Vom Widerstand zur Befreiung. Wie kommen wir zu einem sozialistischen Palästina?

Jaqueline Katherina Singh, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, April 2024

Frieden. In Sicherheit zu leben, ohne dass Städte zerbombt werden. Sich frei bewegen zu können, ohne Kontrollen. Eine Möglichkeit zurückzukehren. Die Olivenbäume, die niedergebrannt wurden, wieder pflanzen zu können. Davon träumen viele. Doch was heißt das praktisch und wie kommen wir dahin? Wir wollen im Folgenden erläutern und erklären, was wir meinen, wenn wir für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina eintreten.

Es würde bedeuten, dass alle Bewohner:innen – egal welcher Religion oder Nation, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung oder Geschlecht nicht nur neben-, sondern miteinander leben können. Praktisch würde es bedeuten, dass an Schulen alle Sprachen angeboten würden – ob Hebräisch, Arabisch oder Jiddisch. Und dieses Angebot hört nicht dort auf, sondern erstreckt sich auf alle staatlichen Institutionen und kulturellen Räume. Es würde bedeuten, dass Palästinenser:innen und arabische Israelis nicht von höherer Arbeitslosigkeit betroffen sind, sondern die Arbeit auf alle aufgeteilt wird. Es würde bedeuten, dass in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen Quotierungen eingeführt werden, sodass alle Zugang zu allen Berufen und Bereichen haben und systematische Verarmung verhindert wird. Es würde bedeuten, dass das Rückkehrrecht auch für alle Palästinenser:innen gilt und die Siedler:innenkolonien aufgelöst werden. Dass die Bereiche, die in Schutt und Asche gelegt worden sind, wieder aufgebaut werden und Wasser, Elektrizität, Wärme, Lebensmittel sowie medizinische Versorgung nicht mehr Mangelware sind, sondern nach Bedarf für alle verfügbar – unter Kontrolle der Nutzenden und Arbeitenden.

Im Grunde handelt es sich dabei v. a. um grundlegende demokratische Rechte. Doch die Geschichte von über 75 Jahren Vertreibung und Besatzung seit Gründung des Staates Israel zeigt, dass diese durch Reformen oder die illusionäre Zweistaatenlösung nicht verwirklichbar sind. Dies gilt umso mehr angesichts eines Vernichtungskrieges gegen die Bevölkerung Gazas, einer Bodenoffensive, der bisher rund 40.000 Menschen – in der Mehrzahl Zivilist:innen – zum Opfer gefallen sind. Daher scheint selbst die Verwirklichung von demokratischen Rechten als eine unfassbar weit entfernte Utopie.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Verweigerung ebendieser in die imperialistische Ordnung des Nahen Ostens, wie sie nach 1945 etabliert wurde, in den zionistischen Staat von Beginn an eingeschrieben ist. Eine demokratische Lösung des sog. Nahostkonflikts ist unmöglich, solange Israel als rassistischer Staat existiert. Der Ausschluss und die Vertreibung der Palästinenser:innen sind in seine Existenzweise eingeschrieben. Daher kann er auch nicht reformiert, sondern muss revolutionär zerschlagen und durch einen binationalen sozialistischen Staat ersetzt werden.

Wir müssen dabei streng zwischen dem zionistischen Staat Israel und dem jüdischen Volk unterscheiden. Die Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h. die Berechtigung von Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von Sozialist:innen zu verteidigen. Genauso rückschrittlich ist jedoch auch die Erwartung, dass die Palästinenser:innen als Staatsbürger:innen zweiter Klasse (wenn überhaupt) existieren müssen und sich unterzuordnen zu haben.

Im Folgenden werden uns daher damit beschäftigen, welche Strategie nötig ist, um den heutigen Kampf gegen den völkermörderischen Krieg mit dem für ein sozialistisches Palästina zu verbinden, und wie diese untrennbar mit dem Kampf gegen Zionismus und Imperialismus in der gesamten Region und in den imperialistischen Ländern zusammenhängt.

Grundannahmen

Dabei ist es vollkommen klar, dass im Hier und Jetzt der Kampf für einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Arme und Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen ohne jegliche Kontrollen und Bedingungen durch die Besatzungsmacht im Vordergrund aller Bemühungen stehen muss. Denn die Bomben fordern hier und jetzt ihre Opfer, während gleichzeitig mehr Land in der Westbank annektiert wurde und sich mehr Palästinenser:innen in israelischer Haft befinden als je zuvor. Die Lage scheint manchen aussichtslos, vor allem, da die israelische Offensive in aller Härte mehr als 7 Monate andauert. Doch wir glauben, dass es wichtig ist, nicht nur über eine (dauerhafte) Waffenruhe zu reden. Denn letzten Endes verschafft diese zwar Milderung, aber sie wird nicht die Unterdrückung und Gewalt beenden, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Das heißt nicht, dass man nicht auch für direkte Verbesserungen kämpft – einen sofortigen Rückzug der israelischen Truppen beispielsweise.

Zeitgleich braucht es jedoch darüber hinaus eine Debatte darüber, was ein freies Palästina ist – und wie wir dahin kommen. Deswegen halten wir es für notwendig, dass wir über Taktiken und Strategien diskutieren und versuchen, aus der Vergangenheit zu lernen – um eine Einstaatenlösung mit Rückkehrrecht für die Vertriebenen möglich zu machen. Bevor wir zu konkreten Forderungen und Vorschlägen für die aktuelle Solidaritätsbewegung kommen, wollen wir ein paar Grundannahmen festhalten:

1. These: Der palästinensische Befreiungskampf ist ein internationalistischer. Weder können die aktuelle Situation drastisch verändert noch ein eigener Staat allein aus Palästina oder Israel heraus selbst erkämpft werden.

Es ist klar: Ohne den jahrzehntlangen heroischen Widerstandskampf der palästinensischen Massen wäre der „Konflikt“ längst reaktionär befriedet worden. Daher ist Solidarität mit ihm Voraussetzung für jeden Internationalismus, auch wenn dies keineswegs bedeutet, die Politik der palästinensischen Führungen zu unterstützen. Angesichts der militärischen Übermacht, dem Andauern des Konfliktes und dem aktuellen Kräfteverhältnis vor Ort wird deutlich, dass selbst der entschlossenste Widerstand alleine nicht ausreicht. Da der israelische Staat seitens der USA, Deutschlands und anderer imperialistischer Mächte gestützt wird, braucht es massiven Druck, der nur seitens der internationalen Arbeiter:innenklasse erbracht werden kann. Ob Massenproteste, Solidaritätsstreiks und/oder Boykotte: Die Palette der Möglichkeit ist vielfältig.
Dabei muss auch deutlich werden, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Ob nun beim Kampf in Syrien gegen Assad, in Rojava gegen Erdogan oder in Kaschmir gegen die indische Besatzung – Solidarität mit diesen Bewegungen ist nicht nur eine moralische Frage, sondern ein zentraler, notwendiger Schritt um das Gelingen der jeweiligen Befreiungskämpfe zu sichern.

2. These: Der Kampf für ein freies Palästina kann nur erfolgreich sein, wenn er sich gegen die imperialistische Machtinteressen richtet – und gegen die (ausländische wie einheimische) Bourgeoisie.

Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass eine Zweistaatenlösung nicht möglich ist. Stetiger Kampf um Land sowie Ressourcen sorgt nicht nur für Vertreibung, sondern auch dafür, dass der Zugang zu gewissen Ressourcen für einen Teil limitiert bleiben muss, solange diese Verteilung unter kapitalistischen Verhältnisse stattfindet. So wie zwei Individuen nicht beide zur selben Zeit über exklusives Privateigentum an etwas Gleichem verfügen können, können auch nicht zwei Völker exklusives Eigentum an einem Territorium besitzen. Ebenso kann ein bürgerliches, kapitalistisches Palästina nur möglich sein, wenn sich eine imperialistische Macht dazu entscheidet, als Schutzmacht zu fungieren. Das bedeutet nicht nur Abhängigkeit und Ungewissheit, sondern Ausbeutung der palästinensischen Bevölkerung durch diese – sowie die nationale Kapitalist:innenklasse. Dass das keine Alternative sein kann, zeigen schon jetzt die Auswüchse der Korruption unter PNA (Palästinensische Autonomiebehörde)- und Hamas-Verwaltung.

Die einzige fortschrittliche Lösung ist deshalb das Gemeineigentum, also die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Das heißt: Wenn das Ziel ist, dass vorhandene Ressourcen in der Region unter allen, die dort leben, gleichmäßig aufgeteilt werden sollen, dann bedarf es einer Einstaatenlösung, bei der Produktionsmittel und Boden verstaatlicht werden und unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern stehen. Der Kampf gegen Besatzung, Zionismus und Imperialismus muss also immer aktiv verbunden werden mit dem gegen Ausbeutung. Daraus resultiert, dass der Kampf für ein befreites Palästina einer für ein sozialistisches, für einen binationalen Arbeiter:innenstaat sein sollte – vor Ort und international.

3. These: Keine Befreiung ohne Revolution

Weder Besatzungsmacht noch Kapitalist:innen werden ihre Position friedfertig aufgeben. Das ist dem Großteil der sich im Widerstand befindenden Kräfte klar. Die Taktik des Guerillakriegs baut auf langfristigen Auseinandersetzungen mit einer militärischen Übermacht auf. Doch während die militärischen Anstrengungen vor Ort dafür sorgen können, die Kosten der Besatzung in die Höhe zu treiben – sie alleine können das Morden und systematische Unterdrückung nicht stoppen und limitieren gleichzeitig die eigenen Mittel des Widerstandes.
Statt darauf zu hoffen, dass andere arabische Staaten oder der Iran sich in den Krieg hineinziehen lassen, braucht es vielmehr den Aufbau einer internationalistischen Arbeiter:innenbewegung – die sich auch in ihrem eigenen Interesse aktiv dazu entscheidet, in den Konflikt einzugreifen.

Darüber hinaus hat die 1. Intifada gezeigt, dass Massenproteste der gesamten Bevölkerung das Mittel sind, am effektivsten den zionistischen Staat und seine scheinbare Allmacht erschüttern zu können. Angesichts des Landraubs im Westjordanland, der bewaffneten Siedler:innen, die willkürlich die palästinensischen Bewohner:innen drangsalieren und vertreiben, bedarf es einer revolutionären Massenbewegung, die in einem Massenaufstand mündet. Die Erfahrung zeigt dabei, dass alle großen Bewegungen wie Massenstreiks, Blockaden usw. bewaffneter Selbstverteidigungsorgane bedürfen, um sich gegen die israelische Armee und rassistische und faschistische bewaffnete Siedler:innen zur Wehr setzen zu können.

Eine revolutionäre Bewegung in Palästina und in den umliegenden arabischen Staaten ist zugleich auch entscheidend, um die klassenübergreifende Einheit im zionistischen Staat aufzubrechen. Je stärker der Kampf gegen die imperialistische Ordnung und Besetzung, umso eher werden Teil der jüdischen Arbeiter:innenklasse in Israel ihr Vertrauen in den rassistischen Staat verlieren und für den Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden. Dann hat die Stunde der Revolution geschlagen.

4. These: Eine revolutionäre Partei und Internationale sind notwendig

Um den gemeinsamen Kampf in den verschiedenen Bereichen koordiniert führen zu können, braucht es mehr als Bewegungen, Bündnisse, Kampagnen. Es braucht eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei und Internationale – in Palästina und weltweit. Eine revolutionäre Partei in Palästina würde sich dabei vor allem auf die palästinensischen Lohnabhängigen

stützen müssen. Sie müsste zugleich die antizionistischen Teile der jüdischen Intelligenz und der Arbeiter:innenklasse organisieren, enge Verbindungen zu revolutionären Parteien in den arabischen Staaten und auf der gesamten Welt aufbauen, um den Kampf zu koordinieren.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, gegen den Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der von der Hamas geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der unterdrückenden Macht anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung erwächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende und jede Kollaboration mit der Besatzung. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei Erstere nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie die im Iran, in Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien. Dabei verfolgen wir auch eine Politik, jeden Bruch, jede Spaltung im zionistischen Lager auszunutzen, zu vertiefen und im besten Fall Lohnabhängige vom Zionismus zu brechen.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hegt daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen. Die jüdisch-israelische Arbeiter:innenklasse wird sich – wie jede Klasse, die den Kolonialismus ihrer „eigenen“ Bourgeoisie unterstützt – nur befreien können, wenn sie mit diesem bricht und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkennt.

2. Die Arbeiter:innenklasse im Nahen Osten

Eine zentrale Rolle im Kampf für die Befreiung Palästinas kommt den umliegenden Nachbarländern zu. Schon allein die Millionen palästinensischen Geflüchteten und die zentrale Rolle der Geflüchtetencamps in Jordanien oder im Libanon für den palästinensischen Befreiungskampf zeigen, dass dieser eng mit dem Schicksal der umliegenden Länder verbunden ist. So gab es im Zuge des Vergeltungsschlags Israels gegen die palästinensische Bevölkerung Gazas massive Protestwellen in den umliegenden Ländern. Im Irak, Iran, in Ägypten, Syrien und Jordanien sind Hunderttausende in Solidarität mit den Palästinenser:innen auf die Straße gegangen. Diese Proteste stellen Ansatzpunkte dar, die Arbeiter:innenklasse für revolutionäre Forderungen zu gewinnen.

a) Solidarität mit Palästina heißt Kampf dem Imperialismus!

Gleichzeitig hegen viele die Hoffnung, dass die dort Herrschenden Palästina befreien werden. Doch solchen Illusionen müssen wir entschieden entgegentreten. Weder Nasser oder Chomeini haben Palästina befreit, noch werden es El-Sisi oder Erdogan tun. Ihre Solidarität ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Sie zeigen sich vermeintlich an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes, um die eigene Bevölkerung zu besänftigen. Sie sind weder gewillt, in größerem Umfang palästinensische Geflüchtete aufzunehmen, noch eine wirkliche Konfrontation mit den imperialistischen Schutzmächten Israels zu suchen. Ihre zeitweilige zumindest verbale Konfrontation mit Israel liegt mehr in ihrer Konkurrenz um die Gunst der imperialistischen Länder begründet.

Außer den Huthis im Jemen hat kein Staat wirkliche Angriffe auf die imperialistische Präsenz unternommen. Doch nicht einmal zu einer Verurteilung der Angriffe auf den Jemen und die Huthis können sich sie meisten arabischen Regime durchringen. Ägypten könnte, wenn es denn wollte und bereit zur Konfrontation mit den USA und der EU wäre, den Suezkanal für den internationalen Warenverkehr sperren und so einen massiven wirtschaftlichen Druck auf die imperialistischen Staaten ausüben. Doch statt dessen bringt man sich lieber als „Vermittler“ und Verbündeter ins Geschäft.

Sie verraten den palästinensischen Befreiungskampf, sobald ihrer eigenen Stellung als Herrschende oder ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu den imperialistischen Ländern Gefahr droht, denn ein wirklich befreites, sozialistisches Palästina würde selbstverständlich auch ihr eigenes Ende bedeuten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass neben Ägypten und Jordanien in den letzten Jahren auch weitere Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain die Beziehungen zu Israel normalisiert und es international anerkannt haben. Das heißt: Wir können wir uns im Kampf nur auf Organisationen der Arbeiter:innenklasse verlassen, welche die heuchlerische Solidarität der Herrschenden aufdecken muss.

Deswegen ist ein wichtiger Punkt, den Einfluss imperialistischer Kräfte wie USA, EU, Russland und China auf die Region zurückzudrängen. Während die US-Invasionen der Vergangenheit die heutige Realität maßgeblich prägen, so muss man auch gegen „das kleinere Übel“ kämpfen, wie den russischen Imperialismus, der das Assadregime stützt. Die Praxis zeigt: Russland und China vertreten ihre eigenen imperialistischen Interessen, auch ihre Solidarität mit Palästina kommt über reine Lippenbekenntnisse, um Handelsbeziehungen aufzubessern, nicht hinaus.

  • Stopp aller Wirtschaftsbeziehungen mit, aller Waffenlieferungen an Israel!

  • Für die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel!

  • Für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum!

  • Streiks, Blockaden und Arbeiter:innenboykott, um effektive Sanktionen gegen Israel durchzusetzen und strategische Versorgungsgüter für seine imperialistischen Unterstützer:innen zu blockieren.

b) Solidarität mit Palästina heißt Sturz der eigenen Regime!

Es muss der Zusammenhang aktiv dargestellt werden zwischen dem Leid der palästinensischen Bevölkerung und dem Elend vor Ort. Nicht nur, dass die Regierungen sich weigern, ernsthafte Maßnahmen im Interesse der Palästinenser:innen zu tätigen, sie tragen die Vorherrschaft und Ausbeutung seitens der imperialistischen Mächte aktiv mit – und sorgen so für eine Verelendung der Bevölkerung vor Ort. Doch wie? Ansatzpunkte für den Kampf können beispielsweise die Verschlechterung der Lebensqualität vor Ort und die aktuell sehr hohe Inflationsrate sein. Arbeiter:innen müssen in Protesten Forderungen, wie die gleitende Anpassung der Löhne an die Inflation, aufwerfen und diese mit Streiks durchsetzen.

Die Solidaritätsproteste müssen genutzt werden, aus der aktuellen Defensive zu kommen, die beispielsweise die Militärdiktaturen mit sich gebracht haben. Das schreibt sich leichter als getan, schließlich agieren Revolutionär:innen und Linke vor Ort unter halb- oder illegalen Umständen. Aber gleichzeitig bieten eben diese Proteste, die Möglichkeit, die Organisierungsarbeit wieder aufzunehmen.

Die gemeinsame Organisierung mit palästinensischen Geflüchteten erhöht die Kampfkraft. Diese muss mit der Forderung nach gleichen Löhnen und demokratischen Rechten für alle verbunden werden. Revolutionär:innen müssen dabei für die Öffnung der Grenzen zu Gaza und der Westbank kämpfen und eine Verbindung zum palästinensischen Befreiungskampf suchen.

  • Gegen Inflation! Für eine gleitende Lohnskala: 1 % Lohnzuwachs bei jedem Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten! Wahl von Vertreter:innen aus Betrieben, Elendsvierteln, Arbeiter:innenorganisationen, Frauen, Kleinhändler:innen und Verbraucher:innen zur Ermittlung eines Lebenshaltungskostenindexes für die Arbeiter:innen! Renten/Pensionen müssen gegen Inflation indexiert und vom Staat garantiert werden und dürfen nicht dem Auf und Ab der Aktienbörsen überlassen bleiben!

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Unterdrückungsapparat:

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Weg mit Monarchien, zweiten Kammern, Exekutivpräsident:innen, ungewählten Gerichten und Notstandsgesetzen!

c) Aus Fehlern lernen: Für einen zweiten Arabischen Frühling!

Dabei kann es jedoch nicht stehenbleiben. Es braucht das Aufflammen eines zweiten Arabischen Frühlings, in welchem sich die Arbeiter:innen in den umliegenden Ländern gegen ihre eigenen Unterdrücker:innen organisieren und die Bourgeoisie als herrschende Klasse stürzen. Das heißt auch, aus den existierenden Erfahrungen Lehren zu ziehen.

Nicht nur der Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfs ist in großem Maße davon abhängig, ob es das Proletariat der umliegenden Länder schafft, den Klassenkonflikt zuzuspitzen, eigene demokratische Organe aufzubauen, Industrien unter ihre Kontrolle zu stellen, das Kapital zu enteignen und die Macht zu übernehmen. Auch die eigenen Despot:innen aus ihren Machtpositionen zu jagen, hängt davon ab. Es ist  zentral, dass Arbeiter:innenstrukturen auf eine Doppelmachtsituation hinarbeiten und schließlich die Macht erkämpfen, damit die Aufstände nicht wieder in Militärputschen enden. Dabei müssen Revolutionär:innen die Verbindung der palästinensischen Befreiung mit dem Kampf der Arbeiter:innenklasse in den Nachbarländern aufzeigen und für Solidaritätsstreiks, also politische Streiks eintreten. Hier wird schnell deutlich, dass es nicht nur den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken braucht, sondern auch demokratische Selbstverteidigungsmilizen, um die Kämpfe zu verteidigen. Denn die Herrschenden werden weder massenhafte Aufstände noch Generalstreiks zur Umsetzung politischer Forderungen, geschweige denn den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken freiwillig dulden. Damit massenhafte Aufstände und revolutionäre Situationen nicht im Sande verlaufen oder durch konterrevolutionäre Bewegungen zunichtegemacht werden, braucht es die Kampfkraft der internationalen Arbeiter:innenklasse. Das heißt, auch wir in den imperialistischen Ländern müssen in Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand auf die Straße gehen und den Klassenkampf vor Ort zuspitzen.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen! Enteignung des Großkapitals unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für Regierungen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die sich auf Räte und Milizen stützen und die Wirtschaft auf Grundlage demokratischer Planung reorganisieren. Für die permanente Revolution in Palästina und im Nahen Osten! Für revolutionär-kommunistische Parteien als Teil einer wiedergegründeten Internationale!

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Ob Belgien, Italien oder die Niederlande: Welche positive Rolle die Arbeiter:innenklasse in den westlichen Zentren spielen kann, haben bereits einige Vertreter:innen gezeigt. Sie sind dem Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften nicht nur mit warmen Worten begegnet, sondern mit Taten. Doch wie kann die Kriegstreiberei insgesamt gestoppt werden?

a) Schluss mit der Komplizenschaft: Stoppt die Waffenlieferungen und Unterstützung der Kriegsindustrie!

Der westlichen Arbeiter:innenklasse kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie.

Gegen Repression und für mehr Druck ist es zentral, dass die bestehenden Bewegungen sich koordinieren und gemeinsame Aktionen, Forderungen und Slogans hervorbringen. Dabei stellen Blockaden seitens der Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar. Es braucht aber eine politische Kampagne, die das Verbot jeglicher Waffenexporte und Unterstützung des Krieges in finanzieller Form fordert. Statt Waffen braucht es medizinische Soforthilfe, statt finanzieller Unterstützung der israelischen Kriegsindustrie Mittel zur sofortigen Versorgung der Bevölkerung und zum Wiederaufbau Gazas – unter Kontrolle der Palästinenser:innen selbst, nicht durch irgendwelche NGOs oder Statthalterregime.

  • Schluss mit Komplizenschaft: Für den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen nach und finanzieller Unterstützung an Israel! Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste! Für die Offenlegung aller Verträge!

  • Massive finanzielle Hilfe und Unterstützung ohne Auflagen für den Wiederaufbau der Infrastruktur, des Gesundheits- und Bildungssystems, einschließlich eines Impfprogramms, in Gaza und im Westjordanland, bezahlt von den imperialistischen Mächten!

b) Schluss mit Repression und antimuslimischer Hetze!

Eine weitere Aufgabe bildet der Kampf gegen massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze, die seit Oktober massiv zugenommen haben. Sie versuchen dabei nicht nur, den Widerstand der Palästinenser:innen zu diskreditieren, sondern helfen auch dem weiteren Erstarken von rechten Kräften in den westlichen Staaten. Das heißt: Wir müssen der Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, entschlossen entgegentreten. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt. Ebenso müssen wir gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina einstehen. Wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Antiterrorlisten der EU und USA.

  • Volle demokratische Rechte für alle palästinensischen politischen Organisationen und Vereine! Abschaffung aller sogenannten Antiterrorlisten der USA, EU oder anderer Mächte!
  • Hände weg von der BDS-Kampagne und allen anderen Solidaritätskampagnen für Palästina!
  • Für offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

Revolutionäre Organisation ist notwendig

Der Aufbau einer Massenbewegung, die sich vernetzt und koordiniert, ist mehr als notwendig. Aber um Generalstreiks, Enteignung und die Zerschlagung bürgerlicher Staaten durchzusetzen, braucht es Kräfte innerhalb der Bewegung, die dafür argumentieren und bereit sind, den Kampf aktiv zuzuspitzen. Dies entsteht nicht aus reiner Spontanität. Die historischen Kämpfe der Arbeiter:innenklasse haben gezeigt, dass diese aus sich heraus eher reformistisches Bewusstsein tragen, sich demnach im Kampf spontan eher innerhalb der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bewegen. Das Verständnis für die Notwendigkeit der Zerschlagung des Kapitalismus geht darüber hinaus und muss daher von außen in die Arbeiter:innenklasse hineingetragen werden. Dafür brauchen wir ein revolutionäres Programm, das eine dialektisch-materialistische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen beinhaltet, vergangene und aktuelle Kräfteverhältnisse in den Blick nimmt und daraus entsprechende Strategien und Taktiken entwickelt. Forderungen und Grundannahmen dafür haben wir versucht zu skizzieren. Sie sollen uns Revolutionär:innen als gemeinsame Handlungsgrundlage dienen und als Vermittlung zwischen revolutionärer Theorie und Praxis fungieren. Wichtig dabei ist, dass sie an die spezifischen Situationen der verschiedenen internationalen Kämpfe angepasst werden und an den jeweiligen Gegebenheiten ansetzen. Sie müssen ein System von Übergangsforderungen darstellen, das die Brücke schlagen kann von Minimalforderungen, die theoretisch schon im Kapitalismus umgesetzt werden könnten, über die Grenzen kapitalistischer Herrschaft hinweg und dadurch die soziale Macht von der einen Klasse in die Hände der anderen überführen.

Für uns ist der palästinensische Befreiungskampf kein Selbstzweck. Das stetige Morden, die anhaltende brutale Unterdrückung mögen zeitweilig die Hoffnung rauben, aber die Geschichte ist nicht zu Ende geschrieben. Der Kampf für ein befreites, sozialistisches Palästina ist notwendig für alle Palästinenser:innen, die dort leben, für alle Palästinenser:innen, die zurückkehren wollen – und für all jene, die durch die Fesseln des Imperialismus erdrückt werden.




Die strategische Krise der palästinensischen Linken

Martin Suchanek, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Seit Jahrzehnten bildet die palästinensische Linke eine zentrale Kraft des Befreiungskampfs gegen die zionistische Vertreibung, die Kolonisierung und imperialistische Ordnung. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den 1960er und 1970er Jahren; auch in der ersten Intifada 1987 – 1993 spielte sie eine bedeutende, teilweise führende Rolle.

Doch seither ging ihr Einfluss unter den palästinensischen Massen zurück. Die Krise praktisch aller organisierten Strömungen ist seit Jahrzehnten unleugbar. Die Faktoren für diesen Niedergang sind vielfältig.

Etliche Gruppierungen der palästinensischen Linken passten sich Anfang der 1990er Jahre der PLO-Führung an und unterstützten mehr oder weniger das Osloer Abkommen mit Israel. Im Gegenzug erhielten sie einen, wenn auch kleineren, Anteil an den Pfründen der Autonomiebehörde. Politisch diskreditierten sich aber, weil sie letztlich zu politischen Helfershelfer:innen eben dieser Behörde und ihrer Politik verkamen.

Andere Organisationen des Widerstandes – vor allem die PFLP und auch die Mehrheit der DFLP – lehnten das reaktionäre Osloabkommen, das zu einer Befriedung unter Anerkennung des Siedlerkolonialismus und eines schon 1993 kaum lebensfähigen Palästinenserstaates hätte führen sollen, zu Recht von Beginn an ab. Ihre Kritik am Ausverkauf an Imperialismus und Zionismus sollte sich innerhalb nur weniger Jahre als historisch und politisch richtig erweisen. Dennoch verloren auch diese Strömungen an Einfluss.

Zweifellos waren diese konsequent antizionistischen Teile der palästinensischen Linken wie auch oppositionelle Kräfte um die Fatah viel stärker der Repression durch die Besatzungstruppen ausgeliefert (und zeitweise auch durch die Autonomiebehörde). Doch dies erklärt letztlich nicht, warum beispielsweise PFLP und DFLP nicht vom immer offensichtlicheren Scheitern der Politik der PLO-Mehrheit und der Fatah profitieren konnten, sondern selbst durch den Antagonismus zwischen Fatah und Hamas an den politischen Rand des Geschehens gedrückt wurden.

Hinzu kam auch, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der palästinensischen Linken in eine ideologische Konfusion stürzte, teilweise auch in eine finanzielle Krise. Neben der UdSSR brachen „antiwestliche“ reaktionäre arabische Regime , die bisher einen gewissen Schutz für die palästinensische Linke darstellten (und an die sich diese opportunistisch angepasst hatte), entweder zusammen oder vollzogen einen mehr oder weniger spektakulären Kurswechsel, um so ihre Haut zu retten. Selbst Syrien, das der einzige konstante Rückzugspunkt für die Auslandsführungen der palästinensischen Linken blieb, vollzog eine Wende zur USA und unterstützte diese 1991 im ersten Irakkrieg mit rund 17.000 Soldat:innen.

Diese Faktoren stellen eine wichtige, aber letztlich nicht die entscheidende Ursache für die Krise der palästinensischen Linken dar. Zweifellos spielte eine wichtige Rolle für diese, dass sie sich als unfähig erwies, ihre Strategie und Politik den veränderten Bedingungen des Befreiungskampfes nach der ersten Intifada anzupassen. Diese vollzog sie eher empirisch-taktisch, nicht jedoch, indem sie ihre eigentliche politische Strategie, die in den 1960er Jahren entwickelt worden war, selbst auf den Prüfstand stellte.

Das betrifft insbesondere auf die PFLP zu, auf deren Strategie, Taktik und Programmatik wir uns im folgenden Artikel aus mehreren Gründen konzentrieren werden. Erstens war sie über Jahrzehnte die größte und in vieler Hinsicht maßgebliche Organisation der palästinensischen Linken, die für einen konsequenten Kampf gegen die zionistische Besatzung und für die Befreiung ganz Palästinas mit revolutionären Mitteln eintrat.

Zweitens – und damit verbunden – entwickelte sie eine eigene Konzeption der Revolution in Palästina. Das 1969 auf ihrem zweiten Kongress angenommene Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“[i] legt umfassend ihre Analyse und politischen Schlussfolgerungen dar. Eine kritische Beschäftigung und Bewertung ist für Revolutionär:innen unerlässlich, die zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie und Programmatik für den Befreiungskampf beitragen wollen. Das Dokument legt eine Linie und Einschätzung nicht nur für die Vergangenheit fest, sondern die PFLP verweist in der Einleitung zur Veröffentlichung des Textes im Jahr 2017 selbst darauf, dass „dieses Dokument die grundlegenden Auffassungen und Analysen der PFLP in Bezug auf die Kolonialisierung Palästinas, die Kräfte der Revolution und die gegen das palästinensische Volk gerichteten Kräfte darlegt.“[ii]

Auch wenn seit 1969 viele wichtige Veränderungen stattgefunden haben, hält die Organisation fest: „ … die hier dargelegte grundlegende Analyse bleibt der leitende politische Rahmen für einen linken, revolutionären Ansatz zur Befreiung Palästinas – ein Ansatz, den wir als grundlegend notwendig betrachten, um den Sieg und die Befreiung in Palästina zu erreichen.“[iii]

Von der Nakba zur Dominanz des panarabischen Nationalismus

Bevor wir uns diesem Dokument und der Politik der PFLP zuwenden, wollen wir kurz verschiedene Stadien des Befreiungskampfes seit der Nakba (Katastrophe) 1948 bis zur Gründung der PFLP skizzieren, um so den Hintergrund für die Entwicklung der palästinensischen Linken darzulegen. Nach einer Behandlung dieses Dokumentes werden wir uns mit der weiteren Entwicklung des Kampfes und der Politik der PFLP beschäftigen.

Die Gründung Israel geht bekanntlich mit der Vertreibung von rund 750.000 bis 800.000 Palästinenser:innen, mehr als der Hälfe des Volkes zu diesem Zeitpunkt, einher. Diese Katastrophe stellt nicht nur eine historische Niederlage dar und ein zentrales Ereignis für die Etablierung einer neuen, imperialistischen Ordnung des Nahen Ostens. Die schmachvolle Niederlage der arabischen Staaten und ihrer militärischen Kräfte, der Arabischen Legion, warf auch die Frage nach deren Ursachen auf. Insbesondere an der Universität von Beirut entwickelte und vertiefte das eine kritische Diskussion, der zufolge man auch als Ursachen für die Niederlage die Schwächen der arabischen Staaten und ihrer Führungen in den Blick nehmen müsse.

Die Uneinheit und Zersplitterung des Nahen Ostens in zahlreiche arabische Staaten sowie deren ökonomische und soziale Rückständigkeit wären verantwortlich für die Niederlage. Notwendig wären Einheit und Modernisierung der arabischen Gesellschaften. Auch wenn diese Punkte auf die Klassenbasis der jeweiligen Regime verweisen, so waren die Diskurse unter den arabischen Intellektuellen der 1950er Jahre im Grunde von einem radikalen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Nationalismus bestimmt.

Zugleich jedoch verschoben sich die Verhältnisse in den arabischen Staaten selbst mit dem Erstarken des panarabischen Nationalismus. 1952 bringt der Putsch der „Freien Offiziere“ in Ägypten Nasser an die Macht. Er verbreitert über eine Landreform seine soziale Basis über Schichten der Intelligenz, der Offizierskaste und der Mittelschichten hinaus und etabliert ein bonapartistisches Regime.

Im Kampf gegen den britischen Imperialismus um die Kontrolle des Suezkanals nähert sich der Nasserismus stärker der Sowjetunion an. Der Bau des Assuanstaudamms, die Verstaatlichung des Suezkanals und weitere staatskapitalistische Reformen spitzen den Konflikt mit dem Imperialismus zu.

In der Suezkrise 1956 – 1957 geht Ägypten als Sieger gegen Britannien, Frankreich und Israel hervor, die von den USA nicht unterstützt wurden, weil diese eine Großkonfrontation mit Sowjetunion vermeiden wollte. Dieser politische Erfolg steigert das Prestige des Nasserismus enorm. Der panarabische Nationalismus ergreift Syrien, den Irak und andere Länder und wird zu einer mächtigen politisch-ideologischen Strömung. Zugleich vertieft sich auch die Spaltung des arabischen Lagers, wo die Golfmonarchien stramm aufseiten der USA stehen.

BdAN und Fatah

In dieser Phase werden zwei für den palästinensischen Befreiungskampf wesentliche Organisationen gegründet. Um das Jahr 1952 formierte sich der Bund der Arabischen Nationalist:innen (BdAN), der vor allem in Jordanien stark anwuchs und rasch in anderen Staaten Ableger gründete. Der BdAN war zu Beginn eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die sich jedoch unter dem Einfluss des Nasserismus nach links bewegte und von Beginn an eine Form der Etappentheorie der Revolution vertrat. In den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre entwickelte er sich unter dem Einfluss von jüngeren Militanten wie George Habasch und Nayef Hawatmeh nach links, hin zum „Marxismus-Leninismus“, wenn auch in stalinistischer und maoistischer Prägung.

Die andere Organisation, die schon ab 1965 eine führende Rolle in der PLO übernehmen sollte, war Fatah, die 1957 in Kuwait gegründet worden war. Anders als der Panarabismus, der die palästinensische Revolution als Teil der gesamten arabischen Revolution begriff, vertrat Fatah früh das Primat des Kampfes um Palästina. Dieser sollte sich auf die eigene Nation konzentrieren und sich aus den inneren Kämpfen aller arabischen Staaten heraushalten (so wie diese im Gegenzug aus den politischen Auseinandersetzungen der Palästinenser:innen). Politisch war Fatah eine bürgerlich-nationalistische Befreiungsorganisation, die jedoch von Beginn an alle möglichen ideologischen Strömungen einschloss (inklusive solcher, die sich als marxistisch betrachteten). Sie setzte früher als andere auf den Guerillakrieg gegen den zionistischen Staat, was ihr enormes Prestige unter der palästinensischen Jugend einbrachte, einen massiven Zulauf an Kämpfer:innen und politische Unterstützung. Der Heroismus der Fatahkämpfer:innen bei der Schlacht um Karame am 21. März 1968 führte endgültig dazu, dass sich die Gruppierung  als populärste und stärkste Kraft im Widerstand etablierte, so dass sie 1968 die Führung der PLO übernehmen konnte.

Die Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg 1967 markierte einen weiteren politischen Wendepunkt. Israel besetzte die Golanhöhen, die Westbank und die Halbinsel Sinai. Das stellte jedoch nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch eine vernichtende Niederlage für Panarabismus und Nasserismus dar. Auch wenn die Allianz aus Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten 1973 im Jom-Kippur-Krieg anfängliche Erfolge erzielen konnte, so drängte die israelischen Armee die syrischen Streitkräfte wieder zurück und konnte den Vormarsch ägyptischer Truppen stoppen. Dies erlaubte im Gegensatz zu 1967 eine „ehrenvolle“ Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ebnete letztlich den Weg für einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und die Rückgabe Sinais.

Die Niederlage im Sechstagekrieg führte auch dazu, dass der BdAN unter den Palästinenser:innen gegenüber der Fatah politisch weit ins Hintertreffen geriet. Die Gründung der PFLP 1968 (u. a. aus Teilen des BdAN) war eine Reaktion sowohl auf das Scheitern Ägyptens und Syriens wie auch auf die politische Dominanz von Fatah.

Bevor wir uns jedoch deren Strategie im Detail zuwenden, wollen wir mit unserer Skizze des Befreiungskampfes fortfahren.

Guerillakampf als Hauptform

Die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre waren von der Dominanz des Guerillakampfes bestimmt. Auch wenn einzelne Gruppierungen wie die 1982 aus der jordanischen KP hervorgegangene Palästinensische Kommunistische Partei (heute Palästinensische Volkspartei) immer den bewaffneten Kampf ablehnten, so fristeten diese ein reformistisches Dasein, zumal die israelische Besatzung und Militärherrschaft den legalen und damit auch gewerkschaftlichen Spielraum in den besetzten Gebieten extrem einschränkten, da alle palästinensischen Organisationen verboten waren.

Doch die Konzentration auf den Guerillakampf hatte für die Befreiungsbewegung wie die Linke weitreichende Folgen. Erstens bildet faktisch nur die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern außerhalb der von Israel kontrollierten Gebiete – und das hieß nach dem verlorenen Sechstagekrieg auch außerhalb von Westbank und Gaza – das Rekrutierungsfeld für den Widerstand, die im Kampf aktive Basis. Die Guerillastrategie führte zudem bei allen – Fatah wie Linken – zu einer weiteren Verengung der eigentlich kämpfenden Kräfte, nämlich auf jene, die sich für die Guerilla, also für einen professionellen bewaffneten Kampf, rekrutieren ließen.

Die „restliche“ Bevölkerung, also die große Mehrheit der vertriebenen oder unter Besatzung lebenden Arbeiter:innen und Bäuer:innen fungierte letztlich als passive Unterstützer:innen des Kampfes, die ihm bloß materiell, moralisch und politisch Hilfe leisten konnten.

Auch wenn Leninist:innen keine Kampfform per se ausschließen, wie Lenin selbst in „Der Partisanenkrieg“[iv] darlegt, so muss dieser immer nur als eine letztlich untergeordnete Form im Zusammenspiel mit anderen Formen des Klassenkampfes begriffen werden.

Die bürgerliche Führung um Arafat wie auch die palästinensische Linke erklärten sie jedoch – durchaus auch aufgrund einer berechtigten Abgrenzung zum Legalismus und Mechanismus der meisten stalinistischen KPen im arabischen Raum – zur Hauptform des Kampfes um Befreiung. Die Überlegenheit der „marxistisch-leninistischen“ Partei würde sich demzufolge daran erweisen, dass sie den Guerillakampf entschiedener und entschlossener als bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte führen würde und daher zur Führung der Revolution berufen sei.

Dies führt auch dazu, dass neben den Guerillakampf, also bewaffneten Angriffen auf israelische Einheiten aus angrenzenden Staaten (vor allem Libanon, Syrien und bis zum schwarzen September Jordanien), bei der palästinensischen Linken vor allem am Beginn der 1970er Jahre der individuelle Terrorismus als Kampfform trat, mit allen schon von Lenin und Trotzki kategorisch kritisierten Folgen. Eine bestand darin, dass bis in die 1980er Jahre die Organisierungsarbeit in den besetzten Gebieten vernachlässigt wurde, obwohl es auch dort immer wieder zu Massenprotesten gegen die Siedlungspolitik, Steuererhöhung, Raub von Land und Ressourcen (v. a. Wasser) kam. Doch diese hätte andere Kampfmethoden erfordert als die Fokussierung auf die Rekrutierung für kleine, illegale Guerillaeinheiten.

Analyse und Strategie der PFLP

Das Grundproblem der palästinensischen Linken bestand darin, dass sie ironischer Weise mit der Fatah einig war bezüglich des Charakters der Revolution, nämlich dass diese eine national-demokratische wäre. Daher könne ihr Ziel nur in der Errichtung eines einheitlichen, demokratischen Staates Palästina bestehen. Dieser würde durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innenschaft und Kleinbürger:innentum erreicht werden, als dessen politische Repräsentation die PLO-Führung betrachtet wurde.

In ihrem zentralen Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“ (1969) hält die PFLP zu Recht fest, dass Revolutionär:innen ein klares Verständnis des Charakters der Revolution, der verschiedenen Klassen, ihrer Ziele, Feind:innen, Verbündeten brauchen und dies selbst nur auf Basis des wissenschaftlichen Sozialismus, einer revolutionären Theorie möglich ist.

Dieser Anspruch stellt zweifellos einen richtigen Ausgangspunkt dar, der die PFLP (wie auch andere „traditionelle“ Organisationen der palästinensischen Linken) wohltuend von aktuellen, „postmarxistischen“ oder postmodern inspirierten letztlich kleinbürgerlichen politischen Strömungen unterscheidet. Wir teilen auch grundsätzlich die Position, dass jede Revolution, will sie erfolgreich sein, einer revolutionären politischen Führung, einer Partei bedarf, die auf dieser Grundlage handelt (und natürlich diese Konzeption im Lichte der Erfahrung des Klassenkampfes selbst immer wieder einer Prüfung unterzieht).

Doch der Marxismus der PFLP – und damit auch ihre Strategie, ihr Programm und ihre Vorstellung von revolutionärer Partei – ist wie der des Großteils der palästinensischen Linken vom Stalinismus und besonders auch vom Maoismus geprägt.

Etappentheorie

Von diesen übernimmt sie die Etappentheorie der Revolution, der zufolge sich die palästinensische im national-demokratischen Stadium befände. Dabei polemisiert die PFLP zwar gegen die falsche Auffassung, dass der nationale Befreiungskampf kein Klassenkampf sei, aber sie hält daran fest, dass die aktuelle Phase keine sozialistische sei.

„Die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase der nationalen Befreiung und nicht der sozialistischen Revolution, bezieht sich auf die Frage, welche Klassen in den Kampf verwickelt sind, welche von ihnen für und welche gegen die Revolution in jeder ihrer Phasen sind, beseitigt aber nicht die Klassenfrage oder die Frage nach dem Klassenkampf.

Nationale Befreiungskämpfe sind auch Klassenkämpfe. Sie sind Kämpfe zwischen dem Kolonialismus und der feudalen und kapitalistischen Klasse, deren Interessen mit denen der Kolonialisten verbunden sind, auf der einen Seite und den anderen Klassen des Volkes, die den größten Teil der Nation repräsentieren, auf der anderen Seite.“[v]

Und weiter: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Klassensicht auf die Kräfte der palästinensischen Revolution den besonderen Charakter der Klassensituation in unterentwickelten Gesellschaften und die Tatsache, dass unser Kampf ein Kampf der nationalen Befreiung ist, sowie den besonderen Charakter der zionistischen Gefahr berücksichtigen muss.“[vi]

Die Aufgabe der revolutionären Kräfte bestünde daher darin, den nationalen Befreiungskampf ins Zentrum zu stellen. Diese Etappe muss zuerst abgeschlossen werden, um dann zur sozialistischen Revolution voranzuschreiten.

Für die PFLP bedeutet dies jedoch keinesfalls, dass alle Klassen gleichermaßen für die Revolution kämpfen oder deren Rückgrat stellen. Die Arbeiter:innenklasse ist für sie die letztlich revolutionäre Klasse. Aber im Stadium der nationalen Revolution sind ihre Interessen deckungsgleich mit jenen der Bäuer:innenschaft. Daher tauchen in ihrer strategischen Orientierung auch immer Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern, die Klasse der Lohnabhängigen und von Land besitzenden oder landlosen Kleineigentümer:innen an Produktionsmitteln als die zentrale Kraft der Revolution auf. In den Worten der PFLP:

„Das Material der palästinensischen Revolution, ihre Hauptstütze und ihre grundlegenden Kräfte sind die Arbeiter und Bauern. Diese Klassen bilden die Mehrheit des palästinensischen Volkes und füllen physisch alle Lager, Dörfer und armen Stadtviertel.

Hier liegen die Kräfte der Revolution … die Kräfte der Veränderung.“[vii]

Der PFLP ist also sehr wohl bewusst, dass es sich bei Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern um zwei verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Klasseninteressen handelt. Allein in der demokratischen Etappe der Revolution treten diese nicht hervor. Folglich ist die revolutionären Kraft der Befreiung, als die sich die PFLP selbst vorstellt, auch keine Organisation oder Partei der Arbeiter:innenklasse, sondern eine revolutionäre  Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei.

Diese Sicht wird von Anhänger:innen der Etappentheorie bis heute verteidigt, indem sie einen qualitativen Unterschied des Charakters und der Aufgaben der Revolution in den entwickelten kapitalistischen (imperialistischen) Ländern und der halbkolonialen oder kolonisierten Welt behaupten. So Samar Al-Saleh in ihrer Verteidigung der PFLP-Strategy unter dem Titel „The Palestinian Left Will Not Be Hijacked – A Critique of Palestine: A Socialist Introduction“[viii]: „Der verstorbene marxistisch-leninistische Philosoph Domenico Losurdo relativiert die in nationalen Befreiungskämpfen verfolgte frontale Strategie, indem er schreibt: ‚Während das Proletariat der Träger des emanzipatorischen Prozesses ist, der die Ketten der kapitalistischen Herrschaft sprengt, ist das Bündnis, das erforderlich ist, um die Fesseln der nationalen Unterdrückung zu sprengen, breiter angelegt.’“[ix]

Mit dieser und ähnlichen Formulierungen ist keineswegs nur gemeint, dass die Arbeiter:innenklasse versuchen muss, möglich breite Schichten des ländlichen und städtischen Kleinbürger:innentums als führende revolutionären Kraft für sich zu gewinnen. Vielmehr geht es um eine strategische Allianz der „revolutionären Klassen“ mit allen Kräften, die sich dem Kolonialismus und Imperialismus entgegenstellen. Dies umfasst vor allem das städtische Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, aber ggf. auch jene Teile der kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht mit denen der Kolonialist:innen/Imperialist:innen verbunden sind.

Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die Frage stellen, welche Produktionsweise, welche Klasse unter einem Regime herrschen würde, das eine solche nationale Revolution an die Macht bringt. Es kann nur eine kapitalistische Produktionsweise sein. Auch wenn das Personal eines solchen Regimes weitgehend aus dem Kleinbürger:Innentum, den Mittelschichten käme, so würde es doch eine Herrschaftsform des Kapitals, nicht der Arbeiter:innen darstellen. Dazu müsste es nämlich über die bloß demokratische Revolution hinausgehen, das Kapital enteignen, für Schlüsselsektoren der Ökonomie eine demokratische Planwirtschaft errichten usw.

Es ist dies keine Seltenheit in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen, dass ihre entschlossensten Vorkämpfer:innen nur aus einer Minderheit der bürgerlichen Klasse stammten und sich oft aus dem Kleinbürger:innentum (v. a. aus der Intelligenz) rekrutierten. Einmal an der Macht müssen sie aber zwangsläufig ein bürgerliches Regime – in welcher politischen Form (Bonapartismus, Demokratie, Theokratie …) errichten –, weil eine kleinbürgerliche Produktionsweise nie die vorherrschende sein kann.

Diese Frage des Klassencharakters des Regimes, das eine Revolution hervorbringen wird, bleibt bei der PFLP jedoch entweder vage oder wird ganz im Sinne der Etappentheorie so beantwortet, dass der Kampf um eine sozialistische Umwälzung erst nach erfolgreicher antikolonialer oder nationaler Revolution in den Vordergrund treten kann.

Daher braucht es auch keine gesonderte Arbeiter:innenpartei, sondern die Volksfront kann sich auf zwei Klassen mit verschiedenen Interessen stützen. Die revolutionäre Partei, die jetzt gebildet werden soll, ist selbst eine klassenübergreifende, weil die unterschiedlichen Interessen von Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft in der demokratischen Revolution keine entscheidende Rolle spielten.

Auch wenn die Ideologie der PFLP ein Stück weit an die falsche Vorstellung vom Charakter der Russischen Revolution 1905 als demokratischer Revolution anknüpft, so fällt sie weit hinter diesen frühen Bolschewismus zurück. Dieser hatte immer jeden Versuch entschieden bekämpft, eine gemeinsame Partei der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu schaffen, sondern diesen vielmehr als Aufgabe des Klassenstandpunkts in der demokratischen Revolution kritisiert. Eine solche klassenübergreifende Partei wäre nämlich nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse die Verfolgung ihrer eigenen spezifischen Klasseninteressen – sowohl ihrer unmittelbaren ökonomischen wie vor allem ihrer historischen, langfristigen – hinanstellt. Und da die Vertreter:innen der Bourgeoisie, aber auch des Kleinbürger:innentums, mögen sie ansonsten auch noch so borniert und kurzsichtig sein, über einen verlässlichen Klasseninstinkt bezüglich der Eigentumsfrage verfügen, werden sie von den Vertreter:innen des Proletariats nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch Taten einfordern, die beweisen, dass sie keine radikale Arbeiter:innenpolitik betreiben.

Eine gemeinsame Partei von Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stellt also notwendigerweise eine Fessel für das Proletariat dar – aber sie erscheint nicht als solche, wenn man Revolution gegen Zionismus und Imperialismus im Sinne der Etappentheorie begreift. In Wirklichkeit muss sie wie die gesamte Etappentheorie jedoch zur politischen Unterordnung des Proletariats führen und dazu, dass dieses nicht zur hegemonialen Kraft im Befreiungskampf werden kann.

Strategische und taktische Bündnisse

Ganz im Sinne der Etappentheorie befürwortet die PFLP ein strategisches Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum. „Strategy for the Liberation of Palestine“ analysiert nicht nur Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft, sondern auch die anderen Klassen der palästinensischen Gesellschaft:

Die Bourgeoisie stellt nicht nur einen sehr kleinen Teil der palästinensischen Nation dar (0,5 – 1 % der Gemeinschaft), sondern lebt auch unter ganz anderen Bedingungen. Auch wenn einzelne von ihnen den bewaffneten Kampf unterstützen mögen, so hat die Bourgeoisie, die vorwiegend im Exil und dort auch nicht in den Flüchtlingslagern lebt, zum größten Teil ihren Frieden mit dem Zionismus, Imperialismus und mit reaktionären Regimen gemacht. So sei z. B. die palästinensische Bourgeoisie in Jordanien, wie die PFLP in späteren Analysen durchaus treffend hervorhebt, zu einem untergeordneten Teil der dortigen Kapitalist:innenklasse geworden.

Faktisch, so die PFLP, könne die palästinensische Bourgeoisie für die Revolution abgeschrieben werden.

Anders das Kleinbürger:innentum. Dieses stelle wie in anderen Halbkolonien eine recht große, heterogene Klasse dar: Kleinunternehmer:innen, Handwerker:innen, Studierende, Lehrer:innen, Anwält:innen, Ingenieur:innen, Mediziner:innen und viele andere Vertreter:innen der „gebildeten Schichten“.

Auch wenn es unter gänzlich anderen, privilegierten Bedingungen als die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern lebe, so stelle es trotz seiner Schwankungen einen strategischen Verbündeten in der Revolution dar.

Die Fatah repräsentiert bis zu den Osloer Verträgen dieses kämpfende, wenn auch schwankende Kleinbürger:innentum, die PLO die gemeinsame Befreiungsfront oder Organisation. Das Verhältnis zur PLO-Führung gestaltete sich für die PFLP allerdings auch vor dem Osloabkommen immer wieder konflikthaft, bis hin zur Formierung eigener „linker“ Bündnisse, um Druck auf sie auszuüben (z. B. die Nationale Rettungsfront in den 1980er Jahren). Aber der Kampf um die Einheit der PLO bildete immer eine Konstante der PFLP-Politik, der verhindern sollte, dass die schwankende Fatah ins Feindeslager überläuft oder zu viele Zugeständnisse macht. So machte George Habasch 1985 in einem Interview deutlich, dass es gegenüber rechten Kräften in der PLO darum gehe, diese auf Kurs zu halten:

„Kurz gesagt, wir verlassen uns auf die historische und strategische Allianz der Revolution.“[x] Und im selben Interview: „In dieser Hinsicht gehen wir von der starken Überzeugung in die Notwendigkeit aus, dass die PLO zu ihrer nationalen Linie zurückkehrt, so dass sie ein Rahmen für die Einheit des palästinensischen Volkes bleibt und als deren einziger legitimer Repräsentant agiert.“[xi]

Diese Einheit bedeutet aber, selbst wenn sie durchgesetzt wird, nur die auf Basis des Programms der PLO und ihrer führenden Organisation. Für die Fatah bedeutet Einheit immer auch offen die Einheit aller Klassen der palästinensischen Nation. Ideologisiert wurde dies zeitweise auch durch die Vorstellung, dass Nakba und israelische Besatzung auch alle Klassenunterschiede nivelliert hätten. Diese Sicht bildet letztlich nur den ideellen Kitt dafür, dass Fatah – und damit der von ihr dominierten PLO – immer ein bürgerliches, kapitalistisches, demokratisches Palästina vorschwebt, also eines, in dem die palästinensische Bourgeoisie herrschen würde.

Wenn die PFLP davon spricht, dass die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die führende Kräfte der Revolution wären, so heißt das nur, dass sie die nationale Befreiung konsequent führen, am entschiedensten kämpfen würden, während die Bourgeoisie im Voraus verrät und kleinbürgerliche Kräfte schwanken. Das heißt, die Frage, welche Klasse, die Revolution führen soll, beschränkt sich auf die, welche am entschiedensten den Kampf für ein bürgerlich-demokratisches Palästina vonantreibt. Auf sozioökonomischem Gebiet, hinsichtlich der Gesellschaftsordnung erkennt die PFLP im Voraus die Unvermeidlichkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums Palästinas nach der Revolution an. Das heißt aber, es für unvermeidlich zu halten, dass die Revolution die Kapitalist:innenklassen an die Macht bringt und den Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern eine untergeordnete Stellung als ausgebeutete Klasse zuweist.

Dies ist das unvermeidliche Resultat jeder Etappentheorie – zumal wenn man an ihr, wie die PFLP, sehr konsequent festhält.

Guerillastrategie, Nationalismus und internationale Politik

Für die PFLP stellt bis zur ersten Intifada der bewaffnete Kampf, genauer der Guerillakampf, das entscheidende, strategische Mittel gegen Zionismus und Imperialismus dar. Bis Ende der 1980er Jahre befindet sie sich darin, wenn auch mit einer anderen theoretischen Begründung, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der PLO-Charta und der Fatah.

Für die PFLP bildeten im Unterschied zur Fatah jedoch die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die zentrale Kraft des bewaffneten Kampfes, genauer die Fedajin in den Flüchtlingslagern in Jordanien (bis Anfang der 1970er Jahre), in Syrien und im Libanon.

Die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern in Israel bzw. in den besetzten Gebieten bildeten bis zur 1. Intifada keine zentrale Kraft der Revolution. Die israelische Militärherrschaft (und nach dem Schwarzen September 1970 die jordanische Armee) verunmöglichten dort faktisch den Guerillakampf, so dass der Fokus auf die Rekrutierung auf Libanon und Syrien lag, wo die PFLP eine reale Basis aufbauen konnte. Als zweitgrößte Fraktion in der PLO hatte sie außerdem auch immer einen gewissen ideologisch-politischen Einfluss unter den Palästinenser:innen sowohl in den besetzten Gebieten wie in der Diaspora.

Da die PFLP (und auch die meisten anderen Strömungen der palästinensischen Linken) keine andere Zielsetzung der palästinensischen Revolution in ihrer national-demokratischen Etappe verfolgen als die Fatah, konnte sie sich nur auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes als die eigentlich zur Führung des Volkes berufene Kraft erweisen.

Das stellte sich jedoch von Beginn an als Unmöglichkeit heraus. Die Fatah hatte den Guerillakampf früher als BdAN und PFLP begonnen. Sie verfügte über größere finanzielle Mittel zur Ausbildung und Bewaffnung der Guerilla und nach der Schlacht um Karame über eine enormes Prestige.

Die PFLP – und andere Organisationen – versuchten das, durch eine Wende zum individuellen Terrorismus (den allerdings auch die PLO selbst mit professionelleren Mitteln vollzog), zu Anschlägen und Entführungen auszugleichen. Diese bis ca. 1972 dauernde Wende zeitigte zwar alle Nachteile des individuellen Terrorismus, brachte die PFLP (wie andere Organisationen, die weit länger an dieser Kampfmethode festhielten und diese komplett fetischisierten) in ihrer Konkurrenz zur Fatah nicht weiter.

Vielmehr erwies sich in den 1970er und 1980er Jahren die Guerillastrategie faktisch immer mehr als Sackgasse. Es wurde immer klarer, dass die Befreiung Palästinas durch einen noch so aufopfernden Guerillakampf, der sich auf die Rekrut:innen aus den Lagern stützte, Israel zwar in Aufregung versetzen, aber keineswegs den Zionismus stürzen konnte. Hinzu kam, dass die arabischen Regime nach 1967 militärisch eine Katastrophe erlitten und nach 1973 mehr und mehr dazu übergingen, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Vor allem aber zeigte die Guerillastrategie von Beginn an ihre Grenzen hinsichtlich der aktiven Basis der Revolution. Letztlich kämpfen in der Guerilla nur jene, die sich für ein Leben als professionelle, bewaffneten Kämpfer:innen entscheiden bzw. dafür rekrutiert werden. Die Masse der Arbeiter:innen, des städtischen und ländlichen Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten sind an der proklamierten (oder auch faktischen) Hauptform des Kampfes nicht beteiligt, sondern vielmehr in die Rolle von passiven Unterstützer:innen gedrängt.

Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur leninistischen Position zum Partisanenkampf oder zur Guerilla. Wie Lenin zeigt, kann diese vom Marxismus unter bestimmten Bedingungen als eine Kampfform nicht ausgeschlossen werden, ja sogar einen Aufschwung von Massenaktionen (z. B. der Bäuerinnen und Bauern) signalisieren. Aber seine Rolle muss vor dem Hintergrund der Gesamtbewegung des Klassenkampfes verstanden werden, als letztlich untergeordnetes Moment.

Die Erhebung des Guerillakampfes zum strategischen Hauptmittel hingegen reflektiert im Grunde den Klassencharakter der führenden Kräfte des palästinensischen Befreiungskampfes der 1960er bis 1980er Jahre – des revolutionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalismus. Die Fatah steht für den bürgerlichen, die PFLP für den radikal-kleinbürgerlichen Flügel der Bewegung.

Nationalismus und Marxismus

Dies drückt sich auch im Verhältnis der PFLP zum Nationalismus aus. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Marxismus und Nationalismus. Oder in George Habaschs Worten: „Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein arabischer Nationalist und ein echter Sozialist zu sein.“[xii]

Dies ist keine zufällige Differenz zur marxistischen Position, wie sie z. B. Lenin in „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ betont:

„Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, (…)“[xiii]

Gerade weil der Nationalismus untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, muss der Marxismus ihn als grundlegendes Phänomen verstehen und begreifen. Dazu gehört auch das Begreifen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und die Unterstützung des berechtigen Kampfes gegen nationale Unterdrückung. Nur durch das konsequente Vertreten dieser bürgerlich-demokratischen Forderung kann das Programm der sozialistischen Revolution – Verschmelzung der Nationen zu eine höheren Einheit – dereinst Realität werden. Um diesem Ziel den Weg zu bereiten, muss die Arbeiter:innenklasse bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation anerkennen, daher muss ihre Arbeiter:innenklasse diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, ja unter bestimmten Bedingungen um die Führung kämpfen, versuchen, selbst zur hegemonialen Kraft zu werden. Doch genau deshalb dürfen die Revolutionär:innen der unterdrückten Nation selbst niemals auf den Standpunkt des Nationalismus herabsinken, wie Lenin betont: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die ‚nationale Kultur’ schlechthin – unbedingt nein.“[xiv]

Im Grunde reflektiert die falsche Auffassung von Habasch und der PFLP zur Nation ihre Vorstellung vom demokratischen Charakter der Revolution und strategischen Bündnis mit der Fatah in Form der PLO.

Internationale Strategie?

Doch damit nicht genug, die PFLP verfolgt von Beginn an auch eine problematische internationale Strategie. Dabei kritisiert sie zu Recht die Weigerung der Fatah, die untrennbare Verbindung des palästinensischen Befreiungskampfs mit der antiimperialistischen Revolution in den arabischen Staaten anzuerkennen. Dies führe dazu, dass die Führung um Arafat immer wieder nach falschen Verbündeten im imperialistischen Lage suche und eine opportunistische Politik der „Nichteinmischung“ gegenüber den reaktionären arabischen Regimen betrieben hat, wie z. B. Saudi-Arabien oder Ägypten unter Sadat.

Dem hält die PFLP ein Bündnis der „revolutionären Kräfte“ im globalen Maßstab entgegen. Doch wer sind diese? Die Arbeiter:innenklasse, die armen Bäuerinnen und Bauern weltweit? Nein. Vielmehr spricht „The Strategy for the Liberation of Palestine“ von der VR China, der UdSSR, Kuba und den anderen „sozialististischen Staaten“, also bürokratisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Auch wenn der PFLP natürlich bewusst ist, dass die UdSSR die Gründung Israels noch vor den westlichen Staaten anerkannte und keinesfalls immer konsequent handelte, so wird sie letztlich nicht nur als Verbündete, sondern als die führende Kraft im Kampf der „revolutionären Kräfte“ bezeichnet.[xv]

Neben den „sozialistischen Staaten“ gehörten dazu auch sog. progressive, antiimperialistische oder patriotische arabische Regime – vor allem Ägypten unter Nasser, Nordjemen und Syrien. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus, der Volksrepublik Jemen und dem Überlaufen Ägyptens ins US-Lager, blieb über die Jahre nur Syrien als enger Verbündeter übrig, dem die PFLP unter Assad auch während der syrischen Revolution treu blieb. Hinzu kommt heute außerdem der Iran.

Im gesamten geostrategischen Denken der PFLP, im Kampf im Weltmaßstab stehen einander letztlich nicht zwei Klassen, nicht Bourgeoisie und Proletariat, gegenüber, sondern zwei „Lager“. Auch wenn die PFLP häufig vom Internationalismus spricht, so unterscheidet sich ihre Politik grundlegend vom proletarischem Internationalismus. Dieser geht nämlich vom Klassenkampf als internationalem aus – und damit von der Einheit der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist diese nie spontan gegeben – und kann es auch gar nicht sein – sondern sie muss vielmehr durch die bewusste Tat, das bewusste, theoretisch und programmatisch geleitete Eingreifen von Revolutionär:innen errungen werden, indem aus durchaus vorhandenen spontanen Tendenzen eine bewusste Bewegung wird. Deren höchster und für die internationale Revolution auch unerlässlicher Ausdruck ist die revolutionäre Arbeiter:inneninternationale – nicht eine Sammlung von nationalrevolutionären Bewegungen und staatskapitalistischen, bonapartistischen Regimen!

Diese stellt das direkte Gegenteil einer Arbeiter:inneninternationale dar, was sich besonders tragisch zeigt, wenn sich Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft dieser Länder gegen deren angeblich „progressiven“ Regime erheben. Die PFLP steht dann vor der Frage, sich entweder gegen die vorgeblich antiimperialistischen Regime zu wenden – oder diese und damit die konterrevolutionäre Unterdrückung der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.

Ihre eigene strategische Konzeption verweist genau in diese Richtung. Die Anpassung an die bonapartischen, kapitalistischen Regime zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Geschichte der PFLP. Sie folgt logisch aus einer falschen Analyse und Strategie, der Etappentheorie.

Die 1. Intifada

Doch mehr noch als alles andere hat im Grunde der bisherige Höhepunkt des Kampfes der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel die Politik der PFLP wie aller palästinensischen Organisationen auf den Prüfstand gestellt.

Die 1. Intifada brach Ende 1987 aus, nachdem die israelischen Streitkräfte vier Jugendliche im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza ermordet hatten. Zweifellos trug sie – wie alle Massenerhebungen – Züge eines spontanen Aufstandes, einer Massenrevolution, die alle Beteiligten in ihrem Umfang überraschte.

Doch es wäre eine verkürzte Analyse, die Intifada als Ausdruck „reiner Spontaneität“ zu begreifen. Erstens erschütterten seit 1967 immer wieder massive Aufstände, Streiks von Arbeiter:innen und Ladenbesitzer:innen die Westbank und Gaza. Zweitens wandte sich die Befreiungsbewegung schon vor der Intifada stärker der Bevölkerung in diesen Gebieten zu, auch weil die Guerillastrategie faktisch an ihre Grenzen stieß. Die  hatte als erste verstärkt illegale und halblegale Arbeit unter den Massen begonnen. Doch auch die PLO-Organisationen (Fatah, PFLP, DFPL) wandten sich dieser Arbeit schon vor der Intifada stärker zu.[xvi]

„Spätestens 1987 existierte überall in den besetzten Gebieten ein ganzes Netzwerk lokaler Organisationen, die in ihrer Gesamtheit eine komplette Infrastruktur bildeten: Gewerkschaften, Studentenbewegung, Frauenkomitees, medizinische Hilfskomitees etc. Alle PLO-Organisationen waren beteiligt. In der Frauen- und Arbeiterbewegung waren DFLP, PFLP und  führend, während Fatah ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Shabiba-Bewegung (eine Jugendbewegung) gelegt hatte. Offensichtlich gab es 1987 kaum ein Dorf, Lager oder Stadtviertel, wo die Shabiba nicht vertreten war.“[xvii]

Sowohl die Fatah als auch PFLP, DFLP und  genossen eine massive Unterstützung unter der aufständischen Bevölkerung. Deren Kader wurden von Beginn als deren Führung anerkannt. Im Januar 1988 bildeten diese vier Organisationen die „Vereinigte Nationale Führung der Intifada“ (VNFI), die in den folgenden Jahren die koordinierende, leitende Rolle übernahm.

Allerdings hatten die in den besetzten Gebieten arbeitenden Kräfte der PFLP (wie auch der DFLP, tw. auch der Fatah) einen weit größeren Spielraum gegenüber ihren Exilführungen. Auch die VNFI darf man sich keineswegs als „von außen“, also der PLO-Führung komplett gesteuert vorstellen. Die erste Intifada und die vorbereitende Organisationsarbeit brachten nicht nur Massenorganisationen hervor, sondern auch eine Führung der Bewegung, die zwar mit viel Respekt auf die Exilführungen blickte, aber auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit besaß.

Hinzu kam, dass sich in der ersten Intifada auch Komitees in verschiedenen Bereichen bildeten, die Aktionen koordinierten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung während der Generalstreiks und Ausstände sicherstellen sollten und so embryonale alternative staatliche Strukturen darstellten. Die Illegalisierung aller dieser Strukturen durch die israelische Besetzung im August 1988 stellte zweifellos einen bedeutenden Schlag gegen diese dar.

Im Grunde trug die Intifada alle Kennzeichen einer revolutionären Situation, sie war ein revolutionärer Massenaufstand. Doch es zeigten sich zugleich auch die politischen Schwächen der palästinensischen Linken.

Auch wenn PFLP (und DFLP) in den besetzten Gebieten wichtige Organisationsarbeit geleistet hatte, so widersprach die Intifada dem Revolutionsschema dieser Organisationen, die die Guerilla zur Hauptform des Kampfes erklärt hatten. Im Gegensatz dazu stellte die Intifada eine Bewegung dar, die alle Schichten der Bevölkerung – und auch die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel – im Kampf vereinte. Diese Tatsache erkannte im Nachhinein auch die PFLP-Führung selbst.

„Was den bewaffneten Kampf betrifft, so hat die PFLP ihn bis zur Intifada befürwortet. Beim bewaffneten Kampf sind es die Fedajin, die kämpfen, aber bei der Intifada ist es das ganze palästinensische Volk – Kinder, Frauen, Künstler, alle. Mit der Intifada hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es möglich ist, in einem Teil Palästinas Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.“[xviii]

Habasch bringt hier eigentlich eine der realen Grenzen der Guerillastrategie – die Verengung der Basis der Kämpfenden – auf den Punkt. Aber er und die PFLP bleiben beim Konstatieren der Fakten und einer Einstellung des Guerillakampfes stehen. Sie unterziehen jedoch die Gesamtstrategie der Organisation keiner kritischen Überprüfung und verzichten daher auf eine wirkliche Neubestimmung ihre Politik bis heute.

Verschärft wird dieses Problem durch das Festhalten an der Etappentheorie durch alle Strömungen der stalinistisch geprägten palästinensischen Linken hindurch, egal ob sie nun den bewaffneten Kampf führten oder nicht. In der Intifada treten deren politisch entwaffnende Konsequenzen besonders deutlich hervor. Die Bewegung eint ein Ziel, das Ende der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ostjerusalem.

Doch dieses wirft nicht nur die Frage auf, in welchem Verhältnis es zur Befreiung ganz Palästinas steht, sondern auch, welche Klasse in diesen befreiten Gebieten die Macht übernimmt, sollte der Abzug der zionistischen Besatzung erzwungen werden. Für die Fatah war die Frage immer klar. Es würde sich um ein bürgerliches Regime handeln und die Fatah hat auch seit Beginn der 1980er Jahre das besitzende Kleinbürger:innentum und die Kleinbourgeoisie aus den besetzten Gebieten erfolgreich für sich gewonnen.

Hinsichtlich des Klassencharakters des Regimes eines zukünftigen Palästina hatten PFLP, DFLP und  der Fatah jedoch nichts entgegenzusetzen, erklärten sie doch selbst, dass sich die Revolution zuerst auf die Lösung der nationalen Frage zu konzentrieren hätte, der alle anderen untergeordnet wären.

Daher verabsäumte es die palästinensische Linke, obwohl sie über Massenrückhalt und eine gut organisierte Bewegung verfügte, eine eigenständige Klassenpolitik in der Intifada zu verfolgen. Damit das Proletariat nämlich zur führenden Klasse werden kann, hätte es seine spezifischen Klasseninteressen offen verfolgen und vor allem darauf vorbereitet werden müssen, die Machtfrage in seinem Sinne durch die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu lösen. Ob diese in ganz Palästina oder zuerst nur in einzelnen Teilen möglich ist, ist dabei eine Frage des Kräfteverhältnisses, ebenso, wie prekär eine solche Form angesichts der Besatzung auch hätte sein mögen.

Doch die palästinensische Linke lehnte bewusst die direkte Verbindung des Kampfes um nationale Befreiung mit dem für ein sozialistisches Palästina ab, hielt an der Etappentheorie fest, statt sich ein Programm der permanenten Revolution zu eigen zu machen.

Diese führte auch mit dazu, dass sie schlecht auf den historischen Verrat der PLO-Führung unter Arafat vorbereitet war. Die  unterstützte das Osloer Abkommen, die DFLP spaltete sich entlang diese Frage. Die PFLP lehnte es korrekterweise von Beginn ab. Aber sie verfolgte selbst auch keine alternative politische Zielsetzung.

Das Osloer Abkommen und seine Folgen

So endet die erste Intifada schließlich im politischen Ausverkauf. Das erste Osloer Abkommen wurde 1993 vom damaligen PLO-Außenminister Abbas (nicht von der PLO selbst) ratifiziert. Es enthält die allgemeine, aber unkonkrete Vereinbarung, dass die Palästinenser:innen Westjordanland und Gaza als Staat übertragen kriegen sollten im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Der Status Jerusalems blieb ungeklärt und die Frage der Rückkehr der Vertriebenen sowie der Siedlungen im Westjordanland sollte bei zukünftigen Verhandlungen geklärt werden.

1995 folgte das zweite Osloer Abkommen, dem zufolge das Westjordanland in verschiedene Stufen der „Autonomie“ aufgeteilt wird, ins sog. A-Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, in B-Gebiete mit geteilter Kontrolle und C-Gebiete, die weiter direkt von der israelischen Besatzung kontrolliert werden.

Das Abkommen erwies sich schon in den 1990er Jahren als politisches Desaster. Die zionistische Rechte machte mit der Ermordung Rabins deutlich, dass sie selbst einen von Israel abhängigen, selbstständig nicht überlebensfähigen Reststaat Palästina nicht akzeptieren will. Die zionistische Regierung deckte den Siedlungsbau und Landraub weiter. Allein bis 2000 entstanden rund 200.000 weitere Siedlungen in der Westbank.

Von 2000 bis 2005 folgte als Reaktion auf diese Entwicklung und Provokationen durch Sharon die 2. Intifada, die jedoch ohne sichtbares Resultat für die Palästinenser:innen endete. Am Aufstand beteiligen sich PFLP, DFLP, der linke Flügel der Fatah (al-Aqsa-Märtyrerbrigaden) sowie Hamas und Islamischer Dschihad, die Fatahmehrheit und die Autonomiebehörde hingegen nicht. Faktisch gerieten sie zu einem verlängerten Arm der Besatzung und des Imperialismus.

Vom strategischen Bündnis mit Fatah zum Bündnis mit Hamas

Doch die Jahre brachten auch eine massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den Palästinenser:innen mit sich, wie die Wahlen 2006 deutlich machten. Die islamistische Hamas erringt dort eine Mehrheit von 74 der 132 Sitze, Fatah 45. Die palästinensische Linke erleidet ebenfalls eine Niederlage, die PFLP erhält 3 Sitze (4,2 % der Stimmen), das Bündnis aus DFLP, PVP (Palästinensische Volkspartei; ehemals: PKP) und FIDA (Palästinensische Demokratische Union) 2 Sitze.

Die Linke wird in der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas faktisch an den Rand gedrängt – und das ändert sich auch nach 2006, nach der faktischen Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht. Die Hamas gelangt aber zur führenden Kraft des nationalen Widerstandes.

Auf diese Entwicklung reagiert die PFLP (und im Grund auch die DFLP) durch eine Neuadjustierung der Etappentheorie und eines strategischen Bündnisses mit dem „Kleinbürger:innentum“. Während die Fatah weitgehend für den Befreiungskampf ausfällt (auch wenn die PFLP weiter in der Fatah-geführten PLO bleibt), tritt nun die Hamas als strategische Partnerin ins Rampenlicht. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die PFLP in einem, wie sie es selbst nennt, „strategischen Bündnis“ mit der Hamas.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Die Ablehnungsfront ist dabei keineswegs nur auf Organisationen in Palästina beschränkt. Sie erstreckt sich auch seit Jahren auf ein Bündnis mit den „antiimperialistischen“ Regimen in Damaskus und Teheran. Darin wird das islamistische Regime zu einem verlässlichen Verbündeten im Befreiungskampf verklärt, z. B. bei einem Treffen von PFLP und Hamas mit Vertreter:innen des Iran im Jahr 2017:

„Während viele Länder der Region versuchen, ihre Beziehungen zum zionistischen Regime zu normalisieren, ist der Iran der Vorkämpfer im Kampf gegen Israel und für die Befreiung Palästinas.“[xix]

Die PFLP und die DFPL bilden seit Jahren mit Iran, Syrien, Hamas und libanesischer Hisbollah die sog. „Achse des Widerstandes“. Am Beginn der syrischen Revolution bröckelte diese, da sich die Hamas auf die Seite der Aufständischen gegen Assad stellte. Nicht so die palästinensische Linke, sie hielt ihren Verbündeten die Treue und denunzierte die syrische Revolution als zionististische Verschwörung.

„Die linken und nationalistischen Strömungen der palästinensischen politischen Elite – wie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) – hielten an ihrer Unterstützung für Damaskus fest und erklärten, die syrische Revolution sei eine zionistische Verschwörung.“[xx]

Dementsprechend begrüßte die PFLP auch die Eroberung Aleppos durch die Truppen des Assadregimes als „bedeutenden Sieg“. Gegenüber The New Arab erklärte das Mitglied des PFLP-Politbüros, Kayed al-Ghoul, die Position seiner Organisation folgendermaßen: „Syrien zu unterstützen und die Ereignisse in Aleppo und anderen Städten als Teil einer Verschwörung zur Zersplitterung des syrischen Staates zu betrachten.“[xxi]

Diese Position stellt ohne Zweifel einen, wenn nicht den politischen Tiefpunkt der Politik der PFLP dar. Die willfährige Unterstützung der syrischen Konterrevolution folgt jedoch nicht nur einer obskuren Verschwörungstheorie, sondern auch der reaktionären Logik, die globale Auseinandersetzung als Kampf von „Lagern“ und nicht als internationalen Klassenkampf zu begreifen.

So wichtig und notwendig es daher ist, sich mit den Kämpfer:innen der PFLP und der gesamten Befreiungsbewegung gegen den zionistischen Staat zu solidarisieren und gegen ihre Kriminalisierung zu kämpfen, so unabdingbar ist aber auch eine marxistische, revolutionäre Kritik ihrer politischen Analyse, ihrer Programmatik, ihrer Strategie und Taktik. Nur ein Bruch mit der Etappentheorie und eine Politik, die sich auf Theorie und Programm der permanenten Revolution stützt, kann einen Ausweg weisen aus der Führungskrise der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.


Endnoten

[i] PFLP, The Strategy for the Liberation of Palestine, Foreign Language Press, 1917, Utrecht, ISBN 9781545142660

[ii] Ebenda, S. 7

[iii] Ebenda, S. 10

[iv] Lenin, Der Partisanenkrieg, in: LW 11, Seite S. 202 – 213

[v] Strategy, S. 44

[vi] Ebenda, S. 45

[vii] Ebenda, S. 47

[viii] https://viewpointmag.com/2021/12/11/the-palestinian-left-will-not-be-hijacked-a-critique-of-palestine-a-socialist-introduction/

[ix] Ebenda

[x] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 6

[xi] Ebenda, S. 8

[xii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 92

[xiii] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Lenin, Werke, Bd. 20, S. 19

[xiv] Ebenda, S. 20

[xv] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 5

[xvi] Siehe dazu auch Helga Baumgarten, Befreiung in den Staat. Palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/Main 1991, S. 270 – 310

[xvii] Ebenda, S. 289

[xviii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 93

[xix] https://en.irna.ir/news/82617068/Hamas-PFLP-thank-Iran-for-supporting-Palestinian-cause

[xx] https://www.aljazeera.com/opinions/2018/10/20/how-do-palestinians-see-the-syrian-war

[xxi] https://www.newarab.com/opinion/divisions-exposed-pro-hizballah-leftist-palestinians-hail-assads-victory




Stoppt den Krieg gegen Gaza! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Flugblatt der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1235, 4. November 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und in Syrien. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 9.000 Menschen getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen Gazas – befindet sich auf der Flucht.

Israels Kriegsziele

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (wie Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten des Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. 

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Waffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen sie die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts an, weil sie fürchten, dass ein zu rücksichtsloses Vorgehen die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu brechen.

Gescheiterte Strategie

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Arzach (Bergkarabach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Welche Alternative?

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre sind.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der Unterdrücker:innen anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. Das heißt aber nicht, dass wir allen Aktionen oder ihrer Führung unkritisch gebenüberstehen dürfen oder diese Kritik verschweigen sollen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Aber es greift viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Fatah vertreten letztlich reaktionäre bürgerliche Programme. Die palästinensische Linke vertritt eine Etappentheorie, der zufolge der Kampf um nationale Befreiung und der um eine sozialistische Umwälzung streng voneinander getrennt sind,

Diesem Programm stellen wir jenes der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen unterstützen. Nur auf dieser Basis lässt sich eine wirkliche Einheit palästinensischer und jüdischer Arbeiter:innen herstellen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Auslaufen oder Abflug verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen, und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbunden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder in Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina. Daher müssen wir die Lügen der Herrschenden entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Strategie und Taktik in den halbkolonialen Ländern

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 4, Sommer 1989

Seit 1945 hat der Kapitalismus seine Aufgabe, die Reste früherer Produktionsweisen zu zerstören oder völlig zu unterwerfen, erfüllt. Aber obwohl er jeden Winkel der früheren Kolonialsphäre durchdrungen hat, haben sich in der Regel keine stabilen nationalen Bourgeoisien entwickelt. Obschon der Imperialismus eine halbkoloniale Bourgeoisie innerhalb formal unabhängiger Staaten gewährt, ja sogar geschaffen hat, ließ er sich seine ökonomische sowie politische Vormachtstellung in diesen Staaten nicht entreißen.

Zu Anfang der imperialistischen Epoche erfuhren die noch jungen und unterentwickelten nationalen Bourgeoisien in den Kolonialländern nationale Unterdrückung. Koloniale und später imperialistische Mächte zwangen ihr Großkapital den unterdrückten Nationen auf und zerstörten dabei viele kleine lokale, unabhängige Unternehmen. Dadurch wurde die nationale Bourgeoisie nach und nach jedes ernstzunehmenden politischen Einflusses auf die Kolonialverwaltung beraubt. Unter diesen Umständen war die koloniale Bourgeoisie gezwungen, eine wichtige Rolle im Kampf gegen die imperialistische Herrschaft zu spielen. Indem sie irreführende Phrasen und falsche Versprechungen benutzten, konnten Bewegungen wie der Indian National Congress und die Kuomintang in China eine Massengefolgschaft aller plebejischen Klassen in ihrem Interesse mobilisieren.

Doch diese „national-revolutionären Bewegungen“, wie die Komintern sie beschrieb, blieben unter der Führung einer Klasse (der Bourgeoisie), die sich immer wieder unwillig zeigen sollte, einen beharrlichen Kampf gegen den Imperialismus zu verfolgen. Die Furcht vor dem revolutionären Potential der Arbeiterklasse und einer landhungrigen Bauernschaft machte die Bourgeoisie zu einer wankelmütigen und verräterischen Führung der antiimperialistischen Kämpfe. Sie zeigte sich bei erstbester Gelegenheit willens zum Kompromiß und zum Ausverkauf an die Imperialisten und ertränkte ihre „eigene“ revolutionäre Bewegung oft in Blut (Shanghai 1927).

Nach dem zweiten Weltkrieg wurden unter der Aufsicht des US- Imperialismus die alten Kolonialreiche demontiert und schrittweise durch das heute gängige halbkoloniale System ersetzt. Überall in ihrem Herrschaftsgebiet waren die alten, geschwächten imperialistischen Mächte – Britannien, Frankreich, Holland und Portugal – gezwungen, ihren Kolonien politische Unabhängigkeit zu gewähren. Außer episodisch, war die nationale Bourgeoisie nie imstande, über die Strategie des friedlichen Drucks zum Rückzug der Imperialisten hinauszugehen. In einer Kolonie nach der anderen wurde der Unabhängigkeitskampf von den kleinbürgerlichen Nationalisten, oft im Bund mit den Stalinisten, angeführt. Wo immer die Imperialisten bis zum letzten Moment ausharrten (Algerien, Malaysia, Vietnam, Südjemen, Mozambique, Angola, Zimbabwe), griffen die kleinbürgerlichen Nationalisten zu revolutionär- nationalistischen Kampfmethoden.

Obwohl sie den Massen versprochen hatten, die drückende Last der imperialistischen Herrschaft zu erleichtern, haben dieselben „Revolutionäre“, kaum daß sie an die Macht gekommen waren, diese Macht dazu benutzt, das Proletariat und die armen Bauern zu unterdrücken, den Kapitalismus zu unterstützen und zu entwickeln und die Interessen der Imperialisten zu verteidigen. Bürgerliche und kleinbürgerliche Nationalisten zeigten sich beide unfähig zur Erfüllung selbst der elementarsten bürgerlich-demokratischen Aufgaben der Revolution gegen den Imperialismus. Nationale Unabhängigkeit blieb eine Illusion, solange die Wirtschaft dieser Länder vom Imperialismus dominiert war. Einige der neuen herrschenden Klassen – z.B. in Taiwan, Südkorea, auf den Philippinen, im Iran und in Kenia – verließen sich auf die offene Kollaboration mit den imperialistischen Mächten, um ihre Industrie und Landwirtschaft zu entwickeln. Diese Staaten bildeten Ökonomien heraus, die völlig an die imperialistische Weltarbeitsteilung gebunden waren. Sie boten vom Polizeistaat kontrollierte Arbeiterbewegungen und stellten ein Arbeitskräftereservoir zur Verfügung, das überausgebeutet werden konnte und damit zu imperialistischen Investitionen ermutigte.

Das andere Extrem stellen einige Halbkolonien mit national isolierten Entwicklungsversuchen dar, die mehr oder minder konsequent ihre Bindungen an den Imperialismus lockerten, oft durch den Aufbau ökonomischer Verbindungen zum Sowjetblock. Diese Regimes nahmen oft einen linksbonapartistischen Charakter an und vollführten eine Gratwanderung zwischen Imperialismus einerseits und genau kontrollierten Massenmobilisierungen andererseits. Indem sie ihre Wirtschaftsentwicklung bewußt nach der Erfahrung der stalinistischen Industrialisierungspolitik ausrichteten, verfolgten sie größere „staatskapitalistische“ Projekte und etablierten ausgedehnte Staatsbürokratien als wichtige soziale Stütze. Durch diese Methoden suchten solche Regimes einen Weg zu „unabhängiger kapitalistischer Entwicklung“, tatsächlich aber einen Weg zur Aufnahme in den erlesenen Klub der imperialistischen Nationen. Diese Strategie erwies sich Land für Land als eine wirtschaftliche Katastrophe. Stagnation und imperialistischer Druck erzwangen den Zusammenbruch und den Weg zurück in die Arme des Imperialismus.

Perons Argentinien, Nassers Ägypten, Bandaranaikes Sri Lanka und Nyereres Tansania sind nur einige Beispiele für das Fehlschlagen dieser Strategie. Die Krisen in Burma, Algerien und Angola in den späten 80er Jahren zeigen, daß andere staatskapitalistische Regimes sich auf demselben Weg befinden. Autarkie ist eine Utopie und es sind immer die Massen, welche die Zeche für ihr Scheitern zahlen. Welche Strategien die halbkolonialen Bourgeoisien auch immer verfolgt haben – und einige, wie z.B. Indien, haben eine Kombination aus beidem versucht, d.h. offene Kollaboration mit dem Imperialismus und national isolierte Entwicklung – das Resultat war das gleiche: chronisch abhängige Ökonomien, ungeheure Massenarmut, Stagnation und wachsende Verschuldung gegenüber dem Imperialismus. Nur unter den außergewöhnlichen Umständen Südafrikas war es für eine halbkoloniale Macht möglich, aus diesem Kreislauf auszubrechen und sich dem Imperialismus als Juniorpartner anzuschließen.

Der bürgerliche Nationalismus war unfähig, wirkliche Unabhängigkeit zu erreichen und politische Demokratie aufrechtzuerhalten. Während die Imperialisten heuchlerisch die Tugenden der „parlamentarischen Demokratie“ priesen und den neuen Nationalstaaten sogar ihre Verfassungen nach dem Modell von Westminster oder Washington vermachten, drückten sie bei deren Sturz hocherfreut beide Augen zu, wenn diese demokratisch gewählten Regierungen ihre ökonomischen Interessen bedrohten. Nur eine Minderheit der am höchsten entwickelten Halbkolonien war in der Lage, parlamentarische Regimes für einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Und sogar hier, wie im Falle Chiles 1973, hat der Imperialismus direkt interveniert, um jene demokratischen Regimes zu stürzen, von denen er seine Interessen gefährdet sah.

Konfrontiert mit den Forderungen der Bauernschaft nach einer umfassenden Lösung der Landfrage, waren die bürgerlichen Nationalisten zu keinerlei radikalen Maßnahmen bereit, die ihr Bündnis mit den halbfeudalen Grundbesitzern oder den kapitalistischen Großbauern gefährden konnten. Wo sie gezwungen waren, größere Landreformen durchzuführen – in Bolivien, Peru oder im indischen Pandschab -, geschah dies nur, um eine revolutionäre Lösung zu vermeiden. Eine von oben aufgezwungene reformistische Lösung stillte zwar vorübergehend den Landhunger der Bauern, führte aber bloß zur Entstehung einer neuen Klasse von Kleinbauern, knapp an Krediten und Maschinen, und lieferte sie den Wucherern, Banken und reichen Farmern aus.

Um die Ausbeutung durchzuführen und beizubehalten, gehörte es immer auch zur Strategie des Imperialismus, zu teilen und zu herrschen. In vielen Fällen wurde eine solche Spaltung durch imperialistische Mächte durchgesetzt, welche mit Absicht eine bestimmte Minderheit der Bevölkerung in ihrem kolonialen Apparat bevorzugten, wie in Sri Lanka oder Zypern. In anderen Fällen, wo Überreste vorkapitalistischer und religiöser Spaltungen noch existierten, bemächtigte man sich ihrer und kultivierte und bewahrte sie im Interesse des Imperialismus. Zum Beispiel wurde die vererbte Arbeitsteilung, auf der das indische Kastensystem beruht, vom britischen Kolonialismus institutionalisiert und trug dazu bei, jenes große Maß an Fügsamkeit auf dem Lande aufrechtzuerhalten. Einheimischer Grundbesitz und Kapitalismus waren in der Lage, dieses System zu ihrem Vorteil auszubeuten. Trotz der Entwicklung des modernen Kapitalismus in Indien ist bis heute die systematische Diskriminierung und institutionalisierte Ungleichheit des Kastensystems noch stark. Auch hier war die „unabhängige“ Bourgeoisie nicht dazu fähig, ihre Nation auf der Basis der Gleichheit der Rechte zu vereinheitlichen.

Trotz der Behauptungen von „Dritte-Welt-“ und Abhängigkeitstheoretikern, daß eine umfassende kapitalistische Entwicklung in der imperialisierten Welt nicht möglich sei, hat der Imperialismus gerade dies erreicht und im Verlauf seiner Geschichte Millionen von neuen Lohnarbeitern und -arbeiterinnen hervorgebracht. In den letzten beiden Jahrzehnten hat diese halbkoloniale Arbeiterklasse den Weg unabhängiger Klassenaktionen betreten, ist dort allerdings an die Grenzen ihrer syndikalistischen, stalinistischen und kleinbürgerlichen Führungen gestoßen. Es gibt eine Führungskrise in der halbkolonialen Arbeiterklasse. In den meisten Ländern fehlt sogar der Keim einer revolutionären kommunistischen Partei. Das erlaubte es kleinbürgerlichen politischen Formationen aller Schattierungen, an die Spitze antiimperialistischer Massenaktionen zu gelangen und sie unvermeidlich zu verraten.

Im Kampf gegen die Ausbeutung in den Fabriken, Bergwerken und Plantagen des heimischen wie imperialistischen Kapitals muß die Weltarbeiterklasse die volle Spanne an Übergangsforderungen und Taktiken anwenden. Außerdem muß die Arbeiterklasse einen Kampf für die Vollendung der verbliebenen bürgerlich-demokratischen Aufgaben führen. Nationale Einheit und Unabhängigkeit, Agrarrevolution und politische Demokratie sind die brennenden Forderungen von Millionen Arbeitern, Bauern und Halbproletariern. Die Arbeiterklasse muß an den Kampf um ihre vollständige Verwirklichung vom Standpunkt der permanenten Revolution herangehen.

Die nationalen, agrarischen und demokratischen Forderungen sind an und für sich historisch bürgerliche Fragen. Aber in der imperialistischen Epoche ist es nicht mehr möglich, diese Probleme im Kapitalismus vollständig zu Lösen. Die militärische, politische und ökonomische Abhängigkeit der Halbkolonien, ihre Rückständigkeit und wirtschaftliche Unausgewogenheit sind grundlegend für die imperialistische Weltordnung. Es kann kein abgesondertes Stadium der Revolution geben, in dem die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse weiterbestehen, während die bürgerlich-demokratischen Aufgaben voll erfüllt werden. Die gesamte Geschichte des antiimperialistischen Kampfes nach 1945 bestätigt diese grundlegende These von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Die „Siege“ der antiimperialistischen Massenbewegungen illustrieren dies sogar deutlicher als die zahlreichen Niederlagen.

Mit ihrer Weigerung, die Firmen und Banken sowohl der nationalen als auch der imperialistischen Bourgeoisie zu enteignen und die Forderungen der armen und landlosen Bauern zu befriedigen, besiegelten die Revolutionsführer in Nicaragua, Zimbabwe und im Iran den fortdauernden Nutzen für den Imperialismus. Selbst wo militärisch-bonapartistische Regimes wie in Burma, Ägypten und Libyen dazu gezwungen waren, die Wirtschaft zu verstaatlichen und eine staatseigene Infrastruktur zu schaffen, ist es ihnen nicht gelungen, die ökonomischen Ketten zu brechen, welche diese Länder an den Imperialismus binden. Stagnation, das Ergebnis der Autarkiebestrebungen, Verschuldung, das Wiederaufleben einer nationalen Bourgeoisie außerhalb des staatlichen Sektors: dies ist das Muster für jene Länder, wo der Bonapartismus sich festgesetzt hat.

Nur wo der Kapitalismus völlig ausgerottet worden ist (China, Kuba, Vietnam, Kambodscha), hatten halbkoloniale Revolutionen die Möglichkeit, sich dem Griff der imperialistischen Weltwirtschaft nach ihren Ländern zu entwinden. Aber sogar hier haben die Stalinisten die permanente Revolution verkümmern lassen und das Erbe der imperialistischen Dominanz nicht erfolgreich überwunden. In vielen dieser Staaten hat sich die Unterdrückung nationaler Minderheiten verstärkt, zum Beispiel die der Chinesen in Vietnam oder die Tibetaner in China.

Die Kombination aus bürokratischer Planung und „nationalem Weg zum Sozialismus“ hat das Potential nachkapitalistischer Eigentumsverhältnisse erwürgt und somit die früheren Halbkolonien zu den schwächsten Gliedern in der Kette der degenerierten Arbeiterstaaten gemacht. Sie bleiben von der Bereitschaft der Sowjetbürokratie, ihre Ökonomien zu unterstützen, stark abhängig. Der wachsende Widerwille der Moskauer Bürokratie dazu vergrößert den internen restaurativen Druck und stärkt jene Teile der Stalinisten, welche die Ökonomien für imperialistische Durchdringung unter dem Mantel des „Marktsozialismus“ öffnen wollen. In diesen Ländern kann nur eine politische Revolution, welche die stalinistische Bürokratie zerstört und wirkliche Sowjetdemokratie errichtet, für die Arbeiter und armen Bauern einen Weg vorwärts weisen und sie befähigen, endgültig mit dem Imperialismus abzurechnen.

Die Enteignung der Schlüsselindustrien, der Banken und Finanzhäuser, die Errichtung eines Staatsmonopols auf den Außenhandel und die Internationalisierung der Revolution müßten die ersten Schritte einer jeden siegreichen halbkolonialen Revolution sein. Aber nur das Proletariat, mobilisiert in Arbeiterräten und Arbeitermilizen kann diese Aufgaben in wirklich progressiver Weise durchführen. Im Verlauf einer solchen Revolution muß die Arbeiterklasse die bäuerlichen und halbproletarischen Massen über die komplette Verwirklichung der nationalen, agrarischen und demokratischen Anliegen an sich ziehen.

Die Agrarrevolution in den Halbkolonien

Insgesamt stellt heute die Bauernschaft, trotz des Wachstums des Industrieproletariats, in den Halbkolonien die absolute Mehrheit der Bevölkerung. Das Proletariat muß sich die Unzufriedenheit und die Bedürfnisse der armen und landlosen Bauern und Bäuerinnen zu eigen machen, wenn die Revolution eine wirklich umfassende sein soll. In der gesamten imperialistischen Epoche hat sich die Agrarfrage als eine der wesentlichsten und explosivsten der unerfüllten Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution erwiesen. Der Kampf der Bauernschaft um Land war und ist die Triebfeder im Kampf um nationale Unabhängigkeit gegen den Imperialismus. Dies zeigte sich z.B. in China in den 30-er und 40-er Jahren, sowie in Indochina in den 50-er und 60-er Jahren dieses Jahrhunderts. Weiters erwies sich die agrarische Revolution in Rußland 1917 als eine gewaltige gesellschaftliche Kraft für politische Demokratie gegen die zaristische Selbstherrschaft. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist sie ein zentraler Sprengsatz in Aufständen gegen die verhaßten herrschenden Oligarchien in den Halbkolonien (z.B. Nicaragua 1979, Philippinen 1985). Wo auch immer der Kampf der Bauern und Bäuerinnen um Land bewußt vom Kampf für nationale Unabhängigkeit (wie z.B. in Irland 1880-1921) oder für politische Demokratie (z.B. in Spanien 1931-1939) getrennt wurde, konnte keine der bürgerlich- demokratischen Aufgaben vollendet werden.

In der imperialistischen Epoche gab sowohl die imperialistische als auch die halbkoloniale Bourgeoisie jeden Anspruch auf einen revolutionären Kampf gegen den vorkapitalistischen Großgrundbesitz auf. Der Imperialismus versuchte das Proletariat und die Bauernschaft durch Allianzen mit den feudalen Grundbesitzern im Zaum zu halten. Auf diese Weise hielt der Imperialismus die Halbkolonien in ihrer Rückständigkeit und unterwarf die Landwirtschaft durch Handel oder Kolonialherrschaft unter seine Herrschaft.

Mit der Auflösung der alten Kolonialreiche und der Etablierung der US- Welthegemonie fiel der Kampf gegen die Überreste des Semi-Feudalismus in den (Halb-)Kolonien mit dem Kampf gegen die Auswirkungen des tiefen Eindringens des Finanzkapitals in die Landwirtschaft zusammen. Um einen profitablen Weltmarkt für landwirtschaftliche Produkte zu schaffen, drängte das Finanzkapital zu Beginn auf eine Konzentration und Zentralisation des Landes. Große Landstriche wurden für den Export von „Cash-crops“ kultiviert. Auf der einen Seite half das Finanzkapital, die halbfeudalen Grundbesitzer abzufinden, oder verwandelte sie in Agrarkapitalisten, während es auf der anderen Seite Millionen von Bauern und Bäuerinnen verjagte, betrog und ausbeutete. Als Ergebnis müssen Länder, die ehemals genügend Nahrung für den Binnenmarkt produzierten, heute die Grundnahrungsmittel einführen, was der Landoligarchie und der multinationalen Konzerne riesige Profite einbringt. Die Hauptdynamik der agrarischen Revolution liegt heute im Widerspruch zwischen den Massen der Bauern und Bäuerinnen, die auf immer kleinere Parzellen unfruchtbaren Landes zusammengedrängt werden, und den mächtigen kapitalistischen Plantagenbesitzern, welche für den Export produzieren.

In den Nachkriegsjahrzehnten wurde mittels Agrarreformen von oben versucht, eine revolutionäre Lösung der Landfrage von unten abzuwenden, indem eine stabile Schicht von konservativen Mittelbauern geschaffen wurde. Während diese Reformen in einzelnen Ländern für eine gewisse Zeit – wenn auch nur zum Teil – erfolgreich waren, Lösten sie nicht das grundlegende Problem (und konnten dies auch nicht), dem sich die halbkoloniale Bourgeoisie gegenübersieht. Denn deren Abhängigkeit vom Imperialismus sorgt dafür, daß sie unfähig ist, entweder die überschüssigen landhungrigen Bauern und Bäuerinnen in Werktätige im Industrie- oder Dienstleistungssektor in den Ballungszentren zu verwandeln, oder ausreichende Hilfe den kleinen Landbesitzer zukommen zu lassen, um deren Abstieg in die Armut zu verhindern. Die überlebenden halbfeudalen Großgrundbesitzer verbünden sich daher mit dem Finanzkapital, um die bäuerliche Ökonomie den Bedürfnissen der Massenproduktion des ländlichen Kapitalismus unterzuordnen. Dies hat zur Folge, daß die Lösung des Landhungers der Bauern und Bäuerinnen, das Ende der hohen Pachtzinsen, der bäuerlichen Verschuldung und der primitiven Technik nur erreicht werden kann durch ein Bündnis mit der Arbeiterklasse und den revolutionären Sturz des Kapitalismus und Imperialismus – durch die permanente Revolution.

Natürlich werden nicht alle ländlichen Klassen enge Verbündete auf diesem Weg sein. Die Bauernschaft ist keine moderne Klasse mit einer einheitlichen Stellung zu den Produktionsmitteln. Je weiter sie sich von Gemeineigentum an Land und einer dementsprechenden Arbeitsweise Löst, umso mehr differenziert sie sich in reiche Agrarkapitalisten auf der einen und ländliche Proletarier auf der anderen Seite. Wo die Bauernschaft sich eine stabile Grundlage an kleinem Privatbesitz schaffen konnte, war und ist es immer möglich, diese als Massenbasis zur Unterstützung reaktionärer bonapartistischer Regimes zu mobilisieren. Diese Regimes stellten im Angesicht einer Konfrontation die Arbeiterklasse demagogisch als Feinde der Kleinbauern dar.

Auf dem Weg der Revolution wird sich die städtische Arbeiterklasse zuerst dem wachsenden ländlichen Proletariat zuwenden, welches auf den Plantagen, Farmen, Höfen und in den verarbeitenden Betrieben ganztägig arbeitet. Diese Arbeiter und Arbeiterinnen, die zwar von geringer Anzahl, aber großer gesellschaftlicher Macht sind, haben immer wieder gezeigt, daß sie als erste stabile Organisationen (wie Gewerkschaften und Komitees) für den Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen aufbauen. Von den Zuckerarbeitern in Kuba bis zu den Kaffeearbeitern in Nicaragua ist es diese Klasse, die oftmals durch ihre Aktivitäten das Kräfteverhältnis zuungunsten verhaßter Diktatoren veränderten. Sie müssen für unmittelbare ökonomische Forderungen ebenso wie für Übergangsforderungen kämpfen und ein Regime der Arbeiterkontrolle und der gewerkschaftlichen Organisation in den Fabriken und auf den Plantagen errichten. Die Geschichte dieser Epoche hat auch gezeigt, daß es für diese Schicht lebensnotwendig ist, die Verteidigung ihrer Interessen gegen die Todesschwadronen der Großgrundbesitzer durch die Bildung von Arbeitermilizen in die eigenen Hände zu nehmen.

In seiner Bedeutung steht das Halb-Proletariat dieser Schicht am nächsten: die saisonalen Farmarbeiter und -arbeiterinnen, welche sich in der verbleibenden Zeit ihren Lebensunterhalt durch harte Arbeit zusammenscharren; oder die Kleinbauern, deren Familien auf dem kargen Stück Land nicht überleben können und Arbeit in der Stadt annehmen müssen. Diese Klasse ist in Lateinamerika, Afrika und in Teilen von Asien groß, oftmals so groß, daß sie die Anzahl des ländlichen Proletariats um das Zehnfache übertrifft. Der Kontakt mit den Plantagen hat ihnen die Möglichkeit gegeben, den üblichen Horizont der armen Bauern zu erweitern und so den Kampfgeist und die Organisation des Proletariats zu übernehmen. Die Saisonarbeit und ihr Leben als Wanderarbeiter führt dazu, daß sie u.a. die zentrale Basis für die Guerillaarmeen in Zentralamerika sind. Wesentlich für sie ist der Kampf für gleiche Bezahlung und Arbeitsbedingungen auf den Plantagen und für unbefristete Verträge für jene, die dies wollen, bzw. für Landvergabe an diejenigen, die aufgrund des Landhungers zum Wandern gezwungen sind.

Die verzweifeltste Klasse auf dem Land ist die der landlosen Bauern und Bäuerinnen, welche ihres Erbes durch die Oligarchie, die kolonialen Plantagenbesitzer oder durch die „Grüne Revolution“ beraubt wurden. Heute gibt es über 600 Millionen landlose Bauern in den Halbkolonien. In Pakistan, Indien und Bangladesh sind zwischen einem Viertel und der Hälfte aller Bauern und Bäuerinnen ohne Land, in Zentralamerika ist es mehr als die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung. Die meisten nagen am Hungertuch – ein Leben, das nur gelegentlich durch Tages- oder Saisonarbeit erleichtert wird. In der hoffnungslosen Suche nach Arbeit wandern viele in die Städte ab. Diese Klasse, die die größte ist, stellt einen notwendigen Bündnispartner des Proletariats dar. Die dauernde Unterstützung durch diese Klasse muß gewonnen werden, selbst wenn dies die Aufteilung der größeren Güter bedeutet. Ihr gegenüber muß sich die revolutionäre Arbeiterklasse verpflichten, für die Verwirklichung folgender Forderungen zu kämpfen: Land für diejenigen, die es bearbeiten; Besetzung des brachliegenden und ungenügend genutzten Bodens; Verteidigung der Besetzung von Plantagen im Kampf für den Lebensunterhalt; für Komitees und Milizen der landlosen Bauern und Bäuerinnen.

Trotzkisten und Trotzkistinnen müssen an der Spitze des Kampfes der Landhungrigen für Landbesetzungen stehen – unabhängig davon, ob diese gegen halb-feudale oder gegen kapitalistische Großgrundbesitzer gerichtet sind. Aber es ist zentral, für die ehest mögliche Bildung von Kooperativen als Übergangsmaßnahme einzutreten. Für jene, die bereits in die Slums der großen Städte abgedrängt wurden, müssen wir für ein Programm öffentlicher Arbeiten kämpfen, um ihnen nützliche Arbeit und lebensermöglichenden Lohn zu geben. Dies muß Hand in Hand mit der Organisierung der Arbeitslosen geschehen.

Die armen Bauern und Bäuerinnen wehren sich verzweifelt gegen ihren Abstieg in die Legion der Landlosen. Ihr kleiner Landbesitz wird von den gewaltigen Zinsen erdrückt oder ist von hohen Schulden belastet, welche das Resultat der harten Zahlungsbedingungen sind. Zu diesen Schulden kommen noch Kredite für den Kauf von Ausrüstung und Düngemitteln. Dieser Schritt wird ihnen aufgezwungen, weil die Kleinheit der Parzellen nicht das Überleben für die armen bäuerlichen Familien garantieren kann. Die armen Bauern und Bäuerinnen können dadurch von den großen Ländereien und den Großbauern unterdrückt werden. Hier müssen die zentralen unmittelbaren Forderungen ansetzen: Abschaffung der Pacht und Streichung aller Schulden bei ländlichen Wucherern und städtischen Händlern; für staatliche Kredite zum Erwerb von Maschinen und Düngemittel; für die Schaffung von Anreizen, um die Subsistenzbauern und -bäuerinnen zum freiwilligen Eintritt in Produktions- und zu Absatzgenossenschaften zu ermutigen.

Viele Bauern und Bäuerinnen glauben, daß der einzige Weg zum Überleben der Anbau von Pflanzen für die Drogenindustrie ist. Sie werden unbarmherzig von den Drogenbaronen ausgebeutet und von den imperialistischen „Anti-Drogen“-Einheiten verfolgt. Wir fordern daher das Recht der Bauern und Bäuerinnen auf freien und legalen Anbau von Pflanzen, die zur Drogenherstellung verwendet werden können. Weiters verlangen wir den staatlichen Ankauf solcher Pflanzen zu Preisen, die von Preiskomitees der Arbeiter und Bauern festgelegt werden.

Die mittlere Bauernschaft, normalerweise eine kleine Schicht, ist dem Proletariat gegenüber mißtrauisch, da sie eine geplante Abschaffung ihres Privateigentums befürchtet. Gewöhnlich verfügen diese Bauern über genügend Überschüsse, um diese in den Städten mit Gewinn verkaufen zu können. Dennoch werden auch sie oft durch Zwischenhändler ausgebeutet. In allen Auseinandersetzungen über Löhne und Arbeitsbedingungen, die zwischen diesen Bauern und den von ihnen ausgebeuteten Arbeitern und Arbeiterinnen stattfinden, muß das Proletariat auf der Seite letzterer stehen. Der Forderung der kleinen und mittleren Bauern nach höheren Preisen für ihre Produkte (eine Forderung, die vor allem dann aufkommt, wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen die Regierung zu Preiskontrollen bei den Grundnahrungsmitteln zwingen) stellen wir eine andere Losung gegenüber: Laßt die Bosse und Großgrundbesitzer zahlen – und nicht die Arbeiter! Wir verlangen die Streichung der Schulden, die Ausweitung von Krediten, die Förderung von Kooperativen und den Aufbau gemeinsamer Preiskomitees der Arbeiter und Bauern, um die Erzeugung ihrer jeweiligen Produkte zu planen und deren Austausch zu regeln.

Dort, wo der Halb-Feudalismus zerstört wurde und der Imperialismus in Allianz mit den halbkolonialen Staaten die reichen Bauern in den Weltmarkt integriert hat, stellen sich die reichen und ausbeuterischen Bauern im allgemeinen auf die Seite der Bourgeoisie. Revolutionäre und Revolutionärinnen stellen sich daher auf die Seite der armen Bauern und Bäuerinnen, um das Land der reichen Bauern zu enteignen. Doch wo auch immer die halbfeudalen Fesseln bestehen blieben, die sowohl die reichen als auch die armen Bauern und Bäuerinnen unterdrücken, ist auch ein gemeinsamer Kampf zur Beendigung dieser Unterdrückung möglich.

Das imperialistische Agrobusiness, die kapitalistischen Großbauern und die in den Städten oder im Ausland lebenden Großgrundbesitzer werden jedoch in der Arbeiterklasse einen unerbittlichen Feind finden. Ihr Eigentum stellt in den Augen der Arbeiter und armen Bauern den Mechanismus der Verarmung dar. Wir müssen der nationalen Bourgeoisie bzw. dem Kleinbürgertum, die gegen die Landoligarchie kämpfen, zur Durchsetzung folgender Forderungen zwingen: entschädigungslose Verstaatlichung ihres Großgrundbesitzes; Verstaatlichung der imperialistischen Plantagen und ihre Stellung unter Arbeiter- und Bauernkontrolle; für ein breit angelegtes Programm öffentlicher Arbeiten zur Verbesserung der Lebensbedingungen der ländlichen Massen – zur Elektrifizierung, Bewässerung des Bodens, für Maßnahmen zur Schaffung reinen Wassers und ausreichender sanitärer Möglichkeiten oder von kulturelle Einrichtung.

Nur so ein Programm kann die massenhafte Landflucht der Bauern und Bäuerinnen, die vom Hunger getrieben werden, verhindern. Die Umgestaltung und Planung der landwirtschaftlichen Produktion wird die Abhängigkeit von den nur für den Export bestimmten Ernten verringern, die Produktivität des Bodens erhöhen und die vorhandene Menge an Lebensmitteln für den heimischen Verbrauch steigern.

Solche Maßnahmen werden dazu beitragen, die Belastung der ländlichen Umwelt zu verringern. Mit der tiefgreifenden Umwandlung der ländlichen Gebiete hat der Kapitalismus die ökologische Krise auf immer neue Regionen der Erde ausgeweitet. Die Abholzung, die Zerstörung der traditionellen Bewässerungssysteme, die Verschmutzung der Flüsse durch industrielle Abwässer und chemische Düngemittel bewirken eine wirkliche ökologische Katastrophe in vielen Teilen der „Dritten Welt“. Der Kampf des Proletariats und der armen Bauernschaft muß ein Programm für sofortige Maßnahmen zur Verhinderung einer ökologischen Katastrophe beinhalten – die Beendigung massiver Abholzungen ebenso wie Projekte zur Wiederaufforstung und Bewässerung.

Die Jahre seit 1945 haben gezeigt, daß die einzige wirkliche Lösung des Landhungers und der Knechtschaft der armen Bauern der Sturz des Kapitalismus selbst ist. Die revolutionäre Partei muß den Klassenkampf auf dem Land zu seinem Höhepunkt führen. Wir stellen ein Programm für die revolutionäre und entschädigungslose Enteignung aller kapitalistischen Plantagen und die Landwirtschaften reicher Bauern durch Räte der Arbeiter und armen Bauern auf. Wir kämpfen für eine Politik der staatlichen Landwirtschaftsbetriebe sowie für freiwillige Genossenschaften der Klein- und Mittelbauern als Programm des sozialistischen Übergangs in der Landwirtschaft.

Die Nationale Frage in den Halbkolonien

Wenngleich nationale Einheit und Unabhängigkeit politische Ziele der Bourgeoisie waren, hatten sie einen gesellschaftlichen und ökonomischen Zweck: die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes, auf dem das heimische Kapital vor ausländischer Konkurrenz geschützt war und sich entfalten konnte. Ungeachtet der formellen nationalen Unabhängigkeit sind heute die ehemaligen imperialistischen Kolonien und Mandatsgebiete von einer echten wirtschaftlichen Unabhängigkeit genauso weit entfernt wie am Beginn der imperialistischen Epoche. Sie blieben unterdrückte Nationen. Rückständigkeit und im besten Fall eine einseitige, abhängige Industrialisierung blieben in den Halbkolonien die Norm. Kein noch so hoher Grad formeller politischer Unabhängigkeit kann das ausgleichen.

Die Ketten der ökonomischen Abhängigkeit werden durch die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus geschmiedet und können nur durch die Enteignung des Kapitals selbst zerrissen werden. Gerade aus diesem Grunde hat nur die Arbeiterklasse das Interesse und die Fähigkeit, die nationale Unterdrückung der Halbkolonien vollständig aufzuheben. Das Proletariat muß daher für folgende Ziele kämpfen:

• Die Vertreibung aller bewaffneten Kräfte des Imperialismus, seiner Gendarmen, einschließlich der UNO, seiner Berater und Sicherheitseinrichtungen.

• Die Abschaffung der stehenden Armeen, die durch den Imperialismus ausgebildet werden und ihm gegenüber loyal sind, und deren Ersetzung durch bewaffnete Arbeiter- und Bauernmilizen.

• Die Streichung aller Schulden und Zinsen gegenüber den imperialistischen Banken. Die Imperialisten wünschen keine Tilgung der Schulden, da dies das Ende ihrer daraus erzielten Extra- Profite und den Verlust einer ihrer Waffen zur Ausübung politischer, militärischer und ökonomischer Kontrolle über die Halbkolonien bedeuten würde. Diese Schulden wurden unter Bedingungen vereinbart, die vom Imperialismus festgesetzt wurden. Die engen Grenzen, die der halbkolonialen Bourgeoisie gesetzt sind, wenn sie den Imperialismus herausfordert, zeigen sich durch die Hinnahme dieser Bedingungen. Die praktischen Auswirkungen dieser Feigheit sind Sparmaßnahmen auf Kosten der Massen, Arbeitslosigkeit, Beschränkungen politischer und gewerkschaftlicher Tätigkeit, exportorientierte Produktion und – als Folge davon – Hunger.

• Gegen die Strategie, die Schuldenrückzahlung auf einen bestimmten Anteil der Exporte oder des Bruttonationalproduktes zu begrenzen. Gegen ein Moratorium der Auslandsschulden, das tatsächlich nur einen Zahlungsaufschub bedeuten würde. Diese Schuld wurde schon zig-mal durch erpresserische Zinslasten und den Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Halbkolonien getilgt.

• Die Rückführung aller geleisteten Zahlungen und die Wiederherstellung der natürlichen Ressourcen. Für die Rückgabe des unbezahlbaren archäologischen Erbes, das Jahre hindurch von den imperialistischen Plünderern gestohlen wurde.

• Die entschädigungslose Nationalisierung der Banken, Finanzhäuser und der bedeutendsten Industrien und die Streichung aller Sonderabkommen und Joint-Ventures zwischen Staatsbetrieben und Finanzkapital.

Das Proletariat muß sowohl dafür kämpfen, den imperialistischen Würgegriff über die Wirtschaft der Halbkolonien zu durchbrechen, als auch den Kampf für nationale Einheit und das Recht auf Selbstbestimmung der unterdrückten Nationalitäten führen. In den Jahren 1880, 1919 und 1945 zog der Imperialismus bei seinen Aufteilungen und Wiederaufteilungen der Welt willkürliche Grenzen, die viele Nationalitäten und Völker auseinanderrissen und nationale Minderheiten in den kolonialen und halbkolonialen Ländern schufen. Sofern sich der Nationalismus der sich entwickelnden kolonialen Bourgeoisien in seinen Kämpfen gegen feudale Überreste oder gegen den Imperialismus richtete, hatte er einen relativ fortschrittlichen Inhalt. Dieser Nationalismus verwandelte sich jedoch in eine Waffe gegen unterdrückte nationale Minderheiten, sobald er die politische Macht erlangte (z.B. in der Türkei oder in Burma).

Die halbkoloniale Bourgeoisie ist aber weit davon entfernt, die vielen nationalen Probleme zu Lösen, die durch die imperialistische Teilung der Welt verursacht oder verschärft wurden. Ihre Unfähigkeit, die Nation zu vereinen oder ökonomisch zu entwickeln, führt vielmehr zur Verschärfung der regionalen ökonomischen Unterschiede, zur Reaktivierung alter nationaler Widersprüche und zur Schaffung neuer (beispielsweise in Indien).

Wo immer eine wirkliche nationale Bewegung vorhanden ist, die in Bewußtsein, Sprache, Kultur und einem bestimmten Gebiet verankert ist, muß das Proletariat das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation unterstützen. Diese Unterstützung ist bedingungslos: Das heißt, daß wir von den Nationalisten nicht verlangen, kommunistische Kampfmethoden anzuwenden, bevor wir sie unterstützen. Genauso wie wir den Zielen der Nationalisten kritisch gegenüberstehen, kritisieren wir ihre Methoden, die den nationalen Kampf häufig auf bewaffnete Aktionen einiger weniger reduzieren. Doch besteht kein Recht auf Eigenstaatlichkeit, wo die Selbstbestimmung auf der nationalen Unterdrückung eines anderen Volkes beruht (Israel, Nordirland).

Das Proletariat ist eine internationalistische Klasse, die auf sozialistischer Grundlage versucht, die Völker und Nationen durch freiwillige Vereinigung und Föderation zu einen. Unser allgemeines Programm sieht weder die Schaffung einer immer größeren Anzahl getrennter Nationalstaaten noch die Zerschlagung großer „multinationaler“ Staaten in ihre Bestandteile als Mittel, solche Länder vom imperialistischen bzw. kapitalistischen Joch zu befreien. Obwohl Kommunisten und Kommunistinnen gegen diese falschen Lösungen auftreten, anerkennen sie, daß sich Revolutionäre und Revolutionärinnen an die Spitze eines Kampfes für die Errichtung eines eigenen Staates stellen müssen, sobald die Forderung von den Massen der Arbeiter und Bauern aufgegriffen wurde und sich dies zum Beispiel in Referenden, bewaffneten Kämpfen der Massen oder einem Bürgerkrieg (wie in Bangladesh) äußert. Kommunisten und Kommunistinnen stellen diese Forderung sowohl in der Unterdrückernation als auch in den nach Abtrennung strebenden Gebieten. Doch sie warnen weiterhin, daß nur die sozialistische Revolution, nicht die Lostrennung, den Massen eine dauerhafte Lösung bieten wird.

Obwohl die Arbeiterklasse die legitimen nationalen Rechte der unterdrückten Nationen verteidigen muß, bedeutet aber deren internationalistische Strategie, daß sie alle nationalistischen Ideologien bekämpft, auch die der unterdrückten Nationen. Solcher Nationalismus gerät unvermeidlich in Widerspruch mit der Entwicklung der Arbeiterklasse zu einer selbstbewußten Kraft, die fähig ist, ihre Klasseninteressen zu verteidigen, und wird daher reaktionär werden. Während wir die Kämpfe für Selbstbestimmung bis hin zur Abtrennung z.B. in Kurdistan, Euskadi, Kashmir oder Tamil Eelam unterstützen, weisen wir gleichzeitig auf den Utopismus des nationalistischen Projekts hin, in diesen Gebieten wirklich unabhängige bürgerliche Staaten aufbauen zu wollen.

Das Proletariat muß gleichzeitig für die Enteignung der Kapitalisten und für die größtmögliche Ausweitung der demokratischen Planung kämpfen. Ein Rückzug hinter noch engere ökonomische Grenzen bietet für die unterdrückten Nationen keine Lösung ihrer ökonomischen Grundbedürfnisse.

Gegenüber der bewußten imperialistischen Politik der „Balkanisierung“, die die Spaltung und Beherrschung der schwachen und instabilen Nationalstaaten zum Ziel hat, propagieren Kommunistinnen und Kommunisten für diese Länder, die durch Sprache, Kultur, Handel usw. geschichtlich verbunden sind, die Alternative einer echten Föderation von sozialistischen Staaten. Solche Übergangslosungen können eine mächtige Mobilisierungskraft auf die Massen haben, so etwa in Lateinamerika, im Nahen Osten oder auf dem indischen Subkontinent, wo sie vom Imperialismus geschaffene Spaltungen und die bürgerlich- und kleinbürgerlich-nationalistischen Vorurteile überwinden können.

Der Kampf gegen Militärdiktatur und Bonapartismus in den Halbkolonien

Vom Imperialismus in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung aufgehalten, sind die Halbkolonien nicht in der Lage gewesen, eine stabile bürgerliche Demokratie aufrechtzuerhalten. Wahlen und Parlamente sind vorübergehend oder generell durch verschiedene Restriktionen im Wahlrecht, durch die Einführung von Lese- und Sprachqualifikationen und durch eine Unzahl von Hindernissen bei der Wählerregistrierung eingeschränkt worden.

Folglich waren verschiedene Arten des Bonapartismus die Norm. Obwohl solche Regimes entschlossene Verteidiger des Kapitalismus gewesen sind, haben sie durch ihre Kontrolle der Armee und des Staatsapparates einen gewissen Grad von Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse erreicht. Sie haben die Kapitalistenklasse von ihrer eigenen politischen Herrschaft ausgeschlossen, ebenso wie sie die ausgebeuteten Klassen im Zaum gehalten oder unterdrückt haben.

Die bonapartistische Herrschaft in den Halbkolonien variierte zwischen „antiimperialistischen“ und proimperialistischen Formen. Die „linke“ Form des Bonapartismus hat oft die Form nationalistischer Offiziersbewegungen angenommen, die aus der kleinbürgerlichen Mittelschicht kamen und den Standpunkt dieser Klasse widerspiegelten. Diese Schicht, die ihre Zukunft durch wirtschaftliche Stagnation, Korruption und die Abhängigkeit ihrer eigenen Bourgeoisie vom Imperialismus zunichte gemacht sieht, hat seit dem zweiten Weltkrieg in zahlreichen Ländern die Macht erlangt – wie z.B. in Argentinien, Peru, Libyen, Ägypten und Burma. Ihre Ideologien haben Elemente vom Stalinismus und gelegentlich vom Faschismus entlehnt und haben typischerweise einen „dritten“ Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus proklamiert. Diese Regimes haben versucht, mit dem Scheitern der wirtschaftlichen Entwicklung fertig zu werden, indem sie die imperialistische Durchdringung einschränkten. Sie haben alles daran gesetzt, eine „unabhängige kapitalistische Entwicklung“ zu fördern, indem sie von Handelsbarrieren, staatskapitalistischer Industrialisierung und Landreformen Gebrauch machten. Sie haben oft einen bösartigen Antikommunismus mit Versuchen verbunden, die Gewerkschaftsbewegung und Bauernorganisationen als eine Stütze für ihre Regimes gegen den imperialistischen Druck von außen und innen heranzuziehen.

Aber nirgendwo haben solche Regimes den Weg zum Sozialismus eröffnet, noch wären sie aufgrund ihres eigentlichen Wesens dazu überhaupt in der Lage. Tatsächlich haben sie den kapitalistischen Staat und die kapitalistische Wirtschaft durch Angriffe auf die Arbeiter und Arbeiterinnen wieder bestärkt und haben weder vor vollständiger Unterdrückung noch vor Massakern haltgemacht.

Im Falle eines ernsthaften Zusammenstoßes zwischen diesen Regimes und dem Imperialismus bzw. seinen reaktionärsten Agenten wäre das Proletariat dazu verpflichtet, an der Seite der nationalistischen und demokratischen militärischen Einheiten zu kämpfen. Aber zu jeder Zeit müßten die Arbeiter und Arbeiterinnen die entschlossenste Klassenunabhängigkeit und die Opposition zu diesen vorübergehenden Verbündungen bewahren. Das Proletariat braucht keine militärischen Retter oder Führer. Es kann nur durch seinen eigenen Aufstand die Macht erlangen, nicht durch Militärcoups.

Es ist der schwerste Fehler, strategische Blöcke mit Teilen der Offiziere zu bilden oder Illusionen in deren Fähigkeit, das Proletariat zu bewaffnen und zu führen, zu säen. Dies führt zu Klassenkollaboration und programmatischen Zugeständnissen und kann nichts anderes, als den Drang des Proletariats schwächen, unabhängige Abeitermilizen einzurichten und die einfachen Soldaten zu organisieren.

Das zwangsläufige Scheitern dieser ökonomischen und politischen Strategie, die wiederholten Zugeständnisse an die Imperialisten und die daraus resultierende Desillusionierung der Massen, ebnen den Weg für den Sturz dieser Regimes und deren Ersetzung durch fügsamere, proimperialistische. Millionen von Arbeitern und Bauern auf der ganzen Welt leiden unter der Herrschaft solcher bösartiger rechts-bonapartistischer Regimes. Diese sind oft entweder aus dem Scheitern des linken Bonapartismus (Indonesien 1965, Argentinien 1955 und Peru 1975) oder, wie in Chile 1973 und Bolivien nach 1971, aus dem Niederschmettern revolutionärer Situationen entstanden. Diese Regimes sind durch ihre Abhängigkeit vom Imperialismus, ihre Versuche, Arbeiter- und Bauernorganisationen zu zerschlagen und ihre Anwendung von Todesschwadronen, Folter und weitreichenden Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet.

Die wiederholte Ausnützung solcher Diktaturen durch die Imperialisten und ihre Agenten bedeutet, daß die Forderung nach politischer Demokratie ein brennendes Anliegen für Millionen von Proletariern und Nicht- Proletariern auf der ganzen Welt von Indonesien bis Paraguay bleibt. Wo immer das Proletariat an der Seite kleinbürgerlicher und bürgerlicher Kräfte für demokratische Rechte kämpft, muß es dies vom Standpunkt seines eigenen strategischen Zieles tun: die Macht der Arbeiterräte. Was es im wesentlichen innerhalb bürgerlicher Demokratie verteidigt, sind seine Kampforganisationen, die der Bourgeoisie abgerungenen gesetzlichen und verfassungsmäßigen Zugeständnisse und jene Formen der bürgerlichen Demokratie (Parlamente, etc.), welche die Arbeiterklasse als eine Tribüne dafür benützt, die Massen zu mobilisieren und in ihnen zu agitieren. Aber die Macht der Arbeiterräte ist die demokratischste Form der Klassenherrschaft in der Geschichte und ersetzt die demokratische Republik als ein strategisches Ziel in der imperialistischen Epoche.

Trotzdem wir es zurückweisen, die Revolution auf eine besondere demokratische Stufe zu beschränken, können wir nicht – wie die Sektierer – daraus schließen, daß demokratische Losungen unnötig seien. Brutale Diktaturen geben ständig Anlaß zu demokratischen Bestrebungen und zu Illusionen in bürgerlich-demokratische Institutionen. Nur verhärtete Sektierer, welche die Notwendigkeit unterschätzen, sich auf die fortschrittlichen Elemente in den demokratischen Illusionen der Massen zu beziehen, können glauben, daß es möglich sei, das Bewußtsein der Massen zu „überspringen“. Wenn diese Illusionen überwunden werden sollen, ist in der Praxis mehr als nur die Forderung nach Sozialismus nötig.

Dort, wo die herrschenden Klassen versuchen, den Massen die vollen demokratischen Rechte zu verweigern, mobilisieren wir rund um demokratische Losungen, einschließlich jener der souveränen, verfassungsgebenden Versammlung. Wir müssen für einen Wahlablauf kämpfen, in dem es keine vorausgehenden Beschränkungen oder Geheimabkommen gibt, d.h. für einen für die Massen wirklich demokratischen: allgemeines, direktes, geheimes und gleiches Wahlrecht ohne Voraussetzung von Eigentum oder der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Es sollte Publikations- und Versammlungsfreiheit für alle Parteien der Arbeiter und Bauern existieren und von einer bewaffneten Miliz verteidigt werden. Wir müssen auch die proportionale Vertretung aller Parteien in der Versammlung, entsprechend den Stimmen, die sie erhalten haben, fordern, ohne irgendeine Mindestgrenze.

Daß man jedoch die Wichtigkeit solcher Forderungen erkennt, bedeutet nicht, die opportunistischen Methoden der Zentristen anzunehmen, die den Kampf für eine verfassungsgebende Versammlung in eine demokratische Stufe verwandelt haben, durch welche die Massen gehen müssen. Der Zentrismus trotzkistischen Ursprungs (Lambertismus, Morenoismus, das Vereinigte Sektretariat der IV. Internationale) ist immer den Stalinisten oder den kleinbürgerlichen Nationalisten nachgeschwänzelt, indem er die Losung der verfassungsgebenden Versammlung in einer Art verwendet hat, die den Kampf für Arbeiterräte und Arbeitermacht in eine Zeit, nach der eine solche Versammlung gewonnen wurde, verbannte. Gleichzeitig haben die Zentristen Illusionen in das „sozialistische“ Potential gesät, das solche Versammlungen hätten. Die „antiimperialistischen“ linken Bonapartisten haben sich gleichfalls sehr geschickt darin gezeigt. Sei es der Derg in Äthiopien, Mugabes „Einparteienstaat“, Ortegas machtlose „Volkskomitees“ oder Ghadhafis Volkskomitees, diese Organisationen werden in Wahrheit dazu benutzt, den Arbeitern und Bauern ihre Organisationsfreiheit abzuerkennen.

Die verfassungsgebende Versammlung enthält deshalb keinen ihr innewohnenden progressiven Kern. Sie kann nur – und in neunundneunzig von hundert Fällen war sie dies – ein bürgerliches Parlament sein, das damit beauftragt ist, eine Verfassung zu installieren. Schlimmer noch, in halbkolonialen Ländern (Brasilien 1982) und sogar in einigen imperialistischen Ländern (Portugal 1975) wird sie nur unter militärbonapartistischen Beschränkungen ihrer Macht einberufen. Gleichzeitig wird bereits zuvor zwischen den reformistischen Parteien und dem Militär ein Pakt darüber abgeschlossen, wie die Verfassung aussehen soll. Oft haben sich verfassungsgebende Versammlungen als reaktionäre Körperschaften erwiesen, die den revolutionären Organen des Kampfes und der Macht der Arbeiter und Bauern entgegengestellt sind. Dies kann in den Halbkolonien geschehen, wo das enorme Gewicht der Bauernschaft von der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse benützt werden kann. Die Kapitalisten und Kapitalistinnen benützen das gleiche Wahlrecht aller „Bürger“ als Bremse für die Revolution. Deshalb ist es unabdingbar für die verfassungsgebende Versammlung mittels der Schaffung von Räten der Arbeiter, Soldaten und armen Bauern zu kämpfen. Nur dann kann die Versammlung eine Waffe revolutionärer Demokratie und nicht ein Werkzeug des Bonapartismus sein, nur dann kann die Versammlung von den Räten der Arbeiter und armen Bauern beseitigt werden, wenn ihre Rolle erschöpft ist.

Selbst unter verfassungsmäßigen Regimes in den Halbkolonien existieren massive Elemente des Bonapartismus, die regelmäßig gegen die Arbeiterklasse eingesetzt werden: das Präsidentenamt mit seiner Macht, den Ausnahmezustand zu erklären; der Senat, mit seiner Fähigkeit, die Gesetzgebung zu beschränken; die nichtgewählte Richterschaft und vor allem die paramilitärische Polizei und die stehende Armee. Alle diese Ämter und Kräfte reduzieren wiederholt die „Demokratie“ auf eine völlig leere Hülle. Gegen diese Angriffe auf die demokratischen Rechte sollte die Arbeiterklasse die Abschaffung des Präsidentenamt und des Senates und die Schaffung eines Einkammersystems, in dem mindestens alle zwei Jahre gewählt wird und die Wähler und Wählerinnen ihre Abgeordneten abwählen können, in ihr Aktionsprogramm aufnehmen. Dem sollten wir die Forderung nach Auflösung der paramilitärischen Truppen, der Polizei und der stehenden Armee und die Schaffung einer bewaffneten Volksmiliz hinzufügen.

Stalinismus, kleinbürgerlicher Nationalismus und bürgerlich-demokratische Aufgaben

Der Stalinismus ist in all seinen Erscheinungsformen ein unversöhnlicher Gegner der Theorie und Strategie der permanenten Revolution geblieben. Der Triumph des Stalinismus wurde durch die offizielle Annahme der Doktrin vom Sozialismus in einem Land durch die kommunistische Partei der Sowjetunion markiert. Der Gedanke eines nationalen Weges zum Sozialismus entspringt dieser Theorie. In den halbkolonialen und kolonialen Ländern bedeutete dies das Durchlaufen besonderer und getrennter politischer Stadien: zuerst die Etappe des Kampfes für politische Demokratie und unabhängige kapitalistische Entwicklung – im Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie -; danach, wenn der Stand der Produktivkräfte reif für diese Etappe befunden wird, die Entwicklung Richtung Sozialismus. In der imperialistischen Epoche kann diese Strategie nur bedeuten, daß die Stalinisten die unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse überall dort leugnen, wo diese in der demokratischen Etappe mit den bürgerlich-nationalen Interessen in Konflikt geraten. Angesichts der Unmöglichkeit einer unabhängigen Industrialisierung hat der Stalinismus nach dem Zweiten Weltkrieg oft jeden Anspruch aufgegeben, daß die zweite Etappe für die Halbkolonien möglich wäre.

Wir schließen nicht aus, daß „Stadien“ im lebendigen Kampf um die Arbeitermacht auftreten können. Aber es können niemals abgeschlossene, auf einer jeweils getrennten Strategie für eine getrennte Periode basierende Stadien sein. Die verschiedenen Aufgaben, bürgerlich- demokratische und proletarische, sind miteinander verknüpft, und zu jedem Zeitpunkt muß offen dafür gekämpft werden, und zwar mit dem einzigen strategischen Ziel der Arbeitermacht. Aber die Arbeiterklasse muß das städtische und ländliche Kleinbürgertum im Kampf um die demokratischen Aufgaben führen. Die ganze Nachkriegsentwicklung beweist, daß die vollständige Erfüllung der noch offenen demokratischen Aufgaben nur unter der Diktatur des Proletariats, das heißt auf Grundlage der Zerstörung des kapitalistischen Privateigentums und seines Systems der Nationalstaaten, erfüllt werden kann.

Der Stalinismus ist so voll auf die „demokratische Etappe“ orientiert, daß er sich sogar mit kleinbürgerlich-nationalistischen Formationen fusioniert, um so besser – wie Trotzki sagte – „die Schlinge um den Hals des Proletariats zuziehen zu können“. Wo auch immer die Arbeiterklasse spontan aus den vom Stalinismus vorgezeichneten Grenzen des revolutionären Prozesses ausgebrochen ist, sind die Stalinisten die eifrigsten Befürworter der Niederschlagung der Arbeiter und Arbeiterinnen und deren Zurückpressung in diese Grenzen gewesen. Die bittere Konsequenz dessen war oft nicht eine Realisierung der demokratischen Etappe, sondern eine blutige Konterrevolution und Diktatur (Indonesien, Chile, Iran).

Der kleinbürgerliche Nationalismus hat im Laufe der imperialistischen Epoche zunehmend unter dem Mantel des „nationalrevolutionären Kampfes“ in der halbkolonialen Ära agiert. Er übernahm im Streben nach nationaler Unabhängigkeit oft revolutionäre Kampfmethoden (Aufstände, Guerillakriegsführung). Bei manchen Gelegenheiten haben kleinbürgerliche Kräfte Methoden des Klassenkampfes (Streiks, Besetzungen, Landnahme), auch wenn sie diese nicht organisiert haben, zugelassen. Nichtsdestotrotz bleibt das angestrebte Ziel des kleinbürgerlichen Nationalismus eine reaktionäre Utopie.

Der Kampf für einen „unabhängigen Kapitalismus“, der sich „soziale Gerechtigkeit“ im Inneren und „Paktungebundenheit“ nach außen zu eigen macht, ist im Zeitalter des Imperialismus eine Illusion. Diese kleinbürgerlichen Parteien – normalerweise von Angehörigen gehobener städtischer Berufe, Mitgliedern der Intelligenz und desillusionierten Söhnen und Töchtern der herrschenden Oligarchien geführt – sind unfähig, mit dem Kapitalismus zu brechen. Nur in Ausnahmesituationen kann es die Hilfe der existierenden stalinistischen Staaten solchen Parteien ermöglichen, den Kapitalismus auf bürokratische Art und Weise zu überwinden. Ein solcher Verlauf hat allerdings nur dann stattgefunden, wenn er ihnen im Konflikt mit dem Imperialismus als einziges Mittel ihres Überlebens aufgezwungen wurde. In diesem Prozeß verschmelzen sie mit stalinistischen Parteien oder verwandeln sich in solche. Dort, wo solche Parteien eine zeitlang regieren, ohne den Kapitalismus zu stürzen (Nicaragua), rauben sie den Arbeitern und Bauern – durch den Versuch, sich mit einer „patriotischen“ Kapitalistenklasse zu versöhnen – die Früchte ihres Kampfes. Das endet unausweichlich mit einer konservativen Konterrevolution innerhalb des Regimes (Ägypten, Algerien, Iran) und mit dem Aufstieg der Bourgeoisie oder dem Sturz der kleinbürgerlichen Regierung durch proimperialistische Kräfte (Guatemala, Grenada).

Die offiziellen kommunistischen pro-Moskau-Parteien haben sich seit ihrer stalinistischen Degeneration nicht nur immer wieder selbst diskreditiert, sondern durch die Unterstützung reaktionärer Diktaturen – im Interesse der diplomatischen Manöver des Kremls – auch den Gedanken einer proletarischen Führung in Mißkredit gebracht. Der bürgerliche und kleinbürgerliche Nationalismus hat seine Stärke aus diesem Verrat bezogen. Aber als diese Kräfte an der Reihe waren, haben auch sie die Arbeiter und Bauern in die Niederlage geführt. Eine der Folgen ist, daß sich die Massen der Religion zuwenden, um Trost und Anregung für den Kampf zu erhalten. Ideologien, die sich am Beginn des Kapitalismus – angesichts einer emporkommenden Bourgeoisie voller Selbstvertrauen und begleitet von Rationalismus und Säkularismus – auf dem Rückzug befanden, erfahren nun in der reaktionären Epoche des Kapitalismus eine Stärkung.

Religiöse Institutionen spielen im Kampf der Unterdrückten generell eine konterrevolutionäre Rolle. Die meiste Zeit verbreiten sie eine Ideologie der Unterwürfigkeit oder der friedlichen Reform. Aber wenn sie an der Spitze einer Massenrevolte stehen, dann mit dem Ziel, die Massen davon abzuhalten, die kapitalistische Ordnung selbst zu attackieren. Meistens haben sie als führende Kirchenhierarchie agiert, um den Widerstand zu zügeln und die Gehirne der Arbeiter und Bauern zu vernebeln. In gewissen Ländern (z.B. in Zentralamerika) haben Geistliche niedrigen Kirchenranges oder Laienpriester den Bauern und Landarbeitern gelegentlich geholfen, sich in unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren, bzw. sie zur Alphabestisierung, politischen Bewußtseinsbildung und Überwindung der Passivität ermuntern. Die reformistischen und klassenversöhnlerischen Anliegen, die dieser Tätigkeit zugrunde lagen, wurden von den Arbeitern und Bauern ihrerseits oft beiseite geschoben; woraufhin sich dieselben Priester und Nonnen gegen die Arbeiter und Arbeiterinnen stellten. Das schließt natürlich nicht aus, daß individuelle Mitglieder des Klerus – umso mehr die Masse der Gläubigen – in den militanten oder sogar revolutionären Kampf involviert werden. Aber die Aufgabe von Marxistinnen und Marxisten ist es trotzdem, sich entschlossen gegen den Einfluß aller religiösen Ideologien zu stellen.

Im Iran hegemonisierte eine solch reaktionäre Ideologie die Mehrheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten, sogar zu dem Zeitpunkt, als die Massenbewegung den proimperialistischen Schah stürzte. An die Macht gekommen, wurde der volle reaktionäre Inhalt der religiösen Ideologie deutlich: die Verweigerung demokratischer Rechte, die Verfolgung unabhängiger proletarischer Organisationen und die Unterdrückung der Frauen sind Kernbestandteil halbkolonialer kapitalistischer Staaten, die vom religiösen Dogma durchtränkt sind. Hier müssen Revolutionäre und Revolutionärinnen für den Schutz der proletarischen Demokratie gegen religiöse Kasten und für die Trennung von Kirche und Staat kämpfen.

Die antiimperialistische Einheitsfront

Trotz ihrer Abhängigkeit vom Imperialismus bleibt die halbkoloniale Bourgeoisie eine nationale Klasse, die zu begrenzten Kämpfen gegen den Imperialismus fähig ist. Je mehr der Imperialismus seine Krise offen auf Kosten der herrschenden Klasse der Halbkolonie Löst, desto mehr neigt letztere zu rhetorischem und sogar tatsächlichem Widerstand.

Dies macht die nationale Bourgeoisie oder Teile von ihr keineswegs revolutionär. Aber solange bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte über einen realen Masseneinfluß im antiimperialistischen Kampf verfügen, ist es notwendig, daß die Arbeiterklasse die Taktik der antiimperialistischen Einheitsfront anwendet. Das betrifft auch taktische Vereinbarungen mit nicht-proletarischen Kräften sowohl auf Führungsebene als auch an der Basis. Solche Absprachen können formale Bündnisse oder Komitees einschließen. Wo dies der Fall ist, sind die grundlegenden Voraussetzungen für die Teilnahme an einem solchen Block, daß die bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kräfte tatsächlich einen Kampf gegen den Imperialismus oder seine Agenten führen, daß der politischen Unabhängigkeit der revolutionären Organisation innerhalb dieses Blocks keinerlei Beschränkungen auferlegt werden und daß keine bedeutenden Kräfte, die gegen den Imperialismus kämpfen, bürokratisch ausgeschlossen werden. Es ist sogar möglich, diese Einheitsfront im Rahmen von Basisstrukturen einer Massenorganisation mit Volksfrontcharakter, in der sich getrennte Klassenparteien noch nicht herausgebildet haben, zu bilden. Zentral ist dabei, daß diese Einheit auf die Mobilisierung breitester antiimperialistischer Kräfte für genau definierte gemeinsame Kampfziele, wie die Einführung demokratischer Rechte und die Vertreibung der Imperialisten, gerichtet ist.

Während die Kämpfe der halbkolonialen Bourgeoisie darauf abzielen, ihren eigenen Ausbeutungsradius zu erweitern, droht mit dem Eintritt der Arbeiterklasse in den Kampf, die Ausbeutung überhaupt abgeschafft zu werden. Deshalb gibt es nichts konsequent Antiimperialistisches oder Revolutionäres an der halbkolonialen Bourgeoisie, und es sollte für sie kein Dauerplatz in der antiimperialistischen Einheitsfront reserviert werden. Der Zweck der Aktionen der antiimperialistischen Einheitsfront muß die Unterstützung des Proletariats bei der Mobilisierung der Massen sein, so daß diese die – ihnen von ihren traditionellen Führungen und Organisationen auferlegten – Schranken durchbrechen. Deshalb muß das Proletariat die kühnsten Formen der direkten Massenaktion und Massenorganisation, Streikkomitees, Volksversammlungen, Massenveranstaltungen (cabildos) etc., die die Entwicklung von Arbeiter- und Bauernräten, Arbeitermilizen und Soldatenkomitees fördern, vorantreiben.

Das Proletariat darf „linke“ Regimes nie politisch unterstützen oder an deren Unterdrückung demokratischer Rechte mitwirken. Die Avantgarde der Arbeiterklasse soll, solange demokratische Freiheiten existieren und die Mehrheit der Arbeiter und Arbeiterinnen ein solches Regime noch unterstützt, einen bewaffneten Aufstand gegen diese Regierungen unterlassen. Die einzig mögliche Unterstützung für diese Regimes besteht im gemeinsamen militärischen Vorgehen gegen einen reaktionären Putsch oder gegen eine imperialistische Intervention. Trotzkisten und Trotzkistinnen können demzufolge militärische Aktionen bürgerlicher Regierungen gegen den Imperialismus unterstützen. Aber wir werden zu keinem Zeitpunkt von unserem Kampf zum Sturz und zur Ersetzung dieser Regierung durch eine Arbeiter- und Bauernregierung ablassen.

Die Nationalisten und Reformisten wollen die Aktionsfront gegen den Imperialismus immer in einen strategischen Block zur Erreichung der politischen Macht (also in eine Volksfront) verwandeln. Sie versuchen die antiimperialistischen Kräfte in einer Regierungskoalition, die das Überleben des „nationalen Kapitals“ gegen die sozialistische Revolution garantiert, zusammenzufassen. Revolutionäre Kommunistinnen und Kommunisten kämpfen für die Errichtung von Regierungen, die sich auf Räte und Milizen der Arbeiter und Bauern stützen. Nur eine Regierung des Proletariats, im Bündnis mit der armen Bauernschaft, kann die unvollendeten Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution Lösen. Der Klasseninhalt einer solchen Regierung ist im vorhinein festgelegt. Die Losung lautet: Für eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung! Eine solche Regierung wird nicht, ja kann nicht die Revolution auf eine eigenständige demokratische Etappe beschränken, denn andernfalls wird sie unter dem Druck der Konterrevolution zusammenbrechen. Diese Perspektive befähigte die Bolschewiki, die radikalisierten Bewegungen des Kleinbürgertums, wie die linken Sozialrevolutionäre und die Volksparteien Zentralasiens, auf ihre Seite zu ziehen. Die Gründung eines strategischen Blocks mit diversen linken Kräften ohne dieses Kampfziel wird nur den Weg zur Diktatur des Proletariats versperren. Der Eintritt in eine Regierung oder Regierungskoalition, die die Aufrechterhaltung des Privateigentums und dessen Armee und Staat zur Grundlage hat, ist die höchste Form des Verrats am Proletariat.

Die Arbeiterklasse und die Guerillastrategie

Trotzkistinnen und Trotzkisten stehen in Opposition zur Strategie des Guerillakrieges, gleichgültig, ob in einer „Focus“- oder „Volkskriegsvariante“. Der kleinbürgerliche Guerillaismus widersetzt sich dem Aufbau einer Arbeiterpartei, von Arbeiterräten und der Organisierung des bolschewistischen Aufstandes. Durch ein klassenübergreifendes Programm will er die proletarischen Interessen dem Kleinbürgertum unterordnen. Der Guerillaismus möchte bürokratische Organisationen durchsetzen und die Entwicklung von Arbeiterräten und unabhängigen, demokratischen Arbeitermilizen umgehen. Sogar dort, wo es ihm gelingt, verfaulte Diktaturen wie in Kuba und Nicaragua zu Fall zu bringen, eröffnet er den Weg für eine bonapartistische Lösung. Egal ob die Siege der Guerilla – ausnahmsweise – bürokratische soziale Umstürze oder – wie meist – militärisch-bonapartistische Regime mit sich brachten: Sie waren immer von der Zerschlagung der unabhängigen Organisationen des Proletariats begleitet.

Hinter ihrer ultralinken Phraseologie und Methode versteckt sich in der Tat ein starkes Mißtrauen in die Arbeiterklasse und eine Neigung zu Abkommen mit Teilen der Bourgeoisie. Diese Politik beinhaltet, daß die politische Führung der städtischen Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum überlassen wird. Insoweit der Guerillaismus eine Massenbasis für seine Aktionen (wie im „Volkskrieg“) sucht, ordnet er die unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse dem Kleinbürgertum unter. In diesem Sinne hat der Guerillaismus als Strategie immer die Tendenz, eine bewaffnete Volksfront zu verkörpern.

Der Guerillaismus entwertet den politischen und ökonomischen Kampf zu Gunsten gelegentlicher und oft willkürlicher militärischer Aktionen. Der individuelle Terror, die Zerstörung von Fabriken (Zentren der proletarischen Konzentration) und spektakuläre Militäraktionen sind Methoden, die der Strategie der Arbeiterklasse entgegengesetzt sind. Entgegen dem Marx’schen Postulat, daß die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein könne, glaubt der Guerillaismus, daß die Befreiung das Werk außenstehender Retter sein wird. Durch ihre undemokratische und elitäre Haltung gegenüber den Massen, die sie zu vertreten vorgeben, können Guerillaführer diese angesichts überlegener staatlicher Militärkräfte und Wachmannschaften häufig schutzlos zurücklassen. Das Abziehen der furchtlosesten und kämpferischsten Arbeiterinnen und Arbeiter von den Fabriken, den Stadtzentren, den dicht besiedelten ländlichen Gebiet bedeutet, daß den Arbeiter- und Bauernorganisationen ihre Kader und Führer entzogen werden. Wie im Fall von ‚Sendero Luminoso‘ in Peru können Guerilleros auch die Arbeiterorganisationen selbst angreifen .

Für Trotzkistinnen und Trotzkisten ist der Guerilla-Kampf aber eine Taktik, die im antiimperialistischen Kampf angewendet werden kann. Wir lehnen die militärische Einheitsfront mit Guerilla-Armeen nicht ab, weder in der Form von eigenen Bataillonen noch in der Form von kommunistischer Zellenarbeit innerhalb von bürgerlich oder stalinistisch geführten Armeen. Das Ziel dieser militärischen Einheitsfront ist jedoch die Vorbereitung einer weitverzweigten und unabhängigen Bewaffnung der Arbeiterklasse und der armen Bauern. Über diesen Weg kämpfen Kommunistinnen und Kommunisten darum, die Guerilla-Armeen und deren politische Apparate zu zwingen, die Plantagenbesitzungen zu enteignen, die Landbesetzungen zu unterstützen und die Unabhängigkeit der Arbeiter- und Bauernräte und deren Milizen anzuerkennen.

Das bleibt jedoch eine untergeordnete Taktik gegenüber einer Strategie, deren zentrale Vorkämpferin die Arbeiterklasse selbst ist. Das Programm der permanenten Revolution ordnet jede militärische Aktion den politischen Notwendigkeiten unter, die vom vorhandenen Niveau des Klassenkampfes und dem revolutionären Bewußtsein der Arbeiter und der armen Bauern bestimmt werden. Eine breite militärische Aktion der bewaffneten Miliz in Stadt und Land sollte im allgemeinen nur dann unternommen werden, wenn eine Doppelmacht besteht und eine weitreichende Arbeiterkontrolle die Organisierung des Aufstandes zur unmittelbaren Notwendigkeit macht. Wir lehnen alle breiten Militäraktionen mit ausdrücklich nicht-defensivem Charakter kategorisch ab, die die Massen politisch passiv lassen. Unter allen Umständen hat die Arbeiterklasse ihre Unabhängigkeit und ihre Opposition gegenüber dem Guerillaismus zu behaupten. Sie muß alle Aktionen, die ihren Perspektiven entgegengesetzt sind, kritisieren und in extremen Fällen verurteilen.

In den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den kleinbürgerlichen Guerillaarmeen und dem bürgerlichen Staat verteidigen wir sie immer gegen die staatliche Repression. Wir sprechen dem Staat das Recht ab, diejenigen zu verurteilen, die gegen ihn kämpfen. Wir kämpfen für die Anerkennung des Kriegsgefangenenstatus der gefangengenommenen Guerilleros und für deren Befreiung. Wenn Guerilleros Arbeiterorganisationen angreifen, rufen wir zu deren Verteidigung nicht um die Hilfe des kapitalistischen Staates. Wir verlangen, daß die Arbeiterbewegung selbst, in Versammlungen und in den Gewerkschaften, ein Urteil ausspricht, indem die Arbeiter und Bauern eigene Verteidigungskommandos gegen diese Guerilla-Angriffe organisieren. Wir weichen vor der unvermeidlichen militärischen Konfrontation mit den bürgerlichen und stalinistischen Kommandeuren nicht zurück, die das Ergebnis voneinander abweichender Programme des Proletariats und des Kleinbürgertums ist.




Staatsstreiche bedrohen Frankreichs Kontrolle über ehemalige afrikanische Kolonien

Dave Stockton, Infomail 1232, 20. September 2023

Am 26. Juli nahm die Präsidentengarde in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, unter Führung des Brigadegenerals Abdourahamane Tchiani den Präsidenten Mohamed Bazoum fest und verschleppte ihn. Gerüchte besagen, dass der Auslöser für diesen Putsch Bazoums Plan zur Ersetzung der Kommandostellen in Präsidentengarde und Armee war.

Der Rest der Armee unterstützte sofort den Staatsstreich, der auf den Straßen auch von Demonstrant:innen begrüßt wurde. Einige der Demonstrationen waren  vom M62-Bündnis politischer und sozialer Bewegungen organisiert, das während der letztjährigen öffentlichen Proteste gegen die gestiegenen Spritpreise gebildet worden war. Die Demonstrant:innen schwenkten nicht nur die Fahnen Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“. Redner:innen forderten den Einsatz der Truppen der russischen Wagnersöldner:innen in Niger wie schon im benachbarten Mali, wo diese 2020 den putschenden Führer:innen halfen, den Rückzug der französischen Streitkräfte aus dem Land zu beschleunigen.

Der Staatsstreich im Niger steht in einer Reihe mit gleichartigen Vorfällen im Südsaharagürtel Afrikas – Guinea, Burkina Faso, Tschad, Sudan und nun, knapp einen Monat nach Niger, Gabun in Äquatorialafrika. Alle außer dem Sudan waren früher französische Kolonien, in denen Frankreich starke Wirtschaftsverbindungen und oft Militärpräsenz unterhielt unter dem Deckmantel der „Bekämpfung des Terrorismus“. Gabun ist wiederum Mitglied des britischen Commonwealth.

Ein antikoloniales Erbe unter rangniederen Offizier:innen in westafrikanischen Streitkräften reicht zurück bis zu Leuten wie Thomas Sankara, der in Burkina Faso von 1983 – 1987 herrschte, und Jerry Rawlings in Ghana. Sie waren beide von panafrikanischen Idealen beseelt und von der kubanischen Revolution beeinflusst. Doch wenig spricht dafür, dass die jetzigen Putschist:innen von diesem Radikalismus angetrieben sind. Sie gehören eher einer anderen Tradition an, dem „Prätorianismus“, d. h. Revolten der privilegierten Präsidentengarde gegen ihre Vorgesetzten.

Heuchelei auf allen Seiten

Gewiss waren die „demokratischen“ Präsidenten, die sie aus dem Weg räumten, oft korrupt und ihre (Wieder-)Wahl mit schweren Makeln behaftet. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die Putschist:innen sich als weniger korrupt erweisen werden oder gar demokratischer als die Figuren, die sie ersetzt haben. Die Idee, dass die Wagnergruppe, Putins Russland oder chinesische Investor:innen den Staaten der Region zu größerer Unabhängigkeit verhelfen werden, ist völlig abwegig.

Genauso falsch sind die Behauptungen Frankreichs, der Europäischen Union oder USA, dass sie dagegen die Schöpfer:innen bedeutsamer Demokratie seien und jemals den extrem niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung dieser Länder heben würden. Niger weist einen der niedrigsten sozialen Entwicklungsindizes (HDI) in der Welt auf. 41 % der Einwohner:innen darben in absoluter Armut, nur 11 % haben Zugang zu medizinischer Versorgung und 17 % leben mit Strom.

Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich hat diesen Staatsstreich verurteilt, nicht allein, weil Bazoum ihr Schützling war, sondern weil Niger vorgesehen war als Zentrum für eine neu geordnete französische und US-amerikanische Dominanz in der Region nach den Rückschlägen in Mali und den Nachbarstaaten. Präsident Emmanuel Macron drohte damit, dass „kein Angriff auf Frankreich und seine Interessen geduldet werden wird“. Frankreich ist im Niger noch mit einer Truppenstärke von 1.500 Kräften vertreten, die USA hat 1.100, und sie haben sich geweigert, Brigadier Tchianis Verlangen nach ihrem Rückzug anzuerkennen.

Die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) hat sofortige Sanktionen verhängt, Flugverbotszonen und Grenzschließungen erlassen. Ihr dominierender Staat, Nigeria, hat die Energiezufuhr unmittelbar unterbunden, Grenzen geschlossen und Lebensmitteltransporte blockiert. Die Preise für Hauptnahrungsmittel wie Reis schossen innerhalb von wenigen Tagen der Blockade schlagartig in die Höhe. Ziel ist, die Bevölkerung auszuhungern, um die Wiedereinsetzung von Frankreichs Protegé herbeizuführen.

Die Verteidigungsminister:innen der Ecowas-Länder haben auf ihrer Zusammenkunft in der nigerianischen Hauptstadt Abuja auch eine militärisches Eingreifen angedroht, falls Bazoum nicht ins Amt zurückkehrt. Dieses würde von der nigerianische Armee angeführt, die den Großteil der Ecowas-Truppen stellt. Diese Aussicht wiederum hat Mali, Tschad und Burkina Faso veranlasst, Niger zu Hilfe zu eilen, falls die Ecowas-Verbände einmarschieren. Damit könnte ein Krieg in der gesamten Region entbrennen. Französische Minister:innen haben diesem Vorgehen zugestimmt, doch die Verantwortlichen der US-Administration gehen vorsichtiger zu Werke und scheinen Verbindungen zwischen den Militärregierungen der Region herstellen zu wollen, um russische Fortschritte aufzuhalten.

Ein Krieg in der Region wäre ein Geschenk für die verschiedenen dort operierenden  islamistischen Organisationen. Darunter befinden sich die Jama’a Nusrat ul-Islam wa al-Muslimin (Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime; JNIM), der Islamische Staat der Provinz Westafrika (ISWAP), der Islamische Staat in der Größeren Sahara (ISGS), al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM), Murabitunmiliz (Westafrika), Ansar Dine (Unterstützer des Glaubens), Katiba Macina (Befreiungsfront Macina; MLF)und Boko Haram (Übers. etwa: Verwestlichung ist ein Sakrileg). Sie haben sich bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber regionalen Armeen und deren französischen Ausbilder:innen erwiesen. Diese Gruppen terrorisieren Teile der ansässigen Bevölkerung, erhalten aber auch Unterstützung von anderen Teilen der Einwohner:innen. Die Brutalität der „antiterroristischen“ Einheiten hilft ihnen, arbeits- und perspektivlose Jugendliche zu rekrutieren.

Koloniale Ausbeutung

Der Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht allein die brutale koloniale Erfahrung zugrunde, selbst nicht die wiederholten militärischen Interventionen in den früheren Kolonien, um die „Ordnung zu bewahren“ oder „französische Bürger:innen zu retten“, sondern vielmehr die ökonomische Ausbeutung der reichen natürlichen Ressourcen der Region in Verbindung mit dem Scheitern, eine sichtbare Wirtschaftsentwicklung in Gang zu bringen.

Frankreich unterhält gegenwärtig etwa 30 Firmen oder Niederlassungen in Niger, darunter das Orano-Konsortium, das in der riesigen Tamgak-Mine nach Uran schürft. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Rohstoffe sind seit langem lebenswichtig für Frankreichs Nuklearindustrie, die 68 % des Stroms für das Land erzeugt. Es gibt auch größere Lithiumvorkommen, die immer wertvoller für die schnell wachsende Elektroautoindustrie werden. Doch dennoch oder gerade deswegen rangiert Niger immer noch auf Platz 189 unter 191 Ländern laut HDI der Vereinten Nationen von 2022.

Der Machtwechsel in Niger ist ein weiterer Schlag für Frankreich, und im weiteren Sinne auch für die USA, Großbritannien und Staaten wie Deutschland und Italien, die französische Truppen in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt und damit zugleich den Hass gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu angefacht haben, denn sie haben weder die versprochene Sicherheit gebracht noch die Armut gelindert. Diese Umstände haben die Infiltration der Wagnergruppe in der Region begünstigt. Die russische Söldnertruppe operiert bereits im benachbarten Mali wie auch in der Zentralafrikanischen Republik, wo sie auch an der Ausbeutung der dortigen Goldminen beteiligt ist. Das Wagner-Kommando befehligte 5.000 Einsatzkräfte in 12 Ländern innerhalb Afrikas. Der Anführer Jewgeni Prigoschin begrüßte noch kurz vor seinem Tod den Putsch im Niger.

Nigers Ex-Präsident Bazoum war ein besonders enger Verbündeter Frankreichs. Deswegen ist sein Sturz ein eminent harter Schlag für Emmanuel Macron. Nach der erzwungenen Auflösung von „antiterroristischen“ Gemeinschaftsoperationen mit fünf Nationen und der demütigenden Vertreibung seiner Truppen aus Mali hatte er das Land als neues Zentrum einer Operation geringeren Ausmaßes ausersehen, die mit Unterstützung von westafrikanischen Militärpartner:innen, ausgebildet von französischen Spezialist:innen vorgehen sollte.

Diese neue Strategie sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, die auf ihrem Höhepunkt 3.500 französische Soldat:innen im Einsatz sah. Frankreich hatte sich in einen neunjährigen militärischen Konflikt mit islamistischen Guerillas verwickelt und auch tausende Truppen in Niger und Burkina Faso stationiert. Ihre Präsenz erzürnte die Bevölkerung vor Ort. Unter wachsenden Streiks und Protesten waren die französischen Einheiten gezwungen, Mali zu verlassen, und ebenso eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen.

Das ganze Staatensystem der Region ist ein halbkolonialer Ersatz für Teile des französischen Imperiums und erlangte Anfang der 1960er Jahre nominelle Unabhängigkeit, genannt Françafrique, d. h. Frankreichs „Hinterhof“. Seine Bestandteile sind in den vergangenen 5 Jahren wie Dominosteine gefallen. Doch Frankreichs Banken und Minenkonzerne beherrschen immer noch die Ökonomien der westafrikanischen Länder. Diese äußerst schwachen Staaten sind trotz wiederholter Anstrengungen nicht in der Lage gewesen, ein gemeinsames Währungssystem unabhängig von der Banque de France aufzubauen. Der CFA-Franc ist weiterhin die gemeinsame Währung für 14 afrikanische Staaten, auch Gabun, und das bedeutet, dass jedes Mitgliedsland die Hälfte seiner Devisenreserven in Paris deponieren muss.

Dieses unverhüllt ausbeuterische halbkoloniale System und die wirtschaftlichen Entbehrungen, die es den Ländern auferlegt, erklärt etwas die anfängliche Begeisterung für den Staatsstreich. Aber die Hinwendung zum russischen oder chinesischen Imperialismus wird der Region keine Lösung für die Unterentwicklung bieten, die Hunderttausend in das Wagnis treibt, die Wüste und das Mittelmeer zu überqueren, um Europa zu erreichen.

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Tötung Prigoschins und des Führungskerns der Wagnergruppe und ihre Ersetzung durch russische Generäle sie weniger wirkungsvoll machen wird als bisher. Auch die neuen Militärregierungen werden nicht widerstandsfähiger sein gegen Korruption und Bestechung durch westliche, russische oder chinesische Regierungen und Unternehmen. Keines dieser rivalisierenden Lager kann diesem Teil Afrikas Entwicklung oder gar Unabhängigkeit bescheren.

Was tun?

Im Verlaufe einer französischen, US- oder Ecowas-Militärintervention sollten Arbeiter:innen und Jugendliche ihre Länder verteidigen, indem sie sich einem bewaffneten Kampf anschließen, und danach streben, an die Spitze einer nationalen Befreiungsbewegung zu gelangen. Doch sollten sie der Militärherrschaft der Putschführer:innen keine politische Gefolgschaft leisten, die sich dem russischen Imperialismus andienen und keine Freund:innen der Arbeiter:innenklasse sind.

Ein solcher Befreiungskampf könnte zur Schaffung von Arbeiter:innenräten führen, die Demokratie, Frauen- Gewerkschafts- und Minderheitenrechte verteidigen und als Organisatoren von Wahlen für  souveräne verfassunggebende Versammlungen mit abrufbaren Delegierten auftreten. Aber freie Wahlen allein werden nicht ausreichen, um die krasse wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zu lösen. Dafür müssen die großen ausländischen Firmen, die die Rohstoffindustrien und Handelsfirmen kontrollieren, unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und in einen Entwicklungsplan aufgenommen werden.

Damit dies eine realistische Perspektive wird, muss die Arbeiter:innenklasse  in Niger und ganz Westafrika revolutionäre Parteien aufbauen, die für das Ziel einer sozialistischen Föderation der gesamten Region kämpfen. Das heißt, Einheit herzustellen über die künstlichen Grenzen der Kolonialzeit hinweg und quer durch die französisch- und englischsprachigen Teilungen. Der Kampf muss aufgenommen werden für die Kontrolle über die gewaltigen natürlichen und industriellen Ressourcen dieser Länder und deren Einplanung in eine massive Hebung des Lebensstandards der Bevölkerungen. Kurzum, eine echte antiimperialistische Revolution muss unausweichlich zu einem Kampf für den Sozialismus auf Grundlage von Arbeiter:innendemokratie in Stadt und Land und bei den einfachen Soldat:innen geraten.

Gerade jetzt brauchen die Arbeiter:innen der afrikanischen Sahelzone die Hilfe und Solidarität der Arbeiter:innenschaft Europas und der USA. In diesen Ländern müssen Sozialist:innen gegen jede Ecowas-Invasion des Niger, gegen jede Beteiligung französischer, EU- oder US-Truppen auftreten und müssen für die Aufhebung aller Sanktionen von dieser Seite eintreten.




Zum Todestag von Jina Mahsa Amini: Ein Jahr, das den Iran veränderte

Martin Suchanek, Infomail 1231, 15. September 2023

Am 16. September 2022 starb die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini an den Folgen der Verletzungen, die ihr die sog. Sittenpolizei bei ihrer Festnahme und in der Haft durch brutale Misshandlung zufügte. Doch sie sollte nicht ein weiteres Opfer eines verbrecherischen, despotischen Regimes bleiben, auf dessen Mord durch die Staatsorgane ein zweiter Tod durch das öffentliche Vergessen folgte. Er blieb nicht ungesühnt und auch nicht folgenlos.

Er entfachte eine Welle der Massenproteste und des Widerstandes, wie sie der Iran seit 2009, der sog. grünen Revolution gegen massiven Wahlbetrug des Regimes, nicht gesehen hatte. Nachdem der Tod Jina Mahsa Aminis bekanntgeworden war, gingen in Teheran und zahlreichen anderen Städten Tausende und Abertausende auf die Straße.

Ausbreitung der Bewegung

In den ersten beiden Monaten breitete sich die Bewegung über das gesamte Land und weite Bevölkerungsschichten aus. In den kurdischen Regionen legte sogar ein befristeter Generalstreik das öffentliche Leben lahm. In zahlreichen Städten bildeten die Universitäten ein Zentrum des Widerstandes, mit dem sich die Masse der Bevölkerung, insbesondere auch die Arbeiter:innenklasse solidarisierte. Von Beginn an standen die Frauen und die Jugend im Zentrum der Bewegung, bildeten ihre treibende Kraft, offenbarten den tief sitzenden Hass gegen das Regime. Millionen schlossen sich den Protesten an – trotzten der massiven Repression durch Polizei, Sondereinheiten und paramilitärische Schergen des Regimes.

Doch trotz extremer Brutalität, tausender Festnahmen, Verhaftungen und der Ermordung zahlreicher Demonstrant:innen auch in den ersten Wochen der Protestbewegung ließen sich die Massen nicht einschüchtern. Die Mullahs befanden sich eindeutig in der Defensive. Zu spät und zögerlich wurde eine Auflösung und „Reform“ der verhassten Sittenpolizei ins Spiel gebracht. Vom Regime inszenierte Gegenkundgebungen zu den Protesten blieben viel kleiner als die Massenaktionen der Opposition, offenbarten, wie gering die soziale Basis, wie verhasst die Mullahdiktatur und die politische und soziale Ordnung, die sie mit allen Mitteln verteidigt, waren und sind.

Die Bewegung erschütterte die herrschende Klasse und deren iranische Spielart des Kapitalismus. Aber sie vermochte trotz eines unglaublichen Heroismus nicht, das Regime zu stürzen. Der Staatsapparat und die Repressionsorgane wurden zwar erschüttert, aber ihr innerer Zusammenhalt und ihre Einsetzbarkeit gegen die Bewegung wurden nicht gebrochen. Das betraf nicht nur die direkten, professionellen inneren Repressionsorgane und paramilitärische Stützen des Regimes, sondern vor allem auch die Armee samt ihren rund 220.000 Wehrpflichtigen.

Die Reaktion schlägt zurück

Dies ermöglichte dem Regime, ab Ende 2022 immer massiver und zielgerichteter gegen die Bewegung vorzugehen. Es ertränkte sie geradezu in Blut und Gewalt. Weit mehr als 500 Demonstrierende wurden im letzten Jahr getötet. Insgesamt sollen rund 20.000 Menschen verhaftet worden sein. Außerdem wurden Dutzende aufgrund ihrer Beteiligung an der Bewegung oder als angebliche Rädelsführer:innen in Schauprozessen und Schnellverfahren zum Tode verurteilt und exekutiert. Insgesamt wurden seit September 2022 rund 500 Hinrichtungen vollstreckt. Die sog. Sittenpolizei verblieb in Amt und Würden.

Auch wenn die Bewegung zurückgedrängt und das Regime wieder konsolidiert wurde, so wurde bis heute die alte Ordnung nicht vollständig wiederhergestellt. Noch immer gehen Frauen mit offenen Haaren auf die Straße und brechen öffentlich die reaktionären Bekleidungsvorschriften des Regimes – trotz verschärfter Repression und drakonischer Strafen. Auch wenn diese Heldinnen gewissermaßen die Speerspitze der Entschlossenheit darstellen, so ist es nach wie vor gerade in den Städten kein Randphänomen und ihre Taten werden von vielen in der Bevölkerung mehr oder minder offen unterstützt. Dieser Widerstandswille blieb trotz des Rückgangs der Bewegung ungebrochen.

Doch was sind die Ursachen dafür?

Erstens haben sich die Menschen selbst verändert. Das gilt nicht nur für die Protestbewegung seit dem September 2022, die teilweise vorrevolutionäre Züge annahm. Im Grunde stehen das iranische Regime und die wirtschaftliche Elite seit 2019, dem Beginn einer vor allem von der Arbeiter:innenklasse getragenen ökonomischen und regimefeindlichen Bewegung, immer neuen Mobilisierungen gegenüber. Diese wurden von den Lohnabhängigen, von der städtischen und ländlichen Armut, ja selbst von großen Teilen der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums getragen. 2022 spielten die Frauen eine zentrale Rolle, aber auch die Jugend und die unterdrückten Nationen und Nationalitäten. Viele Aktive aus der Bewegung berichten davon, dass das Bewusstsein für verschiedene Formen gesellschaftlicher Unterdrückung in der Oppositionsbewegung deutlich gestiegen sei.

Hinzu kommt aber auch, dass die Streiks ab dem Jahr 2019 wie auch Massenproteste seit 2022 nicht nur mit Mobilisierungen das Regime erschütterten. Sie führten auch dazu, dass sich eine Schicht von gewerkschaftlich und politisch engagierten Aktivist:innen und Führungskernen bildete, von halblegaler und illegaler Organisation, die einer Bewegung auch in der Repression eine gewisse Kontinuität verleihen können.

Zweitens wurde die Herrschaftsbasis des Regimes dünner. Zweifellos konnten und können sich die Mullahs weiter auf einen aufgeblähten und parasitären Staats- und Repressionsapparat stützen. Sie verfügen auch über ein weitgehendes Monopol über die Medien und mit dem Klerus über einen zusätzlichen zentralen ideologischen Apparat. Sie stützen sich außerdem trotz der ökonomischen Krise nach wie vor auf eine Mehrheit der herrschenden kapitalistischen Klasse, die ihrerseits vom Regime nicht nur begünstigt wird, sondern auf deren parasitäre Sonderinteressen letztlich die Wirtschaftspolitik Teherans ausgerichtet ist.

Doch die Allianz von Bourgeoisie und Theokratie sowie angelagerten Staatsfunktionär:innen und kleinbürgerlichen Schichten, die eng mit dem Staat verbunden sind, verteidigt ihre eigenen Privilegien vor dem Hintergrund einer chronischen Stagnation und Krise, von massiver Inflation, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Massen. Auch wenn Teheran seine internationale Isolierung durch Verbindungen mit China, Russland und das Abkommen mit Saudi-Arabien ein Stück weit durchbrechen kann, so ändert das an der wirtschaftlichen und sozialen Misere wenig. Anders als noch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vermag das Regime längst nicht mehr die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen durch ökonomische Erfolge und Verbesserungen des Konsumniveaus zu befrieden.

Im Gegenteil. Auch das tägliche, „normale“ Leben wird immer schwieriger, immer unerträglicher. Das schlechte Leben fürchten viele mittlerweile mehr als Repression und Todesgefahr. Daher halten so viele trotz der Brutalität des Regimes an ihrem Widerstand oder jedenfalls an ihrer Sympathie dafür fest. Denn nur dieser verspricht Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben.

Diese chronische Krise, ja Sackgasse, in der das politisch-ökonomische Gesamtsystem des Iran steckt, hat zu einer extremen Entfremdung der Mehrheit der Bevölkerung geführt, aller, die nicht über Privilegien, Profite und Klientelismus mit dem Regime verbunden sind. Dessen Herrschaft muss sich mehr und mehr auf Gewalt und Repression stützen. Damit ist auch die nächste Revolte, der nächste gesellschaftliche Ansturm vorprogrammiert. Am Jahrestag der Proteste, die Jina Mahsa Aminis Tod entfacht hat, wird es sicher wieder zu Aktionen und Demonstrationen im ganzen Land kommen. Auch wenn es leider unwahrscheinlich ist, dass diese die Bewegung neu entfachen werden, so sollten wir nicht vergessen, dass zwischen den Massenmobilisierungen 2019 und 2022 nur drei Jahre lagen. Auch wenn wir nicht überoptimistisch sein dürfen und damit rechnen müssen, dass es einige Zeit dauert, bis sich die Aktivist:innen und die Bewegung von 2022 neu und möglicherweise auch um einen neuen Fokus wieder formiert, so ist eine nachhaltige politische, soziale und ökonomische Konsolidierung des Regimes nahezu ausgeschlossen.

Umso wichtiger ist es, die Lehren daraus zu ziehen, warum die Bewegung 2022 das Regime nicht stürzen und ihre Ziele nicht erreichen konnte. Dies ist unerlässlich, wenn wir uns darauf vorbereiten wollen, bei einem nächsten Ansturm erfolgreich zu sein.

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und die Bildung von Soldat:innenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder musste sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit denen ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des westlichen „demokratischen“ Imperialismus). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung gipfelt, entstehen nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




50. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma

Anlässlich des 50. Jahrestages der blutigen Zerschlagung der chilenischen Revolution veröffentlichen wir im Folgenden erneut eine Analyse aus dem Jahr 2003. Die darin dargelegten Schlussfolgerungen sind leider weiterhin gültig. Der Putsch des Generals Pinochet kostete Zehntausenden den Tod. Der demokratische Imperialismus der USA und ihrer Verbündeten zeigte einmal mehr sein wahres Gesicht. Die Zerschlagung der Revolution offenbarte aber auch die politische Sackgasse der chilenischen Volksfront unter Allende. Wenn wir heute die Revolutionär:innen, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen und Bäuer:innen ehren, die sich heldenhaften der Konterrevolution entgegenstellten, so müssen wir auch die politischen Lehren aus der Niederlage ziehen, auf dass sie sich nie wiederholen möge.

Hannes Hohn, Infomail 1231, 11. September 2023

Am 11. September 1973 ging in Santiago de Chile der Präsidentenpalast, die Moneda, in Flammen auf. Das Militär unter General Pinochet putschte gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende und errichtete eine blutige Militärdiktatur.

Der Putsch beendete die Hoffnung von Millionen Chilen:innen auf die Umgestaltung des Landes und auf die Einführung des Sozialismus. Stattdessen herrschte in Chile nun Friedhofsruhe. Fast alle demokratischen Rechte wurden von der Pinochet-Junta außer Kraft gesetzt und Gewerkschaften und Streiks verboten. Die Löhne wurden halbiert, während sich die Arbeitszeit gleichzeitig erhöhte. Diese Folgen des Putsches verdeutlichen, in wessen Sinn und Auftrag der Mörder Pinochet handelte: in dem der Kapitalist:innen.

Die Unidad Popular

Im Dezember 1969 verabschiedete die Unidad Popular (UP) ein Programm, das verschiedene Reformen und die Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche vorsah. Letztere betraf auch die US-amerikanischen Anteile von fast 50% am Hauptwirtschaftszweig Chiles, dem Kupferbergbau.

Doch anders, als es viele noch heute glauben, war das Programm der UP kein revolutionär-sozialistisches. Ein solches hätte beinhalten müssen, den bürgerlichen Staat (darunter auch den Gewaltapparat) zu zerschlagen und ihn durch Arbeiter:innenräte und -milizen zu ersetzen. Ein solches Programm hätte auch nicht bei der Verstaatlichung einiger Wirtschaftsbereiche stehen bleiben dürfen; es hätte auf die Enteignung der Bourgeoisie als Ganzes und die Einführung einer demokratischen, auf Räte basierenden Planwirtschaft gerichtet sein müssen.

Das Programm der UP Allendes war, trotz seiner sozialistischen Phraseologie, ein bürgerlich-demokratisches Programm.

Die UP war ein (Wahl)Bündnis aus verschiedenen Parteien und Bewegungen, deren wichtigste Kräfte die Sozialistische Partei (SP) und die stalinistische KP waren. Sie stützte sich sozial v. a. auf die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und die ländliche Armut.

Die Unidad Popular war keine zeitweilige, begrenzte Einheitsfront, sondern ein strategisches (Regierungs)Bündnis zwischen Parteien des Proletariats und offen bürgerlichen Kräften – auch wenn diese wie die „Radikale Partei“ zahlenmäßig relativ bedeutungslos geworden waren.

Damit diese – von Marxist:innen „Volksfront“ genannte – Allianz überhaupt zustande kommen konnte, war ein Programm nötig, das strategische Zugeständnisse an die herrschende Klasse machte: den Erhalt des Privateigentums, soweit es nicht zum ausländischen Großkapital gehörte, und des bürgerlichen Staatsapparats.

Nicht der revolutionäre Sturz des Kapitalismus, sondern der Versuch einer Aussöhnung der unvereinbaren Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie lag der Unidad Popular zugrunde.

Triumph mit Schatten

Im September 1970 wurde sie mit 36,3 % stärkste Kraft im Parlament und Salvador Allende (SP) zum Präsidenten gewählt. Der Sieg der Unidad Popular beruhte jedoch weniger auf der Originalität ihres Volksfrontprogramms, sondern v. a. darauf, dass ihre sozialistischen Versprechungen den Erwartungen der Massen entsprachen.

Seit Ende der 1960er war Chile in Unruhe. Die Wirtschaftskrise und die Verschlechterung der Lebenslage der Massen hatten Folgen: Proteste, Streiks und spontane Landbesetzungen nahmen zu. Die Arbeiter:innenklasse, die städtische und ländliche Armut waren in Bewegung geraten. Nicht verwunderlich also, dass die Massen ihre Hoffnungen auf eine grundsätzliche Wende in „ihre“ vorhandenen Arbeiter:innenparteien, die SP und die KP, projizierten. Als diese sich dann zur UP zusammenschlossen, schienen sie stark genug zu sein, „alles zu wagen“.

Doch die siegreiche Unidad Popular hatte zwei Gesichter. Das eine stand für Reformen. Die Neuerungen fingen bei einem täglichen Liter Milch für Chiles Kinder an und reichten bis zur Enteignung von US-Unternehmen.

Doch die Kehrseite der Politik der UP und ihres Präsidenten Allende sollte bald alle Verbesserungen der ersten Periode der Volksfront in Gefahr bringen. Der alte bürgerliche Staatsapparat nämlich blieb bestehen, v. a. die Machtpositionen der Armee und der Sicherheitskräfte blieben unangetastet – im Gegenzug für ihre „Loyalität“. Trotz aller Verstaatlichungen funktionierte die Wirtschaft immer noch auf kapitalistische Art und große Bereiche der Wirtschaft – v. a. der in Chile große Sektor der Klein- und Mittelbetriebe – blieben, wie sie waren.

Um überhaupt auf parlamentarischem Weg zum Präsidenten gewählt zu werden, war Allende auf die Stimmen nicht nur der Volksfront (einschließlich ihrer bürgerlichen Komponenten) angewiesen, sondern auch auf jene der Christdemokrat:innen, der klassischen Partei der chilenischen „nationalen“ Bourgeoisie. Diese lies sich ihre Zustimmung mit grundlegenden Garantien der bürgerlichen Legalität erkaufen – Unantastbarkeit der bestehenden staatlichen Institutionen (Justiz, Polizei, Armee), Verzicht auf die Bildung von Volksmilizen, Respekt vor den Rechten der bürgerlichen Opposition (Privateigentum an den Medien; Freiheit ihrer Organisationen einschließlich der faschistischen Patria y Libertad).

Der von der Volksfront angestrebte Klassenkompromiss und die Zusicherungen an die chilenische Klein- und Mittelbourgeoisie schienen Allende und seinen UP- Partner:innen ein Garant dafür zu sein, dass Wirtschaft, Staatsapparat und Armee sich verfassungskonform verhalten würden. Anfangs, als die Vertreter der alten Ordnung in der Defensive waren, schien das auch der Fall zu sein. Doch es sollte sich bald ändern.

Volksfront in der Krise

Die Anfangserfolge der UP zogen die Massen ebenso stark an, wie sie die Bourgeoisie abschreckten. Die bürgerlichen Kräfte formierten sich. Die faschistische Bewegung Patria y Libertad (PyL = Vaterland und Freiheit) wurde zum Attraktionspol für alle, die dem Volksfrontprojekt überhaupt den Garaus und alle Reformen und sozialen Errungenschaften rückgängig machen wollten. Die PyL griff mit offenem Terror Arbeiter:innen und Bäuer:innen, Gewerkschafter:innen und Linke an.

Aufgeschreckt durch die Enteignung des US-Kapitals übten die USA Druck auf den Kupferweltmarktpreis aus. Daraufhin verfiel dieser, wodurch Chile enorme Einnahmen entgingen. Zugleich wurden auf Druck der USA zugesagte Kredite zurückgezogen. Auch die chilenischen Kapitalist:innen zogen ihr Kapital aus Chile ab.

Die Folge davon waren leere Staatskassen. Dem versuchte die Regierung durch das Anwerfen der Geldpresse zu begegnen, was verstärkte Inflation zur Folge hatte. Die wirtschaftliche Flaute bewirkte, dass sich immer größere Teile der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums von der UP ab- und der bürgerlichen Opposition zuwandten. Zugleich übten sie auf den Staatsapparat und die Armee immer größeren Druck aus, Allende zu stürzen – ein Militärputsch wurde immer wahrscheinlicher.

Zunächst jedoch gingen nicht Soldaten, sondern (klein)bürgerliche Frauen auf die Straße und protestierten auf demagogische Weise mit leeren Töpfen gegen den Mangel, den sie selbst allerdings weniger verspürten als die Lohnabhängigen und die Armut auf dem Land. Dann – ab Oktober 1972 – streikten die Kleinkapitalist:innen, besonders die Fuhrunternehmer:innen und legten das ganze Land lahm.

Begleitet wurden diese dramatischen Ereignisse durch Komplotte und Intrigen hinter den Kulissen. Eine reaktionäre Allianz von CIA, US State Departement, PyL, Generälen und hohen Staatsbeamten plante Mordanschläge gegen Allende, boykottierte die UP-Politik, terrorisierte Arbeiter:innen und Bäuer:innen, ermordete linke Aktivist:innen und selbst regierungstreue Generäle.

Im Juni 1973 schließlich verhinderten zehntausende Proletarier:innen einen von der Reaktion geplanten Marsch auf Santiago. Diese Monate der Unruhe vor dem Sturm deuteten unübersehbar auf die nahe Entscheidungsschlacht hin. Allende und die UP jedoch hielten weiter an ihren Illusionen von Klassenkompromiss und Verfassungstreue fest.

Die Volksfront hatte ihr Reform-Pulver bald verschossen und geriet immer stärker unter Druck. Auch die Massen wurden nun mit Allendes Reformen zunehmend unzufriedener, ohne jedoch mit der UP politisch zu brechen.

Die Landreform wurde nicht konsequent umgesetzt, wodurch viele Landlose oder Landarme nicht genügend Fläche bekamen, um davon existieren bzw. mit größeren Betrieben konkurrieren zu können. Die Landbevölkerung griff deshalb zu spontanen Besetzungen und bildete gegen die reaktionär-faschistischen Terrorbanden der Reichen Selbstschutzorgane.

Wirtschaftskrise, Inflation und die von den (Transport)Kapitalisten erzeugte Versorgungskrise rief auch die Arbeiter:innenklasse auf den Plan. Sie verlangte nicht nur energische Maßnahmen gegen die Unternehmerboykotte von der Regierung. Sie organisierte sich auch selbst in betrieblichen und Wohngebietskomitees, sie bildete Milizen (die tw. bewaffnet waren), sie besetzte Betriebe und übte die Kontrolle aus – zum Schluss über fast 1.000 Unternehmen!

Wie reagierte Allendes „Regierung des Volkes“ auf diese Ansätze von Selbstorganisation und -bewaffnung der Massen?

Sie verurteilte die „linksradikalen“ Aktionen und rief zur „Mäßigung“ auf, um die Bürgerlichen nicht aufzuschrecken und zu noch größerem Widerstand zu ermuntern. Dabei tat sich die „kommunistische“ Partei besonders negativ hervor. Die PyL wurde nicht energisch bekämpft. Polizei und Armee wurden gegen Arbeiter:innen und Bäuer:innen eingesetzt, die „verfassungswidrig“ Unternehmen oder Land besetzt oder sich bewaffnet hatten.

Trotz aller rhetorischen Aufforderungen Allendes an die Massen, die Unidad Popular zu verteidigen, behinderte er real alles, was gegen die Reaktion nötig gewesen wäre. Gegen die Mobilisierungen der Reaktion und deren Putsch-Vorbereitungen gab es nur ein Mittel: Mobilisierung der Arbeiter:innen und der Landarmut.

Die besetzten Betriebe und Ländereien hätten zu Organisationszentren von betrieblichen und lokalen Räten und Milizen werden und diese regional und landesweit zentralisiert werden müssen. Anders als in der russischen oder auch in der deutschen Revolution gab es jedoch in Chile nie eine zentralisierte Rätestruktur, die als Gegenmachtzentrum zur Staatsmacht hätte fungieren können.

Diese hätte den Widerstand gegen die Konterrevolution landesweit organisieren, die Arbeiter:innen und Bäuer:innen bewaffnen und mittels ihrer bewaffneten Macht den bürgerlichen Staat – v.a. die Armee – zerschlagen oder zumindest eine reale Gegenmacht  organisieren können und müssen. Gegen den Wirtschaftsboykott gab es nur einen Weg: Enteignung der gesamten Bourgeoisie und Einführung einer demokratisch geplanten Wirtschaft.

Politik der Linken

Obwohl einige linke Organisationen, besonders die MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) Elemente dieser Strategie verfolgten, fehlte es an einer politischen Partei, die bereits vor 1973 ein revolutionäres Programm in die Vorhut der Arbeiter:innenklasse hätte tragen können und deshalb im entscheidenden Moment stark genug gewesen wäre, die Führung in der Revolution zu übernehmen. Die MIR, zu denen auch die „Trotzkist:innen“ des Vereinigten Sekretariats (VS) gehörten, pendelte aber zwischen opportunistischer Anpassung an die UP und revolutionärer Politik.

So charakterisierte die MIR die Volksfront in den ersten Monaten als „revolutionäre Volksregierung“. Das war die UP aber trotz unbestreitbarer materieller Verbesserungen für die Massen nie. Die UP war keine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung“, die sich gegen den Kapitalismus wandte und sich auf Machtorgane der Klasse stützte, sondern eine, wenn auch durchaus linke bürgerliche Regierung, die selbst ein Bollwerk gegen die Revolution der Massen bildete.

Die Politik der MIR in den ersten Monaten der Volksfront führte aber dazu, dass die Illusionen der Massen in die Regierung Allende bestärkt und nicht bekämpft wurden. Wenn selbst die „revolutionäre Linke“ die Volksfront als „revolutionäre Regierung“ betrachtete – wozu brauchten die Massen dann Räte und eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung? Erst als sich die Volksfront direkt gegen die Arbeiter:innen wandte, ändert die MIR ihre Politik – aber auch das nur inkonsequent.

Zudem hinderte sie ihre strategische Ausrichtung am Guevarismus daran, die Arbeiter:innenklasse als historisches Subjekt der Revolution zu begreifen und systematisch in diesem Milieu zu arbeiten. Die MIR war im wesentlichen eine Organisation, die unter Student:innen und unter der Bäuer:innenschaft verankert war, kaum jedoch im chilenischen Proletariat, das von SP und KP dominiert wurde.

Das Ende

Schon im Sommer 1973 war die UP-Regierung fast handlungsunfähig. Es gab eine Doppelmachtsituation. Hier die Massen mit wenigen Machtmitteln, ohne landesweite Gegenmachtorgane und ohne konsequente revolutionäre Führung hinter der Regierung Allende; dort die Reaktion, die den Staatsapparat und die Armee beherrschte und zu allem entschlossen war. Die UP unter Allende war keine Speerspitze der Massen gegen den drohenden Putsch, sie wollte noch vermitteln, als es die Entscheidung zu erzwingen galt!

Es ging nur noch um Wochen oder Tage. Doch Allende schürte weiter die Illusion der Verfassungstreue, er mobilisiert die Massen nicht und lullte sie mit seinen demokratischen Beschwörungen im Angesicht der Gefahr ein.

Als dann am 11. September die Moneda bombardiert wurde, blieb Allende mutig auf seinem Posten und rief das Volk noch einmal zur „Verteidigung der Revolution auf“. Doch trotz des verzweifelten Widerstands vieler Arbeiter:innen, gelang es dem Militär Dank seiner Überlegenheit und des rigorosen Terrors bald, das Land vollständig zu kontrollieren. Die Massen waren von der Volksfront zu lange demobilisiert und demoralisiert worden, als dass sie den Schlägen des Militärs hätten standhalten können. Zudem fehlte eine einheitliche politische und militärische Führung in Form einer revolutionären Partei.

Das chilenische Proletariat bezahlte einen hohen Blutzoll für die Illusionen ihrer Volksfront-Führer:innen. Nicht nur Präsident Allende kam um. Zehntausende – Linke, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen, Bäuer:innen – wurden von der Soldateska getötet, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Auf Allendes „halbe Revolution“ folgte eine ganze Konterrevolution.

Allendes Versuch, die gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie wie Feuer und Wasser miteinander zu versöhnen endete damit, dass die Volksfront selbst verdampfte.

Die bittere chilenische Erfahrung ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1930er war die Volksfrontstrategie die vorherrschende Strategie aller stalinistischen Parteien. Ihr lag die Idee zugrunde, dass die Revolution auf zwei separate Phasen „verteilt“ sei. In der Praxis hieß das, den Übergang von der bürgerlich-demokratischen Phase zur sozialistischen bewusst zu blockieren, der Bourgeoisie grundsätzliche Zugeständnisse zu machen und die Massen zurückzuhalten – zugunsten der Illusion, dass der Klassengegner sich loyal verhalten würde. Doch dieser politische Königsweg des Stalinismus als „Alternative“ zur Konzeption der Permanenten Revolution, erwies sich ohne Ausnahme immer nur als Sackgasse, als Weg in eine blutige Niederlage.




Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Vorwort der Redaktion

Als der hier neu übersetzte Artikel „Gramsci and the revolutionary Tradition“ vor 36 Jahren in der Zeitschrift „Permanent Revolution“ unserer Schwesterorganisation „Workers Power“ aus Anlass des 50. Todestages von Antonio Gramsci erschien, ging gerade eine der vielen „Gramsci-Wellen“ in der internationalen Linken ihrem Ende entgegen. Es sollten noch einige weitere bis zum heutigen Tage folgen. Deshalb lohnt sich die Lektüre dieses historisch sehr genauen Artikels zum tatsächlichen politischen Wirken Gramscis ungemein, um seine politischen Ideen von den imaginären Zusätzen zu trennen, die sich inzwischen in den besagten Rezeptionswellen in Schlagwörtern wie „Hegemonie“, „Politik des Stellungskrieges“, „Zivilgesellschaft“, etc. niedergeschlagen haben.

Gramsci befand sich seit 1926 in faschistischer Haft, in der er – in vorsichtig verklausulierter Sprache – weiterhin politische Schriften verfasste, die „Gefängnishefte“. Die mehrdeutigen Ausdrücke, die er dabei benutzte, um Begriffe wie „Diktatur des Proletariats“ oder „bürgerliche Ideologie“ zu vermeiden, wurden in diesen späteren Rezeptionen geradezu zu einer Neuerfindung des Marxismus hochstilisiert. Mit Begeisterung wurde darin eine „Modernisierung“ gesehen, die die verpönte „Sprache“ des „dogmatischen Traditionsmarxismus“ vermeidet. Wie weit dies von den tatsächlichen Intentionen Gramscis entfernt ist bzw. mit seinen tatsächlichen politischen Schwächen in Verbindung steht, wird in dem folgenden Artikel herausgearbeitet.

In den 1970er Jahren hatte die „Kommunistische Partei Italiens“ (KPI) ihren ehemaligen Vorsitzenden (1924 – 1927) einmal wieder neu „entdeckt“. Im Zuge der Integration der KPI in das politische Krisenregime der 1970er Jahre wurde das Konzept der „Diktatur des Proletariats“ zugunsten der Zielsetzung einer Umgestaltung Italiens unter „Hegemonie“ der KPI aufgegeben. Luciano Gruppis „Gramsci. Philosophie der Praxis und die Hegemonie des Proletariats“ (1972 unter der Ägide des langjährigen Chefideologen Pietro Ingrao herausgegeben; auf Deutsch: 1977, VSA) ist Ausdruck des Versuchs der Parteiführung, ihren „Historischen Kompromiss“ mit der italienischen Bourgeoisie als Weiterentwicklung der bereits von Gramsci verfolgten „Überwindung“ der Fixierung der kommunistischen Parteien auf das Modell der Russischen Revolution darzustellen.

Schon in der Nachkriegszeit hatte die KPI-Führung um Togliatti den zunächst vergessenen Gramsci als Wegbereiter der Volksfrontpolitik „wiederentdeckt“. Wie der folgende Artikel zeigt, waren beide Vereinnahmungen Gramscis nicht berechtigt. Gramscis politische Revision (die er als Parteivorsitzender verfolgte) war tatsächlich die der „strategischen Einheitsfront“ zwischen Kommunist:innen und Reformist:innen mit dem Ziel einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung als erster Etappe der Diktatur des Proletariats. Er hegte im faschistischen Italien keinerlei Illusionen in Bündnisse mit der Bourgeoisie, allerdings ein illusorisches Verständnis der revolutionären Dynamik übergreifender Bündnisse „der Linken“ – und damit tatsächlich der Notwendigkeit, die Einheitsfront als Vehikel des Kampfes zum Bruch auch mit dem Reformismus und Zentrismus zu gestalten.

Einen anderen Interpretationsstrang von Gramsci findet man im „Neomarxismus“ der Nach-68er-Bewegung, z. B. begründet in der „strukturalistischen“ Marxexegese. So führte Luis Althusser (z. B. in „Für Marx“, 1968, Suhrkamp) Gramsci und das Hegemoniekonzept als Beleg dafür an, dass im „westlichen Marxismus“ schon früher die Unterschätzung der „Überbauphänomene“ erkannt wurde. In seinem Bestreben, Marx vom „Hegel’schen Objektivismus“ zu reinigen, ersetzte Althusser die Dialektik von Ökonomie und politisch-ideologischem Überbau durch ein System vielfältiger Widersprüche, in denen den Zusammenstößen im Überbau (den „ideologischen Staatsapparaten“) immer mehr Gewicht zukommt gegenüber den zusehends entpolitisierteren ökonomischen Klassenkämpfen. Von dort gibt es eine gerade Linie zur Transformationspolitik (im Gefolge von Poulantzas), die den Verschiebungen der Kräfteverhältnisse durch „revolutionäre Realpolitik“ in den „zivilgesellschaftlichen Strukturen“ die Rolle der vorantreibenden Kraft bis hin zum „revolutionären Bruch“ beim Übergang zum Sozialismus zuschreibt (zur näheren Kritik hierzu siehe den Artikel „Modell Oktoberrevolution“ im Revolutionären Marxismus 49).

So wenig man eine solche Bewertung von politischen und kulturellen Mikrokämpfen im „antikapitalistischen Stellungskrieg“ Gramsci direkt zuschreiben kann, so ist in seiner Konzeption der Hegemonie tatsächlich eine methodische Schwäche angelegt. Während bei Marx die Ideologiekritik und die daraus folgende Analyse von Überbauphänomenen materialistisch-dialektisch aus der Kritik der politischen Ökonomie abgeleitet wird, so ist dies bei Gramsci in den „Gefängnisheften“ wenig ausgeführt bzw. kann als „nur letztlich bestimmt“ verstanden werden. Wie im Artikel herausgearbeitet, kann es hier zu einer, von seinem idealistischen philosophischen Lehrmeister Benedetto Croce inspirierten Überbewertung des „subjektiven Faktors“ kommen, dem in den vielfältigen politischen Strukturen von Kultur, Wissenschaft, politischen Institutionen etc. eine weitgehende Selbstständigkeit eingeräumt wird.

Dies wird um so auffälliger, wenn man Gramscis Ideologiekritik mit der seines unmittelbaren Zeitgenossen und Kominterngenossen Georg Lukács vergleicht. Lukács hatte in den frühen 1920er Jahren mit der Theorie der „Verdinglichung“ dargelegt, wie die in der kapitalistischen Ökonomie (insbesondere in der Zirkulationssphäre) angelegten Denkmuster (Fetischformen) Politik und Alltag derartig durchdringen, dass jegliche „Alternativen“ oder „Gegenmachtansätze“ immer wieder in das herrschende bürgerliche System eingegliedert und zu systemstabilisierenden Faktoren umstrukturiert werden (Gramsci hatte im Konzept der „passiven Revolution“ übrigens eine ähnliche Bemerkung gemacht, diese stellt aber letztlich einen Fremdkörper in seiner Hegemoniekonzeption dar). Lukács’ zog die Schlussfolgerung (in „Geschichte und Klassenbewusstsein“), dass nur vom Standpunkt des revolutionär organisierten Proletariats aus so etwas wie eine unabhängige, über die Kapitalreproduktion hinausgehende Gegenposition möglich ist. Nur ein revolutionäres Proletariat unter der Führung einer kommunistischen Partei kann auch die Antinomien und Rückführungsmechanismen des bürgerlichen Bewusstseins und seiner gewaltbewehrten Organe überwinden und einen wirklichen „revolutionären Bruch“ mit dem Bestehenden ermöglichen.

Auch wenn „Geschichte und Klassenbewusstsein“, wie Lukács selbstkritisch schon 1925/26 in „Chovstismus und Dialektik“ anmerkt, etliche Schwächen enthielt, so stellt es bis heute einen wichtigen Referenzpunkt der Kritik und Abgrenzung von sich auf Gramsci berufenden Gegenmachtkonzepten dar.

Mehr noch als vergangene Gramsci-Wellen ist die gegenwärtige von einer weitgehenden Unkenntnis, um nicht zu sagen Ignoranz, gegenüber Gramscis eigener politischer und theoretischer Entwicklung geprägt. Umso umstandsloser lassen sich auch daher seine Konzepte in aktuelle reformistische Strategien integrieren. Der folgende Artikel umfasst daher sowohl eine historische Einschätzung wie eine marxistische Kritik Gramscis, die sich einerseits gegen seine nicht-revolutionäre Vereinnahmung, andererseits aber auch gegen eine unkritische Übernahme seines Werkes richtet.

Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell

Es gilt, den italienischen Revolutionär Antonio Gramsci zu würdigen. 1926 wurde er von Mussolinis Faschisten verhaftet und zwei Jahre später nach einem Schauprozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Seine Entlassung aus der Haft 1937 überlebte er, da er im Gefängnis schwer erkrankt war, nur kurz. Er starb im April desselben Jahres.

Das Gedenken an seinen Tod hat einmal wieder ganz verschiedenen Tendenzen auf der Linken die Gelegenheit verschafft, um sein Erbe zu streiten. Marxism Today (MT), die Zeitschrift der eurostalinistischen CPGB, erinnerte ihr Publikum in ihrer Aprilausgabe daran:

„Ohne Zweifel ist Gramsci der wichtigste einzelne theoretische Einfluss auf Marxism Today im Verlauf des letzten Jahrzehntes gewesen.“ (1)

Dieser Einfluss wurde durch die italienische kommunistische Partei gefiltert (KPI). Doch war die KPI nicht immer so bereit gewesen, Gramscis Beitrag zum Marxismus anzuerkennen. Es vergingen zehn Jahre nach Gramscis Tod, bevor die KPI sich entschied, eine Ausgabe von Gramsci Gefängnisnotizbüchern zu veröffentlichen, passend zensiert, um irgendwelche günstigen Verweise auf Trotzki oder Andeutungen von Opposition zu Stalins Politik in den 1930er Jahren zu entfernen.

Aber die Krise des Stalinismus nach 1956 schuf ein ideologisches Vakuum in den Reihen der westlichen stalinistischen Parteien. In Gramsci fand die KPI einen „italienischen Marxismus“, der der Erwartung gerecht werden konnte. Er konnte Kontinuität mit der Gründung der KPI beanspruchen, doch sich von den „Übertreibungen“ des Stalinismus in den 1930er Jahren distanzieren. Er konnte behaupten, in Gramscis Arbeit eine Kritik am „Dirigismus“ zu finden, mit deren Hilfe der monolithische Anspruch des Stalinismus abgelehnt werden konnte, ohne in Sozialdemokratismus zu verfallen oder der revolutionären (d. h. trotzkistischen) Kritik am Stalinismus Zugeständnisse zu gewähren.

Die KPI argumentierte, dass Gramscis Vorstellung von „Hegemonie“ ihre Politik in den 1970er Jahren für parlamentarische Unterstützung der arbeiter:innenfeindlichen Regierung der Christdemokratie (der „historische Kompromiss“) bekräftigte.

In den letzten paar Jahren aber hat die reformistische Laufbahn der KPI diese Partei dazu geführt, einen gewissen Abstand zwischen sich und Gramsci zu setzen. Anfang 1987 behauptete der KPI-Chef Natta, dass Gramsci auch „Fundamentalist“ war. Es ist daher keine Überraschung, dass Antistalinist:innen es zunehmend für normal halten, Gramscis Erbe für sich zu beanspruchen.

Vor fünfzig Jahren sagte der italienische Trotzkist Pietro Tresso in einem Nachruf auf Gramsci, dass es lebenswichtig war, den Stalinist:innen nicht zu erlauben, „Gramscis Persönlichkeit für ihre eigenen Zwecke auszunutzen“ (2). Dies gilt weiterhin. Aber der moderne Zentrismus versucht, weiter zu gehen. Einer der Führer:innen des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, Livio Maitan, versucht bspw. mit seiner Würdigung des Lebens des italienischen Revolutionärs im mandelistischen Rückblick zu begründen, dass es einen „vollkommen revolutionären Kern“ in Gramscis Arbeit gibt, und dass „revolutionäre Marxist:innen das Recht und die Pflicht haben, das Erbe Antonio Gramscis zu beanspruchen“. (3)

Zwar zieht die Sozialistische Arbeiter:innenpartei (SWP/GB) den Stalinismus korrekt zur Rechenschaft für den Versuch, Gramsci als Reformisten zu schildern, doch sie ist wie Maitan gänzlich damit gescheitert, aus dem Leben des italienischen Revolutionärs eine kommunistische Bewertung seines Beitrages zum Marxismus zu verallgemeinern. John Molyneux sagt von den Jahren 1922 – 1926:

„Selbst ein ungezwungener flüchtiger Blick auf Gramscis Schriften dieser Periode zeigt, dass er fest auf dem Terrain der Revolution bleibt.“ (4)

Chris Harmans Pamphlet für die SWP – Gramsci gegen den Reformismus – bezieht eine ähnlich einseitige Sicht auf Gramsci. Für Harman reicht es aus, dass Gramsci an Revolution, nicht Reform glaubte, nie die Straße zum Aufstand verließ und beides anerkannte – die Notwendigkeit für eine Partei bolschewistischen Typs wie die Samenkörner für einen  Arbeiter:innenstaat, die innerhalb der Fabrikrätebewegung angelegt waren.

Im Wesen legen Harman, Molyneux und Maitan nur einen umgekehrten Fehler zu den Stalinisten an den Tag. In ihrer Darstellung ist Gramscis Beitrag zur KPI bis zu seiner Verhaftung unproblematisch und zeigt ihn ehrlich auf dem Boden der revolutionären Komintern stehend. Die „Lyon-Thesen“ von 1926 werden als Gipfel seiner politischen Arbeit gewertet. Seine Arbeit nach dieser Zeit, wie in den Gefängnisnotizbüchern vorgefunden, enthält zwar gewisse Irrtümer, stellt ihrer Meinung nach jedoch keinen Bruch mit dem revolutionären Gramsci dar. Für Maitan gibt es „eine unleugbare Kontinuität in Gramscis Denken und Herangehensweise seit seinen Schriften in den Jahren der Russischen Revolution bis zu den Notizen von 1935, als die Notizbücher endeten.“ (5). Gemäß Harmans Sicht haben die Faschisten „ … ihn daran gehindert, das Potenzial seines Marxismus, das er in L’Ordine Nuovo und den ,Lyon-Thesen’ zeigte, voll zu verwirklichen.“ (6)

Praktisch dienen diese Resümees nur dazu, die Wahrheit von Trotzkis Sprichwort zu unterstreichen, dass es für Zentrist:innen sehr schwierig ist, Zentrismus in anderen zu erkennen. Es ist notwendig, die Dinge tiefer zu analysieren. Genau weil die gegenwärtige SWP oder das VS der IV. Internationale Sachverhalte aus einer Reihe revolutionärer Prinzipien heraus beurteilen, statt ihre eigenen (oder andere) Beiträge mit dem Maßstab des Programms zu messen, scheitern sie daran, Gramscis politische Theorie und Praxis vor dem Hintergrund von Führung und Politik der Komintern in der Periode 1919 – 26 zu bewerten.

Aus dieser Perspektive analysiert, ist es möglich zu zeigen, dass Gramsci zwar nie Reformist war, sich seine Politik dennoch in ernsthaftem Maße von Praxis und Theorie Lenins und Trotzkis unterschied, während diese in der Leitung der Komintern waren. Kurz, es kann gesehen werden, dass Gramsci in der Tat eine klassische zentristische Entwicklung durchlief, in seinem Fall vom Ultralinkstum zum Rechtszentrismus.

Gramsci 1915 – 21

In Ales auf der Insel Sardinien geboren, ging Gramsci 1911 nach Turin, um an der Universität zu studieren. Dort sollte er in Kontakt mit der mächtigen Turiner Arbeiter:innenbewegung kommen, deren Schwerkraftzentrum in den FIAT-Autobetrieben und verwandten Industrien zu finden war. 1913 trat er der Sozialistischen Partei (PSI) bei.

Immer mehr in die Arbeit der Partei eingebunden, gab Gramsci im November 1915 sein Studium auf, um sich dem Redaktionsstab der PSI-Zeitung Il Grido del Popolo (Der Schrei des Volkes) anzuschließen. Innerhalb von Monaten schrieb er für die Turiner Ausgabe der offiziellen PSI-Tageszeitung Avanti!. In diesen Jahren als aktiver Kämpfer, aber bevor die Russische Revolution von 1917 die Fundamente der europäischen Sozialdemokratie erschütterte, war Gramscis Politik beträchtlich entfernt von jener Lenins und der Bolschewiki trotz der Tatsache, dass sich für Italien und Russland sehr ähnliche strategische und taktische Aufgaben stellten. Zu der Zeit, als Gramsci ein bewusster Revolutionär wurde, 1915, waren die Bolschewiken durch die Erfahrung von einer Revolution und Gegenrevolution gegangen und  hatten in deren Verlauf ihre Positionen zur revolutionären Partei und der Agrarfrage eindeutig formuliert. Die Bedeutungen dieser Positionen entgingen den Linken in der PSI bis 1921. Um 1915 begriff Lenin die Gründe für den Zusammenbruch der Zweiten Internationale angesichts des imperialistischen Kriegs und die Notwendigkeit eines vollständigen politischen Bruchs. Gramsci und die Linke in der PSI missachteten Lenins Einstellung zu diesen Ereignissen.

Gramscis eigene politische Lehrzeit war merklich anders als Lenins gewesen. Es war nicht die klassisch „orthodoxe“ marxistische Tradition von Kautsky und der deutschen SPD oder Plechanow, die Gramscis Hintergrund bildeten, sondern eher eine besondere, italienisierte Version von Marxismus, der seinen Weg zu Gramsci durch die Arbeiten von Croce, Labriola und Gentile fand. An diese Personen wandte sich Gramsci, um nach einem Heilmittel für die Schwächen zu suchen, die er in Praxis und Theorie der Politik der Rechten in der  Zweiten Internationale und der PSI wahrnahm. Gramsci glaubte, dass die Passivität und der Fatalismus dieser Strömung mit einem ursprünglichen Mangel im historischen Materialismus von Marx und Engels zusammenhingen. Er war der Ansicht, dass Marxens Kritik der politischen Ökonomie, wie im Kapital zu finden, in der Tat mechanischer Materialismus war, der die Rolle und die Macht des subjektiven Faktors (die arbeitende Klasse) ignorierte, sich ihrer eigenen Ausbeutung bewusst zu werden und zum Umsturz eines Systems ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Bedingungen zu erheben. So sah er den Materialismus des Marxismus als ungenügend und eine Rückkehr zu Hegel als notwendig an, die Croce befürwortete, um der Theorie eine Dosis Idealismus zu injizieren und eine adäquate Einschätzung des subjektiven politischen Faktors in revolutionärer Politik zu leisten.

Lenins und Trotzkis Ansätze zu den Problemen der russischen Revolution waren im Vergleich damit sehr verschieden. Bereits 1899 argumentierte Lenin in Polemiken mit den Narodniki (Volkstümlerrichtung) gegen ihre mechanistische Auslegung von Marxens Politökonomie. Sie führte die Narodniki zur Schlussfolgerung, dass die Rückständigkeit von Russlands innerem Markt bedeutete, die Entwicklung des Kapitalismus in Russland könne vermieden werden. Schon 1905 umriss Trotzki in seiner Theorie der „permanenten Revolution“, dass der russische Kapitalismus im Kontext der ungleichen und kombinierten Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab verstanden werden musste. Im Bündnis mit dem europäischen, besonders dem französischen, Kapitalismus hatte die zaristische Autokratie die schnelle Ausbreitung des Kapitalismus in Russland beaufsichtigt. Genau deswegen bestritten Lenin wie auch Trotzki die damals vorherrschende Sichtweise des Marxismus, die darauf bestand, dass wegen dieser Entwicklung der russischen Bourgeoisie die Führung der bürgerlichen Revolution gegen den Zaren zufalle.

Sie bewiesen, dass die Schwäche einer einheimischen russischen Bourgeoisie sie dazu bringen würde, einen Block mit der Reaktion gegen die Arbeiter:innenklasse einzugehen, angesichts des gesellschaftlichen Gewichts des Proletariats und eines wirklichen Kampfes um bürgerlich-demokratische Forderungen.

Während für Gramsci die Revolution im rückständigen Italien trotz seiner gesellschaftlichen Verhältnisse durch einen Willensakt durchgeführt werden musste, würde für Lenin und Trotzki die Revolution im rückständigen Russland genau wegen der Widersprüche in der materiellen  Struktur des russischen Kapitalismus geschehen. Die Fehler in Gramscis methodologischem Begriff von Marxismus verrieten eine wirkliche Schwäche in seinem Verständnis vom historischen Materialismus. Für eine Weile wurde in den 1920er Jahren, als Gramsci zu den Positionen der revolutionären Komintern hingetrieben wurde, die Bedeutung dieser Schwächen verdeckt. Deren volle Bedeutung sollte erst vollständig in den Gefängnisnotizbüchern in seiner Diskussion über „Zivilgesellschaft“ und den „Staat“ enthüllt werden.

Gramsci und die Russische Revolution

Mit dieser Methode begrüßte Gramsci die Russische Revolution von 1917. Während er sie willkommen hieß als eine „proletarische Tat …  welche natürlich in einem sozialistischen Regime resultieren muss“ (7), betrachtete er sie als Bestätigung für seine eigene Sichtweise von Marxismus. Er sah sie als eine „Revolution gegen ,Das Kapital’“ und erblickte in der Arbeit der Bolschewiki „die Fortsetzung italienischen und deutschen idealistischen Gedankenguts, welches bei Marx von positivistischen und naturalistischen Verkrustungen verunreinigt wurde.“ (8)

Doch trotz dieses Angriffes auf den „Marxismus“ richtete er sich methodologisch in Wahrheit gegen die menschewistische Strategie, die glaubte, es existiere eine: „ … schicksalhafte Notwendigkeit für die Bildung einer Bourgeoisie in Russland, für den Beginn einer kapitalistische Ära, bevor das Proletariat an das Aufgreifen eigener Klassenforderungen, oder sogar an die Durchführung seiner eigenen Revolution denken könnte.“ (9)

In Lenin sah er die Art von Anführer:in, die das Geschichtstempo durch eine Tat organisierten Willens eher beschleunigen konnte, als jemand, der/die die sozialen Widersprüche in der russischen Gesellschaft bewusst zum Ausdruck bringen konnte.

Als sich die revolutionäre Krise in Italien in den Jahren nach der Russischen Revolution vertiefte, hatte Gramsci Gelegenheit, weiter über die Lektionen nachzudenken, die von Lenin gelernt werden konnten. Im August 1917 führten  Arbeiter:innen in Turin einen Aufstand gegen die örtliche Staatsgewalt, der von einem allgemeinen Streik in der ganzen Region Piemont unterstützt wurde. Obwohl schließlich der Aufstand um den Preis von 500 Toten und weiteren 2.000 Versehrten niedergeschlagen wurde, verweigerten sich die Turiner Arbeiter:innen ihrer Unterwerfung . Die Arbeiter:innenbewegung erhob sich wieder in einer beispiellosen Art während der Jahre 1919 – 1920. In diesen Jahren wuchs die PSI von 81.000 1919 auf 216.000 Mitglieder 1920. Der Gewerkschaftsverband unter der Leitung der PSI – die GCL – wuchs explosionsartig von 320.000 auf 2,3 Millionen zwischen 1914 und 1920.

Im April 1919 gründete Gramsci mit anderen die Zeitung L’Ordine Nuovo (Die Neue Ordnung). Sehr schnell steuerte Gramsci sie weg von einer einfachen Kost abstrakten Propagandismus‘ mit einer starken Betonung auf kulturellen Themen zu einer Zeitschrift, die die wachsende Bewegung von Fabrikausschüssen angelehnt an die Sowjets in Russland umzugestalten suchte. Im Juni schrieb er über den Arbeiter:innenstaat:

„Dieser Staat entspringt nicht durch Zauber: die Bolschewiki arbeiteten acht Monate daran, ihre Slogans zu verbreiten und zu verfeinern: alle Macht den Sowjets; die Sowjets waren den russischen Arbeiter:innenn schon 1905 bekannt. Italienische Kommunist:innen müssen die russische Erfahrung schätzen lernen und so Zeit und Mühe sparen.“ (10)

Im Oktober 1919 gliederte die PSI sich der Komintern an und im folgenden Monat bestritt sie eine allgemeine Wahl auf einem Programm, das die Gewaltherrschaft des Proletariates forderte. Sie gewann den größten Block von Sitzen im neuen Parlament – 156 Sitze von 508. Anfang 1920 schickte die PSI sich an, die Kontrolle in über der Hälfte der Stadträte zu gewinnen. Ohne Frage suchten die italienischen Arbeiter:innen den Pfad der Revolution.

Bis zum Frühling 1920 hatte sich der Kampf in den Fabriken zu einem höheren Stadium mit der Bildung der Innenausschüsse aufgeschwungen, die den Arbeiter:innen ermöglichten, ganze Bereiche der Fabrik zu kontrollieren. Den ganzen Sommer 1920 lang waren weit mehr als eine halbe Million Arbeiter:innen in die Ausschüsse und Räte eingebunden. Gramsci begriff das, was auf dem Spiel stand, genau:

„Unter den Kapitalist:innen war die Fabrik ein Miniaturstaat, regiert durch einen despotischen Stab. Heute, nach den Arbeiter:innenbesetzungen, ist diese despotische Macht in den Fabriken zerschlagen worden; das Recht zu wählen ging in die Hände der arbeitenden Klasse über. Jede Fabrik, die über Industrieexekutiven verfügt, ist ein illegaler Staat, eine proletarische Republik, die von Tag zu Tag lebt, in Erwartung des Ausgangs der Ereignisse.“ (11)

Aber dieses war der Kern der Sache: Wie den „Ausgang der Ereignisse“ lenken? Wie Doppelmacht in den Fabriken in eine Kampfansage gegen die nationale Staatsmacht verwandeln? Hier wurden Gramscis Schwächen in der Parteifrage grausam freigelegt.

Bestimmt war die maximalistische Führung um Serrati schuld an der Ablehnung, die Verantwortung für die Organisierung der arbeitenden Klasse durch die Partei auf sich zu nehmen, um sich auf die Eroberung der Staatsmacht vorzubereiten. Aber Gramsci hatte immer versäumt, sich um eine revolutionäre kommunistische Partei zu bemühen. Sogar nach dem Anschluss an die Komintern widerstrebte es Gramsci, den reformistischen Turati-Flügel bis zum Bruchpunkt von Ausschlüssen zu bekämpfen. Er teilte sogar nicht Bordigas Einsicht ins Erfordernis, sich zu organisieren, um für seine fraktionellen Ansichten im nationalen Maßstab innerhalb der PSI zu streiten.

Es ist dann eine bemerkenswerte Tatsache, dass Harman in seinem Pamphlet über die Schwächen Gramscis und der Partei hinweggleitet und in Bezug auf die Rolle marxistischen Eingreifens im Klassenkampf sagt:

„Seine eigene Aktivität 1919 – 20 und 1924 – 26 war ein leuchtendes (obwohl natürlich nicht perfektes) Beispiel für eine solche Intervention.“ (12)

Lenin und Trotzki waren bezüglich des Versagens aller Teile der PSI viel härter. Trotzki sagte über die PSI: „Die Partei betrieb Agitation für die Sowjets, für Hammer und Sichel, für Sowjetrussland usw. Die italienische Arbeiter:innenklasse nahm dies massenhaft ernst und betrat die Straße offenen revolutionären Kampfes. Aber genau im Moment, als die Partei zu allen praktischen und politischen Schlüssen aus ihrer eigenen Agitation gekommen sein sollte, erschrak sie vor ihrer Verantwortung und lief feige weg, ließ dabei die rückwärtigen Reihen des Proletariates ungeschützt.“ (13)

Lenin war ebenso barsch: „Zeigte ein/e einzelne/r Kommunist:in, was in ihm/r steckt, als die Arbeiter:innen die Fabriken in Italien eroberten? Nein. Damals gab es als noch keinen Kommunismus in Italien.“ (14)

In der Tat urteilte Gramsci rückblickend auf sich viel härter, als Harman dies tun will. 1924 schrieb er:

„1919/20 machten wir äußerst schwere Fehler, für die wir schließlich heute zahlen. Aus Angst,  Emporkömmlinge und Karrierist;innen gerufen zu werden, bildeten wir keine Fraktion und organisierten diese überall in Italien nicht. Wir waren nicht bereit, den Turiner Räten ein autonomes Direktivzentrum zu geben, das einen riesigen Einfluss überall im Land ausgeübt haben könnte, aus Angst vor einer Spaltung in den Gewerkschaften und, vorzeitig aus der Sozialistischen Partei ausgestoßen zu werden.“ (15)

Diese  Qualität von Selbstkritik – unbedeutend, wie eng persönlich mit den Ereignissen verbunden und als wie kostspielig sich die Fehler erwiesen –, eine Güte, die allen großen Revolutionär:innen zukommt, befähigte Gramsci, sich zur Komintern zu wenden.

Die Gründung der KPI

Der Misserfolg der PSI in der revolutionären Situation in Italien 1920 zwang wenigstens die Linke in der Partei, schließlich mit der reformistischen Führung zu brechen. Die Kommunistische Partei Italiens (KPI) wurde dann im Januar 1921 in Livorno gebildet. Sie wurde in einer Periode der Ebbe im internationalen Klassenkampf geschaffen, in Italiens Fall einer Periode erstarkender Reaktion und des Wachstums des Faschismus.

Auf ihrer Gründungskonferenz hatte die KPI zwischen 40.000 und 60.000 Mitglieder. Zur Zeit von Mussolinis Marsch auf Rom (ein faschistischer Putsch) im Oktober 1922 war die Partei auf 25.000 geschrumpft. Unter der Auswirkung der ersten Runde von Unterdrückung, die folgte, sank die Mitgliedschaft auf ungefähr 5.000 Anfang 1923.

In diesen schwierigen Jahren befand sich die Führung der KPI in Konflikt mit der der Komintern, als sie versuchte, ihre Perspektiven für die frühen 1920er Jahre zu entwickeln. Zur Zeit der Formation der KPI hatte es schon zwei Kominternkongresse gegeben (1919, 1920). Die Perspektiven und die Taktiken, die auf diesen umrissen wurden, waren entworfen worden, um vollen Vorteil aus der Krise des Bürgertums in Europa und der Schwäche der Sozialdemokratie zu ziehen. Es war eine Zeit entschiedener Brüche mit dem Reformismus und der Entstehung kommunistischer Parteien, die sich auf die Machtergreifung vorbereiteten.

Um die Zeit des Gründungskongresses der KPI und Dritten Kongresses der Komintern im Juni/Juli 1921 veränderte sich die Situation. Gelegenheiten waren versäumt worden, die Bourgeoisie hatte das Schlimmste ertragen und überlebte. Sie gewann Zuversicht und ging zurück in die Offensive. Die Sozialdemokratie war trotz ihrer verräterischen Hilfe für die herrschende Klasse gestärkt worden. Eine Neueinschätzung von Perspektiven und Taktiken war wesentlich.

Diese Neubeurteilung erfolgte am klarsten um die Frage der Einheitsfronttaktik herum. Diese Taktik, von den Bolschewiki in den Jahren angewandt, die bis zur Revolution führten, wurde auf den Dritten und Vierten Kongressen der Komintern 1921 und 1922 in ein System gebracht und verallgemeinert. Eher mit Reformismus als Kommunismus in einflussreicherer Position war es wesentlich, die arbeitende Klasse von reformistischen und zentristischen Organisationen zu brechen.

Die Resolution zur Taktik auf dem Vierten Kongress stellte fest:

„Die systematisch organisierte internationale kapitalistische Offensive gegen alle Gewinne der arbeitenden Klasse ist über die Welt wie ein Wirbelwind gefegt … zwingt die arbeitende Klasse, sich zu verteidigen.

Es gibt infolgedessen ein offensichtliches Bedürfnis für die Einheitsfronttaktik. Die Losung des Dritten Kongresses – heran an die Massen! – ist jetzt relevanter denn je … Die Anwendung der Einheitsfronttaktik bedeutet, dass die kommunistische Vorhut an der vorderen Front des Tageskampfs der breiten Massen für ihre lebenswichtigsten Interessen steht. Um der Sache dieses Kampfes willen sind Kommunist:innen sogar bereit, mit den Streikbrecherfunktionär:innen der Sozialdemokratie zu verhandeln.“ (16)

Natürlich war eine erbarmungslose Kritik an den Mängeln und dem Verrat der Spitzen von reformistischen Parteien und Gewerkschaften zwingend notwendig, wenn diese gemeinsame Handlung zur Verstärkung der kommunistischen Partei führen sollte.

Die PSI lehnte diese Einstellung ab. Überdies gab es 1921 kaum einen wägbaren Unterschied zwischen der politischen Perspektive von Gramsci und der ultralinken Führung, die um Amadeo Bordiga gruppiert war. Beide widersetzten sich Versuchen, die Linie der Dritten und Vierten Kominternkongresse vollständig auszuführen, und wurden stattdessen zu den ultralinken Positionen Bucharins hingezogen, der in Trotzkis Worten:

„ … gegen die Politik der Einheitsfront und der Übergangsforderungen stritt und mit seinem mechanischen Verständnis von der Dauerhaftigkeit des revolutionären Prozesses fortfuhr.“ (17)

Im Dezember 1921 erstellte der Leitende Ausschuss der Kommunistischen Internationale (EKKI) ein Dokument, das seine Einheitsfrontpolitik gegenüber den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften umriss. Im Januar 1922 veröffentlichte die Komintern einen Aufruf an die internationale Arbeiter:innenschaft, der darauf aufbaute. Ein Monat später fand eine Versammlung des erweiterten EKKI mit anwesenden Vertreter:innen der KPI statt, um die Frage der Einheitsfront zu diskutieren, bei der die KPI-Delegierten mit ihrer Meinung in einer Minderheit waren.

Zur gleichen Zeit wie diese Ereignisse entwarfen die KPI-Führer:innen einschließlich Gramsci Thesen für den bevorstehenden Kongress der KPI in Rom. Sie wurden im Januar 1922 veröffentlicht und enthüllten, wie weit sich eigentlich die KPI von der Denkweise der Komintern entfernt befand.

Einerseits akzeptierten die „Thesen von Rom“, es gebe keinen Widerspruch zwischen:

„ … Teilnahme an den Kämpfen für eingeschränkte und begrenzte Ziele und der Vorbereitung des letztendlichen und allgemeinen revolutionären Kampfes.“ (18)

Zu diesem Zweck stimmte die KPI auch zu:

„ … am Organisationsleben in allen Formen von wirtschaftlicher Organisation des Proletariats, die offen für Arbeiter:innen aller politischen Überzeugungsrichtungen sind … (teilzunehmen), … was bedeutet, sich in die intensivsten Kampfhandlungen zu begeben und den Arbeiter:innen zu helfen, die nützlichsten Erfahrungen daraus herzuleiten.“ (19)

Aber die KPI lehnte es ab, Abmachungen für gemeinsames Handeln zwischen verschiedenen politischen Parteien trotz der Tatsache ins Auge zu fassen, dass die Mehrheit der Arbeiter:innenvorhut in Italien weiterhin der PSI die Treue hielt, wohingegen die KPI eher:

„die Forderungen (unterstützen würde), die von den linken Parteien vorgeschlagen werden … von solcher Art, die geeignet sind, ans Proletariat zu appellieren, direkt zu mobilisieren, sie auszuführen …  die kommunistische Partei wird sie als Ziele für eine Koalition aus Gewerkschaftsorganen vorschlagen und vermeiden, Ausschüsse zu bilden, um den Kampf und die Agitation zu lenken, in denen die kommunistische Partei neben anderen politischen Parteien vertreten und tätig wäre.“ (20)

Sie glaubte, nur so bliebe die KPI: „ … frei  von irgendeinem Anteil an Verantwortung für die Aktivität der Parteien, die mündlich Unterstützung für die Sache des Proletariates durch Opportunismus und mit gegenrevolutionären Absichten ausdrücken.“ (21)

Dieser Unterschied zwischen Gewerkschaft und politischen Blockgebilden war ein künstlicher, geht man von einem korrekten Verständnis der Einheitsfront aus. Ein solcher Ansatz geht davon aus, sich für beschränkte politische oder wirtschaftliche Forderungen abzumühen, wenn es breite Schichten in einem Kampf um diese Forderungen mobilisieren kann und ihre Durchsetzung ein begrenzter Gewinn für die Arbeiter:innenklasse wäre und außerdem ihre politische Unabhängigkeit und Organisation stärken und das Proletariat weiter so auf den Revolutionspfad bringen würde. Die Kommunist:innen übernehmen keine Verantwortung für den Misserfolg der Sozialist:innen weder in der wirtschaftlichen noch der politischen Sphäre.

Die Gefahr des KPI-Ansatzes ist, dass er Opportunismus in Verbindung zur gewerkschaftlichen Einheitsfront in sich birgt, nur um von einem starren Sektierertum auf politischem Gebiet aus Furcht vor den Folgen solchen Opportunismus’ für die kommunistische Partei, also mit einem anderen Fehler begleitet zu werden. Zum Beispiel gaben die römischen Thesen an:

„Kommunist:innen, die an Kämpfen in proletarischen wirtschaftlichen Körperschaften teilnehmen, die von Sozialist:innen, Syndikalist:innen oder Anarchist:innen geführt sind, werden sich nicht weigern, ihren Handlungen zu folgen, außer wenn die Massen als Ganzes in einer spontanen Bewegung dagegen rebellieren sollten.“ (22)

Es ist diese Einstellung zur Spontaneität, eingemauert in den Grundsteinen von Gramscis Politik, die das Ultralinkstum der KPI anstiftete. Jahre später gab Gramsci zu, dass solche Positionen ‚m Grunde durch Croces Philosophie inspiriert‘ wurden (23). Spontane wirtschaftliche oder Gewerkschaftskämpfe sind an und für sich gut und ihnen kann unkritisch gefolgt werden. Politische Kämpfe außer unter der Führung der KPI sind es nicht. Aber „bittere Polemiken“ und Prophezeiungen vom Verrat werden die Massen schließlich dahin führen, mit der PSI zu brechen. Das war die KPI-Methode.

Die doppelten Gefahren von Opportunismus und Sektierertum kommen eindeutig in einer Passage der Thesen durch, die die Methode der Einheitsfront ganz falsch auf die Reihe bringt:

„Sie [die KPI] kann keine Taktik mit einem gelegentlichen und vorübergehenden Kriterium vorschlagen und  damit rechnen, dass sie anschließend dazu in der Lage sein wird, im Moment, wenn so eine Taktik nicht mehr anwendbar ist, eine abrupte Kehrtwende und einen Frontwechsel auszuführen, indem sie ihre Verbündeten von gestern zu Feind:innen stempelt. Wenn man nicht wünscht, seine Verknüpfung mit den Massen und ihre Verstärkung genau in dem Moment zu kompromittieren, wenn es gerade darauf ankommt, dass diese in den Vordergrund treten, wird es notwendig sein, in öffentlichen und offiziellen Erklärungen und Haltungen eine Kontinuität von Methode und Absicht, die mit der ununterbrochenen Propaganda und der Vorbereitung für den letzten Kampf genau übereinstimmt, zu verfolgen.“ (24)

Für Lenin und Trotzki stellt das Abschließen prinzipienfester Übereinkünfte und deren Bruch, wenn die „Verbündeten“ – wegen deren Unentschlossenheit oder Verrats während der Umsetzung dieser Abmachungen – sich in „Feind:innen“ verwandeln, gerade eine „Kontinuität“ in der Methode dar, die den Weg zum „Endkampf“ vorbereitet.

Gramsci stand zu dieser KPI-Position während 1922 und des Vierten Weltkongresses und setzte seinen Block mit den Bordigist:innen auf dem Junitreffen der Erweiterten Exekutive der Komintern-Führung 1923 fort. Diese Versammlung, bei der Trotzki und Sinowjew den Vorsitz einer vereinten Exekutivdelegation führten, sah die KPI-Mehrheit (einschließlich Gramsci) und die Minderheit um Tasca ihre Unterschiede ausdebattieren. Trotzki unterstützte Tascas Minderheitsbericht, der die Bilanz der KP- Führung kritisierte.

Dieser Bericht umriss, wie die KPI den Beschluss des Vierten Kongresses, die Verschmelzung zwischen der KPI und der PSI anzustreben, durch Aufzwingen von Ultimaten blockiert hatte. Während die KPI die Öffentlichkeitsarbeit für den Fusionsaufruf gering hielt, veröffentlichte sie  einen Leitartikel, der die PSI als ,Leiche’ charakterisierte, was natürlich Vereinigungsgegner:innen in der PSI in die Hände spielte. Diese konnten den „Patriotismus“ von Arbeiter:innen ausnutzen, die eine Anhänglichkeit an ihre Partei spüren (25). Die KPI zeigte gerade, wie wenig sie die Einheitsfronttaktik Lenins und Trotzkis angenommen hatte, als sie im Mai 1923  weiter in Il Lavoratore (Der Arbeiter) schrieb:

„Wir betrachten die Taktik der Blöcke und Einheitsfront als ein Mittel, den Kampf gegen jene auf einem neuen Niveau zu verfolgen, die das Proletariat verraten … Darum haben wir sie vorgeschlagen.“ (26)

Wie Tasca und die Kominternführung über Gramsci und die KPI-Mehrheit die Schlüsse zogen:

„Die Vorstellung, die diese Genoss:innen von der Partei und ihren Verbindungen mit den Massen haben, ist vollkommen geeignet, die ,Sekten’mentalität beizubehalten, einen der ernstesten Mängel unserer Organisation.“ (27)

Gramscis Einwände

Über seine falsche Einstellung zur Spontaneität hinaus gab es andere Gründe hinter Gramscis Opposition gegen die Politik der Komintern. Auf konjunkturell-taktischer Ebene widersetzte er sich ihr, weil er fühlte, die rechte Minderheit in der KPI um Tasca, die die Kominternthesen unterstützte, würde gestärkt. Sie stellte für ihn eine liquidatorische Tendenz in der KPI dar, die nicht völlig mit der PSI-Politik gebrochen hatte und sich der notwendigen Neuorientierung auf illegale Arbeit unter den Bedingungen faschistischer Unterdrückung widersetzte. Im Juni 1923 sagte er, dass:

„Die Einstellung der Komintern und die Aktivität ihrer Vertreter:innen bringen Uneinigkeit und Korruption in die kommunistischen Reihen. Wir sind fest entschlossen, gegen die Elemente anzugehen, die unsere Partei liquidieren würden.“ (28)

Gramsci glaubte, Blockbildungen mit den Befürworter:innen der Wahlenthaltung um Bordiga trotz der Unterschiede zu ihnen seien nötig, um den verspäteten Bruch mit Reformismus und Zentrismus in der Periode 1921/22 zu vervollkommnen. Eine gewisse Bestätigung dessen findet sich in einem Brief, den er im Februar 1924 an die KPI-Chef:innen innerhalb Italiens schrieb. Er argumentierte, dass er die „Rom-Thesen“ der KPI über Taktiken guthieß:

„ … nur aus beschränkten Motiven von Parteiorganisation und sprach mich zugunsten einer Einheitsfront geradewegs bis zu ihrer normalen Konsequenz in einer Arbeiter:innenregierung aus.“ (29)

In der Tat existiert keine Aufzeichnung so einer ablehnenden Position zu dieser Zeit. Dieser Brief wurde geschrieben, nachdem Gramsci seine Position zu den Beschlüssen des Vierten Kominternkongresses verändert und sich entschieden hatte, mit Bordiga zu brechen. Wenn wahr, wäre eine prinzipienlose Position bezogen worden und eine, die nur dazu diente, die Kristallisation einer wirklich bolschewistischen KPI weiterhin unglückselig aufzuschieben.

Aber es gibt einen weit tieferen Grund für Gramscis unversöhnliche Einstellung zur Politik von Lenin und Trotzki in diesen Jahren. Sie beruhte auf einer Vorstellung unterschiedlicher Strategien für „Ost“ und „West“ in Europa. Nur wenn wir diese Vorstellung Gramscis verstehen, können wir begreifen, wie und warum er seine Einstellung zu den Beschlüssen des Vierten Kongresses ändern sollte, ohne zur gleichen Zeit seine falsche politische Methodik zu korrigieren.

Die Idee von „Ost“ und „West“ war weniger eine Frage der Geographie und mehr eine Sache politischer Ökonomie. Für Gramsci bestand der „Osten“ aus der „rückständigen“ kapitalistischen Welt, wohingegen der „Westen“ die fortgeschrittene Welt Westeuropas war. Diese Trennungslinie war für Gramscis Opposition zur Komintern wesentlich. Er schrieb:

„In Deutschland stützt sich die Bewegung, die zur Einsetzung einer sozialdemokratischen Regierung tendiert, auf die Massen der Arbeiter:innenklasse; aber die Taktik der Einheitsfront hat keinen Wert außer für Industrieländer, wo die rückständigen Arbeiter:innen hoffen können, eine Verteidigungsanstrengung durch das Erobern einer parlamentarischen Mehrheit fortsetzen zu können. Hier [in Italien] ist die Situation anders … Wenn wir die Parole einer Arbeiter:innenregierung aufstellten und umzusetzen versuchten, würden wir zur sozialistischen Zweideutigkeit zurückkommen, als die Partei zu Inaktivität verdammt wurde, weil sie sich nicht entscheiden konnte, einzig und allein eine Partei von Arbeiter:innen zu sein oder einzig und allein eine Partei von Bauern/Bäuerinnen … Die Gewerkschaftsfront hat dazu im Gegensatz ein Ziel, das von primärer Wichtigkeit für den politischen Kampf in Italien ist …

Wenn man von einer politischen Einheitsfront spricht und daher von einer Arbeiter:innenregierung, muss man darunter eine ,Einheitsfront’ zwischen Parteien verstehen, deren gesellschaftliche Basis nur aus Industrie- und Landarbeiter:innen besteht, und nicht aus Bauern/Bäuerinnen … 

In Italien existieren nicht wie in Deutschland ausschließlich Arbeiter:innenparteien, zwischen denen eine politische Einheitsfront auch denkbar ist. In Italien ist die einzige Partei mit solchem Charakter die kommunistische Partei.“ (30)

Nachdem er mit Bordiga gebrochen hatte, beschrieb Gramsci Bordigas Ablehnung solcher Taktiken und begründete dies so:

„Weil die Arbeiter:innenklasse in der italienischen arbeitenden Bevölkerung in einer Minderheit ist, gibt es eine dauernde Gefahr, dass ihre Partei vom Eindringen anderer Klassen verdorben wird, insbesondere vom Kleinbürgertum.“ (31)

An erster Stelle war diese Sicht gründlich uneins mit dem Konzept eines internationalen Programms, Perspektiven und Taktiken. Die Einheitsfront ist eine Taktik, konzipiert, um die Einheit der arbeitenden Klasse in einem Ringen gegen die Bosse und ihren Staat zu maximieren. Aber die Arbeiter:innenklasse findet sich mit diesen Aufgaben weltweit konfrontiert, wo immer sie existiert. Der internationale Charakter dieser Schlachten bedeutet, dass die Taktik nicht entweder auf „Ost“ oder „West“ begrenzt werden kann.

In der Tat, in jenen Ländern, wo die Bauern-/Bäuerinnenschaft eine große Klasse ist und der Imperialismus die Probleme von Landhunger vervielfacht hat – so wie in Italien –, findet die „politische“ Einheitsfront häufiger Anwendung. Dies ist so, weil sie als kleinbürgerliche Schicht Parteien außerhalb der kommunistischen oder sozialistischen Parteien hervorbringt, mit denen es im Anrennen gegen das vereinigte Lager aus Industriekapital und Großgrundbesitz möglich ist, Blöcke einzugehen. Das war der Fall in Italien.

Eine solche Möglichkeit lag dem Block der Bolschewiki mit den Linken Sozialrevolutionären nach Oktober 1917 zugrunde. Die Tatsache, dass in Italien PSI und KPI weniger gut in der Bauern-/Bäuerinnenschaft Süditaliens verankert waren, als sie hätten sein sollen, hat nur geheißen, dass die Taktik der Einheitsfront mehr und nicht weniger dringlich war.

Eine Positionsänderung?

Im Verlaufe von 1923/24 hatte die Kominternführung einen gewissen Erfolg damit, einen Keil zwischen Gramsci und Bordiga zu treiben. Obwohl sie einen Block innerhalb der KPI bildeten, war deren Politik nie gleich. Die Unterschiede in ihrer Haltung zu den Fabrikräten 1920 waren symptomatisch. Die Politik von Passivität und Enthaltung war Kennzeichen Bordigas. Worin auch immer sein Ultralinkstum bestand, dies war Gramsci total fremd, der die Notwendigkeit sah, über passiven Propagandismus hinauszugehen, der wesentliche Wahrheiten bloß feststellte und auf den für ihn unvermeidlichen Prozess an Enttäuschung unter den Arbeiter:innen zum Nutzen der KPI wartete. Nach dem Vierten Weltkongress 1922 wurde Bordiga immer kompromissloser und nach innen orientiert. Bordigas Fraktion lehnte es ab, in den leitenden Ausschüssen der KPI wegen ihrer Divergenzen mit der Komintern zu arbeiten. Gramsci spürte, dass dies dazu führen musste, die KPI in die Hände der Minderheit um Tasca auszuliefern, der, wie Gramsci merkte, Opportunist gegenüber den Gewerkschaftsbonzen war.

Ereignisse in Italien überzeugten auch Gramsci, dass Passivität die KPI daran hinderte, in der Krise des faschistischen Regimes einzuschreiten. Im Frühling 1923 brachen wichtige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Volkspartei aus, die bisher Mussolinis Herrschaft fest unterstützt hatte. Bedeutende Unzufriedenheit mit dieser Unterstützung begann sich sowohl in der Volkspartei (welche eine große Bauern./Bäuerinnengefolgschaft aufwies) wie zunehmend innerhalb der städtischen republikanischen Kleinbourgeoisie im Verlaufe von 1923 und 1924 zu regen. Die KPI brauchte Taktiken, zugeschnitten auf diese Unzufriedenheit und so angelegt, dass sie die republikanische Bourgeoisie und Sozialdemokratie daran hindern würden, die Nutznießerinnen der Krise zu sein.

Also kam Gramsci gegen Ende 1923 zur Auffassung, dass es unmöglich sei, irgendwelche Zugeständnisse an Bordiga zu machen. Ein vollständiger Bruch mit ihm und die Schaffung einer neuen Führung des „Zentrums“ war wesentlich, wenn die Partei sich der Massenarbeit widmen und den antifaschistischen Widerstand lenken wollte.

Zusammen genommen trieben diese Überlegungen Gramsci hin zur Komintern. Im September 1923 gab er seinen Widerstand gegen die „politische“ Einheitsfront in Italien auf und drängte die KPI, den Aufruf für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung in Italien anzunehmen. Für all diese Absichten und  Zwecke hatte Gramsci sich mit den Positionen von Lenin und Trotzki versöhnt. Im Januar 1924 schrieb er: „Ich glaube absolut nicht, dass die Taktiken, die vom erweiterten EKKI-Plenum und dem Vierten Kongress entwickelt worden sind, sich irren.“ (32)

Er betonte in diesem Brief an Scoccimarro, eine Auseinandersetzung für die Umorientierung der KPI anfachen zu wollen. Dabei würde er: „ … Doktrin und Taktiken der Komintern als Basis für ein Aktionsprogramm für zukünftige Aktivitäten annehmen.“ (33)

Gramsci artikulierte seinen Positionswechsel in einer Art, die mit den Argumenten Lenins und Trotzkis identisch war. In einem Brief an Togliatti, im Februar 1924 aus Wien geschrieben, äußerte er, dass er Bordiga nicht mehr zur Einheitsfront beipflichten könne:

„Erstens, weil das politische Konzept der russischen Kommunist:innen auf internationalem und nicht einem nationalen Terrain geformt wurde. Zweitens, weil in Mittel- und Westeuropa die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur die Bildung breiter proletarischer Schichten geprägt hat, sondern auch – und als eine Konsequenz – die höheren Schichten, die Arbeiter:innenaristokratie, mit ihren Anhängseln in der Gewerkschaftsbürokratie und den sozialdemokratischen Gruppen. Die Entschlossenheit, die in Russland greifbar war und die Massen auf die Straßen zu einem revolutionären Aufstand trieb, wird in Mittel- und Westeuropa von allen diese politischen Überbauten kompliziert, die durch die weitere Entwicklung des Kapitalismus erzeugt wurden. Dies macht die Handlung der Massen langsamer und umsichtiger und erfordert deshalb von der revolutionären Partei eine Strategie und komplexere und längerfristige Taktiken als diejenigen, die in der Periode zwischen März und November 1917 für die Bolschewisten notwendig waren.“ (34)

Dies war ein echter Schritt vorwärts für Gramsci und ein wichtiger Bruch mit der Methodik und theoretischen Rechtfertigung für seine vorausgegangene Position.

Vorher hatte Gramsci analysiert, dass Italien Teil des „Ostens“ war, in dem die Einheitsfront ungültig sei. Nun jedoch übergibt er Italien nicht einfach nur dem „Westen“, sondern vielmehr und viel wichtiger stellt er fest, dass die Taktik internationale Relevanz hat. Die Möglichkeit, ultralinke Züge im „Osten“ und Opportunismus im „Westen“ zu vermeiden, hat zumindest eine Änderung der Analyse zur Vorbedingung.

Aber die praktischen Folgen dieser Änderung für die KPI 1924 waren weniger klar zu sehen. Im Januar 1924 schlug die KPI den anderen Arbeiter:innenparteien einen Wahlblock für die Wahlen im April 1924 vor. Aber die Bedingungen dieses Paktes wurden so frisiert, um auf Ablehnung zu stoßen. Togliatti – der die Partei in Italien in Gramscis Abwesenheit leitete – schrieb an die Kominternexekutive über den Grundstock für die Propaganda dieses Paktes:

„Der Faschismus hatte eine Periode der permanenten Revolution für das Proletariat eröffnet, und eine proletarische Partei, die diesen Punkt vergisst und hilft, die Illusion unter den Arbeiter:innen zu nähren, es sei möglich, die gegenwärtige Situation zu verändern, während man auf dem Gebiet der liberalen und verfassungsmäßigen Opposition verbleibt, wird in letzter Analyse den Feind:innen der italienischen Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft Unterstützung geben.“ (35)

Als praktizierende Reformist:innen und Verfassungsanhänger:innen wurden die Mitglieder der PSI aufgefordert, ihre Daseinsberechtigung aufzugeben, um Teil des Blocks zu sein. Das konnte natürlich kaum von ihnen erwartet werden.

Gerade als er mit dem Ultimatismus Bordigas brach, (Ablehnung der Einheitsfront aus Prinzip) traten Ereignisse in der Kominternführung ein, die es verhinderten, dass Gramsci  seinen Weg zu den Positionen von Lenin und Trotzki vollendete. Darin liegt Gramscis Tragik.

Der Aufstieg des Stalinismus

Veränderungen innerhalb der Komintern am Ende von 1923 und ihre Rückwirkungen in der russischen Partei sollten Gramscis positive Entwicklung beschneiden. Es war die Niederlage der deutschen Revolution im Oktober 1923, welche dem Stalinismus Auftrieb verlieh. Trotzki war der Meinung, dass mit dieser Niederlage der Kapitalismus für sich eine Periode verhältnismäßiger wirtschaftlicher und politischer Stabilisierung gesichert hatte. Diese unvorteilhafte Verschiebung im internationalen Gleichgewicht von Klassenkräften forderte von der Komintern und ihren Sektionen die Erkenntnis, dass beträchtliche vorbereitende Arbeit gebraucht wurde, um die Massen wieder zu gewinnen. Er legte deshalb die Betonung fest auf die Einheitsfronttaktik.

Andererseits weigerten sich Sinowjew und Stalin zuzugeben, dass die revolutionäre Bewegung eine schwere Niederlage erlitten hatte. Im Gegenteil bestanden sie darauf, dass die Komintern besonders in Deutschland mit einer nahe bevorstehenden revolutionären Situation konfrontiert war.

Im Juni 1924 verlieh der Fünfte Kominternkongress dieser ultralinken Sicht Rückhalt. Im gleichen Monat nahm Stalin die Feder in die Hand, um Trotzkis Auffassung zu bestreiten, die bürgerliche Stabilisierung zeige sich auch in einer Stärkung der Sozialdemokratie in Europa. Stalin lehnte dieses ab und behauptete, die Sozialdemokratie sei eine Form des Faschismus:

„Es wäre deshalb ein Fehler zu denken, dass ,Pazifismus’ die Auslöschung des Faschismus bedeutet. In der gegenwärtigen Situation ist der ,Pazifismus’ die Kräftigung des Faschismus durch seinen gemäßigten, sozialdemokratischen Flügel, der in den Vordergrund geschoben wird.“ (36)

„Und da Faschismus und Sozialdemokratie einander nicht verneinen, sondern ergänzen, sind sie keine Gegenpole, sie sind Zwillinge“. (37) Eine Einheitsfront mit den Spitzen solcher Parteien kam deshalb nicht in Frage. Sie schlossen die Anwendung der Einheitsfronttaktik außer „von unten“ aus, ohne die Häupter der reformistischen und zentristischen Gewerkschaften und politischen Parteien. Der Fünfte Kongress erklärte:

„Die Taktiken der Einheitsfront von unten sind die wichtigsten, das bedeutet: eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die für Kommunist:innen, sozialdemokratische und parteilose Arbeiter:innen in Fabrik, Betriebsrat, Gewerkschaft gilt.“ (38)

In Kürze war es wenig mehr als ein an die Arbeiter:innenmitgliedschaft in diesen Organisationen gestelltes Ultimatum, ihre Parteien bedingungslos zu verlassen. Weil diese Arbeiter:innen an ihre Vorstände glaubten, konnte es von ihnen nur als ein Trick betrachtet werden. Dieses Einheitsfrontdiktat konnte in der Tat nur helfen, die Sozialdemokratie zu stärken, statt sie zu schwächen.

Gerade als Gramsci die unbestrittene Führung der KPI erlangt hatte und sich in Richtung der Positionen des Vierten Kominternkongresses bewegte, machte sich die Komintern praktisch auf, Gramscis eigenes Ultralinkstum einzuholen. Während des Herbstes 1924 – Gramsci war zurück in Italien – startete die KPI eine Kampagne für Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenausschüsse und den Bauern-/Bäuerinnenverteidigungsverband, den die KPI organisierte. Er wurde dem sozialistisch gesteuerten Bauern-/Bäuerinnengewerkschaftsverband entgegengesetzt.

Außerdem stellte die KPI während 1924 und 1925 Agitationskomitees Proletarischer Einheit auf, unter ihrer Führung, aber in offenem Konflikt mit den Gewerkschaften des Allgemeinen Arbeiter:innenverbands (CGL). Während Gramsci die Anwendbarkeit der Einheitsfront für Italien befürwortete, wurde sie in der Form des Fünften Kominternkongresses ausgeführt. Zwar bewegte er sich im Prinzip weg von Bordigas Ablehnung der Einheitsfront, steuerte aber zugleich auf einen Standpunkt der Einheitsfront von unten zu.

In der Tat sind die Beschlüsse des Fünften Kongresses zu Taktiken und Perspektiven für ein Verständnis von Gramscis Werdegang von 1924 bis zu den Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern entscheidend. Während Ultralinkstum seit der deutschen Niederlage Einfluss erlangt hatte, wurden die Perspektiven vor dem Kongress abgemildert, nicht zuletzt wenigstens, weil Trotzki gegen sie stritt. In Teil 13 der „Thesen zur Taktik“ mit der Überschrift  „Zwei Perspektiven“ umriss Sinowjew alternative Entwicklungsmöglichkeiten:

„Die Epoche internationaler Revolution hat begonnen. Der Entwicklungsgrad als Ganzes oder teilweise, die Entwicklungsrate revolutionärer Ereignisse auf irgendeinem besonderen Kontinent oder in irgendeinem besonderen Land können nicht mit Genauigkeit vorausgesagt werden. Die ganze Situation ist so, dass zwei Perspektiven offenstehen: (a) eine mögliche langsame und anhaltende Entwicklung der proletarischen Revolution und (b) andererseits, dass der Boden unterm Kapitalismus in so einem Ausmaß vermint ist und sich die Widersprüche im Kapitalismus als ein Ganzes so schnell entwickelt haben, dass die Lösung in einem Land oder einem weiteren vielleicht in nicht so entfernter Zukunft kommt.“ (39)

Dies war eine sehr vage und flexible Perspektive. Auf der einen Seite gab sie dem damals machtvollen Ultralinkstum Raum und doch konnte sie auch dazu herhalten, wenn notwendig, eine rechtsopportunistische Wende zu rechtfertigen. Natürlich kehrte sich Mitte 1925 die Politik um. Auf dem Sechsten Plenum des EKKI Anfang 1926 nutzte Sinowjew den Beschluss des Fünften Kongresses, sie zu verteidigen.

Die rechtszentristische Kehrtwende von 1925 gründete auf einer verspäteten Anerkennung, dass Stabilität in Europa eingetreten war. Angesichts dessen und des stalinistischen Konzepts, der Sozialismus könne in der Sowjetunion aufgebaut werden, falls Eingriffe von außerhalb verhindert werden konnten, fing die Kominternleitung die Suche nach Bündnissen in den europäischen Ländern an, die helfen könnten, solche Übergriffe zu verhindern. In Britannien wurde das Anglo-Russische Komitee 1925 zwischen den russischen und britischen Gewerkschaften mit diesem Hintergedanken etabliert.

Wie wirkte sich dieser Rechtsschwenk auf Gramscis Verständnis der Einheitsfront aus? Auf einer Ebene vermochte Gramsci das Problem von Strategie und Taktiken auf formell korrekte Art zu formulieren. So warf Gramsci das Problem in den „Lyon-Thesen“ für den Dritten KPI-Kongress im Januar 1926 auf folgende Weise auf:

„Die Taktik der Einheitsfront, als politische Aktivität (Manöver) gestaltet, um sogenannte proletarische und revolutionäre Parteien und Gruppen zu demaskieren, die eine Massenbasis haben, hängt eng mit dem Problem zusammen, wie die kommunistische Partei die Massen führen und wie sie eine Mehrheit gewinnen sollte. In der Form, in der sie von den Weltkongressen definiert worden ist, ist sie in allen Fällen anwendbar, in denen wegen der Massenunterstützung für gegnerischen Gruppen eine frontale Auseinandersetzung mit ihnen nicht genügt, uns schnelle und weitreichende Ergebnisse zu liefern … In Italien muss die Einheitsfronttaktik weiterhin von der Partei insoweit gebraucht werden, als sie noch weit weg davon ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Mehrheit der Lohnarbeiter:innenschaft und die werktätige Bevölkerung gewonnen zu haben.“ (40)

In einer Beziehung ist diese Stellungnahme korrekt und eine Wiederholung der Erklärung von Anfang 1924. Aber zusammen mit anderen Schriften Gramscis 1926 betrachtet kann man den Einfluss des rechtszentristischen Kurses in der Komintern entdecken, den wir verstärkt in den Gefängnisnotizbüchern vorfinden. In einem Bericht an die Parteiexekutive vom August 1926 zur italienischen Situation zeichnete Gramsci einmal wieder einen Unterschied zwischen „fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern“ (England und Deutschland) und „peripheren Staaten“ wie Italien. In der ersten Gruppe „besitzt die herrschende Klasse politische und organisatorische Reserven“. Das bedeutet, dass ¡sogar die schlimmsten Wirtschaftskrisen keine unmittelbaren Rückwirkungen auf die politische Sphäre haben“, weil der „Staatsapparat weit immuner ist, als oft geglaubt werden kann.“ (41)

In Ländern wie Italien „sind die Staatsmächte weniger tüchtig“. Aber Gramsci sagt nicht weiter, wie in der Auseinandersetzung mit Bordiga in den frühen 1920er Jahren, dass die Einheitsfront nur im ersten Fall anwendbar ist, aber nicht im zweiten. Im Gegenteil behält er bei, dass die Taktik in beiden Fällen einsetzbar ist.

Der Zweck, diese Unterscheidung zu machen, ist ein anderer. In den „peripheren Staaten“ gibt es zwischen Proletariat und Bourgeoisie viele dazwischenliegende Klassen. Diese Klassen im Europa Mitte der 1920er Jahre werden in so einem Ausmaß radikalisiert, dass die verschiedenen Aufgaben von Partei und Klasse jene „zwischen der politischen und technischen Vorbereitung der Revolution sind“. In Italien zu dieser Zeit bedeutete das eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die auf einer Perspektive vom nahe bevorstehenden Abgang Mussolinis aufgebaut war. In den fortgeschrittenen Ländern aber ‚besteht das Problem noch in „politischer Vorbereitung“.

Die Darlegung dieser Unterscheidung ist keine müßige Sache für Gramsci, denn in jedem Fall will er ein „wesentliches Problem“ anpacken, nämlich:

„ … das Problem vom Übergang von der Einheitsfronttaktik, verstanden in einem allgemeinen Sinn, zu einer bestimmten Taktik, die die konkreten Probleme nationalen Lebens angeht und auf der Basis der Volkskräfte operiert, wie sie geschichtlich geformt sind.“ (42)

Im Fall von England argumentiert Gramsci, die Gewerkschaften seien die konkrete Form, in der die „Volkskräfte“ agierten. An diesem Punkt bemerken wir die rechtszentristische Auslegung, die Gramsci der Einheitsfront verlieh, wo lange politische Vorbereitung notwendig ist. Trotz der Erfahrung mit dem Verrat des Generalstreiks von 1926, einschließlich durch die Linken im TUC, glaubte Gramsci, dass:

„der Anglo-Russische Ausschuss beibehalten werden sollte, weil es das beste Terrain ist, um nicht nur die englische Gewerkschaftswelt zu revolutionieren, sondern auch die Amsterdamer Gewerkschaften. Bei nur einem Ereignis sollte dort ein Bruch zwischen den Kommunist:innen und der englischen Linken stattfinden: wenn England am Vorabend der proletarischen Revolution steht und unsere Partei stark genug isti, den Aufstand allein zu führen.“ (43)

Dies stand in scharfem Kontrast zur revolutionären Einschätzung von der Rolle des Anglo-Russischen Gewerkschaftskomitees, wie von Trotzki nach dem Generalstreik ausgedrückt:

„ … die Politbüromehrheit hat eine grundlegend falsche Politik in der Frage des Anglo-Russischen Ausschusses verfolgt. Der Punkt, an dem die arbeitenden Massen Britanniens die größte gegnerische Macht zum Generalrat (des britischen Gewerkschaftsbundes TUC; Red.) ausübten, war, als der Generalstreik gebrochen wurde. Was notwendig war, war, Schritt mit den aktivsten Kräften des britischen Proletariates zu halten und in diesem Moment mit dem Generalrat als Verräter des Generalstreiks zu brechen … ohne dieses droht der Kampf für die Massen immer, sich in einen opportunistischen Kotau vor der Spontaneität zu verwandeln … Die Linie der Politbüromehrheit in der Frage des Anglo-Russischen Komitees war eindeutig ein Verstoß in Hinsicht auf den revolutionären Gehalt der Einheitsfrontpolitik.“ (44)

Auf Gramscis Seite ist all dies eine Abkehr weg von der internationalen Anwendung der Einheitsfront, für die er zu Beginn 1924 eintrat, und zurück zu einem unterschiedlichen Gebrauch, der schließlich auf der falschen Trennung zwischen „Ost“ und „West“ beruht. So wie er sich mit England auseinandersetzt, fällt er zur gleichen Zeit auf eine rechte, opportunistische Variante dieser Taktik zurück. Gramsci nutzte gewissermaßen die Positionen des Fünften Kongresses für seine eigenen doppelten Perspektiven für „Ost“ und „West“ aus. Seine Haltung zum Anglo-Russischen Ausschuss ist ein konkreter Ausdruck von Sinowjews Perspektive der „langsamen und anhaltenden Entwicklung der proletarischen Revolution“.

Dennoch gab es einen beträchtlichen Abstand zwischen Gramscis strategischen und taktischen Rezepten und denjenigen, die in der Komintern unter Stalin im Einsatz waren. Es war genau 1926, als Stalin darauf bestand, dass in China die kommunistische Partei sich in die Kuomintang auflöst, und unter der Losung der „demokratische(n) Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ die leninistische Position zur anführenden und lenkenden Rolle des Proletariats verließ.

Gramsci erkannte auf dem Lyoner Kongress im Januar 1926, dass:

„das Proletariat sich abmühen muss, die Bauern/Bäuerinnen dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und sie unter seine eigene politische Leitung stellen muss.“ (45)

Angesichts dessen, dass sich die schwache italienische Bourgeoisie für ihre Macht auf die Bauern./Bäuerinnenschaft stützte, bestand Gramsci für die KPI darauf, diese Frage sei „der zentrale Punkt der politischen Probleme, die die Partei in unmittelbarer Zukunft lösen muss“. (46)

Er erkannte, dass die Losung der „Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung“ ein Weg sei, um das Bauern-/Bäuerinnentum hinter die Lohnarbeiter:innenschaft zu ziehen, „das Mittel, sie auf den Boden der fortgeschrittenen proletarischen Vorhut zu transportieren (Kampf für die Diktatur des Proletariates).“ (47)

Anders als Stalin fand er nicht, das Regierungsbündnis zwischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen sei eine unterscheidbare Etappe, getrennt zum und vorausgehend dem Kampf für Sozialismus, sondern Gramsci argumentierte:

„ … die Partei kann  sich nicht eine Verwirklichung dieses Schlachtziels außer als Anfang eines direkten revolutionären Kampfes vorstellen: eines Bürgerkriegs, der vom Proletariat im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft mit dem Ziel geführt wird, die Macht zu erheischen. Die Partei könnte in ernste Abweichungen von ihrer Aufgabe als Kopf der Revolution geführt werden, wenn sie die Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung so interpretieren sollte, als entspreche sie einer wirklichen Phase in der Entwicklung des Ringens um die Macht: mit anderen Worten, wenn sie es so einschätzt, dass mit dieser Parole die Möglichkeit gegeben sei, das Problem des Staates im Interesse der Lohnabhängigen auf irgendeine andere Weise zu lösen als durch die Diktatur des Proletariats“. (48)

Gramscis Formulierungen zeigen bis zu seiner Inhaftierung einen Schwenk in Richtung Ultralinkstum.

Gefangene Gedanken

Gramcis Nachdenken über Probleme von Strategie und Taktik in den Gefängnisnotizbüchern setzt seinen Bruch mit ultralinken Einstellungen fort. Aber an seiner Stelle entwickelte er die Vorstellung weiter, die dem rechtszentristischen Kurswechsel von 1925 – 27 ihren Ursprung verdankt. Der letztendliche Triumph des Faschismus 1926 bewog Gramsci, seine Anschauungen über die Stabilität und Stärke von bürgerlichem Regime im Westen einschließlich Italiens neu zu bewerten. In den Gefängnisnotizbüchern stellt er fest:

„Es scheint mir, dass Iljitsch [Lenin] die Notwendigkeit eines Wandels vom Manöverkrieg, der siegreich im Osten 1917 angewandt wurde, zu einem Stellungskrieg verstand, der die einzig mögliche Form im Westen war – wenn, wie Krasnow bemerkt, Armeen endlose Mengen von Nachschub schnell ansammeln und wo die gesellschaftlichen Strukturen noch von sich aus zu schwer bewaffneten Befestigungen werden konnten. Dies scheint mir die Bedeutung der Formel von der ,Einheitsfront’ zu sein, und sie entspricht dem Konzept einer einheitlichen Front für die Entente unter dem alleinigen Befehl von Foch (französischer Oberbefehlshaber).“ (49)

Hier hat Gramsci die Idee der Einheitsfront als Kriegsmanöver von 1928 aufgegeben und verwandelte sie in einen Stellungskrieg im Westen; d. h., er hat die Einheitsfront in eine langfristige Strategie verwandelt, durch welche Partei und Klasse erfolgreich Stützpunkte in der Gesellschaft erobern und dadurch allmählich den Staat umzingeln und belagern können. Dies ist die Antithese zur revolutionären Nutzung der Einheitsfront, wie in der Komintern unter der Führung von Lenin und Trotzki ausgearbeitet und praktiziert.

Zu ein und der gleichen Zeit skizziert Gramsci in den Gefängnisnotizen eine vereinfachte, einseitige Sicht der russischen Revolution mit seinem absurden Hinweis, die Einheitsfront habe im bolschewistischen taktischen Arsenal gefehlt und Lenin hätte einen ununterbrochenen „revolutionären Angriff“ gegen einen unbefestigten zaristischen Staat geführt. Doch andererseits hält er eine zu opportunistische strategische Sichtweise im Westen aufrecht, die eine nahtlose Einheitsfront aus Kommunist:innen und Reformist:innen (und sogar liberalen/bürgerlich-demokratischen Kräften) regelrecht bis zur Machtergreifung in Aktion sieht. Gramsci scheint sich nicht bewusst zu sein, dass sich Zwecke und Mittel in dieser Betrachtung widersprechen. Die Machteroberung hängt vom zunehmenden Einfluss der kommunistischen Partei ab, und der kann im Gegenzug nur auf Kosten von und im Kampf gegen Reformist:innen und Zentrist:innen erzielt werden. Dies kann nur geschehen, wenn gemeinsame Fronten für bestimmte begrenzte Handlungen mit rücksichtsloser Kritik an den Beschränktheiten der Bündnispartner:innen im Kampf kombiniert werden und deren Halbherzigkeit und Schwankungen zusammen mit den Beschränkungen ihrer eigenen Rezepte enthüllen.

Lief all dies bereits auf Reformismus hinaus, worauf die Eurostalinist:innen beharren? Nicht ein bisschen! Gramsci hat vielleicht eine Taktik in eine Strategie verwandelt, aber dies ist nicht das Gleiche wie das Verdrehen von Revolution in Reform. Zum Teil war Gramscis rechtszentristische Vorstellung in den Gefängnisnotizbüchern eine undialektische Antwort auf die Konfrontationsstellung, die er zur ultralinken Wende Stalins 1928/29 beibehielt, als er anfing, seine Notizbücher zu schreiben. Es ist eher eine bucharinistische rechte Kritik an der Dritten Periode, die wir in Gramscis Notizbüchern finden. Dies betont die Distanz zwischen ihm und Trotzki, aber es dient auch dazu, die Kluft zu verdeutlichen, die Gramsci von Stalin scheidet.

Diese Lücke wird offensichtlicher durch die Berichte von Diskussionen mit einem Mithäftling, Athos Lisa, von 1930. Beauftragt und dann unterschlagen von Togliatti, unterstreichen sie, dass Gramsci sich der Dritten Periode widersetzte, dem Rauswurf von Oppositionellen aus der KPI nicht zustimmen konnte, und dass er seinen Glauben an die Notwendigkeit eines Aufstands behielt:

„Die gewaltsame Machteroberung erfordert die Schaffung einer Organisation militärischen Typus‘ durch die Partei der Arbeiter:innenklasse, die in jeden Zweig der bürgerlichen Staatsmaschinerie durchdringend eingeimpft wird und fähig ist, ihr im entscheidenden Kampfmoment Wunden und ernste Schläge zuzufügen.“ (50)

Gramsci sollte 1935, im Jahr des definitiven Übergangs der stalinistischen Komintern von bürokratischem Zentrismus zu Gegenrevolution und Reformismus, zum Schreiben nicht mehr gesund genug sein. Die Unterschrift unter den Stalin-Laval-Pakt in diesem Jahr gab grünes Licht für die französischen Stalinist:innen, sich dem Patriotismus mit voller Unterstützung des Kreml an den Hals zu werfen. Es gibt nichts in Gramscis Leben oder Arbeit, das heutigen Eurostalinist:innen erlauben würde, Gramsci in den Schutzheiligen der Volksfront zu verwandeln.

Ganz im Gegenteil. In ein paar bemerkenswerten Abschnitten von 1926 polemisiert Gramsci ausdrücklich gegen eine Volksfront, die den Faschismus besiegen soll, auf eine Weise, die die entschuldigenden Argumente Togliattis, die er fast zehn Jahren später für die stalinistische Politik im spanischen Bürgerkrieg gebraucht hat, vorwegnimmt. Er bestreitet die Einlassungen der Bourgeoisie, die: „ … ein Interesse daran hegt, zu behaupten, Faschismus sei ein vordemokratisches Regime: dieser Faschismus wird auf eine beginnende und noch rückständige Phase des Kapitalismus verwiesen.“ (51)

Dies führt zur Ansicht:

„Wenn nicht ein wirklicher bürgerlich-proletarischer Block für die verfassungsmäßige Beseitigung des Faschismus, wäre das beste taktische Ziel wenigstens eine Passivität der revolutionären Vorhut, eine Nichteinmischung der kommunistischen Partei in den unmittelbaren politischen Kampf, was der Bourgeoisie so gestattet, das Proletariat als Wahltruppe gegen den Faschismus zu benutzen.“ (52)

Wohingegen:

„Für uns Kommunist:innen ist das faschistische Regime Ausdruck der entwickeltsten Etappe kapitalistischer Gesellschaft. Es dient genau dazu zu demonstrieren, wie alle Eroberungen und alle Institutionen, die die werktätigen Klassen erfolgreich realisieren … zur Vernichtung verdammt sind, wenn in einem gegebenen Moment die Arbeiter:innenklasse nicht die staatliche Macht mit revolutionären Mitteln an sich reißt.“ (53)

„Permanente Revolution“ oder „Sozialismus in einem Land“?

Es gibt noch einen Weg, Gramscis Werdegang zu beurteilen: Was war seine Einstellung zur theoretischen Untermauerung des Zentrismus in der Komintern – „Sozialismus in einem Land“ – und zu seiner revolutionären Kritik – „permanente Revolution“?

Seine Kapitel in den Gefängnisnotizen zu diesen Fragen geben den Argumenten keine Nahrung, die wie Perry Anderson eine Ähnlichkeit zwischen den Positionen Gramscis und Trotzkis in ihren jeweiligen Kritiken am Ultralinkskurs Stalins nach 1928 sehen.

Die Wahrheit ist, dass Gramsci von Mitte 1924 an ein heftiger Kritiker von Trotzkis Theorie ist. Der letzte wohlwollende Hinweis auf Trotzki kommt bei Gramsci im Februar 1924 vor. Er verfolgt die Angriffe der Opposition auf die Bürokratie in der UdSSR mit Sympathie und sagt weiter:

„Es ist gut bekannt, dass Trotzki schon 1905 dachte, eine sozialistische und Arbeiter:innenrevolution könne in Russland stattfinden, während die Bolschewiki nur anstrebten, eine politische Diktatur des Proletariats im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft zu schaffen, die als ein Rahmen für die Entwicklung des Kapitalismus dienen würde, der nicht in seinen ökonomischen Fundamenten berührt werden würde. Es ist wohlbekannt, dass Lenin im November 1917 … und die Mehrheit der Partei sich Trotzkis Sicht angeschlossen hatten und beabsichtigten, nicht bloß die politische Macht zu übernehmen, sondern auch die wirtschaftliche.“ (54)

Doch innerhalb von sechs Monaten, um die Zeit des Fünften Weltkongresses, hatte Gramsci diesen Standpunkt verlassen und war zur Fraktion der Stalin/Sinowjew/Kamenew-Troika übergelaufen. Der unmittelbare Antrieb dazu ist Gramscis Einstellung zu fraktioneller Aktivität:

„Trotzkis Vorstellungen … stellen eine Gefahr dar, wenn die Einheit der Partei in einem Land fehlt, in dem es nur eine Partei gibt, dies Risse im Staat erzeugt. Dies produziert eine konterrevolutionäre Bewegung; es bedeutet aber nicht, dass Trotzki ein Gegenrevolutionär ist, denn in diesem Fall würden wir für seinen Ausschluss plädieren.

Schließlich sollten aus der Trotzkifrage Lehren für unsere Partei gezogen werden. Vor den letzten disziplinarischen Maßnahmen war Trotzki in der gleichen Position wie Bordiga gegenwärtig in unserer Partei.“ (55)

Dieser tragische Fehler, nämlich eine rechtsopportunistische Gleichsetzung des Marxismus mit Ultralinkstum, wird wiederholt und oft in den Gefängnisnotizbüchern verstärkt. In der Hitze seines eigenen Bruches 1924 mit Bordiga war er nur zu willig, die Mehrheit in der KPdSU in der Bolschewisierungskampagne zu unterstützen, die auf dem Fünften Kongress lanciert wurde. Dies war in der Tat der erste Schritt zur Erdrosselung des innerparteilichen Lebens in den kommunistischen Parteien und führte Gramsci zum Widerstand gegen alle Fraktionstätigkeit.

Während Gramsci bis Oktober 1926 noch bereit war, sich für disziplinarische Nachsicht in Hinsicht auf die Vereinte Opposition einzusetzen, so argumentierte er in den frühen 1930er Jahren wie folgt:

„Die Tendenz, die von Leo Dawidowitsch [Trotzki] vertreten wird, war eng mit dieser Reihe von Problemen verbunden … ein übermäßig resoluter (und deshalb unvernünftiger) Wille, Industrie und industriellen Methoden eine Vormachtstellung im nationalem Leben zu geben, durch Zwang von außerhalb die Steigerung von Produktionsdisziplin und -ordnung zu beschleunigen und Gewohnheiten an die Arbeitserfordernisse anzupassen. Angesichts der allgemeinen Form, in der alle mit dieser Tendenz zusammenhängenden Probleme wahrgenommen wurden, endete das schicksalhaft notwendig in Bonapartismus. Daher rührt die erbarmungslose Notwendigkeit, sie zu zermalmen.“ (56)

Bei dieser Haltung und Einschätzung war es nicht überraschend, dass Gramsci seine Einstellung von 1924 zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution überprüfen würde:

„Bronstein [Trotzki] erinnert in seinen Memoiren daran, und wir bekommen das noch einmal erzählt, dass seine Theorie sich als wahr erwiesen habe … fünfzehn Jahre später … In Wirklichkeit war seine Theorie als solche weder fünfzehn Jahre früher gut noch fünfzehn Jahre später. Wie es bei Sturköpfen vorkommt … riet er mehr oder weniger korrekt. Er hatte in seiner allgemeineren Prophezeiung recht. Es ist, als ob man prophezeien sollte, dass ein kleines vier Jahre altes Mädchen Mutter würde, und als sie um zwanzig es tatsächlich wurde und man dann sagte: ,Ich erriet, dass sie Mutter werden würde’. Dabei übersieht man aber die Tatsache, dass man das Mädchen mit vier Jahren zu vergewaltigen versucht hatte, im Glauben, dass sie sogar damals Mutter würde.“ (57)

Diese Ablehnung dessen, was er als Trotzkis Theorie versteht, steckt im Kern seiner gesamten strategischen und taktischen Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern wie z. B.:

 „ … das politische Konzept der sogenannten permanente(n) Revolution, welches vor 1848 entstand als wissenschaftlich entwickelter Ausdruck des jakobinischen Experiments von 1789 bis zum Thermidor. Die Formel gehört zu einer historischen Periode, in der die große Masse der politischen Parteien und die großen wirtschaftlichen Gewerkschaften noch nicht existierten und die Gesellschaft unter vielen Gesichtspunkten sich noch sozusagen in einem Flüssigzustand befand: größere Rückständigkeit des Dorfes und fast vollständiges Monopol politischer und staatlicher Macht bei wenigen Städten oder sogar nur einer einzelnen (Paris im Fall von Frankreich); ein relativ rudimentärer staatlicher Apparat und größere Unabhängigkeit ziviler Gesellschaft von staatlicher Aktivität; ein bestimmtes System militärischer Macht und von nationalen bewaffneten Diensten; größere Autonomie der Nationalökonomien von den wirtschaftlichen Verbindungen des Weltmarktes usw. In der Periode nach 1870, mit der kolonialen Ausdehnung Europas, verändern sich alle diese Elemente, die inneren und internationalen organisatorischen Verbindungen des Staates werden komplexer und dichter, und die 1848er Formel von der ,permanenten Revolution’ wird erweitert und in der Politologie in die Formel von ,ziviler Hegemonie’ überführt. Die gleiche Sache passiert in der Politikkunst wie in militärischer Raffinesse: Bewegungskrieg wird zunehmend Stellungskrieg, und es kann gesagt werden, dass ein Staat einen Krieg gewinnen wird, sofern er sich ganz akkurat und technisch darauf in Friedenszeiten vorbereitet.“ (58)

Deshalb wird Trotzki bezichtigt, hinsichtlich der Strategie für den fortschrittlichen Westen hinter der Zeit zurückgeblieben zu sein. Er klagt Trotzki an, „der politische Theoretiker des Frontalangriffes in einer Periode zu sein, wenn er nur zu Niederlagen führt.“ ( 59)

Solch eine Vorstellung bildet die Basis der Kritik am Trotzkismus seitens des Eurostalinismus. Zunächst einmal muss dagegen eingewendet werden, dass Gramscis Darlegung, die die „permanente Revolution“ mit frontalem Angriff oder Bewegungskrieg gleichsetzt, nichts mit Trotzkis Theorie zu schaffen hat. Trotzki nahm zu seinem Ausgangspunkt den kombinierten, ununterbrochenen Charakter von bürgerlichen und proletarischen Revolutionen in bestimmten Situationen. Deshalb konnte Trotzki nicht diesen Aspekt seiner Theorie auf den „Westen“ anwenden, wo die Bürgerrevolution in allen wichtigen Grundfesten vollständig war, und machte es auch nicht.

Wenn auf jemanden zutrifft, was Gramsci Trotzki vorwirft, dann ist es Bucharin auf dem Dritten und Vierten Kongress der Komintern: „der an seinem Standpunkt von der Dauerhaftigkeit sowohl der Wirtschaftskrise als auch der Revolution als Ganzes scholastisch festhielt.“ (60)

Gramsci stimmte Bucharin zu der Zeit zu. Es könnte auch eine Konzeption sein, die  Sinowjew und Stalin auf dem Fünften Kongress zuzuordnen war, von der wieder Gramsci nicht abwich.

Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass Gramsci zwischen 1922 und 1924 auf einem Standpunkt beharrte, der sich nicht von dem unterschied, den er hier kritisiert. Er argumentierte, dass der Kollaps des faschistischen Regimes nahe bevorstehe, zugleich aber keinem Übergangsregime bürgerlicher Demokratie Platz machen könne. Im Januar 1924 behauptete er:

„ … in Wirklichkeit hat der Faschismus ein sehr rohes, scharfes Dilemma in Italien erzeugt: das der permanenten Revolution und der Unmöglichkeit, nicht nur die Staatsform, sondern sogar die Regierung anders als durch bewaffnete Gewalt zu verändern.“ (61)

Nachdem seine ultralinken Illusionen durch seinen Bruch mit Bordiga geschwächt waren und mit dem endgültigen Triumph Mussolinis 1926 ein für allemal zerbrachen, änderte Gramsci seinen Strategieentwurf nach rechts; aber während er Trotzkis Theorie angriff, focht er in Wirklichkeit seine eigene ultralinke Vergangenheit an.

Gramscis Identifikation seiner eigenen vorherigen Haltung mit der Trotzkis kann nur mit damit erklärt werden, dass er die stalinistischen Lügen über  den „Trotzkismus“, die nach 1923 in der Komintern Einzug hielten, ganz bejahend aufnahm. Wenn Trotzki tatsächlich, wie die Stalinist:innen behaupteten, befürwortet hätte, das bürgerliche Stadium der Russischen Revolution zu überspringen, wenn Trotzki tatsächlich „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ unterschätzt hätte, worauf seine Gegner:innen immer wieder herumritten, und der russischen Revolution so einen rein „sozialistischen“ (Arbeiter:innen-)Klassencharakter verliehen hätte, dann hätten Gramscis Sticheleien vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt gehabt. Aber diese Unterstellungen waren haltlos. Wenn überhaupt, war es Gramsci, der „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ in seiner ultralinken Periode unterschätzte.

Ein nationaler Weg

Noch blieb Gramsci in der anderen Frage, die zwischen Trotzki und Stalin auf dem Spiel stand, schweigsam während seines Gefängnisaufenthaltes. Er schrieb mehrere Passagen zu den methodologischen anstehenden Fragen im Streit über „Sozialismus in einem Land“, der gründlich mit dem Problem der ununterbrochenen Revolution zusammenhängt. Er überlegte wie folgt:

„Gehen internationale Verbindungen voraus oder folgen sie (logisch) grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen? Es kann keinen Zweifel geben, dass sie folgen. Irgendeine endogene Neuerung in der Gesellschaftsstruktur modifiziert organisch absolute und relative Verhältnisse auch auf internationaler Ebene durch ihre technisch-militärische Auswirkung. Sogar die geographische Position eines Nationalstaates geht nicht voraus, sondern folgt (logisch) strukturellen Änderungen, obwohl sie auch in gewissem Maße auf die Verhältnisse zurückwirkt (in genau dem Maß, zu dem Überbauten auf die Struktur reagieren, Politik auf Wirtschaft usw.).“ (62)

Gramsci stellt alles auf den Kopf. Mit „wesentlichen Gesellschaftsverhältnissen’“meint er kapitalistische Produktionsverhältnisse. Er stellt diese „internationalen Verhältnissen“ gegenüber und tritt somit stillschweigend dafür ein, dass Kapitalismus national definiert ist. Nach dieser Definition ist es dann möglich, argumentiert Gramsci, die Verhältnisse zwischen den nationalen und den internationalen Belangen zu untersuchen. Mittels Analogie sind die internationalen Verhältnisse die „Überbauten“ und ist das Nationale der „Unterbau“. Dies ist der Ausgangspunkt für Stalins „Sozialismus in einem Land“.

Der Marxismus denkt in entgegengesetzter Weise. Er geht von der Tatsache aus, dass Kapitalismus ein Weltganzes ist und seine Verhältnisse den Globus umspannen. Nationalökononomien können in diesem Licht untersucht und bestimmt werden.

Für Gramsci spielte der Beginn mit der „nationalen“ Ebene die gleiche Rolle wie der Ausgangspunkt vom „ungleichen“ Charakter der Weltwirtschaft statt des „ungleichen und kombinierten“ wie Trotzki. Gramsci glaubte wie Stalin, dies sei der einzige Weg einzuschätzen, was „einmalig“ und „besonders“ in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit war:

„In Wirklichkeit sind die inneren Verhältnisse irgendeiner Nation das Ergebnis einer Kombination, die ,ursprünglich’ und (in einem bestimmten Sinn) einmalig sind: diese Verhältnisse müssen in ihrer Originalität und Einmaligkeit verstanden und gedacht werden, wenn man wünscht, sie zu dominieren und lenken. Sicher, die Entwicklungslinie richtet sich zum Internationalismus hin, aber der Ausgangspunkt ist ,national’ – und von diesem Startpunkt muss man anfangen. Doch ist die Perspektive international und kann nicht anders sein. …  Die führende Klasse ist in der Tat nur eine solche, wenn sie diese Kombination – von der sie selbst ein Bestandteil ist – minutiös interpretiert und genau als solche fähig ist, dem Moment eine bestimmte Richtung innerhalb bestimmter Perspektiven zu verleihen. Es ist meiner Meinung nach dieser Punkt,  um den die wesentliche Uneinigkeit zwischen Leo Dawidowitsch [Trotzki] und Wissarionowitsch [Stalin] als Interpreten der Mehrheitsbewegung [Bolschewismus] sich wirklich dreht. Die Vorwürfe von Nationalismus sind unangebracht, wenn sie sich auf den Kern der Frage beziehen. Wenn man den Kampf der Mehrheitler:innen von 1902 bis 1917 studiert, kann man sehen, dass seine Originalität in der Säuberung des Internationalismus von jedem vagen und rein ideologischen (im herabsetzenden Sinn) Element bestand, um ihm einen realistischen politischen Inhalt zu geben. In diesem Hegemoniekonzept sind jene dringlichen Erfordernisse, die von nationalem Charakter sind, zusammen verknotet.“ (63)

So war für Gramsci Lenins „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ herrschaftsfähig und national, während die Theorie der „permanenten Revolution“ unfähig war, die konkrete Wirklichkeit der russischen Gesellschaft zu begreifen bzw. damit umzugehen.

Natürlich hat Trotzki genau das getan, was Gramsci ihm als nicht erfüllt vorhält. Trotzkis Analyse Russlands war auf einer ausführlichen Untersuchung seiner Geschichte und besonderen Gesellschaftsverhältnisse gegründet. In seiner Arbeit „Ergebnisse und Perspektiven“ von 1906 vergleicht Trotzki und stellt einander gegenüber das Russland von 1905 mit Frankreich von 1870 und Deutschland von 1848 auf der Basis der Nachzeichnung der Entwicklung internationaler Ereignisse. Damit war er fähig, in einer bemerkenswerten Art die bestimmten Merkmale zu umreißen, die im zaristischem Russland gegenwärtig waren und es dazu bestimmten, eine sozialistische Revolution vor den „fortgeschrittenen“ und „reifen“ Ländern zu erleben und doch nicht in der Lage zu sein, sie ohne internationale Hilfe aufrechtzuerhalten.

Weil die nationale Eigenheit  eine bestimmte Kombination der internationalen Trends ist, ist es genau unmöglich, die nationalen Besonderheiten wirklich zu begreifen, ohne zuerst die internationalen Zusammenhänge zu verstehen.

Die Verbindung zwischen Gramscis Sicht der Beziehung zwischen nationalen und internationalen Verhältnissen und den strategischen und taktischen Aufgaben der arbeitenden Klasse wird vollständig enthüllt. Nur das Nationale ist bestimmt und hegemoniefähig; was Länder trennt, ist wichtiger als das, was sie verbindet. Obwohl Italien und England in einer Periode sehr verschiedene Arten von Nation und dann später im gleichen Lager sein können, ist es daher Tatsache, dass verschiedene Einheitsfronttypen anwendbar sind, je nach dem, mit welchem Typ Land wir es zu tun haben; Einheitsfront von unten und Kriegszüge in „rück- oder randständigen“ Staaten, eine strategische Einheitsfront und ein Stellungskrieg in den vorangeschrittenen kapitalistischen Ländern. Kurz nur, Anfang 1924, nachdem er sich entschieden hatte, politisch mit Bordiga zu brechen, warf Gramsci das Problem korrekt auf. Aber diese Einsichten wurden nicht durchgehalten, und Gramsci ergab sich einer Rechtsentwicklung.

Schlussfolgerungen

Der Staatsanwalt bei Gramscis Gerichtsverfahren forderte, dass jedes Urteil „dieses Gehirn für zwanzig Jahre zu arbeiten abhält“. Sie scheiterten. Aber es hat jetzt fünfzig Jahre lang aufgehört zu arbeiten. Viele sind begierig, ihn als ihr Eigentum zu beanspruchen. Diese legendenbildnerische Einstellung zum größten italienischer Revolutionär hätte Gramsci entsetzt. Wir gehen an Gramscis politisches Leben kritisch heran. Beim Bruch mit  Bordigas Ultralinkstum 1923 – 24 setzte Gramsci sich das bewusste Projekt, die junge und unterdrückte KPI zwischen dem ultralinken Kurs Bordigas und dem Opportunismus Tascas hindurchzusteuern. Dabei war sein Ziel, zu den Positionen der revolutionären Komintern Lenins zurückzukehren.

Beim Versuch, dieses Ziel zu erreichen, war Gramsci für einen beträchtlichen Beitrag an scharfsichtiger Arbeit über die Fehler des Bordigismus, über Geschichte, Klassenstruktur und strategische Probleme der italienischen Gesellschaft verantwortlich. Jede/r revolutionäre Kämpfer:in heute wird viel in seiner Arbeit finden, was wertvoll und inspirierend ist.

Aber Gramsci versagte dabei, den Bolschewismus in Italien aufzubauen, genau deshalb, weil die bürokratisch-zentristische „Bolschewisierung“ Stalins und Sinowjews seinen Werdegang durchschnitt. In der Periode bis zu seiner Verhaftung bedeutete dies, dass die KPI unter Gramscis Leitung eine mildere Form von ultralinker Politik in Italien und eine Neigung zum zunehmenden Rechtsopportunismus im „Westen“ nicht ausmerzen konnte. Im Gefängnis führten seine weiteren,  auf einer einseitigen Ablehnung seines eigenen Ultralinkstums basierenden und vom Mythos der Stalinist:innen über Trotzki genährten Reflexionen Gramsci weiter ins Camp des rechten Zentrismus‘. Gramsci dehnte nicht so sehr die Grenzen des Marxismus aus, sondern engte eher dessen Horizont ein. Seine Einblicke waren oft nicht eigenständig, sobald sie die Grenzen von italienischer Geschichte und Gesellschaft überschritten und oft übermäßig abstrakt und sogar zweideutig. In der historischen Periode, die mit der Degeneration der UdSSR beginnt, ist es der Trotzkismus, nicht der Gramscianismus, der auf den Schultern des Leninismus steht und den Marxismus um einen Kopf größer macht.

Trotzdem können wir während dieses fünfzigsten Jahres seit Gramscis grausamem und schmerzhaftem Tod Anregungen in seinem Leben und Kampf finden. Wir können nur hoffen, ihn vor dem Zugriff seiner „Freund:innen“ zu bewahren.

Endnoten

1 Marxism Today, April 1987

2 O. Blasco [Tresso], „Ein großartiger Kämpfer ist gestorben … Gramsci, La Lutte Ouvrière Nr. 44, 14. Mai 1937

3 L. Maitan, „The Legacy of Antonio Gramsci“ [Das Vermächtnis Antonio Gramscis], in: International Marxist Review, Sommer 1987

 4 Socialist Worker Review, April 1987

 5 Maitan, a. a. O., S. 35

 6 C. Harman, Gramsci versus Reformism, S. 28

 7 Zitiert in: A. Davidson, „Gramsci and Lenin, 1919-22“, Socialist Register 1974, S. 131

 8 A. Gramsci, Selections from the Political Writings [Ausgewählte politische Schriften], Vol. 1 (SPW1), S. 34 (London 1977)

 9 Ebda.

 10 a. a. O., S. 68

 11 Ebda.

 12 Harman, a. a. O., S. 16

 13 L. D. Trotzki, Speech to the General Party Membership in Moscow [Rede an die allgemeine Parteimitgliederversammlung in Moskau]

 14 Lenin, Collected Works, Vol. 32, S. 465 (Moscow) [Gesammelte Werke (Moskau)]

 15 A. Gramsci, Selections from the Political Writings, Vol. 2 (SPW2) S. 189 (London 1978)

 16 Theses, Resolutions and Manifestoes of the First Four Congresses of The Communist International, S. 391 – 396 (London 1980) [Thesen, Resolutionen und Manifeste der ersten 4 Kongresse der Kommunistischen Internationale]

 17 L. D. Trotzki,The Third International After Lenin, S. 90 (New York 1970) [Die 3. Internationale nach Lenin]

 18 SPW2, S. 96

 19 a. a. O., S. 97

 20 a. a. O., S. 107 – 108

 21 a. a. O., S. 108

 22 a. a. O., S. 99

 23 a. a. O., S. 392

 24 a. a. O., S. 105

 25 a. a. O., S. 148

 26 a. a. O., S. 146

 27 a. a. O., S. 153

 28 a. a. O., S. 155

 29 a. a. O., S. 196

 30 a. a. O., S. 121 – 124

 31 a. a. O., S. 359

 32 a. a. O., S. 174 –175

 33 Ebda.

 34 a. a. O., S. 199 – 200

 35 a. a. O., S. 489

 36 J. W. Stalin, Concerning the International Situation, Collected Works, Vol. 6, S. 295 [Über die internationale Lage, Gesammelte Werke]

 37 Ebda.

 38 „Theses on tactics“, in: Resolutions and Theses of the Fifth Congress, (London 1924) [„Thesen zur Taktik“, in: Resolutionen und Thesen des 5. Kongresses]

 39 Ebda.

 40 SPW2, S. 373

 41 a. a. O., S. 410

 42 Ebda.

 43 a. a. O., S. 411

 44 L. D. Trotzki, On Britain, S. 253 – 255 (New York 1972) [Über Britannien]

 45 SPW2, S. 331

 46 Ebda.

 47 Ebda.

 48 a. a. O., S. 75

 49 A. Gramsci, Selection from the Prison Notebooks (SPN), S. 237 – 278 (London 1971) [Auswahl aus den Gefängnisbüchern]

 50 Zitiert in Perry Anderson, The Antinomies of Antonio Gramsci, New Left Review No100, S. 72 [Die Widersprüche Antonio Gramscis]

 51 SPW2, S. 414

 52 a. a. O., S. 359

 53 a. a. O., S. 414

 54 a. a. O., S. 192

 55 a. a. O., S, 284

 56 SPN, S. 301

 57 Ebda., S. 237

 58 a. a. O., S. 242 – 243

 59 a. a. O., S. 238

 60 Trotsky, The Third International After Lenin, a. a. O., S. 90

 61 SPW2, S. 176

 62 SPN, S. 176

 63 a. a. O., S. 240 – 241




Für ein sozialistisches und demokratisches Palästina!

Arbeiter:innenmacht-Rede, Infomail 1223, 23. Mai 2023

In Berlin wurden in den letzten Wochen alle Veranstaltungen in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf von der Versammlungsbehörde und den Gerichten verboten oder, wie am 20. Mai, von der Polizei aufgelöst. Unsere Rede konnte daher an diesem Tag nicht vollständig gehalten werden. Wir veröffentlichen sie hier im Wortlaut.

Liebe Genossinnen und Genossen!

Ich stehe hier vor euch als eine kurdische Frau, die den Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit, gegen Unterdrückung, Vertreibung, Landraub und Besetzung genauso kennt, wie ihr.

Uns trennen vielleicht tausende Kilometer, aber egal ob in Rojava oder in Palästina, wir als Kommunist:innen verstehen den Kampf um Freiheit als einen Kampf um die grundlegenden Rechte eines jeden Menschen auf ein Leben in Würde, ein Leben in Freiheit, ein Leben ohne Herrschaft und Unterdrückung.

Und auch wenn wir heute hier sind, um der Vertreibung und Ermordung von Millionen Palästinenser:innen zu gedenken, sind wir vor allem hier, um den Widerstand nicht nur in unseren Herzen weiter aufrecht zu erhalten, sondern um uns die Straßen wieder zurück zu holen. 75 Jahre Nakba heißt 75 Jahre Vertreibung, Mord und Unterdrückung. Im palästinensischen Gedächtnis ist das Jahr 1948 das Jahr der Katastrophe, in welchem innerhalb eines Jahres mehr als 750.000 Palästinenser:innen aus ihrer Heimat entwurzelt und in die Flucht getrieben wurden. Dabei sollte nicht vergessen werden, die Nakba war eine geplante, systematische ethnische Säuberung Palästinas, die nach der UN Teilungsresolution im November 1947 begann und ihren Höhepunkt in den Monaten vor der Staatsgründung Israels hatte. Die Motive für die ethnische Säuberung sind dabei klar, ein jüdischer Staat in welchem Palästinenser:innen nicht wie historisch gesehen in der Mehrheit sondern in der Minderheit oder gar nicht vorhanden sind. Ziel war es, dass ganze Mandatsgebiet Palästinas zum Staat Israel zu machen. Die Massaker, welche in der Nakba an der arabischen Bevölkerung verübt wurden, waren und sind bis heute Staatsräson Israels und laut Aussagen von Politiker:innen wie Menachem Begin, hatten all die Massaker von Deir Yassin bis zur Staatsgründung Israels seine Berechtigung. Ich frage mich: Wie können die Massaker an der einheimischen Bevölkerung je eine Berechtigung haben, und welcher Staat wurde auf diesem blutigen Boden gegründet? Die Auswirkungen dieser Vertreibung sind immens: Etwa die Hälfte der Palästinenser:innen, fast 6 Millionen Menschen, lebt heute in der Diaspora – mehr als 50 % der gesamten palästinensischen Bevölkerung sind Geflüchtete. Und dieser Zustand hat sich bis heute nicht verbessert. Alleine diese Woche sind mehr als 13 Menschen in Gaza ermordet worden, damit sind seit Jahresbeginn mehr als 110 Menschen ums Leben gekommen. Das heißt, dass alle 3-4 Tage ein Mensch in Palästina ums Leben kommt.

Aktuell scheint die Lage in Israel und Palästina zu eskalieren. Zehntausende Israelis gingen gegen die Angriffe der israelischen Regierung gegen die vermeidliche demokratische Verfassung des Landes auf die Straße! Auch wenn bestimmt einige mutige Menschen unter den Demonstrierenden sind, so finden wir Heuchelei und Doppelmoral in ihrer Bezeichnung von „Demokratie“. Denn gegen die Massaker in Dschenin gingen nur einige Hundert auf die Straßen.

Menschen in Israel versuchen eine „Demokratie“ zu retten, die es nie gab! Denn es sind 75 Jahre andauernde, militärische Besatzung, welche die Grundsätze von Demokratie und Freiheit mit Füßen tritt und nie auch nur ein bisschen geachtet hat. Dass die Wut, die Reaktionen und auch der bewaffnete Widerstand der Palästinenser:innen gegen dieses systematische Morden und Vertreiben nicht gleich zu setzen ist mit dem was der israelische Staat verübt, ist für uns eindeutig. Denn die Gewalt der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker:innen kann in keiner Weise mit der Barbarei der militärischen und zivilen Besatzungstruppen gleichgesetzt werden. Und revolutionäre Kommunist:innen müssen im Kampf gegen den rassistischen, israelischen Siedler:innenkolonialstaat an der Seite der palästinensischen Widerstandsbewegung und der arbeitenden Massen stehen, während sie gleichzeitig die Ideologie, Strategie und Taktik der Führung der Bewegung schonungslos kritisieren müssen. Denn egal ob in Gaza unter einer islamischen Führung, im Westjordanland unter der bürokratischen Fatah oder in Israel unter einer reaktionären und konservativen Führung: Keine dieser Führungen hat das Interesse, die Unterdrückten und Arbeiter:innen zu befreien und diesen Kampf zu vereinen. Dies muss Aufgabe von uns sein! Wir müssen uns zusammenschließen und gemeinsam kämpfen, für eine Welt in welcher die Bedürfnisse der Menschen über denen der Reichen und Besitzenden stehen.

Die in Oslo geplante und von den USA, Großbritannien und weiteren Staaten unterstützte „Zwei-Staaten-Lösung“ hat sich als Utopie erwiesen. Israel hat sie nie umgesetzt, sondern unter dem Deckmantel von Oslo den verbleibenden, zusammenhängenden Teil Palästinas mittels neuer Siedlungen weiter zerstückelt. Die einzige Lösung ist ein einheitlicher Staat für Israelis und Palästinenser:innen.

Dies hat jedoch nichts mit einer Vertreibung der jüdischen Bevölkerung zu tun, denn es muss auch in ihrem Interesse sein, in einem Land zu leben in Frieden mit all jenen, die ebenfalls dort wohnen. Es bedeutet aber auch das Rückkehrrecht für alle Palästinenser:innen in ihre Heimat und das Ende eines Staates, der ausschließlich von und für jüdische Israelis regiert wird. Wir glauben, dass nur die Arbeiter:innenklasse beider Nationalitäten und des gesamten Nahen Ostens eine fortschrittliche Lösung herbeiführen kann. Wir treten dafür ein, dass ein multiethnischer Staat ein sozialistischer sein sollte, da nur so die Beendigung der nationalen Unterdrückung mit einer gerechten Reorganisation der Wirtschaft im Interesse aller Lohnabhängigen, Bauern und Bäuerinnen verbunden werden kann. Und um es noch einmal deutlich zu sagen: Der Kampf um ein befreites Palästina wird und muss von der palästinensischen Arbeiter:innenklasse geführt werden! Die israelische Arbeiter:innenklasse muss den Zionismus abweisen und ihn vehement bekämpfen, und kann dann erst einen Kampf Schulter an Schulter mit den Palästinenser:innen führen. Das heißt die Führung einer neuen Intifada liegt in den Händen der unterdrückten Massen Palästinas und der Unterdrückten weltweit! Widerstand gegen Besatzung ist legitim, ob in Palästina, Kurdistan oder in der Ukraine!

  • Für ein sozialistisches und demokratisches Palästina!



Die Türkei vor den Wahlen: ein Land vor neuen Entscheidungen?

Dilara Lorin, Infomail 1222, 5. Mai 2023

Am 14. Mai stehen nun die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei an. Und sie könnten auch zu einer Entscheidung über die Zukunft des Regimes Erdogan werden.

Zweifellos spekulierten der Präsident und die regierende Koalition um die AKP beim Ansetzen des Wahltermins auf eine zumindest vorübergehende Erholung der Wirtschaft. Doch die blieb aus. Im Gegenteil: Die hohe Inflationsrate sowie eine hohe Verschuldung, aber auch die Covid-19-Pandemie haben die Ökonomie stark beeinträchtigt.

Das verheerende Erdbeben vom 6. Februar hat noch einmal für ein großes Loch bei Hunderttausenden Menschen gesorgt, aber auch die miserable Politik im Interesse des Kapitals und der Günstlinge von Erdogan hat nicht nur tiefe Spuren hinterlassen, sondern auch die über Jahre andauernde Korruption dieses Regimes aufgezeigt. Diese Politik hat nicht nur Millionen in Armut gestürzt, sondern auch Tausenden Menschen das Leben gekostet.

Leidtragende sind vor allem die Arbeiter:innenklasse sowie die unterdrückten Minderheiten des Landes, denn sie müssen die Lasten der Wirtschaftskrise schultern. Aber selbst die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum zweifeln mittlerweile am Regime.

Erdogans Wahlantritt

Dabei zeigt schon die Tatsache, dass Erdogan überhaupt ein weiteres Mal antreten darf, wie biegsam die türkische „Demokratie“ ist. Eigentlich darf ein Präsident gemäß der Verfassung nur zwei Amtszeiten regieren. Erdogan steht aber mittlerweile 20 Jahre an der Spitze des Staates. Wie ist das „legal“ möglich?

Mit dem Referendum 2018 wurde zugleich die bonapartistische Herrschaft, die er ausübt, verstärkt und per Plebiszit legitimiert. Die Abstimmung zog eine Verfassungsänderung nach sich, die es gestattet, dass der/die Staatspräsident:in gleichzeitig auch das Amt des/r Regierungschef:in ausübt. Das Referendum erlaubt es Erdogan außerdem, im Jahr 2023 ein weiteres Mal als Präsident zu kandidieren. So wurde per Plebiszit zwar festgelegt, dass man lediglich zwei Amtszeiten regieren darf – aber jene vor 2018 werden nicht mitgezählt.

Mit dem Vorverlegen der Wahl auf Mitte Mai kann Erdogan außerdem sogar bei der nächsten Wahl dafür plädieren, wieder kandidieren zu dürfen. Denn eigentlich darf man nur zwei Perioden als Präsident:in regieren, was bedeuten würde, dass die kommende Amtszeit seine letzte wäre. Aber Erdogan und die AKP können behaupten, dass dadurch, dass die Wahl aktuell vorgezogen wurde, die Zeit von 2018 bis 2023 nicht als komplette Amtszeit gilt.

Dennoch könnte es eng werden. Sollte kein/e Kandidat:in bei den Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang eine Mehrheit erhalten (was sehr durchaus wahrscheinlich ist), so soll zwei Wochen später eine Stichwahl abgehalten werden.

Bei den Parlamentswahlen werden 600 Abgeordnete für die Große Nationalversammlung der Türkei bestimmt. Diese Sitze werden auf die 81 Provinzen des Landes aufgeteilt, wobei jede durch eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten vertreten wird. Wie viele eine Provinz wiederum erhält, wird durch die Proportion zu ihrer Bevölkerungszahl festgelegt. Damit eine Partei ins Parlament einziehen kann, muss sie aber bei den Wahlen die undemokratische 10 %-Hürde überschreiten.

Wie sieht die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung aus?

Die Regierung wird aktuell durch eine Koalition aus AKP und MHP gebildet. Dabei ist das Regime der AKP schon in den letzten Jahren nicht nur durch Autoritarismus, Repression, regionale Machtambitionen und einen permanenten Krieg vor allem gegen die Kurd:innen im eigenen Land und in Rojava geprägt. Die AKP ist auch immer wieder von Konflikten zerrissen, infolge derer einige Abgeordnete und Mitglieder die Partei verließen.

Gleichzeitig findet eine weitere Stärkung des autoritären, bonapartistischen, auf die Person Erdogans zugeschnittenen Regimes auch innerhalb der AKP statt. Der Präsident wurde immer mehr zur einzigen führenden Figur entwickelt, um seine Kontrolle innerhalb der Partei weiter zu stärken. Kritiker:innen wurden in gleichem Zuge ausgeschlossen oder verließen die Reihen. Damit hält die Person Erdogan faktisch immer mehr Partei wie Regime zusammen. Daher ist die Verlängerung seiner Vorherrschaft nicht nur ein Zeichen seiner Stärke, sondern unfreiwillig auch der Schwäche eines auf einen mittlerweile recht kranken „starken Mann“ zugeschnittenen Regimes.

Nach den letzten Wahlen 2018 musste die AKP eine Koalition mit der MHP eingehen, weil sie alleine nicht die absolute Mehrheit gewinnen konnte. Die MHP ist eine extrem rechtsnationale Partei, die mit den faschistischen und militant organisierten Grauen Wölfen eng verbunden ist. Sie gelten wie andere protofaschistische und extrem reaktionäre Kräfte als Reserven eines bonapartistischen Regimes, das sich aber vor allem auf die Kontrolle des Staatsapparates, der Medien, eine Wahlmaschinerie, Teile des Kapitals, große Schichten des Kleinbürger:innentums, der konservativen Mittelschichten, aber selbst rückständige, nationalistische Schichten der Lohnabhängigen und Armen stützt. Chauvinismus, Nationalismus und die ideologische Wiederbelegung des „Osmanismus“, die eine regionale Führungsrolle begründen sollen, sind ebenso ein Bindeglied dieser Allianz wie Erdogan als übergroße Führungsfigur, die die Einheit durchaus heterogenerer Kräfte repräsentiert.

Doch große Teile der Bevölkerung wenden sich auch ab. Sie wollen dem AKP- und MHP-Regime nicht mehr folgen. Die Inflation sowie der stetige Fall der Lira drücken die Mittelschicht der Türkei, die unter den Anfangsjahren der AKP-Regierung noch aufblühte, immer mehr an den Rand. Sie steht zum Teil ablehnender als vorher zur Regierung. Das Erdbeben und die damit immer deutlicher werdenden Missstände, Vetternwirtschaft sowie Korruptionsskandale haben die Regierung weiter diskreditiert.

Wachsende Teile dieser Schichten setzen nun bei der kommenden Wahl ihre Hoffnung in Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP. In den Umfragen liegt sie oft nur einige Prozentpunkte hinter der AKP und hat im Vergleich zu den Wahlen von 2018 einen Gewinn von bis zu 5 % zu verzeichnen, wobei die AKP einen Verlust von ganzen 11,5 % erlitt. In den aktuellen Umfragen liegen je nach Meinungsforschungsinstitut der Regierungs- oder der Oppositionsblock vorne. In jedem Fall hat die CHP geführte Oppositionsallianz eine realistische Chance auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen.

Die Sechser-Opposition

Die Unzufriedenheit mit dem AKP/MHP-Regime bildet auch den größten Pluspunkt der Opposition. Sie pocht darauf, dass alles besser werde, wenn Erdogan und die AKP nicht mehr an der Macht seien.

Inhaltlich und programmatisch hält sich die bürgerlich-nationalistische Oppositionsallianz allerdings bedeckt. Wie sie Inflation und Armut bekämpfen will, welche Politik sie gegenüber den unterdrückten Nationalitäten und von allem den Kurd:innen verfolgt, das lässt sie bestenfalls (!) offen. Ein Rückzug aus Syrien, eine Aufgabe der geopolitischen Ambitionen der Türkei sind natürlich auch unter der CHP nicht zu erwarten, wohl aber ist es eine zumindest verbale Verbesserung der Haltung zur NATO und zum Westen.

Um die Mehrheit der AKP und Erdogans zu brechen, hat die nationalistische CHP, die sich zwar „sozialdemokratisch“ nennt, jedoch immer eine offen bürgerliche Partei war, eine Allianz mit fünf anderen bürgerlichen Teilen der rechten bzw. extrem nationalistischen und islamistischen Oppositionsparteien gebildet – eine Allianz des Grauens, die in vielem fast schon ein Spiegelbild des AKP-MHP-Bündnisses darstellt. Dass sie von der Bevölkerung als mögliche Alternative und zumindest als kleineres Übel akzeptiert und wahrgenommen wird, zeigt deutlich, dass sich die Stimmung weit weniger stark auf Erdogan fixiert als im Jahr 2015/2016. Um wenigstens ihn loszuwerden, setzen viele – auch linke und progressive – Menschen ihre Hoffnungen auf sie. Angesichts von 20 Jahren AKP-Regime ist es sicher verständlich, dass viele Linke, Unterdrückte, Frauen und große Teile der LGBTIAQ-Community sehnsüchtig auf den Sturz eines Tyrannen hoffen. Und natürlich wollen auch alle klassenkämpferischen, ja alle demokratischen Kräfte ihn und die reaktionäre AKP fallen sehen. Aber ein Sieg der CHP-geführten Opposition wird keine echte Freiheit, Frieden oder eine Verbesserung für Unterdrückte und Lohnabhängige bringen.

Im Gegenteil: Sie würde letztlich das kapitalistische, autoritäre Regime nur unter anderen Vorzeichen weiterzuführen versuchen. Die kemalistische CHP tritt bei dieser Wahl mit einem Wahlbündnis an, welches insgesamt aus 6 Parteien besteht. Dieses Bündnis wird von den Medien auch „Altılı Masa“, Sechsertisch, genannt. Neben der CHP beteiligen sich daran İYİ Parti, Saadet Partisi, Demokratik Parti, Gelecek Partisi und die Demokrasi ve Atılım Partisi. Dabei traten vier der sechs Parteien schon 2018 als „Nationale Allianz“ an. Die İYİ-Partei, eine nationalistische Abspaltung von der MHP, ist in den letzten Jahren auf ca. 10 % bei den Wahlen gekommen und wird darum auch am Sechsertisch als zweitstärkste Kraft nach der CHP gesehen. Dass die HDP keinen Sitzplatz erhielt, liegt vor allem an der İYİ Parti, die extrem chauvinistisch ist und die Unterdrückung der HDP und andere kurdischer Organisationen als „terroristischer“ fordert. Die CHP und die anderen Parteien am „Sechsertisch“ folgten diesen Bedingungen ohne große Diskussion.

Die größten Konflikte in der instabilen Allianz gab es um die Frage des/r Spitzenkandidat:in und die Verteilung des zukünftigen Einflusses, sollten die Wahlen gewonnen werden. Wie kaum eine Regierung davor wird eine mögliche CHP-geführte von großen inneren Widersprüchen geprägt sein, wahrscheinlich von größeren als die aktuelle Regierung. Falls sie gewinnen sollte, werden früher oder später die unterschiedlichen Interessen von rechten, ultrakonservativen, nationalistischen, islamischen bis hin zu liberal-reformerischen Strömungen aufbrechen.

Keine Stimme für die CHP und Kılıçdaroğlu!

Auch wenn die CHP und der Sechsertisch vielen als geringeres Übel erscheinen mögen, so sollten ihnen Arbeiter:innen, Linke, unterdrückte Minderheiten, die Frauen- und Umweltbewegung kein Vertrauen schenken und keine Stimme geben.

In Wirklichkeit würde das nur eine kapitalistische Alternative zu Erdogan, eine alternative bürgerlich-nationalistische Koalition stärken, die in allen grundlegenden ökonomischen, geopolitischen und auch demokratischen Fragen letztlich der AKP näher steht als den Arbeiter:innen und Unterdrückten. Auch sie würde eine Wirtschaftspolitik im Interesse des türkischen Kapitals vertreten. Sie mag zwar –ähnlich wie Erdogan – ein paar Verbesserungen für die Armen versprechen, letztlich sollen aber die Massen über Preissteigerungen, Kürzungen, Angriffe auf Arbeits- und Gewerkschaftsrechte die Kosten der Krise zahlen, die sie mit einem Austeritätsprogramm und Privatisierung überwinden will. Eine Aufhebung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze lehnt die Opposition ab. Für die unterdrückten Minderheiten, allen voran für das kurdische Volk, wird es auch unter der CHP keine Selbstbestimmung geben, ja nicht einmal die politischen Gefangenen werden freikommen. Sie wird Rojava ebenso wie die PKK weiter bekämpfen. Sie wird weiter gegen Geflüchtete vorgehen. So verspricht sie, in den nächsten zwei Jahren einen Großteil aller Geflüchteten abzuschieben. Die türkische Armee wird weiter in Syrien ihr Unwesen treiben. Das Regime wird, ebenso wie Erdogan, gegen die Geflüchteten vorgehen und seine geostrategischen Interessen verfolgen.

Angesichts der tiefen Widersprüche am Sechsertisch, der Wirtschaftskrise und der vom Standpunkt der Herrschenden notwendigen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse wird auch ein Präsident Kılıçdaroğlu auf jene bonapartischen Machtbefugnisse zurückgreifen, die Erdogan eingeführt hat. Auch seine Herrschaft wird sich auf den bestehenden Staats- und Militärapparat stützen müssen, was ein Übereinkommen mit den Leuten beinhaltet, die von der AKP an die Spitze der Institutionen gesetzt wurden.

Würde Erdogan eine Niederlage akzeptieren?

Dies wird umso wahrscheinlicher, als es keineswegs sicher ist, dass Erdogan und die AKP eine etwaige Wahlniederlage akzeptieren würden. Schon Trump und Bolsonaro brachten es fertig, von Wahlbetrug zu sprechen, als sie selbst an der Macht waren. Erdogan und die AKP verfügen zweifellos über weit stärkere Stützen in der türkischen Gesellschaft und Elite als Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien. Andererseits würde ein Putschversuch das Land weiter destabilisieren. Daher ist es auch fraglich, ob die AKP insgesamt, die MHP, das Militär einen Putsch inszenieren würden.

In jedem Fall besteht die Gefahr. So sprechen einige von der Ruhe vorm Sturm, wenn es um die AKP und Erdogan geht. Dieser scheint derzeit eher ruhiger in der Politik zu agieren, wenn man seine aktuelle Wahlpropaganda mit der vor den letzten 2 Wahlen vergleicht. Viele Menschen bezeichnen den Urnengang am 14. Mai als Schicksalswahl zwischen Demokratie und Autokratie.

Die Frage „Was kommt?“ teilt sich dabei in die Phase vor und nach der Wahl. Vor der Wahl ist noch immer ungeklärt, wie die bis zu 3,7 Millionen Menschen aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten wählen können. Viele sind nicht in der Lage, ihre Dörfer zu verlassen, um in den Städten zu wählen, viele befinden sich außerhalb ihrer Heimatstädte und haben keine Ahnung, wie sie ihre Stimme nutzen können. Und auch die Wahlbehörde hat sich dazu bis dato nicht geäußert. Das Erdogan Wahlmanipulation und -betrug durchführt und weiter durchführen wird, ist kein Geheimnis. Beobachter:innen gehen davon aus, dass alleine im Referendum zur Verfassungsänderung bis zu 2 Millionen Stimmen gefälscht wurden.

Dass kurdische, linke Politiker:innen, kritische Journalist:innen mit Repression überschüttet werden, wundert auch nicht. Alleine bei der Eröffnung der Wahlbüros für die YSP (Yeşil Sol Parti; Grüne Linke Partei) wurden etliche Menschen, die sich in Solidarität mit ihr versammelt hatten, in mehreren Städten und Gemeinden festgenommen. Dass vor allem den Minderheiten erschwert wird, bei Wahlen anzutreten, konnten wir schon 2018 beobachten und dies scheint sich auch dieses Mal nicht zu bessern, sondern zu verschärfen.

Die Linke

Um ein durchaus mögliches Parteiverbot kurz vor den Wahlen zu umgehen, treten die Kandidat:innen der HDP diesmal in Form der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti; YSP) an. Zusammen mit anderen linken Parteien bildet sie das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“.

In diesem Rahmen stellt die HDP (Halkların Demokratik Partisi) für viele Linke, Gewerkschafter:innen, die LGBTIAQ-Community und Teile der kurdischen Minderheit die wichtigste Kraft dar. Die Repression gegenüber den Abgeordneten und Mitgliedern der Partei ist immens. Im Mai 2016 entzog die AKP-Regierung 138 Abgeordneten ihre Immunität. Die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seither (!) in Untersuchungshaft und mit ihnen etliche weitere Abgeordnete.

Bei diesem schmutzigen Vorgehen spielte auch die CHP eine wichtige Schlüsselrolle, denn erst mit ihren Stimmen konnte die nötigen Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht und damit die Aufhebung der Immunität durchgesetzt werden. Nach den Kommunalwahlen 2019 setzte die Regierung 47 der 65 gewählten HDP-Bürgermeister:innen ab und ihre eigenen Leute als Zwangsverwalter:innen ein. Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Şahin reichte am 17. März 2021 einen Verbotsantrag gegen die HDP beim Verfassungsgericht ein. Dass die HDP und ihre Strukturen systematisch angegriffen und immer wieder zerschlagen werden, ist nichts Neues und die Verhaftungs- sowie Verleumdungswellen haben in den letzten Jahren nicht nachgelassen. 

Die TIP, die türkische Arbeiter:innenpartei, stellt im Bündnis die zweitstärkste Kraft dar. Außerdem sind die EMEP (Partei der Arbeit), die EHP (Partei der Arbeiter:innenbewegung), SMF (Föderation der sozialistischen Räte) und die TÖP (Soziale Freiheitspartei) beteiligt. Außerdem rufen die meisten linken Gewerkschaften für die HDP bzw. die YSP bei den Parlamentswahlen auf.

Die sechs Parteien kandidieren auf einer gemeinsamen Liste bei der Wahl, aber alle Mitgliedsparteien können auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten. Dies wurde als Kompromiss durchgesetzt, da zuvor vor allem die TIP darauf bestand, sich mit eigenen Kandidatenlisten und eigenem Logo zur Wahl aufzustellen an den Orten, wo sie regionale Schwerpunkte hat.

Dass die TIP und die HDP auch Menschen aus der LGBTIAQ-Community sowie aus den unterschiedlichen Minderheiten des Landes als Kandidat:innen aufstellen lassen, stellt einen Fortschritt gegenüber den anderen Parteien dar. Das Nichtaufstellen eines/r Präsidentschaftskandidat:in seitens des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ ist ein großer Fehler und zeigt auch dessen politische Schwächen deutlich. Mehr oder weniger offen wird zumindest im zweiten Wahlgang für Kılıçdaroğlu aufgerufen.

Auch wenn sich die CHP auf einer Pressekonferenz unverbindlich dafür ausgesprochen hat, die Anliegen der HDP, die Frage der Kurd:innen usw. weiterzutragen, wissen wir aus der Geschichte, aber auch durch die Einschätzung des Sechsertisches, dass dies eine blanke Lüge ist.

Während der Wahl gibt es eigentlich drei bis vier Themen, bei welchen sich die Linke von den reaktionären und offen bürgerlichen Kräften für alle deutlich wahrnehmbar unterscheidet: die Frage der Geflüchteten in der Türkei, der Rechte der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten, die Aufarbeitung des Erdbebens und vpn dessen Folgen und, wie die wirtschaftliche Krise sowie die miserable Lage der Arbeiter:innenklasse verbessert werden können, ohne dies den Lohnabhängigen aufzuschultern. Und zum wiederholten Mal zeigt sich dabei die reaktionäre Ader der CHP. So stach in den letzten Jahren und Monaten immer brisanter hervor, wie ihre Abgeordneten im Parlament und in öffentlichen Reden gegen Geflüchtete hetzen.

Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ stellt zwar eine linke Bündniskandidatur, aber keine revolutionäre Kraft dar, die sich auf ein klares antikapitalistisches Programm der sozialistischen Revolution beruft. Es handelt sich vielmehr um eine Allianz mit einer kleinbürgerlich-nationalistischen Kraft, der HPD, die sich vor allem auf kurdische, Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, aber auch Kleinbürger:innen und kleine Unternehmer:innen stützt. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren mehr in Richtung Gewerkschaften entwickelt hat und z. B. über einen wichtigen Einfluss bzw. Verbindungen zur DISK verfügt, so ist sie keine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, sondern eher ein Hybrid aus kleinbürgerlichem Nationalismus, Stalinismus, Populismus und Linksreformismus.

Die anderen Parteien in der Koalition sind durchweg reformistische Arbeiter:innenparteien, oft mit stalinistischer Ausrichtung oder solchen Wurzeln, die jedoch in einzelnen Regionen und Sektoren eine gewisse Verankerung in der Arbeiter:innenklasse aufweisen.

Bei den Parlamentswahlen rufen wir zur kritischen Unterstützung des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ auf.

Es handelt sich dabei um die einzige Kraft mit einer Massenunterstützung aus der Arbeiter:innenklasse und seitens der unterdrückten Kurd:innen, die eine fortschrittliche Alternative gegenüber beiden bürgerlich-reaktionären Blöcken aus AKP/MHP einerseits und CHP/Sechsertisch andererseits verkörpert.

Zugleich kritisieren wir jedoch das Programm des Wahlblocks. Auch wenn viele der sozialen und demokratischen Versprechungen selbst unterstützenswert sind wie, sich für die Arbeitenden, die Gewerkschaften, die demokratischen Rechte der Kurd:innen und anderer nationaler Minderheiten einzusetzen, so geht es über demokratisch-reformistische Reformversprechungen nicht hinaus. Allenfalls wird es mit dem Gedanken an eine sozialistischen Zukunft verknüpft, aber ohne die aktuellen Reformforderungen mit konkreten Übergangslosungen zu verbinden.

Zweitens verhält sich das Bündnis gegenüber der CHP, dem Sechsertisch und Kılıçdaroğlu opportunistisch. Ihre Politik wird nicht offen als bürgerlich und arbeiter:innenfeindlich kritisiert, sondern als kleineres Übel gegenüber Erdogan beschönigt. Damit unterlässt es, die Arbeiter:innen, die städtische Armut und die Unterdrückten auf die Angriffe einer möglichen CHP-geführten Regierung schon jetzt vorzubereiten und den Widerstand gegen jede kommende aufzubauen. Natürlich würde das auch einschließen, gegen einen möglichen Putschversuch Erdogans auf die Straße zu gehen, sollte er die Wahl verlieren. Aber es bedeutet vor allem auch, die Massen auf jede Form des Kampfes gegen die nächste Regierung vorzubereiten.

Dennoch wäre es ein wichtiges Zeichen für alle Unterdrückten, Arbeiter:innen und Armen, wenn die Liste über die 10 %-Hürde käme. Aber zugleich müssen Revolutionär:innen in der Türkei in diese Wahlen mit zwei zentralen Stoßrichtungen eingreifen. Erstens müssen sie von allen Kräfte des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ fordern, eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen, der HPD, der Gewerkschaften, der Umwelt-, der Frauenbewegung gegen die Angriffe der nächsten Regierung aufzubauen. Das 10-jährige Jubiläum der Gezi-Proteste am 24. Mai könnte dazu einen wichtigen ersten Mobilisierungschwerpunkt bilden und damit auch soziale Sprengkraft entfalten.

Zweitens müssen Revolutionär:innen dafür eintreten, dass im Bündnis selbst offen die Frage diskutiert wird, welche Partei die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten in der Türkei brauchen. Eine wirkliche, revolutionären Arbeiter:innenpartei ist unserer Meinung nach nötig – und das erfordert, mit dem Schwanken zwischen linkem kleinbürgerlichen Nationalismus und „linken“ Parteiprojekten ohne klare klassenpolitische Ausrichtung ebenso zu brechen wie mit stalinistischen und linksreformistischen Traditionen.

Eine solche Partei kann entstehen, aber nur, wenn der gemeinsame Kampf verbunden wird mit einem politisch-programmatischen Bruch hin zu eine Arbeiter:innenpartei, das sich auf ein Program von Übergangsforderungen stützt, um die Lohnabhängigen und Unterdrückten zur sozialistischen Revolution zu führen. Dies ist keine Frage einer fernen Zukunft, sondern stellt sich im Klassenkampf. Die wirtschaftliche Lage lässt sich nicht mit einigen Reformen wieder geradebiegen. Dies kann alleine die Arbeiter:innenklasse, indem sie für die Enteignung der Betriebe und Konzerne unter ihrer Kontrolle, für ein Notprogramm für die Opfer der Erdbebenkatastrophe eintritt, dafür, die Wirtschaft gemäß einem demokratischen Plan im Interesse der Massen neu zu organisieren.

Drittens müssen wir die Möglichkeit ernst nehmen, dass Erdogan und die AKP entweder versuchen könnten, die Wahl offenkundig zu stehlen oder sich an der Macht zu halten, indem sie sich auf Wahlbetrug berufen. Obwohl die Arbeiterklasse und alle fortschrittlichen Kräfte keine Illusionen in die CHP-Opposition haben sollten, sollten sie sofort die Gewerkschaften, die fortschrittlichen Parteien, die Frauenbewegungen und die national Unterdrückten zu einem Generalstreik mobilisieren, um Erdogans Festhalten an der Macht zu stoppen. Sollte dieser haben, wäre Erdogans Unterdrückung wahrscheinlich noch schlimmer als nach dem gescheiterten Putsch vom 16. Juli 2016.

Aber das Ziel, ihn zu besiegen, sollte mehr als ein negatives sein. Die Bewegung sollte die Wahl einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung fordern, um das gesamte bonapartistische System hinwegzufegen und die sozialen und politischen Forderungen der Arbeiter, der städtischen und ländlichen Bevölkerung, der unterdrückten Nationalitäten, insbesondere des kurdischen Volkes, zu erfüllen.

Solche und andere grundlegende Maßnahmen können nicht mit dem bestehenden kapitalistischen Staatsapparat umgesetzt werden. Sie können nur durch eine Bewegung der Arbeiter:innen und Unterdrückten, durch landesweite Massenstreiks, durch Besetzungen der Betriebe, durch die Errichtung von Räten und Selbstverteidigungsorgane der Massen in allen Regionen durchgesetzt werden, durch eine Kraft, die den bonapartistischen, autoritären Staatsapparat hinwegfegen und eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen stattdessen an die Macht bringen kann.