andere als einfach sind und die gegensätzlichen Rechte und Interessen der Kosovar:innen und der serbischen Minderheiten schwer zu lösen sind. Darüber hinaus sind die Ziele und Maßnahmen der EU und der USA in keiner Weise geeignet, dem Balkan Frieden und Fortschritt zu bringen.

November und Dezember 2022: Straßensperren, Nummernschilder und Kommunalwahlen

Letztes Jahr begannen militante Aktivist:innen aus Serbien, drei Grenzübergänge zu blockieren, darunter auch Merdare, einen wichtigen Transitknotenpunkt. Dabei wurden sie offensichtlich von der Regierung in Belgrad unterstützt, denn die serbische Polizei griff in keiner Weise ein. Die Regierung in Pristina schloss daraufhin im Gegenzug die Grenzen.

Hintergrund ist die Tatsache, dass die Bewohner:innen der Städte und Dörfer mit serbischer Bevölkerungsmehrheit noch immer die alten serbischen Nummernschilder verwenden. Der Kosovo hatte dies bisher geduldet. Serbien hingegen hatte die kosovarischen Nummernschilder toleriert, wenn sie durch eine zusätzliche befristete Papplizenz zum Preis von 2 Euro abgedeckt waren.

Am 22. Dezember erklärte der Premierminister des Kosovo, Albin Kurti, dass die serbischen Nummernschilder nicht mehr akzeptiert würden. Serbien reagierte sofort und ließ keine Fahrzeuge mit kosovarischen Kennzeichen mehr über die Grenze. Neben den gegenseitigen Straßensperren wurden die Armeen in Alarmbereitschaft versetzt und die EU und die USA entsandten ihre Diplomat:innen dorthin.

Die EU zwang Kurti zum Rückzug

Bei den Kommunalwahlen in Bezirken mit serbischer Mehrheit, die am 18. Dezember 2022 stattfanden, rief die nationalistische serbische Partei zum Boykott auf, was von den serbischen Wähler:innen weitgehend befolgt wurde. Dies führte dazu, dass Albaner:innen in Städten und Dörfern, in denen sie eine kleine Minderheit darstellen, gewählt wurden. Außerdem traten alle öffentlichen Bediensteten wie Richter:innen und Polizeichef:innen von ihren Ämtern zurück. Die Regierung in Pristina reagierte darauf, indem sie sie durch staatstreue Personen albanischer Abstammung ersetzte. Ein ehemaliger Polizist wurde wegen eines Angriffs auf die Wahlkommission verhaftet.

Im Frühjahr kam es erneut zu Zusammenstößen, doch die schwersten Auseinandersetzungen fanden im September 2023 statt, als rund 30 schwer bewaffnete Kämpfer:innen aus Serbien ein Kloster in der Nähe von Mitrovica besetzten. Die kosovarische Polizei und serbische Truppen schalteten sich ein und 4 Menschen wurden getötet.

All diese Spannungen haben sich entwickelt, während die Verhandlungen zwischen den beiden Ländern unter Kontrolle der EU fortgesetzt wurden.

Abkommen von Ohrid

Bereits im Januar 2023 verpflichteten die EU-Staats- und Regierungschefs Kurti und den serbischen Staatspräsidenten Vucic in dem berühmten Badeort Ohrid im Süden Nordmazedoniens, ein Abkommen zu akzeptieren, das ihre Diplomat:innen bereits ausgearbeitet hatten.

Das „Abkommen über den Weg zur Normalisierung zwischen Kosovo und Serbien“, kurz Ohrid-Abkommen genannt, wurde laut EU (und Wikipedia) von der Europäischen Union „vermittelt“. Vermittlung ist per Definition ein Prozess, in dem ein oder mehrere „Vermittelnde“ versuchen, einen Konflikt zu lösen, indem sie beide Seiten eines Konflikts herausfinden lassen, was für sie am wichtigsten ist, und sie so bereitmachen, die Ziele ihrer Gegner:innen teilweise zu akzeptieren. Vermittelnde sollten natürlich neutral sein und keine eigenen Interessen hegen.

In Ohrid waren weder die EU-Führer:innen neutral noch wollten Kurti und Vucic dieses Abkommen. Obwohl beide versprachen, es am 27. Februar 2023 mündlich zu akzeptieren, wurde das Abkommen bis heute nicht unterzeichnet.

Dahinter steckt ein Manöver beider Seiten. Vucic hat mündlich zugestimmt, aber nie ein Papier unterzeichnet. Kurti sagte und sagt, er würde unterschreiben, um seinen guten Willen gegenüber der EU und den USA zu zeigen, verließ sich aber auf die Weigerung von Vucic, dies zu tun, um es nicht selber tun zu müssen.

Das Abkommen verpflichtet Serbien nicht ausdrücklich, den Kosovo als unabhängigen Staat anzuerkennen, aber es hindert es daran, sich dem Zugang des Kosovo zu internationalen Organisationen wie dem Europarat, der Europäischen Union oder der NATO zu widersetzen. Außerdem muss Serbien die nationalen Symbole, Pässe, Diplome und Kfz-Kennzeichen des Kosovo anerkennen.

Das Kosovo muss ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für seine serbischstämmigen Einwohner:innen gewährleisten. Eine solche Gemeinschaft oder Assoziation sollte 2015 offiziell im Rahmen des kosovarischen Rechtsrahmens eingerichtet werden, aber ihre Gründung wurde wegen Konflikten über den Umfang ihrer Befugnisse verschoben. Im Rahmen eines von der Europäischen Union vermittelten Normalisierungsabkommens, das von den Staats- und Regierungschefs des Kosovo und Serbiens im März 2023 angenommen wurde, sollte das Kosovo unverzüglich in einen Dialog mit der EU eintreten, um ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für seine serbischstämmige Gemeinschaft zu gewährleisten.

Als die Verhandlungen und Kämpfe weitergingen, waren es die Staats- und Regierungschef:innen der EU selbst, die am 26. Oktober 2023 einen Entwurf für ein Statut zur Bildung eines Verbands der Gemeinden mit serbischer Mehrheit im Kosovo vorlegten, und die Staats- und Regierungschefs des Kosovo und Serbiens erklärten sich bereit, ihre Verpflichtungen umzusetzen. Aber wieder einmal scheiterte es. Noch ist nichts unterschrieben. Die Formulierungen des Textes sind immer noch von keiner Seite veröffentlicht worden.

Grundlegende Konflikte

Die Position Vucics ist klar: Nach internationalem Recht ist die einseitige Abtrennung eines Staatsgebiets illegal und das Kosovo gehört letztlich zu Serbien. Dabei wird Serbien von Spanien und anderen Ländern unterstützt, die befürchten, dass sich Regionen abspalten und für unabhängig erklären könnten, wie Katalonien oder Euskadi (das Baskenland) im Falle Spaniens.

Serbien wird auch von Ländern wie Russland aus geostrategischen Gründen unterstützt. In der Frage des Selbstbestimmungsrechts vertritt Russland im Falle der Krim, die 2014 ein Referendum zur Loslösung von der Ukraine abhielt, oder der Donbass-Republiken genau das Gegenteil. Es erübrigt sich zu sagen, dass die USA, Deutschland und die meisten anderen westlichen Imperialist:innen das Selbstbestimmungsrecht im Falle der Krim oder des Donbass grundsätzlich ablehnen, nicht nur mit der Begründung, dass die Referenden demokratisch waren oder nicht.

Die zweite Frage ist, was eine solche Gemeinschaft von Gemeinden mit serbischer Mehrheit bedeutet. Kosovo befürchtet, dass sie eine fortgesetzte serbische Einmischung in die nationale Politik bedeutet, indem sie die serbischen Minderheiten als ihre Werkzeuge benutzt. Beispiele dafür liegen nicht weit entfernt. In Bosnien und Herzegowina werden der kroatische und serbische Teil der Bevölkerung von nationalistischen Parteien geführt, die direkt von Kroatien und Serbien kontrolliert werden. Aber auch die Aufteilung Bosniens in ethnische Einheiten und die Föderation durch EU und USA im Dayton-Abkommen ermöglicht es diesen imperialistischen Mächten, das Land dauerhaft wie eine Kolonie zu kontrollieren. Generell ist die Taktik der Instrumentalisierung von Minderheiten in vielen Ländern immer wieder angewandt worden.

Lulani i medvegjes, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Ein Blick auf die Karte der vorgeschlagenen Assoziation im Kosovo zeigt, dass sie aus dem Norden des Landes besteht, wo die Serb:innen eine starke Mehrheit haben, und einigen unzusammenhängenden Regionen im Süden, wo es keine klare Mehrheit gibt. Die Karte wurde auf Grundlage einer Volkszählung im Jahr 2011 erstellt, die weitgehend boykottiert wurde, sowie Annahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die einzige halbdemokratische Abstimmung bzw. das einzige Referendum war eine Abstimmung der Goran:innen-Minderheit, einer slawischsprachigen muslimischen Bevölkerungsgruppe, im November 2013, in der der Wille zum Ausdruck gebracht wurde, der vorgeschlagenen Gemeinschaft serbischer Gemeinden beizutreten. Dies war jedoch die einzige Ausnahme von der Regel.

Die andere offene Frage in Bezug auf diese Struktur ist ihr Zweck. Dient sie dem kulturellen Austausch oder soll sie eine offizielle staatliche Struktur sein? Es sind nicht viele Informationen verfügbar, aber die EU plant, dass diese Vereinigung für Bildung, Kultur und Gesundheit zuständig sein soll. Da die kleinste dieser Regionen jedoch weniger als 2.000 Einwohner:innen zählt, bestehen Zweifel an der Realisierbarkeit einer solchen Einrichtung. Sie könnte immer noch zu einem Weg für die Teilung des Kosovo werden.

Das Projekt der EU, das auch von den USA und der NATO unterstützt wird, ist für die Nationalist:innen auf beiden Seiten mehr oder weniger unannehmbar: Für die serbischen Nationalist:innen würde es bedeuten, dass sie die Illusion aufgeben müssten, Kosovo sei eine „Provinz Serbiens“. Für das Kosovo würde es bedeuten, einige Enklaven in seinem Land zu haben, die außerhalb der Gesetzgebung und der Herrschaft der staatlichen Exekutive stehen und jederzeit für Provokationen genutzt werden könnten.

Vucic und Kurti haben den EU-Machthaber:innen gegenüber immer wieder Ja gesagt, aber gehofft, dass der andere Nein sagen wird. Vucic steht in seinem Land unter großem Druck, er kann es sich nicht leisten, die Unterstützung der nationalistischen Rechten zu verlieren. In Belgrad gab es in den letzten Monaten zahlreiche Proteste, und er setzt bewusst auf die nationalistische Agenda, um seinen Posten zu retten.

Deshalb rief Vucic zu Neuwahlen auf, die am 17. Dezember stattfanden. Vucics Partei gewann diese Wahlen und besiegte die liberale Opposition. Es gibt Behauptungen über Unregelmäßigkeiten, aber das Wahlergebnis ist eindeutig. Die Position von Vucic ist jetzt stärker.

Kurti hat die meisten der von ihm versprochenen sozialen Leistungen nicht erbracht, und die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich aufgrund der weltweiten Krisen. Natürlich ist er auch ein erbitterter Nationalist, aber als Teil seines „linken Bonapartismus“ befürwortet er nicht nur die „Unabhängigkeit“ von Serbien, sondern gibt auch vor, von der imperialistischen Vorherrschaft der USA und der EU unabhängig zu sein, und sein Widerwille, sich dem Diktat der EU zu unterwerfen, hat seine Unterstützung im Kosovo erhöht.

Imperialistische Interessen

Der gesamte Prozess macht auch deutlich, wo die Interessen der USA und der EU liegen. Die USA wollen ein Abkommen, das dem Kosovo den Beitritt zur NATO ermöglicht. Sie unterhalten bereits einen großen Militärstützpunkt im Kosovo in der Nähe der Stadt Ferizaj. Der Stützpunkt ist eine Art „Forward Operating Site“, die quer durch den vom US-Geheimdienst so bezeichneten Bogen der Instabilität verläuft und bis zu 7.000 Soldat:innen für direkte Interventionen in der Region aufnehmen kann.

Die EU will keinen Krieg in der Region, aber auch keinen stabilen Frieden. Das jahrhundertealte Konzept der imperialistischen Mächte, die Völker des Balkans in einem Dauerkonflikt zu halten und sie gegeneinander auszuspielen, funktioniert für sie auch heute noch. In der gegenwärtigen Situation konzentrieren sich die EU-Führer:innen ganz auf die Ukraine, Moldawien (Republik Moldau) und den Krieg gegen Russland. Sie wollen sich einfach nicht um den Balkan kümmern und werden das Ergebnis der serbischen Wahl sicher als Ausrede dafür nehmen.

Ein geringeres Interesse besteht darin, die beiden Politiker loszuwerden. Die USA haben Kurti immer gehasst, weil er nicht so einfach zu handhaben war wie seine Vorgänger, und haben bereits einen parlamentarischen Putsch organisiert, um ihn loszuwerden oder zumindest zu zähmen. Die EU würde sich sehr gerne Vucics entledigen. Daher sind beide beteiligten Mächte froh, sie vor ihrem Volk zu demütigen.

Demokratie und Sozialismus

Ein unterdrücktes Volk oder eine nationale Minderheit hat das Recht auf Selbstbestimmung. Dies ist die einzige Garantie gegen Diskriminierung und Unterdrückung. Das gilt für die Albaner:innen im Kosovo, die das Recht hatten, sich von Serbien abzuspalten, genauso wie für die Krim, den Donbass, Katalonien oder Tschetschenien. Die Frage, ob das unterdrückende Land (oder seine Verfassung) dies anerkennt, ist irrelevant. Im Gegenteil: Die Nichtgewährung des Selbstbestimmungsrechts stellt bereits eine Form der Unterdrückung dar. Dieses demokratische Grundrecht muss vor allem von der Arbeiter:innenklasse und der marxistischen Linken verteidigt werden. Sie können sich von den Interessen der nationalen Bourgeoisie in jedem Land oder jeder Nationalität befreien, die letztlich immer versucht, ein gewisses Maß an Kontrolle und Ausbeutung zu etablieren. Alle nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Republiken liefern den Beweis dafür, einschließlich der Gründung des Kosovo selbst und der Entwicklung der UCK-Führer:innen von „Freiheitskämpfer:innen“ zu Mafiabossen im Dienste der USA und EU.

Dies zeigt, dass die rein demokratische Forderung nach Selbstbestimmung und dem Recht auf Abspaltung keine endgültige Lösung verkörpert, solange Ausbeutung und Unterdrückung fortbestehen, und dies wird der Fall sein, solange Kapitalismus und Imperialismus die Welt beherrschen. In der gegebenen Situation verteidigen wir das Recht der Mitrovica-Region, sich vom Kosovo abzuspalten, angesichts der Diskriminierung, der Serb:innen und andere Minderheiten heute im Kosovo ausgesetzt sind. Aber weder für die Wirtschaft noch irgendeinen anderen Aspekt der Gesellschaft ist ein solcher Zersplitterungsprozess für sich genommen eine dauerhafte, längerfristige Perspektive. Unter einer bürgerlich-nationalen Führung in Serbien würde sich die nationale Unterdrückung höchstwahrscheinlich wieder gegen die albanische Minderheit richten.

Deshalb müssen Sozialist:innen den Kampf gegen nationale Unterdrückung mit einem Programm für die Zukunft des gesamten Balkans verbinden, das letztlich mit dem Sturz des Kapitalismus und der Ausbeutung verbunden ist. Seit mehr als hundert Jahren wird dies in der Losung einer „Föderation der sozialistischen Balkanstaaten“ ausgedrückt.

Heute müssen Sozialist:innen im Kosovo, in Serbien und im Rest der Welt das Recht der Kosovar:innen verteidigen, ihren eigenen, von Serbien unabhängigen Staat zu gründen, sollten aber gleichzeitig gegen jede Diskriminierung von Serb:innen, Roma/Romnja und anderen Minderheiten in diesem Staat kämpfen. Ebenso sollten sie sich gegen die Diskriminierung von Albaner:innen, Bosnier:innn usw. in Serbien wenden. Es ist besonders notwendig, die Arbeiter:innenklasse für diese Ziele zu gewinnen, denn alle Unterdrückung, Diskriminierung und nationalen Konflikte dienen letztlich der herrschenden Klasse für ihre Ausbeutung und politischen Manöver.

Sozialistische Föderation der Balkanstaaten

Selbst die demokratischsten Forderungen können angesichts der katastrophalen Lage in allen Ländern des Balkans und ihrer totalen wirtschaftlichen Abhängigkeit vom ausländischen, vor allem EU-Kapital, keine positive soziale und wirtschaftliche Perspektive bieten.

Es ist notwendig, dass Sozialist:innen aus allen Balkanländern die nationalistischen Ansichten, die die letzten Jahrzehnte dominiert haben, überwinden und ein Programm für die Region und alle ihre Völker entwickeln, das politische und wirtschaftliche Perspektiven verbindet.

Schlüsselelemente eines solchen Programms müssen sein:

  • Recht auf Selbstbestimmung. Gleiche Rechte für alle Völker, Anerkennung der vollen demokratischen Rechte aller Minderheiten (z. B. Verwendung ihrer Muttersprache in Schulen oder öffentlichen Einrichtungen).

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Bildung für alle, Verstaatlichung aller betroffenen Einrichtungen.

  • Renten, die einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Für ein Programm öffentlicher Arbeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen für alle zu einem von der Arbeiter:innenbewegung festgelegten Lohnsatz, der an die Inflation gekoppelt ist.

  • Um die Produktivität der Landwirtschaft nachhaltig zu steigern, sind Bäuer:innenkooperativen mit staatlicher Unterstützung notwendig.

  • Nein zu jeder imperialistischen Einmischung und Ausplünderung; Streichung der Schulden der Länder.

  • Enteignung des gesamten Großkapitals, ob ausländisch oder einheimisch, um die Infrastruktur zu entwickeln und die Produktion zu planen. Wiederverstaatlichung aller privatisierten Dienstleistungen unter Arbeiter:innenkontrolle, nicht in den Händen von Staatsbürokrat:innen.

  • Für Arbeiter:innenregierungen, die sich auf Räte der werktätigen Massen und eine bewaffnete Miliz stützen. Für eine Sozialistische Föderation auf dem Balkan.

  • Für revolutionäre Parteien der Arbeiter:innenklasse und eine Internationale, die für ein solches Programm der permanenten Revolution kämpft.

Der andauernde Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien und die Unfähigkeit der nationalen Regierungen und der ausländischen Imperialist:innen, eine zufriedenstellende Lösung voranzutreiben, könnte eine gute Gelegenheit für Sozialist:innen bieten, sich mit ihren Vorschlägen auf einer solchen internationalistischen Grundlage Gehör zu verschaffen.