Welches Programm für den KI-Kapitalismus?

Felix Ruga, REVOLUTION, Infomail 1220, 20. April 2023

Künstliche Intelligenz gab es in primitiverer Form schon lange. Doch mit dem Projekt „ChatGPT“ ist eine Welle von Verblüffung bis Begeisterung durch die digitale Welt gegangen: Krass, was auf einmal geht! Dinge, die noch vor wenigen Jahren wie Science Fiction gewirkt haben, sind jetzt öffentlich zugänglich. Weniger bekannt ist die neuere Version „ChatGPT 4“: Im Gegensatz zu ChatGPT 3, welches eigentlich nur bekannte Informationen gezielt und clever remixen und ausgeben kann, wird bei der neuen Version argumentiert, dass diese Formen tatsächlicher Intelligenz aufweise. Das heißt: Probleme lösen, deren Antwort(en) zu äquivalenten Problemen nicht eingespeist wurde/n. Dieser Fortschritt ist innerhalb weniger Jahre geschehen und vor allem viel früher, als alle erwartet haben. Daneben stehen auch einige andere Bereiche, die ebenfalls auf maschinelles Lernen zurückgreifen, in den Startlöchern: künstliche Produktion von Bildern und Videos, autonomes Fahren und die Verwendung von „Big Data“ in den Naturwissenschaften.

Als Reaktion darauf kam schon von selbsternannten Expert:innen wie Elon Musk, dass die Technologie so fieberhafte Fortschritte an den Tag lege, dass man für eine Weile die Notbremse in den Entwicklungsstudios ziehen müsse, um rechtliche, ethische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen herzustellen. Zum einen kann das wieder ein cleverer Werbetrick sein und ist letztendlich wahrscheinlich nur schwer umsetzbar, zum anderen macht das aber schon einen richtigen Punkt: Für den Kapitalismus kann die ganze Angelegenheit tatsächlich weiterreichende Änderungen mit sich bringen. Die Rahmensetzung sollten wir aber nicht allein der herrschende Klasse überlassen. Es muss die Aufgabe der Arbeiter:innenbewegung sein, darauf programmatische Antworten zu liefern! Diese würden wir an der Stelle grob in zwei Teile unterteilen: die staatlichen und die wirtschaftlichen Änderungen.

Social Credits und Drohnen

Aus Filmen und Videospielen kennen wir die dystopischen Zukunftsszenarien, in denen sich künstliche Intelligenz mit autoritären Staaten mischt: ein allmächtiger Staat, der mittels automatisierter Überwachung und Bestrafung die Bevölkerung kontrolliert, ohne dass dafür echte Menschen ihre Moral dazwischenschalten können. Erhebungen können mit Drohnen und bewaffneten Robotern zerschlagen werden. Kriege werden nicht durch Menschenhand geführt, aber dennoch sind es die Menschen, die darunter leiden.

Das sind natürlich arg einseitige und künstlerische Darstellungen, aber dennoch muss uns klar sein, dass im Zweifelsfall und in zugespitzten gesellschaftlichen Situationen alle Technologien gegen die Arbeiter:innen verwendet werden können. Das ist sicherlich auch eine Angst, die viele momentan mit künstlicher Intelligenz verbinden, und auch eine, die Kommunist:innen unbedingt ernst nehmen sollten, worauf sie eine Antwort formulieren müssen, ohne in fortschrittsgläubigen Spott zu verfallen.

Die zentrale Losung sollte dabei sein, dass die Entwicklung und Verwendung vor allem von fortgeschrittener künstlicher Intelligenz unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt und dafür die jeweiligen Techunternehmen enteignet werden müssen. Das ist die einzige Möglichkeit, um wirklich zuverlässig zu erreichen, dass diese nicht dazu eingesetzt wird, um automatisierte Unterdrückung und massenhaftes Leid zu produzieren, sondern um die progressiven Elemente wirklich herauszuschälen: Entlastung und Befreiung von Teilen der entfremdeten Arbeit. Außerdem hätte künstliche Intelligenz in einer demokratischen Planwirtschaft ein besonderes Potential, wenn es um die Erhebung von Bedürfnissen und Verteilung von Gütern geht. Dazu wollen wir demnächst noch einen Artikel am Beispiel von „Cybersyn“ in Chile veröffentlichen.

Klar sollte sein: Halten wir diese Technologie nicht auf, sondern integrieren sie in ein Programm für mehr Freizeit und Freiheit! Doch wie sieht hier die wirtschaftliche Ebene aus?

Roboterarme und schmutzige Hände

Die kapitalistische Epoche wird begleitet von vielen „technologischen Revolutionen“. Und seien es nun die Dampfmaschine, die Elektrizität oder die Digitaltechnik: Jedes Mal war die Befürchtung groß, dass diese dazu führen, dass die Menschen nun ein für alle Mal überflüssig gemacht werden und die Arbeitslosigkeit riesig sein wird. Doch letztendlich ist es doch alles etwas anders gekommen, indem zwar viele Arbeitsstellen überflüssig geworden sind, aber die Arbeitskraft selbst nicht. Wird das bei der künstlichen Intelligenz genauso laufen?

Ein entscheidender Unterschied könnte sein, dass vorherige Technologien nicht so leicht kopierbar, sondern immer an „Materie“ geknüpft sind. Für Maschinen und Elektrizität braucht man eben Rohstoffe und Arbeit, um mehr Menschen damit zu versorgen. Dadurch kommt es vor allem in Halbkolonien dazu, dass selbst bei vorhandenem Know-how keine Technisierung durchgeführt wird, weil selbst der ineffizienteste Einsatz von Arbeitskraft immer noch günstiger ist, als eine Maschine anzuschaffen.

Je weiter nun die Technisierung fortschreitet, desto mehr Arbeitskraft wird frei und sie damit insgesamt billiger, was wiederum die Technisierung ausbremst. Deswegen werden bis heute so viele Tätigkeiten weiterhin per Hand und unter scheußlichsten Bedingungen durchgeführt. Das ist eines der vielen Argumente dafür, dass der Kapitalismus in Wirklichkeit technologischen Fortschritt aufhält, statt ihn zu beschleunigen.

Doch dieses Mal könnte es anders sein: Künstliche Intelligenz kann, wenn sie erst mal entwickelt ist, relativ leicht skaliert werden und damit einen großen Teil der Kopfarbeit ersetzen. Selbstverständlich stecken dahinter immer auch ein materieller Rechner, der irgendwo stehen muss, und eine Internetverbindung dorthin. Das ist aber selbst jetzt schon sehr weit verbreitet. Und die Effizienz von künstlicher Intelligenz wird in den nächsten Jahren schnell anwachsen. Die Vermutung liegt also nahe, dass sich in Zukunft Informatiker:innen, Designer:innen, Ingenieur:innen und Berater:innen aller Art darauf gefasst machen müssen, einer künstlichen Intelligenz Aufträge zu erteilen, anstatt selbst die Arbeit des Programmierens, Designs, Entwickelns oder Beratens auszuführen.

Das würde aber viele Berufe doch wieder überflüssig machen, wenn das nicht durch kräftiges Wirtschaftswachstum aufgefangen wird. Leider droht auch das Szenario, dass das deren Arbeitskraft entwerten könnte und sie wieder in ersetzbare Handarbeit oder in nutzlose Bullshitjobs treibt. Aber wie bereits gesagt wurde: Künstliche Intelligenz hat genauso wie alle anderen technologischen Fortschritte das Potenzial, Menschen von unnötiger und ermüdender Arbeit zu befreien.

Um das zu erkämpfen, müssen Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien die alte, aber ungeahnt aktuelle Forderung aufgreifen: Verteilung der Arbeit auf alle Hände! Das bedeutet konkret: Wir verkürzen die Arbeitszeit radikal, während der ausgezahlte Lohn erhalten bleibt. Arbeiter:innen sollen sich kostenlos umschulen dürfen, während der Staat die Löhne weiterzahlt. Das wird finanziert durch massive Besteuerung der Reichen, die durch diesen technologischen Fortschritt sicherlich profitieren werden.

Falls wir diesen Kampf nicht aufnehmen, wird es dazu führen, dass wieder vor allem die Kapitalist:innen davon profitieren und die bürgerliche Staaten ihre Macht stärken. Wir müssen der herrschenden Klasse die schillernde Zukunft abringen, die uns der technische Fortschritt verspricht!

Wir fordern also:

  • Enteignet die Techunternehmen und stellt sie unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Offenlegung aller Codes und Algorithmen, auf deren Basis KI arbeitet und Entscheidungen trifft, um rassistische und andere unterdrückerische Muster zu erkennen und zu bekämpfen!

  • Sensibilisierung und Schulung von Entwickler:innen für die ethischen Herausforderungen dieser neuen Technologie, z. B. in der Einspeisung diskriminierender Datensätze!

  • Flächendeckende Bildungsangebote im Bereich des Codings und digitaler Kompetenz in allen Schulen!

  • Deckung des enormen Strombedarfs der Server durch erneuerbare Energien!

  • Arbeitszeitverkürzung und kostenlose Umschulung bei gleichem Lohn!

  • Massive Besteuerung der Reichen!



Der Ökosozialismus bei Michael Löwy und seine Revision des Marxismus

Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Mit diesem Artikel möchten wir unsere bisherige Kritik des Ökosozialismus zur Diskussion stellen.1 Dabei ist es schwierig, von dem Ökosozialismus zu sprechen, da es sich um einen politisch breit besetzten Begriff handelt. Eine der ausgeprägteren politischen Darstellungen lieferte Michael Löwy, Mitglied der Vierten Internationale (ehemals Vereinigtes Sekretariat), in seinem Buch „Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe“2, weshalb wir uns vor allem darauf beziehen. Das bedeutet aber auch, dass dieser Artikel nicht schon unser letztes Wort zu diesem Thema sein kann. Die zunehmende Bedeutung der Ökologie, welche durch die Umweltbewegung eine beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit erhalten hat, wird eine marxistische Auseinandersetzung mit den Ideen des Ökosozialismus auch in Zukunft erfordern.

Hintergrund unserer Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus war die Tatsache, dass im Dezember 2018 das Netzwerk „Aufbruch – für eine ökosozialistische Alternative“ in Österreich gegründet worden war. Die beteiligten Organisationen Aufbruch Salzburg, Aufbruch Innsbruck, Revolutionär-Sozialistische Organisation (RSO), Sozialistische Alternative (SOAL) und Solidarische Linke Kärnten (SLK) bekannten sich damit zum gemeinsamen Aufbau einer antikapitalistischen und ökosozialistischen Organisation, ohne ihre eigenen Strukturen aufzulösen. Dieser Gründung war ein Austausch über eine antikapitalistische und ökosozialistische Kooperation vorangegangen, an dem wir uns zwar nicht personell beteiligen konnten, aber zu dem wir in einem Diskussionsbeitrag3 unsere Offenheit gegenüber einer antikapitalistischen Kooperation klarstellten. Zur Frage des Ökosozialismus konnten wir damals noch keine fundierte Position beziehen. Deshalb schrieben wir: „Ist der Begriff des ‚Ökosozialismus‘ wirklich noch so offen oder stehen hinter dem Begriff teilweise nicht schon seit längerer Zeit linke Strömungen, die sich damit bewusst vom ‚orthodoxen‘ Marxismus abzugrenzen versuchten? Wir halten eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus im Rahmen einer Kooperation jedenfalls für vernünftiger, als diesen als Ausgangspunkt einer solchen zu setzen.“ Unsere Bedenken wurden jedenfalls bei der Gründung dieser Kooperation nicht berücksichtigt. Auch haben wir von keiner Seite eine Antwort auf unseren Beitrag erhalten.

Zum inhaltlichen Einstieg möchten wir klarstellen, dass sich unsere Kritik des Ökosozialismus nicht auf die hervorgehobene Bedeutung der Ökologie bezieht. Der Kapitalismus zerstört die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in einem immer drastischeren Ausmaß und gefährdet damit nicht nur die Möglichkeit einer zukünftigen egalitären Gesellschaft, sondern die Existenz menschlicher Zivilisation überhaupt. Dementsprechend kann man der Umweltfrage gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Unsere Kritik bezieht sich vielmehr auf die Revisionen, die zum Teil und unter anderen bei Löwy an den revolutionären Auffassungen des Marxismus vorgenommen werden und zu gefährlichen politischen Schlussfolgerungen verleiten. In diesem Zusammenhang ist es auch aufschlussreich zu erwähnen, dass einige dieser Revisionen – zumindest für den deutschsprachigen Raum – bis in die historischen Ursprünge des Ökosozialismus in entsprechenden Debatten innerhalb der deutschen Grünen in den 1980er Jahren zurück reichen. Eine lesenswerte Kritik an den damaligen ökosozialistischen Führungsfiguren Rainer Trampert und Thomas Ebermann findet sich schon bei Dieter Elken4. Nun aber zu Michael Löwy.

Warum Ökosozialismus?

Löwy geht davon aus, dass die Rettung des ökologischen Gleichgewichts auf dem Planeten unvereinbar ist mit der „expansiven und zerstörerischen Logik des kapitalistischen Systems“ (S. 7). An dessen Stelle brauche es über den Weg einer Revolution eine nachhaltige Gesellschaft auf Grundlage einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Soweit können wir ihm folgen. Aber schon beim eigentlichen Ausgangspunkt für seine Theorie des Ökosozialismus wird es schwierig: Löwy unterstellt der ArbeiterInnenbewegung sozialdemokratischer und stalinistischer Tradition eine „Fortschrittsideologie“ und eine „Ideologie des Produktivismus“. Er definiert nicht klar, was er darunter versteht. Aber sofern er damit die Unterordnung der Ökologie unter die quantitative Ausweitung der Produktion meint, können wir ihm zustimmen – allerdings sind wir nicht wie er bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten und sogleich die Idee des Fortschritts zu verwerfen, sondern würden diese vielmehr unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit verteidigen. Wie dem auch sei, aufgrund des „Produktivismus“ müsse es eine „Konvergenz“ (S. 37) der ArbeiterInnen- und der Umweltbewegung zum Ökosozialismus geben. Dabei handle es sich um eine „ökologische Theorie- und Aktionsströmung, die sich die grundlegenden Errungenschaften des Marxismus zu eigen macht und sich dessen Schlacken entledigt“ (S. 28). Man muss ihm zugutehalten, dass er entgegen anderen ÖkosozialistInnen Marx und Engels gegen den „Produktivismus“-Vorwurf letztlich verteidigt. Warum es daher abseits der noch zu diskutierenden Schlacken nicht ausreiche, den Marxismus gegen sozialdemokratische und stalinistische Entstellungen zu verteidigen und die Umweltbewegung für den Marxismus zu gewinnen, bleibt an dieser Stelle noch etwas unverständlich.

Zur Herrschaft über die Natur

Einen Teil der Antwort findet man in Löwys Auseinandersetzung mit Marx‘ und Engels‘ Bemerkungen zur Herrschaft über die Natur, die sich immer wieder in ihren Werken finden und die immer wieder kritisiert wurden. So verweist er beispielhaft auf Engels‘ Aussage, dass die Menschen im Sozialismus zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur werden. Anschließend verweist er wohlwollend darauf, dass Marx den Mensch als Teil der Natur gesehen habe (was hier nicht als Widerspruch zu Engels gemeint ist). Er zitiert eine bedeutende Textstelle bei Engels selbst, die da lautet: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. ( … ) Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außerhalb der Natur steht (…) und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“5 Trotz dieser Klarstellung und Verteidigung von Marx und Engels gesteht er den falschen KritikerInnen zu, dass die marxistischen Schriften Anlässe für unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses von Mensch und Natur böten. Und schlussendlich behauptet er, dass Marx am Ende den Sozialismus nicht mehr als „Herrschaft“ oder „Kontrolle“ des Menschen über die Natur gesehen habe, sondern eher als „Kontrolle des Stoffwechsels mit der Natur“ und offenbart zumindest seine Distanzierung zur marxistischen Terminologie – wozu man einwendend fragen könnte, wie der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur denn (nachhaltig) kontrollieren könne ohne Kontrolle und Beherrschung der Natur im Engels‘schen Sinne, sprich dem Erkennen und Anwenden ihrer Gesetze.

Zur Frage der Produktivkräfte

Kommen wir aber zum eigentlichen Kritikpunkt von Löwy am Marxismus. Diesen verortet er in einer bestimmten Formulierung des historischen Materialismus von Marx selbst, im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in einen Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ( … ). Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“6 Dazu meint Löwy: „Diese Konzeption scheint den Produktivapparat als ,neutral’ zu betrachten: und wenn er einmal von den durch den Kapitalismus auferlegten Produktionsverhältnissen befreit sei, könne er sich unbegrenzt entwickeln. Der Irrtum dieser theoretischen Konzeption muss heute nicht einmal mehr bewiesen werden. ( … ) [Der Produktivapparat ist] nicht neutral, er dient der Akkumulation des Kapitals und der unbegrenzten Expansion des Marktes. Er steht im Widerspruch zu den Erfordernissen des Umweltschutzes ( … ). Man muss ihn daher ‚revolutionieren‘ ( … ) Das kann für bestimmte Produktionsbranchen bedeuten, sie zu ‚brechen‘ ( … ).“ (S. 33 f.) Und gegen Ende des Buches erklärt er, dass „eine sozialistisch-ökologische Transformation zugleich sowohl die Produktionsverhältnisse als auch die Produktivkräfte, und damit verbunden, die Konsummodelle, die Transportsysteme sowie letztlich die gesamte kapitalistische Zivilisation umwandeln muss.“ (S. 139)

Die ökologische Frage fordere laut Löwy daher von den MarxistInnen eine Revision der traditionellen Konzeption der Produktivkräfte und er zitiert wohlwollend den italienischen „Ökomarxisten“ Tiziano Bagarolo, der meint: „Die Formel, nach der sich eine Transformation potenzieller Produktivkräfte in reale Destruktivkräfte vor allem in Bezug auf die Umwelt vollzieht, erscheint uns [für den Entwurf eines ‚differenzierten‘ Fortschrittkonzepts] angemessener und bedeutsamer als das altbekannte Schema des Widerspruchs zwischen (dynamischen) Produktivkräften und (den sie in Ketten haltenden) Produktionsweisen.“ (S. 25 f.) Zum besseren Verständnis sei hier Marx selbst zu den Destruktivkräften zitiert: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (… ).“7

Dass Löwy Marx‘ und Engels‘ Konzeption des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Irrtum (ohne Beweis!) einfach beiseiteschiebt, ist höchst problematisch. Immerhin bildet sie den Kern der materialistischen Geschichtsauffassung im Marxismus. Der Verweis, dass eben alles revolutioniert werden müsse, bietet dafür keinen Ersatz, denn dabei handelt es sich nur um eine Schlussfolgerung und um keine materialistische Herleitung gesellschaftlicher Veränderung. Obendrein basiert diese Schlussfolgerung auf der falschen Unterstellung, dass die Veränderung der Produktionsweise nicht auch eine qualitative Veränderung der Produktivkräfte nach sich ziehe und impliziert eine „produktivistische“ Deutung. Was die Entwicklung von Produktivkräften tatsächlich bedeutet, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, was Marx eigentlich unter Produktivkräften verstanden hat – was Löwy in seinem Buch unterlässt. Im ersten Band von „Das Kapital“ schreibt Marx: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel und durch Naturverhältnisse.“8 Die Produktivkräfte umfassen also nicht nur Wissenschaft, Technik oder Maschinerie, sondern (wie an anderer Stelle formuliert) die Naturbedingungen, unter denen produziert wird, und die menschliche Arbeitskraft selbst, die es natürlich beide zu bewahren gilt. Somit wird klar, dass Umweltzerstörung bei Marx Zerstörung von Produktivkraft ist!

Somit teilt Löwy ein gutes Stück die undialektische Interpretation eines Großteils der Sozialdemokratie und des Stalinismus vom Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie. Demzufolge laufe in der Geschichte ein unilinearer Entwicklungsprozess der Produktivkräfte vom Niederen zum Höheren ab, der auf einer bestimmten Stufe an die Schranke der Produktionsverhältnisse stoße. Somit wird der dialektische Charakter von Produktionsweisen, welche die Vermittlung des Gegensatzpaares von Produktivkräften (Inhalt) und Produktionsverhältnissen (Form) verkörpern, reduziert auf die Frage, ob die Produktivkräfte im quantitativen Sinn weiter wachsen können oder nicht, um den Übergang zu einer neuen Produktionsweise zu begründen. Es wird also nicht thematisiert, inwieweit der Gegensatz objektiv revolutionäre Möglichkeiten schafft, ja dieser gerade in der letzten aller Klassengesellschaften, dem Kapitalismus, mit der Entwicklung der Produktivität der Arbeit immer heftiger eklatieren muss. Vielmehr wird die Überlebtheit der jeweils aktuellen Produktionsweise, die notwendig die Überlebtheit bestimmter Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse beinhalten muss, verflacht so definiert, als ob die Produktivkräfte aufgehört haben müssen zu wachsen. Die Dynamik des Kerns der materialistischen Geschichtsauffassung wird somit eingeebnet. Leugnen die ÖkologInnen den dialektischen Zusammenhang der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen und machen für die ökologische Katastrophe einseitig erstere verantwortlich, so entstellen AutorInnen wie Löwy und zumindest ein Teil der Öko-SozialistInnen den Marxismus ebenso wie die sozialdemokratischen und stalinistischen ApologetInnen. Für diese stellt sich die Frage der revolutionären Aufhebung einer Produktionsweise durch eine andere als eine objektivistische in Gestalt des Waltens und Wachsens der Produktivkräfte, nicht des subjektiven Faktors der revolutionären ausgebeuteten Klasse. Bagarolo fasst zudem den Widerspruch falsch als einen zwischen Produktivkräften und Produktionsweisen, nicht -verhältnissen. Die Sozialdemokratie, Stalinismus und Ökosozialismus letztlich gemeinsame einseitige Interpretation, die sie Marx und Engels unterschieben, ist streng genommen nur für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im engeren Sinne richtig. Weder auf den Übergang von klassenlosen zu Klassengesellschaften noch auf den zwischen vorkapitalistischen, auf dem Grundeigentum beruhenden Produktionsweisen ist diese enge Auslegung so ohne Weiteres anwendbar. Die Übergänge zwischen mykenischem Griechenland und den Stadtstaaten der klassischen Antike bzw. zwischen antikem Rom und europäischem Mittelalter waren oft mit langen Phasen des Rückgangs von Produktivkräften und Kultur verknüpft. Im weiteren und dialektischen Sinn bleibt natürlich die Aussage des Vorwortes hier richtig, weil gerade der Niedergang der Produktivkräfte zu anderen Produktionsverhältnissen führen muss, will sich die Gesellschaft weiterentwickeln. Gemäß den revisionistischen Entstellungen der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung müssten dagegen von der asiatischen Produktionsweise über die Antike bis zum Feudalismus sich die Produktivkräfte von Stufe zu Stufe stets gesteigert haben. Der Übergang zwischen diesen Produktionsweisen, so er denn überhaupt stattgefunden hat, muss nach diesem Konzept dann die Bremsen jeweils gelöst haben.

Doch der Geschichtsverlauf gleicht nicht einem mit zunehmender Geschwindigkeit stets vorwärts rollenden Fahrzeug, das ab und an abgebremst wird, um danach seine Fahrt umso zügiger fortzusetzen. Manchmal geht ihm der Sprit aus, wechselt es die Richtung, baut einen Unfall und die Besatzung wechselt es gegen ein anderes aus.

Zur ökosozialistischen Ethik

Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass es sich bei der Frage der Produktivkräfte nur um ein belangloses Missverständnis handelt. Tatsächlich folgen aus der falschen Theorie aber irreführende Folgerungen für die Praxis. Löwy problematisiert die Hemmung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus nämlich kaum, sondern vorwiegend deren falsche Entwicklung und Handhabung. Dementsprechend spielt der offensichtlichste Ausdruck von Produktivkrafthemmung und -zerstörung, die Wirtschaftskrise, keine zentrale Rolle in seiner politischen Konzeption. Wirtschaftskrisen werden bei ihm vor allem aufgrund der darauf folgenden hemmungsloseren Ausbeutung der Natur als Verschärfung der Umweltkrise thematisiert. Natürlich gibt es auch Menschen, die darunter leiden und sich gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur wehren, aber er skizziert keine revolutionäre Situation, in der die herrschende KapitalistInnenklasse in eine politische Krise gerät und die ausgebeutete und unterdrückte ArbeiterInnenklasse die bestehenden Verhältnisse nicht mehr ertragen möchte. Stattdessen widmet er ein eigenes Kapitel einer „ökosozialistischen Ethik“ (S. 91 – 99), die der nicht-ethischen Logik des Kapitals radikal entgegengesetzt sei. Dabei wird noch einmal der genannte Zusammenhang zur Revision der Marx‘schen Auffassung der Produktivkräfte deutlich: „Der Sozialismus und die Ökologie beinhalten beide qualitative soziale Werte, die nicht auf den Markt reduzierbar sind. ( … ) Diese Konvergenz der Empfindsamkeiten wird nur möglich, wenn die MarxistInnen ihr traditionelles Konzept der ‚Produktivkräfte‘ einer kritischen Analyse unterziehen – und wenn die ÖkologInnen mit der Illusion einer im Grunde natürlichen ‚Marktwirtschaft‘ brechen.“ (S. 94)

Die ökosozialistische Ethik müsse sozial, egalitär und demokratisch sein und der Ökosozialismus würde letztendlich als Ethik der Verantwortung zum humanistischen Imperativ: „Die ökologische Krise, die das natürliche Gleichgewicht der Umwelt bedroht, gefährdet nicht nur Fauna und Flora, sondern auch und vor allem die Gesundheit, die Lebensbedingungen und das Überleben unserer Spezies. Der Kampf für die Rettung der Umwelt, der notwendigerweise zugleich ein Kampf für einen Zivilisationswandel ist, wird zum humanistischen Imperativ, der nicht nur diese oder jene Klasse betrifft, sondern die Gesamtheit der Individuen und jenseits davon auch die kommenden Generationen.“ (S. 95) „Ein Paradigmenwechsel wird benötigt, ein neues Zivilisationsmodell, kurz: eine revolutionäre Umwälzung.“ (S. 97) Hier verlässt Löwy nicht nur den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich von seinen utopischen Vorläufern dadurch abgrenzte, dass er ihn aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Entwicklung begründete und nicht aus moralischen oder sonstigen Prinzipien, nach denen sich die Welt zu richten habe. Mit dem Verweise auf die Betroffenheit „nicht nur dieser oder jener Klasse“ bereitet er implizit einer „ökologischen Volksfront“ den Boden, sprich einer klassenübergreifenden Strategie zur Abwendung der ökologischen Katastrophe.

Zur Revolution

Im Marxismus ist es die ArbeiterInnenklasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess den Kapitalismus nicht nur beseitigen kann, sondern daran auch ein objektives Interesse hat. Wer ist das „revolutionäre Subjekt“ bei Michael Löwy? Eine wirklich eindeutige Antwort bleibt er schuldig. Natürlich bezieht sich Löwy implizit beim Ökosozialismus als Konvergenz von ArbeiterInnen- und Umweltbewegung auf die ArbeiterInnenklasse. Auch spricht er davon, die Produktionsmittel in die Hände der ArbeiterInnen zu geben. Aber die Rolle der ArbeiterInnenklasse wird nicht weiter ausgeführt und wo es um politische AkteurInnen geht, hebt er vor allem indigene Gemeinschaften hervor und als besonders entscheidend die globalisierungskritische Bewegung. Aufschlussreicher ist die „Internationale ökosozialistische Erklärung von Belém/Brasilien (2008)“, die Löwy am Ende des Buches anfügt. Dort heißt es: „Die am stärksten unterdrückten Schichten der menschlichen Gesellschaft, die Armen und die indigenen Bevölkerungsgruppen, müssen ein prägender Teil dieser ökosozialistischen Revolution werden ( … ) Gleichzeitig ist die Geschlechtergerechtigkeit eine grundlegende Komponente des Ökosozialismus ( … ) In allen Gesellschaften gibt es darüber hinaus noch weitere mögliche TrägerInnen für eine revolutionäre ökosozialistische Veränderung. ( … ) Die Arbeiterkämpfe, die Kämpfe der Bauern und Bäuerinnen, die Kämpfe der Landlosen und der Arbeitslosen für soziale Gerechtigkeit sind untrennbar mit den Kämpfen für Umweltgerechtigkeit verbunden.“ (S. 169 f.) Es ist unbestreitbar, dass all die genannten sozialen Gruppen wichtig sind im Kampf gegen den Kapitalismus. Aber zumindest in der Erklärung von Belém, die Löwy unterzeichnet hat, sind die Kämpfe der ArbeiterInnen nur ein Teil vieler Kämpfe, ohne herausragende Rolle. Wir wollen hier keinen rein ökonomischen ArbeiterInnenkampf beschwören – es geht um die Frage, wer die notwendige revolutionäre Umgestaltung tatsächlich vollziehen kann und auf wen sich eine sozialistische Organisation daher orientieren und stützen muss.

Diese Frage wird in Löwys Buch allerdings nicht gestellt. Überhaupt findet sich bei ihm keine wirkliche Begründung einer politischen Organisation, geschweige denn Partei. In der marxistischen Tradition müssen sich die klassenbewussten Teile des Proletariats zur ArbeiterInnenpartei formieren, zum politischen Subjekt werden, um die Mehrheit der Lohnabhängigen (und unter ihrer Führung auch Teile des KleinbürgerInnentums) für den Sozialismus zu gewinnen. Auch bleibt in diesem Zusammenhang bei ihm die Frage offen, wie ein revolutionäres Klassenbewusstsein in der ArbeiterInnenklasse befördert werden soll. Die ÖkosozialistInnen haben sich in einem internationalen Netzwerk organisiert, der Aufbau einer Partei gehört nicht zu dessen Zielen.

Zu guter Letzt wollen wir noch auf eine zentrale Frage eingehen, nämlich die programmatische Methode. Löwy kommt wie wir aus einer politischen Tradition, die sich die Methode von Trotzkis Übergangsprogramm auf die Fahnen schreibt. Er stellt richtig fest, dass die Notwendigkeit der Revolution nicht bedeutet, auf den Kampf für Reformen, also für Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus zu verzichten. Allerdings geht er dabei so weit, dass er die Übergangsdynamik vom Kapitalismus zum Sozialismus im Kampf für (ökosoziale) Reformen verortet: „Der Kampf für ökosoziale Reformen zeichnet sich dadurch aus, dass er zugleich Träger einer Veränderungsdynamik ist, des Übergangs von Minimalforderungen zu einem Maximalprogramm, unter der Bedingung, dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft ( …).“ (S. 37) Mit Minimalforderungen werden im Marxismus Reformen bezeichnet, die den Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stellen, während Maximalforderungen die nach einer zukünftigen Gesellschaft bezeichnen. Übergangsforderungen wie zum Beispiel diese, dass die ArbeiterInnen in ihren Betrieben Komitees schaffen, mit denen sie eine Kontrolle über die kapitalistische Produktion ausüben, sollen am Kampf um Verbesserungen im Hier und Jetzt anknüpfen (in diesem Beispiel könnte es um die Umweltverträglichkeit des Unternehmens gehen), aber die ArbeiterInnenklasse zur Eroberung der politischen Macht befähigen. Löwy formuliert in Wahrheit keine solchen Übergangsforderungen. Stattdessen scheint es, als ob er darunter nur solche versteht, die in der kapitalistischen Profitlogik nicht umsetzbar sind („dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft“), etwa die öffentliche Umgestaltung des Verkehrssystems, und somit über den Kapitalismus hinausweisen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Übergangsforderungen, weil sie in ihrer Konsequenz nicht zur Selbstermächtigung der ArbeiterInnen gegen das Kapital führen und nicht mit der Intervention einer revolutionären Vorhutpartei zum Zweck der Lösung der Machtfrage verbunden werden. Aber lassen wir Trotzki im Namen der IV. Internationale selbst zu Wort kommen:

„Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat. ( … ) Die Kommunistische Internationale hat den Weg der Sozialdemokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus beschritten, wo nicht mehr die Rede sein kann von systematischen Sozialreformen noch von der Hebung des Lebensstandards der Massen; ( … ) wo jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.

Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. ( … )

Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten ‚Minimal‘-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. ( … ) Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d. h. revolutionären Perspektive. In dem Maße, wie die alten partiellen ‚Minimal‘-Forderungen der Massen auf die zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen – und das geschieht auf Schritt und Tritt –, stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, dessen Sinn es ist, sich immer offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird ständig überholt vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“9

Übergangsforderungen bestehen eben nicht nur im Kampf für (ökosoziale) radikale Reformen, sondern zielen auf einen Bruch mit der kapitalistischen Herrschaft, im Besonderen durch den Aufbau proletarischer Gegenmacht. Im Gegensatz dazu weist der Ökosozialismus von Michael Löwy programmatisch nicht über einen Kampf um Minimalforderungen, gepaart mit einem ökologischen Maximalismus, hinaus.

Endnoten

1 Dieser Beitrag ist eine Ausweitung und Überarbeitung des im Jahr 2019 erschienenen Artikels „Ökosozialismus: Kritik der Konzeption von Michael Löwy“ (siehe http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=3957). Insbesondere der Abschnitt zu den Produktivkräften wurde zugespitzt und jene zur ökosozialistischen Ethik sowie zur Übergangsmethode mit Zitaten versehen.

2 Löwy, Michael: Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe, LAIKA Verlag, Hamburg 2016

3 http://www.oekosoz.org/wp-content/uploads/2018/08/AST_-Diskussionbeitrag-zur-antikapitalistischen-Kooperation.pdf

4 http://marxismus-online.eu/display/dyn/paf1276a7-5407-4e3f-9299-eaedaed2660d/content.html

5 Engels, Friedrich: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: Dialektik der Natur, MEW 20; Berlin/O. 1962, S. 452 f.; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 67

6 Marx, Karl: Vorwort zu ders.: Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, Berlin/O. 1974, S. 9; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 69

7 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, Berlin/O. 1969, S. 69; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 70

8 Marx, Karl: Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, MEW 23, Berlin/O. 1971, S. 54

9 Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (1938). In: Ders.: Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 – 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen o. J., S. 7 f.




Social Reproduction Theory – Fehler und Ansätze zur Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer, Infomail 1104, 19. Mai 2020

„Social Reproduction Theory“ ist ein Zugang, der sich vornimmt, (meist) auf einer marxistischen Basis die Reproduktionssphäre besser zu analysieren, als es die sozialistische Bewegung bis jetzt geschafft hat. Der Anspruch ist richtig und wichtig. Für ein Verständnis von den ökonomischen Ursachen der Frauenunterdrückung und damit auch für die Strategie zu ihrer Überwindung braucht es eine bessere Analyse der sogenannten Reproduktionssphäre. Auch wenn viele der daraus resultierenden Ideen zu falschen Schlussfolgerungen und Konzepten führen, ist es wichtig, die geleistete Vorarbeit näher zu beleuchten, um eine Perspektive für eine echte marxistische Weiterentwicklung aufzuzeigen.

Geschichte

TheoretikerInnen der „Social Reproduction Theory“ (SRT) beschäftigen sich schon seit den 1970er Jahren mit dem Verhältnis von Reproduktionssphäre und Frauenunterdrückung. Zwar nicht gleichzusetzen mit dem sozialistischen Feminismus – schließlich sind nicht wenige der TheoretikerInnen der SRT in autonomen oder rein akademischen Strukturen zu verorten –, so steht die SRT doch in einem Naheverhältnis zu ihm.

Der sozialistische Feminismus selbst entstand als Antwort auf den Radikalfeminismus und dessen Ablehnung eines gemeinsamen Kampfs mit den männlichen Arbeitern für Frauenbefreiung. Allerdings griff er auch viele der Kritikpunkte des Radikalfeminismus auf. Die ArbeiterInnenbewegung wäre männlich dominiert und Aktivistinnen würden, aufgrund von vorherrschendem Sexismus, nicht gut in die Arbeit eingebunden werden. Für viele war die Antwort darauf eine teilweise separate Organisierung. Auch hielten viele die Kritik aufrecht, dass Marx‘ politische Ökonomie „geschlechtsblind“ sei und den speziellen Charakter der Hausarbeit bzw. Reproduktionssphäre nicht bedachte.

Dies führt teilweise zu einer Abwendung von Marx‘ Theorien und Methoden. Stattdessen wird die Analyse vorgelegt, dass es sich bei der Reproduktionssphäre eigentlich um eine autonome, von der Produktionssphäre unabhängige Ebene handelt. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass auch die Dynamik der Frauenunterdrückung, die aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Bindung der Frau an die Reproduktionssphäre entspringt, eine unabhängige ist und dementsprechend nicht mit denselben Mitteln bekämpft werden kann wie Klassenunterdrückung. Das kann zu einem Verständnis führen, das potenziell die Bewegung spaltet und versucht, einen Kampf gegen den Mann der eigenen Klasse anstelle der wirklichen UnterdrückerInnen anzuzetteln.

Aber auch wenn der sozialistische Feminismus keine Alternative bietet, sind die Fragen, die von dieser Strömung aufgeworfen wurden bzw. werden, und auch die Gründe für ihre Entstehung sehr wichtige Ansatzpunkte für eine antisexistische ArbeiterInnenbewegung.

Es ist dringend notwendig, das in Grundzügen entwickelte Verständnis von Frauenunterdrückung weiterzudenken und nicht in rein ökonomistische Antworten abzudriften wie in Teilen der trotzkistischen Tradition.

Was ist Social Reproduction Theory?

„Dieses Projekt begann vor mehr als 10 Jahren. Wie bei vielen anderen Frauen in den späten 1960ern Jahren fiel mein Engagement für die aufkommende Frauenbewegung mit meiner Entdeckung der marxistischen Theorie zusammen. Zunächst dachten viele von uns, man brauche die marxistische Theorie einfach nur zu erweitern, um sie für unsere Anliegen als Frauenbewegung nutzbar zu machen. Schnell merkten wir jedoch, dass dieser Ansatz viel zu mechanisch war und vieles unbeantwortet ließ. Die marxistische Theorie, die wir vorfanden, und auch das sozialistische Vermächtnis an Werken zur Unterdrückung von Frauen bedurften einer grundlegenden Umgestaltung. Einige wandten sich aufgrund dieser Erkenntnis vollständig vom Marxismus ab. Andere blieben bei dem Versuch, von der marxistischen Theorie Gebrauch zu machen. Sie verfolgten nun das Ziel, die Unzulänglichkeiten der sozialistischen Tradition durch eine ‚sozialistisch-feministische’ Synthese zu überwinden. Obwohl ich mit diesem Ansatz sympathisierte, verfolgte ich weiterhin das ursprüngliche Vorhaben, die marxistische Theorie zu erweitern. Dafür war es jedoch notwendig, zu untersuchen, was marxistische Theorie überhaupt ist. Überdies machte mir eine gründliche Lektüre der wichtigsten Texte des 19. Jahrhunderts zur ‚Frauenfrage’ klar, dass die theoretische Tradition äußerst widersprüchlich ist. … Dennoch bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass nicht sozialistisch-feministische Synthesen, sondern eine Wiederbelebung der marxistischen Theorie in den bevorstehenden  Kämpfen für die Befreiung der Frauen als theoretische Orientierung am besten dient.“ (Lise Vogel, Marxismus und Frauenunterdrückung, 2019, Unrast Verlag Münster)

So versucht Lise Vogel – eine der wichtigsten und marxistischsten TheoretikerInnen der SRT –, die Entwicklung der Theorie zu erklären.

Social Reproduction Theory ist keine eigene Strömung, sondern eher eine theoretische und auch oft akademische Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion im Kapitalismus und, ob deren korrektes Verständnis von „orthodoxer“ marxistischer Theorie abweicht oder sie weiterentwickelt. Sie versucht dabei auch, den Ursprung der Frauenunterdrückung in der Klassengesellschaft aufzudecken, der laut vielen TheoretikerInnen, die sich mit Social Reproduction Theory beschäftigen, aus dieser Sphäre stammt und Frauen aufgrund der Fähigkeit zu gebären auch in diese Rolle historisch gedrängt hat.

Reproduktion im Marxschen Sinne kann mehrere Sachen bedeuten: auf der einen Seite (in der ArbeiterInnenfamilie) die Reproduktion der Ware Arbeitskraft (für den nächsten Tag oder die nächste Generation), andererseits meint Reproduktion auch die beständige Erneuerung der kapitalistischen Gesellschaftsformation (Kreislauf der Kapitalverwertung etc.). Die TheoretikerInnen der SRT beziehen sich vor allem auf die erstere Bedeutung, obwohl natürlich beide Varianten stark verknüpft sind.

Eine Stärke gegenüber anderen feministischen Analysen ist natürlich, dass der Ausgangspunkt ganz klar die ökonomische Analyse ist und auch die Unterdrückung daraus abgeleitet wird. Es wird versucht, Produktionsverhältnisse als menschliche Verhältnisse zu verstehen und dementsprechend gibt es auch keine eigene ökonomische Ebene abseits davon verschiedenen der Unterdrückung innerhalb der Klassengesellschaft. Die speziellen Ausprägungen der Frauenunterdrückung (z. B. von mehrfach Unterdrückten wie Migrantinnen etc.) können im Kontext von mangelnden demokratischen Rechten und deren Auswirkung auf die Gesellschaft und umgekehrt weiterverstanden werden, argumentieren die TheoretikerInnen der SRT.

Sie wollen in der theoretischen Analyse von einer dualen Betrachtungsweise („dual systems approach“), welche die Sphären der Reproduktion und Produktion auf unterschiedliche Ebenen stellt und daraus auch einen separaten Kampf für Frauenbefreiung heraufbeschwört, wegkommen. Stattdessen wird versucht, mit den Methoden, die in Marx‘ politischer Ökonomie begründet liegen, ein einheitliches Verständnis von Produktions- und Reproduktionssphäre zu finden bzw. es weiterzuentwickeln. Schließlich wirft es viele Fragen auf, wenn die Ware Arbeitskraft die einzige ist, die weitgehend außerhalb der Sphäre der Mehrwertproduktion hergestellt wird. Die SRT stellt sich diese Frage zu Recht, auch wenn sie selbst auch problematische Antworten entwickelt.

Lohn für Hausarbeit und Frauenstreiks

Die Fragestellung selbst ist auch nicht neu und wurde schon vor der SRT im feministischen Diskurs aufgeworfen. Mariarosa Dalla Costa warf zum Beispiel 1972 die Frage auf, ob die  Hausarbeit eine Form produktiver Arbeit wäre auf. Produktivität ist natürlich im Marx’schen Sinne zu verstehen als Mehrwert schaffende Arbeit für das Kapital und nicht im Sinne einer moralischen Bewertung (obwohl die Begriffe häufig vermischt werden – gerade in dieser Debatte). Daher stellt die private Hausarbeit ganz eindeutig keine Form produktiver Arbeit dar.

Dalla Costa argumentiert jedoch, dass Frauen durch ihre Reproduktionsarbeit der Ware Arbeitskraft Wert hinzufügen und damit den Mehrwert vergrößern würden. Das heißt, für Dalla Costa schafft private Reproduktionsarbeit genauso Mehrwert, wie es die in der kapitalistischen Produktion tut. Die Konsumtion zuhause ist Teil der produktiven Konsumtion. Frauen bilden somit ein eigenes revolutionäres Subjekt, Hausarbeit würde nur als nicht produktive Arbeit verschleiert und es ist notwendig, sich dagegen zu organisieren. Dafür stellt sie die Forderung nach einer Bezahlung der Hausarbeit auf (Lohn für Hausarbeit). Diese soll Frauen in den ökonomischen Kampf ziehen und es seien ja durch den produktiven Charakter der Hausarbeit auch dieselben Kampfmethoden möglich. Die Welt stehe still, wenn keine häusliche Reproduktionsarbeit mehr geleistet wird, und ohne diesen politischen Kampf könne es keine revolutionäre Perspektive geben.

Es macht keinen Sinn zu versuchen, Hausarbeit mit Produktion gleichzusetzen. Es führt auch zu problematischen Schlussfolgerungen. Die Reproduktion steht aufgrund von historischen Bedingungen außerhalb der kapitalistischen Produktionssphäre und es findet hier individuelle Konsumtion statt, keine produktive (die laut Marx das Verwerten von Produktionsmitteln ist, um den Produkten einen höheren Wert hinzuzufügen und zeitgleich auch die Konsumtion der Ware Arbeitskraft durch den/die KapitalistIn).

Dass Hausarbeit keinen Mehrwert schafft, heißt nicht, dass sie nicht unerlässlich für das Bestehen der Gesellschaft ist. Aber es braucht eben andere Kampfmethoden. Wenn Hausarbeit bestreikt wird, schadet es zuallererst den ArbeiterInnen selbst und nicht primär dem Kapital. Es wird ein Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse aufgemacht und nicht gegen die KapitalistInnen. Das sind eben auch Probleme, die Reproduktionsstreiks der privaten Hausarbeit mit sich bringen.

Allerdings ist es wichtig, die politischen Möglichkeiten dieser Form der Proteste anzuerkennen. Auch wenn ein Bestreiken der Hausarbeit nicht denselben ökonomischen Effekt hat wie ein Streik der ArbeiterInnen, so sind doch auch sehr, sehr viele Frauen berufstätig – es ist eine gute Möglichkeit, um auf Fragen der Doppelbelastung hinzuweisen, die Einbeziehung von Frauen in den politischen Kampf voranzutreiben und das Erreichen von Leuten, die sonst an die häusliche Sphäre gebunden sind, zu ermöglichen.

Es ist aber keine Voraussetzung, Lohn für Hausarbeit zu fordern, um an solchen Demonstrationen und Aktionen teilzunehmen. Diese Forderung hat vielmehr den Charakter, Frauen noch eher an die häusliche Sphäre zu fesseln und ihnen damit die Möglichkeit zu erschweren, an politischen Kämpfen teilzunehmen – kein Wunder, dass diese Forderung auch von reaktionären Kräften aufgeworfen wird. Wir stellen dem die Forderung nach einer Vergesellschaftung der Hausarbeit entgegen.

Ausblick

SRT hat also viele Ansätze und auch viele Sackgassen. Es ist aber notwendig, sich mit diesem Zugang auseinanderzusetzen, da innerhalb dieser Debatte bis jetzt die intensivsten und auch am engsten an Marx orientierten Untersuchungen geleistet wurden. TheoretikerInnen wie Nancy Fraser, Tithi Bhattacharya und viele mehr werden auch jetzt wieder stark diskutiert. Den besten Ansatz bietet aber vermutlich Lise Vogels Werk „Marxismus und Frauenunterdrückung“ (UNRAST-Verlag, Münster 2019) und auch mit den Problemen, die dieses Buch hat, ist es ein wichtiger Beitrag zur gesamten Debatte und ein ernsthafter Versuch, von einer dualen Betrachtungsweise wegzukommen. Wir werden uns in Zukunft genauer mit ihren Theorien beschäftigen und versuchen, die historisch-materialistische Erklärung von Frauenunterdrückung zu erweitern und daraus ein Programm abzuleiten, um Sexismus – und damit auch Kapitalismus – endgültig ein Ende zu machen!




Imperialismus, Globalisierung und der Niedergang des Kapitalismus

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 39, August 2009

Das Modell der kapitalistischen Zyklen von Marx ist nach wie vor ausreichend, um die heutige Krise zu erklären. Worin liegt nun die Bedeutung der Leninschen Analyse des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung? Im Folgenden betrachten wir die heutige Gültigkeit der Imperialismus-Theorie und zeigen, dass diese ebenfalls unabdingbar ist zum Verständnis der vergangenen Entwicklung des Kapitalismus und seine Zukunft.

Rund 50 Jahre nach dem Erscheinen der Erstausgabe des ersten Bandes des “Kapitals” war Lenin in der Lage, den Kapitalismus auf der Grundlage des vielfach wiederholten Ablaufs des kapitalistischen Zyklus zu studieren. Seine wichtigste Schlussfolgerung war, dass die angehäuften Auswirkungen dieser Wiederholungen zu einem qualitativen Wandel des Kapitalismus geführt haben.

Ursprünglich war der Kapitalismus eine Produktionsweise, in der die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten trotz der damit verbundenen Barbarei und Ausbeutung eine vorantreibende Kraft war, die im Großen und Ganzen ein Wachstum der Produktivkräfte wie auch des Gesamtprodukts der Gesellschaft bewirkte. Doch Lenin stellte fest, dass der Kapitalismus zu einem System geworden war, in dem Monopole vorherrschen und diese eine Tendenz der Einschränkung weiteren Wachstums bewirkten. Wie wir sehen werden, meinte Lenin damit nicht, dass es überhaupt keine Weiterentwicklung gäbe, sondern dass der Kapitalismus im Vergleich zum Zeitalter der „freien Konkurrenz“ in das Stadium seines Niedergangs eingetreten sei.

Es gibt keinen Grund zu bezweifeln, dass Lenin angesichts der Umstände, unter denen er während des Ersten Weltkrieges und seiner revolutionären Folgen schrieb, ein baldiges Ende dieses „Zeitalters des Niedergangs“ durch die internationale proletarische Revolution erwartete bzw. diesen für möglich hielt.

Heute, fast hundert Jahre später, ist die Frage, ob sich aufgrund der weiteren Entwicklung des Kapitalismus seine Analyse und seine Schlussfolgerungen nicht als falsch herausgestellt haben, ganz legitim. Unsere Schlussfolgerung lautet, dass zwar die Niederlagen der revolutionären Bewegung in den 1920er Jahren dem Imperialismus das Überleben und die Kapitalvernichtung im Zweiten Weltkrieg ihm einen weiteren Lebensabschnitt ermöglichten. Nichtsdestotrotz beweisen die jüngeren Entwicklungen, dass er nicht in der Lage war, seine historischen Schranken zu überwinden.

Weiter beinhaltet der „Niedergang“ einer ganzen Produktionsweise die fortgesetzte Entwicklung und Reifung jener Kräfte, welche die Grundlage der darauf folgenden Produktionsweise darstellen. Daher hat die längere Lebensspanne des Imperialismus nicht nur die fortgesetzte Entwicklung von Ungleichheit, Armut und Umweltzerstörung bewirkt, sondern auch die Herausbildung einer höher integrierten Weltwirtschaft und eines noch größeren Gegensatzes zwischen einem im Höchstmaß vergesellschafteten System der Produktion und einer noch nie da gewesenen Konzentration des Privateigentums an diesen Produktionsmitteln.

Lenins Charakterisierung des Imperialismus

Auch wenn das offensichtlichste Merkmal des Imperialismus die Unterordnung der Mehrheit aller Länder unter eine Handvoll mächtiger Staaten ist, so war dies für Lenin nicht das wichtigste Merkmal. Er argumentierte vielmehr, dass dies die Entwicklung der kapitalistischen Monopole bis zu dem Punkt, da diese die Produktion beherrschen, sei. „Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus.“ (1)

Die Monopole selbst erwuchsen aus dem „Freihandel“ in der vorangegangenen Epoche des Kapitalismus. „Ganz besonders ist dabei zu beachten, daß dieser Wechsel durch nichts anderes herbeigeführt ist, als durch unmittelbare Entwicklung, Erweiterung, Fortsetzung der am tiefsten verwurzelten Tendenzen des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt.“ (2)

Marx schrieb, auf die Herausbildung von Aktiengesellschaften verweisend: „Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachem, Gründem und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.“ (3)

Ebenso beschrieb Marx, wie Aktiengesellschaften und Kredit als Übergangsphase vom Kapitalismus zu einem System basierend auf gesellschaftlichem Eigentum agieren: „Es ist andrerseits Durchgangspunkt zur Verwandlung aller mit dem Kapitaleigentum bisher noch verknüpften Funktionen im ReproduktionsProzess in bloße Funktionen der assoziierten Produzenten, in gesellschaftliche Funktionen.“ (4)

Die Monopole stellten die fortgeschrittenste Form der kapitalistischen Organisation dar und konnten nur in den hoch entwickelten kapitalistischen Ökonomien entstehen, wo die Stärke der Monopole am heimischen Markt ihnen auch erlaubte, die Kontrolle über die wichtigsten Rohstoffe zu übernehmen. Ebenso war die Entwicklung der Monopole eine Vorbedingung für die Fusion des Banken- und Industriekapitals und der daraus folgenden Herausbildung des Finanzkapitals, welches die materielle Basis der Bankenoligarchie darstellte, welche die entwickelten kapitalistischen Ökonomien beherrscht. Diese Aspekte der „Monopolisierung“ ermöglichten den Übergang der alten „Kolonialpolitik“, der „’freibeuterischen‘ Besetzung des Landes“, wie Lenin es nannte, hin zur monopolistischen Einverleibung der Länder und den daraus resultierenden Kämpfen um die Aufteilung der Welt.

Wenn, wie Lenin sagte, das Monopol die „ökonomische Essenz“ des Imperialismus darstellt, dann ist ein Verständnis seiner Analyse des Monopols genauso unabdingbar wie das Verständnis seiner Analyse der Epoche.

Während er die enorme Macht der Monopole erkannte, betonte er auch, dass diese „… unvermeidlich die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis (erzeugen). In dem Maße, wie Monopolpreise, sei es auch nur vorübergehend, eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade der Antrieb zum technischen und folglich auch zu jedem anderen Fortschritt, zur Vorwärtsbewegung; und insofern entsteht die ökonomische Möglichkeit, den technischen Fortschritt künstlich aufzuhalten.“ (5)

So wie daher der Freihandel seine eigene Aufhebung hervorbringt, so stellt das Monopol nicht nur das fortgeschrittenste Element innerhalb des Kapitalismus dar, sondern tendiert auch zur Aufhebung der treibenden Kraft des kapitalistischen wirtschaftlichen Fortschritts, der Konkurrenz zwischen den Kapitalen. Sobald ein mächtiger Konzern den Markt für Rohstoffe kontrolliert und seine Profite durch Monopolpreise absichert, ist er nicht mehr unter dem gleichen Druck, effizientere Produktionsmethoden zu entwickeln.

Gleichzeitig sehen wir aber, dass Lenin hier über eine Tendenz und nicht über eine absolute Barriere für weiteren Fortschritt spricht. Vor allem in Bezug auf den gesamten Globus darf der Begriff „Monopol“ nicht wortwörtlich verstanden werden im Sinne eines einzigen Produzenten in einem bestimmten Wirtschaftssektor. Lenin meinte mit Monopol vielmehr eine Handvoll großer Konzerne in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern, die in der Lage waren, Preisabsprachen zu treffen, und dies auch taten. Er meinte damit jedoch nicht, dass diese Vereinbarungen die Konkurrenz untereinander vollkommen beseitigen könnten, insbesondere nicht am Weltmarkt.

Zum Verhältnis von Monopol und ökonomischem Fortschritt schreibt Lenin: „Gewiß kann das Monopol unter dem Kapitalismus die Konkurrenz auf dem Weltmarkt niemals restlos und auf sehr lange Zeit ausschalten (das ist übrigens einer der Gründe, warum die Theorie des Ultraimperialismus unsinnig ist). Die Möglichkeit, durch technische Verbesserungen die Produktionskosten herabzumindern und die Profite zu erhöhen, begünstigt natürlich Neuerungen. Aber die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis, die dem Monopol eigen ist, wirkt nach wie vor und gewinnt in einzelnen Industriezweigen, in einzelnen Ländern für gewisse Zeitspannen die Oberhand.“ (6)

In Lenins Verständnis des Kapitalismus in der Epoche des Imperialismus gibt es eine Art permanenten Konflikt zwischen der Dynamik des Wirtschaftswachstums, der Entwicklung der Produktivkräfte und der Tendenz zum Niedergang. Aber dies darf nicht als ein stabiles Gleichgewicht verstanden werden, in der ein Faktor die anderen ausbalanciert. Im Gegenteil, verpflichten uns nach Lenin die charakteristischen Merkmale des Imperialismus dazu, „ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu kennzeichnen.“ (7) Nichtsdestotrotz „wäre (es) ein Fehler, zu glauben, daß diese Fäulnistendenz ein rasches Wachstum des Kapitalismus ausschließt; durchaus nicht, einzelne Industriezweige, einzelne Schichten der Bourgeoisie und einzelne Länder offenbaren in der Epoche des Imperialismus mehr oder minder stark bald die eine, bald die andere dieser Tendenzen. Im großen und ganzen wächst der Kapitalismus bedeutend schneller als früher, aber dieses Wachstum wird nicht nur im allgemeinen immer ungleichmäßiger, sondern die Ungleichmäßigkeit äußert sich auch im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder.“ (8) Als Lenin diese Zeilen schrieb verwies er ausdrücklich auf Großbritannien und, wie wir sehen werden, kann heute das gleiche über die USA gesagt werden.

Dieses grundlegende Verhältnis zwischen dem Potential des Kapitalismus zur Ausweitung der Produktion und Weiterentwicklung der Produktivkräfte und der notwendigen Bildung von Monopolen, die dieses Potential einengen, schafft den theoretischen Rahmen für die bekannte zusammenfassende Definition des Imperialismus:

„1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‘Finanzkapitals’; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.“ (9)

Aus dieser Analyse ergeben sich für Lenin auch klare Schlussfolgerungen für die historische Einordnung des Imperialismus, dass er nämlich in diesem das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus sieht:

„Es ist begreiflich, warum der Imperialismus sterbender Kapitalismus ist, den Übergang zum Sozialismus bildet: das aus dem Kapitalismus hervorwachsende Monopol ist bereits das Sterben des Kapitalismus, der Beginn seines Übergangs in den Sozialismus. Die gewaltige Vergesellschaftung der Arbeit durch den Imperialismus (das, was seine Apologeten, die bürgerlichen Ökonomen, ‘Verflechtung’ nennen) hat dieselbe Bedeutung.“ (10)

Dieser letzte Punkt ist von größter Bedeutung, denn der Kapitalismus in seinem höchsten und entwickeltsten Stadium schränkt nicht nur die weitere Entwicklung der Produktivkräfte ein, sondern steigert auch die Vergesellschaftung der Produktion in einem nicht dagewesenen Ausmaß. Dies treibt den Konflikt zwischen der gesellschaftlichen Macht der Monopolbourgeoisie, die wirtschaftliche Entwicklung zum Zwecke der Absicherung der eigenen Profite zu behindern, auf der einen Seite und der Notwendigkeit der weltweit vernetzten Arbeiterklasse, die Kontrolle über die Produktion zwecks Absicherung des eigenen physischen Überlebens auf der anderen Seite bis zum Äußersten. Lenin schreibt in einem anderen Artikel unmißverständlich: „Die Epoche des kapitalistischen Imperialismus ist die des reifen und überreifen Kapitalismus, der vor dem Zusammenbruch steht, der reif ist, dem Sozialismus Platz zu machen.“ (11)

Auf die Erkenntnis, dass der Imperialismus das Stadium des Kapitalismus ist, in welchem dieser nicht nur beginnt, ein Hemmnis für den wirtschaftlichen Fortschritt zu werden, sondern gleichzeitig auch die Kräfte für seine eigene Überwindung hervorbringt, wies schon Bucharin hin, mit dem Lenin im Exil zusammenarbeitete:

„Die moderne Gesellschaft, die die Produktivkräfte gewaltig entwickelt, die immer neue Gebiete erobert, die die gesamte Natur in ungeahntem Maße der Herrschaft des Menschen unterwirft, beginnt, in den Fesseln des Kapitalismus zu ersticken. Die Widersprüche, die im Wesen des Kapitalismus begründet sind, die zu Beginn seiner Entwicklung erst im Keimzustande vorhanden waren, haben mit jedem weiteren Schritt des Kapitalismus zugenommen und sich zugespitzt. In der imperialistischen Epoche wachsen sie bis ins Ungeheuerliche. Die Produktivkräfte erfordern in ihrem heutigen Umfang kategorisch andere Produktionsverhältnisse. Die kapitalistische Hülle muß unvermeidlich gesprengt werden.“ (12)

Ein anderer marxistischer Theoretiker, Eugen Preobraschenski – einer der wichtigsten bolschewistischen Ökonomen der 1920er und führenden Köpfe in Trotzkis Linksopposition – betonte bei seiner Behandlung der Beiträge von Marx und Engels zur Überwindung des Kapitalismus ebenso die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Niedergangscharakters der imperialistischen Epoche. „Lenin muß die kapitalistische Wirtschaft nicht nur in der Zeit ihres beginnenden Falls und Zerfalls analysieren, sondern er muß die kapitalistische Gesellschaft als Ganzes in der Epoche ihres Unterganges untersuchen. (…)Lenin machte die Analyse des Staates und damit die Analyse des kapitalistischen Staates in der Periode des anfänglichen Zerfalls des ganzen kapitalistischen Systems. (…)Umgekehrt, lebt Lenin in der Periode des Zerfalls des Kapitalismus, in der Epoche der beginnenden proletarischen Revolution …“ (13)

In der Imperialismus-Analyse der Kommunistischen Internationale bereits angedeutet und besonders von Trotzki und Bucharin betont, ist die Bedeutung des Weltmarkts ein weiteres Charakteristikum der marxistischen Imperialismus-Theorie.

Die politischen und ökonomischen Verhältnisse in jedem Nationalstaat können vom marxistischen Standpunkt aus betrachtet nicht nur und nicht einmal in erster Linie aus den inneren Faktoren abgeleitet werden, sondern nur als ein politisches und ökonomisches Weltsystem. Der imperialistische Kapitalismus existiert nicht als eine Aneinanderreihung zahlreicher Nationalstaaten und -ökonomien (14). Vielmehr sind die Weltwirtschaft und die Weltpolitik – die sich wiederum als Schmelztiegel aller nationalen Faktoren zu einer eigenständigen Totalität über diese erheben – die ausschlaggebenden Triebkräfte. Die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung des Weltkapitalismus trifft mit den jeweils lokalen Besonderheiten eines Landes zusammen und verschmilzt dann zu der jeweils spezifischen nationalen Dynamik der politischen und ökonomischen Verhältnisse eines bestimmten Staates.

„Der Marxismus geht von der Weltwirtschaft aus nicht als einer Summe nationaler Teile, sondern als einer gewaltigen, selbständigen Realität, die durch internationale Arbeitsteilung und den Weltmarkt geschaffen wurde und in der gegenwärtigen Epoche über die nationalen Märkte herrscht.“ (15)

Die kapitalistische Produktionsweise – der Produktions- und Reproduktionsprozess des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter – verkörpert ein dynamisches und zugleich krisenhaftes, fragiles, von explosiven Gegensätzen geprägtes Gleichgewicht. Ein Gleichgewicht, das daher an bestimmten Punkten aufgrund seiner inneren Widersprüche immer wieder zerbricht und zerbrechen muss. Mit anderen Worten: Es ist ein Gleichgewicht im dialektischen Sinne als vorübergehender Einheit von Gegensätzen, die zur Sprengung ihrer Klammer und Aufhebung auf höherer Ebene drängt. Schon Friedrich Engels betonte: „Alles Gleichgewicht (ist) nur relativ und temporär.“ (16)

Auf ökonomischer Ebene drückt sich dies in wiederkehrenden Rezessionen bis hin zu Wirtschaftsdepressionen aus. Das gilt auch für den Kapitalismus in seiner Totalität, als Gesamtheit von ökonomischer Basis und politischem und ideologischem Überbau sowie auch im gesellschaftlich konstruierten Verhältnis von Mensch und Natur. Innere Widersprüche führen zu politischen und gesellschaftlichen Explosionen (Kriege, Umweltkatastrophen, spontane Aufstände wie zuletzt in Frankreich, revolutionäre Krisen usw.). Bucharin verallgemeinerte das folgendermaßen: „Von diesem Standpunkt aus ist also der Prozess der kapitalistischen Reproduktion nicht allein ein Prozess der erweiterten Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse: Er ist zugleich ein Prozess der erweiterten Reproduktion der kapitalistischen Widersprüche.“ (17)

Fassen wir zusammen: Wenn wir also vom Imperialismus als der Epoche des Niedergangs des Kapitalismus sprechen, so meinen wir damit keineswegs seine Unfähigkeit, die Technik, die Maschinerie, kurz die Produktivität der Arbeit steigern zu können. Vielmehr meinen wir damit die weitgehende Unfähigkeit des Kapitalismus, technologische Neuerungen und wirtschaftliches Wachstum in gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit umzuwandeln. Die Monopolisierung bewirkt, dass wir trotz Wachstum und Innovation in bestimmten Sektoren für bestimmte Perioden insgesamt eine sinkende Wachstumsdynamik vorfinden. Aufgrund dieser Tendenzen sehen wir eine zunehmende Instabilität und Krisenhaftigkeit des Weltkapitalismus auf ökonomischer und politischer Ebene.

Der Imperialismus ist eine Epoche des scharfen Aufeinanderprallens grundlegender Widersprüche des Kapitalismus. Dieses Aufeinanderprallen führt zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendigerweise zu offenen Explosionen wie Kriegen und Revolutionen. Offensichtlich wurde die Theorie des Imperialismus in einer Periode entwickelt und ausgearbeitet, in der die Merkmale der imperialistischen Epoche unmittelbar sichtbar waren. Doch spätere Generationen von MarxistInnen mussten die tatsächlichen Entwicklungen verarbeiten, die eine Überwindung der unmittelbar explosiven Konjunktur nicht durch eine proletarische Revolution, sondern durch eine kapitalistische Konterrevolution sahen, eine zeitlich begrenzte Abschwächung der Widersprüche des Imperialismus zum Vorteil der Kapitalisten.

Eine solche Überwindung, die dem Imperialismus einen neuen Lebensabschnitt ermöglicht, setzt voraus:

• dass die herrschende Klasse der Arbeiterklasse historische Niederlagen zufügt und so den Preis der Ware Arbeitskraft qualitativ senkt;

• dass große Mengen überschüssigen Kapitals in einem ähnlich qualitativen Ausmaß zerstört werden und

• dass sich eine neue kapitalistische Weltordnung unter klarere Vorherrschaft einer imperialistischen Großmacht herausbildet.

Es bedurfte zweier Jahrzehnte und eines weiteren Weltkrieges, um solche Voraussetzungen nach den revolutionären Aufbrüchen zu schaffen, der Nachkriegsboom 1948-1973 war eine solche Periode. In ihr stagnierten die Produktivkräfte keineswegs, es kam vielmehr zu einem rasanten Aufschwung. Technologische Erneuerungen führten zu allgemeinen, gesellschaftlichen Fortschritten und der Lebensstandard der Mehrheit der Arbeiterklasse stieg.

Nichtsdestotrotz bestätigte das Ende dieser Periode und die Art wie dieses zustande kam – die tumulthaften Ereignisse in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren – die Theorie Lenins. Jedoch erreichte die Krise zu dieser Zeit nicht die Ausmaße der Periode nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und konnten daher durch eine qualitativ weniger intensive Konterrevolution gelöst werden. Dies führte aber nicht zu jenem Schub für den Kapitalismus, der zur Auslösung eines weiteren „langen Booms“ notwendig gewesen wäre.

Kann es in der Zukunft wieder zu einem langen Boom kommen, ähnlich wie in den 1950er und 1960er Jahren?

Vom marxistischen Standpunkt aus gesehen wäre es falsch, eine solche Möglichkeit auszuschließen. Aber ebenso falsch wäre es, sich diese Möglichkeit als bloße Wiederholung der Ereignisse, die zur langen Aufschwungperiode geführt haben, vorzustellen. Der Monopolkapitalismus des 21. Jahrhunderts ist nicht der Gleiche wie jener vor 50-60 Jahren. Die Produktivkräfte haben sich seitdem enorm entwickelt und damit auch die Destruktivkräfte. Ein Weltkrieg heute hätte unbeschreiblich schrecklichere Folgen für die Menschheit als der Zweite Weltkrieg (inklusive der Gefahr der Auslöschung von Teilen der Menschheit und der Zerstörung der Zivilisation). Die enge globale Vernetzung der Weltwirtschaft bringt mit sich, dass jede schwere regionale Erschütterung – sei es wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Natur – sich weltweit auswirkt. Die Möglichkeiten einer auch nur temporären Milderung der imperialistischen Widersprüche und eines neuerlichen langen Aufschwungs sind also heute deutlich geringer als Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ tritt im 21. Jahrhundert klarer und schärfer denn je hervor.

Exkurs: Was sind die Produktivkräfte?

Bei der Auseinandersetzung, ob die „Globalisierung“ die Imperialismus-Theorie Lenins bestätigt oder widerlegt, spielt die Frage der Produktivkräfte eine zentrale Rolle. Daher brauchen wir Klarheit, was dieser Begriff bedeutet (18).

In der marxistischen Theorie umfassen Produktivkräfte sowohl Maschinen und Rohmaterialien, deren Produktion und Wachstum sich in Statistiken wie dem Brutto-Inlandsprodukt ausdrücken, als auch – und dies ist noch wichtiger – die Menschen, die die Produktionsmittel bedienen und zu diesem Zweck bestimmte Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eingehen: die Arbeiterklasse (19). Das „Wachstum der Produktivkräfte“ beinhaltet daher nicht nur die Größe der Arbeiterklasse, sondern auch ihren Lebensstandard und ihr kulturelles Niveau. Wenn wir dies berücksichtigen, fällt es nicht schwer, sich Bedingungen vorzustellen, unter denen ein fortgesetztes Wachstum des materiellen Outputs stattfindet und gleichzeitig der Lebensstandard oder die Anzahl der ArbeiterInnen oder beides sinkt. Wenn wir also die Entwicklung der Produktivkräfte im Zeitalter der Globalisierung betrachten, müssen wir sowohl ihre quantitativen und qualitativen Auswirkungen auf die Arbeiterklasse in Erwägung ziehen als auch die Statistiken für die Produktion.

Die Bedeutung dieses Verständnisses liegt darin, dass Marx den sich entwickelnden Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen als die Triebkraft der Revolution ansah. Das bedeutet, dass im Kapitalismus, wie auch in vorherigen Klassengesellschaften, die fortgesetzte Entwicklung der Produktivkräfte durch die Klassenstruktur und die daraus resultierende Kontrolle der Produktion und Distribution eingeschränkt ist. Dies wäre natürlich eine nichts aussagende Annahme, wenn die Produktivkräfte nur aus Maschinen, Rohmaterialien und Produkten bestehen würden. Doch sobald die Arbeiterklasse mitberücksichtigt wird, macht diese Annahme Sinn – in einer Welt, in der in manchen Ländern Millionen Menschen arbeitslos sind und in anderen Ländern Millionen Hunger leiden, weil Finanzkapitalisten ihre Spekulationsgelder vom Immobilienmarkt in Lebensmittel-Futures umleiten.

Der Imperialismus heute

Im Folgenden wollen wir vor allem unsere Grundthese von der zunehmenden Krisenhaftigkeit und dem Niedergang des Kapitalismus in den verschiedenen Facetten untersuchen und belegen. Danach wenden wir uns den Folgewirkungen und ihren Widersprüchen zu. Besonderes Augenmerk legen wir auf die zyklen-übergreifenden Auswirkungen der von uns benannten Widersprüche, die im Imperialismus wirken. Daher betrachten wir v.a. die längerfristigen, sich über mehrere Zyklen erstreckenden Tendenzen. Zwar endet jeder Zyklus damit, dass „überschüssiges“ Kapital zerstört wird, doch wenn diese Zerstörung nicht umfassend genug ist, wird das Kapital im nächsten Zyklus eine höhere organische Zusammensetzung haben als zuvor. Wenn sich dieser Prozess über mehrere Zyklen hinweg wiederholt, kommt es zu einer strukturellen Überakkumulation von Kapital und die Kapitalisten sehen sich zunehmenden Verwertungsschwierigkeiten im Produktionsprozess gegenüber.

Ein verbreiteter Unfug vieler Apologeten und Propagandisten des Kapitalismus besteht darin, einzelne Länder oder kurze Zeitabschnitte heranzuziehen und anhand dieser zu „beweisen,“ dass die kapitalistische Globalisierung ein Segen für die Menschheit sei. Oft wird dabei auf China oder auf einzelne Konjunkturabschnitte der US-Ökonomie verwiesen. Eine marxistische Analyse der Lage des internationalen Kapitalismus darf jedoch nicht nur und nicht in erster Linie auf ein bestimmtes, kurzfristiges, nationales Phänomen zu achten, sondern muss – wie schon Lenin betonte – das Augenmerk auf alle wesentlichen weltweiten Erscheinungen und Tendenzen legen. Es gilt, die Totalität der weltweiten Entwicklung zu verstehen.

„Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen (bei der ungeheuren Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens kann man immer eine beliebige Zahl von Beispielen oder Einzeldaten ausfindig machen, um jede beliebige These zu erhärten), sondern man muß unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen.“ (20)

Wir versuchen daher, möglichst umfassende, globale, längerfristige Entwicklungslinien herauszuarbeiten bzw. stellen kurzfristige Phänomene in einen größeren Kontext.

Zunächst noch eine kurze Vorbemerkung zu den bürgerlichen Statistiken. Uns ist bewusst, dass die Verwendung bürgerlicher Wirtschafts- und Sozialstatistiken nicht unproblematisch ist. Einige der einflussreichsten statistischen Serien werden von großen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfond (IWF), der Weltbank oder von Zentralbanken der verschiedenen Länder herausgegeben. Gerade weil deren Prognosen für nationale und internationale wirtschaftliche Entwicklungen großen Einfluss haben können, haben diese Institutionen ein Interesse daran, zumindest keinen Beitrag zu einem „Vertrauensverlust“ zu leisten und tendieren daher dazu, negative Entwicklungen in ihren Statistiken herunterzuspielen.

Darüber hinaus beinhalten die bürgerlichen ökonomischen Kategorien und Konzepte die ideologischen Schwächen der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften. So können z.B. Profite auf verschiedene Weisen berechnet werden: Profite vor Steuern, nach Steuern, nach Abschreibungen, inklusive Kapitalverschleiß, einbehaltene Profite usw. All diese Kategorien verschleiern, dass die Profite aus unbezahlter Arbeit herrühren. Darüber hinaus können wichtige Änderungen in der Berichterstattung der Profite Resultat von technischen, rechtlichen oder Berechnungsänderungen bzgl. Steuern, Bewertungen oder der Berechnung des Verschleißes sein.

Schließlich zeigt sich im am meisten verwendeten Wertmaßstab für nationale Wirtschaften und deren Wachstum der fetischisierte Charakter der bürgerlichen Wirtschaftskategorien – dem Brutto-Inlandsprodukt (BIP). Während der Marxismus die Wirtschaft als System betrachtet, in dem Güter und Dienstleistungen, deren Wert letztlich durch die in ihnen steckende und zu ihrer Herstellung notwendige Arbeitszeit gemessen wird, sehen bürgerliche Ökonomen die Wirtschaft als ein durch Preise reguliertes System des Austausches von Gütern und Dienstleistungen. Das Ergebnis ist, dass das „BIP“ entweder auf der Grundlage der gesamten Kaufpreise für alle Güter und Dienstleistungen berechnet wird oder, als Alternative, auf der Basis des durch alle Güter und Dienstleistungen generierten Einkommens. Darüber hinaus wird die Gesamtheit aller Güter und Dienstleistungen mit Methoden berechnet, die den verschiedenen Sektoren der Ökonomie  unterschiedliche Gewichte  geben.

Das bedeutet, dass die BIP-Zahlen keine direkte Entsprechung in den marxistischen Kategorien finden. Sie können z.B. nicht anzeigen, ob der gesamte geschaffene Wert realisiert wurde oder ob Veränderungen bei der Wertzusammensetzung der Ware als Resultat von Veränderungen bei den Produktionstechniken stattfinden.

Nichtsdestotrotz können angesichts der Tatsache, dass in etwa die gleiche Methode bei der Erstellung von statistischen Reihen über einen längeren Zeitraum verwendet wird, Veränderungen beim BIP u.ä. Statistiken als Indikatoren für tatsächliche Veränderungen wirtschaftlicher Aktivitäten verwendet werden. Dadurch können wir, gemeinsam mit der Verwendung anderer Statistiken, einen Überblick über das relative Wachstum und die Dynamik einer Ökonomie gewinnen.

Sinkendes Wachstum des Outputs

Zur Untersuchung der Weltwirtschaft. Beginnen wir mit dem empirischen Nachweis der niedergehenden Dynamik des imperialistischen Kapitalismus heute anhand des sinkenden Produktionszuwachses. Zuerst nehmen wir die Wachstumsdynamik des weltweiten Brutto-Inlandsproduktes, welches den jährlichen Output der Industrie, des Dienstleistungssektors sowie der Landwirtschaft widerspiegelt. Die Zahlen der Tabelle 1 sind in Zehnjahres-Schritten angeführt, während die zum Vergleich herangezogene Tabelle 2 in Zwanzigjahres-Schritten gegliedert ist. Das Gesamtbild der Periode von 1970 bis 2006 ist aus Grafik 1 ersichtlich.

Tabelle 1: Wachstumsraten des Welt-Brutto-Inlandsproduktes (in % pro Jahr) (21)

1971-1980            +3.8%

1981-1990            +3.2%

1991-2000            +2.6%

2000-2005            +2.7%

Tabelle 2: Wachstumsraten des Welt-Brutto-Inlandsprodukts – Vergleich 1960-1980 und 1980-2000 (in % pro Jahr) (22)

1960-1980            +4.7%

1980-2000            +3.0%

 

Grafik 1: Wachstumsraten des Welt-BIP 1970 – 2006 (23)

 

Noch deutlicher wird das Bild des kapitalistischen Niedergangs, wenn wir das Brutto-Inlandsprodukt ins Verhältnis zur Bevölkerungsentwicklung setzen. Die ILO (International Labour Organisation) hat berechnet, dass in den 1960ern das Welt-Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf um 3,7% gewachsen, die Wachstumsrate seitdem aber stetig gefallen ist. In den 1970ern schrumpfte diese auf 2,1%, im darauf folgenden Jahrzehnt weiter auf 1,3%. Letztlich erreichte die Wachstumsrate einen neuen Tiefpunkt in den 1990er Jahren, dem ersten Jahrzehnt der Globalisierung, mit nur 1,1%. Dieser Trend setzte sich fort. So zeigten die ersten drei Jahre des neuen Jahrhunderts ein durchschnittliches Wachstum von knapp 1% (24).

Wenn wir nun das Bild des Welt-Kapitalismus differenzieren und in seine beiden wesentlichen Teile zerlegen – die imperialistischen Metropolen und die halbkoloniale Welt – sehen wir, dass bei allen Unterschieden die allgemeine, langfristige Tendenz die gleiche ist. Basierend auf gewichteten Durchschnittswerten errechnet das UNO “World Economic and Social Survey” von 2006, dass das jährliche Pro-Kopf-Wachstum des BIP am Ende der 1960er mit 3,5% am höchsten war, in den 1970ern auf 2,7%, in den 1980ern auf 2,0% und schließlich in den 1990ern auf 1,7% sank. Für die „Entwicklungsländer“ betragen die entsprechenden Zahlen 3,7% in den späten 1960ern, 1,8% in den 1970ern, 2,0% in den 1980ern und in den 1990ern 1,7% (25).

Die gleiche Tendenz findet sich auch im Herzen der Mehrwerterwirtschaftung – der Industrieproduktion. Laut Angaben der Weltbank sehen wir einen ähnlich stetigen Rückgang der weltweiten Wachstumsraten der Industrieproduktion von 3,0% in den 1980ern auf 2,4% in den 1990ern und einem Durchschnitt von 1,4% bis 2004 (26).

Betrachten wir nun die imperialistischen Staaten, wo die große Masse des Weltkapitals beheimatet ist, etwas genauer. Tabelle 3a zeigt die Wachstumsraten des Brutto-Inlandsprodukts in den großen imperialistischen Staaten, während Tabelle 3b die Wachstumsraten der Industrieproduktion darstellt.

Tabelle 3a: Wachstumsraten des Brutto-Inlandsprodukts in den imperialistischen Staaten (in % pro Jahr) (27)

                        Wachstumsrate des BIP (in Prozent pro Jahr)

                        imperialistische

                        Staaten                 USA                    Japan                 EU-15

                        BIP     BIP/Kopf     BIP     BIP p.K.   BIP    BIP p.K.    BIP         BIP p.K.

1960-1969      +5.1%  +3.8%      +4.6%    +3.3%   +10.2%   +9.0%   +5.3%     +3.5%

1970-1980      +3.4%  +2.5%      +3.2%    +2.1%     +4.4%   +3.3%   +3.0%     +2.6%

1980-1990      +3.0%  +2.3%      +3.2%    +2.2 %    +4.1%   +3.5%   +2.4%     +2.1%

1990-2000      +2.5%  +1.8%      +3.2%    +2.2%     +1.3%   +1.1%   +2.0%     +1.7%

2000-2005      +2.2%         —       +2.8%            —     +1.3%           —   +2.0%            —

Tabelle 3b: Wachstumsraten der Industrieproduktion in den imperialistischen Zentren (in % pro Jahr) (28)

                        Wachstumsraten der Industrieproduktion (in % pro Jahr)

                        USA            Japan            EU-15

1961-1970      +4.9%         +13.5%            +5.2%

1971-1980      +3.0%           +4.1%            +2.3%

1981-1990      +2.2%           +4.0%            +1.7%

1991-2000      +4.1%           +0.1%            +1.5%

2001-2005      +1.4%           -0.1%             +0.1%

Tabelle 4: Wachstumsraten der weltweiten Kapitalakkumulation (in % pro Jahr) (29)

1980-1990            +3.9%

1990-2000            +3.2%

2000-2004            +1.2%

Wir sehen also insgesamt eine niedergehende Wachstumsdynamik in den imperialistischen Ökonomien, auch wenn diese in den USA, v.a. seit 1990, weniger dramatisch verläuft als in anderen imperialistischen Staaten (zu den Gründen hierfür weiter unten). Die längerfristige Auswirkung dieser Niedergangstendenz kann man in Tabelle 4 beobachten, die eine Verlangsamung der Wachstumsrate der Kapitalakkumulation erkennen läßt. Dies ist die unausweichliche Konsequenz dessen, dass die wiederholten Wirtschaftskrisen nicht ausreichend viel Kapital zerstört haben, um neuen Schwung in das kapitalistische Wirtschaftssystem als Ganzes zu bringen. Diese Entwicklung zeigt auch, wie die Maßnahmen der Bourgeoisie zur Stabilisierung des Kapitalismus, wenn dieser von den politischen und sozialen Konsequenzen des Zyklus bedroht wird, die grundlegenden Probleme des Kapitalismus längerfristig verschärfen.

Dieser Trend kann ebenso klar in der in Grafik 2 abgebildeten Entwicklung der Investitions- und Sparraten gesehen werden.

Grafik 2: Globale Spar- und Investitionsquote als Anteil am BIP, 1970-2004 (30)

 

Tabelle 5: Anteil der gesamten Brutto-Anlageinvestitionen sowie der Ausüstungsinvestionen am BIP, 1970 – 2004 (31)

 

Betrachten wir abschließend die Kapitalakkumulation in einzelnen ausgewählten Ländern und berücksichtigen wir dabei insbesondere die Entwicklung jenes Bereichs in der bürgerlichen Wirtschaftsstatistik, die der Marxschen Kategorie des fixen konstanten Kapitals am nächsten kommt: den Ausrüstungsinvestitionen.

Das gleiche Bild ergibt sich, wenn wir uns die sinkende Dynamik der Erweiterungsinvestitionen – die Netto-Investitionen – anschauen. Unter Netto-Investitionen versteht man die Gesamtinvestitionen minus jenen Teil, der nur zur Ersetzung von bereits eingesetztem Kapital dient. Mit anderen Worten: Die Netto-Investitionen zeigen an, in welchem Ausmaß die Kapitalbasis erweitert wird. Die Aussagekraft der Wachstumsdynamik der Netto-Investitionen liegt darin, dass diese deutlicher die tatsächliche Geschwindigkeit der erweiterten Reproduktion des Kapitals widerspiegelt. In diesem Zusammenhang zeigt Grafik 3 besonders deutlich, wie schwer Japan von den Maßnahmen getroffen wurde, die angesichts der Rezession in den frühen 1990ern – dem Beginn der Periode der Globalisierung – ergriffen wurden.

 

Grafik 3: Netto-Investitionen als Anteil am Netto-Inlandsprodukt in den imperialistischen Ökonomien, 1980 – 2006 (32)

 

Steigende organische Zusammensetzung des Kapitals

Trotz einer Verlangsamung des Wachstums des Kapitalstocks steigt in den imperialistischen Metropolen der Kapitaleinsatz pro Arbeitskraft. Mit anderen Worten: Es steigt die organische Zusammensetzung des Kapitals. Die folgende Grafik zeigt dies unmissverständlich, auch wenn die Angaben nicht eins zu eins der organischen Zusammensetzung des Kapitals gleichzusetzen sind.

Grafik 4: Verhältnis zwischen konstantem Kapital und Arbeit (in Dollar pro Arbeitsstunde), 1946-2001 (33)

Die sinkenden Wachstumsraten der Produktion und der Investitionen sind Konsequenzen der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals, die wiederum letztlich zu einem langfristigen Fall der Profitrate führt. Wir betonen, dass es sich hier um eine langfristige Tendenz handelt und nicht um einen linearen, Jahr für Jahr voranschreitenden Fall. Teilweise gelang es den Kapitalisten auch, dem Fall entgegenzusteuern (zu den entgegenwirkenden Maßnahmen siehe unten). Nichtsdestotrotz ist die Tendenz eindeutig.

Betrachten wir zuerst die Entwicklung der Netto-Profitraten in den imperialistischen Kernländern seit dem Beginn des Nachkriegs-Booms Ende der 1940er Jahre (34).

 

Tabelle 6: Netto-Profitraten im nicht-finanziellen Unternehmenssektor in den USA, Japan und Deutschland, 1948-2000 (35)

                        USA            Japan            Deutschland

1948-1959      14.3%         17.3%            23.4%

1959-1969      15%            25.4%            17.5%

1969-1979      10.3%         20.5%            12.8%

1979-1990        9.0%         16.7%            11.8%

1990-2000      10.1%         10.8%            10.4%

 

Betrachten wir nun die Entwicklung der Profitrate in den USA, der größten imperialistischen Macht, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der Boom-Periode. Seit den späten 1980ern gibt es eine Debatte zwischen marxistischen ÖkonomInnen über den Niedergang der US-Ökonomie im Allgemeinen und die Frage der Profirate im Besonderen. Auch wenn Teilnehmer dieser Debatte wie Robert Brenner, Fred Moseley, Tom Weisskopf, Doug Henwood, Levy und Dumenil u.a. unterschiedliche Herangehensweisen und Methoden verwenden, so existiert zwischen ihnen doch ein Konsens darüber, dass sich die Profitraten in den 1950ern und 1960ern in einem Allzeithoch befanden und danach mit der Rezession 1973-75 einen scharfen Einbruch erlebten. Der nächste Höhepunkt fand zwischen 1993-1996 statt, auch wenn er nicht an das Niveau der 1950er und 1960er Jahre heranreichte. Tabelle 7 und Grafik 5 zeigen Berechnungen von Fred Moseley und Doug Henwood, die den Gesamttrend demonstrieren.

 

Tabelle 7: Die Entwicklung der Profitrate in der US-amerikanischen Wirtschaft 1947-2004 (36)

1947            22%

1952            21%

1957            18%

1962            20%

1967            19%

1972            16%

1977            12%

1982            11%

1987            14%

1992            15%

1997            18%

2001            14%

2004            19%

Grafik 5: Entwicklung der Profitrate im nicht-finanziellen Unternehmenssektor, USA 1952-2002 (37)

 

Wir sehen, dass das imperialistische Kapital in der Nachkriegsperiode vom tendenziellen Fall der Profitrate geprägt ist. Dem US-Kapital gelang es, dieser Tendenz etwas entgegen zu wirken, allerdings zu einem Preis und mit Methoden, die weder verallgemeinert werden können noch von dauerhafter Natur sind (siehe unten).

Methoden des Kapitals, seinem Niedergang entgegen zu wirken und ihre krisenverschärfenden Auswirkungen

Anfang der 1980er startete die imperialistische Bourgeoisie ein Roll-Back gegen die in den Jahren des „langen Booms“ erkämpften sozialen und politischen Errungenschaften der ArbeiterInnen und unterdrückten Völker. Ihr Ziel war die Steigerung der Ausbeutung, um so die Profite steigern zu können. Ihre Politik, der „Neoliberalismus“, beinhaltete folgende Aspekte:

• Privatisierung staatlichen Eigentums;

• Bildungs- und Sozialabbau;

• Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt, um die Kosten für die Ware Arbeitskraft zu verbilligen;

• zunehmender Rassismus gegen und Ausbeutung von ImmigrantInnen;

• Einschränkung demokratischer Rechte;

• massiver Kapitalexport;

• Militarisierung der Außenpolitik.

Dies waren Maßnahmen, die den Weg zur “Globalisierung” eröffneten. Einer der augenscheinlichsten Erfolge des Imperialismus war die Zerschlagung der Sowjetunion und die Zerstörung der nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in den ehemaligen Ostblock-Staaten, in China und Vietnam. Dort existierten seit Beginn der 1950er planwirtschaftliche Wirtschaftssysteme, die trotz aller Entartung durch die Herrschaft einer stalinistischen Bürokratie enorme soziale Fortschritte für die Bevölkerung brachten. Darüber hinaus wurde auch der globale Wirkungsbereich des Kapitals enorm eingeschränkt. Mit der Wiedereinführung des Kapitalismus gelang der Bourgeoisie eine enorme geographische Ausbreitung, nachdem ihr diese Regionen jahrzehntelang verschlossen waren. Ebenso gelang der Bourgeoisie eine enorme Stärkung sowohl gegenüber der Arbeiterklasse als auch gegenüber den unterdrückten Völkern in den Halbkolonien.

Die Angriffe auf die Arbeiterklasse auf ökonomischer Ebene

Das Kapital versucht mit allen Mitteln, die Lohnkosten (inklusive dem Soziallohn) zu drücken und so den Anteil der Mehrarbeit und damit den Mehrwert zu erhöhen. Dieser Prozess findet in allen Ländern statt. Dies ergibt sich eindeutig aus den beiden folgenden Grafiken, die eine sinkende Lohnquote am Volkseinkommen sowohl in den USA als auch in der EU aufzeigen und aus der sich im Umkehrschluss die steigende Gewinnquote ergibt.

Grafik 6: Entwicklung der Lohnquote in der EU und in den USA, 1991 – 2005 (38)

 

In den USA kann man die Umverteilung von den Löhnen zu den Profiten besonders deutlich sehen. Während von 1947-79 die Familieneinkommen in allen Bevölkerungsgruppen relativ gleich anstiegen (zwischen +94 und +120%), verringerte sich in der Periode 1977-94 (und in den späten 1990er noch mehr) für die Mehrheit der Bevölkerung das Familieneinkommen. Der US-Ökonom Doug Henwood schätzt, dass der Reallohn des durchschnittlichen Arbeiters in den USA zwischen 1973 und 96 um 14.1% fiel! Gleichzeitig konnte das reichste 1% der Bevölkerung einen dramatischen Zuwachs verbuchen (+72%!). Heute besitzt diese Geldaristokratie – das reichste ein Prozent der Bevölkerung – 40% des gesamten gesellschaftlichen Reichtums; das entspricht einem Anteil, der seit dem Ersten Weltkrieg nur in einem einzigen Jahr erreicht wurde: 1929, dem Jahr des Börsenkrachs (39). Gleichzeitig müssen die amerikanischen ArbeiterInnen immer länger arbeiten, um ein durchschnittliches Familieneinkommen zu sichern.

Die Offensive der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse und die Unterdrückten war natürlich nicht nur auf die USA beschränkt, sondern fand weltweit statt. Das Ergebnis war eine massive Umverteilung des Reichtums zugunsten der Bourgeoisie und ein Anstieg der Ungleichheit. Die folgende Grafik veranschaulicht, dass in den vergangenen Jahrzehnten nur in einer kleinen Minderheit der Länder – in denen nur 5% der Weltbevölkerung leben – die Einkommensungleichheit zurückging, während sie für die große Mehrheit anstieg.

Grafik 7: Zu leistende Arbeitsstunden, um das durchschnittliche Familieneinkommen zu verdienen, USA 1947-2001 (40)

 

Grafik 8: Anzahl der Menschen, deren Einkommen zwischen 1980 und 2000 gesunken ist sowie der Länder mit einem sinkenden Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf (41)

 

Die wachsende Ungleichheit kann man auch anhand des „Gini-Koeffizienten“ sehen, der die Ungleichheit auf einer Skala von 0 bis 1 misst: je höher die Zahl, desto ausgeprägter die Ungleichheit. Phillip O Hara hat in seinem Buch Growth and Development of Global Political Economy die Entwicklung des „Gini-Koeffizienten“  berechnet.

Tabelle 9: Die Entwicklung der Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient) in den USA, UK, Brasilien und China (42)

……………………………………..USA            UK            Brasilien        China

1970er Jahre                        0.39            0.26            0.55            —

1980er Jahre                        0.40            0.29            0.56            0.20

1990er Jahre                        0.46            0.32            0.61            0.28

Anfang 2000er Jahre           0.44            0.36            0.63            0.45

 

Diese Zahlen zeigen klar, dass der Neoliberalismus sowohl in den imperialistischen Kernländern als auch in den Entwicklungsländern – China und Brasilien gelten als wirtschaftliche Vorreiterländer – zu einer größeren sozialen Ungleichheit geführt hat und sich der Reichtum in immer weniger Händen konzentriert. Im vergangenen Jahrzehnt hat die Globalisierung den Massen keine Vorteile gebracht, sondern nur größere Ausbeutung und Verarmung.

Eine weitere Konsequenz der Überakkumulation von Kapital und dem Versuch der Unternehmer, die Arbeitsproduktivität durch Rationalisierungen zu steigern, ist das weltweite Anwachsen der Arbeitslosigkeit. Obwohl die globale Beschäftigung zunimmt, steigt gleichzeitig auch die Arbeitslosigkeit. Die Beschäftigungsrate blieb in der gegenwärtigen Periode konstant bei ca. 62%. Das hat dazu geführt, dass Ökonomen von einem „Boom ohne Arbeitsplätze“ oder einer „geringen Auswirkung des Wachstums auf die Schaffung von Arbeitsplätzen“ sprechen, da der Boom bis zum vergangenen Jahr zu keiner Ausweitung der Beschäftigung im weltweiten Maßstab geführt hat (43). Es wird geschätzt, dass selbst nach dem Konjunkturaufschwung von 2004-05 ca. 43,5% der Beschäftigten unter der Armutsgrenze von zwei US-Dollar pro Tag leben müssen. (2002 waren es sogar 50%). Die „Internationale Organisation für Arbeit“ der UNO (ILO) stellt fest: „Es gibt noch immer 486,7 Millionen ArbeiterInnen weltweit, die nicht genug verdienen, um sich und ihre Familien über die Armutsgrenze von 1 US-Dollar pro Tag zu bringen und 1,3 Milliarden ArbeiterInnen, die nicht genug verdienen, um sich und ihre Familien über die Armutsgrenze von 2 US-Dollar pro Tag zu bringen. In anderen Worten, 4 von 10 ArbeiterInnen sind arm.“ (44)

Dabei berücksichtigen diese Zahlen noch nicht einmal die hunderte Millionen Menschen, die arbeitslos sind oder im informellen Sektor arbeiten. Die ILO fährt in ihrem Bericht fort, dass “es sehr wichtig ist, wenn die Periode hohen Wachstums besser genutzt werden würden, um nachhaltigere und produktivere Arbeitsplätze zu schaffen.“ Doch wie wir gezeigt haben, wandern im Kapitalismus die Profite und die Früchte des Wachstums in die Taschen der Spekulanten und Reichen. Der Kapitalismus kann daher nicht den Lebensstandard der Massen heben, er ist nicht in der Lage, den Fortschritt der wichtigsten aller Produktivkräfte zu gewährleisten: der Arbeiterklasse.

Monopolisierung des Kapitals und Globalisierung

Wie wir gesehen haben, sah Lenin das Wachstum der Monopole als das grundlegende Merkmal des Imperialismus an. Gerade der Prozess der Monopolisierung wurde im Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung massiv vorangetrieben. So fand in den letzten 25 Jahren eine massive Fusionstätigkeit im Banken- und Industriesektor statt.

Noch bemerkenswerter ist jedoch die gewachsene Bedeutung der multi-nationalen Konzerne, also global agierender Monopole. Heute kontrollieren diese Konzerne (und ihre Tochterunternehmen) 2/3 des Welthandels. Die dreihundert größten Konzerne besitzen _ der produktiven Unternehmensanlagen weltweit und mehr als die Hälfte des Weltmarktes bei dauerhaften Konsumgütern, Stahl, Luftfahrt, Elektronik, Erdöl, Computer, Medien, Raumfahrt und Autoindustrie.

Eine der wichtigsten Besonderheiten der gegenwärtigen Periode ist der weltweit rasant voranschreitende Monopolisierungsprozess. Die dem Kapitalismus innewohnenden Prozesse der Konzentration und Zentralisation des Kapitals und der Herausbildung von Monopolen finden nicht mehr nur auf nationaler Ebene statt, sondern auch und insbesondere am Weltmarkt. Vor diesem Hintergrund sahen wir in den vergangenen Jahrzehnten einen Anstieg des Welthandels und noch mehr des Kapitalexports, der weit über dem Wachstum der Produktion liegt. Wenn man 1975 als Ausgangsjahr für das Welt-BIP, das Volumen des Welthandels und den Kapitalexport heranzieht, dann zeigen Berechnungen der Deutschen Bundesbank und des IWF, dass um die Jahrhundertwende das BIP um 230%, der Welthandel um 400% und der Kapitalexport um mehr als 3.000% gestiegen sind (45).

 

Tabelle 10: Globalisierung und Kapitalexport. Die wachsende Bedeutung ausländischer Direkinvestitionen (ADI) (46)

 

Die Monopole werden durch sinkende Profitraten in ihren Heimatmärkten und ein solch hohes Maß an Kapitalakkumulation, welche den nationalen Markt allein zu klein werden lässt, zu größerer Internationalisierung getrieben. Die für den Konkurrenzkampf notwendigen gewaltigen Investitionen erfordern zur profitablen Verwertung immer größere Absatzmärkte. Daher drängt das Monopolkapital zur Internationalisierung, daher auch die Auslagerung von Teilen der Produktion in die Exportmärkte und an die billigsten Arbeitsstätten. Moderne Technologien und billige Transportkosten helfen dabei. Hand in Hand damit geht die Erzwingung der weltweiten Öffnung der Märkte. Das Resultat dieser Entwicklung ist, dass ausländisches Kapital in den vergangenen 25 Jahren sowohl in den imperialistischen Staaten als auch in der halb-kolonialen Welt massiv an Bedeutung gewonnen hat. Tabelle 10 zeigt die gewachsene Bedeutung von ausländischem Kapital und ausländischen Direktinvestitionen sowohl auf weltweiter Ebene als auch innerhalb der „entwickelten Länder“, also den imperialistischen Staaten, und den „Entwicklungsländern“, also den halb-kolonialen Ländern bzw. den Staaten der ehemaligen UdSSR.

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass wir hier nur von jenem Teil der Kapitalexporte sprechen, der in der einen oder anderen Form mit dem Produktions- und ZirkulationsProzess des Kapitals in Verbindung steht (eben den ausländischen Direktinvestitionen). Wie wir jedoch später sehen werden, besteht der Großteil des weltweiten Kapitalexports aus Kredit- und Spekulationsgeschäften.

Kapitalexport findet sowohl von imperialistischen Staaten in Halbkolonien statt als auch – und sogar stärker – zwischen imperialistischen Staaten. Der verstärkte Kapitalexport in die Halbkolonien ist ein Resultat niedergehender Profitraten in den imperialistischen Zentren und dem Versuch des Kapitals, durch Investitionen und Handel mit kapitalistisch weniger entwickelten Ökonomien, diesem Trend gegenzusteuern. Daher die vielen Investitionen in den „Emerging Economies“ wie Südostasien in den 1990ern oder in China und Indien.

Der Kapitalexport zwischen den imperialistischen Staaten wiederum dient vor allem der Vorantreibung der Monopolisierung, teils in Form der beschleunigten Zentralisation des Kapitals – durch verstärkte Zusammenarbeit zwischen den bzw. Übernahme von Monopolen durch andere Monopole. Daher sind ein bedeutender Teil der ausländischen Direktinvestitionen zwischen den imperialistischen Staaten keine Neu- oder Erweiterungsinvestitionen, sondern dienen der Finanzierung der Übernahme anderer Unternehmen.

Betrachten wir daher die Entwicklung der Verteilung der Kapitalexporte zwischen den imperialistischen und den halbkolonialen Staaten in den letzten 25 Jahren.

Tabelle 11: Verteilung der weltweiten ausländischen Direktinvestitionen nach Staatengruppen (47)

Aus der Tabelle können wir v.a. zwei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens, dass der Großteil der ausländischen Direktinvestitionen zwischen den imperialistischen Metropolen fließt, wenn auch tw. als Zahlungsmittel für die Übernahme von Monopolkapital durch konkurrierendes Monopolkapital. Zweitens, dass der Kapitalexport vor allem seit 1990 – dem Beginn der Hochphase der Globalisierung – zu einem wachsenden Teil von den imperialistischen Zentren in die halbkolonialen Länder fließt (z.B. China). Das Kapital versucht also, durch verstärkten Kapitalexport und Monopolisierung, dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken.

Parasitismus, Spekulation und Schulden

Doch die Erfolge der Bourgeoisie bei der Steigerung der Ausbeutung brachten dem Kapitalismus keine neue Wachstumsdynamik oder ein Wachstum der Profitraten im produktiven Sektor der Ökonomie. Im Gegenteil: die Tendenz der Spekulation und der Flucht in unproduktive Geldanlagen verstärkt sich in der Globalisierung. Dieser Prozess wird durch die weltweite Öffnung der Märkte, inklusive der Finanzmärkte für das imperialistische Kapital gefördert. Allein am globalen Devisenmarkt werden täglich Werte von 1.900 Milliarden gehandelt – eine Verdreifachung gegenüber 1989! In vielen Ländern verdreifachte sich der Bestand ausländischen Vermögens zwischen 1980 und 2000 von durchschnittlich 36% des BIP auf 100%.

Die Flucht in die Spekulation hat inzwischen solche astronomischen Werte erreicht, dass die Bezeichnung „Casino-Kapitalismus“ zum geflügelten Wort wurde. Der marxistische Ökonom Doug Henwood stellte Berechnungen an, nach denen in den USA das Verhältnis des gesamten Geldvermögens im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt zwischen 1952 und 2003 von ca. 400% auf knapp 850% anschwoll – nachdem es am Höhepunkt im Jahr 2000 gar über 925% lag (48)! Während das Brutto-Inlandsprodukt der USA 12 Billionen US-Dollar beträgt, umfasst der Markt für Derivate 128 Billionen US-Dollar – ist also mehr als zehnmal so groß! Dies zeigt nicht nur die weitgehende Entkoppelung des spekulativen Marktes von der Produktion, sondern auch das enorm instabile Potential des Casino-Kapitalismus. Wie 1929 könnte ein Zusammenbruch der Finanzmärkte die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen!

Entsprechend nimmt die Bedeutung des spekulativen Geldkapitals innerhalb des Gesamtkapitals zu. Zwischen 1994 und 2000 war in den USA der spekulative Finanzsektor für _ des gesamten Profitzuwachses verantwortlich. Insgesamt stieg jener Teil der Profite, der nicht in der realen Produktion, sondern im großteils spekulativen Finanzsektor erwirtschaftet wurde, dramatisch an (Grafik 9).

Grafik 9: Entwicklung des Anteils der folgenden drei Komponenten am Gesamtprofit von Unternehmen in den USA, 1948-2001 (%): Industrie, Finanzsektor, Auslandsinvestitionen (49)

Die wachsende Rolle der Spekulation zeigt sich auch in den internationalen Kapitalbewegungen. Auch hier emanzipiert sich das Geldkapital scheinbar immer mehr vom unmittelbaren Produktionsprozess. Die folgende Grafik zeigt, dass heute nur ca. 1/7 aller internationalen Kapitalflüsse Direktinvestitionen sind. Die restlichen 5/6 beziehen sich auf Banken- oder Spekulationsgeschäfte.

Grafik 10: Zusammensetzung der internationalen Kapitalflüsse, 1980-2005 (50)

 

Ebenso wuchs in den vergangenen Jahrzehnten die Verschuldung massiv an. Das Kapital versucht, den Akkumulationsprozess durch vermehrtes Vorschießen von Geldkapital und Verringerung der Zirkulationskosten durch Kreditaufnahme in Gang zu halten. Dabei ist die objektive Rolle des Kredits zweischneidig. Einerseits beschleunigt der Kredit den Kapitalkreislauf, andererseits beschleunigt er in Zeiten der Krise den Bankrott. Marx schreibt hierzu: „Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise.“ (51)

Die wachsende Verschuldung findet auf allen Ebenen statt – Unternehmen, Staat, Privathaushalte – wie man anhand der folgenden Tabelle sehen kann.

Tabelle 12: Hypothekenschulden der Haushalte in Prozent des verfügbaren Einkommens, 1992-2003 (52)

                                    1992              2000               2003

USA                              58.7%           65.0%            77.8%

Japan                           41.6%           54.8%             58.4%

Deutschland                 59.3%            84.4%            83.0%

Frankreich                     28.5%           35.0%            39.5%

Italien                              8.4%           15.1%            19.8%

Kanada                         61.9%           68.0%            77.1%

Großbritannien               79.4%           83.1%           104.6%

Spanien                        22.8%            47.8%            67.4%

Niederlande                  77.5%           156.9%           207.7%

Australien                     52.8%             83.2%           119.5%

 

Die folgende Grafik zeigt die langfristige Zunahme der Verschuldung der privaten Haushalte am Beispiel der USA.

Doch nicht nur die privaten Haushalte sind zunehmend verschuldet, sondern auch die Unternehmen.

Grafik 11: Verschuldung der privaten Haushalte in den USA (Hypothekenschulden und Konsumkredite in Prozent des Brutto-Inlandsprodukts), 1952-2006 (53)

Grafik 12: Verschuldung der privaten Haushalte und Unternehmen in den USA (in Prozent des Brutto-Inlandsprodukts), 1952-2006 (54)

Die nächste Übersicht zeigt das Anwachsen der Unternehmensschulden im Verhältnis zum Gewinn.

Grafik 13: Unternehmensschulden im Verhältnis zum Gewinn in den USA, 1952-2000 (55)

 

Zusammengefasst können wir sagen, dass die Verschuldung bis zur Kreditkrise 2007 einen historischen Höchststand erreicht hat und der Kapitalismus immer mehr auf Pump lebt. Das immer größer werdende Kreditvolumen war wiederum ein Resultat der Unfähigkeit des Kapitals, den langfristigen Niedergang der produktiven Arbeit zu überwinden.

Zunehmende Plünderung der halbkolonialen Welt

Ebenso unterwarf die imperialistische Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten erfolgreich die „Dritte Welt“ – oder wie MarxistInnen sagen, die Halbkolonien. Unter Halbkolonien verstehen MarxistInnen jene Staaten, die zwar formell staatlich unabhängig sind, wirtschaftlich und letztlich auch politisch jedoch vom Imperialismus abhängig sind.

Mit der Globalisierung fand eine massive Durchdringung der halbkolonialen Länder durch die Monopole – die multinationalen Konzerne – und damit ein Prozess forcierter imperialistischer Ausplünderung statt. Dies erfolgte oft durch „strukturelle Anpassungsprogramme,“ mit denen die Weltbank und der IWF die Entwicklungsländer zu neoliberalen Reformen wie Sozialabbau, Privatisierung des Gesundheits- und Bildungswesens oder der Öffnung der heimischen Märkte für die multinationalen Konzerne zwang. Durch massiven Kapitalexport in Form von Krediten, Direktinvestitionen, spekulativen Anlagen usw. schuf die Bourgeoisie die Voraussetzungen, um Riesengewinne über Unternehmensprofite, Zinseinnahmen und Fondsgewinne einzustreichen.

Das Ergebnis ist ein enormer Netto-Transfer von Kapital aus den Halbkolonien in die Taschen der imperialistischen Bourgeoisie (Tabelle 13).

 

Tabelle 13: Netto-Transfer von finanziellen Ressourcen in Entwicklungsländer und ehemalige stalinistische Staaten 1995-2006 (in Milliarden US-Dollar) (56)

Zusammengerechnet ergibt dies allein für den Zeitraum 1995-2006 einen Netto-Abfluss von 2.877,7 Mrd. US-Dollar, die von halbkolonialen Ländern in Richtung imperialistische Zentren flossen! Um sich ein Bild vom Ausmaß dieser finanziellen Aussaugung durch das Finanzkapital zu machen, wollen wir folgende Berechnung vornehmen: 2005 betrug das kombinierte Brutto-Inlandsprodukt dieser Regionen 10.952,9 Mrd. US-Dollar (57). Der Abfluss von 782,8 Mrd. US-Dollar in diesem Jahr entsprach knapp 7,2% des Brutto-Inlandsprodukts der halbkolonialen Welt. Wohlgemerkt, bei dieser Zahl handelt es sich nicht um die Profite des imperialistischen Kapitals – von denen ja ein Gutteil im Land selbst entweder konsumiert wird oder zwecks neuer Profitgewinnung in die Kapitalakkumulation fließt – sondern ausschließlich um jenen Teil, der direkt aus der halbkolonialen Welt heraus geplündert wird.

Diese Zahlen sind erschütternd genug, aber sie zeigen bei weitem nicht die ganze Wahrheit. Die verschiedenen strukturellen Anpassungsprogramme, WTO-Runden u.a. Vereinbarungen haben den sozialen Zusammenhalt vieler Länder zerstört, haben zu Bürgerkriegen, Hunger, Aufständen und Revolutionen geführt. Seit 2000 haben wir viele Krisen erlebt. 2001 die schwere Krise in Argentinien, als der IWF die Wirtschaft mit seinen Diktaten zerstörte. Wir haben Rebellionen gegen den Neoliberalismus in Paraguay, Bolivien, Nigeria, Thailand, Venezuela u.a. Ländern gesehen. Auch die jüngste Krise in Kenia kann der Verschlechterung der Einkommenslage vieler Menschen in der Periode des neoliberalen Booms zugeschrieben werden.

Diese dem Imperialismus eigene Entwicklungstendenz der Ausplünderung der Halbkolonien führt zu wachsender Instabilität und Zerrüttung großer Teile der halbkolonialen Welt. Afrika ist hierbei im negativen Sinne des Wortes Vorreiter dieser verheerenden Entwicklung.

Für den Imperialismus – und allen voran für die USA – bedeutet das, verstärkt in der halbkolonialen Welt zu intervenieren. Wenn die lokalen herrschenden Klassen nicht mehr in der Lage sind, die dortigen Ausbeutungsverhältnisse zugunsten des Imperialismus zu sichern, muss der Imperialismus die Sache selbst in die Hand nehmen. Das Resultat ist eine verstärkte Anbindung der halbkolonialen Staaten an die reichen Metropolen – sei es durch die direkte Koppelung der Währung (Dollarisierung in Lateinamerika, Currency Board …), sei es durch die weltweit zunehmende Stationierung imperialistischer Truppen in halbkolonialen Ländern (Balkan, Zentralasien, Philippinen, Kolumbien, Tschad …), durch Stellvertreter-Kriege (Somalia) oder durch die Errichtung offener Protektorate (z.B. Balkan, Afghanistan, Irak).

Diese Maßnahmen mögen die Profite steigern, aber gleichzeitig verschärfen sie die sozialen Konflikte und Klassenkämpfe. Die fortgesetzten Attacken auf Löhne und Sozialleistungen, jetzt auch noch verstärkt mit globaler Inflation gekoppelt, senken die Konsumtionskraft der Arbeiterklasse und von Teilen der Mittelschichten und provozieren den Klassenkampf von unten. Die zunehmende Auspressung der halbkolonialen Welt birgt unzweifelhaft große materielle Vorteile für das imperialistische Kapital. Aber ebenso unausweichlich führt dies auch zum Widerstand der unterdrückten Völker.

Die Untergrabung der Hegemonie der USA

Wir wenden uns nun den Perspektiven der kapitalistischen Weltordnung zu und betrachten die Wechselwirkung der ökonomischen und politischen Faktoren und wie sie zu Konflikten zwischen den großen imperialistischen Mächten führen. Friedrich Engels beschrieb das Verhältnis zwischen ökonomischer Basis und politischem Überbau folgendermaßen: „Wir sehen die ökonomischen Bedingungen als das in letzter Instanz die geschichtliche Entwicklungen Bedingende an. (…) Nur sind hier zwei Punkt nicht zu übersehen. a) Die politische, rechtliche, philosophische, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist die Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.“ (58)

Daher kann Kapital nur existieren, wenn der Austausch der Waren und der Verwertungsprozess des Kapitals gesellschaftlich geregelt und organisiert wird – daher die Bedeutung von Staat, Rechtsverhältnissen usw. Das Kapital kann nur existieren, wenn die Wert schaffende Ware Arbeitskraft ständig reproduziert und produziert wird und neue Arbeitskräfte geschaffen werden. Dies findet außerhalb des Arbeitsplatzes statt: durch das Gebären und Aufziehen von Kindern sowie die unbezahlte Arbeit von Frauen.

Kapitalismus setzt also nicht nur die Herstellung und Wiederherstellung von Waren und Kapital voraus, sondern auch – und damit naturnotwendig verbunden – die Herstellung und Wiederherstellung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die erstere erst ermöglichen.

„Der Prozess der Reproduktion ist nicht nur ein Prozess der Reproduktion der materiellen Elemente der Produktion, sondern ein Prozess der Reproduktion der Produktionsverhältnisse selbst.“ (59)

Die Aufrechterhaltung des widersprüchlichen Gleichgewichts einer von Klassengegensätzen zerfressenen Gesellschaft wäre undenkbar, ohne ein feinmaschiges, ideologisches Gewebe, das die unterdrückten Klassen und Schichten an die herrschende Bourgeoisie bindet und dafür sorgt, dass sich diese mit Ausbeutung und Unterdrückung in einem gewissen Maß abfinden. Sowohl die Dynamik als auch die Fragilität des kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses haben in der imperialistischen Epoche allgemein und in der gegenwärtigen Periode der Globalisierung im Besonderen an Schärfe gewonnen. Das bedeutet, dass sich die Gegensätze zwischen verschiedenen Tendenzen der imperialistischen Ökonomie, der imperialistischen Politik und der imperialistischen Ideologie(n) verstärken und explosiver werden – wie auch die Gegensätze zwischen verschiedenen Sektoren des kapitalistischen Weltmarktes.

Nun gehört der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Nationalstaaten zu einem der grundlegendsten im Kapitalismus – in der Epoche des Monopolkapitalismus (Imperialismus) gilt das umso mehr. Trotzki schrieb dazu: „Als klassische Arena schuf sich der Kapitalismus im Kampf mit dem mittelalterlichen Partikularismus den Nationalstaat. Doch kaum richtig zusammengefügt; begann er sich schon in eine Bremse für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verwandeln. Aus dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und dem Rahmen des Nationalstaats, in Verbindung mit dem Grundwiderspruch – zwischen den Produktivkräften und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln -, erwuchs eben die Krise des Kapitalismus als der Weltgesellschaftsordnung.“ (60)

Aus diesem Widerspruch ergibt sich für den imperialistischen Kapitalismus die überlebensnotwendige Dringlichkeit eines Hegemons – einer imperialistischen Großmacht und der damit verbundenen Monopolkapitalgruppe, die die zentrifugalen Kräfte des niedergehenden Weltkapitalismus zusammenhält und für einen halbwegs geordneten Ablauf des internationalen Produktions-, Reproduktions- und Zirkulationsprozesses sorgt.

In der Periode zwischen den beiden Weltkriegen 1914-1945 fehlte ein solcher Hegemon. Das war ein wesentlicher Grund – neben dem historisch hohen Niveau der Organisierung revolutionärer ArbeiterInnen – für die schweren Erschütterungen des Kapitalismus in dieser Zeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg spielte der US-Imperialismus die Rolle des Weltpolizisten. Doch in den letzten beiden Jahrzehnten erlebten wir zwei miteinander zusammenhängende und einander verstärkende Prozesse: Einerseits befindet sich der Kapitalismus in einer immer tiefgreifenderen Krisenperiode. Andererseits sinkt die globale wirtschaftliche Vormachtstellung der USA. Vor diesem Hintergrund ist der amerikanische Hegemon immer weniger in der Lage, seine Aufgabe als Weltpolizist zu erfüllen. Doch hinter der scheinbaren Dominanz der USA wirken wichtige Prozesse, die sie weltweit und im Verhältnis zu den anderen imperialistischen Mächten schwächen.

Betrachten wir zuerst einige wirtschaftliche Kerndaten der USA. Wie Tabelle 14 zeigt, sind die USA nach wie vor eindeutig die stärkste Wirtschaftsmacht.

Auch wenn der US-Kapitalismus von der allgemeinen Tendenz der Stagnation der Produktivkräfte betroffen ist, gelang es den USA in den 1990ern besser als den imperialistischen Konkurrenten, seinen wirtschaftlichen Niedergang zu bremsen und den Fall der Profitrate in gewissen Maßen umzukehren. Aus diesem Grund konnte der US-Kapitalismus in den vergangenen 10-15 Jahren, den ökonomischen Aufholprozess seiner wichtigsten Konkurrenten, Japan und die EU, aufhalten.

Tabelle 14: Vergleich zwischen den Staaten: Brutto-Inlandsprodukt, Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf und Bevölkerung (2005) (61)

Land                Einwohner            BIP in                        BIP pro Kopf

                        Millionen               US-Dollar, Mrd            in US-Dollar

Welt                        6,438                        44,385                        6,987

USA                           297                        12,455                      42,007

EU-25                        459                        13,300                      28,951

EU-15                        385                        12,615                      32,741

Japan                        128                          4,506                      35,215

Rußland                     143                             764                        5,337

China                      1,305                           2,229                       1,709

Indien                      1,095                             785                          717

Tabelle 15: Die Entwicklung der wirtschaftlichen Stärke der EU und Japans im Vergleich zu den USA, 1980-2005 (62)

            BIP                                                     BIP pro Arbeitsstunde

            (in % der USA)                                    (in % der USA)

            1980      1990     2000     2005           1980      1990      2000     2005

USA      100%    100%    100%    100%          100%     100%     100%    100%

EU-15   111%    104.9% 94.5%   101.3%        84.9%    88.9%   93.7%     91%

Japan  37.4%     40.3%  33.8%    36.2%         61.4%    71.3%   74.9%     74%

 

Dem US-Kapital gelang es besser als seinen europäischen Konkurrenten, seine Arbeiterklasse zu zwingen, mehr Stunden pro Jahr und mehr Jahre im Leben für weniger Lohn zu arbeiten sowie einen größeren Teil seiner Bevölkerung in den Arbeitsprozess hineinzupressen.

„In marxistischer Terminologie können wir den Vorteil des US-Kapitals (gegenüber dem EU-Kapital, d. A.) dahingehend zusammenfassen, daß es in der Schwächung der Arbeiterklasse und vice versa in der Steigerung der Ausbeutungsrate in der Periode des globalen Kapitalismus mehr Erfolg gehabt hat, als das in Europa der Fall war.“ (63)

Nichtsdestotrotz geriet die hegemoniale Rolle des US-Kapitals in vielen Bereichen unter Beschuss. Betrachten wir zunächst die Stellung der USA beim weltweiten Kapitalexport in Hinblick auf die Direktinvestitionen, wo wir eine eindeutige Stärkung der EU auf Kosten der USA feststellen können.

Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Welthandel, genauer gesagt beim weltweiten Export. Während die USA nach wie vor ein wichtiger Importeur von Waren sind, ist ihr Anteil an den weltweiten Exporten mit 8.9% so niedrig wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg (trotz eines für das Exportgeschäft günstigen Wechselkurses).

Tabelle 16: Verteilung der ausländischen Direktinvestitionen nach Staaten und Regionen (64)

Tabelle 17: Anteile der Staaten und Regionen am Welthandel 1948-2003 (65)

Gleichzeitig geraten die USA als hegemoniale imperialistische Macht in eine wachsende Abhängigkeit von der Weltwirtschaft und Weltpolitik. Denn das erfolgreiche Vorantreiben der kapitalistischen Globalisierung vergrößert auch die Abhängigkeit des US-Kapitals vom Weltmarkt. Um die Zufuhr der eigenen Ökonomie mit billigen Rohstoffen und Halbprodukten, um profitable Anlagemöglichkeiten für das eigene Kapital im Ausland sowie die Bedienung der Zinsen zu sichern, müssen die USA und die anderen imperialistischen Mächte ihren Zugriff auf die halbkoloniale Welt festigen. Aus dem gleichen Grund müssen sie die Halbkolonien zwingen, ihre Industrie und Banken an das imperialistische Kapital zu verscherbeln oder sie zur noch weiteren Öffnung der Märkte anzuhalten.

Folgende Zahlen sollen die wachsende Abhängigkeit des US-Imperialismus von der Weltwirtschaft – und damit auch Weltpolitik – veranschaulichen. So mehrt sich z.B. mit jeden Tag die Abhängigkeit der US-Wirtschaft vom regelmäßigen Zufluß ausländischen Geldkapitals. Das Ergebnis ist ein seit Jahren wachsendes Zahlungsbilanzdefizit (das Verhältnis aller Waren-, Dienstleitungs- und Geldkapitalexporte aus den USA in die Welt minus alle Waren-, Dienstleitungs- und Geldkapitalimporte aus der Welt in die USA). Ende 2006 erreichte das US-Zahlungsbilanzdefizit eine Rekordhöhe von 800 Mrd. US-Dollar. Dies entspricht einem Wert von 6.8% des Brutto-Inlandsprodukts und somit in etwa so viel wie der Gesamtwert der Netto-Investitionen in den USA im gleichen Jahr. Mit anderen Worten, die USA müssen täglich über 2 Mrd. US-Dollar ausländisches Kapital importieren, um ihren Konsum und ihre Investitionen zu sichern.

Woher kommt das Kapital, mit dem die USA ihr Defizit finanzieren? Wie die folgende Statistik zeig, kommt es vor allem von den OPEC-Staaten (also dem Nahen Osten) sowie Ostasien (Japan, China, Südostasien) (66). So wird auch ein wichtiger ökonomischer Beweggrund der US-Außenpolitik ersichtlich. Die USA müssen alles daran setzen, ihre Vorherrschaft im Nahen Osten und in Ostasien zu wahren, um auch weiterhin die dortigen Regierungen zur Finanzierung ihrer Schulden anzuhalten.

Damit einher geht die Tendenz, dass nicht nur der Besitz US-amerikanischer Kapitalisten an ausländischen Kapitalen zunimmt, sondern der Besitz ausländischer Kapitalisten an US-amerikanischen Kapitalen noch rascher wächst. Dies wurde besonders im Zuge der Kreditkrise 2007, als Staatsfonds aus Saudi-Arabien, Dubai, China u.a. Schlüsselexporteuren große Kapitalvolumen aufbrachten, um siechende US-Finanzriesen vor dem Bankrott zu retten.

Grafik 14: US-Auslandsdirektinvestitionen und Auslandsdirektinvestitionen in den USA im Verhältnis im Verhältnis zum Netto-Inlandsprodukt der USA, 1952-2003 (in Prozent) (67)

Die dramatische Veränderung der weltweiten Position des US-Imperialismus wird noch deutlicher, wenn man die Entwicklung seiner Rolle als Gläubiger bzw. als Schuldner gegenüber dem Rest der Welt betrachtet. Waren die USA bis 1985 ein Netto-Gläubiger gegenüber dem Rest der Welt, hat sich das seitdem radikal gewandelt. Heute sind die USA der weltgrößte Schuldner. Wiegt man Schulden und Guthaben der US-Wirtschaft gegeneinander auf, so ergibt sich eine Netto-Verschuldung von 25% des BIP (68)!  Die größer werdende Abhängigkeit der USA vom Weltmarkt zeigt sich auch darin, dass das US-Kapital einen wachsenden Anteil des Gesamtprofits aus seinen Investitionen im Ausland bezieht. Während das US-Kapital 1978 noch 10% seiner gesamten Profite im Ausland machte, wuchs dieser Anteil bis 2001 auf 25,7% (69).

Aus diesen kurzen Ausführungen wird klar, dass das US-Kapital zunehmend abhängig von seinen weltweiten Investitionen sowie von der Kapitalzufuhr zur Finanzierung seiner Investitionen im eigenen Land ist. So wird deutlich, dass die relativen ökonomischen Erfolge der USA in den letzten 15 Jahren nicht nur auf eine Steigerung der Ausbeutung der heimischen Arbeiterklasse zurückgehen, sondern mindestens ebenso auf die zunehmende Plünderung der Welt. Es liegt auf der Hand, dass diese Methoden keineswegs ein Erfolgsmodell für alle anderen kapitalistischen Staaten sind – wenn alle so „erfolgreich“ plündern, bleibt nicht genug für alle Diebe übrig. Darüber hinaus sind dies Methoden, die nicht unbegrenzt fortgesetzt und gesteigert werden können. Ab einem bestimmten Zeitpunkt werden die wirtschaftlichen Verluste für die anderen kapitalistischen Staaten zu groß und sie werden die Finanzierung der USA einschränken.

Schon jetzt macht sich der wachsende Druck auf viele Länder bemerkbar, ihre Waren nicht mehr nur in US-Dollar zu handeln, sondern auf den Euro umzusteigen. Kein Wunder, dass in den vergangenen vier Jahren der Wert des Euro gegenüber dem US-Dollar von 0,87 auf 1,34 um mehr als die Hälfte gestiegen ist. Ab dem Moment, wenn die anderen Länder ihre Dollar-Währungsreserven auflösen bzw. nicht mehr so viel Kapital in die USA exportieren, könnte die US-Wirtschaft einen schweren Schlag erleiden.

Die wachsende Abhängigkeit von Weltmarkt und -politik bedeutet auch, dass der US-Kapitalismus mehr und mehr durch weltweite Erschütterungen, Instabilitäten und Widerstände verwundbar wird. Genau deswegen greifen die USA zu einer immer aggressiveren, militaristischeren Außenpolitik, um ihre Konkurrenten und Gegner niederzuhalten. In den Worten des früheren US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski ist das Leitmotiv für die Außenpolitik der USA treffend zusammengefasst: „Bedient man sich einer Terminologie, die an das brutalere Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt, so lauten die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, daß die Barbaren-Völker sich nicht zusammenschließen.“ (70)

Es stellt sich somit die Frage, welche imperialistische Macht die USA als Hegemon ablösen könnte? Die einzige Macht, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke dafür überhaupt in Frage kommt, ist die Europäische Union. Alle anderen imperialistischen Staaten sind zu schwach, um der Welt ihren Stempel aufzudrücken.

Allerdings ist es unrealistisch, dass die EU in absehbarer Zeit die eindeutige Führungsmacht werden könnte. Zuerst einmal muss man hierbei anmerken, dass die EU – im Gegensatz zu den USA – kein einheitlicher Staat ist, sondern ein Staatenbund, in dem es permanent Konflikte und Machtkämpfe zwischen verschiedenen Staaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien gibt. Es gibt in der EU selbst keine eindeutige Führungsmacht. Zwischen den nationalen herrschenden Klassen gibt es Konflikte darüber, ob bzw. wie die EU mittels einer Art Verfassung zu einem einheitlicheren und schlagkräftigeren Block geformt werden soll. Darüber hinaus ist die EU weit davon entfernt, auf wirtschaftlicher Ebene den Weltmarkt zu dominieren. Auf politischer oder militärischer Ebene gilt dies noch viel mehr. Natürlich versuchen die herrschenden Klassen des deutsch-französischen Blocks, ihren Rückstand auf die USA aufzuholen. Aber dieser Prozess braucht Zeit und – was noch wichtiger ist – je mehr die EU gegenüber den USA aufholt, desto schärfer werden der Konkurrenzkampf und damit die wirtschaftlichen und politischen (und ab einem bestimmten Zeitpunkt wohl auch militärischen) Konflikte zwischen beiden.

Schlussfolgerungen

In den letzten hundert Jahren haben wir eine langfristige Tendenz zur Stagnation gesehen, deren Grundlage die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals und die zunehmende Monopolisierung ist. Die Widersprüche innerhalb und zwischen den imperialistischen Mächten nehmen ebenso zu wie die Vorherrschaft der USA untergraben wird und die weltweite wirtschaftliche und politische Instabilität zunimmt.

Diese Entwicklungen bestätigen Lenins Konzept des Imperialismus. Die monopolistische Bourgeoisie beherrscht die Sektoren der Produktion mit der modernsten Technologie, der höchsten organischen Zusammensetzung des Kapitals und daher der stärksten Tendenz der fallenden Profitrate. Die Überakkumulation des Kapitals führt zum Kapitalexport, zum Parasitismus und der Spekulation in Aktien, Immobilien und Finanzderivaten. Währungsturbulenzen verschärfen die inner-imperialistischen Rivalitäten und den Konkurrenzkampf zwischen den imperialistischen Bourgeoisien um die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt; gleichzeitig versuchen Nationalstaaten die Kosten der Abwertung abzuschieben und auf ihre Rivalen und Untergebenen abzuwälzen.

Die gegenwärtige Periode der Globalisierung hat die Leninsche Konzeption des Imperialismus mehr denn je bestätigt. Der mächtigste aller imperialistischen Staaten war in der Lage, die Früchte seiner Erfolge gegen die eigene Arbeiterklasse sowie des Zusammenbruchs des Ostblocks zu ernten. Er war in der Lage, alle erdenklichen „entgegenwirkenden Ursachen“ zum Einsatz zu bringen, um die Profitraten zu steigern und der dem Imperialismus eigenen Tendenz zur Stagnation entgegenzuwirken.

Doch wie die Kreditkrise 2007 und die darauf folgenden Ereignisse gezeigt haben, konnten diese Maßnahmen nur vorübergehend eine Dynamik wiederherstellen. Heute kommt die Weltordnung Lenins Modell näher, als dies in den letzten 50 Jahren der Fall war. Vor uns liegen mit Gewissheit eine Zunahme der Instabilität und eine Fortsetzung der „Epoche von Kriegen und Revolution“ – gerade deswegen sollte Lenins Schlussfolgerung nicht vergessen werden: „Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats.“ (71)

Fußnoten

(1) W. I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus (1916); in: LW 23, S. 102. An einer anderen Stelle gibt er eine ähnliche Definition des Imperialismus. (Siehe: W. I. Lenin: Plan zum Artikel „Der Imperialismus und unsere Stellung zu ihm;“ in: LW 39, S. 793f.)

(2) W. I. Lenin: Vorwort zu N. Bucharin: Imperialismus und Weltwirtschaft, in: LW 22, S. 102f.

(3) Karl Marx: Das Kapital, Band III; in: MEW 25 S. 454

(4) Karl Marx: Das Kapital, Band III; in: MEW 25 S. 453

(5) W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: LW 22, S. 281

(6) W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: LW 22, S. 281

(7) W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: LW 22, S. 305

(8) W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: LW 22, S. 305f.

(9) W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß (1917), in: LW 22, S. 270f.

(10) W. I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus (1916); in: LW 23, S. 104

(11) W. I. Lenin: Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale; in: LW 22, S. 108

(12)12 Nikolai Bucharin: Imperialismus und Weltwirtschaft (1915), Berlin 1929, S. 190f.

(13) Eugen Preobrazenskij: Marx und Lenin (1924); in: Eugen Preobrazenskij: Die sozialistische Alternative. Marx, Lenin und die Anarchisten über die Abschaffung des Kapitalismus, Berlin 1974, S. 134f.

(14) Dieses falsche Verständnis zeichnete den Sozialdemokratismus und später den Stalinismus aus, der auf dieser Basis 1924 die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ entwickelte.

(15) Leo Trotzki: Die permanente Revolution; in: Leo Trotzki: Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution, Frankfurt a. M. (1971), S.7

(16) Friedrich Engels: Dialektik der Natur; in: MEW 20, S. 511f, .

(17) Nikolai Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode (1920), S. 148.,

(18) Eine ausführlichere Diskussion der Frage der Produktivkräfte hat der Autor dieser Zeilen in folgenden Artikel unternommen: Die widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus; in: Revolutionärer Marxismus Nr. 37 (2007)

(19) „Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst.“ (Karl Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 181.

(20) Wladimir Iljitsch Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß (1917), in: LW 22, S. 194

(21) Für 1971-2000 siehe World Bank: Global Economic Prospect 2002, S. 234; für 2000-2005 siehe United Nations: World Economic Situation and Prospects 2007, S. 2. Die Zahlenreihe zwischen 1971-2000 beruht auf Weltbank-Berechnungen des GDP zu konstanten Preisen und Wechselkursen von 1995. Die Zahlenreihe zwischen 2000-2005 beruht auf UN-Berechnungen des GDP zu konstanten Preisen und Wechselkursen von 2000. Die 2.7% ergeben sich aus dem arithmetischen Mittel der Angaben für die Jahre 2001-2005 (1.6%, 1.9%, 2.7%, 4.0% sowie 3.5%).

(22) World Bank: Global Economic Prospect 2007, S. 3

(23) PricewaterhouseCoopers UK Economic Outlook March 2007, S. 33

(24) ILO: A Fair Globalisation : Creating Opportunities For All (2004) S. 36

(25) United Nations: World Economic and Social Survey 2006. Diverging Growth and Development, S. 9

(26) World Bank Indicators 2005, sowie World Bank: World Development Indicators 2006, Table 4.1

(27) Für die Jahre 1970-2000: OECD – Understanding Economic Growth (2004), S. 18f.; Die Statistik bezieht sich auf die 24 Mitgliedsstaaten der OECD. Sie umfasst daher nicht nur imperialistische Länder, sondern auch Staaten – wie Ungarn, Tschechische Republik, die Slowakei, Mexiko oder Neuseeland – die einen halbkolonialen Charakter besitzen. Diese Länder hatten in den letzten Jahren eine Wachstumsrate, die über dem Durchschnitt der imperialistischen Ökonomien lag. Insofern verzerren sie diesen OECD-Durchschnitt etwas nach oben. Nichtsdestotrotz sind diese OECD-Zahlen nützliche Annäherungswerte, da die halbkolonialen Staaten innerhalb der OECD gegenüber den imperialistischen Ländern nicht allzu sehr ins Gewicht fallen. Die Angaben für 2000-2005 beziehen sich – mit Ausnahme jener für die EU – auf: World Bank: World Development Report 2007, S. 295. Für die Jahre 1960-1969 haben wir die OECD-Statistik zitiert aus: Robert Brenner, The Boom and the Bubble. The US in the World Economy, London 2002, S. 47. Bei diesen Angaben beziehen sich die Zahlen für die imperialistischen Staaten auf die G-7. Die Angaben für die EU-15 für die Jahre 1960-1969 beziehen sich nur auf Deutschland. Die Angaben für die EU-15 für die Jahre 1999-2005 beziehen sich auf die 11 zur Euro-Arena gehörenden EU-Staaten und entstammen folgender Quelle: European Commission: THE EU ECONOMY 2006 REVIEW, S.61

(28) European Commission: Statistical Annex of European Economy Autumn 2006, S. 52f. Da in der angeführten EU-Statistik keine Angaben für die EU-15 für die Jahresreihe 1961-70 und 1971-80 haben wir in diesen Fällen das arithmetische Mittel von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien verwendet. Da in der angeführten EU-Statistik die Angaben für die USA und Japan nur bis 2003 reichen haben wir in diesen Fällen folgende Quellen verwendet: Für die USA 2001-2005 wurde folgende Quelle herangezogen: Economic Report of the President 2007 (USA), S. 290. Für Japan wurde verwendet World Bank: World Development Indicators 2006, Table 4.1 http://devdata.worldbank.org/wdi2006/contents/Section4.htm wobei sich diese Daten auf den Zeitraum 2000-2004 beziehen.

(29) World Bank: World Development Indicators 2004, S. 220, World Bank: World Development Indicators 2006, Table 4.9 http://devdata.worldbank.org/wdi2006/contents/Section4.htm

(30) United Nations: World Economic Situation and Prospects 2006, S. 15

(31) United Nations: World Economic Situation and Prospects 2006, S. 158

(32) Barclays Capital (2006) “Global Outlook: Implications for Financial Markets”, Economic and Market Strategy, December 2006, S. 17

(33) Gérard Duménil/Dominique Lévy: Capital Resurgent. Roots of the Neoliberal Revolution (2004), abgebildet in: Chris Harman: Snapshots of capitalism today and tomorrow, International Socialism Journal (ISJ) 113

(34) Bei der Netto-Profitrate wird – im Unterschied zur Brutto-Profitrate – die Profitrate anhand des Netto-Kapitalwerts berechnet, also nach Abzug des jährlichen Verschleißes des fixen Kapitals.

(35) Robert Brenner : “After Boom, Bubble, and Bust: Where is the US Economy Going?” in Worlds of Capitalism: Institutions, Economic Performance, and Governance in the Era of Globalization (2005), S. 204. Die Zahlenreihe für Japan beginnt 1952, jene für Deutschland 1950. Die Angaben für die USA und Japan beziehen sich auf die nicht-finanziellen Unternehmenssektor, die für Deutschland auf den nicht-landwirtschaftlichen Unternehmenssektor.

(36) Fred Moseley: Marxian Crisis Theory and the Postwar U. S. Economy, in: A.Saad-Filho (ed.), Anti-Capitalism: A Marxist Introduction, (2003) S. 212 bzw. Fred Moseley: Is The U.S. Economy Headed For A Hard Landing? Moseleys Profitratenberechnungen beziehen sich auf die gesamte Wirtschaft und umfassen die Profite sowohl des nicht-finanziellen als auch des finanziellen Sektors.

(37) Doug Henwood: After the New Economy, New York 2003, S. 204; siehe auch http://www.leftbusinessobserver.com/NewEcon.html

(38) Labour market developments in the euro area, in: Quarterly Report on the Euro Area 3/2006, S. 28. Unter unbereinigter Lohnquote versteht man die Entwicklung des Anteils der Löhne am Volkseinkommen ohne Berücksichtigung der Veränderung der Anzahl der Lohnabhängigen. Da die Lohnquote hier unbereinigt ist, unterscheiden sich die Zahlen von der vorhergehenden Grafik. Die Tendenz ist jedoch die gleiche.

(39) Siehe Kevin Phillips: Die amerikanische Geldaristokratie (2003) S. 160 bzw. 174

(40) Doug Henwood: After the New Economy, New York 2003, S. 41; siehe auch http://www.leftbusinessobserver.com/NewEcon.html

(41) Alan Freeman: The Inequality of Nations; in: Alan Freeman/Boris Kargalitsky: The Politics of Empire. Globalisation in Crisis,London , 2004, S. 50

(42) Phillip Anthony O Hara, Growth and Development of Global Political Economy, Routledge 2006, p57

(43) See International Labour Organisation, Global Employment Trends, January 2008

(44) Ebenda

(45) Siehe: http://www.miprox.de/Wirtschaft_allgemain/Derivate.html

(46) Daten zusammengestellt aus: UNCTAD: World Investment Report 1995, S. 411ff. sowie 421ff., UNCTAD: World Investment Report 2000, S. 306ff. sowie 319ff., UNCTAD: World Investment Report 2006, S. 307ff. Die Angaben zu Südosteuropa und der Staaten der ehemaligen Sowjetunion (GUS) sind nur teilweise vollständig, da in früheren UNCTAD-Statistiken diese Ländern gemeinsam mit den osteuropäischen Staaten angeführt wurden, die 2004 der EU beitraten und somit die Statistik verzerrt hätten.

Unter Beständen an ausländischen Direktinvestitionen versteht man die – oft über einen längeren Zeitraum angehäufte – Gesamtheit des in einem Land bzw. von einem Land investierten Kapitals. Unter Ströme hingegen die jeweils in einem Jahr neu getätigten ausländischen Direktinvestitionen.

ADI im Inland bezieht sich auf den Anteil von importierten ADI an den Brutto-Anlageinvestitionen bzw. BIP des Empfängerlandes. ADI im Ausland bezieht sich auf den Anteil von exportierten ADI an den Brutto-Anlageinvestitionen bzw. BIP des Landes, von dem die ADI ausgehen.

Die UNCTAD-Kategorien „Entwickelte Länder“ und „Entwicklungsländer“ sind natürlich höchst problematisch und drücken die imperialistische Arroganz auf begrifflicher Ebene aus. Im Großen und Ganzen kann man unter der Kategorie „Entwickelte Länder“ die imperialistischen und unter „Entwicklungsländer“ die halbkolonialen Ländern einordnen. Allerdings gibt es hier eine nicht unwichtige Einschränkung: Die UNCTAD zählt die halbkolonialen Länder Osteuropas, die 2004 der EU beitraten und in denen die ADI eine große Rolle in der Kapitalakkumulation spielen, in ihrem jüngsten „World Investment Report“ zu den „Entwickelten Länder“.

Die Tabelle der UNCTAD weist darüber hinaus die Schwäche auf, dass sie die Staaten Südosteuropas und der ehemaligen Sowjetunion in eine gemeinsame Gruppe einordnen und diese von den anderen Kategorien trennen. Tatsächlich jedoch besitzen alle diese Länder mit Ausnahme Russlands einen halb-kolonialen Charakter. Russland ist hingegen ist ein imperialistischer Staat.

(47) UNCTAD: World Investment Report 2006, S. 7. Bezüglich der Spalten für das Jahr 2005 weisen wir noch einmal darauf hin, dass die UNCTAD die halbkolonialen Länder Osteuropas, die 2004 der EU beitraten, nun zu den „Entwickelten Länder“ zählt. Da in diesen Ländern das imperialistische Kapital eine große Rolle in der Kapitalakkumulation spielt, sind die Veränderungen zwischen 2000 und 2005 nicht zuletzt auch auf diesen Faktor zurückzuführen.

(48) Doug Henwood: After the New Economy, New York 2003, S. 191

(49) Gérard Duménil and Dominique Lévy : Neoliberal Dynamics: A New Phase? (2004) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm

(50) IMF: Global Financial Stability Report (April 2007), S.65

(51) Karl Marx: Das Kapital, Band III; in: MEW 25, S. 457

(52) Federal Reserve Bank of Cleveland: Economic Trends 1/2006, S. 9

(53) Roland Fressl (CPM): Market Facts. Immobilienmarkt (2007), S.8; http://www.securitykag.at/pdfs/marketfacts/Immobilienmarkt.pdf

(54) Roland Fressl (CPM): Market Facts. Immobilienmarkt (2007), S.8; http://www.securitykag.at/pdfs/marketfacts/Immobilienmarkt.pdf

(55) Wynne Godley/Alex Izurieta (The Levy Economics Institute of Bard College): Strategic Prospects and Policies for the U.S. Economy, S. 8

(56) United Nations: World Economic Situation and Prospects 2007, S. 58

(57) Wir berechnen hierfür anhand der aktuellen Weltbank-Statistik das Welt-Bruttonationaleinkommen minus dem Brutto-Nationaleinkommen der „high income“-Staaten (die wir für diesen Zweck grob mit den imperialistischen Ländern gleichsetzen). Siehe World Bank: World Development Report 2008, S. 335

(58) Friedrich Engels: Brief an Walther Borgius (25.1.1894); in: MEW 39, S. 205

(59) Nikolai Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode (1920), S. 69

(60) Leo Trotzki: Krieg und die Vierte Internationale (1934); in: Trotzki Schriften 3.3. S. 555

(61) Global Britain Briefing Note, No 45 (6th November 2006): European Union 2005 Prosperity Rankings; World Bank: World Development Report 2007, S. 289 bzw. 295. Bei den Angaben zu China ist Hong Kong nicht berücksichtigt.

(62) M. O’Mahoney/B. van Ark (Hrsg.): EU Productivity and Competitiveness: An Industry Perspective (2003), S. 20, Bart Van Ark: Europe’s Productivity Gap: Catching Up or Getting Stuck? (2006), S. 10 sowie World Bank: World Development Report 2007, S.  295.

(63) Michael Pröbsting: „Amerikanisierung oder Niedergang“. Widersprüche und Herausforderungen für das imperialistische Projekt der europäischen Vereinigung; in: Revolutionärer Marxismus Nr. 35, S. 33

(64) UNCTAD: World Investment Report 2006, S. 7

(65) WTO: International Trade Statistics 2006, S. 28f. Die Angaben für die EU beziehen sich auf die EWG (6) für 1963, die EG (9) für 1973, EG (10) für 1983, EU (12) für 1993 und EU (25) für 2005. Die Angaben für die Jahre 1948 und 1953 setzen sich aus dem addierten Anteil am Welthandel von Deutschland, Frankreich und Italien zusammen.

(66) Gilles Moëc/Laure Frey: Global Imbalances, Saving Glut and Investment Strike; Banque De France: Occasional Papers No. 1, February 2006, S. 5

(67) Siehe: Gérard Duménil and Dominique Lévy : The Economics of U.S. Imperialism at the Turn of the 21st Century (2004) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm

(68) Siehe: Gérard Duménil and Dominique Lévy : The Economics of U.S. Imperialism at the Turn of the 21st Century (2004) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm

(69) Siehe dazu Gérard Duménil and Dominique Lévy : Neoliberal Dynamics: A New Phase? (2004) http://www.cepremap.ens.fr/~levy/biblioa.htm.

(70) Zbigniew Brzezinski: The Grand Chessboard ? American Primacy And It’s Geostrategic Imperatives, New York, 1997, S. 40

(71) W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß (Vorwort von 1920), in: LW 22, 198




Die widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

Bei der Frage, in welcher Periode der kapitalistischen Entwicklung wir uns befinden, ist ein richtiges Verständnis davon, was materielle Produktivkräfte und ihre Entwicklungsdynamik im Kapitalismus sind, von entscheidender Bedeutung. Die Verwirrung, die verschiedenste Niedergangs- oder Aufschwungspropheten aktuell verbreiten, hat hier ihre Wurzeln.

So wird verbreitet, dass die jüngsten technischen Entwicklungen und die Globalisierung nicht nur eine enorme, beschleunigte Anhäufung des Reichtums in den Händen weniger gebracht hätte. Sie gingen auch mit einer tiefgreifenden Aufschwungsphase einher.

Diese Ansicht vertreten nicht nur bürgerliche Ökonomien und Ideologen, sondern auch diverse pseudomarxistische Theoretiker (1). Auch bei vielen bürgerlichen Kritikern der Globalisierung wie dem US-amerikanischen liberalen Autor Rifkin ist die Vorstellung prägend, dass der Kapitalismus eigentlich eine enorme produktive Dynamik entfaltet hätte und dass die Früchte des Reichtums nur zunehmend schlechter verteilt würden.

In einem Meer zunehmender Armut, Kriege und Klimakatastrophen und einer um sich greifenden Zukunftsangst proklamieren sie zur Verteidigung ihrer kühnen Behauptung eine phänomenale Entwicklung der Produktivkräfte, verweisen auf China und Indien, verweisen sie auf riesige Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts oder auf das Ansteigen der Aktienkurse.

Die Frage, was hier eigentlich wächst, bleibt außen vor. Ein zentrales Problem liegt darin, dass „Wachstum“ mit ohnehin schon fetischisierten Kategorien bestimmt wird, da sie der Ebene der wirtschaftlichen Aktivität ohne notwendigerweisen Bezug zur realen Wertbildung stehen bleiben. Damit wird der Blick auf die dahinter liegende Dynamik – oder besser fehlende – Dynamik in der realen Produktion verstellt.

Rekapitulieren wir daher als erstes, was Marx und die Marxisten eigentlich unter Produktivkräften verstehen. Produktivkräfte umfassen sowohl die materiellen Mitteln und Resultate der Produktion – also Produktionsmittel (Maschinen etc.) und Waren, den erreichten Stand der Organisation des Arbeitsprozesses, von Kommunikation und Transport – als auch die Menschen, die die Produktionsmittel bedienen und zu diesem Zweck bestimmte Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eingehen.

Es versteht sich von selbst, dass Produktionsmittel und Arbeiter einander gegenseitig bedingen und – vom kapitalistischen Gesichtspunkt aus gesehen – der Zweck der Anwendung der Arbeiter an den kapitalistischen Produktionsmitteln darin besteht, Waren und dadurch Mehrwert zu produzieren. Produktivkräfte sind also nicht bloß eine Ansammlung von materiellen Dingen, sondern beinhalten auch und vor allem die Menschen und ihre Lebensbedingungen.

Der gesellschaftliche Charakter der Ware und der Produktivkräfte

Kapital und Ware sind ein gesellschaftliches Verhältnis – also ein Verhältnis zwischen Menschengruppen (Klassen). Marx schrieb dazu: „Das Kapital besteht nicht nur aus Lebensmitteln, Arbeitsinstrumenten und Rohstoffen, nicht nur aus materiellen Produkten; es besteht ebensosehr aus Tauschwerten. Alle Produkte, woraus es besteht, sind Waren. Das Kapital ist also nicht nur eine Summe von materiellen Produkten, es ist eine Summe von Waren, von Tauschwerten, von gesellschaftlichen Größen (2).“

Friedrich Engels fasste diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen:

„Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge (3).“

An einer anderen Stelle wies Friedrich Engels auf die widersprüchliche Einheit des Begriffs „Produktivkräfte“ sowie seine umfassende Bedeutung hin:

„Einerseits Vervollkommnung der Maschinerie, durch die Konkurrenz zum Zwangsgebot für jeden einzelnen Fabrikanten gemacht und gleichbedeutend mit stets steigender Außerdienstsetzung von Arbeitern: industrielle Reservearmee. Andrerseits schrankenlose Ausdehnung der Produktion, ebenfalls Zwangsgesetz der Konkurrenz für jeden Fabrikanten. Von beiden Seiten unerhörte Entwicklung der Produktivkräfte, Überschuß des Angebots über die Nachfrage, Überproduktion, Überfüllung der Märkte, zehnjährige Krisen, fehlerhafter Kreislauf: Überfluß hier, von Produktionsmitteln und Produkten – Überfluß dort, von Arbeitern ohne Beschäftigung und ohne Existenzmittel; aber diese beiden Hebel der Produktion und gesellschaftlichen Wohlstands können nicht zusammentreten, weil die kapitalistische Form der Produktion den Produktivkräften verbietet, zu wirken, den Produkten, zu zirkulieren, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital verwandelt: was gerade ihr eigner Überfluß verhindert. Der Widerspruch hat sich gesteigert zum Widersinn: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschform. Die Bourgeoisie ist überführt der Unfähigkeit, ihre eignen gesellschaftlichen Produktivkräfte fernerhin zu leiten (4).“

Dieses Verständnis behielten auch die marxistischen Theoretiker nach dem Ableben der Gründungsväter des wissenschaftlichen Sozialismus bei. Stellvertretend für sie sei Nikolai Bucharin – ein führender Theoretiker der Bolschewiki und der Kommunistischen Internationale – zitiert:

„In der Tat, es ist offensichtlich, daß wenn wir wissen, wie die Produktionsmittel und wie die Arbeiter sind, so wissen wir auch, wieviel sie in einer bestimmten Arbeitszeit produzieren; durch diese zwei Größen wird auch die dritte – das erzeugte Produkt – bestimmt. Diese zwei Größen bilden, zusammengenommen, dasjenige, was wir als materielle Produktivkräfte der Gesellschaft bezeichnen (5).”

Der Arbeiterklasse als wichtigster Bestandteil der Produktivkräfte

Aber sie gingen noch weiter und betonten, dass der wichtigste Aspekt der die revolutionäre Klasse der Gesellschaft ist. Das ist nur allzu logisch, denn es ist nur die lebendige Arbeit, die die natürlichen Reichtümer und die Produktionsinstrumente in Produktivkräfte der Menschheit verwandeln und verwenden können.

Marx betonte die zentrale Stellung des Proletariats im Verständnis der gesellschaftlichen Produktivkräfte:

„Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten (6).“

Ähnlich hob auch Bucharin (und mit ihm Lenin) die Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft für das Verständnis der Produktivkräfte in ihrer Totalität hervor:

„Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, der rein kapitalistischen Gesellschaft das Proletariat, ist einerseits eine der beiden Komponenten des Begriffs Produktivkräfte (denn die Produktivkräfte sind nichts anderes als die Gesamtsumme der vorhandenen Produktionsmittel und der Arbeitskräfte); dabei ist die Arbeitskraft, (…), die wichtigste Produktivkraft (7).“

Diesen Gedanken betonte auch Trotzki in einer während des I. Weltkrieges verfaßten Arbeit, wo er die Arbeiterbewegung als „die wichtigste Produktivkraft der modernen Gesellschaft“ bezeichnete (8).

Schließlich sei noch eine weitere Erklärung der komplexen Natur der Produktivkräfte durch den deutschen trotzkistischen Theoretiker Franz Jakubowski angeführt: „Naturkräfte werden zu Produktivkräften erst in ihrer Anwendung durch die menschliche Arbeit. Nur durch ihre Einbeziehung in menschliche Verhältnisse, nur durch die Verwendung für menschliche Zwecke werden sie zu sozialen Kräften. Zu Produktivkräften werden Naturkräfte erst, wenn sie der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens dienen. Die wichtigste Produktivkraft ist die menschliche Arbeitskraft (9).“

Wenn wir also den Standpunkt der Marxisten zusammenfassen, so ergibt sich, daß der Entwicklungsgang des Kapitalismus nicht bloß anhand der Auf und Ab’s des materiellen Outputs gemessen werden kann, weil dieser noch gar nichts aussagt, über die dahinter liegende Dynamik der Kapitalakkumulation oder gar die gesellschaftlichen Entwicklungspotenzen, die systematisch nicht realisiert und unter kapitalistischen Bedingungen auch nicht realisiert werden können.

Die Entwicklung der Produktivkräfte drückt sich auch in der Entwicklung der Ware Arbeitskraft und ihren Reproduktionsbedingungen aus. Mit anderen Worten: wie entwickeln sich die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse. Dies ist ein äußerst wichtiger Faktor nicht nur für die betroffenen ArbeiterInnen und ihre Familien, sondern auch für die gesamte zukünftige Entwicklung der Menschheit.

Die Entwicklung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ergeben sich aus dem Wesen ihrer Existenz – also einer Klasse von LohnarbeiterInnen, die ihre Arbeitskraft als Ware an die Kapitalisten verkaufen muss. In diesem Prozess schaffen sie mit ihrer Arbeit eine bestimmte Menge an Waren, in denen mehr Wert steckt, als sie als Lohn vom Kapitalisten erhalten. Diese Mehrarbeit eignet sich der Kapitalist als Mehrwert an.

„Das Arbeitsvermögen des Lohnarbeiters … tritt nicht nur nicht reicher, sondern es tritt ärmer aus dem Prozeß heraus, als es hereintrat. Denn nicht nur hat es hergestellt die Bedingungen der notwendigen Arbeit als dem Kapital gehörig; sondern die in ihm als Möglichkeit liegende Verwertung, … existiert nun ebenfalls als Mehrwert, Mehrprodukt, mit einem Wort als Kapital … Es hat nicht nur den fremden Reichtum und die eigene Armut produziert, sondern auch das Verhältnis dieses Reichtums als sich auf sich selbst beziehenden Reichtum zu ihm als der Armut, durch deren Konsum es neue Lebensgeister in sich zieht und sich von neuem verwertet (10).“

Damit kommen wir auch zu der mit der kapitalistischen Ausbeutung verbundenen Verelendung der Arbeiterklasse. Marx unterschied bekanntlich zwischen der relativen Verelendung und der absoluten Verelendung des Proletariat, wobei hier wichtig ist, unter Proletariat die gesamte Klasse zu sehen (also nicht nur die aktiv beschäftigten Arbeiter, sondern auch die Arbeitslosen, proletarische Jugendlichen und Pensionisten etc.). Unter relativer Verelendung verstand er die wachsende Kluft zwischen dem Reichtum des Kapitals und jenem der Arbeiter. Dies schließt eine Zunahme des Arbeitereinkommens nicht aus, nur eben langsamer als das Wachstum der Profite.

„Es zeigt sich hier, wie progressiv die objektive Welt des Reichtums durch die Arbeit selbst als ihre fremde Macht sich ihr gegenüber ausweitet und immer breitere und vollere Existenz gewinnt, so daß relativ, im Verhältnis zu den geschaffenen Werten oder den realen Bedingungen der Wertschöpfung die bedürftige Subjektivität des lebendigen Arbeitsvermögens einen immer grelleren Kontrast bildet. Je mehr sie sich – die Arbeit sich – objektiviert, desto größer wird die objektive Welt der Werte, die ihr als fremde – als fremdes Eigentum – gegenübersteht (11).“

Unter absoluter Verelendung verstand Marx das Sinken der materiellen Lebensverhältnisse des Proletariats in seiner Gesamtheit.

„Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört. (…)

Das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann – dies Gesetz drückt sich auf kapitalistischer Grundlage, wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden, darin aus, daß, je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingung: Verkauf der eignen Kraft zur Vermehrung des fremden Reichtums oder zur Selbstverwertung des Kapitals. Rascheres Wachstum der Produktionsmittel und der Produktivität der Arbeit als der produktiven Bevölkerung drückt sich kapitalistisch also umgekehrt darin aus, daß die Arbeiterbevölkerung stets rascher wächst als das Verwertungsbedürfnis des Kapitals. (…)

Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert (12).“

Das Steigen der relativen Verelendung ist für die meiste Zeit ein typisches Merkmal für den kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozess. In Perioden des kapitalistischen Niedergangs hingegen findet auch ein Prozess der absoluten Verarmung statt. Es lässt sich schwer bestreiten, dass für die Masse der Arbeiterklasse und der unterdrückten Schichten weltweit ein Prozess der absoluten Verarmung stattfindet. Natürlich trifft das nicht in jedem einzelnen Land, nicht in jedem einzelnen Jahr und für jede einzelne Schicht der Klasse zu. Aber als ein allgemeiner, weltweiter Prozess ist dies eine unbestreitbare Tatsache.

Umwandlung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte

Schließlich kommen wir noch zu einem weiteren Charakteristikum der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte in der imperialistischen Epoche: der zunehmenden Umwandlung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte.

Marx selber wies schon vorausblickend darauf hin:

„Diese Produktivkräfte erhalten unter dem Privateigentum eine nur einseitige Entwicklung, werden für die Mehrzahl zu Destruktivkräften, und eine Menge solcher Kräfte können im Privateigentum gar nicht zur Anwendung kommen (13).“

„Wir haben gezeigt, daß die gegenwärtigen Individuen das Privateigentum aufheben müssen, weil die Produktivkräfte und die Verkehrsformen sich so weit entwickelt haben, daß sie unter der Herrschaft des Privateigentums zu Destruktivkräften geworden sind, und weil der Gegensatz der Klassen auf seine höchste Spitze getrieben ist (14).”

Die Produktivkräfte haben sich bereits so weit entwickelt, dass die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht nur zu einer Fessel für die vollständige, freie Entfaltung der Produktivkräfte geworden sind, sondern die Produktivkraftentwicklung in einem zunehmenden Ausmaß immer monströsere, zerstörerische Kräfte – Destruktivkräfte – hervorbringt. Sicherlich gab es auch früher Destruktivkräfte, aber erst in der Epoche des Imperialismus nahmen sie einen weltumspannenden Charakter hat, wo sie das Potential haben, die ganze Menschheit in ihrer Entwicklungsstufe um unzählige Generation zurückzuwerfen bzw. überhaupt als ganzes zu vernichten.

Die dramatische Gefährdung der Lebensgrundlagen der Menschheit durch die systematische Umweltzerstörungen durch die Profitgier des Kapitals (globale Erwärmung, Ozonloch usw.) oder auch die Gefahr nuklearer Kriege mit Millionen Toten – all das zeigt, wie sehr die Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus zugleich Destruktivkraftentwicklung ist. Marx selber schrieb schon vorausblickend:

„Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter (15).“

Die widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte

Wenn Marxisten also von der Tendenz der Produktivkräfte zur Stagnation sprechen, so meinen sie damit nicht ein wirtschaftliches Null-Wachstum und schon gar nicht einen Stillstand des technischen Fortschritts. Dies ist im Kapitalismus auch nur kurzfristig, in Phasen höchster gesellschaftlicher Krise möglich.

Der Zweck des Kapitals ist seine Selbstverwertung, also seine Vergrößerung, Ausbreitung, also Akkumulation. Die im entwickelten Kapitalismus normale Produktionsweise ist daher die Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter. Alles andere wäre – so Marx im II. Band des Kapitals – „eine befremdliche Annahme“:

„Die einfache Reproduktion auf gleichbleibender Stufenleiter erscheint insoweit als eine Abstraktion, als einerseits auf kapitalistischer Basis Abwesenheit aller Akkumulation oder Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter eine befremdliche Annahme ist, andrerseits die Verhältnisse, worin produziert wird, nicht absolut gleichbleiben (und dies ist vorausgesetzt) in verschiednen Jahren (16).“

Ebenso revolutioniert der Kapitalismus beständig seine technischen Grundlagen. Anders kann es auch gar nicht sein! Denn – wie schon Marx feststellte – die Existenzweise des Kapitals vollzieht sich notwendigerweise in Form der Konkurrenz.

„Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innere Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innere Tendenz als äußerliche Notwendigkeit. (Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander.) (17).“

Diese Konkurrenz zwingt das Kapital dazu, permanent nach Möglichkeiten der Ersetzung der menschlichen Arbeit durch Maschinen zu suchen, um so den Lohnanteil am Gesamtkapital zurückdrängen und somit billiger produzieren zu können. Daher finden im Kapitalismus immer wieder technische Neuerungen zwecks Steigerung der Produktivität statt. Es reicht beispielhaft folgende zentrale technischen Neuerungen der letzten 200 Jahre zu nennen: die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Telegraphie, das Auto, das Flugzeug, Radio, Fernsehen, Raketen, Computer, die Mobiltelephonie, die Fortschritte im Bereich der Genetik usw.

Tatsache ist, dass sich der Grad der jugendlichen Frische bzw. der Überalterung und Verfaulung des Kapitalismus nicht an dem Umfang der technologischen Entwicklungen ablesen lässt. Demnach wäre ja der Kapitalismus in den letzten 200 Jahren eine stetig voranschreitende Gesellschaftsordnung gewesen und statt dem von Marx und Lenin diagnostizierten Zusammenbruchstendenzen würde er vielmehr ein ungebrochenes Fortschrittspotential aufweisen. Offenkundig ist dem aber nicht so und eine kurze Rekapitulation der Geschichte des imperialistischen Zeitalters macht dies klar: diese technischen Fortschritte waren begleitet von wirtschaftlichen, politischen und menschlichen Katastrophen – darunter zwei Weltkriege, das Holocaust, Hiroshima um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen.

Nein, die Schranke des Kapitalismus besteht nicht in der Erschöpfung seiner Möglichkeiten zur technischen Erneuerung oder gar einem technischen Zusammenbruch der Ökonomie. Die Schranke besteht sich vielmehr in dem Kapitalismus als gesellschaftliche Produktionsweise innewohnenden Widersprüchen. Mit anderen Worten: den explosiven Widerspruchspotential, das dem lebendigen Prozess des gesellschaftlichen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit anhaftet. Nicht umsonst schrieb Marx: „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst (18).“

Was wir also im modernen Kapitalismus sehen, ist eine im höchsten Maße widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte. Einerseits erleben wir eine – vom Stachel der kapitalistischen Konkurrenz angetriebene – Revolutionierung der Technik. Andererseits sehen wir eine zunehmende Untergrabung des gesellschaftlichen Fortschritts der Menschheit und der wirtschaftlichen Grundlagen ihrer Reproduktion. Letzteres ist jedoch der wichtigste Faktor der Produktivkräfte. Jene, die die Produktivkräfte auf die Technik reduzieren, unterliegen letztlich dem gesellschaftlichen Nebel des Warenfetischismus und ignorieren die Warnung von Marx: „Allein die politische Ökonomie ist nicht Technologie (19).“

Natürlich wäre es ein kindischer Umkehrschluss, den Stand der Technik, als unwichtig oder sekundär abzutun. Im Gegenteil sie ist eine zentrale Grundlage für die ökonomische Basis und damit die gesamte gesellschaftliche Entwicklungsrichtung.

Trotzki und die Frage der Entwicklung der Produktivkräfte

Der marxistische Theoretiker und Revolutionär Leo Trotzki verstand es, die der imperialistischen Epoche eigene widersprüchliche Entwicklung von technischen Neuerungen und stagnierender Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte dialektisch miteinander zu verbinden.

„Der menschliche Fortschritt steckt in einer Sackgasse. Trotz der letzten Triumphe der Technik wachsen die natürlichen Produktivkräfte nicht an (20).“

„Das Manifest hat den Kapitalismus gebrandmarkt, weil er die Entwicklung der Produktivkräfte hemmt. Zu seiner Zeit jedoch, wie auch im Laufe der folgenden Jahrzehnte, war diese Hemmung nur eine relative: Wenn die Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf sozialistischen Grundlagen hätte organisiert werden können, so wäre der Rhythmus ihres Wachstums unvergleichlich schneller gewesen. Diese These, theoretisch unbestreitbar, ändert nichts daran, daß die Produktivkräfte bis zum Weltkrieg im Weltmaßstab ununterbrochen weiter gewachsen sind. Erst im Laufe der letzten zwanzig Jahre ist trotz der modernsten Entdeckungen von Wissenschaft und Technik die Periode der unmittelbaren Stagnation und sogar des Niedergangs der Weltwirtschaft angebrochen (21).“

„Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der proletarischen Revolution ist schon seit langem am höchsten Punkt angelangt, der unter dem Kapitalismus erreicht werden kann. Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren. Die neuen Erfindungen und die technischen Fortschritte dienen nicht mehr dazu, das Niveau des materiellen Reichtums zu erhöhen. Unter den Bedingungen der sozialen Krise des ganzen kapitalistischen Systems laden die Konjunkturkrisen den Massen immer größere Entbehrungen und Leiden auf. Das Anwachsen der Arbeitslosigkeit vertieft wiederum die finanzielle Krise des Staates und unterhöhlt die erschütterten Geldsysteme. Die Regime – die demokratischen wie die faschistischen – taumeln von Bankrott zu Bankrott (22).“

„Die Technologie ist jetzt unendlich mächtiger als am Ende des Krieges von 1914/18, wohingegen die Menschheit sehr viel mehr von Armut betroffen ist. Der Lebensstandard ist in einem Lande nach dem anderen gesunken (23).“

Wir sehen hier also, dass Trotzki keinen mechanisch-technischen Begriff der Produktivkräfte hatte, sondern einen gesellschaftlichen, worin der Arbeiterklasse und ihrer Entwicklung ein zentraler Platz eingeräumt wird.

Die Produktivkräfte drängen zur höheren sozialistischen Gesellschaftsordnung

Die Entwicklung des Kapitalismus bringt also immer wieder und in immer gewaltigeren Ausmaßen einen Zusammenstoß zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen hervor, zwischen den nach gesellschaftlicher Planung und internationalen Zusammenschluss drängenden Produktionsmethoden und -techniken auf der einen Seite und den beengenden Grenzen der einander abschottenden kapitalistischen Konkurrenz, der die gesellschaftliche Verbreitung neuer Erfindung unterdrückenden Monopolherrschaft und der Nationalstaaten auf der anderen Seite.

Der Fortschritt der Technik macht es heute möglich, weltweit Hunger und Arbeitslosigkeit abzuschaffen und die Folgen der Umweltzerstörung einzudämmen. Doch die Verwirklichung dieser Möglichkeiten setzt eine Gesellschaftsordnung voraus, die eben jene Fesseln der kapitalistischen Konkurrenz, Monopole und Nationalstaaten zerschlägt. Die Ausschöpfung des Potentials der Produktivkraftentwicklung bedarf einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, in der die technischen Errungenschaft durch eine weltweite sozialistische Planung unter der direkt-demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse im Interesse des breiten gesellschaftliche Fortschritts ausgeschöpft werden können.

In eben diesem Zusammenprallen zwischen den nach gesellschaftlichem Fortschritt drängenden Produktivkräften und den im historischen und aktuellen Sinne rückschrittlichen kapitalistischen Produktionsverhältnissen drückt sich die Notwendigkeit des Sozialismus aus. Daher die unausweichlichen wirtschaftlichen und politischen Explosionen, vor-revolutionäre und revolutionäre Situationen, mit denen der Fortschritt unüberhörbar an das Tor der Geschichte klopft oder – um die subjektive Seite dieses Prozess zu formulieren – in denen die Arbeiterklasse ihren Willen zum Überleben unter menschenwürdigen Umständen einfordert. Daher ist die Epoche des Imperialismus, des überlebten Kapitalismus, jene Epoche der sozialen Revolution, die Marx schon 1859 voraussah:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein (24).“

Schlussfolgerungen

Fassen wir die Ergebnisse unserer Überlegungen zusammen. Die Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte drückt sich auch in der Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion aus, aber nicht ausschließlich. Sie drückt sich ebenso auch im allgemeinen Entwicklungsgang der Gesellschaft (Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung) und der Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit aus.

In anderen Worten: es existiert ein eindeutiger Zusammenhang, eine Verbindung zwischen der Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte und der Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion. Sie hängen miteinander zusammen, sind aber nicht identisch! Da Maschinen und Technik Teil der Produktivkräfte sind, ist die Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion ein wichtiger Indikator für die Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte. Er ist jedoch nicht der einzige Indikator. Weitere Indikatoren sind die Entwicklungsdynamik der allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse und der Menschheit, Arbeitslosigkeit und Armut und Formen der Zerstörung von Produktivkräften (z.B. durch Kriege oder Umweltkatastrophen).

Zusammengefasst meinen Marxisten, wenn sie heute von der Tendenz der Produktivkräfte zur Stagnation sprechen, folgende Entwicklungen:

• Weitgehende Unfähigkeit des Kapitalismus, technologische Neuerungen und wirtschaftliches Wachstum in gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit umzuwandeln. Im Gegenteil, der Kapitalismus untergräbt zunehmend die Möglichkeiten des Fortschritts für die Menschheit.

• Sinkende Wachstumsdynamik sowohl der Warenproduktion als auch der Kapitalakkumulation.

• Zunehmende Instabilität und Krisenhaftigkeit des Weltkapitalismus auf ökonomischer und politischer Ebene.

Erst wenn die Schranken der Produktivkräfte – die Bourgeoisie und ihre Gesellschaftsordnung – endgültig gesprengt werden, und somit technische Neuerungen nicht mehr im Interesse des Kapitals, sondern im Interesse der gesamten Menschheit stattfinden, können die Produktivkräfte ihr gewaltiges Potential voll entfalten und wirklich in den Dienst der Menschheit gestellt werden. Deshalb: Kein Fortschritt ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Revolution!

 

Fußnoten:

(1) So z.B. unter anderem die bürgerlichen Ideologen der Zeitschrift Economist, Business Week oder Ökonomen von Goldmann Sachs. Aber auch im linken Lager gibt es eine Reihe von Akademikern, die – wenn auch oft mit „marxistischer“ Phraseologie getarnt – die Krisenhaftigkeit und Niedergangstendenzen des Kapitalismus leugnen (z.B. Leo Panitch und Sam Gindin).

(2) Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital, in: MEW 6, S. 408

(3) Friedrich Engels: Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (1859); in: MEW 13, S. 476. Aus dieser Grundlage der „Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ergibt sich das Phänomen der Warenfetischismus, „dieser Religion des Alltagslebens“ im Kapitalismus. (siehe dazu Karl Marx: Kapital Band I, MEW 23, S. 85-98 sowie Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 838f.)

(4) Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; in: MEW 19, S. 227f.

(5) Nikolai Bucharin: Theorie des historischen Materialismus (1921), S. 125

(6) Karl Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 181. Auch an einer anderen Stelle bezeichnet Marx den Menschen als „die Hauptproduktivkraft“ (Grundrisse der politische Ökonomie, in: MEW 42, S. 337)

(7) Nikolai Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode (1920), S. 91

(8) Die Arbeit wurde unseres Wissens nach nie auf deutsch oder englisch übersetzt. Das Zitat haben wir folgendem Artikel entnommen: Michael Löwy: Die nationale Frage und die Klassiker des Marxismus; in: Nairn/Hobsbawm/Debray/Löwy: Nationalismus und Marxismus, Berlin 1978, S. 114

(9) Franz Jakubowski: Der ideologische Überbau in der materialistischen Geschichtsauffassung (1935), Frankfurt a.M. 1968, S. 30. Franz Jakubowski war trotz seiner jungen Jahre nicht nur theoretisch versiert, sondern wurde 1935 auch Führer des trotzkistischen „Spartakusbundes“ im deutschen Freistaat Danzig. 1936 wurde die Organisation von der Gestapo ausgehoben und Jakubowski zu drei Jahren Haft verurteil. Trotzki schrieb über den Prozeß einen Artikel. („Der Danziger Trotzkisten-Prozeß“ (29.4.1937); in: Schriften über Deutschland Band II, S. 711ff.)

(10) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 366.

(11) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 368.

(12) Karl Marx: Das Kapital, Band 1; in: MEW 23, S. 673ff.

(13) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 60

(14) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 424.

Das Marx und Engels zu diesem Zeitpunkt das Entwicklungspotential des Kapitalismus zu früh als ausgeschöpft sahen und diesen Standpunkt später korrigieren mußten, ist eine Tatsache, auf die auch Trotzki in seinem Essay „90 Jahre Kommunistisches Manifest“ hinwies. Sie tut der analytischen Logik der Argumentation jedoch keinen Abbruch.

(15) Karl Marx: Das Kapital, Band 1; in: MEW 23, S. 529

(16) Karl Marx: Das Kapital, II. Band, MEW 24, S. 393f.

(17) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 327

(18) Karl Marx: Das Kapital, Band 3; in: MEW 25, S. 260

(19) Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie; in: MEW 13, S. 617

(20) Leo Trotzki: Marxismus in unserer Zeit (April 1939), Wien 1987, S. 11, im Internet: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/04/marxismus.htm

(21) Leo Trotzki: Neunzig Jahre Kommunistisches Manifest (1937); in: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt a. M. (1981), S. 333

(22) Leo Trotzki: Das Übergangsprogramm (1938), S. 5, im Internet:

http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/index.htm

(23) Leo Trotzki: Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution (1940); in: Leo Trotzki: Schriften zum imperialistischen Krieg, Frankfurt a. M. (1978), S. 138

(24) Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie; in: ; in: MEW 13, S. 9