Den Worten folgen Taten – Trotzki und die bolschewistische Partei

Vorwort der Redaktion, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Mit diesem Beitrag wollen wir den im Folgenden abgedruckten Artikel Trotzkis „Den Worten folgen Taten“ würdigen. 9o Jahre nach seiner Veröffentlichung in der Zeitung „Wperjod“ (Vorwärts) am  28. Juni 1917 ist er in der Geschichte von Trotzkis Annäherung an Lenins Partei ein Schlüsseldokument. „Wperjod“ war die Zeitung der überregionalen Organisation der Vereinigten Sozialdemokraten, der „Meschrajonzi“. Sie wurde 1913 von Jurenew und anderen Mitgliedern der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR), die die Disziplin des bolschewistischen und des menschewistischen Parteiflügels ablehnten, gegründet. Jurenew schrieb später: „Wir weigerten uns v.a., die bolschewistische Konferenz von 1912 als Konferenz der gesamten SDAPR anzusehen.“ Ihr ursprüngliches Vorhaben war, die Bolschewiki und linken Menschewiki in einer Partei der ‚Vereinigten Internationalisten‘ zusammenzuschließen.

Dieses Ansinnen stand in Gleichklang mit dem Trotzkis zwischen 1907 und 1916. Seit der Spaltung 1903 hatte Trotzki eine Position auf dem äußersten linken Flügel des Menschewismus eingenommen, in der Hoffnung, dass der objektive Druck der revolutionären Ereignisse den Menschewismus in eine revolutionäre Richtung treiben würde (wie zeitweilig 1905). Nach 1914 wurde Trotzkis „menschewistisches Versöhnungsprogramm“ auf internationale Ebene ausgeweitet, was ihn in eine Position zwischen dem sozialpazifistischen „Zentrum“ und der revolutionär-defätistischen Linken auf der Zimmerwalder Antikriegskonferenz von 1915 manövrierte.

Aber der Krieg und die russische revolutionäre Erhebung zeigten in der Praxis die menschewistische Unfähigkeit, eine revolutionäre Orientierung zu entwickeln, immer deutlicher. Im Mai 1917, als Trotzki nach Russland zurückkam, waren die Menschewiki gemeinsam mit den kapitalistischen und kleinbürgerlichen Parteien eine Koalitionsregierung eingegangen, wo sie ihre Energie daran setzten, die erlahmende Unterstützung der ArbeirInnen für die kapitalistischen Kriegsanstrengungen wieder anzuspornen.

Bei seiner Rückkehr traf Trotzki ohne Umschweife den Meschrajonzi bei. 1914 zählten sie 350 Mitglieder, 1917 waren es nur noch 150. Sie wuchsen nicht so wie die Bolschewiki, obwohl einzelne linke Menschewiki und einige ex-Bolschewiki wie Lunatscharski, Joffe, Uritzki, Rjasanow und Wolodarski dazu stießen.

Während Stalin und Kamenew im April die Bolschewiki zur Unterstützung der bürgerlichen provisorischen Regierung und des Krieges führten, setzten sich die Meschrajonzi für einen neuen Aufstand und für Sowjetmacht ein. Als Trotzki in Petrograd ankam, hatte Lenin bereits den Kampf gegen die „alte bolschewistische Linie“ von Kamenew und Stalin zu Ende geführt und entwickelte in seinen „Aprilthesen“ die Losung „Alle Macht den Sowjets!“.  Es gab keine  politische Differenz zwischen den Meschrajonzi und den Bolschewiki mehr. Deutscher schreibt: „In öffentlichen Veranstaltungen wurden die Meschrajonzi dauernd gefragt, worin sie sich von den Bolschewiki unterschieden und warum sie sich nicht die Hände reichten. Auf diese Frage hatten sie in Wirklichkeit keine zufriedenstellende Antwort.“

Am 10. Mai trafen sich Lenin, Kamenew und Sinowjew mit Trotzki und den Meschrajonzi-Führern und schlugen die sofortige Fusion mit Beteiligung in den bolschewistischen Führungsgremien und der Redaktion der „Prawda“ vor. Trotzki sagte, dass er mit Lenin seit den Aprilthesen politisch völlig übereinstimme, machte aber trotzdem Ausflüchte. Doch im Mai und Juni wurde zusehends klar, dass das, was er als bolschewistisches Sektierertum („Cliquenwesen“) bezeichnete, durch den großen Zustrom von revolutionären ArbeiterInnen in die Partei ad absurdum geführt war.

Zur Zeit des Artikels bereitete sich Trotzki darauf vor, mit den Bolschewiki zu fusionieren und Jurenews Versöhnlertum zu bekämpfen. Dieser Prozess wurde verkürzt durch die Periode der Reaktion, die den  Julitagen folgte. Lenin floh in ein Versteck, während Trotzki verhaftet wurde. In dieser Zeit trat Trotzki den Bolschewiki bei. Von seiner Zelle aus erklärte er sich bereit, sich im August ins Zentralkomitee wählen zu lassen.

Am 1. November sagte Lenin auf einer ZK-Sitzung, dass es, seit Trotzki unter seine Versöhnungsversuche mit dem Menschewismus einen Trennungsstrich gezogen habe, „keinen besseren Bolschewiken“ gab. Trotzkis Artikel dokumentiert den klarsten Moment des Bruches. Sein Titel „Den Worten folgen Taten“ war nicht nur eine Ermunterung für die zögernden Meschrajonzi. Er war ein Sinnbild für Trotzkis eigene Handlung vom linksmenschewistischen Publizisten und Redner zum Führer einer revolutionären Kampfpartei.

Trotzki, „Den Worten folgen Taten“

Seit der Konferenz der Petrograder Bezirksverbund-Organisation sind schon anderthalb Monate vergangen, aber das Problem der Vereinigung der Internationalisten ist noch keinen Schritt vorangekommen. Mehr noch: jeder, der auf der Konferenz anwesend war und die vorherrschende Stimmung dort miterlebte, würde sagen, dass wir damals der Einigung näher waren als jetzt.

Damals erschien es in jeder Beziehung eine praktische Aufgabe zu sein. Heute wird es zu oft in eine fromme Floskel umgemodelt, die uns zu keiner praktischen Lösung zwingt. Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass wir keine grundsätzlichen Differenzen zu den Bolschewiki haben. In allen Fragen, die durch den Krieg, die Revolution oder die Internationale aufgeworfen wurden, kamen wir zu ein und demselben Schluss. Doch eine separate organisatorische Existenz kann nur durch große programmatische oder praktische Differenzen gerechtfertigt werden. In Ermangelung solcher Differenzen folgt notwendigerweise die Konsequenz: totale organisatorische Fusion (Hervorhebung im Original)

Auf der Konferenz wurden die Probleme in Ableitung aus den Gewohnheiten und Methoden des bolschewistischen Cliquenwesens gesehen. Natürlich ist es unmöglich, diese Probleme abzustreiten, die auch jetzt nicht gerade selten mit äußerst abstoßendem Gehabe in der Organisationspolitik des Zentralkomitees und auf den Seiten der Prawda erscheinen. Gleichzeitig hat der Genosse Lunatscharski auf der Konferenz absolut korrekt gesagt, dass dieses Cliquenwesen unter der Bedingung der offenen Existenz einer Arbeitermassenpartei auf einen mächtigen Gegendruck stößt. Auf jeden Fall ist es unmöglich, gegen das Cliquenwesen anzugehen, wo es keine grundsätzlichen Differenzen gibt, es sei denn, man widersetzt sich ihm innerhalb der Schranken einer gemeinschaftlichen Organisation, d.h. durch demokratischere Methoden in der Parteiarbeit. Künstlich eine separate Organisation zum Zwecke des Kampfes gegen das Cliquenwesen zu erhalten, würde bedeuten, die Voraussetzungen für unser eigenes Sektierertum in kleinerem Umfang zu schaffen. Ohne Zweifel steht die Bezirksverbund-Organisation vor dieser Gefahr. In Wperjod Nr. 3 sah Genösse Jurenew einen der Vorteile, die Schritte zur Vereinigung zu verschieben, darin, sich auf die menschewistische Internationale zu beziehen. Er schrieb: „Vereinigung ist für uns in der Form einer separaten organisatorischen Fusion mit den bolschewistischen Genossen unannehmbar. Obwohl wir mit ihnen in der zentralen Frage der Revolution übereinstimmen, wäre es falsch, nicht alle Möglichkeiten für die Bildung einer einzigen revolutionären Sozialdemokratie auszunutzen, indem man sofort fusioniert. Nach Petrograder Maßstab wäre das ein Vorteil, nach einem gesamtrussischen Maßstab ein Nachteil. Wir sehen den Ausweg nicht in einer solchen Fusion, sondern in der gemeinsamen Vorbereitung auf eine allgemeine gesamtrussische Konferenz der Internationalisten.“

Es ist grundsätzlich falsch, die Streitfrage so zu stellen. Es geht nicht um eine separate Fusion mit den Bolschewiki, sondern gerade die Vereinigung mit ihnen. Diese Form der Vereinigung ist schon durch voraufgegangene Entwicklungen vorbereitet. Das grundlegende Fundament dafür ist in unseren Beschlüssen formuliert. Unsere gesamte Arbeit in Petrograd wird in Form einer separaten Kooperation mit den Bolschewiki vollführt. Das Problem ist nun, ob die organisatorische Trennung die gemeinsame politische Arbeit stört und zerschlägt. Genösse Jurenew hat selbst erkannt, dass diese Vereinigung für Petrograd ein Vorteil sein würde. Er denkt allerdings, dass es ein Nachteil für die Provinzen wäre. Die Bezirksverbund-Organisation ist v.a. eine Petrograder Organisation. Folglich wäre die Vereinigung der internationalistischen Kräfte zweifellos der größte Gewinn für die Petrograder Bewegung. Dies kann keineswegs mit den Schäden, die solch eine Petrograder Vereinigung für die Provinzen mit sich bringen würde, verglichen werden. Ein Vorteil für Petrograd unter den gegenwärtigen Bedingungen, wo „Petrograd“ eine wütende Verfolgung durch alle konterrevolutionären Elemente erfährt, kann für uns nur ein ausschlaggebendes Merkmal sein.

Wie könnte dies eine Gefahr für die Provinzen darstellen? Genösse Jurenew ist der Ansicht, es wäre offenkundig eine Gefahr. Die Provinzen hinken hinter Petrograd her. Die politischen Gruppen dort sind immer noch meist konturlos. Vielleicht können sich die Internationalisten in der Provinz, die mit den Defensisten brechen möchten, nicht entscheiden, sich den Bolschewiki anzuschließen, sondern würden sich lieber mit den vereinigten Internationalisten zusammentun.

Diese Logik wäre mehr oder minder überzeugend, wären wir ein einfacher Block von Internationalisten, der sich weder auf die Seite der Bolschewiki noch auf die der Menschewiki schlägt. Aber dies ist nicht der Fall. Wir scharen uns um eine bestimmte Plattform, die nicht von den Bolschewiki abweicht. Unter diesen Umständen kann sich die Aufrechterhaltung unserer von den Bolschewiki getrennten Organisation nur in Form von Rückschlägen und Verwirrung für die Provinzen auswirken. Das kann nie als ein Plus gerechnet werden. Im allgemeinen wäre es naiv gewesen, zu glauben, wenn alle Problemfragen sich so klar stellen, dass dann die politischen Gruppen in der Arbeiterklasse oder ihre sozialistische Vorhut auf zweitrangige Eigenschaften innerparteilicher Art gebaut werden könnten. Genosse Jurenew sagt: „Aber die Partei von sozialdemokratischen Internationalisten kann sich nicht selber als eine Sekte begreifen, die vollkommen ohne Menschewiki organisiert ist. Selbst wenn die menschewistischen Internationalisten von uns in der Frage der Organisation der Macht abweichen, besteht die Möglichkeit einer gemeinsamen Arbeit mit ihnen sowie die Möglichkeit und Notwendigkeit zur Einheit.“

Dass die Partei keine Sekte sein sollte, ist absolut korrekt. Doch unglücklicherweise beantwortet dieser allgemeine Gedanke nicht die Frage, die sich uns stellt. Wenn jemand eine Wahl zwischen der Vereinigung mit den Bolschewiki und den menschewistischen Internationalisten oder nur mit den Bolschewiki vorschlüge und wir von diesen beiden die letztere Möglichkeit wählten, könnten wir von Sektierertum reden. In Wirklichkeit hat niemand von uns diese Wahl vorgeschlagen. Die menschewistischen Internationalisten haben nirgendwo ihre Bereitschaft angezeigt, sich mit uns zu vereinigen. Im Gegenteil, sie unterscheiden sich besonders von der Position, die uns und den Bolschewiki in der grundsätzlichen Frage der Revolution – der Machtergreifung – gemeinsam ist. Keineswegs brechen sie mit ihren Defensisten, um sich mit uns und den Bolschewiki zu vereinigen, sie betonen vielmehr in jeder Hinsicht das, was sie von uns getrennt hat. Sie schränken ihre Taktiken innerhalb der Formen der defensistischen Organisation ein und gestatten sich keine selbständige politische Handlung. Müssten wir wiederum unsere Arbeit für die Vereinigung auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen den menschewistischen Fraktionen stützen, würde dies bedeuten, dass wir den schon zu einer Gesinnung vereinigten Elementen im Namen der bevorzugten Kräfte, die keinen Willen zu einer Einigung mit ,uns zeigen, den Rücken zukehren. Jederzeit hätten die Unterstützer des Genossen Martow zur Vereinigung mit uns und den Bolschewiki finden können, was wir erfreut zur Kenntnis genommen hätten. Für uns und die Menschewiki hätte es keinen Unterschied gemacht, ob wir von den Bolschewiki getrennt oder in einer vereinigten Organisation wären, die auf der Grundlage einer Plattform revolutionärer Aktivität vereinigt ist.

Für uns ist die vergleichsweise breite Schicht von Arbeitern, die immer noch zu den Menschewiki und Sozialrevolutionären schauen, wichtiger. Wir können annehmen, dass diese mehr rückständigen Massen aufgrund der Logik ihrer Position auf die Seite des revolutionären Sozialismus gedrückt werden. Dabei stellen sie die Regierungspolitik auf die Probe, v.a. den Test der Offensive!

Jeden Tag wird die am stärksten unterdrückte Schicht der Bauern und des Kleinbürgertums, zuerst in der Armee, ihre Enttäuschung über die Politik der Koalitionsregierung auf die Probe stellen und eine revolutionäre Lösung suchen. Diese Massen brauchen klare, aufrichtige und einfache politische Gruppen. Dem Lager des kleinbürgerlichen Defensismus muss ein geeintes Lager des revolutionären Sozialismus entgegengestellt werden. Für die Provinzen, wenn wir über die provinziellen Massen und nicht über die provinziellen Zirkel reden, ist die getrennte Existenz der vereinigten Internationalisten und der Bolschewiki kein Vorteil, sondern ein Nachteil.

In der Frage der Einheit ist es Zeit, dass den Worten Taten folgen. Zusammen mit der gemeinsamen Vorbereitung eines Generalkongresses von Internationalisten ist es jetzt schon nötig, die organisatorische Einheit gesprochener und gedruckter Agitation und eine grundsätzliche Einheit politischer Aktion zu garantieren.

Genosse Jurenew sagt, dass die Vereinigung nicht von oben, sondern von unten hergestellt werden muss. Dies ist richtig, wenn Druck von unten benötigt wird, um die Vereinigung an der Spitze zu beschleunigen. Ich glaube, dass es für die Petrograder Arbeiter, Bolschewiki und Bezirksverbund-Organisation nun an der Zeit ist, voll Tatendurst zusammenzukommen.




Die Russische Revolution und ihre Kritiker

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Vorwort der Redaktion

Im folgenden veröffentlichen wir eine ausführliche Auseinandersetzung mit den wichtigsten Argumenten von bürgerlichen und kleinbürgerlich-linken Kritiker der russischen Oktoberrevolution 1917. Der Artikel wurde erstmals im Revolutionären Marxismus Nr. 23 im Jahre 1997 publiziert. Seitdem hat sich das ideologische Klima in der bürgerlichen Gesellschaft und der Arbeiterbewegung erheblich geändert. Damals war die Bourgeoisie weitaus selbstbewußter und viele hielten den Gedanken an eine anti-kapitalistische gesellschaftliche Alternative – oder gar eine Revolution – für altmodisch und endgültig passe. Heute hingegen prägen Krisen, Kriege und Zukunftsangst das Denken vieler und auch die bürgerlichen Intellektuellen sprechen nicht mehr so mutig vom „Ende der Geschichte“, das mit der kapitalistischen Marktwirtschaft und der parlamentarischen Demokratie erreicht worden wäre. Und der Begriff „Revolution“ ist von einem anrüchigen Fremdwort zu einem häufig anzutreffenden Schlagwort in politischen Diskussionen und auf Demonstrationen geworden.

Nichtsdestotrotz sind die Feinde der Oktoberrevolution in den Reihen der bürgerlichen und linken Intellektuellen zahlreich geblieben und auch ihre Argumente haben sich nicht geändert. Aus diesem Grund bleiben auch die von uns in diesem Artikel dargelegten Analysen und die Positionen von höchster Aktualität. Der Artikel wurde daher unverändert gelassen.

* * *

Die Oktoberrevolution 1917 stellt die mit Abstand wichtigste gesellschaftliche Umwälzung der letzten hundert Jahre dar. Sie verkörpert den ersten und bislang einzig erfolgreichen Versuch der Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. In ihrer historischen Bedeutung innerhalb der Neuzeit kommt ihr nur die Französische Revolution 1789 gleich. Der Zusammenbruch der stalinistischen Herrschaft – dieser Antipode zum revolutionären Sozialismus – führte geradezu zwangsläufig zu einem Aufleben der Diskussion über die Legitimität der Oktoberrevolution. Unter dem Eindruck des scheinbar endgültigen Triumphes des Kapitalismus gewannen die bürgerlichen Ideologen, für die 1917 schon immer den Schandfleck des Jahrhunderts darstellte, weiter an Selbstvertrauen und die halbherzigen Freunde der Oktoberrevolution wurden noch halbherziger. Da nach 1991 für kurze Zeit die bislang geheimen Archive der KPdSU geöffnet wurden (1), bestand ein zusätzlicher Antrieb für die literarische Neuaufarbeitung dieser zentralen Frage. Es ist also nur allzu natürlich, daß in den letzten Jahren eine Reihe neuer Publikationen zum Thema Oktoberrevolution erschien. Wir werden uns im Folgenden mit einigen der wesentlichsten Einwände und Vorwürfe gegen die Revolution und die Bolschewiki auseinandersetzen.

Die Revolution im Feuer ihrer bürgerlichen Kritiker

Der Sturm auf das Winterpalais entfachte umgehend einen Sturm der Entrüstung und Verleumdung seitens der bürgerlichen und reformistischen Advokaten – in Rußland und weltweit. Die Oktoberrevolution erlitt im Grund genommen das gleiche Schicksal, das jeder großen Revolution wiederfährt: sie wird zuerst als utopisches Abenteuer denunziert und dann mit Greuelpropaganda überhäuft. So erging es dem englischen bürgerlichen Revolutionär Oliver Cromwell, so erging es natürlich auch den französischen Revolutionären nach 1789 und schließlich ebenso den Bolschewiki. Das ist nur allzu natürlich, findet der Klassenkampf nicht nur auf politischer und ökonomischer, sondern auch auf ideologischer Ebene statt – und Geschichtsfälschung gehört nun einmal zum Arsenal bürgerlicher Ideologen. Für die Vertreter der „alten Ordnung“ ist alles erlaubt, um die Entstehung einer neuen, revolutionären Ordnung zu verhindern. So wie uns heute die bürgerlichen Ideologen weiß machen wollen, daß der Kapitalismus das beste und einzig mögliche aller Gesellschaftssysteme und eine Revolution daher völlig utopisch und unnatürlich sei (2), so erging es schon damals den Bolschewiki. Nur ein Monat vor der Revolution spottete das Zentralorgan der Kadetten, der Hauptpartei des russischen Bürgertums: „Aber trotz ihres ganzen rhetorischen Draufgängertums, ihrer prahlerischen Phrasen, ihres zur Schau getragenen Selbstvertrauens sind die Bolschewiki, mit Ausnahme einiger weniger Fanatiker, bloße Maulhelden. Die ‚ganze Macht‘ zu übernehmen würden sie aus eigenem Antrieb nicht versuchen. (…) Genausogut wie wir alle verstehen auch sie, daß der erste Tag ihres endgültigen Triumphs zugleich auch der erste Tag ihres jähen Niederganges wäre. (…) Die beste Art, den Bolschewismus auf lange Jahre loszuwerden, sich seiner zu entledigen, wäre es, die Geschicke des Landes in die Hände seiner Führer zu legen.“ (3) Ohne Zweifel ein bemerkenswertes Zitat, wenn man bedenkt, daß die russische Bourgeoise kurz darauf für viele Jahrzehnte ihre Macht verlor und enteignet wurde. Gleichzeitig und gerade wegen ihrer Niederlage griffen die Bürgerlichen und die Sozialdemokraten zum Mittel der Verleumdung. Und heute fühlen sie sich noch sicherer – nach dem scheinbaren Endsieg des Kapitalismus, in Wirklichkeit aber seiner Niedergangsperiode – und es hagelt umso mehr Verdrehungen und Lügen. Letztlich bestätigen sie damit nur, was schon der marxistische Historiker Roman Rosdolsky feststellte: Die Unmöglichkeit des Historikers neutral zu bleiben (4).

War die Revolution ein Putsch?

Einer der beliebtesten Einwände gegen die Oktoberrevolution besteht in der Unterstellung, die Revolution sei nicht Ausdruck des Willens der Bevölkerung gewesen, sondern bloß ein Putsch einer kleinen, zu allem entschlossenen Verschwörergruppe. Der US-amerikanische Historiker Richard Pipes – einer der Voreiter der konservativen Diffamierung der Oktoberrevolution, des Bolschewismus und der Persönlichkeit Lenins – wiederholt diese These dutzendemale in seinen Publikationen. Für ihn gibt es nur den „Oktoberputsch“, bei dem es sich um einen „klassischen Staatsstreich“ einer gut organisierten „Verschwörergruppe“ handelte, die nur durch Terrormethoden an der Macht bleiben konnte (5). Selbst der vergleichsweise seriöse deutsche Historiker Helmut Altrichter spricht in seinem neuen Buch von einem „Putschversuch von links (6)”. All diese Anwürfe sind weder neu noch originell. Sie wurden in der langen Chronologie anti-kommunistischer Geschichtsschreibung regelmäßig vorgebracht. Nicht nur konservative, sondern auch sozialdemokratische Publizisten haben vom ersten Tag der Revolution an versucht, diesen Mythos zu verbreiten. Die menschewistische Tageszeitung „Rabocaja gazeta“ schrieb am Tag nach der Machtergreifung, daß es sich hier weder um eine Revolution noch um einen Aufstand, sondern um ein „Militärkomplott“ handle. Einen Tag später wiederholte sie noch einmal: „Keine Commune, kein Aufstand des Proletariats…, sondern eine kalt berechnete Verschwörung…“ Auch das sozialrevolutionäre Zentralorgan „Delo narodna“ bezeichnete die Revolution als bloßen „Militärputsch (7)“.

Bei dieser Charakterisierung sind die allermeisten bürgerlichen und reformistischen Historiker geblieben. Sie hat dadurch aber auch nicht mehr mit der Wahrheit gemein. Ohne Zweifel war der Akt der unmittelbaren Machtübernahme selber eine gut organisierte Aktion, die weitgehend unblutig verlief (8). Leider besitzen nur wenige Gegner der Oktoberrevolution die intellektuelle Integrität, die relative friedliche Machtübernahme durch die Sowjets als Beweis dafür anzusehen, daß die Revolution eben nicht auf breite Ablehnung in der Bevölkerung stieß. Wie ist eine relativ friedliche Umwälzung in einem Land möglich, in dem faktisch alle Parteien über bewaffnete Kräfte verfügten und daher die Möglichkeit hatten, gegen die Machtübernahme der Sowjets militärisch vorzugehen? Diese einfache Frage können die Verteidiger der bürgerlichen Ordnung nicht befriedigend beantworten. Dabei liegt die Erklärung auf der Hand: Die Parteien der alten Ordnung – die Kadetten (9), die Sozialrevolutionäre (10), die Menschewiki (11) – hatten politisch abgewirtschaftet und waren in den Augen der Massen  weitgehend diskreditiert. Die Kräfte, die sie unterstützten, fühlten diese Isolierung stärker als ihre Führer und waren daher auch nicht bereit, in den entscheidenden Tagen des Oktobers ihnen zu Hilfe zu kommen. „Die Kadetten, die in Petrograd bei den Wahlen Zehntausende Stimmen auf sich sammelten, konnten im Augenblick der Todesgefahr für das bürgerliche Regime nicht dreihundert Kämpfer aufbringen.“ (12) Auch der eingeschworene Feind der Revolution, Richard Pipes, muß sowohl die Schwäche als auch die enge Klassenbasis der Regierungsanhänger eingestehen: „Schließlich zeigte sich, daß die einzigen Bewohner der Stadt, die bereit waren, die Demokratie zu verteidigen, junge Männer von den Militärakademien, Universitäten und Gymnasien waren…“ (13)

Die Bolschewiki konnten dagegen nicht nur auf eine viel breitere und entschlossenere Unterstützung vieler Kämpfer vertrauen (14). Noch viel wichtiger und entscheidender ist die Tatsache, daß die große Mehrheit der Arbeiter und Soldaten in den Städten den Kurs der Bolschewiki unterstützten. Die Anhängerschaft der reformistischen Parteien dagegen schmolz dahin. In den Zentren des Landes gewannen die Bolschewiki im Laufe des Septembers die absolute Mehrheit in den Arbeiter- und Soldatenräten. Die Sowjets in Petrograd, dann Moskau und schließlich in einer Reihe anderer kleinerer und größerer Städte forderten in ihren Resolutionen „Alle Macht den Sowjets“, die Bildung Roter Garden, Arbeiterkontrolle über die Fabriken, Enteignung der Großgrundbesitzer und sofortige Beendigung des Krieges. Und sie wählten eine entsprechende Sowjetexekutive mit bolschewistischer Mehrheit (15). Je direkter und unmittelbarer die jeweiligen Organe die Basis vertraten, umso linker waren sie. Dies zeigte sich in dem noch stärkeren Einfluß der Bolschewiki in den Bezirkssowjets Petrograds oder im geradezu überwältigenden Übergewicht in den Fabrikskomitees. Im Anfang Juni von einer gesamtstädtischen Konferenz gewählten Zentralrat der Petrograder Fabrikkomitees stellten die Bolschewiki 19 von 25 Mitgliedern. Auf dem II. All-Russischen Kongreß der Fabrikskomitees unterstützten mehr als 80% der Delegierten die bolschewistischen Resolutionen. Auch bei den bürgerlich-parlamentarischen Wahlen kam das Anwachsen des bolschewistischen Einflusses unverkennbar zum Ausdruck. Noch im August – vor dem Kornilow-Putsch (16) und dem damit verbundenen Linksruck bei den Massen – vergößerten die Bolschewiki ihren Stimmenanteil bei den Wahlen zur Petrograder Stadtduma von 20.4% (Mai) auf 33.3%. Bei den Kommunalwahlen in Moskau errangen sie sogar die absolute Mehrheit mit 50.9%, während die Sozialrevolutionäre gegenüber den Wahlen zur Stadtduma im Juni von 56.2% auf 14.4% zurückfielen und die Menschewiki von 12.6% auf 4.1%. Ebenso wurden die Bolschewiki bei den zu dieser Zeit stattfindenden Stadtparlamentswahlen in Samara und Tomsk zur stärksten Partei.

Der Aufstand im Oktober war nicht das Projekt einer kleinen Verschwörergruppe, sondern drückte den tiefen, ja fast schon verzweifelten Wunsch der Arbeiter und Soldaten nach einer radikalen Umwälzung aus. Jahrelang mußten sie unter dem Zarenregime zu Hungerlöhnen schuften, mehrere Arbeiterfamilien teilten sich zumeist eine kleine Wohnung, Hunderttausende, ja Millionen starben an der Front, die Bauern erstickten unter der stetig wachsenden Last der Pacht und die unterdrückten Nationen waren nicht länger gewillt, die großrussischen Bajonette zu dulden. Als die Februarrevolution den Zaren stürzte und die Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki an die Macht hievte, erwarteten die Massen, daß diese ihre Versprechen einhalten und die drängendsten Probleme lösen würden: die Beendigung des Krieges, soziale Sicherheit und die Aufteilung des Bodens. Alleine, diese erwiesen sich als komplett unfähig. Von Anfang an paktierten Sozialrevolutionäre und Menschewiki mit den Bürgerlichen, schoben die Landreform hinaus, unterstützten die Fortsetzung des Krieges (17) und scheuten vor der Enteignung der Kriegsgewinnler und der Banken zurück. Wenn wundert es, daß v.a. in der Hauptstadt – dem Zentrum des gesamten politischen Geschehens Rußlands – die Bolschewiki rasch an Unterstützung gewannen. Ihre zentralen Losungen „Nieder mit dem Krieg“, „Alle Macht den Sowjets“, „Raus mit den zehn kapitalistischen Ministern“ (18) spiegelten von Woche zu Woche mehr die Stimmung der Massen wider. Auf der Petrograder Großdemonstration am 18. Juni mit mehr als 400.000 Teilnehmern dominierten die Bolschewiki: „90% der Fahnen und Plakate trugen die Losungen des Zentralkomitees der Bolschewiki … Für die Provisorische Regierung waren nur drei Plakate.“ (19) Die Juli-Tage, bei denen wiederum viele Hunderttausende in der Hauptstadt mit der Waffe in der Hand für die Machtübernahme durch die Sowjets demonstrierten, spiegelten die wachsende Ungeduld der Massen mit ihrer offiziellen Führung in den Sowjets wieder. Und auch die militärische Niederschlagung dieser Demonstration und die Verfolgung der Bolschewiki (mit aktiver Unterstützung durch die reformistische Sowjetexekutive!) konnten nur kurz den ansteigenden Einfluß der Bolschewiki aufhalten. Als am 12. August eine sogenannte Staatskonferenz zur Unterstützung der Regierung in Moskau zusammentrat, organisierten die Bolschewiki gegen (!) den Willen der Mehrheit der offiziellen Sowjetführung einen erfolgreichen Generalstreik. Die gesamte Stadt folgte dem Aufruf: Alle  Betriebe, Straßenbahnen und Geschäfte standen an dem Tag still, als die Spitzen der herrschenden Klasse und der Reformisten zusammentraten. Sogar die Angestellten des Bolshoi-Theaters, wo die Konferenz stattfand, streikten, weswegen sich die Delegierten ungewohnterweise selber verpflegen mußten. Die Zeit war gekommen, wo selbst die Gegner der Bolschewiki eingestehen mußten: „…, daß die Bolschewiki keine unverantwortliche Gruppe sind, sondern eines der Elemente der organisierten revolutionären Demokratie, hinter denen die breite Masse steht …“ (20)

Der von den Bolschewiki organisierte bewaffnete Aufstand fußte nicht einfach auf irgendwelchen Umsturzplänen des Zentralkomitees, sondern auf dem expliziten Willen der wichtigsten Sowjets des Landes. Der Petrograder Sowjet stellte am 9. Oktober fest: „Die Rettung Petrograds und des Landes liegt im Übergang der Macht in die Hände der Räte.“ Und der Moskauer Sowjet machte zwei Tage später unmißverständlich klar: „Nur die sofortige Machtergreifung durch den Rat der Arbeiter- , Soldaten- und Bauern-Deputierten kann das Land und die Revolution vor dem Untergang retten.“ (21) All diese Tatsachen haben nicht nur die Sympathisanten der Bolschewiki, sondern auch ihre seriösen Gegner veranlaßt, die breite Massenunterstützung für den Oktoberaufstand einzugestehen. Martow, der Führer der Menschewiki, mußte feststellen: „Fast das gesamte Proletariat unterstützt Lenin“. (22) Ein anderer menschewistischer Zeitzeuge, Suchanow, schreibt in seinem „Tagebuch der russischen Revolution“: „Es ist sichtlich unsinnig, von einem Militärputsch statt von einem Volksaufstand zu sprechen, wenn hinter der Partei der überwältigende Teil der Bevölkerung steht und die Partei de facto die gesamte reale Macht und Autorität erobert hat.“ (23) In seiner berühmten Reportage der Oktoberrevolution zitiert der US-amerikanische Journalist John Reed einen der Führer des „Komitees zur Rettung des Vaterlandes“, welches von den Sozialrevolutionären und dem rechten Flügel der Menschewiki nach der Machtübernahme der Sowjets gebildet wurde und den bewaffneten Kampf gegen die neue Regierung organisierte: „Um die Wahrheit zu sagen, die Massen folgen zur Zeit den Bolschewiki. Wir können nicht eine Handvoll Soldaten auf die Beine bringen.(…) Bis zu einem gewissen Grade haben die Bolschewiki recht. Es gibt gegenwärtig in Rußland in der Tat nur zwei Parteien von nennenswerter Macht, die Bolschewiki und die Reaktionäre, die sich hinter den Rockschößen der Kadetten verbergen.“ (24) Und auch bürgerliche Historiker wie Oskar Anweiler müssen dies zugeben: „In den Arbeiterräten der weitaus meisten Industriestädte hatten die Bolschewiki die Mehrheit, ebenso in den meisten Soldatenräten der Garnisonsstädte.“ (25) Und schließlich kommt auch der oben zitierte deutsche Historiker Altrichter nicht umhin zuzugestehen: „Wieviel sie immer dazu beigetragen haben, der Ausgang (der Oktoberrevolution – d.A.) wurde in weiten Teilen der Arbeiterschaft auch als ‚ihr‘ Sieg empfunden.“ (26) Wir überlassen es den unverbesserlichen Demagogen wie Richard Pipes, die historische und politische Legimität der Oktoberrevolution zu bestreiten. Die russische Arbeiterklasse hat ihr Wort am Tage des Aufstandes klar und unmißverständlich gesprochen: Auf dem II. All-Russischen Sowjetkongreß, der während des Aufstandes tagte, stimmten æ aller Delegierten für Machtübernahme durch die Sowjets. Das ist die geschichtliche Wahrheit, die niemand ungeschehen machen kann.

Sowjetmacht und Demokratie

Ein weiterer fundamentaler Einwand der Kritiker des Oktobers besteht darin, dem Sowjet-System jegliche Legitimität abzusprechen. Die Räte wären nur Versammlungsorte eines radikalen und von den Bolschewiki manipulierten Mobs gewesen. Die wirkliche Demokratie dagegen hätte sich in den Wahlen der Konstituierenden Versammlung widergespiegelt und bei dieser haben die Bolschewiki bekanntlich keine Mehrheit erlangt. Zwar bereitet es so engagierten Gegnern der Sowjet-Macht wie Richard Pipes gewisse Kopfzerbrechen, wenn sie eingestehen müssen: „Der Auflösung der Konstituierenden Versammlung begegnete die Bevölkerung mit erstaunlicher Gleichgültigkeit“. Aber sie halten trotzdem an ihrer Verdammung der Rätedemokratie fest.

Dieser Einwand verfehlt den historischen Tatbestand sowohl auf grundsätzlicher als auch auf faktischer Ebene. Beurteilen wir zuerst die Frage der demokratischen Repräsentativität. Bekanntlich liegt der wesentliche Unterschied zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Demokratie darin, daß sich bei ersterer die Mitbestimmung aller Bürger – unabhängig von ihrer Klassenposition – auf das Ausfüllen eines Stimmzettels alle paar Jahre beschränkt. Die proletarische Demokratie dagegen zeichnet sich durch eine permanente Beteiligung der Massen – also in erster Linie der Arbeiter (in Rußland natürlich auch der Soldaten und Bauern) – am Diskussions- und Entscheidungsprozeß aus. Räteorgane – unabhängig davon, welchen genauen Namen sie tragen (27) – fußen auf Vollversammlungen der Basis und die gewählten Vertreter, die den gleichen Lohn wie ihre Basis erhalten, sind jederzeit rechenschaftspflichtig und abrufbar. Das historisch Einmalige der Räte besteht darin, daß sich die Unterdrückten – jene, die ihr Leben lang im Betrieb und bei allen gesellschaftlichen Fragen immer nur Entscheidungen hinnehmen mußten, über deren Köpfe immer hinweg entschieden wurde – ,daß diese Unterdrückten zum ersten Mal nicht mehr rumgeschubst werden, sondern aus ihrer Rolle als passive Befehlsempfänger heraustreten und die Dinge, die sie betreffen, selber diskutieren und entscheiden. Die Räte sind der entscheidende Transmissionsriemen, durch die die Unterdrückten von Sklaven zu handelnden Subjekten werden.

Wenn man die konkrete Entwicklung der russischen Revolution betrachtet, kann man genau diese Herausbildung der Selbsttätigkeit der Arbeiter und Soldaten erkennen. Die Fabrikkomitees z.B. – das waren regelmäßige Vollversammlungen der Lohnabhängigen bzw. deren gewählte und jederzeit abwählbare Vertreter – nahmen von der Kontrolle über die Buchführung, über die Regelung der Arbeitsbedingungen bis zur Bildung von Arbeitermilizen viele wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in die Hand (28). Ebenso kümmerten sie sich, wie auch viele lokale Sowjets, um kulturelle Fragen – von der Alphabetisierung bis zu Theatervorführungen.(29) Wenn wir damit die bürgerliche Demokratie in Rußland vergleichen, so springt der Unterschied ins Auge. Erstens muß man an dieser Stelle erwähnen, daß die Provisorische Regierung – von der die Sowjets die Macht übernahmen – nie gewählt wurde. Sie versprach Wahlen zu einer Konstitutierenden Versammlung, aber zögerte diese wiederholt hinaus. Sie fürchteten diese Wahlen, weil sie große Verluste befürchteten (nicht zu Unrecht, wie die Wahlen zeigen sollten). Es war die Regierung der Sowjets, die umgehend nach der Machtübernahme die Wahlen ermöglichte.

Darüberhinaus liegt der zentrale Mangel der bürgerlichen Demokratie darin, daß sie aufgrund der Abgehobenheit gar nicht in der Lage ist, die Diskussionen, Meinungsumschwünge usw. unter den einfachen Wählern widerzuspiegeln. Man kann ja erst wieder in vier Jahren zur Wahl gehen. In einer Revolution wird die Zeit nicht nach Jahren, sondern nach Monaten und Wochen gemessen. Das konnte man besonders deutlich im Herbst 1917 erkennen. Während die parlamentarischen Stadtdumas in Petrograd, Moskau usw. nicht mit der Meinungsbildung der Arbeiter und Soldaten mithalten konnten, waren die Sowjets deren lebendiger Ausdruck. Die einen repräsentierten das Rußland von gestern, die anderen das Rußland von heute. Ebenso zeigte sich dies bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Die traditionelle Partei der Bauern, die Sozialrevolutionäre, ging mit 40% der Stimmen als stärkste Partei aus den Wahlen. Doch sie hatten sich kurz vor dem Umsturz gespalten. Der linke Flügel unterstützte die Machtübernahme durch die Sowjets sowie eine radikale Umverteilung des Bodens an die kleinen und landlosen Bauern. Sie bildeten daher eine Koalition mit den Bolschewiki. Der rechte Flügel dagegen unterstützte die alte Regierung und lehnte eine konsequente Agrarrevolution ab. Während der linke Flügel das Vorwärtsdrängen der verarmten Bauern widerspiegelte (in der zweiten Hälfte des Jahres 1917 kam es zu einem explosiven Anwachsen der spontanen und gewaltsamen Aneignungen gutsherrlicher Güter durch die Bauern (30)), repräsentierte der rechte Flügel die konservative Einstellung des Kulaken. In der Realität war diese Partei durch eine soziale Trennwand gespalten (und diese sollte auch nie wieder überwunden werden), aber auf den Formularen der Wahllisten für die Konstituierende Versammlung erschien sie nach wie vor als eine gemeinsame Partei. Nur ca. 1/10 der sozialrevolutionären Abgeordneten konnten dem linken Flügel zugeordnet werden.(31) In den Sowjets konnte dies aufgrund der permanenten Abwählbarkeit rasch korrigiert werden, in der Konstituierenden Versammlung ihrer Natur entsprechend nicht (32).

Es ist weiters bemerkenswert, daß – wenn man von dem breiten und entgegengesetzte Positionen in sich vereinigenden Schwamm der Sozialrevolutionären Partei absieht – die anderen Parteien der Provisorischen Regierung eine herbe Abfuhr erlitten. Die Kadetten, die Hauptpartei der Bourgeoisie errangen knapp 5% der Stimmen und die Menschewiki überhaupt nur 3%. Die Bolschewiki dagegen konnten als zweitstärkste Partei nicht nur 25% aller Stimmen auf sich verbuchen, sondern gewannen auch die klare Mehrheit unter den Arbeitern und Soldaten sowie in der Mehrzahl der Städte.

Letztlich jedoch können die Ereignisse von 1917 und danach nur dann verstanden werden, wenn man sie in die gesellschaftliche Klassendynamik ihrer Zeit einordnet. Jeder ernstzunehmende Sozialwissenschaftler – auch die bürgerlichen – gesteht heute zu, daß sich das Bürgertum hinter die Kadetten und nach der Revolution die Weißen stellte. Ebenso unbestritten ist die Tatsache, daß das Proletariat in seiner großen Mehrheit die Bolschewiki unterstützte. Dies ist natürlich kein Zufall, sondern belegt vielmehr die alte marxistische These, daß Parteien der politische Ausdruck konkreter Klasseninteressen sind. Um es noch genauer zu formulieren, repräsentierten die Aktivisten der Kadetten und die militärischen Kader der Weißen die politische Avantgarde der bürgerlichen Konterrevolution, die Bolschewiki dagegen die proletarische Vorhut. Diese beiden Klassen stellen in der kapitalistischen Gesellschaft die sozialen Hauptkräfte dar, die sich in einem permanenten Kampf um die Aneignung des Mehrwerts und um politische Macht befinden. Die Bourgeoisie ist von Natur her eine numerisch kleine, aber aufgrund des Besitzes der Produktionsmittel ökonomisch eben bedeutsame Klasse (33). Das Proletariat ist dagegen eine große und wachsende Klasse, aber selbst diese Klasse repräsentiert nicht immer die Mehrheit in der Bevölkerung: In wirtschaftlich rückständigen Ländern wie einigen halbkolonialen Staaten oder eben auch dem damaligen Rußland stellen die kleinbürgerlichen Klassen, v.a. die Bauern den größten Teil der Bevölkerung. Diese Klasse ist von ihrer sozialen Natur – ihrer Zersplittertheit in Kleineigentümer, ihrer Gebundenheit an rückständige Produktionsformen etc. – nicht in der Lage, eine eigenständige politische Rolle zu spielen. Ein kurzer historischer Überblick über das Schicksal von Bauernparteien bestätigt dies. Sie sind dazu verdammt, sich einer der beiden Hauptklassen der Gesellschaft anzuschließen. So auch in der russischen Revolution. Den Sozialrevolutionären gelang es nie, die treibende Kraft in der Revolution zu werden. Es war immer die Stadt, die den Rhythmus der Ereignisse vorgab. In Petrograd und Moskau wurde der Zar gestürzt, in diesen Städten wurde das Schicksal der Revolution bestimmt und schließlich entschieden. Daher spalteten sich letztlich die Sozialrevolutionäre, und die bäuerlichen Oberschichten schlossen sich der Bourgeoisie an und die unteren Schichten gingen mit dem städtischen Proletariat, sprich mit den Bolschewiki. Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die diese Dynamik erkannte und ihre Strategie darauf aufbaute. Ihre Politik der konsequenten Landaufteilung fand die natürliche Unterstützung der kleinen Bauern. Auch wenn sie noch mit dem Stimmzettel ihre traditionelle Partei wählten, in der Praxis gingen sie viel weiter und folgten unbewußt dem bolschewistischen Programm. Lenin formulierte dies treffend: „Die Bauern haben mit den Füßen abgestimmt“.

Damit ist auch ein ganz wesentlicher Teil des „Wunders“ benannt, warum die Russische Revolution siegreich der geballten weißen Konterrevolution, der militärischen Intervention von 21 ausländischen Staaten und der Hungerblockade, die diese Staaten über Rußland verhängten, trotzen konnte: Das ist die smytschka, das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft, unter Führung ersterer. Die Bauern, auch wenn viele nicht das volle Programm der Bolschewiki teilten, verstanden, daß nur die bolschewistische Herrschaft ihnen den neuerworbenen Landbesitz bewahren konnte, während die weiße Konterrevolution die Landwegnahme und Wiedereinsetzung der Gutsherrenherrschaft bedeutet hätte. Deswegen standen die Bauern, wenn auch z.T. widerwillig, auf Seiten der Roten Armee. Es war diese Erfahrung der Oktoberrevolution, die Trotzkis These der permanenten Revolution so eindrucksvoll bestätigte. Schon nach der Revolution von 1905 erkannte Trotzki, daß die bürgerlich-demokratischen Aufgaben (Landreform, demokratische Freiheiten etc.) in den rückständigen und halbkolonialen Ländern nur durch die Arbeitermacht, die Diktatur des Proletariats, gelöst werden können. 1917 zeigte, daß eine schematische Trennung in zwei voreinander getrennte und unabhängige Etappen – zuerst eine bürgerlich-demokratische Revolution unter Führung der Bourgeoisie und dann später eine sozialistische Revolution unter proletarischer Führung – ein illusionäres Hirngespinst ist, dem zuerst die Menschewiki und dann die Stalinisten anhingen.

Der rote Terror

Ein weiterer und vielleicht der schwerwiegendste Vorwurf faktisch aller Gegner der Oktoberrevolution – von den Bürgerlichen über die Reformisten bis zu den Anarchisten besteht in der Behauptung, daß die Bolschewiki die Sowjetdemokratie nur als Vorwand benutzten um eine Terrorherrschaft zu errichten. Der rote Terror wäre keine Reaktion, sondern von Anfang an geplantes Machtinstrument gewesen: „Hier wird auch deutlich, daß die These, der revolutionäre Terror sei nur gezwungenermaßen eine Antwort auf konterrevolutionäre Gewalt gewesen, eine Lüge ist.“ (34)

Entgegen all diesen Unterstellungen und Lügen, stand die bolschewistische Revolution unter dem Banner der Abschaffung jeglicher Unterdrückung. Dies war nicht bloß eine Phrase in irgendwelchen bolschewistischen Deklarationen, sondern die praktische Politik. Die Oktoberrevolution war zu Beginn durch eine fast schon naive Menschlichkeit gekennzeichnet. Die Junker in Moskau, welche während der Kämpfe des Oktoberaufstandes dutzende gefangene Rotgardisten massakrierten, wurden nach ihrer Gefangennahme und Entwaffnung auf freien Fuß gesetzt und mußten nur versprechen, nicht wieder die Waffen gegen die Sowjetmacht zu erheben. Die Führer der alten Ordnung wurden entweder nur kurzzeitig verhaftet, unter Hausarrest gestellt oder wiederum gegen ein Versprechen freigelassen. Ein bekanntes Beispiel zeigt, wie weit diese – man muß fast sagen allzu – humane Politik ging: Als in den Wochen nach der Oktoberrevolution Kerensky zu dem reaktionären Kosaken-General Krasnow floh, organisierte dieser einen Feldzug gegen Petrograd, um die Sowjet-Macht zu stürzen. Das Unternehmen scheiterte, da erstens die Rotgardisten entschlossenen Widerstand leisteten und zweitens die einfachen Soldaten keine Lust hatten, sich in dieses konterrevolutionäre Abenteuer hineinziehen zu lassen. Das Ganze endete damit, daß die Kosaken selber ihren General festnahmen und den Bolschewiki aushändigten. Anstatt die konterrevolutionären Aufrührer zu erschießen oder zumindest auf Jahre hin einzusperren, setzten sie ihn am Abend desselben Tages gegen das Versprechen, nicht mehr bewaffnet gegen die Sowjetmacht zu kämpfen, auf freien Fuß! General Krasnow „dankte“ diese Großmütigkeit der Revolution damit, daß er nur wenige Monate später erneut eine konterrevolutionäre Armee organisierte und in seinem Herrschaftsgebiet ein wahrhaftiges Terrorregime errichtete. Eine der ersten Maßnahem der neuen Sowjetregierung – des Rats der Volkskommissare – war die Aufhebung der Todesstrafe. Viele der Gefangenen wurden auf freien Fuß gesetzt.

Die Intentionen und die Praxis der Revolution war das genaue Gegenteil einer Terrorherrschaft. Und trotzdem kam es zu Unterdrückungsmaßnahmen und rotem Terror. Warum? Weil die herrschende Klasse und die Parteien der alten Ordnung nicht gewillt waren, freiwillig ihre Macht und Privilegien abzutreten. Faktisch vom ersten Tag an organisierten sie bewaffnete Unruhen, hetzten in ihren Zeitungen gegen die neue Regierung und verunsicherten die Bevölkerung mit Greuelpropaganda, sabotierten die Wirtschaft und organisierten einen Streik der Angestellten des Verwaltungsapparates, um so die Sowjetregierung lahmzulegen. Nicht nur das, die reaktionären Generäle, die Kadetten und die rechten Sozialrevolutionäre verbündeten sich offen mit den – damals auf russischem Gebiet stehenden – deutschen Truppen des Kaisers bzw. arbeiteten mit der französischen und britischen Armee  zusammen. Von Anfang an stand den Bolschewiki ein grimmiger und zu allem entschlossener Klassenfeind gegenüber (35).

Die Folgen dieser konterrevolutionären Tätigkeiten waren katastrophal. Die Sowjet-Macht sah sich des gesamten qualifizierten Fachpersonals in Verwaltung und Militär beraubt. Sie mußte faktisch aus dem Nichts eine Administration schaffen – aus hingebungsvollen aber fachlich oft wenig qualifizierten Kommunisten sowie aus Kadern des alten Regimes, die für eine Mitarbeit gewonnen werden konnten, dafür aber nicht immer zuverlässig waren. Die Unternehmer schlossen oft ihre Betriebe, da sie nicht gewillt waren, unter den kontrollierenden Augen der Fabrikkomitees weiterzuproduzieren. Die Auflösung und Demobilisierung der alten Armee verstärkten das Chaos. Die Transportverbindungen brachen vielerorts zusammen. In Petrograd lag die Arbeitslosenrate bei ca. 50%. Das Resultat war eine um sich greifende Hungerepidemie in den Städten. Dazu besetzte der deutsche Imperialismus lebenswichtige Teile des Landes wie die fruchtbare Ukraine und raubte dem Land seine Lebensadern. Nicht nur das: Im Fernen Osten landeten japanische Truppen und begannen sich Sibirien einzuverleiben. Und im nördlichen Murmansk und Archangelsk sowie im kaukasischen Erdölzentrum Baku landeten britische Truppen. Kurz: die junge Sowjet-Republik war von jeglicher Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten. Alles schien auf das nahe bevorstehende Ende hinzudeuten (36).

Wir betonen hier, daß dies die Situation war, bevor der Bürgerkrieg im Sommer 1918 voll eskalierte! Man kann die Unterdrückungsmaßnahmen der Sowjets erst verstehen, wenn man sich diese handfeste Todesgefahr für die Revolution vor Augen hält. Kleinbürgerliche Autoren, die den Bolschewiki grundlose Repressionsmaßnahmen vorwerfen, sollten sich erst einmal diese Tatsachen vor Augen halten. Es ist aber kein Wunder, daß diese Probleme kaum Eingang in deren Beurteilung finden (37). Angesichts dieser Serie konterrevolutionärer Angriffe waren die Verteidigungsmaßnahmen der Sowjetmacht lange Zeit relativ milde. Nach der Revolution wurden nur einige der hetzerischsten bürgerlichen Blätter verboten, und auch das mit der ausdrücklichen Betonung auf der kritischen Situation und mit der Zusicherung: „Sobald die neue Ordnung sich gefestigt haben wird, werden jegliche administrative Einwirkungen auf die Presse eingestellt werden; sie wird völlige Freiheit im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit vor dem Gesetz erhalten …“(38) Erst nachdem die Kadetten mehrfach die bewaffnete Konterrevolution unterstützten, wurden sie verboten. Die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiki durften weiterhin – trotz ihres teils offenen, teils versteckten Kokettierens mit der Konterrevolution in den Sowjets und dessen Exekutivkomitee gegen die Bolschewiki auftreten. In den Herrschaftsgebieten der Weißen wurden blutige Massaker verübt. In Finnland ermordeten die „Vertreter von Recht und Ordnung“ 23.000 Rote, in der Ukraine wurden ebenfalls viele Kommunisten sowie ca. 100.000 Juden hingeschlachtet. Und als die rechten Sozialrevolutionäre sich offen mit der vom Imperialismus unterstützten tschechoslowakischen Legion und den Monarchisten zusammenschlossen, auf die Zentren der Revolution vormarschierten, eine Gegen-Regierung in Samara bildeten und ein blutiges Regime in ihren Territorium errichteten, da mußte die Sowjetmacht handeln und diese Feinde aus den Sowjets ausschließen (39). Alles andere wäre in Wirklichkeit verbrecherischer Leichtsinn gewesen. Ähnlich auch die Menschewiki, deren rechter Flügel die bewaffnete Konterrevolution unterstützte und den westlichen Imperialismus zum Einmarschieren aufrief, und deren linker Flügel während der schrecklichen Hungerkatastrophe in Petrograd und der oben erwähnten Bedrohung versuchte, einen Generalstreik in Petrograd zu organisieren.

Nein, diese Parteien mußten verboten werden. Noch nie konnte die Revolution in ihrer Mitte das offen konterrevolutionäre Treiben dulden und wenn sie es in ihrer Unerfahrenheit doch tat, wurde sie dafür rasch bestraft (wofür die zehntausend massakrierten Kommunarden des revolutionären Paris 1871 ein tragisches Beispiel sind). Tatsächlich waren die Repressionsmaßnahmen der Sowjetmacht reagierend, eine Antwort auf die konterrevolutionäre Bedrohung und auf die blutigen Exzesse der Weißen und ihrer Unterstützer. So war auch der vielzitierte rote Terror eine Reaktion auf den schon viel früher einsetzenden weißen Terror. Es ist eine simple Tatsache, daß der rote Terror in der 2.Jahreshälfte und v.a. nach dem September 1918 einsetzte – also nachdem die Weißen (mit Unterstützung der Imperialisten) einen gnadenlosen Terrorfeldzug gegen die junge Sowjetmacht begannen und eine Serie von Attentaten (inklusive auf Lenin) organisierten. Der bolschewistische Führer Eugen Preobrashenski meinte: „Nie war die Rätemacht ihrem Sturze so nah wie im Sommer 1918.“ Victor Serge, ein großartiger Augenzeuge und Kämpfer der Revolution, faßte den schwierigen Entschluß der proletarischen Avantgarde gut zusammen: „Es bedurfte zehn Monate des blutigen und blutigeren Kampfes, der Verschwörungen, Sabotage, Hungers, Attentaten; es bedurfte ausländischer Interventionen, des weißen Terrors in Helsinki, Samara, Baku und der Ukraine; es bedurfte des Blutes von Lenin bevor sich die Revolution schließlich entschloß, die Axt fallen zu lassen! Und das in einem Land, wo die Massen in einer Schule der Autokratie mit Verfolgungen, Auspeitschungen, Erhängungen und Erschießungen aufgewachsen sind!“(40)

Oft wird die Tscheka, der sowjetische Geheimdienst, als besonders abschreckendes Beispiel für den roten Terror genannt (41). Ernest Mandel, der verstorbene Führer der zentristischen Vierten Internationale, meint in seinem Buch zur Oktoberrevolution – einer über weite Strecken gelungenen Verteidigung dieses historischen Ereignisses – sogar, daß die Gründung der Tscheka an sich schon ein Fehler war (42). Auch hier gilt es, nicht den Sinn für Proportionen zu verlieren. Die Aufgabe der Tscheka lag sowohl im Kampf gegen Saboteure und Konterrevolutionäre als auch gegen Kriminelle, Banden etc. Sie war nicht als Instrument des Massenterrors konzipiert. In der ersten Jahreshälfte führte die Tscheka in ganz Sowjet-Rußland nur 22 Exekutionen aus. Ohne Zweifel, als der rote Terror organisiert werden mußte, stiegen die Bedeutung und auch die Exekutionen der Tscheka. In den blutigen Monaten des volleskalierten Bürgerkriegs liquidierte die Tscheka tatsächlich tausende. Die offiziellen Zahlen für die gesamten Bürgerkriegsjahre liegen bei knapp über 12.000, die höchsten Schätzungen von bürgerlichen Historikern gehen bis zu 50.000. Es besteht kein Zweifel darüber, daß unter diesen auch eine Reihe Unschuldiger waren. Oft waren die Roten gezwungen, Geisel aus den Reihen der Bourgeoisie oder der Kulaken (und auch die Zarenfamilie) zu nehmen und auch teilweise zur Abschreckung zu erschießen. Solche Dinge sind nie schön, aber – und das gilt es zu verstehen – in einer Situation des Bürgerkrieges oft unvermeidlich, weil effektiv. Für unserereins, die in friedlichen, ruhigen Ländern aufgewachsen sind, mag dies nur schwer nachvollziehbar sein. Aber es ist eine simple militärhistorische Tatsache, daß in einem Bürgerkrieg, wo jede Seite überzeugt von ihrem bevorstehenden Sieg ist, daß in einer solchen Situation eine Gefängnisstrafe – und sei sie lebenslänglich – keine besondere Abschreckungskraft besitzt: Die Betreffenden glauben ja, daß sie nach dem Sieg ihrer Seite bald wieder frei kämen. Deswegen waren die Bolschewiki gezwungen, im Bürgerkrieg wieder die Todesstrafe einzuführen.

Aber die Bolschewiki sackten eben nicht zu bloßen Terroristen hinab. Dies konnten sie auch gar nicht, denn auf der Ebene der militärischen Machtmittel stand den Weißen ein viel größerer Gewaltapparat zur Verfügung (inklusive 21 ausländischen Armeen). Ihre wirkliche Kraft lag in der enthusiastischen Unterstützung vieler Arbeiter und armen Bauern sowie der passiven Sympathie der breiten Bauernmassen. Der Terror war nur ein untergeordnetes Beiwerk. Genau aus diesem Grund versuchten sie nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, die notwendige Repression zu lockern, soweit es möglich war. So wurde z.B. die Todesstrafe wieder aufgehoben, als der Bürgerkrieg vorüber schien. Als jedoch Sowjet-Rußland erneut im Mai 1920 von Polen angegriffen wurde, mußte diese Maßnahme rückgängig gemacht werden. Ebenso wurden im Herbst 1919 eine Zeitlang die Menschewiki wieder in den Sowjets zugelassen, doch erneut zwang der Bürgerkrieg die Rücknahme. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier der Übergangscharakter von solchen Unterdrückungsmaßnahmen im Konzept der Bolschewiki. Der rote Terror war letztlich ein notwendiges Mittel des Klassenkampfes – in erster Linie gegen die Bourgeoisie und ihre Unterstützer gerichtet. Trotzki faßte dies treffend in einem Disput mit dem deutschen General Hoffmann während der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk zusammen: „Was die Regierungen der anderen Länder an unseren Aktionen verwundert und alarmiert, ist, daß wir anstatt den Streikenden die Unternehmer verhaften, welche die Arbeiter aussperren; daß wir nicht die Bauern erschießen, die Land fordern, sondern die Gutsherren verhaften und erschießen sowie die Offiziere, die auf die Bauern schießen wollen …“(43) Und schließlich muß man auch die quantitativen Proportionen erkennen. All die unerbitterlichen Kritiker des bolschewistischen Terrors sollten zur Kenntnis nehmen, daß der rote Terror nicht nur eine Reaktion auf den weißen Terror war, sondern daß er auch weniger Opfer forderte als die bürgerliche Reaktion. Ganz abgesehen von den zehntausenden direkt Ermordeten sollte man auch nicht die Millionen Hungertoten vergessen, die Sabotage, aufgezwungener Bürgerkrieg und imperialistische Blockade zu verantworten haben. Die angeblich so skandalösen Zahlen von maximal 50.000 Opfern der Tscheka nehmen sich in mehr als drei Jahren Bürgerkrieg in einem mit Land mit 160 Millionen Einwohnern nicht so groß heraus, wie es uns die Gegner des Oktober darstellen wollen. Nur ein kleiner historischer Vergleich: Im revolutionären Frankreich, ein Land mit damals 25-30 Millionen Einwohnern, fielen in Paris alleine in den 9 Tagen nach dem „Dekret des 22 Prairial“ 1.376 Köpfe. Wieviele Terroropfer forderten die aufständischen Ketzer- und Reformationsbewegungen des Mittelalters, die englische Revolution usw.?! Letztlich kann sich der historische Fortschritt der Menschheit nicht ohne Blutvergießen den Weg durch all die – oft sehr gewalttätigen – Hindernisse der alten Ordnung bahnen. Wer die Revolution befürwortet, muß auch ihre Konsequenzen mittragen!

Aber wäre es denn nicht vielleicht ratsamer, die Revolution überhaupt zu lassen? Nun, wir haben in diesem Jahrhundert die tragischen Konsequenzen gescheiterter Revolutionen gesehen: 2 Weltkriege mit zusammen 70-80 Millionen Toten, Hungerkatastrophen, soziale Verelendung in großen Teilen der Welt usw. Nur eine erfolgreiche Revolution zumindest in den wichtigsten Ländern kann diesen gordischen Knoten von Hunger und Krieg endgültig zerschlagen.

Die ‚linken‘ Kritiker der Oktoberrevolution

Abschließend wollen wir noch auf einen Einwand der Anarchisten und anderer Ultralinker eingehen. Die Bolschewiki, so diese Kritiker, haben nicht nur die Bourgeoisie unterdrückt, sondern auch linke Parteien und manchmal auch Arbeiterkämpfe. Auch hier kann dieser Vorwurf nur im Lichte der konkreten historischen Bedingungen überprüft werden. Es ist bezeichnend, daß der anonyme anarchistische Autor des oben erwähnten neuerschienenen Artikels „Beyond Kronstadt“ am Ende eingesteht, daß eine abgerundete Kritik am bolschewistischen Kurs und die Präsentation einer Alternative seitens der Anarchisten noch immer nicht besteht und dies eine Aufgabe der Zukunft sei (nach 80 Jahren wird es wohl langsam Zeit!). Doch das hält den Autor nicht davon ab, mit umso mehr Selbstbewußtsein viele Zentralisierungs- und Repressionsmaßnahmen der Sowjet-Regierung in der Luft zu zerreißen.

Nehmen wir nur ein paar wichtige heraus. Einer der traditionellen und auch hier wiedergegebenen Kritikpunkte besteht darin, daß die Bolschewiki schon bald nach ihrer Machtübernahme die Fabrikkomitees, die ja eine ihrer Hochburgen waren, entmachtet hätten und stattdessen mit Kapitalisten verhandelt und einen Staatskapitalismus errichtet hätten. Tatsächlich stand die neu entstandene Sowjetrepublik vor ungeheuren Schwierigkeiten. Die bereits oben beschriebenen konterrevolutionären Gefahren wurden auch noch von einer zerfallenden Wirtschaft begleitet. In dieser Situation zeigten sich die Grenzen der Fabrikkomitees. Als in erster Linie betriebliche Organe tendierten sie v.a. in einer Situation des wirtschaftlichen Zerfalls zu einem gewissen Betriebsegoismus. Sie neigten dazu, den Betrieb in ihre eigene Hand zu nehmen und nach eigenen Wünschen zu führen. Man muß sich an dieser Stelle noch einmal vergegenwärtigen, daß durch diese Krise das Industrieproletariat selbst alleine in den ersten 5 Monaten 1918 sich mehr als halbierte. Das Problem verschärfte sich mit dem Hunger in den Städten, was zu einem Aufleben von Diebstahl von Fabriksgütern und sogar -maschinen führte. Das war natürlich in dieser Situation unakzeptabel. Eine Bündelung der bereits ausgezehrten wirtschaftlichen Ressourcen war unabdingbar, die Produktion mußte angekurbelt werden. Aus diesem Grund schlugen die Bolschewiki vor, die Fabrikkomitees mit den zentralisierteren Gewerkschaften zu fusionieren und gleichzeitig wurden Vertreter der Fabrikkomitees in den neugeschaffenen Volkswirtschaftsrat entsendet. Eine Zentralisierung und gleichzeitig auch eine bedingte Zusammenarbeit mit bürgerlichen Fachleuten war unvermeidlich, da die Arbeiter zumeist noch nicht über das erforderliche Spezialwissen verfügten.

Ebenso lehnt der anarchistische Autor die unumgängliche kriegskommunistischen Maßnahmen der Bolschewiki während des Bürgerkrieges ab, mittels derer sie die Versorgung der Städte auf Kosten der Mittelbauern und Kulaken sicherten. Der kleinbürgerliche Anarchist fühlt sich hier, wie auch die linken Sozialrevolutionäre, dem kleinbürgerlichen Bauern näher als dem proletarischen Städter. Und auch der russische Historiker Roy Medwedew behauptet in Verdrehung der Tatsachen: „In der sowjetischen Literatur wurde lange Zeit behauptet, Bürgerkrieg und Intervention hätten ‚Kriegskommunismus‘ und ‚Roten Terror‘ nach sich gezogen. Aber es war eigentlich umgekehrt. Die ausgesprochen harte Wirtschaftspolitik der Bolschewiki mündete in Terror und Bürgerkrieg.“(44) Wie kann man als Historiker nur ignorieren, daß zu dieser Zeit bereits von allen Seiten imperialistische Truppen aufmarschierten, sich weiße Generäle zum Angriff formierten, Unternehmer Sabotage betrieben, die Kulaken Getreide u.ä. horteten und die Städte hungerten?! Die Revolution mußte um ihres Überlebens willen zu drastischen Maßnahmen greifen. Die Kritik der Anarchisten setzt sich im Protest gegen die verschiedenen Formen der Unterdrückung von Sozialrevolutionären und Menschewiki fort, welche wie oben angeführt, mit Streiks und Gewalt die bedrohte Sowjetmacht attackierten.

Ebenso unverständlich scheint dem Autor, daß die Bolschewiki gegen die kleinbürgerlichen linken Sozialrevolutionäre vorgehen mußten, als sie im Juli 1918 einen bewaffneten Aufstand organisierten, um Sowjet-Rußland in einen neuen Krieg mit Deutschland zu stürzen. Der Aufstand konnte aufgrund der geringen Unterstützung innerhalb von 24 Stunden unter Kontrolle gebracht werden. Es gab nur wenige Repressalien und selbst der Bolschewisten-Hetzer Pipes muß feststellen: „In Wirklichkeit behandelten die Bolschewiki die Linken Sozialrevolutionäre mit höchst ungewöhnlicher Nachsicht.“(45) Doch unsere anarchistischen Freunde bleiben davon unbeeindruckt.

Schließlich führen sie die Ereignisse von Kronstadt, also der Niederschlagung des reaktionären Matrosenaufstandes 1921, an (46). „Beyond Kronstadt“ fügt keine wesentlich neuen Argumente zu den bereits bekannten anarchistischen Thesen. „Die Matrosen wollten einfach Demokratie, nur halt ‚Sowjets ohne Bolschewiki'“. Im wesentlichen wurde zu dieser Frage schon alles wesentliche von Lenin und Trotzki selber gesagt (47). Unabhängig von den Intentionen vieler einfacher Matrosen, die von ihren Führern ausgenützt wurden, stellte der Aufstand objektiv eine tödliche Gefahr für die nach drei Jahren Bürgerkrieg am Boden liegende Sowjet-Macht dar. Es sind unleugbare Tatsachen, daß der Führer des Aufstandes Petrichenko nachher offen mit den Weißen zusammenarbeitete, daß schon vorher zumindest einige der Führer wie der reaktionäre General Koslowski mit den Weißen in engem Kontakt standen, daß es konkrete Pläne gab, französische Kriegsschiffe nach dem Schmelzen des Eises nach Kronstadt zu holen (48) usw. Doch diese Tatsachen kehrt der hochgeistige anarchistische Autor unter den Tisch. Er setzt sich lieber mit abstrakten „demokratischen Prinzipien“ und der „mangelnden Demokratie der Bolschewiki“ auseinander. Dabei ignoriert er ganz einfache historische Fragen, die nebenbei die meisten „demokratischen“ Kritiker der Bolschewiki vergessen: Was für eine Demokratie ist in einem (rückständigen) Land möglich, das nach drei Jahren Weltkrieg, drei Jahren verheerenden Bürgerkriegs, 8 Millionen Toten und breitester Verwüstung am Boden liegt? Welche konkreten Kräfte existierten damals, um das Land führen zu können? Der Kronstädter Aufstand selber hatte außer ein paar Losungen weder ein Programm noch eine alternative nationale Kraft zu bieten. Wenn die Bolschewiki ihren Forderungen nachgegeben und die Macht an sogenannte „Sowjets ohne Bolschewiki“ übergeben hätten, dann hätte es bald weder Sowjets noch Bolschewiki, sondern eine ungezügelte weiße Diktatur gegeben, die grausamste Rache für die Enteignungen und Demütigungen ihrer Klasse seit dem Oktober 1917 genommen hätte.

Der ehemalige Anarchist Victor Serge drückte das Dilemma der russischen Revolution in dieser Situation gut aus: „‚Die III. Revolution!‘ sagten einige Anarchisten, die mit kindlichen Illusionen vollgestopft waren. Allein, das Land war völlig erschöpft, die Produktion stand fast völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen. Die Elite des Proletariats, die in den Kämpfen mit dem Zarenregime geprägt worden war, war buchstäblich dezimiert. Die Partei, die durch den Zulauf derer, die sich mit der Macht ausgesöhnt hatten, angewachsen war, flößte wenig Vertrauen ein. Von den anderen Parteien waren nur noch winzig kleine Kader von mehr als zweifelhafter Fähigkeit vorhanden. Sie konnten sich natürlich im Laufe von Wochen neu bilden, aber nur dadurch, daß sie Verbitterte, Unzufriedene und Aufgebrachte aufnahmen – und nicht mehr wie 1917, Enthusiasten der Revolution. Der sowjetischen Demokratie fehlte es an Schwung, an Köpfen, an Organisationen und hinter sich hatte sie nur ausgehungerte und verzweifelte Massen.“(49) Damit spricht Victor Serge ein fundamentales Problem der russischen Revolution an: Die Rätedemokratie braucht eine materielle Basis – nämlich ein Proletariat, aus dessen Mitte eine Schicht politischer Aktivisten hervorgeht, welche die treibende Kraft der Diskussionen und Entscheidungen verkörpern. Alleine der von der Bourgeoisie aufgezwungene Weltkrieg und dann Bürgerkrieg dezimierte das Proletariat. Die politisch weitsichtigsten Teile starben entweder im Bürgerkrieg an der Front oder gingen in den enormen Aufgaben der Partei- und Staatsverwaltung auf – und wurden somit mehr und mehr von der Eigendynamik einer Bürokratie aufgesogen, ohne daß das notwendige Korrektiv einer proletarischen Klasse an der Basis bestanden hätte (50).

Hier mögen jene, die schon immer wußten, daß Rätedemokratie und Bolschewismus nichts mit einer wirklich demokratischen Mehrheit des Volkes zu tun haben, aufschreien und sagen: „Jetzt gebt ihr also zu, daß die Diktatur des Proletariats in Wirklichkeit zu einer Diktatur der Partei wurde.“ Natürlich ist dies kein sonderlich origineller Vorwurf, stellten doch schon Lenin und Trotzki diesen Tatbestand fest (51). Doch sollten gerade dieseKritiker etwas vorsichtiger mit ihren Vorwürfen sein, taten doch gerade die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien alles, damit dieser Bürgerkrieg sich möglichst in die Länge zieht und viele Opfer fordert.

Es überrascht kaum, daß der Vorwurf des Substitutionalismus zum Standardrepertoire der reformistischen Kritiker der Oktoberrevolution gehörte. Schon der Vordenker der deutschen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, wälzte diese These in mehreren Büchern breit (52). Tatsächlich wurde die Oktoberrevolution von einer Partei angeführt, die mehr aktive Unterstützung und Basisnähe sowie mehr lebendige innerparteiliche Diskussion als jemals ein reformistische Partei hatte (53)! Umso befremdlicher ist es, daß Ernest Mandel in seinem Buch zur Oktoberrevolution sich dem Vorwurf des Sustitutionalismus anschließt (54). Zwar seien Trotzki und Lenin davon weitgehend freizusprechen, aber die Partei als Ganzes…. Scheinbar hinterließ die heftige Abwendung vieler Ex-Stalinisten von der Oktoberrevolution gewisse Spuren in Mandels Einschätzungsvermögen.

Der Vorwurf „Diktatur der Partei vs. Diktatur des Proletariats“ verrät ein ziemlich schematisches Denken. Partei und Klasse sind keine entgegengesetzten Begriffe, sondern setzen einander voraus und sind aufs engste miteinander verwoben. Eine Partei ist der bewußte politische Ausdruck einer Klasse oder einer bestimmten Schicht. Die Bolschewiki, wie wir gezeigt haben, sammelten in ihrer Reihe die bewußten und aktiven Arbeiter – sprich die Vorhut der Klasse. Aufgrund der tragischen Entwicklung des Bürgerkriegs wurde das Proletariat dezimiert, teilweise strömten bäuerliche Elemente ohne Klassen-Tradition in die Fabriken usw. – kurz die Vorhut verlor ihre Basis. Letztlich bekämpften einander zwei Minderheiten – die proletarische Vorhut in Form der bolschewistischen Massenpartei gegen die bürgerliche Vorhut in Form der weißen Generäle und diverser kleinbürgerlicher Kader. Dazwischen stand nach Jahren des Hungers und der Entbehrung eine verzweifelte und erschöpfte Masse. Es ist wahr und nur allzu tragisch, daß die proletarische Vorhut manchmal gezwungen war, gegen rückständige Teile der Klasse, die sich zu schädlichen Streikaktionen u.ä. aufhetzen ließen, vorgehen mußte. Hier gibt es nichts zu beschönigen, aber die Gesetze der Revolution erzwingen manchmal solche tragischen Notwendigkeiten.

Aber was war die Alternative? Hätten die Bolschewiki stattdessen die Macht freiwillig den Weißen übergeben sollen? Nein, wir Bolschewisten sind keine Schönwetter-Marxisten, die den Sozialismus nur unter günstigen Bedingungen verteidigen. Nein, der Kampf für die proletarische Revolution muß unter allen, auch den ungünstigsten Bedingungen vorangetrieben und verteidigt werden. Und das erfordert eben manchmal harte Entscheidungen. Unsere Position läßt sich daher treffend mit den  Worten Karl Radeks zusammenfassen: „Wir gehen friedlich zu unseren Zielen wenn möglich, mit Gewalt wenn notwendig. Die historische Erfahrung des Proletariats sagen ihm, daß die Gewalt notwendig sein wird; es hängt von der Bourgeoisie ab, die Erfahrungen zu korrigieren.“(55)

Deswegen irritieren uns auch nicht all die von den Anarchisten zitierten Aussprüche von Lenin, wo dieser ein rücksichtsloses Vorgehen und Exekutionen gegen anti-sowjetische Aufständische fordert. Es ist kein Zufall, daß so erzreaktionäre Autoren wie Richard Pipes einen Gutteil seines neuen Buches „The Unknown Lenin“ ebenfalls mit solchen „entlarvenden“ Dokumenten füllen (56). Trotzdem existiert hier natürlich ein Unterschied. Während Leute wie Pipes damit beweisen wollen, daß eine sozialistische Revolution nur von terroristischen Fanatikern gemacht werden kann und daher abgelehnt werden muß, träumen die Anarchisten von einer „sauberen Revolution“ ohne Brutalitäten und Terror (57). Allein, es ist nicht möglich, wie die Geschichte großer Revolutionen wiederholt bewies. Wer wirklich auf Seiten der Oktoberrevolution steht, der kann ihr nicht das Recht auf Selbstverteidigung absprechen. Man darf nicht das abstrakte Prinzip einer erwünschten Revolution über die tatsächliche Revolution stellen. Die Anarchisten und Zentristen sind dazu nicht in der Lage – weswegen sie auch noch nie eine Revolution auch nur annähernd zustande gebracht haben, selbst wenn sie einen gewissen Masseneinfluß hatten. Sollten wir uns in einer zukünftigen Revolution in einer ähnlichen Situation wie die Bolschewiki befinden, wir würden nicht eine Sekunde zögern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das höhere Gut – die Revolution – zu retten. Jeder Marxist, der das Gegenteil behauptet, ist entweder ein Lügner und streut der proletarischen Avantgarde Sand in die Augen oder er ist realitätsferner Dogmatiker, der die Revolution abstrakten Prinzipien opfert. Beide Fälle haben nichts mit revolutionärem Marxismus, aber viel mit verbalem Revolutionarismus zu tun.

Anarchismus und Zentrismus in der Oktoberrevolution

Welche Rolle spielten nun die Anarchisten und Zentristen selber in der Oktoberrevolution? Diese Gruppierungen – wie auch ihre heutigen Nachfolger – wurden nicht müde, über die Fehler der Bolschewiki herzuziehen. Allein, was war ihre Praxis? Die Anarchisten waren heillos zerstritten und verfolgten völlig unterschiedliche Strategien. Teile von ihnen kämpften im Oktober mit den Bolschewiki, andere führende Anarchisten (58) erklärten noch 1918, daß sie schon immer gegen die Machtergreifung im Oktober gewesen seien. Viele lehnten die Sowjets ab, da sie doch auch nur eine Form staatlicher Autorität seien. Es liegt auf der Hand, daß ein solch wirrer, kleinbürgerlicher Pseudo-Radikalismus leicht gefährlich werden konnte. Der reaktionäre General Gopper berichtete später selber, daß konterrevolutionäre Untergrundorganisationen wie auch ausländischen Geheimdienste die diversen anarchistischen Grüppchen infiltrierten. Teile wollten 1918 einen bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht ausführen.

Nachdem die Tscheka diese anarchistischen Clubs relativ unblutig auflöste, ging ein Teil in die Ukraine, wo sie sich bald der Machno-Bewegung anschlossen. Diese Bewegung kämpfte teils gegen die deutschen Besatzer und deren Vasallen, teils gegen die Rote Armee. An ihrer Spitze standen wohlhabendere Bauern und diese kleinbürgerliche Bewegung ermordete nicht nur viele Kommunisten, sondern trägt auch die Verantwortung für diverse antisemitische Exzesse. Die besseren Teile der Anarchisten schlossen sich den Bolschewiki an.

Wir haben wiederholt auf die Unfähigkeit der Ultralinken hingewiesen, ihre Dogmen mit den praktischen Erfordernissen des konkreten Klassenkampfes in Einklang zu bringen. Wir wollen dies anhand einer Anekdote beleuchten, die Victor Serge überlieferte. Als die Weißen vor Petrograd standen, schickten sie eine Reihe von Saboteuren in die Stadt. Wenn die Tscheka ihrer habhaft wurde, wurden sie erschossen. Es ergab sich, daß sich ins Hauptquartier einer anarchistischen Gruppe, die die Verteidigung der Stadt mittrug, ein solcher weißer Agent einschlich. Er plazierte dort eine Bombe, die viele Anarchisten tötete. Nach einigen Nachforschungen entlarvten die Anarchisten ihn als Urheber des Attentats. Nun begann die Frage, was mit ihm tun. Sollten sie ihn exekutieren? Das widersprach aber ihren Idealen. Freilassen? Das konnte man wohl auch kaum nach diesem schrecklichen Ereignis. Man einigte sich schließlich darauf, diesen Agent der Tscheka auszuliefern, im Wissen, daß diese ihn sofort erschießen würde. Dadurch würde die Tat bestraft, aber sie müßten sich nicht die Hände schmutzig machen. Das ganze endete schließlich damit, daß den anarchistischen Soldaten, der ihn zur Tscheka hätte bringen sollen, auf der Mitte des Weges das schlechte Gewissen befiel und er den Mörder seiner Kameraden laufen ließ anstatt der Tscheka zu übergeben! Wohlmeinend, aber hoffnungslos naiv, kann man zusammenfassen.

Die Geschichte des Zentrismus in der russischen Revolution ist nicht viel besser. Die besten unter ihnen stießen im Sommer 1917 zur Bolschewistischen Partei (wie die Meshrayonzi um Trotzki, Joffe und Lunatscharski sowie einzelne linke Menschewiki). Doch die Menschewiki-Internationalisten um Martow sowie die Gruppe um Maxim Gorki und seine nicht uneinflußreiche Zeitung Novaya Zhizn spielten eine unglückliche Rolle in der Revolution. Sie protestierten heftig gegen den bewaffneten Aufstand im Oktober (übrigens lehnten auch die kleinbürgerlichen linken Sozialrevolutionäre den Aufstand ab). Als sich das Rad der Geschichte als mächtiger erwies, forderten sie vehement eine „sozialistische Allparteien-Koalition“, sprich eine Koalition aus Befürwortern der Losung „Alle Macht den Sowjets“ (den Bolschewiki) und ihren Gegnern (Sozialrevolutionäre und Menschewiki), die noch im Juli die Verhaftung und Unterdrückung der Bolschewiki unterstützten! Eine solche Koalition hätte sich in keiner einzigen Grundfrage der Revolution einigen können (Fortsetzung oder Beendigung des Krieges, Agrarrevolution, Arbeiterkontrolle über die Industrie usw.) und wäre daher höchst schädlich gewesen. Und auch als die Auflösung der Konstituierenden Versammlung notwendig wurde, widersprachen die Zentristen auf heftigste (die linken Sozialrevolutionäre unterstützten diese Maßnahme). Die Liste ließe sich beliebig weiter fortsetzen.

Was war der Grund dafür, waren die Zentristen etwa keine aufrechten Sozialisten? Nein, das war nicht der Grund. Aufrecht waren sie durchaus, nur ist bekanntlich der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Das zentrale Problem des Zentrismus war (und ist) jegliches Fehlen proletarischer Klassenunabhängigkeit. Das Fehlen eines klaren und konsistenten Programms überträgt sich in der praktischen Politik in den Unwillen, zu führen, den Mangel jeglicher Initiative und eigenständiger Positionen. So ist der Zentrismus gezwungen, sich als kritischer Unterstützer mal der reformistischen, mal der revolutionären Richtung anzubieten – im Zweifelsfall für den Reformismus. Keine klare Linie, sondern Zick-Zack, Zaudern und Unentschlossenheit. Sein größter Vorwurf an den Bolschewismus ist das „Sektierertum“ und die „Spaltung der Einheit der Arbeiterbewegung“. Seine Existenzberechtigung liegt daher in der Vermittlung zwischen den Fronten (damals hieß das „sozialistische Allparteien-Regierung“, heute heißt das „Einheit der Linken“). Die Angst vor der Isolation, dem Gezwungensein, auf eigenen Füßen zu stehen, treibt den Zentrismus dazu, die Nähe eines größeren Bündnispartners zu suchen und sich zu diesem Zwecke (meist unbewußt) an dessen Politik anzupassen.

Schluss

Ein Teil des heutigen Zentrismus versucht sich von diversen Konsequenzen der Oktoberrevolution zu distanzieren, da in dieser Frage von den erhofften linksreformistischen Bündnispartnern ein enormer Druck ausgeht. Wer möchte heute noch etwas mit dem Bolschewismus zu tun haben, ohne sich gleichzeitig ein für alle Mal die Chancen auf ein Regierungsamt zu vermasseln? Der inzwischen bereits verstorbene Mandel und das „Vereinigte Sekretariat“ haben bereits in den späten 1970er Jahren den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ gegen die „sozialistische Demokratie“ eingetauscht und den möglichen Gegensatz von Überlebensinteressen der proletarischen Revolution und bestimmten formal-demokratischen Grundsätzen weitgehend geleugnet.(59) Wie wir gezeigt haben, mag das zwar bei humanistischen Intellektuellen gut ankommen, aber in der Praxis kann es diesen Widerspruch manchmal geben. Andere Zentristen sind ganz orthodox in ihrer Verteidigung der Oktoberrevolution (60). Das können sie auch, denn dieses Ereignis ist mittlerweile schon 80 Jahre her. Wenn es aber darum geht, die wesentlichen Grundsätze des Bolschewismus in der aktuellen Politik und Programmatik zu berücksichtigen, springt der Unterschied umso mehr ins Auge.

Dabei bietet die Oktoberrevolution ein so reichhaltiges Arsenal revolutionärer Lehren: Von der Bedeutung einer revolutionären Kampfpartei, der Unabdingbarkeit der Orientierung auf eine sozialistische Revolution ohne eine künstliche Begrenzung auf „demokratische“ o.ä. Etappen, der Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in der Isolation und der notwendigen Ausrichtung auf eine Internationalisierung der Revolution, der Stellenwert einer flexiblen Einheitsfront-Taktik mit reformistischen und zentristischen Kräften, ohne zu vergessen, daß diese die Revolution bei der nächstbesten Gelegenheit verraten können, der Unvermeidbarkeit eines bewaffneten Aufstandes, der Rolle der Gewalt in der Revolution usw (61).

Wenn wir nun die hier aufgerollte Kritik der bürgerlichen Historiker bilanzieren, müssen wir feststellen, daß sie sich im Grunde genommen nicht bloß gegen die Oktoberrevolution selber, sondern gegen den Gedanken der sozialen Revolution, des Aufbegehrens der Massen an sich, richtet. Manche von ihnen sind inkonsequent und verteidigen die bürgerliche Revolution (mit ihrer Gewalt und ihren Exzessen). Andere sind konsequenter und wollen auch die heroischen bürgerlichen Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte aus unserem Gedächtnis streichen. Die bürgerliche Öffentlichkeit will ein für alle Mal den Gedanken des Aufbegehrens, der Revolution aus dem Bewußtsein der Arbeiter und der Jugend tilgen.

Allein, es wird ihnen nicht gelingen. Denn die materielle Misere der kapitalistischen Gesellschaft produziert unweigerlich den Willen zur Veränderung und Kampf. Daher sammeln wir Marxisten all die Erfahrungen der vergangenen Revolutionen, der erfolgreichen wie der erfolglosen, studieren und lernen daraus. Für uns sind die bürgerlichen Revolutionen nur der Beginn – und nicht das Ende – der Geschichte moderner Revolutionen. Die Oktoberrevolution ist vorläufiger Höhepunkt – nicht der Tiefpunkt – eines neuen geschichtlichen Abschnitts, in dem der Mensch sein Schicksal selber in die Hand nimmt. Die Oktoberrevolution war der erste, aber gewiß nicht der letzte erfolgreiche Versuch, die Misere des Kapitalismus ein für alle mal zu beenden. Wir, die Liga für die 5. Internationale, kämpfen für eine neue Oktoberrevolution. Noch erlaubt das politische Kräfteverhältnis dies nicht. Die damaligen Gegner und halbherzigen Unterstützer der Oktoberrevolution dominieren heute noch die Arbeiterbewegung. 1997 ist daher nur ein Jahr der weiteren Vorbereitungsarbeit für einen neuen Oktober. Aber wer weiß, vielleicht werden wir 2017 die Frage der Revolution nicht nur historisch und programmatisch diskutieren, sondern ganz praktisch erforschen!

Anmerkungen

(1) Bezeichnenderweise ließ der „Demokrat“ Jelzin die Archive wieder schließen bzw. sind diese nur in Einzelfällen gegen hohe Geldbeträge zugänglich.

(2) Wer erinnert sich noch an das Buch des liberalen US-Philosophen Francis Fukayama Anfang der 1990er Jahre, der das „Ende der Geschichte“ postulierte, weil nun die kapitalistische Demokratie auf immer und ewig gewonnen habe? Noch heute glaubt dieser Professor das! Siehe auch das Interview im Standard vom September 1997.

(3) Leitartikel in „Retsch“, 16.9.1917; zitiert in W.I.Lenin: Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?, LW 26, S.73

(4) Roman Rosdolsky: Zur Russischen Revolution, in: Ulf Wolter (Hrsg.): Sozialismus-Debatte, Berlin 1978, S.204; Nichtsdestotrotz muß man auch hier differenzieren zwischen so reaktionären Hetzern wie Richard Pipes oder Francois Furet und hochqualifizierten und um Objektivität bemühte Historiker wie Edward H. Carr (The Bolshevik Revolution 1917-1923, Bd. I-III, London 1966) oder Robert V. Daniels (Das Gewissen der Revolution, Köln 1962). Letztere sind nach wie vor eine wichtige Quelle zum Studium der russischen Revolution.

(5) Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd. 1 und 2, Berlin 1992

(6) Helmut Altrichter: Rußland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997, S.212. Siehe z.B. auch S.230

(7) Zitiert bei Altrichter o.a., S.224

(8) Die Machtübernahme in Petrograd verlief weit unblutiger als die Februarrevolution. Während im Oktober nur einige dutzend Menschen ums Leben kamen, starben 8 Monate zuvor mehr als 1.200.

(9) Die Kadetten waren die Hauptpartei des republikanisch gesinnten russischen Bürgertums. Unter dem Zaren stellten sie eine kritische, aber loyale Opposition dar. Nach der Februarrevolution dominierten sie zuerst die Regierung und bildeten dann eine Koalition mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären. Nach der Revolution verloren sie rasch an Bedeutung. Die verzweifelt um ihre alte Macht und Privilegien kämpfende Bourgeoise wendete sich im Bürgerkrieg reaktionären, anti-semitischen Generälen wie Denikin, Koltschak oder Wrangel zu.

(10) Die Sozialrevolutionäre wurden 1902 gegründet und stützten sich auf die Tradition der Narodniki. Sie verkörperten v.a. den bäuerlichen und kleinbürgerlichen Radikalismus gegen den Zarismus, aber mit nur konfusen sozialistischen Zielen. Im Sommer 1917 spaltete sich die Partei in einen linken Flügel, der – wenn auch mit Schwankungen – mit den Bolschewiki zusammenarbeitete und einen rechten Flügel, aus dessen Reihen der Vorsitzende der bürgerlichen Provisorischen Regierung Kerenski stammte und der nach dem Oktober den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht aufnahm.

(11) Der reformistische Flügel der Sozialdemokratie. Sie befürworteten eine bürgerliche Regierung, da sie die Überwindung des Kapitalismus für unmöglich hielten. Unterstützen nach der Revolution die militärische Intervention der imperialistischen Mächte.

(12) Leo Trotzki: Die Geschichte der Russischen Revolution, Bd. 2.2, Frankfurt a.M. 1973, S.915

(13) Pipes, o.a. S.281

(14) An den militärischen Operationen in Petrograd nahmen laut Trotzki ca. 25.-30.000 Rotgardisten und Soldaten teil.

(15) In Petrograd beispielsweise wurde eine Exekutive mit 13 Bolschewiki, 6 Sozialrevolutionären und 3 Menschewiki sowie Trotzki als Vorsitzender gewählt.

(16) Beim Kornilow-Putsch handelte es sich um einen versuchten Staatsstreich eines reaktionären Generals, der ursprünglich mit dem Regierungschef zusammenarbeitete, um die Sowjets zu schwächen und die Kriegsanstrengungen zu verstärken. In diesem gemeinsamen Vorgehen versuchte Kornilow dann allerdings erster zu werden – und wurde letzter; Kerenski mußte allerdings zwei Monate später ebenfalls aus dem Winterpalais flüchten.

(17) Die reformistisch dominierte Exekutive der Sowjets unterstützte sogar die Mitte Juni begonnene Großoffensive der russischen Armee gegen die Deutschen, die wenige Wochen später mit einer verheerenden Schlappe endete.

(18) Damit waren die Vertreter der Kadetten in der Regierung gemeint.

(19) Nadeshda Krupskaja: Errinnerungen an Lenin, Berlin 1959, S.406

(20) So die Izvestiia, die Zeitung der offiziellen Sowjetführung Moskaus; Zitiert bei Alexander Rabinovich: The Bolcheviks come to power, S.111f

(21) Beide Dokumente sind enthalten in der hervorragenden Dokumentensammlung von Richard Lorenz (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917 – Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten, München 1981, S.116 und 119

(22) zitiert bei Ted Grant: Russia – from Revolution to Counterrevolution, London 1997, S.62

(23) zitiert bei Ernest Mandel: Oktober 1917 – Staatsstreich oder soziale Revolution, S.20f

(24) John Reed: Zehn Tage die die Welt erschütterten, Berlin 1976, S.275

(25) So der deutsche antikommunistische Historiker Oskar Anweiler; zitiert bei E. Mandel o.a., S.21

(26) Altrichter o.a., S.299

(27) Dies ist wichtig zu betonen, da in unterschiedlichen Situationen Selbstverwaltungsorgane der Massen unterschiedliche Namen und Formen annehmen können. In Rußland z.B. gab es neben den Räte die Fabrikkomitees, während auf dem Land die sogenannten Gemeindekomitees lange Zeit die zentralen Organe waren. In der revolutionären Situation in Deutschland 1923 z.B. gab es zwar keine Räte, aber dafür erfüllten diese Rolle die Betriebstäte und Basisversammlungen der Gewerkschaften.

(28) Siehe dazu den hervorragenden Überblick über die Entwicklung der Fabrikkomitees in David Mandel: Factory Committees and Workers Control in Petrograd 1917, Montreuil 1993; weiters sind zu erwähnen Darstellung der Tätigkeit einiger Fabrikkomitees in Petrograder Großfabriken auf Basis der Auswertung hunderter Protokolle und Dokumente: Gert Meyer: Petrograder Betriebskomitees im Revolutionsjahr 1917; in: Peter Brokmeier/Rainer Rilling: Beiträge zur Sozialismusanalyse III, Köln 1981, S.33-56; und schließlich noch Reinhard Kösler: Überstunden für die Aurora – Betriebskomitees in der Petrograder Rüstungsindustrie 1917 zwischen Betriebsraison und Selbstbestimmung

(29) Nadeshda Krupskaja, die im Vyborger Distriktsowjet – der proletarischen und bolschewistischen Hochburg in Petrograd – tätig war, beschreibt die kulturellen Bemühungen der Sowjets recht anschaulich.

(30) Eine gute Zusammenfassung der Agrarrevolution im Jahre 1917 bieten L. Trotzki: Die Geschichte der Russischen Revolution, Bd.II, S.692-720 und H. Altrichter: Rußland 1917, S.330-366

(31) Der kanadische Historiker David Mandel meint, daß mehr als die Hälfte der Stimmen eigentlich den linken Sozialrevolutionären zugedacht waren. (David Mandel: Factory Committees and Workers Control in Petrograd 1917, Montreuil 1993, S.9)

(32) Siehe dazu auch Lenin: „Thesen über die Konstituierende Versammlung“ in LW 26, S.377-381; Leo Trotzki: The Principles of Democracy and Proletarian Dictatorship; in: Al Richardson (Hrsg.): In Defence of the Russian Revolution. A Selection of Bolchevik Writings 1917-1923, London 1995, S.99-101

(33) Die Bourgeoisie macht in der Regel nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus.

(34) Francois Furet: Die Illusion des Jahrhunderts, München 1996, S.140

(35) Eine Auswahl an Dokumenten aus der Zeit vor und während des Bürgerkrieges bietet: Martin McCauley (Hrsg.): The Russian Revolution and the Soviet State 1917 – 1921, London 1975

(36) Philips Price beschreibt in seinem Augenzeugenbericht, daß sich diese „Endzeitstimmung“ auch bei vielen Kommunisten breitmachte – v.a. den linken Kommunisten (um Bucharin, Radek, Pjatakow), die den Friedensvertrag mit Brest-Litowsk annullieren und einen revolutionären Krieg gegen das imperialistische Deutschland führen wollten. Sie dachten, daß die Revolution zur Niederlage verdammt sei und daß sie daher zumindest ein heroisches Ende finden sollte.

(37) Sie z.B. die neue anarchistische Streitschrift aus Großbritannien „Bolsheviks in Power: Beyond Kronstadt“, London 1997, S.3

(38) Dekret über die Presse, in: Horst Schützler/Sonja Striegnitz (Hrsg.): Die ersten Dekrete der Sowjetmacht, Berlin 1987, S.63

(39) Auch im Don-Gebiet, wo der oben erwähnte General Krasnow eine konterrevolutionäre Armee sammelte, nahmen die rechten Sozialrevolutionäre an dessen Regierung teil. Diese „demokratische“ Alternative zu den terroristischen Sowjets sah folgendermaßen aus: Ernennung von General Krasnow zum Alleinherrscher mit allen Vollachten, Unantastbarkeit des Privateigentums usw. gleichzeitig appellierte dieser Gegner des „anti-nationalen Bolschewismus“ an den deutschen Kaiser, sich mit ihm Rußland aufzuteilen und gemeinsam militärisch vorzugehen. Besonders deutlich wird der Klassencharakter dieses Regimes an folgendem Telegramm deutlich. Als Krasnows Truppen die Industriestadt Juzovka eroberten, gab der Kommandeur folgenden Befehl: „Es ist verboten, Arbeiter zu verhaften. Es wird angeordnet, sie entweder aufzuhängen oder zu erschießen.“ Zitiert in Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.331

(40) Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.312

(41) Von stalinistischer Seite gibt es dazu folgendes Buch: P.G.Sofinow: Geschichte der Tscheka 1917-1922, Potsdam 1967

(42) Ernest Mandel: o.a., S.84

(43) Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.152

(44) Roy Medwedew: 80 Jahre Russische Revolution. Sieg und Niederlage der Bolschewiki; in: Wladislaw Hedeler, Horst Schützler, Sonja Striegnitz (Hrsg.): Die Russische Revolution – Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin 1997, S.44 45 Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd.II, S.514 46 Es ist nebenbei bezeichnend für die zentristische Schwammigkeit eines Ernest Mandel, daß er es in seinem Buch zur Oktoberrevolution vermeidet, eindeutig Position zu Kronstadt zu beziehen. Ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, daß seine Bewegung bisher immer, zumindest in Worten, die tragische Notwendigkeit der Niederschlagung dieses Aufstandes verteidigte, stellt er sich nichtsahnend: „Die Informationen, über die wir in dieser Hinsicht verfügen, erlauben aber keine definitiven Schlußfolgerungen.“ (E.Mandel, o.a., S.77)

(47) Siehe dazu die Broschüre „Kronstadt“, Frankfurt a.M. 1981, mit Texten von Lenin, Trotzki und Serge sowie einer guten Einleitung von Pierre Frank, dem damaligen führenden Funktionär des zentristischen „Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale“. Damals war der Zeitgeist noch nicht demokratisch-konterrevolutionär wie in der ersten Hälfte unseres Jahrzehntes, weswegen sich Frank im Unterschied zu Mandel 1992 durchaus zur Verteidigung der Bolschewiki durchringen konnte. Der Zentrist läßt sich in seinem Urteil leider von wandelnden Stimmungen und Zeitgeist treiben, anstatt sich ausschließlich an die objektiven Fakten zu halten. Denn diese veränderten sich wohl kaum zwischen 1976 und 1992!

(48) Kronstadt war eine Marinefestung, die strategisch zentral direkt in der Meereseinfahrt zu Petrograd lag. Alleine deswegen besaß die Frage, wer Kronstadt kontrolliert, enormes Gewicht.

(49) Victor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs 1901-1941, Hamburg 1977, S.147f

(50) Einen weitgehend korrekten Überblick über den Bürgerkrieg und die Entwicklung der bolschewistischen Partei bietet „ergebnisse&perspektiven“ Nr.8, Mai 1979, S.29-52; herausgegeben von den inzwischen aufgelösten Spartacusbund/IKL

(51) Siehe z.B. Leo Trotzki: Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky (1920), Dortmund 1978

(52) Karl Kautsky: Die Diktatur des Proletariats, 1918; Terrorismus und Kommunismus, 1918; Von der Demokratie zur Staatssklaverei, 1921; alle in: Hans-Jürgen Mende (Hrsg.): Demokratie oder Diktatur, Bd.I und II, Berlin, 1990

(53) Zu den Diskussionen in der bolschewistischen Partei siehe u.a.: The Bolsheviks and the October Revolution; Central Committee Minutes of the Russian Social-Democratic Labour Party (bolsheviks) August 1917 – February 1918, London 1974; sowie Alexander Rabinovich: The Bolchevics come to power, s.o.

(54) Ernest Mandel: o.a., S.73-76

(55) Karl Radek: Proletarische Diktatur und Terrorismus, Berlin 1919, S.40

(56) Pipes entblödet sich nicht einmal, Lenin als Agenten des deutschen Kaiserreiches hinzustellen, nicht nur für die Phase vor dem Oktober 1917, sondern sogar noch im August 1918! Abgesehen von der lächerlichen Beweisführung aus einer unklaren Formulierung in einem Brief Lenins entgeht diesem „Wissenschaftler“ die kleine Tatsache, daß im August 1918 die deutschen Imperialisten gerade die Sowjet-Republik strangulierten und reaktionäre Truppen finanzierten, die gegen Moskau marschierten. Falls Lenin damals ein deutscher Agent war, so war er sicherlich ein äußerst unbrauchbarer Agent, denn die Bolschewiki propagierten ohne Unterbrechung den Sturz des Kaisers, was dann auch im November 1918 geschah und außerdem bekämpften sie erfolgreich die Handlanger des deutschen Imperialismus in Rußland selber. Richard Pipes: The Unknown Lenin; New York 1996, S.12 und 53

(57) Ein weiteres Beispiel für diese naive kleinbürgerliche Argumentation ist eine andere anarchistische Publikation: M. Brinton: Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle – Der Staat und die Konterrevolution, Hamburg 1976

(58) So z.B. die Brüder Gordin, Herausgeber der größten anarchistischen Zeitung Anarkhiya

(59) Siehe „Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats“, in: Rote Hefte Nr. 15, herausgegeben von der Gruppe Internationale Marxisten

(60) Siehe z.B. Ted Grant: Russia – from Revolution to Counterrevolution, London 1997, S.41-92

(61) Siehe auch: Leo Trotzki: „Die Lehren des Oktobers“ (1924), in: Ulf Wolter (Hrsg.): Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928, Bd.II, 192-251. Unsere Tendenz hat dazu u.a. folgendes publiziert: Workers Power: 1917 – Rußland auf dem Weg zum roten Oktober. Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution; Die Übersetzung findet sich in der hier vorliegenden Ausgabe des Revolutionären Marxismus; in unserem internationalen Programm, dem Trotzkistischen Manifest, haben wir die Lehren der revolutionären Arbeiterbewegung ausgewertet und weiterentwickelt.




Die Bedeutung der russischen Revolution – Lehren für das 21. Jahrhundert

Roman Birke, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

In jedem Oktober, insbesondere am 90. Jahrestag, gehört es zum guten Jargon jeder in weitestem Sinne revolutionär-marxistischen Organisation die Ereignisse der russischen Oktoberrevolution zu diskutieren und die Lehren daraus zu ziehen. Doch für uns geht es keineswegs alleine darum, eine Tradition der theoretischen Aufarbeitung aufrecht zu erhalten.

Denn auch wenn das theoretische Verständnis der russischen Ereignisse von entscheidender Bedeutung ist, ist dies nutzlos, würde man nicht die Schlussfolgerungen für heute, für die Revolution des 21. Jahrhunderts, ziehen. Veränderung wird nicht alleine durch die Erarbeitung theoretischer Erkenntnisse, sondern nur durch das Übersetzen der theoretischen Formeln in die revolutionäre Praxis geschaffen. Dieses Verständnis ist die Grundlage für jede ernsthafte revolutionäre Organisation, die nicht nur Sonntagsreden über den Sozialismus schwingt, sondern für ihr Programm in den neu entstandenen Massenbewegungen aus dem Blickwinkel der praktischen Aktivität kämpft.

Gesellschaftlicher Hintergrund

Diesen Artikel schreiben wir unter besonderen gesellschaftlichen Bedingungen. In vielen Ländern, darunter auch Deutschland und Österreich, entwickeln sich Diskussionen um die Frage, welche Art von politischer Partei wir brauchen. Das Suchen nach einer Alternative zur verrotteten Sozialdemokratie wird deutlicher, aber auch in Teilen der neu entstandenen Massenbewegungen erleben wir eine bestimmte Linksentwicklung, durch die solche Fragen aufgeworfen werden. Dies ist der Grund warum es auch vermehrt Debatten über die Grundfragen der Revolution gibt.

Denn auch wenn die Notwendigkeit der Veränderung der Gesellschaft hochaktuell ist, so drückt sich dies doch nicht immer im Bewusstsein der Arbeiterklasse aus. Auch wenn es offensichtlich ist, dass der Kapitalismus die brennenden Probleme unserer Zeit nicht lösen kann und für immer größerer Menschenmassen außer Verelendung, Hunger, Krieg, Überausbeutung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nichts zu bieten hat, so hinkt das Bewusstsein breiter Teile der ArbeiterInnenklasse doch oftmals hinter dieser Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse hinterher.

Die objektive Reife der Lage spiegelt sich nicht eins zu eins im Bewusstsein der Arbeiterklasse wider. Einerseits findet die Entwicklung des Bewusstseins meist verspätet zur Entwicklung der ökonomischen Faktoren statt, andererseits gibt es eine Reihe von ideologischen Einflussfaktoren der Bourgeoisie, welche diese Entwicklung zurückhalten oder ihr offen entgegenwirken.

Doch gerade in den letzten Jahren erleben wir eine Situation, in der die Frage nach Veränderung, die Frage nach einer Alternative zum Wahnsinn der kapitalistischen Ausbeutung wieder aktueller wird und breitere Teile der Arbeiterklasse erfasst. Diese Entwicklung des Bewusstseins bei den fortschrittlichsten Teilen der ArbeiterInnenklasse ist nicht nur ein Resultat immer offener Krisenhaftigkeit und drohender Katastrophen, sondern auch ein Resultat vermehrter Klassenkämpfe.

Möchte man die Klassenkämpfe dieser Zeit (1999 bis heute) periodisieren, einen Überblick über die Entwicklung der Kämpfe geben und deren Auf- und Abschwünge kennzeichnen, so können wir diese Entwicklung in mehrere Zyklen einteilen.

Das Jahr 1999 eröffnet durch die Entstehung der antikapitalistischen Bewegung in Seattle einen Zyklus des Aufschwungs des Klassenkampfes. In diesen Zyklus fällt auch der Beginn der zweiten Intifada im September 2000, die Massenproteste gegen die Machtergreifung der rechts-konservativen Regierung in Österreich, die revolutionäre Situation in Argentinien, die Kämpfe gegen die Pensionsreform in verschiedenen EU-Ländern, den riesigen Demonstrationen gegen die G8 in Genua und der Mobilisierung 100.000er gegen die Regierung Berlusconi.

Der 11. September 2001 und der darauffolgende „Krieg gegen den Terror“ mit dem imperialistischen Überfall auf Afghanistan markieren eine Zäsur. Die US-amerikanischen Imperialisten nutzten die Gunst der Stunde zu einer massiven Offensive, die am Beginn mit einer Desorientierung der Arbeiterbewegung und der Unterdrückten, mit einer Paralyse der Gegenkräfte aufgrund der fehlenden ideologischen und politischen Vorbereitung angesicht des „Terrorismus“ ihren Anfang nahm.

Doch die Bewegung war nicht tod. Gegen den drohenden Irak-Krieg formierte sich die Kräfte des antikapitalistischen Widerstandes erneut. Diese Mobiliserierung gipfelte in der Antikriegsbewegung gegen den Angriff auf den Irak, die ihren Höhepunkt im Februar und März 2003 fand, wo bei Demonstrationen weltweit über 20 Millionen Menschen auf der Straße waren.

Doch die Niederlage der Antikriegsbewegung, die Tatsache, dass sie trotz Millionenprotesten den Krieg nicht verhindern konnte, führte zu einem Abflauen der Klassenkampfbewegung der Unterdrückten – nicht so sehr in dem Sinne, dass es weniger Kämpfe gab, sondern v.a. in dem Sinne, dass sie unter ungünstigerem Kräfteverhältnis stattfanden.

In diese Entwicklung markiert das Jahr 2005 eine Trendwende. Mit der Niederlage des Referendums in der EU, der Entwicklung der venzualanischen Revolution und dem Entstehen einer kontinentalen, anti-imperialistischen Mobilisierung in Lateinamerika, v.a. aber mit der sich deutlich abzeichnenden Niederlage der US-Besatzung im Irak ist die Offensive des Imperialismus an ihre Schranken gestoßen – eine Schranke, die sowohl die imperialistischen Bourgeoisie wie die Arbeiterklasse und die Unterdrückten zu einer Neuformierung ihre Kräfte zwingt.

Doch die Niederlagen oder Rückschläge der herrschenden Klasse führten entgegen der Vorstellungen reformistischer oder kleinbürgerlicher Versöhnler nicht zu einer Milderung der Gegensätze, sondern zu einer Verschärfung der Angriffe des Kapitals. Genau diese Entwicklung ist es, die dazu führt, dass die Arbeiterbewegung die Frage ihre Strategie und Taktik neu diskutieren, überdenken und Organisationen schaffen muss, die dem Angriff der Herrschenden standhalten und ihrerseits zur revolutionären Offensive übergehen können.

Die Aktualität der Revolution im 21. Jahrhundert setzt daher auch eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Revolution auf die Tagesordnung.

Drei Konzeptionen der Russischen Revolution

Die Russische Revolution 1917 ist nicht zufällig Referenzpunkt der Geschichte der Arbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts. Sie hat die verschiedenen politischen Strömungen, von den revolutionären KommunistInnen bis zu den Reformisten, Sozialdemokraten und Stalinisten, Anarchisten wie Syndikalisten geprägt.

Die Oktoberrevolution war der erste und bislang mächtigste Kulminationspunkt der Revolution in der imperialistischen Epoche, dessen Ergebnis eine siegreiche proletarische Revolution war.

Doch schon in vergangenen Klassenkämpfen wie der Revolution 1905 waren in der russischen und internationalen sozialistischen Bewegung verschiedene, grundlegende Konzeptionen der Revolution zutage getreten.

Die von den Menschewisten mehrheitlich vertretene Konzeption ging davon aus, dass im rückständigen Russland nicht nur die kapitalistische Entwicklung erst am Beginn stehe und daher nur ein bürgerliche Revolution möglich wäre. Eine solche Revolution, so der Menschewik weiter, müsse folgerichtig von der bürgerlichen Klasse geführt und die Herrschaft der konstitutionellen Bourgeoisie zur Folge haben. Aufgabe des Proletariats war es als Unterstützer und Antreiber und Verteidiger der bürgerlichen Klasse zu agieren. Die Klassenherrschaft der Bourgeoisie wurde als eherne Notwendigkeit, als unvermeiliches Resultat der Revolution betrachtet.

Dieser Linie blieb der Menschewismus in der Revolution und im Bürgerkrieg, blieben seine Ableger in den anderen Ländern, blieb die Sozialdemokratie bis heute treu. Selbst wenn das Proletariat und andere unterdrückte Klassen die „günstigen Bedingungen“ vorfinden würden, müsste eine Machtergreifung als „verfrüht“ abgelehnt werden, da sich die Klasse entweder nicht halten oder die Revolution im „Terror“ entarten müsse.

Wo diese Konzeption im 20. Jahrhundert angewandt wurde, waren ihre Resultate verheerend und führten zu blutigen Katastrophen – sei es beim Austromarxismus oder der Volksfront in Chile.

Die Stalinisten übernehmen diese menschewistische Konzeption und, wenn überhaupt, so unterschieden sich die blutigen Resultate dieser anti-revolutionen Theorie des Menschewismus nur durch größere Brutalität gegen linke Abweichler und zynischere Lügengebäude, die um Katastrophen wie die Niederlage der Chinesischen oder Spanischen Revolution konstruiert wurden.

Die zweite Linie neben dem Menschewismus war jene des Bolschewismus unter Lenin. Wie die Menschewiki und der „Gründungsvater“ der russischen Sozialdemokratie, Plechanow, ging auch er davon aus, dass die russische Revolution nur eine bürgerlich-demokratische sein könne. Aber er erkannte, dass die russische Bourgeoisie schon zu reaktionär war, und daher eine Revolution gegen den Zarismus eine Dynamik entfalten könnte, die auch gleich sie selbst hinwegfegt, dass sie als die führende Kraft der bürgerlichen Revolution nicht mehr in Frage komme.

Lenin „löste“ dieses Problem durch die Formel der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern.“ Die Revolution müsse eine Regierung aus Arbeiterklasse – vertreten durch die Sozialdemokratie – und einer Partei der kleinbürgerlichen, bäuerlichen Demokratie hervorbringen, die die zentralen Aufgaben der bürgerlichen Revolution (Sturz des Zarismus, Errichtung de demokratischen Republik, Landfrage/Agrarrevolution) erfülle, also bürgerliche Verhältnisse durchsetzt.

Lenins Formel hat sich als untauglich erwiesen angesichts der Revolution 1917. Ein Teil der Bolschewiki interpretierte sie menschewistisch – so wie der Stalinismus später diese Formel als ideologische Krücke zum Wiederaufwärmen des Menschewismus verwenden sollte.

Lenin hingegen bricht in den Aprilthesen mit der Formel und schließt sich der dritten Konzeption der russischen Revolution an, wie sie von Trotzki schon 1905 vertreten wurde: Der Konzeption der permanenten Revolution.

Theorie der permanenten Revolution

Die Theorie der permanenten Revolution legte dar, dass ausgehend von der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung des russischen Kapitalismus die Bourgeoisie vollkommen unfähig ist als revolutionäre Führung zu agieren. Diese Situation ermögliche es, ja erfordere es, dass die russische Arbeiterklasse die Macht ergreift, um die Aufgaben der demokratischen/bürgerlichen Revolution zu lösen und eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen.

Insbesondere das Verhalten der provisorischen Regierung, die eine Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten war, verdeutlichte diese These. Diese provisorische Regierung hatte unter Beweis gestellt, dass eine bürgerliche Regierung vollkommen unfähig ist, nur die elementarsten demokratischen Fortschritte zu erreichen.

Der verhasste Krieg wurde fortgeführt, dem verhassten Gutsbesitzer gehörten in feudaler Manier weiterhin die Felder und Hunger war immer noch eines der prägendsten Elemente der damaligen russischen Gesellschaft.

Dem Proletariat und den armen Bauernmassen ging es jedoch um die Beendigung des Krieges, die Versorgung mit Nahrung und der gerechten Verteilung des Bodens. Der Sturz des Zarismus als unmittelbarste Aufgabe hat diese antagonistischen Kräfte, die mit vollkommen unterschiedlichen Vorstellungen in diese Revolution gegangen sind, kurzzeitig zusammengebracht. Doch bald nach der Installation der provisorischen Regierung am 2. März 1917 wurden diese unterschiedlichen Motivationen offensichtlich.

Anstatt die Versorgung von Nahrungsmitteln auf demokratischer geplanter Grundlage zu organisieren beharrte die kapitalistische Regierung auf die „Selbstregulation“ der freien Marktwirtschaft. Statt den Krieg zu beenden, ließen die Kapitalisten die Soldaten weiterhin an der Front. Anstatt das Land unter den armen Bauern aufzuteilen, war es nach wie vor Eigentum des reichen Gutsbesitzers.

Diese gegensätzlichen Klasseninteressen fanden auch ihren Ausdruck in der Situation der Doppelmacht. Neben der provisorischen Regierung und dem zaristischen Staatsapparat existiert mit dem Petrograder Sowjet von Anfang an ein Doppelmachtorgan.

Dieses Ungleichgewicht der Kräfteverhältnisse müsste früher oder später entweder für die Bourgeoisie oder für das Proletariat entschieden werden. Darin liegt auch die tiefere Ursache für den Übergangscharakter der Zeit zwischen Februar und Oktober und der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution.

Die Erfüllung selbst der demokratischen Aufgaben fällt also unbedingt dem Proletariat zu. Lenin schrieb dazu in seinen Briefen aus der Ferne:

„Das Proletariat kann und darf eine Regierung des Krieges, eine Regierung der Restauration nicht unterstützen. Was der Kampf gegen die Reaktion, was die Abwehr aller möglichen und wahrscheinlichen Versuche der Romanows (Adelsgeschlecht der russischen Zarenfamilie, dA) und ihrer Freunde zur Wiederherstellung der Monarchie und zur Aufstellung einer konterrevolutionären Armee erfordert, das ist keineswegs die Unterstützung der Gutschkow (war Großindustrieller und Kriegsminister der provisorischen Regierung, dA) und Co., sondern die Organisierung einer proletarischen Miliz, ihr Ausbau, ihre Festigung und die Bewaffnung des Volkes unter der Führung der Arbeiter. Ohne diese wichtige, grundlegende, radikale Maßnahme kann weder von einem ernsthaften Widerstand gegen die Wiedererrichtung der Monarchie und gegen die Versuche, die versprochenen Freiheiten aufzuheben oder einzuschränken, die Rede sein noch davon, entschlossen den Weg zu beschreiten, der zu Brot, Frieden und Freiheit führt (1).“

Hier zeigt sich wie in vielen anderen Schriften Lenins sein Übergang zu Trotzkis Konzeption der permenanten Revolution, die im Laufe der 20er Jahre in der Auseinandersetzung um den Charakter der chinesischen Revolution verallgemeinert wird. Anders als die mechanistische Auffassung der Menschewiki geht diese Konzeption von einer Analyse des russischen Kapitalismus als Teil einer kapitalistischen Weltmarktes, eines kapitalistischen Weltsystems aus. Daher steht die Machtergreifung der Arbeiterklasse in Russland auch im engen, inneren Zusammenhang mit der sozialistischen Revolution in Europa, mit der Weltrevolution.

In der Imperialismustheorie, in der Analyse des imperialistischen Weltkriegs und in der strategischen Orientierung, den imperialistischen Kieg in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen umzuwandeln, bereitet sich der Bruch Lenins mit der Formel der demokratischen Diktatur vor.

Für die russischen RevolutionärInnen Ende des Ersten Weltkriegs ist es eine politische Selbstverständlichkeit, dass die Herrschaft der Arbeiterklasse zwar die sozialistische Umgestaltung im Land beginnen, sie sich jedoch nur als Teil der globalen Revolution halten und durch den Übergang zum Sozialismus im Weltmaßstab vollenden kann. An die spätere Legitimationstheorie vom „Sozialismus in einem Land“ – nicht zufällig selbst aus dem politischen Schutt des rechten Flügels der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts entlehnt – hatte damals noch niemand gedacht.

Der Bruch Lenins mit den Halbheiten und Schwächen der „demokratischen Diktatur“ steht – ebenso wie andererseits Trotzkis Bruch mit seiner zentristischen, anti-revolutionären und links-menschewistischen Parteikonzeption vor dem Ersten Weltkrieg – als ein Beispiel für einen grundlegenden Epochenbruch in der Geschichte der Arbeiterbewegung, die durch die russische Revolution, ihre strategische, programmatische und theoretische Konzeption vorangebrieben wird. Es erfolgt ein notwendiger und grundlegender Bruch mit der Zweiten Internationale – nicht nur mit ihrem historischen Verrat, sondern auch und vor allem mit den halbherzigen, oft mechanistischen durch „orthodoxe“ Phrasen verborgene Konzeptionen, in der sich immer mehr der reformistische Inhalt durchgesetzt hatte.

Die Notwendigkeit des revolutionäre Übergangs, der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und ihre Ersetzung durch einen Rätestaat bildet also eine der grundlegenden Lehren der Oktoberrevolution.

Die Sowjets

Wie allen großen Revolutionen der letzten 150 Jahre entwickelten die ArbeiterInnen und die unterdrückten Klassen Organe der revolutionären Gegenmacht des Kampfes, Organe der Doppellmacht – Räte.

Trotzki schrieb in seiner Autobiographie „Mein Leben“ über die Entstehung der Sowjets 1905:

„Der Sowjet hatte riesige Massen auf die Beine gebracht. Die gesamte Arbeiterschaft stand hinter ihm. Auf dem Lande herrschten Unruhen, ebenso bei den Truppen (2).“

Werden die Massen ins politische Leben gerissen, so steigen auch der Drang zu Selbstbestimmung und Selbstorganisation und die Notwendigkeit diese Aufgaben nicht nur in einem Betrieb oder in einem Stadtteil, sondern in größeren Gebieten zu verwirklichen. Sowjets oder ähnliche Organe bieten die Möglichkeit die Massen auf einer demokratischen und kontrollierbaren Grundlage zu organisieren und ihnen einen schlagkräftigen Ausdruck zu verleihen.

Im Gegensatz zum Parlamentarismus werden im Sowjetsystem angefangen von kleinsten Einheiten (Betrieben, Stadtteilen, Dörfern, Armeeinheiten) VertreterInnen gewählt, die die Entscheidungen der Basis auf eine nächst höhere Ebene tragen. Diese VertreterInnen sind ihrer Basis gegenüber verantwortlich, d.h. rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar. Die Entstehung von Sowjets in revolutionären Situationen, also in Situationen der größten Angespanntheit, des größten Drucks und steigender Notwendigkeit zum Handeln, zeigt auch die Überlegenheit eines demokratisch organisierten, hierarchischen Systems gegenüber der kleinbürgerlichen Vorstellung einer Basisdemokratie auf der Grundlage des Konsensprinzips (d.h. kaum Beschlüsse, Zustimmung von a llen bevor etwas umgesetzt wird, etc.).

Sowjets oder Sowjet-ähnliche Organe sind nicht nur wichtig, um die politisch erwachten Massen in den Kampf und in die Entscheidungen miteinzubeziehen, sondern spielen auch eine wichtige Rolle im Erlernen der Selbstorganisation. Die Räte sind nicht nur Kampforgane, sondern auch die zukünftigen Machtorgane der Diktatur des Proletariats, der Herrschaft der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie.

Und schließlich sind Staatsorgane, die anders als der bürgerliche Staat in sich die Möglichkeit bieten, zu Organen der Selbstverwaltung der Gesellschaft zu werden. Sprich: nur der Sowjetstaat kann, hat er seine Aufgabe erfüllt, die herrschende Klasse niederzuhalten und die Grundlagen für eine sozialistische Gesellschaft zu legen (und das schließt natürlich auch den Sieg der Revolution im Weltmaßstab ein), auch als Staat „absterben“, zu einem Organ der bewussten Selbstverwaltung der Produktion und des Verkehrs in der Gesellschaft werden.

Dies ist ein programmatischer und methodischer Bruchpunkt mit der Sozialdemokratie. Während sie den bestehenden bürgerlichen Staat erhalten und reformieren will, möchte die revolutionäre Partei diesen Staat mit Hilfe von Machtorganen wie Sowjets zerschlagen.

Trotz dieses grundsätzlich revolutionären Charakters des Sowjetsystems ist es falsch, die Räte der revolutionären Partei entgegenzustellen oder anzunehmen, dass sie ohne revolutionäre Führung die Revolution machen könnten.

Mit den Räten hat die Klasse ein Instrument geschaffen, die bürgerliche Herrschaft zu stürzen und zu ersetzen – aber die Klasse entwickelt deswegen noch lange keinen strategischen Plan, diese Aufgaben zu erfüllen. Auch in der revolutionären Situation (und auch nach der Revolution) wird die Klasse nicht „spontan,“ „aus der Praxis“ selbst revolutionär.

Der Rat ersetzt den Kampf der Parteien – und d.h. proletarischer und bürgerlicher Strömungen in der Klasse nicht – sondern konzentriert ihn vielmehr im Kampf um die Macht.

In Wirklichkeit ist es daher meist der Fall, dass Sowjets zu Beginn durch eine reformistische Führung geprägt sind, deren Aufgabe gerade darin besteht die revolutionäre Aktion der Räte, den revolutionären spontanen Impuls der Klasse zu kanalisieren – was auch mit einschließt, die Räte selbst an der Machtergreifung zu hindern, deren Zerschlagung oder Integration vorzubereiten.

So hatten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre und nicht die Bolschewiki nach der Februarrevolution die Mehrheit im Sowjet. Dies ist auch kein Wunder, entspringt ein sozialistisches Bewusstsein nicht aus dem Kampf der Massen selbst, sondern muss vielmehr von außen in die kämpfenden Massen hineingetragen werden. So konnten die Bolschewiki erst kurz vor der Revolution die Mehrheit im allrussischen Sowjet erobern. Auch können Sowjets oder ähnliche Organe nicht die Aufgabe einer Partei erfüllen. Die Diskrepanz zwischen der objektiven Reife der Lage und dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse zu überwinden, den Aufstand zu planen und anzuführen – diese Aufgaben fallen der revolutionären Partei, d.h. den fortschrittlichsten und entschlossensten Teilen der Arbeiterklasse zu.

Die Notwendigkeit der revolutionären Partei

Die russische Revolution von 1917 brachte die Bedeutung einer revolutionären Partei eindeutig zum Ausdruck. Ohne die Existenz der Bolschewiki hätte die Oktoberrevolution, d.h. die Weiterführung der bürgerlichen Februarrevolution zu einer sozialistischen Revolution nicht siegreich sein können. Doch die Notwendigkeit eines Dirigenten beweist man in erster Linie nicht durch die Betonung seiner Wichtigkeit, sondern durch das falsche Spiel des Orchesters während seiner Abwesenheit. Aus diesem Grund wollen wir den Boden der russischen Ereignisse kurz verlassen und uns der deutschen Revolution im November 1918 zuwenden.

In dieser revolutionären Situation fehlte der Dirigent – die revolutionäre Partei. Trotz den objektiv günstigen Voraussetzungen gelang es dem Proletariat nicht die Staatsmacht zu erobern. Angefangen von meuternden Matrosen, Arbeiterdemonstrationen, einer Ausweitung der Proteste gegen die Monarchie auf ganz Deutschland bis zur Solidarisierung der Soldaten mit den rebellierenden Massen waren alle Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution gegeben. Doch eine Kraft, die diese spontanen Proteste der Massen wirklich vorwärts treiben konnte, existierte nicht.

Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wurde erst am letzten Tag des Parteitags dem 1. Jänner 1919 gegründet, was fatale Folgen für die deutsche Revolution und auch für das russische Proletariat hatte.

Es ist auch kein Zufall, dass Leo Trotzki die Lehren des Oktobers im Jahr 1924 geschrieben hat – ein Jahr nach der desaströsen Niederlage des deutschen Proletariats in ihrem Oktober, die durch die Inkonsequenz der Führung der KPD verschuldet war.

Daraus können wir schließen, dass auch die Existenz einer revolutionären Partei alleine nicht ausreicht. In Wirklichkeit kommt es vielmehr darauf an, wie konsequent eine revolutionäre Partei ihr erarbeitetes theoretisches Arsenal auch in einer revolutionären Situation zur Anwendung bringen kann und ihr übergeordnetes Ziel – die Diktatur des Proletariats – nicht aus den Augen verliert.

Denn selbst die Bolschewiki, die vor 1917 durch die Erfahrungen der Emigration, der Revolution 1905, neuerlicher Emigration, Illegalität und dem imperialistischen Weltkrieg gestählt wurden, haben nach der Februarrevolution bis zur Aprilkonferenz eine falsche Position zur Frage der Weiterführung der Revolution gehabt.

In Wirklichkeit vertraten die Bolschewiki in einer kurzen Phase zwischen Februar und April eine Position, die sehr nahe an der kleinbürgerlichen Position der Vaterlandsverteidigung war. So schrieb die Prawda unter der damaligen redaktionellen Leitung von Kamenew und Stalin am 15. März 1917:

„Wenn eine Armee der anderen gegenübersteht, wäre die unvernünftigste Politik die, der einen Armee vorzuschlagen, die Waffen niederzulegen und nach Haus zu gehen. Eine solche Politik wäre nicht eine Politik des Friedens, sondern eine Politik der Knechtschaft, die ein freies Volk mit Entrüstung ablehnen würde. Ein freies Volk würde auf dem Posten ausharren, würde auf jede Kugel mit einer Kugel, auf jedes Geschoß mit einem Geschoß antworten. Das ist außer Frage. Wir dürfen keinerlei Desorganisation der militärischen Kräfte der Revolution zulassen (3).“

Nach jahrelanger zaristischer Knechtschaft schien die Revolution im Februar und damit der Sturz der Zarenherrschaft ein ungeheuerlicher demokratischer Fortschritt zu sein. Doch trotz ihrer demokratischen Errungenschaften war dies lediglich eine Revolution, die das Zarenregime abgelöst und die, schon in den Jahren zuvor erstarkte russische Bourgeoisie an die Herrschaft gebracht hat.

Die Vaterlandsverteidigung war deshalb nicht die Verteidigung der Demokratie an sich oder der Revolution an sich, sondern die Verteidigung der neu gewonnen politischen Herrschaft der kapitalistischen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie. Lenin, der sich zu dieser Zeit noch im Exil in der Schweiz befand, wetterte in seinen Briefen aus der Ferne gegen diese Position und stellte ihr eine konsequent proletarische Position der Klasseninteressen gegenüber. So war es der Partei durch den Einfluss Lenins möglich, ihre falsche Position auf der April-Konferenz noch zu korrigieren. Die Konferenz verabschiedete eine Resolution über die Stellung zur provisorischen Regierung, in der sie die provisorische Regierung wie folgt charakterisiert:

„1. daß die provisorische Regierung ihrem Klassencharakter nach ein Organ der Herrschaft der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie ist; 2. daß diese Regierung und die durch sie vertretenen Klassen ökonomisch und politisch untrennbar mit dem russischen und dem englisch-französischen Imperialismus verbunden sind; 3. daß diese Regierung selbst das von ihr verkündete Programm nur unvollständig und nur unter dem Druck des revolutionären Proletariats und teilweise des Kleinbürgertums verwirklicht (4)“.

Nur durch die Korrektur dieses Fehlers konnten die Bolschewiki die wahrlich historische Rolle spielen, von dessen Resultat die internationale Arbeiterbewegung auch 90 Jahre danach profitiert.

Die Dynamik der Revolution – Angriff oder Rückzug?

Die Bedeutung der revolutionären Partei zeigt sich nicht nur im Vorwärtsdrang der Revolution, sondern auch darin, in bestimmten Situationen den Rückzug zu organisieren.

Versteht man unter einer Revolution den Prozess, der ausgehend von einer Gesellschaft, in der einige wenige Kapitalisten die politische, ökonomische, militärische, etc. Macht in Händen halten, in einer Gesellschaft gipfelt, in der die Mehrheit der Gesellschaft – die Arbeiterklasse – die Macht in Händen hält, so ist es klar, dass dies ein Prozess der vollständigen Zerstörung und umfassenden Erneuerung ist. Zu glauben, dass dieses Umdrehen der Gesellschaft von ihrem Kopf auf die Füße einen geordneten, linearen Verlauf hätte, ist genauso illusorisch als würde man annehmen, dass bei jedem Schneegestöber die Flocken an der selben Stelle landen würden. In Wirklichkeit kann eine Revolution keinen linearen Verlauf haben, da die Klassengegensätze in einer revolutionären Situation am deutlichsten zum Ausdruck kommen und sich die Klassenherrschaft soweit verschiebt, dass am Ende die herrschende Klasse politisch entmachtet  ist und die Arbeiterklasse die politische Macht in der Gesellschaft inne hat.

Diese außergewöhnliche Situation ist es, die breite Schichten der Arbeiterklasse in den Bann der Revolution zieht, Teile der Kleinbourgeoisie auf die Seite der Revolution ziehen kann und andere wiederum auf die Seite der Reaktion stößt. Diese permanente Verschiebung der Kräfteverhältnisse der Klassen macht eine lineare Entwicklung einer revolutionären Situation geradezu unmöglich. Auch dies konnten wir in der Periode zwischen der Februarrevolution und der Oktoberrevolution 1917 in Russland beobachten. Die Flexibilität einer Partei, d.h. eine richtige Einschätzung, in welcher Situation man angreifen oder sich zurückziehen soll, ist eine unbedingte Voraussetzung möchte man das Proletariat in dieser Schlacht der Klassen mit den geringsten Verlusten trotzdem zum langfristigen Sieg führen.

Lenin und die Bolschewiki haben diese Flexibilität besessen. Sowohl in langfristig historischer Betrachtung der Entwicklung der Bolschewiki als auch zwischen Februar und Oktober 1917 hat die Partei keine schematischen Fehler gemacht, die von großer Bedeutung wären (auch wenn einige Bolschewiki durchaus eine Neigung hatten, alte Formeln zu wiederholen ohne sie in ihren historischen Kontext zu stellen, wie Lenin auch öfters aufgezeigt hat).

Die Bolschewiki konnten als Partei des russischen Proletariats die Massen hinter sich führen, weil ihre ganze Entwicklung sie sowohl auf der Ebene der ideologischen Auseinandersetzung als auch auf der Ebene der praktischen Erfahrung gestärkt hat und sie gelernt haben sowohl anzugreifen als auch sich zurückzuziehen. So charakterisiert Lenin in seinem Buch „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ die einzelnen Perioden in der Entwicklung der Partei. Über die Periode 1907-1910 schreibt er:

„Revolutionäre Parteien müssen stets zulernen. Sie haben gelernt, anzugreifen. Jetzt gilt es zu begreifen, daß diese Wissenschaft ergänzt werden muß durch die Wissenschaft, wie man sich richtig zurückzieht. Es gilt zu begreifen – und die revolutionäre Klasse lernt aus eigener bitterer Erfahrung begreifen -, daß man nicht siegen kann, wenn man nicht gelernt hat, richtig anzugreifen und sich richtig zurückzuziehen. Von allen geschlagenen oppositionellen und revolutionären Parteien haben sich die Bolschewiki in größter Ordnung zurückgezogen, mit geringsten Verlusten für ihre „Armee“, bei größter Erhaltung ihres Kerns, unter geringsten Spaltungen (ihrer Tiefe und Unheilbarkeit nach), geringster Demoralisation und größter Fähigkeit, die Arbeit möglichst umfassend, richtig und energisch wiederaufzunehmen (5).“

Der Kampf für eine neue Partei und Internationale

Lenin und den Bolschewiki war klar, dass eine nationale Beschränkung der Revolution ihr letztendlich den Todesstoß versetzen würde. Schon in seinen Aprilthesen argumentierte Lenin für den Aufbau einer neuen – der dritten – Internationale. Das Ausbleiben der Ausweitung der Revolution auf andere Länder war schlussendlich der Grund, warum die russische Revolution degenerierte und zu einem degenerierten Arbeiterstaat, d.h. einem Staat der zwar noch eine geplante Wirtschaft besitzt, jedoch von einer kleinen Kaste an Bürokraten kontrolliert wird, verkam.

Wir müssen für heute die Schlussfolgerung ziehen, dass alle Kämpfe unbedingt unter dem Banner des Internationalismus geführt werden müssen. Gerade im Zeitalter der Globalisierung und neoliberaler Angriffe auf einer internationalen Ebene ist es notwendig Kämpfe in verschiedenen Ländern zu koordinieren und ihnen somit eine größere Schlagkraft zu verleihen. Doch die Organisation, welche diese Aufgabe erfüllen könnte, existiert heute nicht. Um die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse zu vereinen, gilt es deshalb eine solche Organisation aufzubauen. Deshalb kämpfen wir nicht nur in einzelnen Ländern für die Schaffung von revolutionären Parteien, sondern koordinieren diese Kämpfe auf einer internationalen Ebene mit einem Ziel: Der Schaffung einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revoultion, der Fünften Internationale, die national und international für die Niederwerfung des Kapitalismus kämpft.

Die Notwendigkeit des Marxismus als revolutionäre Methode

Die Lehren der russischen Revolution können offensichlich nicht nutzbar gemacht werden ohne ein theoretisches Studium ihrer Triebkräfte, der revolutionären Strategie und Taktik. Das ist letztlich jedoch unmöglich ohne die marxistische Methode.

Der Marxismus ist hierbei nicht eine Theorie von vielen, sondern die einzig wirklich revolutionäre Theorie, welche die objektiven Interessen des Proletariats ausdrückt. Alle bürgerlichen Ideologen, die versuchen den Marxismus seines revolutionären Gehalts zu berauben, bekommen am Ende dieses Prozesses einen zutiefst verstümmelten Marxismus, der in Wirklichkeit kein Marxismus mehr ist.

Denn die Begründer des Marxismus – Karl Marx und Friedrich Engels – blieben als Revolutionäre nicht dabei die Welt zu erklären, sondern wollten sie aktiv verändern. Dies ist in allen Bereichen des Marxismus offensichtlich.

In der materialistischen Geschichtsauffassung blieben sie nicht dabei zu erklären, dass die Entwicklung der Produktivkräfte den Gang der Geschichte bestimmt, sondern zogen auch die Schlussfolgerung, dass diese Entwicklung unbedingt die Fesseln des Kapitalismus sprengen müsse. In der Philosophie blieben sie nicht dabei die Welt zu erklären, sondern begriffen die aktive Selbstveränderung der Welt durch das Proletariat als immanenten Bestandteil der Philosophie. Deshalb ist und bleibt der Marxismus die einzig revolutionäre Methode.

Denn schon Lenin erkannte:

„die Frage [kann] nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine ‚dritte‘ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie (6).“

Anders als die bürgerliche Sozialwissenschaft lehnt der Marxismus die starre, schematische Trennung von Methode und Gegenstand ab. Die Dialektik, der historische Materialismus müssen sich am konkreten Gegenstand bewehren. So unerlässlich daher Kenntnis und Studium der Methode, so wenig ersetzt es die konkrete Analyse der konkreten Situation, die Kenntnis und Analyse des Gegenstandes selbst. Der Leninismus zeigte im Gegensatz zu seinen stalinistischen „Nachfolgern“ gerade darin seine Stärke, dass er in der Lage war, sowohl an den Grundsätzen des Marxismus festzuhalten als auch mit „tradierten Formeln“ zu brechen.

„Lenin gibt eine erbarmungslose Lektion denjenigen ‚alten Bolschewisten‘, welche mehr als einmal, sagt er, ‚in der Geschichte unserer Partei die traurige Rolle gespielt haben, mechanisch sinnlose und erlernte Phrasen zu wiederholen, statt die Eigenartigkeit der neuen, lebendigen Wirklichkeit zu studieren.‘ ‚Nicht den alten Formeln, sondern der neuen Wirklichkeit muß man sich anpassen.'(7)“

Gegen diese Gefahr helfen weder Praktizismus noch Pragmatismus, sondern nur das Studium des Marxismus, der Geschichte und Kämpfe der revolutionären Arbeiterbewegung – eine zentrale Aufgabe jedes Revolutionärs, jeder Revolutionärin.

Fussnoten

(1) W.I. Lenin: Briefe aus der Ferne (Brief 2), in: LW, Bd. 23, S. 330, a.a.O

(2) Leo Trotzki: Mein Leben, S. 164 Dietz Verlag, Berlin, 1990

(3) Zitiert aus: Leo Trotzki: Die Lehren des Oktobers

(4) Resolution über die Stellung zur provisorischen Regierung, in: LW, Bd. 24, S. 140, a.a.O.

(5) W.I. Lenin: Der „linke Radikalismus,“ die Kinderkrankheit des Kommunismus, LW, Bd. 31, S. 12, a.a.O.

(6) W.I. Lenin: Was tun?, in: Lenin: Gesammelte Werke (nachstehend LW), Bd. 5, S. 395f., Dietz Verlag Berlin, 1973

(7) Leo Trotzki: Die Lehren des Oktober




100 Jahre Roter Oktober – Die Aktualität der Revolution

Tobi Hansen, Neue Internationale 223, Oktober 2017

Epochemachende Ereignisse prägen die Geschichte und das Denken ganzer Generationen. Die Oktoberrevolution war ein solches Jahrhundertereignis. Wie die Pariser Kommune als Beispiel für den Kampfeswillen des Proletariats galt, so die Oktoberrevolution für die Möglichkeit, den Kampf gegen Staat und Kapital zu gewinnen. Viele tausende Organisationen und Parteien wie auch Hunderttausende und Millionen Menschen werden sich an die Taten des russischen Proletariats, der Soldaten und BäuerInnen erinnern, die im Oktober 1917 die Grundlage für die Bildung der Sowjetunion legten.

In diesem Artikel wollen wir auch an die Geschichte erinnern. Wir verweisen an dieser Stelle für eine weit umfassendere Darstellung auf die letzte Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“, in dem wir ausführlich Programm, Methode und Lehren der bolschewistischen Politik behandeln. Erst in Bezug auf ihre Aktualität erhält das genaue Studium der Geschichte der Klassenkämpfe, der Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung ihren politischen Sinn. Ansonsten droht sie zum historischen Andenken, zur bloßen Traditionspflege zu verkommen.

Das trifft nicht nur auf „wohlwollende“ bürgerliche Geschichtsbetrachtung zu, die den revolutionären Kern des Oktober als „Ausrutscher“ der Vergangenheit entsorgen will. Es trifft auch auf „VerteidigerInnen“ wie „KritikerInnen“ des Bolschewismus zu, die wie die StalinistInnen Lenin zum Vorläufer Stalins umdichten wollen oder, wie ultralinke Strömungen, die spätere Bürokratisierung der Revolution als unvermeidliche, wenn auch nicht unbedingt gewollte Folge der Politik von Trotzki und Lenin interpretieren.

1917-2017

Wenn wir uns die sonst übliche antikommunistische, antirevolutionäre Hetze vergegenwärtigen, ist bislang zumindest in Deutschland diesbezüglich nicht viel geschehen. Etwas Beileid mit den Romanows im Frühjahr auf den Kanälen, ansonsten relativ wenig bürgerliche Hetze gegen die Oktoberrevolution.

Das mag vor allem daran liegen, dass das System der bürgerlichen Klasse derzeit kein „Erfolgsmodell“ darstellt. Man könnte sagen, dass die objektiven Umstände, welche die Russische Revolution begünstigten, im großen Stil wieder Realität werden.

Erst neulich trat die Nr.1 der „freien“ Welt, der US-Präsident, vor die diplomatische Plauderrunde der UN, um in dort eher ungewohnter Wortwahl (vor diesem Gremium, nicht beim Präsidenten) dem „Schurkenstaat“ Nordkorea mit „vollständiger Zerstörung“ zu drohen, was auch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit einschließe.

Dies ist nur ein Beispiel für die aktuelle Phase des Imperialismus, in der sich die Fratze der Reaktion, des Rassismus, Nationalismus und des Faschismus wieder auf der Bühne der „Weltpolitik“ zeigen darf. Nach 1990 versprachen die westlichen Mächte Wohlstand, Frieden, Demokratie für alle, die sich unterwerfen bzw. denen sie im Zuge der kapitalistischen Restauration gerade die Segnungen der Marktwirtschaft verkündeten. Dazu waren auch die gewendeten BürokratInnen der UdSSR und Chinas bereit, nur folgte keine soziale Sicherheit, sondern „nur“ das globale Diktat des Imperialismus.

Unter dem Schlagwort „Globalisierung“ setzte er sein System weltweit durch, eine neue Ära der Konkurrenz, der Monopolisierung und der Marktdurchdringung wurde zur Realität. Mit der Krise 2007/2008 zeigte das kapitalistische System, was von seinen Versprechen nach 1990 übrig blieb – nämlich nichts. Die Verluste der Börsen, Banken und SpekulantInnen wurden als neue Staatsschulden „sozialisiert“, Billionen von Euro und US-Dollar in die Finanzmärkte gepumpt, und die Sparmaßnahmen kürzten die Löhne, Renten und Sozialleistungen weltweit. Nicht Frieden, Demokratie und Wohlstand, wie vorm Irakkrieg versprochen, waren angesagt, sondern Krieg, Elend und Verzweiflung. Der Arabische Frühling war eine Rebellion der Volksmassen gegen die Marionetten des Imperialismus. Die Niederlage dieser Bewegungen läutete eine globale Phase der Reaktion ein. Der Aufstieg des „Islamischen Staats“, die Konterrevolution in Ägypten, die Bürgerkriege in Syrien, Libyen und dem Jemen beendeten diesen „Frühling“ in den nordafrikanischen und arabischen Halbkolonien.

Die politische Reaktion zeigt sich im globalen Rechtsruck, auch in der EU. Nach Jahren der Schuldenkrise, der Spardiktate sind es jetzt die RassistInnen und NationalistInnen, welche sich als SystemgegnerInnen profilieren wollen, vor allem gegen die Geflüchteten, die MuslimInnen und sozialen Minderheiten.

Das imperialistische System ist in der Krise, in einer zugespitzten Konkurrenz miteinander. Die USA als Weltmacht Nr. 1 werden von China und der EU auf den globalen Märkten herausgefordert. Hier geht es um Profite, um Marktanteile, um Übernahmen – ein neuer Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist entbrannt!

Diese globale Lage steuert auf die Verhältnisse ähnlich jenen vor 1917 objektiv zu. Nicht nur die ökonomischen Angriffe und die Konkurrenz werden schärfer, auch die Kriegsgefahr steigt. Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht (sonst wäre sie auch keine). Aber die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden Widersprüche drängen heute, ebenso wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, mit Macht an die Oberfläche, drohen, sich in eruptiven Krisen und Kriegen zu entladen. Damit aber entwickeln sich, wenn auch auf dem Boden neuer Technik, veränderter Klassenzusammensetzung, neuer Erscheinungsformen des Systems jene Widersprüche, die auch zur Oktoberrevolution und zur internationalen Krisenperiode nach 1917 geführt haben. In diesem Sinne hat die Machtergreifung der ArbeiterInnen und BäuerInnen, haben der Sturz von Zarismus und Kapitalismus sowie die Errichtung der Räteherrschaft bis heute ihre Aktualität behalten.

Umrüstung von Partei und Programm

Eine der wichtigen Lehren aus der Russischen Revolution betrifft die zentrale Rolle und den Charakter der kommunistischen Partei. Bekannt sind die Parteien stalinistischen Musters, ohne innere Demokratie, mit einem abstrakten Personenkult, welcher dann meist je nach Bürokrat auch wechseln kann. Im Vergleich zu dem, was die Bolschewiki in der Russischen Revolution taten und verkörperten, handelt es sich hier um komplett verschiedene Organisationen, abschreckende Beispiele.

Die Bolschewiki wuchsen im Jahr 1917 zu einer Massenpartei an. Von wenigen Tausend, die in der Illegalität des Krieges die Partei und Organisationsarbeit aufrechterhielten, wurden sie innerhalb weniger Monate zu einer Partei von Hunderttausenden. Gleichzeitig veränderte die Partei ihr Programm in grundlegenden Fragen, ihre Methode und Taktik im Angesicht der Februarrevolution und der Aufgaben, die auf sie zukamen.

In dem Artikel „Bruch und Wandel des Bolschewismus“ haben wir die Entwicklung der Bolschewiki von einer Partei, die zu Anfang 1917 in vielen Punkten immer noch die Methoden und Taktiken der Zweiten Internationale verinnerlicht hatte, zur Partei des Oktober nachgezeichnet.

Bekanntlich ging die große Mehrzahl der Bolschewiki vor 1917 davon aus, dass die russische Revolution ihrem Wesen nach eine bürgerliche Revolution sein müsse, dass sie nicht zur Diktatur des Proletariats, sondern zur „demokratischen Diktatur“ der ArbeiterInnen und BäuerInnen führen müsse. Dies im besten Fall widersprüchliche Formel erwies sich angesichts der realen Entwicklung der Revolution, der objektiv gestellten Aufgaben als unhaltbar. Sie musste entweder nach rechts, d. h. hin zu eine Anpassung an die bürgerliche Klasse, „gelöst“ werden, also zu einem strategischen Block mit Menschewiki oder Sozialrevolutionären – oder nach links, zur Übernahme der Konzeption der „permanenten Revolution“.

Die „Aprilthesen“ Lenins vollzogen diesen Schritt nach links. Als er sie nach seiner Rückkehr nach Russland präsentierte, waren sie auch unter der Mehrheit der Partei kein umjubeltes Dokument, sondern wurden scharf vom rechten Flügel, von führenden Genossen wie Kamenew, Sinowjew und Stalin kritisiert. Lenin musste Vorwürfe des „Blanquismus“ über sich ergehen lassen.

Lenins Politik war schließlich ein direkter Bruch mit der bisherigen Konzeption der Bolschewiki. Die „Aprilthesen“ stellten die Lösung der Doppelmacht zwischen Provisorischer Regierung und den Sowjets in den Mittelpunkt – und somit auch die Machtfrage zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Weil das Bürgertum seine historisch fortschrittliche, revolutionäre Rolle bereits ausgespielt habe, sei die kommunistische Partei verpflichtet, ein Programm für die proletarische Revolution, gestützt auf die Bauernschaft, zu entwerfen.

Diese Strategie war maßgeblich von der Beschäftigung mit der Analyse der imperialistischen Epoche geprägt, wie sie Lenin unter anderem in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ darlegt, und von der Vorstellung, dass der Erste Weltkrieg die internationale proletarische Revolution auf die Tagesordnung stellt. Hier konvergierte Lenins Theorie mit der Trotzkis von der permanenten Revolution. Beide vollziehen einen grundlegenden Bruch mit den alten Vorstellungen der Zweiten Internationale, deren geschichtliche Erben Sozialdemokratie und Stalinismus werden sollten.

Dieser Wechsel mit allen seinen Implikationen wie alle großen politischen Wendungen des Bolschewismus im Jahr 1917 wurden sehr aktiv in der Partei diskutiert. Bei den ArbeiterInnen in den Bezirksorganisationen, den VertreterInnen der Bolschewiki in den Räten, bei den Soldaten standen die Debatten um Programm und Taktik im Mittelpunkt.

Charakter der Partei

Vielfach wird das Bild der einigen, der einheitlichen Partei gezeichnet, welche, erleuchtet von Lenin, geschlossen marschierte. Auch wenn die Bolschewiki sicher viel einheitlicher waren als andere Parteien, so musste diese Geschlossenheit immer wieder im inneren Streit, in der offenen Auseinandersetzung um die politische Linie errungen werden.

„Die Vorstellung, dass Lenin ein ‚chemisch’ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des ‚Leninismus’ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.

Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden.

Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.“ (Bruch und Wandel des Bolschewismus, RM 49, Seite 32)

Eine solche Partei war in der Lage, von einer kleinen Minderheit zur Führerin der Klasse zu werden, diese für ihr Programm zu gewinnen und ihr Handeln zu bündeln.

„Das Programm der Partei muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes, eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handeln an.“ (Ebenda, S. 75)

Diese Tradition der Bolschewiki, als aktive Kampfpartei, nach außen wie nach innen, zu handeln, muss für uns heute die Hauptlehre aus der Russischen Revolution sein. Das ist das Vermächtnis, das zukünftigen kommunistischen Massenparteien Vorbild sein soll.

Programmatisches Erbe

Wir stehen heute am Beginn einer weltgeschichtlichen Periode, die in vielem der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleicht. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, hinterlässt die Politik des Bolschewismus ein theoretisch-programmatisches Erbe, das auch heute noch, ja wieder aktuell ist und an das es anzuknüpfen gilt.

  1. Der internationale Charakter der Revolution

Der Kapitalismus ist schon immer ein internationales gesellschaftliches System gewesen. Seine inneren Krisen treiben notwendigerweise zu revolutionären Zuspitzungen – und zwar im globalen Maßstab. Kommunistische Politik darf daher den internationalen Klassenkampf nicht als Summe nationaler Kämpfe begreifen, sondern muss umgekehrt von den Gesamtinteressen der Klasse weltweit ausgehen. Der Sozialismus in einem Land hat sich im Stalinismus als das erwiesen, was er seinem Begriff nach schon immer war – eine reaktionäre Utopie.

  1. Anti-Imperialismus

Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt droht der Menschheit mit neuen Handelskriegen, Zuspitzungen bis hin zum großen Krieg. Die ArbeiterInnenklasse darf in diesem reaktionären Ringen keine Gruppe imperialistischer Staaten und Mächte unterstützen, sondern muss sich im Konflikt der Methode des „revolutionären Defaitismus“ bedienen und des Klassenkampfes gegen die „eigene“ Bourgeoisie . Liebknechts Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ hat nichts an Aktualität verloren.

Antiimperialismus bedeutet nicht nur Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie, er bedeutet auch die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe unterdrückter Nationen, von Aufständen und Klassenkämpfen gegen die ImperialistInnen und die „nationale“ Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern.

  1. Permanente Revolution

Der niedergeschlagene „Arabische Frühling“ war ein weiterer Beweis dafür, dass demokratische Forderungen im Zeitalter des Imperialismus nicht allein durch eine „demokratische Revolution“ errungen werden können. Die Abhängigkeit des Bürgertums in den Halbkolonien von den imperialistischen Bourgeoisien ist heute genauso gegeben wie die Abhängigkeit der russischen Bourgeoisie vom Großgrundbesitz und dem französischen und britischen Finanzkapital. Daher braucht das Proletariat eine unabhängige Klassenpolitik. Nur diese kann die Basis für ein Bündnis mit den ausgebeuteten Schichten von Stadt und Land, speziell den unteren Schichten der Bauernschaft in den Halbkolonien sein. Dies bedeutet auch, dass Proletariat, Bauernschaft und die städtische Armut nicht auf die Illusionen in eine „westliche“ Demokratie setzen dürfen, sondern stets deren Abhängigkeit vom Imperialismus berücksichtigen und für die proletarische Demokratie, die Rätedemokratie kämpfen.

  1. Verteidigung demokratischer Rechte

Gerade angesichts der reaktionären Züge unserer Zeit gewinnen die Verteidigung demokratischer Rechte und das Einstehen für demokratische Forderungen eine wichtige Bedeutung. Wir stehen an der Seite derjenigen, welche die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit auf gewerkschaftlicher und Parteiebene gegen staatliche Eingriffe und Repressionen verteidigen. Dabei ist uns aber auch klar, dass dieser Kampf nicht abstrakt für die parlamentarische Demokratie geführt werden kann, sondern auf eine proletarische Demokratie, eine Rätedemokratie abzielen muss.

  1. Soziale Unterdrückung

Die kapitalistische Ausbeutung stützt sich zusätzlich auf mannigfaltige Unterdrückung verschiedener Teile der Bevölkerung und insbesondere unter den ProletarierInnen. Rassismus, Sexismus, Homophobie werden benutzt, um die Spaltung der Klasse zu vertiefen und chauvinistische Vorurteile und rückständiges Bewusstsein zu stärken. Deswegen treten wir für besondere Rechte der unterdrückten Teile der ArbeiterInnenklasse ein, wollen die Selbstorganisierung von Frauen, von MigrantInnen, der Jugend und von sexuell Unterdrückten stärken. So können diese ihren Kampf als Teil des Proletariats führen, wie wir auch in der Klasse gegen Vorurteile und rückständiges Bewusstsein kämpfen. Der Kampf wie der gegen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte aller MigrantInnen und Flüchtlinge ist integraler Bestandteil des Klassenkampfes.

  1. Taktik der Einheitsfront

RevolutionärInnen suchen die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen das Kapital, die Regierung, den bürgerlichen Staat. Diese Forderung richten sie – wie die Bolschewiki 1917 – an die ArbeiterInnenparteien und Massenorganisationen, deren Basis wie deren Führungen. Der gemeinsame Kampf für klar definierte Ziele darf dabei nie auf Kosten der Freiheit der Propaganda und Kritik an den zeitweiligen reformistischen, gewerkschaftlichen oder kleinbürgerlichen BündnispartnerInnen gehen. Eine revolutionäre Anwendung der Einheitsfronttaktik verfolgt nämlich immer zwei Ziele gleichzeitig – größtmögliche Einheit in der Aktion und die Ablösung der ArbeiterInnen und Unterdrückten von reformistischen, zentristischen oder kleinbürgerlichen Führungen.

  1. Zerschlagung des bürgerlichen Staats – Kampf um die Rätemacht

Ein entscheidendes Merkmal der erfolgreichen Russischen Revolution waren die Sowjets, die Räte, welche den gesammelten Willen des Proletariats, der Bauernschaft und der Soldaten 1917 repräsentierten und daher die wichtigste Stütze der Revolution verkörperten. Diese können nur in revolutionären und vorrevolutionären Situationen entstehen. So wichtig die Räte dabei als elementare Form der Selbstorganisation der Klasse sind, so können sie ihr Potential als Kampforgane und Kern einer zukünftigen proletarischen Staatsmacht nur verwirklichen, wenn sie von einer revolutionären Partei geführt werden. Alle Theorien, die die Räte der Partei entgegenstellen, müssen daher strikt zurückgewiesen werden. Nur durch eine revolutionäre Führung kann die Klasse, gestützt auf Räte, auf Milizen – den bewaffneten Teil der ArbeiterInnenklasse – und in Räten organisierte Soldaten die Macht erobern, eine Doppelmachtsituation aufheben, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen.

  1. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

Diese bekannte Losung aus dem Kommunistischen Manifest hat an Strahlkraft nichts von ihrer Bedeutung verloren, im Gegenteil. Ein revolutionärer Kampf, eine Befreiung der Menschheit vom Kapitalismus, die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kann nur auf internationaler Basis stattfinden – oder eben nicht. Dies war die Erkenntnis von Marx und Engels, von Lenin und Trotzki bis zu ihrem Tod. Die Entfremdung dessen, ja sogar völlige Verzerrung durch die Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ hat nicht nur die Degeneration und schließlich das Ende des ArbeiterInnenstaates eingeläutet, es hatte auch verheerende Folgen für den internationalen Klassenkampf und die politischen Organisationen. Letztlich führte dies zur Abschaffung der Komintern, welche zuvor den nationalen Bedürfnissen der Sowjetbürokratie untergeordnet wurde.

Deswegen ist der Aufbau einer Weltpartei der sozialistischen Revolution, einer 5. Internationale heute die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Nur ein internationales Programm gegen den Imperialismus, welches die aktuellen Kämpfe weltweit via der Übergangsmethode mit dem Kampf gegen die herrschende Ordnung verbindet, kann diesen auch herausfordern und stürzen.

  1. Für die revolutionäre Partei!

Wir treten ein für das methodische und taktische Rüstzeug der linken Opposition in der Sowjetunion, für die Theorie und Praxis der Bolschewiki-LeninistInnen. Mit ihrer Methode und ihren Analysen haben sie die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus betrieben und real die „Lehren des Oktober“ gezogen. An diesen Fundus knüpfen wir mit unserer Programmatik, unserer Strategie und Taktik an und wollen diese in den Aufbau einer neuen kommunistischen Partei und Internationale einbringen, da nur auf dieser Grundlage eine lebendige kämpferische Organisation aufgebaut werden kann. Zu den Werkzeugen des Marxismus, des Leninismus wollen wir eine Herangehensweise entwickeln, die im folgenden Zitat gut wiedergegeben ist:

Und wenn irgendetwas tödlich für das geistige Leben der Partei und die theoretische Erziehung der Jugend sein kann, dann dies, nämlich den Leninismus aus einer Methode, zu deren Anwendung Initiative, kritisches Denken und ideologischer Mut notwendig sind, in einen Kanon zu verwandeln, der nur Interpreten braucht, die ein für alle Mal ernannt wurden.“

(Trotzki, Der Neue Kurs, in: Wolter, Ulf [Hrsg.]: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928“, Band I, 1923-1924, Berlin/West [Olle & Wolter], 1976, S. 390)




Stalinismus: legitimer Erbe des Bolschewismus?

Die Politik der Bolschewiki und die Diktatur ihrer Partei im Bürgerkrieg

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

Bei der Untersuchung der Fragestellung, inwieweit die Politik der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) [KPR (B)] zur Entstehung des Stalinismus beigetragen hat, befassen wir uns im folgenden Artikel mit Ereignissen nach der Machtergreifung bis zum Frühjahr und dem Ende des Bürgerkrieges 1920. In einer geplanten Fortsetzung wollen wir uns weiter auseinandersetzen mit der Politik der Bolschewiki gegenüber dem Kronstädter Aufstand unmittelbar vor Einführung der „Neuen Ökonomischen Politik“, ihren Vorstellungen zum Aufbau der Wirtschaft und der Arbeitsorganisation in den Betrieben sowie ausloten, bis zu welchem Grad die Partei mit grundlegenden Konzeptionen der II. Internationale gebrochen hatte. Ferner soll der Unterschied zur herrschenden Politik unter Stalin herausgearbeitet werden.

Zuerst wollen wir uns dem Thema zuwenden, welches Verständnis von Geschichte für eine solche Analyse Vorbedingung ist. Dieses zeichnen wir am Beispiel der Trotzki’schen Schrift „Bolschewismus und Stalinismus“ nach.

Der methodische Ausgangspunkt

Am 28. August 1937 verfasste Leo Trotzki die Polemik „Bolschewismus und Stalinismus“. (1) Reaktionäre Perioden wie die damalige (Niederlagen in Deutschland und Österreich, Moskauer Prozesse…) führen RevolutionärInnen dazu, die Erfahrungen aus Niederlagen und Rückschlägen zu verarbeiten, bei gleichzeitigem Festhalten an der revolutionären Doktrin. Andererseits begeben sich auch viele Linke unter dem deprimierenden Eindruck der Ereignisse auf die Suche nach „Neuem“. Manche geben zugleich den Glauben an Marxismus und Revolution gänzlich auf. So auch der von Trotzki kritisierte ehemalige Kommunist Willy Schlamm (später als William S. Schlamm konservativ-bürgerlicher Journalist):

„Aber da die Oktoberrevolution im gegenwärtigen Stadium zum Triumph der Bürokratie geführt hat,(…)so sind viele formale und oberflächliche Geister zu der summarischen Schlussfolgerung geneigt: Man kann nicht den Stalinismus bekämpfen, ohne auf den Bolschewismus zu verzichten(…)Der zum Stalinismus entartete Bolschewismus ist selbst aus dem Marxismus entstanden – man kann folglich nicht den Stalinismus bekämpfen und dabei auf den Grundlagen des Marxismus bleiben. Die weniger Konsequenten, aber Zahlreicheren sagen hingegen: ‚Man muß vom Bolschewismus zum Marxismus zurückkehren.’“ (2)

Trotzki fragte darauf rhetorisch: Zu welchem Marxismus? Dem von Marx und Engels? Aber den haben die Bolschewiki gründlich studiert, ohne dass dies die Entartung des Sowjetstaates verhindert hätte.

Wir befassen uns im folgenden Beitrag mit den zahlreicheren „weniger Konsequenten“ aus dem Artikel von Schlamm und folgen zunächst Trotzkis Ausführungen bei der Frage:

Ist der Bolschewismus für den Stalinismus verantwortlich?

Einig sei sich die gesamte Reaktion mit Stalins Behauptung und der der Menschewiki, AnarchistInnen und mancher Ultralinken, derzufolge der Stalinismus gesetzmäßige Frucht des Bolschewismus sei. Trotzki weist darauf hin, dass mit dieser Annahme eine stillschweigende Gleichsetzung von Bolschewismus, Oktoberrevolution und Sowjetunion unter der Hand vorgenommen werde. Der Bolschewismus sei lediglich eine eng mit der ArbeiterInnenklasse verknüpfte politische Strömung und noch nicht einmal mit dieser identisch. Zudem:

„Der von den Bolschewiki errichtete Staat spiegelt nicht nur das Denken und Wollen der Bolschewiki wider, sondern auch das Kulturniveau des Landes, die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, den Druck der barbarischen Vergangenheit und des nicht weniger barbarischen Weltimperialismus. Den Entartungsprozess des Sowjetstaats als eine Evolution des reinen Bolschewismus darstellen, heißt, die soziale Wirklichkeit ignorieren namens eines einzigen durch die reine Logik von ihr abgesonderten Elements(…)Der Bolschewismus betrachte sich als einen Faktor der Geschichte, ihren ‚bewussten‘ Faktor – einen sehr bedeutenden, aber nicht entscheidenden – ‚historischen Subjektivismus‘ haben wir uns nie schuldig gemacht. Den entscheidenden Faktor auf dem gegebenen Fundament der Produktivkräfte sahen wir im Klassenkampf, dabei nicht bloß im nationalen, sondern im internationalen Maßstab(…)Mit der Herrschaft über den Staat besitzt die Partei allerdings die Möglichkeit, mit einer ihr bis dahin nicht zugänglichen Kraft auf die Entwicklung der Gesellschaft einzuwirken, dafür aber unterliegt sie auch selbst einer verzehnfachten Einwirkung von Seiten aller übrigen Elemente dieser Gesellschaft. Durch die direkten Schläge der feindlichen Kräfte kann sie von der Macht hinweggefegt werden. Bei langwierigen Entwicklungstempi kann sie, sich an der Macht haltend, innerlich entarten(…)Im Grunde sagen diese Herren: Schlecht ist die revolutionäre Partei, die nicht in sich die Garantie gegen ihre eigene Entartung enthält(…)Einen Talisman hat er [der Bolschewismus; d. Red,] nicht. Doch dieses Kriterium ist eben falsch. Das wissenschaftliche Denken verlangt eine konkrete Analyse: Wie und warum zersetzte sich die Partei?(…)Natürlich ist der Stalinismus aus dem Bolschewismus ‚erwachsen‘, aber nicht logisch erwachsen, sondern dialektisch: nicht als revolutionäre Bejahung, sondern als thermidorianische Verneinung.“ (3)

Die Bolschewiki waren der entscheidende Faktor, dass inmitten einer besonderen Kräftegruppierung im nationalen wie internationalen Rahmen das Proletariat zuerst im rückständigen Russland an die Macht gelangen konnte. Genau diese Kräftegruppierung ließ aber im Voraus und beizeiten die Bolschewki erkennen, dass ein ArbeiterInnenstaat in Russland ohne einen baldigen Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern nicht standhalten, zuerst entarten und dann zerfallen werde. Lenin war dies bereits 1922 klar: Die Partei ist nicht der einzige und in großen geschichtlichen Maßstäben nicht der entscheidende Faktor. Geschichte werde von den Massen geprägt. Diese seien des langen Wartens auf die Weltrevolution, der Entbehrungen müde geworden, hätte den Mut verloren. Die Bürokratie habe die Oberhand bekommen, die proletarische Vorhut eingeschüchtert, die bolschewistische Partei usurpiert und den Marxismus verballhornt. Da alle anderen Parteien ausgeschaltet waren, mussten die entgegengesetzten Interessen verschiedener Bevölkerungsschichten sich in der herrschenden Staatspartei artikulieren. Diese erlitt im Laufe von anderthalb Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution eine sehr viel gründlichere Entartung als die Sozialdemokratie in einem halben Jahrhundert. Bolschewismus und Stalinismus waren in den 1930er Jahren sogar physisch unvereinbar: die gesamte alte Generation der BolschewistInnen, ein großer Teil der mittleren, die bereits am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, und die fortgeschrittensten Elemente unter der Jugend wurden mittels der Schauprozesse ausgerottet.

Staatssozialismus?

Für die AnarchistInnen liegt die Wurzel des Stalinismus nicht nur im Bolschewismus und Marxismus, sondern im „Staatssozialismus“. Bakunin wollte den Staat mit einem Streich durch die patriarchalische „Föderation der freien Gemeinden“ ersetzen. Die moderne Version lautet „Föderation der freien Räte“ oder so ähnlich. Trotzki räumt ein, dass der Staat als Zwangsapparat eine Quelle politischer und moralischer Verkommenheit darstelle, also auch der ArbeiterInnenstaat. Folglich sei auch der Stalinismus Produkt eines Gesellschaftszustandes, der die Zwangsjacke Staat noch nicht abgestreift habe. Doch diese Erkenntnis beziehe sich nur auf den allgemeinen Zustand der Menschheit, v. a. auf das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat, trage aber zur Beurteilung von Marxismus und Bolschewismus nichts bei. Mit den AnarchistInnen wähnt er sich einig, dass die wahre menschliche Geschichte mit der Abschaffung des Staats beginnen werde. Doch wie dahinkommen? Wie die Beteiligung der Anarchisten an der spanischen Volksfrontregierung bewiesen habe, sei die anarchistische Doktrin dazu völlig außerstande.

„Die Marxisten sind sich mit den Anarchisten bezüglich des Endzieles, der Liquidierung des Staates, vollkommen einig. Der Marxismus bleibt ‚staatlich‘ nur, soweit die Liquidierung des Staates nicht vermittels der einfachen Ignorierung des Staates erreicht werden kann. Die Erfahrung des Stalinismus widerlegt nicht die Lehre des Marxismus, sondern bestätigt sie auf umgekehrte Weise. Die revolutionäre Doktrin, die das Proletariat lehrt, sich in einer Lage richtig zu orientieren und sie aktiv auszunutzen, enthält selbstverständlich keine automatische Siegesgarantie. Doch dafür ist der Sieg nur mit Hilfe dieser Doktrin möglich. Diesen Sieg darf man sich außerdem nicht als einmaligen Akt vorstellen(…)Aber wenn es nicht leicht ist, die Wirklichkeit des lebendigen historischen Prozesses zu verstehen, so ist es dagegen nicht schwer, den Wechsel seiner Wellen rationalistisch zu deuten, logisch den Stalinismus aus dem ‚Staatssozialismus‘, den Faschismus aus dem Marxismus, die Reaktion aus der Revolution, mit einem Wort, die Antithese aus der These herzuleiten. Auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, ist das anarchistische Denken der Gefangene des liberalen Rationalismus. Das echte revolutionäre Denken ist unmöglich ohne Dialektik.“ (4)

Die politischen Sündenfälle des Bolschewismus als Quelle des Stalinismus?

Für Ultralinke wie Gorter, Pannekoek und Souvarine u. a. ist klar: Lenin ersetzte die Diktatur des Proletariats durch die der Partei, Stalin die der Partei durch die ihrer Bürokratie. Sie sind ausschließlich mit der Suche nach den dem Bolschewismus innewohnenden Fehlern beschäftigt, die realen Bedingungen des historischen Prozesses interessieren sie nicht. Stalins Anbiederung an bürgerliche Demokratie und britische Gewerkschaftsbürokratie leiten sie aus der bolschewistischen Praxis ab, sich an den alten Gewerkschaften und am bürgerlichen Parlament zu beteiligen. Trotzki fragt dagegen, wie denn die ArbeiterInnenklasse anders an die Macht gelangen solle als in Person ihrer Avantgarde:

„In diesem Sinne sind die proletarische Revolution und die Diktatur Sache der gesamten Klasse, aber nicht anders als unter der Führung der Avantgarde. Die Sowjets sind nur die organisierte Form der Verbindung zwischen Avantgarde und Klasse. Dieser Form einen revolutionären Inhalt geben kann nur die Partei.“ (5)

Nach Meinung Trotzkis entsprang das Verbot der anderen Sowjetparteien nicht der Theorie des Bolschewismus, sondern war eine als vorübergehend gedachte Maßnahme zum Schutze der Diktatur in einem rückständigen, erschöpften, von Feinden umzingelten Land. Diese Situation habe es auch verunmöglicht, den AnarchistInnen gewisse Gebietsteile zu überlassen, wo sie im Einverständnis mit der dortigen Bevölkerung ihre Experimente an Staatenlosigkeit in der Praxis hätten erproben dürfen. Die Unterdrückung von Kronstadt 1921 und der Machno-Bewegung in der Ukraine rechtfertigt er ebenfalls mit dem Argument der Verteidigung der Diktatur unter Bedingungen der Blockade, Belagerung und des Hungers. So habe die revolutionäre Regierung den aufständischen Matrosen der Ostseeflotte nicht eine die Hauptstadt abriegelnde Festung schenken können, nur weil sich dem Aufstand einige fragwürdige AnarchistInnen angeschlossen hätten.

„Unbestreitbar ist auch, dass die aus der Revolution erwachsene Bürokratie darin ein Zwangssystem in ihren Händen monopolisierte(…)Ganz ebenso verschließt das liberal-anarchistische Denken die Augen davor, dass die bolschewistische Revolution mit all ihren Unterdrückungsmaßnahmen eine Umwälzung der Sowjetgesellschaft im Interesse der Massen bedeutete, während Stalins thermidorianische Umwälzung der Sowjetgesellschaft im Interesse einer privilegierten Minderheit geschieht.“ (6)

Das vielleicht vernichtendste Urteil über die Stalinbürokratie fällt Trotzki auf dem Gebiet der Theorie. Die Stalin’sche Revision des Marxismus stehe der Bernstein’schen in nichts nach. Während dieser aber redlich versucht habe, die reformistische Praxis der Sozialdemokratie mit ihrem Programm unter einen Hut zu bringen, habe die Stalinbürokratie nicht nur nichts mit dem Marxismus gemein, sondern ihr sei überhaupt jede Doktrin, jedes System fremd. Ihre „Ideologie“ sei von Polizeisubjektivismus durchdrungen, die Usurpatorenkaste sei gemäß dem eigentlichen Wesen ihrer Interessen Feind der Theorie.

Trotzkis Methode der Geschichtsschreibung

Der Text ist von der dialektischen Methode des historischen Materialismus geprägt. Vor allem setzt er den subjektiven Faktor, das revolutionäre Klassenbewusstsein, Partei und deren Programm wie Handeln auf den ihr in der Geschichte gebührenden Platz. Dieses Moment sei in der Sozialdemokratie der II. Internationale völlig unterentwickelt gewesen. Revolution erschien ihr als objektives Moment eines automatischen Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems. Die Entwicklung nach der Oktoberrevolution konnte von daher nur so interpretiert werden, dass die Produktivkräfte Russlands für den Sprung zum Sozialismus nicht ausgereicht hätten, das Land eben für die ArbeiterInnenrevolution noch nicht reif sei.

Einerseits wird hier der Gradmesser der „Reife“ eines Systems national abgeleitet und nicht aus der Tatsache, dass der Weltmarkt auf Grundlage der großen Industrie, (nicht des Handelskapitals) weltumspannend hergestellt war. Dies war die historische Tat des höchsten Stadiums des Kapitalismus, des Imperialismus. Andererseits spielten in der Beurteilung der „Reife“ Organisationsgrad und Entwicklung des Klassenbewusstseins überhaupt keine Rolle. Mit Verweis auf Engels, der das Weitertreiben der Revolution von 1848 zur permanenten Revolution Jahre später für objektiv unmöglich erklärt hatte, suchte sie ihr Abwarten auf bessere Zeiten und entwickeltere Produktivkräfte zu rechtfertigen. Dabei hatte bereits Engels nicht allein auf den Fortschritt der Produktivkräfte nach 1848 unterm Kapitalismus verwiesen, sondern eben auch auf die wachsende Zahl und Organisation der LohnarbeiterInnenschaft. Zudem gibt es von ihm und Marx kein Wort der Kritik am Programm der Revolution in Permanenz des „Bundes der Kommunisten“, dem beide zur damaligen Zeit angehörten. Gleichfalls setzten sich beide enthusiastisch für die Pariser Kommune ein, obwohl ihnen bewusst war, dass in Frankreich zur damaligen Zeit das Proletariat nur in Paris die Mehrheit der Bevölkerung stellte. Das Scheitern der Kommune führten sie eben nicht hauptsächlich auf diesen objektiven Umstand zurück, sondern kritisierten deren Fehler, beschäftigten sich also mit der Entwicklung revolutionären Klassenbewusstseins, indem sie Kritik am damaligen Stand des Klassenbewusstseins übten.

Rosa Luxemburg schrieb in diesem Sinne bereits Anfang des letzten Jahrhunderts eine im Grunde vorweggenommene Antwort auf die Frage, ob die Oktoberrevolution „zu früh“ gekommen sei:

„Die sozialistische Umwälzung setzt einen langen und hartnäckigen Kampf voraus, wobei das Proletariat allem Anscheine nach mehr als einmal zurückgeworfen wird, so dass es das erste Mal, vom Standpunkte des Endresultats des ganzen Kampfs gesprochen, notwendig ‚zu früh‘ ans Ruder gekommen sein wird(…)So stellen sich denn jene ‚verfrühten‘ Angriffe des Proletariats auf die politische Staatsgewalt selbst als wichtige geschichtliche Momente heraus, die auch den Zeitpunkt des endgültigen Sieges mitherbeiführen und mitbestimmen. Von diesem Standpunkte erscheint die Vorstellung einer ‚verfrühten‘ Eroberung der Macht durch das arbeitende Volk als ein politischer Widersinn, der von einer mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht und einen außerhalb und unabhängig vom Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfes voraussetzt.“ (7)

Luxemburgs Kritik am mechanischen Geschichtsverständnis der klassischen Sozialdemokratie trifft ins Mark. Die II. Internationale hatte den marxistischen Satz „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“ einseitig objektivistisch interpretiert in dem Sinn, dass das gesellschaftliche Sein ein unbewusstes, objektives, mechanisches sei. Schon im gesellschaftlichen Sein ist aber konstitutiv die Rolle der Arbeit, die natürlich ein subjektives praktisches Moment enthält: den arbeitenden Menschen!

Was dieser Satz aussagen will, ist vielmehr Folgendes: Das Bewusstsein ist Resultat der Arbeit, der Griff der Hand nach dem Arbeitsinstrument stiftet den Begriff, Denken, Sprache, ja Gesellschaft überhaupt, ermöglichen erst dem lebendigen gesellschaftlichen Individuum, sich zur Natur als Objekt zu verhalten. Aber die Vergesellschaftung durch Arbeit läuft über weite Strecken der Geschichte bis zum Kommunismus unbewusst, die Verhältnisse gestalten sich hinter dem Rücken der ProduzentInnen. Die Gedanken können nicht höher stehen als der Stand der Gesellschaft. Kategorien wie Wert, abstrakte Arbeit oder das freie Individuum sind erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus denkbar (Realabstraktionen). Eine Gesellschaft kann nur mit einer neuen schwanger gehen, wenn sich deren Konturen im Leib der alten abzeichnen. Die Existenz des Proletariats ist so Voraussetzung für den wissenschaftlichen Sozialismus.

Um aber die Staatsmacht zu erobern, erst recht den Sozialismus zu erreichen, muss das Bewusstsein der Massen von dieser Idee durchdrungen sein. Zugleich muss diese die Form eines Programms, entsprechender Praxis und Organisation annehmen, um geschichtsträchtig wirken zu können. Alles muss eben auch durch den menschlichen Kopf gehen, Geschichte ist keine subjektlose Maschine: Die Menschen machen ihre Geschichte selber, wenn auch unter vorgefundenen Verhältnissen! Insbesondere für die LohnarbeiterInnenklasse sind ihr revolutionäres Klassenbewusstsein, ihre Überzeugung von ihrer historischen Mission und den damit zusammenhängenden Aufgaben und Notwendigkeiten die unablässige Vorbedingung für den Sturz des Kapitalismus schlechthin. In den Poren des Kapitalismus kann das Proletariat im Unterschied zu anderen Klassen in unterschiedlichen Produktionsweisen nämlich kein eigenes Produktionssystem etablieren, aber sehr wohl können in den Poren des Sozialismus und erst recht der Übergangsgesellschaft (Diktatur des Proletariats) Elemente der kapitalistischen Produktionsweise (eine Zeitlang) existieren.

Das revolutionäre Klassenbewusstsein ist also die ausschlaggebende „Produktivkraft“ ab der Machtergreifung. Dieses Verständnis des wissenschaftlichen Sozialismus von Geschichte, die Dialektik von Subjekt- und Objekthaftigkeit ihrer Entwicklung kommt in Trotzkis Artikel zur Geltung, indem er die subjektiven wie objektiven Momente in der Genese des Stalinismus analysiert. Es wird klar, wieso Abweichungen von der Norm der ArbeiterInnendemokratie erfolgen mussten, aber auch, dass genau untersucht werden muss, welche Fehler die Bolschewiki gemacht haben mögen, ohne sie zur Tugend zu erklären. Andernfalls gerät man leicht ins Fahrwasser des Stalinismus, der wie sein Zwilling, die Sozialdemokratie, Geschichtsresultate immer apologetisch rechtfertigen muss, nach dem Motto: Es konnte nur so kommen und darum ist es auch gut so.

Bürgerkrieg und Kriegs„kommunismus“

Um die Parteienverbote sowie Ereignisse in der Ukraine und in Kronstadt im Zusammenhang zu begreifen, sollen zuvor die allgemeinen politischen und ökonomischen Entwicklungen der Russischen Revolution nach 1917 dargestellt werden. (8)

„Dies ist auch die erste prinzipielle Differenz zur anarchistischen Strömung, deren Stellungnahmen stets im Großen und Ganzen den allgemeinen Zusammenhang der Lage negieren. Die verschiedenen Positionen der Anarchisten zu den Etappen der Russischen Revolution sind ein guter Beweis dafür. Im Juli 1917 wollten sie die Demonstrationen der Petrograder Arbeiter bis zum Sturz der Regierung weitertreiben. Sie bezeichneten die Julitage als ,fehlgeschlagenen Aufstand‘ und bezichtigten die Bolschewiki des Verrats. Die bolschewistischen Führer hätten nur ,inoffiziell‘ an ihnen teilgenommen(…)In Wirklichkeit besaßen die Bolschewiki die Führung der Demonstration, sie verlief unter ihren Losungen(…)Lenins Partei ,bremste‘ die Empörung der Arbeiter und leitete sie in eine machtvolle Demonstration über und bewusst nicht zum Aufstand, weil sie die Isoliertheit Petrograds von den ,schweren Reserven‘ der Bauern und der Masse der Soldaten sah. Der Konterrevolution wäre es sonst ein Leichtes gewesen, genügend Truppen gegen die Hauptstadt zu werfen. Die Bolschewiki vermieden so eine schwere, tiefe Niederlage der Petrograder Avantgarde, die Anarchisten hätten sie hineingehetzt, wären sie nicht bloß einige Wenige in den Sowjets gewesen(…)Der Sieg über Kornilow im August 1917 ging nach Meinung der Anarchisten auf ihr Konto. Warum jedoch die Massen der Arbeiter und Soldaten in dieser Zeit von den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu den Bolschewiki überwechselten, können sie indes nicht erklären. Und schließlich die Oktoberrevolution selbst. Nach anarchistischer Auffassung hatte die ,bolschewistische Regierung (…) nur noch die vollendeten Tatsachen zu sanktionieren.‘ (Volin…) Es stimmt, die Sowjets, Fabrikkomitees und die Aufteilung des Landes waren keine direkte ,Schöpfung‘ der Bolschewiki gewesen. Sie waren größtenteils ohne Zutun der KPR entstanden. Zum Machtorgan, das die Bourgeoisie stürzte und nicht mit ihr kooperierte, wurden die Sowjets erst durch die revolutionäre Politik der Bolschewiki, nur sie sanktionierten die Aufteilung des Landes – und nur sie waren dazu auch in der Lage. ,Die Bolschewiki…führten einen rein politischen Akt durch, indem sie die Macht übernahmen, die im Zuge dieser Volksrevolution ohnehin stürzen musste. Durch ihren politischen Handstreich brachten die Bolschewiki die wirkliche Revolution zum Stillstand und führten sie auf eine falsche Bahn.‘ (Volin…)“ (9)

Diese Perle eines Widerspruchs in sich im letzten Volin-Zitat verdeutlicht ein zweites Merkmal in der anarchistischen Argumentationskette neben der Ignoranz der übergreifenden Lage: ihren Euphorismus gegenüber den Massen.

Unmittelbar nach der Oktoberrevolution war der KPR(B) an der Regierung bewusst, dass in Russland eine Reihe wichtiger Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus fehlten: Die Industrie und Landwirtschaft waren traditionell rückständig und durch den Krieg sowie die Landaufteilung schwer beeinträchtigt bzw. in der Produktivität zurückgeworfen, Russland vom Weltmarkt isoliert usw. Die industrielle Krise und der Niedergang der Agrarproduktion sollten durch die Verschmelzung der Banken zu einer Nationalbank unter Kontrolle der Sowjets, durch die ArbeiterInnenkontrolle über die Industrie angegangen werden.

„Noch im Jahre 1917 hatten die Arbeiter in den meisten Betrieben selbsttätig die Leitung der Produktion übernommen, ohne sie jedoch im nationalen Maßstab zu koordinieren. Die Fabrikkomitees walteten und schalteten zumeist in ihrem Bereich isoliert und produzierten mit den ohnehin geringen Mitteln nur für den regionalen Bedarf. Die Produktionskräfte wurden keineswegs optimal eingesetzt, und das Elend der Städte führte oft genug dazu, dass die Arbeiter durch die ,Aneignung‘ von Produkten und Werkzeugen versuchten, ihre persönliche Not zu lindern.

Viele kapitalistische Eigentümer, die 1917/18 noch nicht ausgeschaltet waren, begannen gemeinsam mit dem technischen Personal, ihre ihnen noch verbliebenen Positionen auszunutzen und die Wirtschaft zu sabotieren.“ (10)

1918 spitzte sich der Konflikt mit dem deutschen Imperialismus zu. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk besetzten die Deutschen große Teile der Ukraine, darunter Kiew, marschierten in Richtung Donezbecken, erreichten den Don, die Nordküste des Schwarzen Meeres, Odessa, den Nordkaukasus und die südliche Wolgaregion. Petrograd wurde von ihren Luftschiffen bombardiert. Das Losschlagen der „Tschechischen Legion“ verschärfte die Lage und gab das Signal für einen Bürgerkrieg, der bis 1920 dauern sollte. Die schlecht ausgerüsteten Anfänge der Roten Armee führte zu stetigem Rückzug. Im Sommer 1918, einem der kritischsten Zeitpunkte im Bürgerkrieg, waren die meisten Nahrungsmittel produzierenden Gebiete verloren oder vom zentralrussischen Sowjetgebiet abgeschnitten. Die meisten Grenzgebiete standen unter der Besatzung der Weißen, der Deutschen oder Türken; die alliierte Invasion setzte ein.

„Die Heranschaffung von Nahrung wurde zu einer Überlebensfrage für die Arbeiter in den Städten und – für die Revolution! Reiche und mittlere Bauern hielten ihren Getreideüberschuß bewußt zurück, um vom Hunger der Städte zu profitieren. Sie stellten eine einflußreiche Minderheit dar, die zudem fürchtete, dass sich die Sowjetmacht nicht halten würde und sie nach dem Sieg der Weißen mit leeren Taschen dastünden. Mit den Werten aus der Aufteilung des Großgrundbesitzes bauten sich unzählige bäuerliche Elemente einen Schmuggelhandel für die Schwarzmärkte in den darbenden Städten auf(…)Daraufhin verboten die Bolschewiki den Privathandel und griffen zum Mittel der Requisition bei den reichen und mittleren Bauern.“ (11)

Die Bolschewiki begannen „Komitees der Dorfarmut“ für diesen Zeck zu organisieren, trieben die Klassenspaltung auf dem Dorf voran und verbündeten sich mit ihnen. Geographisch funktionierte das Bündnis zwischen Stadt- und Landproletariat sowie der halbproletarischen Dorfarmut in den getreidearmen Provinzen des Nordens und des Zentrums, im Moskauer Gebiet, den nördlichen Dwina- und oberen Wolgaregionen.

Anfang 1918 revidierte die bolschewistische Parteiführung das Konzept der ArbeiterInnenkontrolle und zentralisierte die Industrieproduktion. Lenin befürwortete ab März 1918 eine Stärkung der Betriebsleiter und eine straffe Arbeitsdisziplin, u. a. auch die Einführung und Verbreitung des Taylor’schen Akkordsystems. Der im Dezember 1918 gebildete Oberste Volkswirtschaftsrat sollte autonom handeln können, ohne zu sehr von den ArbeiterInnenkontrollorganen abhängig zu sein.

Diese als Kriegskommunismus bezeichnete Politik brachte die begüterte Bauern- und Bäuerinnenschaft, aber auch oft genug die kleinen LandwirtInnen und die noch in Verbindung mit dem Dorf stehenden proletarischen Schichten mit der Sowjetregierung in Konflikt. Aber auch in der Stadt stießen die Bolschewiki mit jenen, oft aristokratischen, ArbeiterInnenschichten zusammen, die sich nicht der zentralen Wirtschaftsführung und der strengen Arbeitsdisziplin beugen wollten. Die anhaltende Lebensmittelkrise trug zusätzlich den Unmut oft genug in die Kernschichten des Proletariats hinein. Zusätzlich war die bolschewistische Position in den Fabriken durch den Aderlass von Hunderttausenden aus der ArbeiterInnenvorhut geschwächt, die in Partei, Staatsapparat und Roter Armee „verschwanden“. Die Rekrutierungen für die aufzubauende Rote Armee litten unmittelbar unter diesen regierungsfeindlichen Stimmungen in ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenschaft.

„Menschewiki und rechte Sozialrevolutionäre lehnten schon kurz nach der Oktoberrevolution den Sowjetkongreß als einzige legale Macht ab. Am 3. November 1917 brachen sie die Verhandlungen mit den Bolschewiki ab, um gegen die Verhaftungen von Kadettenpolitikern zu protestieren. Man hatte außerdem einige der bürgerlichen Zeitungen verboten, die offen zum bewaffneten Aufstand aufgerufen hatten. Nachdem Kadetten und rechte Sozialrevolutionäre Ende November einen Putschversuch unternahmen, wurden zuerst die Kadetten illegalisiert, nicht aber der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre. Den letzten Schritt ins Lager der Weißen setzten die Reformisten schließlich im September 1918, als sie in Samara unter dem ,Schutze‘ der Tschechen und des weißen Generals Koltschak eine ,demokratische‘ Gegenregierung bildeten.

Ihre soziale Basis waren die Kulaken, von denen sie die Hauptparole von der „’Freiheit des Getreidehandels‘ unter Ausschaltung der Sowjets übernahmen.“ (12)

Die mittlere LandwirtInnenschicht schwankte zwischen Kulaken und Sowjetmacht und orientierte sich zumeist an den Erfolgen der widerstreitenden Armeen. Dem entsprach die Politik der linken SozialrevolutionärInnen und die mit ihnen in der Frage des Kampfs gegen die Komitees der Dorfarmut und gegen die Requisitionen konformen AnarchistInnen.

„Welche Positionen und Alternativen haben nun die Anarchisten im Sommer 1918 und später anzubieten? Im Kriegskommunismus erblickten sie die bolschewistische Gewalt um der Gewalt willen(…)Hier kommt haargenau die Stellung des bäuerlichen Elements zum Ausdruck, das zwischen Revolution und Konterrevolution zerrieben wird(…)Genau wie die zaristische Regierung und das Regime Kerenskis für ihn die Unterdrückung selbst gewesen waren, weil damals die Last des Gutsherren auf ihm lastete und man ihn gegen den äußeren Feind an die Front schickte, so sah er nun in der Sowjetmacht ein bloßes Gegenstück zu jenen vormaligen Regierungsformen, weil sie ihm, nachdem er endlich das Land in seine Hand bekommen hatte, nicht gestatten wollte, seine Erträgnisse ‚nach freiem Belieben zu verkaufen‘.

Zur obigen Ignoranz der proletarischen Gesamtinteressen kommt nun noch die Realitätsferne angesichts der Krisensituation von 1918, die selbstverständlich ebenso eine soziale Zerrüttung bedeutete. Die Anarchisten prangern die Korruption und Gewalttätigkeit der Rotgardisten und ihrer Kommandanten an, die ohne Zweifel massenweise vorhanden war(…)Ein Teil von ihnen propagierte offen den ,freien Handel'(…)Die ,Massen‘ sollten in den ,freien Kommunen‘ und den ,parteilosen Sowjets‘ selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen wollten(…)Die ,Linken‘ sprachen 1918 allerdings nur mehr für einen Teil des Dorfes, dessen Gesamtheit in einer ,Bauernkommune‘ zusammenzufassen wollen, ein Unding war. In der Südukraine sollte sich bald zeigen, dass solche Projekte nur im kleinbäuerlichen Milieu über eine gewisse Zeit lang möglich sind, sie aber auf sich alleine gestellt, abgesehen von den gigantischen Belastungen durch den Krieg , auf längere Sicht nicht bestehen können. Das ist aber auch ein Grundproblem solcher bäuerlicher Bewegungen, die eine Zeit lang imstande sind, selbständig zu agieren. Die Arbeiterklasse ist bestrebt, die Probleme der Wirtschaft im nationalen Maßstab zu lösen. Ihre Stellung in der industriellen Produktion lässt gar keine andere Erkenntnis zu. Der Bauer hingegen geht die Fragen im lokalen Rahmen an und verhält sich in der Hauptsache der Zentralisierung feindlich gegenüber. Ein Fortschritt ist gerade für den Kleinbauern nur auf zwei Arten möglich. Zum einen, wenn er sich auf die Seite der Arbeiterklasse stellt. Das ist die progressive Perspektive für das ländliche Kleinbürgertum. Indem das siegreiche Proletariat den Bauern wirtschaftlich unterstützt, vermag er die Rückständigkeit seiner zersplitterten Produktionsweise und die Vorteile einer planvollen, zentralisierten Landwirtschaft zu erkennen und sich zum sozialistischen Standpunkt aufschwingen. Aber das dauert Jahre, Jahrzehnte, benötigt Zeit und Gelegenheit, die im nachrevolutionären Rußland nicht gegeben war. Zum anderen hat der kleine Bauer das elementare Interesse aller Kleinbürger, in der Klassenhierarchie emporzukommen. In Rußland hatten sie die Aufteilung des Großgrundbesitzes weidlich dafür ausgenützt, und der Zusammenschluß in Kommunen war oft Ausdruck ihres Interesses, eine Stufe höher zu steigen und selber Kulak zu werden. Umgekehrt, wenn dies nicht gelingt, wächst das Abhängigkeitsverhältnis zum reichen Bauern wieder an, steigt die Schuldenlast usw., das kulakische Element beginnt wieder zu dominieren.

Auf die Klassenspaltung in der Bauernschaft wußten die ,Linken‘ [die linken Sozialrevolutionäre erhielten 50 % der Delegiertensitze in der Landkommission; d. Red.] nichts zu antworten. In der Frage der Organisierung der Industrie traten sie für die Aufrechterhaltung der Zersplitterung ein, in der Landkommission propagierten sie eben die ,Bauernkommunen‘ und sprachen sich gegen die Errichtung von Musterfarmen aus.“ (13)

Das Parteienverbot

Im Gegensatz zur Meinung vieler Libertärer, AnarchistInnen, Ultralinker und Liberalen entsprach das Einparteiensystem keineswegs der bolschewistischen Konzeption von Sowjetdemokratie. Das Vorgehen der bolschewistischen Führung gegen diese war zudem uneinheitlich – je nach Lage der Sowjetrepublik und Verhalten anderer Strömungen ihr gegenüber. Selbst im Bürgerkrieg wurde diesen eine legale, wenn auch unsichere Existenz und Teilnahme an den Rätewahlen zugestanden. (14)

1.) Vergessen wird von den GegnerInnen des Bolschewismus allzu oft die Repression, die die bolschewistische Partei vor dem Oktoberumsturz selbst erlitten hat, z. B. durch die Kerenski-Regierung nach den Julitagen.

2.) Die offen bürgerliche Partei der Kadetten (Abkürzung für Konstitutionelle Demokraten) wurde am 1. Dezember 1917 verboten, doch ihre Zeitungen erschienen weiter bis zum Sommer 1918. Diese Partei spiegelte für die Bolschewiki klar die Interessen der gestürzten Kapitalistenklasse wider. Das galt nicht für die anderen Räteparteien, deren Existenzberechtigung nicht angezweifelt wurde und gegen die man sich friedlich innerhalb der Sowjets durchsetzen wollte. Der Umgang änderte sich zum Teil im Zuge der Bürgerkriegsauseinandersetzungen, ohne als dauerhaft eingeschätzt zu werden.

3.) Aufgrund der unterschiedlichen Tendenzen, die sich auf diese Sammelbezeichnung stellen, war das bolschewistische Vorgehen sehr verschieden. Ein Großteil der AnarchistInnen unterstützte die Oktoberinsurrektion, einige traten sogar der KPR (B) bei. Vor dem Hintergrund von Hunger und Bürgerkrieg fand die oft subjektiv ehrliche Agitation der Libertären jedoch manches Echo unter rückständigen Schichten. Nach anfänglicher Zusammenarbeit gegen die Weißen, die liberale bis monarchistische in- und ausländische Konterrevolution, schwenkten die Bolschewiki auf eine repressive Linie um. Neben der gefährdeten Lage der jungen Republik trug auch das Vorgehen der AnarchistInnen selbst dazu bei: Sie beteiligten sich an terroristischen Aktivitäten und verboten in ihren zeitweiligen Hoheitsgebieten oft alle Parteien einschließlich der KPR (B). Selbst der Antikommunist Leonard Schapiro gestand ein, dass bis zum Frühjahr 1921 wenigstens einige anarchistische Gruppen vollständige Meinungsfreiheit genossen, obwohl einzelne Publikationen häufig nicht zugelassen waren. Zudem seien sie bis dahin niemals per Dekret für illegal erklärt worden. („The Origin of the Communist Autocracy“)

4.) Die Rechten SozialrevolutionärInnen (SR) stützten sich auf die reichere Bauernschaft. Sie versuchten den bewaffneten Umsturz, z. B. gemeinsam mit den MonarchistInnen bei der Revolte der Offiziersschüler am 29. Oktober in Petrograd. Als PionierInnen der Konterrevolution kämpften sie im Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen und nahmen an allen Gegenregierungen in Russland teil. Ihre antibolschewistische Politik ließ sie das Ziel einer Allparteienvolksfront einschließlich zaristischer Offiziere verfolgen. Im September 1918 trafen sich 150 Delegierte, darunter zur Hälfte rechte SR, die Menschewiki (obwohl diese Delegierten nicht den offiziellen Segen ihrer Partei genossen), Plechanows Edinstwo-Gruppierung, die KadettInnen und diverse antikommunistische Gegenregierungen aus den Grenzregionen in Ufa zwecks Bildung einer „Allrussischen Provisorischen Regierung”. Diese kadettisch-sozialrevolutionäre Regierung hielt nur ein paar Wochen, bis ihr Verbündeter, Admiral Koltschak, sie auseinander trieb. Im Juni 1918 wurde ihr Ausschluss aus den Sowjets beschlossen.

5.) Im Unterschied zu den rechten arbeiteten die linken SR anfänglich mit der KP zusammen, ja traten am 12. Dezember 1917 sogar in eine Koalitionsregierung mit ihnen ein. Aus Protest gegen den Friedensschluss von Brest-Litowsk verließen sie diese jedoch nach 3 Monaten, ohne die Zusammenarbeit in vielen Bereichen einzustellen, nachdem der Vertrag vom 4. Allrussischen Sowjetkongress angenommen worden war. Der endgültige Bruch kam mit der Ablieferungspflicht und Requirierung von Lebensmitteln durch ArbeiterInnenabteilungen auf den Dörfern. Die linken SR stützten sich auf die Kleinbauern-/bäuerinnenschaft, die Bolschewiki auf die städtische ArbeiterInnenklasse, das Landproletariat und die Dorfarmut. Linke SR ermordeten auch im Juli 1918 den deutschen Botschafter und erklärten sich mit Hilfe der anfänglich unter ihrer Kontrolle stehenden Tscheka (Außerordentliche Kommission für die Unterdrückung der Konterrevolution) zur einzigen Regierungspartei. Trotz dieses von den Massen nicht befolgten Aufstandsversuchs – der Terror der linken SR führte zum Attentat auf Lenin und tötete Wolodarski und Uritzki – wurde diese Partei nicht illegalisiert, sondern nur ihre Presse verboten. Ihre Delegierten wurden zunächst aus den Räten ausgeschlossen wie zuvor rechte SR und Menschewiki. Doch konnten diejenigen, die sich von den Ermordungen und der von ihrer Parteiführung angezettelten terroristischen Revolte distanzierten, wieder ihr Mandat ausüben. Die KPR (B) gewann viele ihrer einfachen Mitglieder, die sich mit den vorangegangenen neuen Aktionen ihres Parteivorstands nicht einverstanden erklärt hatten.

6.) Im Bürgerkrieg bezogen die Menschewiki mehrheitlich eine „neutrale“ Position, der rechte Flügel um Lieber beteiligte sich jedoch am bewaffneten Kampf gegen die Regierung, ohne dass daran beteiligte Mitglieder vom menschewistischen Zentralkomitee konsequent ausgeschlossen wurden. Die Regierung betrachtete Neutralität im Bürgerkrieg, in dem sich zwei Klassen mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln bekämpfen, als eine Unmöglichkeit. Wenn es darauf ankam, stellte sich die Mehrheitsposition der Menschewiki allerdings auch als nicht ganz so „neutral“ heraus, z. B. im Umgang mit der tschechoslowakischen Legion an der Westfront. Im Juni 1918 wurden sie gemeinsam mit den rechten SR aus den Sowjets ausgeschlossen, doch Ende 1918 nach einer angedeuteten Anerkennung der Rätemacht wieder zugelassen und im Großen und Ganzen während des Bürgerkriegs toleriert. Mit der allgemeinen politischen Krise unmittelbar nach Ende des Bürgerkriegs und der Isolation der Bolschewiki setzte die Repression gegen die MenschewistInnen wieder ein, die eine Rolle bei der Organisation von Streiks für Partikularinteressen einzelner ArbeiterInnen gegen die Sowjetmacht spielten.

Das Dilemma des offiziellen „Neutralitäts“konzepts der MenschewistInnen lag darin, dass gemäß ihrem Etappenmodell nach dem Zarensturz das Bürgertum mit seiner Herrschaft geschichtlich an der Reihe sein sollte. Dieses führte aber auf Seiten der Weißgardisten gewissermaßen einen Bürgerkrieg – für das menschewistische Programm! Daher, von ihrem Etappenkonzept aus neigten die Menschewiki im Konfliktfall oft zur Seite der Weißen. Die offizielle Position, die Sowjetregierung nicht mittels Waffengebrauch zu stürzen zu versuchen, hatte also von vornherein eine Schlagseite, wie sich an der menschewistischen Regierung in Georgien unter Noe Schordania zeigen sollte.

Die georgische Republik kollaborierte zunächst mit der deutschen Reichswehr, die 1918 den Kaukasus besetzte. Nach deren Rückzug und dem ihrer türkischen Alliierten bildeten die Menschewiki im Februar 1919 eine neue Regierung. Diese „DemokratInnen“ und „SozialistInnen“ verboten die Kommunistische Partei und unterdrückten die nationalen Minderheiten, an denen die Kaukasusregion weder damals wie heute arm war/ist. Im Mai besetzte der weißgardistische General Denikin auch Georgien; die Menschewiki leisteten einem Angebot der russischen Sowjetregierung zur Zusammenarbeit gegen ihn nicht Folge. Als schließlich die Truppen des konterrevolutionären Generals Wrangel auf der Krim festsaßen, assistierten ihm die Menschewiki mit Transport von Truppen und Kriegsmaterial.

Fazit: Die Parteienverbote waren in aller Regel nicht gleichbedeutend mit einer Außerkraftsetzung von Meinungsfreiheit; in Schriften, Büchern und Broschüren konnten die BolschewistInnen offen kritisiert werden. Natürlich wäre es kindisch zu behaupten, jede einzelne Unterdrückungsmaßnahme durch die regierende KPR (B) sei gerechtfertigt gewesen und habe im Einklang gestanden mit ihrem Anliegen, zwischen den verschiedenen Strömungen des Populismus, Reformismus und Anarchismus und innerhalb derer zu differenzieren. Ein verzweifelter Überlebenskampf wie der russische Bürgerkrieg ist kein idealer Schauplatz für wohldurchdachte juristische Unvoreingenommenheit.

In einem stabilen ArbeiterInnenstaat befürworten LeninistInnen demokratische Freiheiten für alle Tendenzen, die nicht den gewaltsamen Umsturz der Diktatur des Proletariats anstreben, einschließlich der Möglichkeit für die KommunistInnen bei Sowjetwahlen bzw. -abstimmungen in der Minderheit zu bleiben. (Vgl. Sinowjews Rede auf dem 8. Allrussischen Sowjetkongress 1920) Doch die RSFSR von 1918-1922 war alles andere als eine stabile ArbeiterInnendiktatur und -demokratie. Eine Mehrheit für anarchistische, populistische und sozialdemokratische, geschweige offen bürgerliche, Kräfte hätte bedeutet, den Sieg der weißgardistischen Konterrevolution gemeinsam (!) im Grab oder Konzentrationslager zu feiern.

Treffend fasst dieses Dilemma folgende Stellungnahme von 1920 zusammen: In einem Klassenkampf, der das Stadium eines Bürgerkrieges angenommen habe, möge es Zeiten geben, wo die Vorhut der revolutionären Klasse, die die historischen Interessen der breiten Massen verfolgt, ihnen aber im Bewusstsein noch voraus ist, gezwungen sein könne, die Staatsmacht mittels der Diktatur der revolutionären Minderheit (!) auszuüben. Dieses Statement stammt von Julius Martow, einem des Probolschewismus‘ unverdächtigen Zeugen!

Die KPR (B) und die Machno-Bewegung

Im November 1917 kam in der Ukraine eine bürgerlich-parlamentarische Republik zum Zuge. In der Rada hatten Parteien die Mehrheit, die sich auf die nationalistische Intelligenz und die Bauern-/Bäuerinnenschaft stützten. Dass es dem Sowjetsystem nicht gelang, sich durchzusetzen, lag zum einen am sehr schwachen Proletariat, das auf wenige Zentren des Nordens konzentriert war, zum anderen am, im Vergleich mit Russland, höheren Bevölkerungsanteil der begüterten Agrarier. Die Rada unter Petljura kollaborierte zuerst mit der französischen Militärmission, die von ihr die Fortsetzung des Kriegs gegen Deutschland forderte, dann mit den Weißen um General Michail Wassiljewitsch Alexejew am Don. Schließlich trat sie im Januar 1918 in Separatverhandlungen mit den deutschen Militärs ein.

Die Bolschewiki hatten das nationale Selbstbestimmungsrecht der Ukraine anerkannt, die Rada stellte eine eigene Delegation bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Die Gefahr eines sich abzeichnenden Separatfriedens zwischen der Ukraine und dem deutsch-österreichischen Imperialismus sowie das brutale Vorgehen der Rada gegen das sich in der Nordukraine rasch ausbreitende Sowjetsystem bildete den Hintergrund für wiederholte Verletzungen des nationalen Selbstbestimmungsrechts in der Folge durch die Rote Armee. Ihre militärischen Erfolge an der Donfront und im Südwesten führten zur Eroberung Kiews im Februar 1918 und zur Ausrufung einer Räterepublik am Don. Das Benehmen der Roten Garden in Kiew, Plünderungen, Verhaftungen und Erschießungen ukrainisch redender Einheimischer durch zumeist aus dem fernen Osten stammende Rotarmisten, beeinflusste das Verhältnis der ukrainischen Dorfbevölkerung, aber auch von ArbeiterInnenschichten zur sowjetischen Zentralmacht lange und tiefgreifend sehr negativ.

Nach dem 18. Februar verschlechterte sich die Lage für die RSFSR. Lettland, Estland, die Ukraine und Finnland mussten aufgegeben werden. Dabei hatten die Bolschewiki durch Verzögerung der Friedensverhandlungen gehofft, günstigere Konditionen zu erlangen, als der deutsche Generalstab bis dahin zu gewähren bereit war. Das Gegenteil war der Fall. Die Debatte um die Unterredungen in Brest-Litowsk hatten die KPR(B) vor die bis dahin größte Zerreißprobe ihrer Geschichte gestellt, bis knapp vor eine Parteispaltung geführt und in 3 Lager geteilt: Lenin trat bereits im Dezember 1917 für einen sofortigen Friedensschluss ein, Trotzki für Hinauszögern der Unterhandlungen, die Linke um Bucharin war für die Fortführung eines „revolutionären Kriegs“. Auch der Koalitionspartner, die linken SR, optierte für die Fortsetzung der Kriegshandlungen. Im März musste die bolschewistische Delegation das deutsche Ultimatum akzeptieren. Auf dem Notstandssowjetkongress am 6. März 1918 sagte Radek, die bolschewistische Politik in Brest-Litowsk sei eine des „revolutionären Realismus“ gewesen und kein Misserfolg.

„Es sei viel günstiger gewesen, dass die Sowjets erst nach der deutschen Invasion Frieden geschlossen haben und so den fortgeschrittenen Arbeitern der ganzen Welt demonstrieren konnten, dass sie dazu gezwungen wurden.“ (15)

Auf der Zentralsowjetexekutive am 24. Februar revidierten die linken SR ihren vorherigen Standpunkt, überhaupt nicht mit den Deutschen zu verhandeln, und verlangten gleich der bolschewistischen Linken den Rückzug der Sowjets ins Landesinnere, um sich für die „Rote Gegenoffensive“ zu sammeln. Nach ihrer Stimmniederlage traten sie aus dem Rat der Volkskommissare der Regierung, aus, hielten sich aber nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags an diesen Sowjetbeschluss, ohne den Vorwurf des Verrats an der Revolution aufzugeben.

Die AnarchistInnen aber ließen nicht locker. Die Aufstände in der Ukraine wurden von der deutschen Militärmaschine brutal unterdrückt, die Roten Garden standen jenseits der ukrainischen Grenzen. Die Deutschen setzten zuerst wieder auf die Karte der Rada, dann auf die feudale Reaktion in Gestalt der Marionettenmilitärdiktatur des Hetman Skoropadskyj. Der Bolschewismus war durch Requisitionspolitik und das Verhalten der Eroberer von Kiew und der ersten Sowjetherrschaft Anfang Februar bei den dörflichen Massen ziemlich unten durch. Russische Partisanen anarchistischer und linkssozialrevolutionärer Färbung sickerten in die Ulraine ein, griffen die deutsche Armee an, was zuerst von den Bolschewiki zu unterbinden versucht wurde, um nicht gegen den Friedensvertrag zu verstoßen. Es entwickelte sich ein Kleinkrieg gegen die anarchistischen Provokationen, der erst nachließ, als sich die militärische Lage zuungunsten der deutschen Armee verschoben hatte. Im April kam der deutsche Botschafter nach Moskau, woraufhin die AnarchistInnen zum bewaffneten Widerstand und zu Anschlägen auf ausländische Delegierte aufriefen. Die Bolschewiki lösten die anarchistischen Klubs gewaltsam auf und verhafteten die anarchistischen FührerInnen für einige Zeit, von denen sich viele später den linken SR bzw. der Machno-Bewegung anschlossen. Im Sommer 1918 spitzte sich der Bürgerkrieg zu. Vor dem 5. Sowjetkongress verlangten die linken SR die Aufhebung des Vertrags von Brest-Litowsk und den „revolutionären Krieg“. Trotzki und Lenin wurden des Verrats bezichtigt, der revolutionäre Terror ausgerufen. Graf Mirbach wurde von zwei Mitgliedern der linken SR ermordet, ihr Putschversuch in Moskau scheiterte nach 2 Tagen. Die FührerInnen des Aufstandes wurden verhaftet, jedoch später begnadigt.

Erste militärische Erfolge für die Bolschewiki im Bürgerkrieg fielen mit einer Attentatsserie auf einige ihrer Führer zusammen. Im September griffen die Bolschewiki zum letzten Mittel, dem roten Terror: es wurden Geiseln genommen und die Tscheka beschränkte sich nicht mehr auf Verhaftungen. In den ersten 6 Monaten nach dem November 1917 waren nur 22 Todesurteile verhängt worden. Ihr Apparat wurde ausgebaut, manche Verhaftungen und Erschießungen erfolgten jetzt willkürlich und trafen viele Unschuldige. Der weiße Terror stand dem nicht nur in nichts nach, sondern ging dem roten voraus:

“Exzesse sind im russischen Bürgerkrieg auf beiden Seiten in einem unvorstellbaren Ausmaß vorgekommen. Doch ein grundlegender Gedanke dabei müßte wohl sein, die verschiedenen politischen Inhalte beider Seiten voneinander zu unterscheiden(…)Wäre die Russische Revolution der Beginn einer europäischen Revolution gewesen, die jede ausländische Intervention und damit die weiße Gegenrevolution verunmöglicht oder zumindest gehemmt hätte, so wäre sie ohne Zweifel ein relativ unblutiges Ereignis geblieben, das sie im Oktober 1917 noch gewesen war.“ (16)

Die ukrainische Widerstandsbewegung gegen die deutschen Invasoren war im November 1918 angestiegen: In der Südukraine setzten Machnos Partisanen ihnen und den Weißen heftig zu, die Kampfhandlungen der Roten Armee im Nordkaukasus entlasteten ihn dabei. Sie konnten aber nicht in der gesamten Ukraine Fuß fassen, so dass Petljuras Truppen im Dezember 1918 als Befreier in Kiew einmarschierten, das sie Ende Dezember wieder räumen mussten, als die Rote Armee Charkow eroberte. Die Sowjetmacht kann sich über weite Teile der Ukraine ausbreiten, die 2. Ukrainische Räterepublik wird ausgerufen. Die Sowjetherrschaft kann sich besser verankern als im Sommer, weil nach den Erfahrungen mit Skoropadskyj und der ,Selbstbestimmungs‘-Politik Petljuras jetzt auch die Landbevölkerung ihre schroffe Feindschaft ihr gegenüber abgelegt hat und die Industriezentren ihre feste Stütze bilden. Aber die notwendige Requisitionspolitik führte zu einem Stimmungsumschwung auf dem Dorfe und zur Demoralisierung roter Truppenteile. Die so deshalb nur oberflächlich bleibende Rätemacht wurde zusätzlich durch Differenzen in der Partei geschwächt. Die ukrainische KP konnte sich eine gewisse Selbstständigkeit bewahren. Hier dominierten die linken GegnerInnen des Friedensschlusses. Sie warnten zu Recht vor allzu harter Behandlung der ukrainischen Bauern-/Bäuerinnenschaft. Gegenüber den ungebundenen Partisanenabteilungen und Roten Garden übten sie aber ebenfalls Nachsicht. Dies lief Trotzkis Plänen zuwider:

„Trotzki beginnt die Rote Armee in einheitlich gebildeten Divisionen und Regimentern zu organisieren und einem Oberbefehl zu unterstellen. Er strebt die Eingliederung der losen Partisanenabteilungen an. Als sich viele von ihnen nicht fügen wollen, verlangt er ihre Auflösung. Dieser grundlegende Konflikt kommt auch in der Ukraine und hier am bekanntesten in der Problematik der Machnoiade immer wieder hoch(…)wobei die Anarchisten selbstverständlich auf der Seite Machnos stehen. Ebenfalls in dieser Frage vertreten sie das Konzept der Zersplitterung. Die strategischen Schwierigkeiten im russischen Bürgerkrieg interessieren sie nicht, der gesamten weißen Bedrohung haben sie wieder einmal keinen erfolgversprechenden Gesamtplan entgegenzusetzen.“ (17)

Im Frühjahr 1919 wurde die desolate, halb verhungerte Rote Armee von Denikin aufgerieben. Das Zentralkomitee der KPU machte zerfahrene Versuche, hinter den weißen Linien eine Partisanenbewegung zu organisieren, bevor es aufgrund seines Widerstands gegen die Umstrukturierung der Roten Armee aufgelöst wurde. Die Machno-Bewegung kann sich jetzt stärken. Im März hatte es zwischen ihr und den Bolschewiki ein Abkommen gegeben, wonach sie innerorganisatorisch selbstständig bleiben, aber rote politische Kommissare aufnehmen müsste. Der Angriff Denikins beendete diese Phase gegenseitiger Loyalität. Gleichzeitig orientierte sich die Machnoiade politisch um. Eine große Zahl der aus dem Norden geflohenen Linken und AnarchistInnen gelangte in die Ukraine und nahm politischen Einfluss auf sie. Der Kongress der anarchistischen Gruppierung „Nabat“ [deutsch: Der Alarm; d. Red.] im April 1919 in Elisabethgrad [heute: Kropywnyzkyj, bis 1924: Jelisawetgrad; d. Red.] formulierte seinen Hass auf die Sowjetmacht, die Machnoiade solle die Macht sein, die die Bolschewiki stürze.

Die Rote Armee kämpfte derweil um ihr Überleben, ihre ukrainischen Truppen hungerten und hatten kaum etwas zum Anziehen. Im Juni verbot ihr Armeekommando den 4. Anarchistenkongress. Die Konflikte mit Machno, der seit April eine Propagandakampagne gegen den Bolschewismus gestartet hatte, mehrten sich. Seine AnhängerInnen und die Rotarmisten beschuldigten sich gegenseitig, Denikin die Front geöffnet zu haben. Im Juli scheiterte ein Versuch der Roten Armee, ihn von seinen Basen abzuschneiden. Gemeinsam mit den Don-Kosaken verbreitete dieser daraufhin den weißen Terror und die Herrschaft der Großgrundbesitzer in der Ukraine. Zurückgebliebene versprengte Rotarmisten schlossen sich der Machno-Guerilla an. Die Rote Armee trat im Oktober zur Offensive gegen die Hauptstreitmacht der Weißen vor Moskau an und drang wieder bis in die Ukraine vor, die Machno-Partisanen rückten bis zur nördlichen Südukraine vor.

Die zeitweise Stärke der Machno-Bewegung, die sich v. a. auf arme und mittlere LandwirtInnen stützte, erklärt sich aus ihren negativen Erfahrungen mit den deutschen Marionetten, den Weißen, der Rada, aber auch den Roten. In der ersten Zeit wandten sie sich gegen die Kulaken. Im Kampf gegen Rot und Weiß erlebte die Machnoiade ihren Niedergang. Es wuchs in ihr eine selbstherrliche Militärkaste heran, mit ihrem militärischen Niedergang erlangten die Kulaken immer mehr an Bedeutung. Kurzfristig vermochte sie „freie Kommunen“ zu schaffen und forderten „parteilose Sowjets“ mit der wichtigsten Konsequenz: Sowjets ohne Bolschewiki! Letztere wurden spätestens ab April 1919 von den Machno-Leuten brutal verfolgt. Dahinter steckt das kleinbäuerliche Element, von den Städten unabhängig zu sein und über die Ernte selbst zu bestimmen.

Trotz zeitweiliger Kontrolle über große Gebiete und Abwesenheit fremder Mächte waren sie nie in der Lage, die gesamte Ukraine zu kontrollieren. Ihre Nichteinmischung in die „Angelegenheiten der Bevölkerung“ vor Ort, ihre Beschränkung auf Beratung und die Forderung nach „freien Räten“ erleichterten dem kulakischen Element um Machno herum, ungeheuer selbstbewusst und bewaffnet aufzutreten, nach und nach die „parteilosen Sowjets“ durch hierarchische Unterdrückungsstrukturen („reduzierte Räte“) zu ersetzen. Die lose Organisiertheit der Machno-Verbände führte unter den elenden Bedingungen im spezifisch bäuerlichen Milieu zu allen negativen Begleiterscheinungen des Bandenunwesens und Machtmissbrauchs.

Die militärischen Erfolge Machnos 1919 wurden zu einem beträchtlichen Teil durch die Entlastungsoffensiven der Roten Armee im Norden ermöglicht. Seine militärische Unzuverlässigkeit zeigte er insbesondere im Konflikt mit regulären Truppen wie Denikins gepanzertem Heer. Vor und während des Sowjetisch-Polnischen Krieges ignorierte er trotz eines weiteren Abkommens zwischen ihm und dem Sowjetmilitär gegen den weißen General Wrangel eine Aufforderung, vor dem drohenden polnischen Angriff in Richtung der polnischen Grenze zu marschieren, und zwar mit dem Argument der Selbstständigkeit. Der Vorwurf von einigen Bolschewiki (z. B. Jakowlew), Machno habe Hand in Hand mit Wrangel agiert, wurde von Trotzki zwar im Oktober 1920 entkräftet. Im Interesse des Gesamtsiegs im russischen Bürgerkrieg stellte sich jedoch wieder die Frage nach Revolution oder Konterrevolution: „Wer nicht für die Sowjetmacht ist, ist gegen sie!“ Das objektive Verhalten der Machnoiade bestätigte leider erneut die Richtigkeit dieser Aussage. Nach der Niederlage Wrangels wurden die Machno-Abteilungen von Budjonnys Reiterarmee aufgerieben.

Soweit so gut – oder auch, je nach Sichtweise – so schlecht. Die in den Einleitungsätzen erwähnten weiteren umstrittenen Punkte zur Fragestellung, ob der Stalinismus ein legitimer Erbe des Bolschewismus sei, müssen einem weiteren Artikel vorbehalten bleiben.

 

Endnoten

(1) „Kommunismus oder Stalinismus? Drei Aufsätze von Leo Trotzki zur Klärung der Begriffe“, Berlin/W., 1971 [Verlag Die Vierte Internationale], S. 9-28

(2) ebd., S. 12

(3) ebd., S. 14

(4) ebd., S. 19 f.

(5) ebd., S. 21

(6) ebd., S. 22 f.

(7) Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution [1905], in: dies.: Schriften zur Spontaneität, Einbek, 1970 [Rowohlt], S. 58 f.; zitiert nach: Behruzi, Daniel: Die Sowjetunion 1917-1924, Köln, Dezember 2001 [isp], S. 38 f.

(8) Wir stützen uns hierbei auf den Aufsatz: e. p.: „Russische Revolution: Kronstadt und Machno-Bewegung – Bolschewismus oder „dritte Revolution“, in: Ergebnisse und Perspektiven, Theoretisches Organ von Spartacusbund [BRD], Internationale Kommunistische Liga [Österreich], Nr. 8, Frankfurt a. M./Wien, Mai 1979, S. 29 ff.

(9) ebd., S, 30 f. (Rechtschreibfehler stillschweigend korrigiert)

(10) ebd., S. 32

(11) ebd.

(12) ebd., S. 33

(13) ebd., S. 34 f.

(14) Vgl. dazu im Folgenden: Behruzi, Daniel: Die Sowjetunion 1917-1924, a. a. O., S. 116-123; Klein, Wolfram: Die Russische Revolution 1917, Köln, 2000 [Hrg.: Voran zur Sozialistischen Demokratie e. V.], S. 67-70; Kronstadt and Counterrevolution, Part 2 of 2, Workers Vanguard, 28. April 1978 [Spartacist League/USA]

(15) e.p.: Russische Revolution, a. a. O., S. 37

(16) ebd., S. 39

(17) ebd., S 40




Modell Oktoberrevolution – Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

„Wo geht’s denn hier zum Winterpalais?“, titelte eine Diskussionsrunde zu „Reform, Transformation, Revolution“ auf dem UZ-Pressefest von 2014 zwischen den Vordenkern Leo Mayer (DKP), Conrad Schuhler (isw) und Walter Baier (KPÖ). Der Titel trifft die Orientierungsprobleme der „etablierten“ Linken in Bezug auf die Oktoberrevolution ziemlich gut. Von isw bis zu den „Thinktanks“ der Linkspartei in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ganz zu schweigen vom „akademischen Marximus“, tut man sich mit dem Bezug auf die Oktoberrevolution schwer.

Sie wird im besten Fall noch als ein wichtiges historisches Ereignis genannt. Spätestens seit den 70er Jahren gibt es von der revisionistischen Linken eine Abkehr vom „Modell Oktoberrevolution“, die sich heute in Schlagwörtern wie „Transformation statt Revolution“ oder auch „revolutionäre Reformpolitik“ ausdrückt. Ob diese Konzepte den Marxismus bereichern oder mit ihm brechen, soll u. a. im Folgenden erörtert werden.

Wir wollen im folgenden Artikel die von Lenin besonders in „Staat und Revolution“ zusammengefasste bolschewistische Revolutionskonzeption als rätedemokratisch basierte Zerschlagung des bürgerlichen Staates herausarbeiten, indem wir sie mit ihren Relativierungen und Kritiken von Gramsci, Althusser, Poulantzas konfrontieren, auf die sich moderne AnhängerInnen der „Transformationstheorie“ (s. o.) oft berufen.

Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit den Grundprinzipien der marxistischen Staats- und Revolutionstheorie, die der strategischen Ausrichtung und den programmatischen Schlussfolgerungen Lenins zugrunde lagen.

In den folgenden Abschnitten setzten wir uns mit Autoren auseinander, die von den TransformationstheorikerInnen als theoretische Bezugspunkte genannt werden.

Dabei unterziehen wir zuerst die Konzeption Gramscis einer Kritik, untersuchen ihre Stärken und Schwächen. Wir werden dabei zeigen, dass die modernen RevisionistInnen diese Konzeption (ebenso wie die Rosa Luxemburgs) zwar entstellen, aber dabei auch wirkliche Anknüpfungspunkte in Gramscis Arbeiten finden.

Dem folgt eine Kritik der „Entmystifizierung“ der Oktoberrevolution durch Althusser und seiner „Enthegelianisierung“ des Marxismus. Schließlich unterziehen wir Poulantzas und seine anti-leninistische Staatstheorie einer Kritik. Während die theoretische Konzeption Gramscis in vielem widersprüchlich, gewissermaßen zentristisch bleibt, tritt der Revisionismus bei Althusser und Poulantzas offen zutage.

Nach dieser Darstellung und Kritik von Theoretikern, auf die sich „moderne“ Entstellungen der Oktoberrevolution stützen, beschäftigen wir uns mit Georg Lukács und auch Karl Korsch, zwei Theoretikern, die versuchen, die Lehren des Bolschewismus in den ersten Jahren nach der Revolution theoretisch zu verallgemeinern. Sie stellen daher einen Bezugspunkt für eine revolutionäre Betrachtung dar. In diesem Zusammenhang unterziehen wir auch Zizek und seine Interpretation der Russischen Revolution einer grundlegenden Kritik.

Den Abschluss des Artikels bildet die Diskussion über die Bedeutung der Räte in der sozialistischen Revolution und in der Übergangsperiode.

Damit wollen wir zeigen, dass das Verständnis der Räte untrennbar mit dem des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse wie auch der Umwälzung der Gesellschaft nach der Revolution verbunden ist. In diesem Sinne – nicht in der karikaturhaften Vorstellung einer „Wiederholung“ und mechanischen Übertragung – bleibt die Russische Revolution bis heute „modellhaft“.

Die Oktoberrevolution und „der Westen“

Einen guten Einstieg in die Problematik liefert die Lektüre des Artikels „Der Marxismus und das Ende des Kapitalismus“ von Conrad Schuhler (Leiter des isw, des Instituts für sozial- ökologische Wirtschaftsforschung, München e.V., 15. August 2013). Hierbei ist nicht so sehr der Teil des Artikels gemeint, der die Frage behandelt, ob die sozialistische Revolution in einem rückständigen Land wie dem zaristischen Russland nicht überhaupt der marxistischen Revolutionstheorie widerspricht – diese Frage wird auch in diesem Band an anderer Stelle behandelt. Hier ist besonders der Teil des Artikels gemeint, den Schuhler betitelt mit: „Warum die Arbeiterklasse im Westen dem Beispiel der KPdSU nicht folgen konnte – die Antworten von Antonio Gramsci“. Schuhler bezeichnet die angebliche Antwort Gramscis auf die Frage, warum die Revolutionen im Gefolge der Oktoberrevolution im Westen „scheitern mussten“ (!?), als „existenziellen Vorrat der heutigen Transformationstheorie“:

„Gramscis Grundthese besteht darin, dass in Russland die gewaltsame Übernahme der Staatsmacht in einer tiefen ökonomischen und politischen Krise hinreichen konnte, um die Gesellschaft in neue Bahnen zu lenken, dies jedoch niemals in den entwickelten kapitalistischen Ländern möglich wäre. In Russland war ,der Staat alles, die Zivilgesellschaft allerdings erst in ihren Anfängen und gallertenhaft‘. Ein ähnlicher Revolutionsversuch im Westen, wo ,zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis bestand und sich das System als robust erwies, konnte nur zu Niederlagen führen’“. (1)

Hinter dem repressiven Staatsapparat erhebe sich in entwickelten kapitalistischen Ländern eine viel mächtigere Verteidigungslinie: Die bürgerliche Zivilgesellschaft präge Denken und Verhalten der Menschen in einer Weise, die eine kulturelle Hegemonie der herrschenden Klasse begründe. Diese Hegemomie garantiere gerade in Krisenzeiten die Herrschaftskonformität der Unterdrückten, die das System jeweils in neuen Formen sich wieder regenerieren lasse. Das System erweise sich als fähig, immer wieder neue Formen zu finden, in denen der Protest der Ausgebeuteten scheinbar integriert und befriedet werde.

„Diese Sicht des Klassenkampfes, dass auf der Seite des Kapitals nicht nur ein staatlicher Zwangsapparat steht, sondern eine ideologisch dominante Kultur, die sich ständig über ihre Hegemonieapparate Schulen, Kirchen, Medien, Verbände des Denkens und Fühlens der Gesellschaftsmitglieder bemächtigt, führt zu einem Paradigmenwechsel in der marxistischen Revolutionsstrategie, zum Übergang „vom Bewegungs- zum Stellungskrieg“ (2). Daher schlussfolgert Schuhler, dass der alte Gegensatz von „Reform und Revolution“ überwunden werde müsse – eben in der „Systemtransformation“.

Warum also soll das Modell Oktoberrevolution auf „entwickelte kapitalistische Länder“ ab einer gewissen Stufe der Entwicklung der „Zivilgesellschaft“ nicht mehr anwendbar gewesen sein? Was ist überhaupt das Modell der bolschewistischen Revolution? Welche Grundlagen im Marxismus hat es, und was hätte besagte Transformationsstrategie dagegen noch mit marxistischer Systemüberwindung zu tun? Oder ist es nicht einfach ein Neuaufguss revisionistischer Theorie von Bernstein bis Kautsky?

Wir beginnen mit der Frage nach dem bolschewistischen Revolutionskonzept, wie es klassisch in „Staat und Revolution“ von Lenin dargestellt wurde.

Grundprinzipien der Lenin’schen Konzeption der Oktoberrevolution

Lenin schrieb „Staat und Revolution“ in der kurzen Atempause nach den Juli-Tagen 1917 in Vorbereitung auf den folgenden Oktobersturm. Es handelte sich um eine letzte Selbstvergewisserung in Bezug auf die bisherigen Lehren der Staats- und Revolutionstheorie, die Erfahrungen der Revolutionen von 1848/49 und 1871 und die Schlussfolgerungen daraus für den Charakter des kommenden Umsturzes. Herausgekommen ist eine klare Wegbeschreibung Richtung Winterpalais.

Lenin geht aus von Engels‘ (3) Ableitung des Staates als eines notwendigen Resultats der Entwicklung von Klassengesellschaften: als Struktur, die scheinbar zwischen den unversöhnlichen Klassenwidersprüchen vermittelt, tatsächlich aber der Aufrechterhaltung der Ausbeutungsbedingungen für die herrschende Klasse dient; zweitens als Struktur, die sich von Klassenherrschaft zu Klassenherrschaft immer mehr verfeinert und von der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, entfremdet. Lenin folgert: „Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und ,sich ihr mehr und mehr entfremdende‘ Macht ist, so ist es klar, dass die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist, nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese ‚Entfremdung‘ verkörpert“ (4).

Das erste Prinzip der marxistischen Revolutionstheorie ist also, dass sich die proletarische Revolution von allen vorangegangenen Revolutionen, die wieder nur andere Klassenherrschaften begründet haben, grundlegend dadurch unterscheiden muss, dass sie die bestehenden Unterdrückungsapparate in ihrer Essenz nicht übernehmen kann, sondern sie durch etwas ersetzen muss, das letztlich mit dem Verschwinden der Klassenherrschaft an sich auch jede Form von staatlicher Repression und administrativer Herrschaft zur Auflösung bringt.

Dabei ist auch bei Lenin klar, dass sich der Staat nur im Kern als „Organisation bewaffneter Menschen und ihrer sachlichen Anhängsel (Gefängnisse, Zwangsanstalten aller Art…)“ darstellt, darüber hinaus aber auch einen immer weiteren Kreis an Mechanismen zur Kontrolle und Steuerung der Unterdrückten umfasst – auch natürlich auf ideologischem Gebiet.

Die ArbeiterInnenklasse ist eben deswegen zu einer Revolution in der Lage, die den Weg zur klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft öffnet, da in ihr (bzw. der Universalität der Lohnarbeit) die vergesellschaftende Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise genauso verkörpert ist wie die auf die Spitze getriebene individuelle Ausbeutung von Mehrarbeit. Diese gleichzeitige Zuspitzung von Ausbeutung und Entfremdung einerseits sowie dem Fehlen von Privateigentum an den Produktionsmitteln andererseits in der Klassenlage des Proletariats befähigt dieses erst objektiv, durch die Vergesellschaftung der im Kapitalismus entwickelten Produktionsmittel die Grundlage aller Klassenspaltung (die Aneignung des Mehrprodukts durch eine herrschende Klasse) aufzuheben. Wie Engels im „Anti-Dühring“ festhält, bedeutet (was die Frage des Staates betrifft) damit schon der erste Akt der proletarischen Revolution einen qualitativen Sprung: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat“ (5).

Die Verstaatlichung, die zur tatsächlichen Vergesellschaftung durch ein sich selbst organisierendes Proletariat führen soll, verleiht zugleich dem Staat eine völlig andere Qualität: „Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab“ (6). Für Lenin ist klar, dass sich „Aufhebung“ und „Absterben“ hier unbedingt auf unterschiedliche Staatscharaktere beziehen müssen. Die proletarische Machtergreifung, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Durchsetzung proletarischer Selbstorganisation etc. kann sich nicht unter Beibehaltung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates vollziehen – die „Aufhebung“ kann somit nichts anderes als eine Zerschlagung seiner Repressionsorgane und seiner Formen der Regierung über Personen sein. Das, was an die Stelle dieses alten Staatsapparates tritt, kann nur eine besondere, neue Form von Staat sein – ein Staat, der sein eigenes „Absterben“ eingebaut hat und betreibt, der sich mehr und mehr überflüssig macht.

Das zweite Prinzip der marxistischen Revolutionstheorie ist daher, dass zwar die proletarische Revolution zur Durchsetzung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in einer ersten Etappe weiterhin eines Staatsapparates bedarf, dieser aber in einem Bruch mit den bestehenden Unterdrückungsapparaten der Klassengesellschaften entstehen muss, und zwar durch ihre Zerschlagung bei gleichzeitiger Schaffung eines proletarischen Halbstaates, der auf sein Absterben hin ausgerichtet ist.

Marx bemerkte in diesem Sinn besonders aus der Erfahrung der Pariser Kommune von 1871: „Namentlich …hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann“ ,und weiter, dass bei einem nächsten Versuch „nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, …die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution“ sei (7). Diese Erkenntnis sprach er bereits 1852 im Gefolge der Revolution von 1848 aus („Der 18. Brumaire des Louis Napoleon Bonaparte“), sie wurde aber durch die Pariser Kommune bestätigt und ergänzt „durch die endlich entdeckte Form“ des Staates, mittels derer das Proletariat seine Diktatur ausüben und zum Sozialismus vorwärtsschreiten könne.

Kern des neuen proletarischen Halbstaates ist damit wie bei jedem Staat, nach der Zerschlagung der stehenden Heere und der anderen bürgerlichen Repressionsorgane, die Frage der eigenen Bewaffnung. D. h., sowohl vor der Revolution als auch danach ist das bewaffnete Proletariat die Grundbedingung für die gesellschaftlich Umgestaltung, zur Verteidigung der neuen Eigentumsverhältnisse und Abwehr der Versuche der Restauration. Umgekehrt bemerkte Engels in einem Vorwort zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, dass in jeder modernen Revolution die Hauptsorge der Bourgeoisie die Entwaffnung der ArbeiterInnenklasse sei. Lenin bemerkt dazu: „Diese Bilanz der Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen ist ebenso kurz wie bedeutungsvoll. Das Wesen der Sache – unter anderem auch in der Frage des Staates (ob die unterdrückte Klasse Waffen besitzt) – ist hier treffend erfasst“ (8). In diesem Zusammenhang erwähnt Lenin, dass die Menschewiki seit ihrem Regierungseintritt die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopls und die Entwaffnung der Petrograder ArbeiterInnen zu ihrer politischen Hauptaufgabe erklärt hatten – ein klarer Beweis, wie Sozialdemokraten zu Hauptfunktionären der Konterrevolution werden.

Das dritte Prinzip ist daher, dass es keine proletarische Revolution ohne Zerschlagung der bestehenden bewaffneten Organe des bürgerlichen Staates und ohne eigene, vom Proletariat kontrollierte bewaffnete Organe geben kann, dass daher der revolutionäre Staat im Kern das bewaffnete Proletariat ist, das seine Bewaffnung zur Unterdrückung der bisher unterdrückerischen Klassen benutzt. Dies ist es, was die Klassiker „die Diktatur des Proletariats“ nennen – eine letzte Form der Klassenherrschaft, die notwendig ist bis zum endgültigen Absterben des Staates.

Was ist nun aber mit den administrativen und ökonomischen Funktionen des Staates? Gemeinsam mit Marx und Engels sah Lenin hier die Erfahrung der Kommune von Paris 1871 als die entscheidende geschichtliche Erfahrung des Proletariats in der Staatsfrage. Die aus allgemeinem Wahlrecht in Stadtteilen, Arbeitsstätten und bewaffneten Organen hervorgehenden Kollektivorgane ermöglichten es den bisher Unterdrückten, über ihre unmittelbaren Probleme selbst zu entscheiden und sich selbst zu verwalten. Diejenigen, die mit Verwaltungs- und Vertretungsaufgaben betraut sind, sollen jederzeit abrufbar, den Beschlüssen der Räte verpflichtet sein und ein normales ArbeiterInnengehalt erhalten. Schließlich sollen alle bewaffneten Organe aufgelöst werden außer denen, die unmittelbar unter der Kontrolle dieser Räte stehen (was sowohl Militär- als auch was Polizeifunktionen betrifft). Die unmittelbare Verbindung zur vergesellschafteten Produktion selbst (auf der Grundlage der Verstaatlichung der Produktionsmittel) ermöglicht es den Räten, wie Marx es nannte, „arbeitende Körperschaften“ zu sein, also entsprechend den prioritären Bedürfnissen praktische Entscheidungen über Produktion und Verteilung zu treffen. Angesichts der Ausdehnung, Zentralisation und komplexen Verbindungen der ökonomischen Basis erfordert dies damit auch eine entsprechende Assoziation und Zentralisation des Rätesystems in einem Delegiertensystem, das eine gesamte Räterepublik umspannen muss.

Gleichgültig ob die Begriffe „Kommune“, „Räte“ oder „Sowjets“ verwendet werden, von Marx bis Lenin ist klar, dass es keine erfolgreiche proletarische Revolution geben kann, ohne dass sich ein demokratisch-zentralistisches Netz von Selbstverwaltungsorganen des Proletariats bildet, das zum Motor der Umgestaltung von staatlichen und ökonomischen Strukturen wird, die mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats an die Stelle von kapitalistischer Ökonomie und Staat treten. Nur das demokratisch sich selbst organisierende Proletariat kann letztlich die Nachwirkungen der kapitalistischen Arbeitsteilung, des Wertgesetzes, der Land-Stadt-Teilung, der sozialen Unterdrückung, der staatlichen Autoritäten und Repressionen etc. überwinden.

Das vierte Prinzip ist also, dass das rätedemokratisch organisierte Proletariat mit der Verstaatlichung der zentralen Produktionsmittel einen auf Rätebasis aufbauenden Halbstaat errichtet, der immer mehr die Aufgaben der Verwaltung und Leitung vereinfacht und – von Machtstrukturen befreit -somit das Absterben von Staat und staatlicher Repression einleitet.

Schließlich kommen wir zur Frage des Verhältnisses zur bürgerlichen Demokratie oder auch einer möglichen Koexistenz von Rätedemokratie mit der „bürgerlichen Zivilgesellschaft“ – einer Fragestellung, die viel mit der Eingangsfrage zu tun hat, wie wir später sehen werden. Einerseits ist es klar, dass bürgerliche Demokratie die bequemste Form der Herrschaft des Kapitals ist, da sie scheinbar auf Einbeziehung und Konsens der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu ihrer Unterdrückung beruht. Als vereinzelte Einzelne, scheinbar freie Konsumenten und Verkäufer ihrer Arbeitskraft, sind auch die ArbeiterInnen bei „freien Wahlen“ der ungeheuren Marktmacht des Kapitals ausgesetzt und spielen Mitbestimmung, indem sie Regierungen alle paar Jahre mitwählen. Letztlich sind sie nur Erfüllungsorgane ganz anderer Interessen im Hintergrund, nämlich der Kapitalmächte, die bleiben, während Ministerdarsteller kommen und gehen. Aber gerade in Zeiten der Revolution, in denen sich gegenüber den bürgerlichen Machtorganen bewaffnete Räte als Gegenmacht etablieren und eine Situation der „Doppelmacht“ entsteht, werden jedoch die Institutionen Parlamente, „freie Wahlen“ und Ministerien zu entscheidenen Waffen der Konterrevolution. Diese Institutionen dienen zur Legitimation der bürgerlichen Gegenmacht, aus der im entsprechenden Moment der Schlag gegen die proletarische Demokratie im Namen des Kampfes gegen die „rote Diktatur“ geführt wird.

Gerade in der deutschen Novemberrevolution von 1918/1919 wurde eine lange Debatte um die Frage eines „reinen Rätesystems“ oder einer Mischung von Rätesystem und parlamentarischem System geführt – mit bekanntem Ausgang.

In Zusammenhang mit der Frage der Zerschlagung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates ist hier besonders die Einlassung von Lenin in Bezug auf die Debatte zwischen Kautsky und der Linken 1912 in „Staat und Revolution“ interessant. Gegenüber Pannekoeks Forderung, dass die Revolution Eroberung der Staatsgewalt sowie Zerschlagung des bestehenden Apparates bedeute, betonte Kautsky, dass es utopisch sei, die bestehenden Verwaltungen, Ministerien etc. aufzulösen. Dies sei Sache „des Zukunftsstaates“. Es komme vielmehr darauf an, durch Massendruck „Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt“ zu erreichen und dadurch schrittweise zur „Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung“ zu erreichen (9). Kautsky erweist sich hier – wie wir noch öfter bemerken werden – als Urahne von „Stellungskrieg“ und „Transformation“.

Das fünfte Prinzip besagt also, dass die proletarische Revolution nicht siegen kann, wenn nicht die Doppelmacht zwischen bewaffneten, in Räten organisiertem Proletariat und den bürgerlichen Institutionen, auch den sogenannten parlamentarisch-demokratischen, aufgelöst wird. Der entscheidende Akt der sozialistischen Revolution wird immer eine Form der bewaffneten Machtergreifung, der Auflösung der restlichen bürgerlichen Machtorgane und die Etablierung einer Form der Räterepublik sein.

Gramsci und die Räte in der Revolution

Unstreitig sind die Erwartungen der Bolschewiki und ihrer internationalen Verbündeten, dass die Oktoberrevolution nur der Auftakt der Weltrevolution sein werde, nicht in Erfüllung gegangen. Die Frage ist nun, ob das Scheitern der Anwendung der oben genannten Prinzipien „im Westen“ nun tatsächlich etwas mit grundlegend anderen Bedingungen dort, mit Mängeln in diesen Prinzipien oder mit anderen Gründen zu tun hat?

Gegen die Behauptung Schuhlers, Gramsci hätte im Hegemonie-Problem eine grundlegende Schwäche von Lenins Revolutionsprinzipien für Revolutionen in „entwickelten kapitalistischen Ländern“ entdeckt, lässt sich ein interessanter Zeuge anführen: Antonio Gramsci selbst! 1919 und 1920 inmitten der revolutionären ArbeiterInnenkämpfe im Italien des „biennio rosso“ (der „zwei roten Jahre“) hat Gramsci, als ein auf das Engste mit der Turiner Rätebewegung verbundener Kommunist ganz andere Ursachen für das Scheitern der Revolution in Italien benannt.

Wie in vielen anderen kriegführenden Ländern war die Russische Revolution 1917 auch in Italien Ermutigung für Streiks und Aktionen gegen den Krieg. Im August 1917 war Turin in der Hand bewaffneter streikender ArbeiterInnen. Die Erfahrung der brutalen militärischen Niederschlagung der August-Streiks durch die italienische Republik führte dazu, dass die ArbeiterInnen nach dem Waffenstillstand Ende 1918 neue Kampf- und Organisationsformen suchten, sodass in den italienischen Industriezentren Räte gebildet wurden. Die Entstehung von ArbeiterInnenräten während und nach dem Ersten Weltkrieg war ein vielschichtiges Phänomen: Einerseits hatte es simple ökonomische Funktionen in einer von Versorgungskrisen und Stockungen in der Produktion gekennzeichneten Situation. Dazu kamen Räte als Steigerungsform der Klassenauseinandersetzung auf der Grundlage von Streikversammlungen, übergreifenden Komitees und Verteidigungsmaßnahmen gegen staatliche bzw. unternehmerische Zwangsmaßnahmen. Darüber hinaus war die Bildung von Räten ein Ausdruck der Unzulänglichkeit oder Gespaltenheit der bestehenden ArbeiterInnenorganisationen: In den zugespitzten Auseinandersetzungen mit Staat und Kapital bemerkten die ArbeiterInnen „naturwüchsig“, dass sie über die sozialdemokratischen Apparate in Partei, Parlament und Gewerkschaften hinausgehen mussten, dass sie umfassendere Organe für die Vorbereitung, Diskussion und Durchführung ihrer Aktionen brauchten. Räte wurden so zu einem zentralen Instrument proletarischer Gegenöffentlichkeit wie auch zur ideologischen Klärung innerhalb der Klasse.

Antionio Gramsci beschreibt in einem rückblickenden Artikel vom August 1920, wie er mit einer kleinen Gruppe von vier anderen Intellektuellen im April 1919 den Entschluss fasste, mit der „L’Ordine Nuovo“ eine Zeitschrift herauszubringen, die Fragen der „proletarischen Kultur“ und der Entwicklung der Betriebsräte besprechen und kommentieren sollte. Der Kopf der Gruppe, Angelo Tasca (später einer der Führer der rechten Opposition in der PCI) sah die Räte als etwas, das sich letztlich der PSI- und der Gewerkschaftsführung unterordnen, und die Zeitschrift als ein Organ, das der Erziehung der Räte in Richtung Sozialdemokratie dienen sollte. In der Redaktionssitzung der siebten Nummer der Zeitschrift „putschte“ Gramsci zusammen mit Togliatti und Terracini (beide später die zentralen Führungsfiguren der Nachkriegs-PCI), um die „L’Ordine Nuovo“ zum Organ der Räte zu machen:

„… und es geschah, was wir vorausgesehen hatten: Togliatti, Terracini und ich wurden aufgefordert, in Unterrichtsgruppen und Fabrikversammlungen zu sprechen und zu diskutieren, wir wurden von den Betriebsräten eingeladen, im engen Kreis der Vertrauensleute zu diskutieren. Wir machten weiter; das Problem der Entwicklung des Betriebsrats wurde zum Zentralproblem, wurde zur Idee des „L’Ordine Nuovo“; es wurde zum Grundproblem der Arbeiterrevolution erhoben, es war das Problem der proletarischen ‚Freiheit‘. Der „L’Ordine Nuovo“ wurde für uns und alle, die uns folgten, zur ‚Zeitung der Fabrikräte‘; die Arbeiter liebten den „L’Ordine Nuovo“ … und warum liebten sie ihn? Weil sie in den Artikeln der Zeitung einen Teil ihrer selbst wiederfanden, weil sie spürten, dass die Artikel vom Geist ihrer eigenen Suche durchdrungen waren“ (10).

Dieses Zitat gibt gut wieder, wie sehr die Rätebewegung auch ein Formations- und Bildungsprozess war, in dem sich das revolutionäre Bewusstsein genauso wie der revolutionäre Aktionsplan erst gegen die alten Apparate und Vorstellungen herausbilden musste. Doch was war der Inhalt, mit dem der „L’Ordine Nuovo“ in diesen Bildungsprozess intervenierte?

„Wir sind überzeugt, dass nach den revolutionären Erfahrungen in Russland, Deutschland und Ungarn der sozialistische Staat sich nicht in den Institutionen des kapitalistischen Staates verkörpern kann, sondern… in einer grundlegend neuen Schöpfung. Die Institutionen des kapitalistischen Staates sind zum Zweck der freien Konkurrenz organisiert; es genügt nicht, das Personal auszutauschen, um ihm eine andere Richtung zu geben. Der sozialistische Staat ist noch nicht der Kommunismus… er ist vielmehr ein Übergangsstaat, der die Aufgabe hat, mit der Aufhebung des Privateigentums, der Klassen und der nationalen Wirtschaft, die freie Konkurrenz aufzuheben: diese Aufgabe kann die parlamentarische Demokratie nicht lösen. Die Formel ‚Eroberung des Staates‘ muss in dem Sinn verstanden werden: es muss ein Staatstypus geschaffen werden, der aus den Erfahrungen der Vergesellschaftung der proletarischen Klasse hervorgeht und den demokratisch-parlamentarischen Staat ersetzt“ (11). Dies geht also in die Richtung des oben dargestellten Konzepts der bolschewistischen Revolution – auch wenn es noch vage in Bezug auf die Frage der Machtergreifungsstrategie bleibt.

Um so ausführlicher geht Gramsci auf die Frage der Ausgestaltung der Räte ein: „Die Organisation der Fabrikräte beruht auf folgenden Prinzipien: in jeder Fabrik, in jeder Werkstatt wird eine Organisation auf Vertretungsbasis gebildet…, das die Macht des Proletariats verwirklicht, gegen die kapitalistische Ordnung oder die Kontrolle über die Produktion ausübt und die ganze Arbeitermasse für den revolutionären Kampf und für die Gründung des Arbeiterstaates erzieht. … Jeder Betrieb ist in Abteilungen gegliedert und jede Abteilung in Arbeitsgruppen: jede verrichtet einen bestimmten Teil der Arbeit; jede Gruppe wählt einen Arbeiter mit imperativem und begrenztem Mandat. Die Delegiertenversammlungen der ganzen Betriebe bilden einen Rat, der aus seiner Mitte ein Exekutivkomitee wählt. Die Versammlung der politischen Sekretäre der Exekutivkomitees bildet das Zentralkomitee der Räte“ (12).

Gramsci betont den verallgemeinerten, „öffentlichen Charakter“ der Räte gegenüber Arbeiterparteien oder Gewerkschaften, die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen – ArbeiterInnenräte organisieren die gesamte Klasse in ihren umittelbaren Arbeitsstellen. Von der kapitalistischen Ökonomie zu einem entfremdeten Teilglied eines riesenhaften, unüberschaubaren Apparates gemacht, kehrt die auf Räten basierte Kontrolle über die Produktion dieses Verhältnis um: „Indem sie diesen repräsentativen Apparat aufbaut, enteignet die Arbeiterklasse in Wirklichkeit die erste aller Maschinen, das wichtigste Produktionsinstrument: die Arbeiterklasse selbst nämlich, die zu sich selbst gefunden, das Bewusstsein ihrer organischen Einheit erlangt hat und sich geschlossen dem Kapitalismus widersetzt. Die Arbeiterklasse beweist damit, dass der Ausgangspunkt der industriellen Macht wieder die Fabrik sein muss, sie setzt vom Standpunkt des Arbeiters aus erneut die Fabrik als die Form, in der sich die Arbeiterklasse als determinierter, organischer Körper konstituiert, sie macht die Fabrik zur Zelle eines neuen Systems, des Rätesystems. Der Arbeiterstaat, der eine produktive Struktur hat, schafft bereits die Bedingungen für seine weitere Entwicklung, für seine Auflösung als Staat…“ (13).

Hier sind zentrale Fragestellungen der Theorie der Räte zusammengefasst: die bewusste Zusammenfassung der gesamten, bisher zerstückelten ArbeiterInnenschaft; die Neuformung des Produktionsprozesses, der Beziehungen der Produktions-, Verteilungs- und Komsumzentren auf der Basis eines repräsentativen, demokratischen Rätesystems; der Charakter des entstehenden neuen ArbeiterInnenstaates als produktiver Staat, der Staat als „arbeitende Körperschaft“.

Gleichzeitig betont Gramsci den enormen Fortschritt in der Organisation der Massenkämpfe, der durch die Festigung der Räte ermöglicht wird: „Die Tätigkeit der Fabrikräte und der Betriebsräte und ihre Aktionsfähigkeit trat während der Streiks noch mehr hervor; die Streiks verloren ihren impulsiven, zufälligen Charakter und wurden zum Ausdruck der bewussten Aktivität der revolutionären Massen. Die technische Organisation der Fabrikräte und der Betriebsräte und ihre Aktionsfähigkeit war derart perfekt, dass sie innerhalb von fünf Minuten sechstausend ArbeiterInnen, die über zweiundvierzig Abteilungen der Fiat-Werke verteilt sind, ihre Arbeit einstellen lassen konnten. Am 3. Dezember 1919 bewiesen die Fabrikräte greifbar ihre Fähigkeit, Massenbewegungen großen Stils zu leiten: auf Anordnung der sozialistischen Sektion, die den gesamten Mechanismus der Massenbewegung leitete, mobilisierten die Fabrikräte ohne jegliche Vorbereitung innerhalb einer Stunde hunderzwanzigtausend, nach Betrieben aufgeteilt. Eine Stunde später ergoß sich die proletarische Armee wie eine Lawine bis ins Stadtzentrum und fegte die ganze nationalistische und militaristische Kanaille von den Straßen und Plätzen“ (14).

Gramsci war auch klar, dass diese organisatorische Kampfstärke, die sich entwickelnde Doppelmacht, die Machtfrage stellte, die schnell zu beantworten war: „Niemals ist der revolutionäre Enthusiasmus im Proletariat Westeuropas glühender gewesen als heute. Aber es scheint uns, dass im Augenblick das klare Bewusstsein vom Ziel nicht von einem genauso klaren Bewusstsein der Mittel, wie das Ziel zu erreichen ist, begleitet wird. In den Massen hat die Überzeugung Fuß gefasst, dass der proletarische Staat sich im System der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte verkörpert. Jedoch ist noch keine taktische Konzeption entwickelt worden, die die Gründung eines solchen Staates objektiv sichert.. Die Macht des demokratischen Staates und der Kapitalisten ist noch sehr groß“ (15).

Gramsci und die Frage der revolutionären Partei

Sicherlich gibt es bei Gramsci auch in dieser Periode bestimmte, später von seinen EpigonInnen zum System ausgebaute Schwächen oder Unklarheiten: Es gibt eine Tendenz von einer sehr langen Periode der Räte-basierten Doppelmacht auszugehen, in der sich langsam überall in Stadt und Land die Keime des proletarischen Staates herausbilden: eines Doppelstaates, der von KommunistInnen geführt werden muss, die die erreichten Stellungen der ArbeiterInnenklasse gegen die Angriffe der parlamentarischen Irreführung, der pro-kapitalistischen SozialistInnen und GewerkschaftsführerInnen und der bewaffneten Bourgeoisie verteidigen müssen – bis schließlich das Proletariat für den entscheidenden Schlag bereit ist. Man kann beim Gramsci der „L’Ordine Nuovo“ eine Tendenz sehen, die Geschwindigkeit, mit der der Kampf um die Diktatur des Proletariats zu führen ist, zu unterschätzen. Was man aber beim Gramsci dieser Periode klar finden kann, ist, welche Gefahr er für die Revolution in den reformistischen ArbeiterInneninstitutionen, der Führung der SozialistInnen (die PSI befand sich zwar im Beitrittsprozess zur Komintern, war aber in parlamentaristische Rechte, ZentristInnen und einen revolutionären Flügel tief gespalten) und im Gewerkschaftsapparat sah:

„Den Kräften der Arbeiter und Bauern fehlt die Koordinierung und die revolutionäre Konzentration, weil die führenden Organe der Sozialistischen Partei gezeigt haben, dass sie die augenblickliche Phase der nationalen und internationalen Geschichte absolut nicht verstehen und die Mission nicht begreifen, die die Kampforgane des revolutionären Proletariats zu erfüllen haben. Die Sozialistische Partei folgt dem Lauf der Ereignisse als Zuschauerin, … sie gibt keine Losungen aus, die von den Massen aufgegriffen werden, eine allgemeine Richtung bezeichnen und die revolutionäre Aktion zusammenfassen könnten. … Auch nach ihrem Kongress in Bologna [Oktober 1919; endete mit der Niederlage des refomistischen Flügels und dem Beschluss zum Beitritt zur Komintern] ist die Sozialistische Partei eine rein parlamentarische Partei geblieben, die sich starr innerhalb der engen Grenzen der bürgerlichen Demokratie bewegt, die sich nur um die oberflächlichen politischen Bekundungen der Regierungskaste kümmert“ (16).

Trotz des vorgeblichen Siegs des linken Parteiflügels dominierte das Gewicht des parlamentaristischen und gewerkschaftlichen Apparats die Politik der PSI in der Praxis weiter: „Die Polemik mit den Reformisten und Opportunisten wurde nicht einmal aufgegriffen; weder die Parteiführung noch der ,Avanti‘ setzten der unaufhörlichen Propaganda, die die Reformisten und Opportunisten im Parlament und in den gewerkschaftlichen Organisationen betrieben, eine eigene revolutionäre Konzeption entgegen“ (17).

Gramsci analysierte mehrmals in „L’Ordine Nuovo“, dass sich der Reformismus in der ArbeiterInnenklasse sowohl auf gewerkschaftlichem Terrain (durch die Systemimmanenz des bloßen Kampfes um die Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft) als auch auf politischem Gebiet verfestigte, dadurch, dass die Auseinandersetzungen im Rahmen des bürgerlich-parlamentarischen Systems Bezugspunkte und materielle Basis des Parteiapparats wurden. Anders als die „kommunistische Fraktion“ unter Amadeo Bordiga (die „AbstentionistInnen“) lehnten die OrdinistInnen die Beteiligung am Parlament nicht ab. Nicht nur, da das Parlament als wichtige politische Bühne gerade auch in Krisenzeiten genutzt werden müsse, sondern auch, weil Parlamentsfraktion und Gewerkschaftsapparate nicht einfach dem rechten Flügel überlassen werden sollten. Bei aller Konsequenz und Radikalität der BordigistInnen, als Ergebnis gab das „Links-liegen-lassen“der reformistischen Bastionen den Apparaten in den entscheidenden Momenten 1920 die Macht zum Abwürgen der Revolution.

Sowohl im April als auch im September 1920 waren die Turiner Räte Ausgangspunkt mehrtägiger Massenstreiks, die das ganze Land paralysierten. Auch wenn es zunächst um klassische Forderungen wie den 8-Stundentag ging, war klar, dass derartige unbefristete Generalstreiks die Machtfrage stellten. Da die Gewerkschaftsführungen den Streik nicht unterstützten, wich auch die zentristische PSI-Führung um Serrati zurück und rief nicht zum landesweiten Generalstreik auf. Gramsci stellte im Protest dagegen ein 9-Punkte-Programm mit dem Kernpunkt „Alle Macht den Räten“ auf und erklärte der Parteiführung ausdrücklich, dass „entweder die Eroberung der politischen Macht durch das revolutionäre Proletariat folge oder eine furchtbare Reaktion durch die besitzende Klasse“ (womit er leider sehr Recht behalten sollte). Nachdem im September der Militäreinsatz gegen die Turiner Rätebewegung drohte, handelten PSI- und Gewerkschaftsführung. Aber statt die ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren und zu bewaffnen, kungelten sie einen Kompromiss mit der Bourgeoisie aus. Angesichts der drohenden Niederlage waren Kapital und Regierung natürlich bereit, z. B. auf die Forderung des 8-Stundentages (vorübergehend) einzugehen. Doch die Macht, die praktisch auf der Straße gelegen hat, wurde so von der PSI-Führung für billige Reform-Münze verkauft.

Aus diesen historischen Zusammenhängen wird klar, dass, wenn Gramsci später von „Hegemonie“, „vorgeschobenen Bastionen“, „Befestigungen des bürgerlichen Systems“ jenseits des bloßen Staatsapparates spricht, er im Hinblick auf die eigene italienische Erfahrung nicht so sehr das weite Feld von zivilen Institutionen, Presse, Vereinen etc. vor Augen hatte, sondern vielmehr die reformistischen Apparate, die reformistische Ideologie, das rein gewerkschaftliche Bewusstsein etc., das sich auch in Italien als die entscheidende Bastion gegen die Machtergreifung des Proletariats erwies. Denn auch was die bürgerlichen Teile der „Zivilgesellschaft“ in dieser Periode betraf, war Gramsci 1920 sehr klar: „Als politische Kraft reduziert sich der Kapitalismus auf einen Interessenverband der Fabrikbesitzer; er verfügt nicht mehr über eine politische Partei, deren Ideologie auch die kleinbürgerlichen städtischen und ländlichen Schichten ergreift und somit das Weiterleben eines legalen Staates auf breiter Basis erlauben würde… Deshalb neigt die politische Kraft des Kapitalismus dazu, sich immer mehr mit der oberen Militärhierarchie, mit der Gardia Regia, mit den vielen nach dem Waffenstillstand umherschwirrenden Abenteurern zu identifizieren, die, sich untereinander befehdend, der Kornilow oder Bonaparte Italiens werden möchten“ (18).

Auch hier ist keine Rede davon, dass umfangreiche „Hegemonie-Institutionen“ und zivilgesellschaftliche Rückhalte die Kapitalherrschaft sicherten – dies waren vielmehr bewaffnete Teile des Staatsapparates zusammen mit den bewaffneten Horden der Faschisten. Wie Gramsci es richtig vorhergesagt hatte, folgten auf die verpasste Chance des „biennio rosso“ die zwei „schwarzen Jahre“ 1921/22, die mit der Machtergreifung der Faschisten endeten. Das Kapital wurde gerettet durch die Demoralisierung der Arbeiterklasse nach der vertanen revolutionären Chance und die Mobilisierung der kleinbürgerlich-faschistischen Reaktion mit massiver Finanzhilfe durch die Industriellen- und Agrarier-Vereinigungen.

Die Spaltung der PSI, die schließlich 1921 zur Gründung der PCI führte, kam letztlich zu spät. Unter Führung des ultralinken Flügels um Amadeo Bordiga war die PCI auch nicht in der Lage, die Wende von der revolutionären Offensive hin zur Verteidigung gegen die faschistische Gefahr zu vollziehen. Ausgerechnet Bordiga als PCI-Generalsekretär, die Verkörperung der Ablehnung der Einheitsfronttaktik, war natürlich nicht in der Lage, den jetzt notwendigen Schwenk hin zur Einheitsfront mit SozialistInnen, GewerkschafterInnen etc. gegen die faschistische Machtergreifung umzusetzen. Als Gramsci 1923 nach der Verhaftung Bordigas zum Generalsekretär der PCI gewählt wurde und von der Komintern mit dem Mandat zur Umsetzung der Einheitsfronttaktik ausgestattet wurde, fand er unter den Bedingungen der sich festigenden faschistischen Herrschaft keine erfolgreiche Gegenstrategie. Tatsächlich revidierte Gramsci die Einheitsfronttaktik nach rechts, in Richtung Volksfront. Besonders nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti im Juni 1924, die zu einem Auszug der „antifaschistischen“ DemokratInnen (einschließlich Liberaler und KatholikInnen) aus dem Parlament führte, sah Gramsci die Gelegenheit von einer „breiten Opposition“. Gramsci versuchte die folgende schwere innenpolitische Krise für die Bildung eines Gegenparlaments mit den bürgerlichen „AntifaschistInnen“ zu nutzen. Letztlich scheiterte diese Volksfront wie viele danach am unvermeidlichen Verrat der umworbenen bürgerlichen Kräfte, die sich letztlich vor einer Rückkehr der „roten Jahre“ mehr fürchteten als vor der Konsolidierung der Herrschaft Mussolinis. 1926 ließ Mussolini denn auch alle demokratischen Hüllen fallen – mit vielen seiner GenossInnen wurde auch Gramsci verhaftet und jahrelang unter schwerer Kerkerhaft gesundheitlich und psychisch zugrunde gerichtet. Er starb an den Folgen der Haftbedingungen im April 1937.

Gramscis „Gefängnishefte“ – ein Alternativkonzept?

In der Zeit nach 1929 war es Gramsci möglich, einige seiner Gedanken und politischen Reflexionen in einer ungeordneten Folge von Heften aufzuzeichnen. Aus Angst vor Entdeckung und Vernichtung wurden diese „Gefängnishefte“ in eine Fülle von philosophisch-historischen Studien verpackt, wobei offene Bezugnahme auf Marxismus und die kommunistische Bewegung vermieden wurde. So verwendete Gramsci statt „Marxismus“ die Phrase „Philosophie der Praxis“ u. v. m. Trotz vieler Unklarheiten des Zusammenhangs und der tatsächlichen Absichten Gramscis – der natürlich nichts davon mit anderen GenossInnen diskutieren konnte -, wurden diese „Gefängnishefte“ zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für spätere „Neuinterpretationen des Marxismus“ – unter völliger Ausblendung des eigentlichen politischen Wirkens von Gramsci vor 1926.

Für den Kontext der Gefängnishefte ist auch noch ein anderer Faktor entscheidend: die Veränderung der politischen Verhältnisse in der Komintern. Spätestens seit 1923 war die Komintern vom Fraktionskampf und dem Aufstieg des bürokratischen Zentrums unter Stalins Führung geprägt. Einerseits führte dies zu einem wirren Zickzack in den taktisch-strategischen Direktiven der Komintern, andererseits führte die revisionistische Perspektive des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ immer mehr zur Unterordnung der Kominterntaktik unter das Primat des außenpolitischen Nutzens für die Sowjetunion. Bordiga, der in einer kurzen Phase ohne faschistische Haft nochmal als der Vertreter der PCI am fünften Kominternkongress in Moskau 1924 auftrat, war wohl einer der letzten, der Stalin öffentlich und von Angesicht zu Angesicht als einen Verräter an der Sache der proletarischen Revolution bezeichnete. Gramsci rang sich im Namen des Zentralkomitees der PCI 1926 noch einen Brief ab, in dem er zwar auf Seiten der Mehrheit Position ergriff, jedoch zugleich gegen eine Spaltung und für die weitere Integration von Trotzki und den anderen linken Oppositionellen eintrat. Dieser Brief wurde allerdings durch Togliatti in Moskau „nicht zugestellt“ – was zu einem Zerwürfnis zwischen Gramsci und der späteren PCI-Führung unter Togliatti (der ihm als Generalsekretär folgte) führte.

Insbesondere war es wohl die Politik der „3. Periode“, der „Offensivstrategie“ gegen den Faschismus und die Gleichsetzung von Sozialdemokratie und Faschismus in der „Sozialfaschimus“-Theorie, die Gramsci nicht befürwortete. Insbesondere in Italien unter dem faschistischen Regime musste die stalinistische „Offensivstrategie“ zu einer Selbstmordoperation werden, die die mühsam aufgebaute illegale Struktur der Partei zerstörte. Der später immer wieder aus dem Zusammenhang gerissene Teil der Gefängishefte zu „Stellungs- und Bewegungskrieg“ kann nur in diesem Zusammenhang einer vorsichtigen und verklausulierten Stellungnahme zur aktuellen Kominternstrategie gelesen werden. Auch wenn Gramsci hier besonders Trotzki als den Vertreter des „Frontalangriffs“ kritisiert, ist wohl etwas ganz anderes gemeint – möglicherweise konnte Gramsci in der Haft auch gar nichts davon wissen, dass Trotzki zur selben Zeit einer der schärfsten Kritiker der Offensivstrategie und Verteidiger der Arbeitereinheitsfront auch mit den Sozialdemokraten gegen den Faschismus war.

Es wird hierbei auch unterschlagen, dass Gramsci im besagten Abschnitt „Politischer Kampf und militärischer Krieg“ in seine Analogiebetrachtung nicht nur Stellungs- und Bewegungskrieg, sondern auch den Untergrund/Partisanenkrieg mit einbezieht – eine Kriegsform, die insbesondere bei schwer militärisch überlegenem Gegner es ermöglicht, ihm sporadisch an wichtigen Stellen Niederlagen beizufügen, bis ein Übergang zu einer der anderen Kriegsformen möglich wird. Gramscis Hinweis, dass ein verfrühtes Losschlagen dem Gegener im Untergrundkrieg die Positionen und Stärke der eigenen Kräfte verrät, ist eine klare Anspielung auf Auswirkungen der Offensivstrategie auf die illegalisierte PCI im faschistischen Italien.

Bewegungs- und Stellungskrieg bei Gramsci

Tatsächlich findet sich in diesem Abschnitt aber auch der Ansatz einer Revision der bolschewistischen Revolutionstheorie. Das erklärt sich bei Gramsci vornehmlich aus der Demoralisierung durch die Niederlage gegenüber dem Faschismus, der sich insgesamt nach rechts bewegenden Situation in ganz Europa und der deprimierenden Entwicklung der Komintern. Kernpunkt ist die Analogie des Wandels vom Bewegungskrieg zur Dominanz des Stellungskrieges in der Kriegstaktik mit dem angeblich historischen Abschied von der Epoche der „permantenten Revolution“ hin zur Epoche des politischen Stellungskrieges. Im Ersten Weltkrieg bestanden die Frontstellungen nicht einfach aus Schützengräben – die Front war vielmehr ein kilometerweites System von vorgezogenen und nachgelagerten Grabensystemen, mit komplexen Verbindungssystemen, durchzogen von Befestigunganlagen und eigens gesicherten, weit zurückliegenden Artilleriestellungen. Die Eroberung vorgelagerter Schützengräben brachte kaum Geländegewinne und wurde durch Verschiebungen im Gräbensystem schnell wieder aufgefangen. Auf diese Weise bewegte sich auch bei großen Materialschlachten die Front oft nur wenige Meter hin und her.

In Analogie dazu bezeichnet Gramsci „in entwickelten kapitalistischen Staaten“ die bewaffneten Staatsorgane als nur noch „vorgeschobene Stellungen“. Dahinter stehe eine „bürgerliche Gesellschaft“, die rasch neue Verteidigungslinien aufbauen könne und die ersten Anfangserfolge des Proletariats als nutzlose Geländegewinne entlarve: „die Überbauten der bürgerlichen Gesellschaft sind wie das Grabensystem des modernen Krieges. Wie es hier vorkam, dass ein erbitterter Artillerieangriff das ganze gegnerische Verteidigungssystem zerstört zu haben schien, in Wirklichkeit aber nur dessen äußere Oberfläche zertrümmert hatte und im Augenblick des Angriffs und des Vordringens die Angreifer sich einer noch wirksameren Verteidigungslinie gegenübersahen, so geschieht es in der Politik während großer ökonomischer Krisen; durch die Auswirkungen der Krise werden weder die angreifenden Truppen blitzschnell in Raum und Zeit organisiert, und noch weniger machen sie sich einen aggressiven Geist zu eigen; umgekehrt werden die Angegriffenen nicht demoralisiert, noch verlassen sie die Verteidigungslinie, selbst wenn diese völlig zertrümmert ist, noch verlieren sie das Vertrauen in die eigene Kraft und in die eigene Zukunft“ (19). Gramsci fährt fort, dass das letzte Gegenbeispiel eines möglichen politischen Bewegungkrieges die Oktoberrevolution von 1917 war.

Zunächst fällt einmal auf, wie schwach schon die Analogie mit der Militärstrategie selbst ist. Gramsci erwähnt den italienischen General Cadorna als Beispiel einer verfehlten Frontalangriffsstrategie während der „Dominanz des Stellungskrieges“ (Warnung vor dem „politischen Cadornismus“). Tatsächlich war Cadorna ein Opfer der Fixierung auf den Stellungskrieg. In 11 blutigen Isonzoschlachten hatte er mehrere Armeen in sinnlosen Materialschlachten, konzentriert auf wenige Abschnitte dem Kriegsziel Triest gegenüber, im Stellungskrieg verbluten lassen. Nachdem die deutschen und österreichischen Gegner nach Ende des Kriegs im Osten zum Jahresende 1917 mehrere Reservearmeen zur Verfügung hatten, konzentrierten sie diese im Abschnitt zwischen Dolomiten- und Isonzo-Front. Der folgende Durchbruch im Karstgebirge führte zur Umfassung der gesamten befestigten italienischen Front, verwandelte den Stellungskrieg innerhalb eines Tages in einen rasenden Bewegungskrieg und führte zum Untergang der Isonzo-Armeen Cadornas. Die Analogie legt hier eher die taktische Weisheit Lenins nahe, dass die stärkste Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied sein kann. Noch so gut ausgeklügelte Verteidigungssysteme brechen zusammen, sobald der Gegner eben dieses schwächste Glied zum Einsturz gebracht hat. Übrigens bezeichnete Erwin Rommel, der am Durchbruch im Karst als Kompanieoffizier teilgenommen hatte, diese Erfahrung als Grunderkenntnis für die taktische Neuorientierung, wie sie im Zweiten Weltkrieg angewendet wurde – anders als Gramsci annahm, war der Stellungskrieg nicht das letzte Wort des „modernen Krieges“, vielmehr dominierte in den motorisierten und luftwaffenunterstützten Armeen des Zweiten Weltkrieges wiederum der Bewegungkrieg. Während Gramsci annahm, dass in Kriegen mit modernen industrialisierten Tötungsmaschinerien und Massenarmeen der Stellungskrieg die vorherrschende Erscheinung sei, führten Motorisierung und Luftkrieg dazu, dass sich umgekehrt dieser als taktische Ausnahme und zeitweise Atempause im Bewegungkrieg ergab.

Gramsci und der Begriff der Hegemonie

Genauso, wie die von der Entwicklung der Produktivkräfte bedingten Veränderungen in der Kriegsführung keineswegs den Stellungskrieg zur bestimmenden Form des modernen Krieges machen, ist zu hinterfragen, ob Gramscis Ausführungen zu den „Verteidigungsstellungen in entwickelten bürgerlichen Gesellschaften“ eine materielle Grundlage haben. Zentral verwendet Gramsci hierzu bekanntlich den Begriff der „Hegemonie“. Darunter versteht Gramsci in Anlehnung an Marx‘ Ideologiebegriff die Fähigkeit einer Klasse, ihre partikularen Interessen zurücktreten zu lassen hinter eine vorgebliche Vertretung gesellschaftlicher Gesamtinteressen. Hegemonie besteht vornehmlich in der Anerkennung der subalternen Klassen für den behaupteten Anspruch der herrschenden Klasse, die wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Probleme und Fragen lösen zu können. Gramsci bezeichnet diesen Übergang von den Partikularinteressen zum gesamtgesellschaftlichen Anspruch als den Übergang zum Politischen: „[Es] bezeichnet den glatten Übergang von der Basis zur Sphäre des komplexen Überbaus. In dieser Phase werden die aufkommenden Ideologien ‚Partei‘, sie konfrontieren einander und bekämpfen sich, bis eine einzige Partei oder eine Parteienkombination die Vorherrschaft auf dem gesamten gesellschaftlichen Gebiet anstrebt. Diese Partei bestimmt außer der Einzigartigkeit der ökonomischen und politischen Ziele auch die geistige und moralische Einheit, indem sie alle Fragen, um die der Kampf entbrannt ist, nicht auf kooperativer, sondern auf ‚universaler‘ Ebene stellt und begründet dergestalt die Hegemonie einer fundamentalen gesellschaftlichen Klasse über andere untergeordnete Gruppen“ (20).

Hegemonie ist also einerseits durch ökonomische Klasseninteressen mit der gesellschaftlichen Basis verbunden, erhebt sich aber andererseits als universalistischer Anspruch anscheinend über den Klassenwiderspruch, entwickelt ein organisiertes, parteimäßiges System von scheinbar objektiven gesellschaftlichen Mechanismen für „gerechten Ausgleich“ und „Regieren im Sinne der Allgemeinheit“. Insofern bedeutet Gramscis Programm der Entwicklung von „Gegenhegemonie“ nichts anderes, als dass die proletarische Klasse und ihre Partei diese allgemeingesellschaftliche Problemlösungskompetenz der bürgerlichen Institutionen und Parteien erschüttern und das Proletariat sich selbst als die Klasse für die Lösung der zentralen gesellschaftlichen Fragen mehr und mehr durchsetzt.

Auch wenn die positive Darstellung der herrschenden Ideologie als befestigter Glaube der Subalternen an die Lösungskompetenz der Herrschenden für alle gesellschaftlichen Probleme und die so befestigte Einreihung aller in die „Einheit der Gesellschaft oder Nation“ eine Hilfe in der Analyse bestimmter historischer Situationen sein kann, ist wichtig zu sehen, was diese „Ideologiekritik“ nicht enthält: Die positive Darstellung als „Hegemonie“ lehnt sich zwar an Marx‘ Ideologiekritik an, verwendet aber nicht die Charakterisierung als „falsches Bewusstsein“, wie dies Marx in der „Deutschen Ideologie“ entwickelt hat. Was immer der Grund bei Gramsci gewesen sein mag (wie gesagt verwendete er in den „Gefängnisheften“ eine Art Code-Begrifflichkeit) – in der neo-marxistischen und post-modernen Rezeption wurde dieser Verzicht auf die Bezugnahme von „Wahrheit“ und „Falschheit“ geradezu Programm. Denn Marx‘ Begrifflichkeit impliziert natürlich, dass es einen dem verkehrten bürgerlichen Bewusstsein gegenüberstehenden, das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft begreifenden und umstürzenden proletarischen Klassenstandpunkt gibt. Im „Hegemonie“-Begriff werden die grundlegende Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Bewusstseins, seine Unfähigkeit, das Ganze der Gesellschaft zu erfassen, und die Aussichtslosigkeit seiner eigenen humanitär-freiheitlichen Ansprüche nicht deutlich – eine Widersprüchlichkeit, die sich von der wissenschaftlich-ideologischen Ebene bis auf die Ebene der Gesetze und Institutionen durchziehen muss. Damit kann es natürlich auch keine durchgreifende und in jedem Fall krisenfeste „Hegemonie“ geben, sondern nur zeitweise scheinbare Ruhigstellung und Vermittlung der Widersprüche, nur um sie in einer nächsten Entwicklungsphase wieder umso heftiger aufbrechen zu lassen.

Natürlich betont auch Gramsci die Bedeutung von „Hegemonie-Krisen“. Krisen im Kapitalismus, politische Führungskrisen (aufgrund verlorener Kriege oder unerwarteten sozialen Aufruhrs, Aufkommens spontaner Bewegungen) können eine „Autoritätskrise“ bis hin zu revolutionären Situationen ergeben (21). Die modernen bürgerlichen Staaten hätten jedoch, so Gramsci, die Fähigkeit entwickelt, in solchen Krisen rasch die politischen Strukturen und Führungseliten zu wechseln, neue Hegemonie-Insitutionen zu schaffen, in denen die „Revolutionäre“ oder Kritiker als integraler Bestandteil mit eingebaut werden (dies nennt Gramsci „passive Revolutionen“). Da diese Fähigkeit zur Integration für ihn ein wesentliches Moment der Hegemonie darstellt, bringt Gramsci die moderne bürgerliche Herrschaft auf die Kurzformel „Diktatur plus Hegemonie“ (22).

Sicherlich hat das bürgerliche System eine gewaltige Flexibilität in seiner Integrationsfähigkeit für oppositionelle Bewegungen und soziale Proteste entwickelt, ebenso wie es immer wieder gelingt, dass große Teile der Unterdrückten, von neuen bürgerlichen Scheinlösungen getäuscht, die Herrschaft des Kapitals in veränderter Form verteidigen. Trotzdem zeigte ja auch Gramscis eigene Erfahrung im Italien der „roten Jahre“, wie weit eine von der ArbeiterInnenklasse vorangetragene Hegemoniekrise das Problem der proletarischen Revolution auf die Tagesordnung setzen kann und sich die Rätebewegung zu großen Teilen nicht ins bürgerliche Sysem integrieren ließ. Die Verteidigungsstellungen der Bourgeoisie waren zunächst vor allem die alten Arbeiterorganisationen, der rechte Flügel der sozialistischen Partei und die Führung der Gewerkschaften. Natürlich zeigt dies an, wie zentral gerade der Reformismus zu einem integralen Bestandteil und Stablisierungsfaktor nicht nur der bürgerlichen „Hegemonie“, sondern auch der bürgerlichen Diktatur geworden ist. Die Integration der tatsächlichen revolutionären ArbeiterInnenbewegung war dem Kapital offenbar weder möglich, noch war es willens dazu – vielmehr ging es nach dem Verpassen des Moments der Revolution seinerseits zum Frontalangriff über, indem es bürgerliche und kleinbürgerliche Massen um die neuformierte faschistische Form der „Hegemonie der bürgerlichen Klasse“ sammelte. Offensichtlich taugt für diese rasche Aufeinanderfolge von revolutionärem Aufschwung und konterrevolutionärem Gegenschlag weder das Hegemonie/Integrations-Konzept noch dasjenige von der Dominanz des Stellungskrieges.

Bilanz

Es fragt sich auch, was die Konsequenz eines jahrelangen „politischen Stellungkrieges“ für die den „proletarischen Hegemonieanspruch“ verkörpernde kommunistische Partei und die Räte bedeuten soll. Gramsci betont ja mehrmals, dass der Stellungskrieg und seine zermürbende Wirkung eine streng disziplinierte und zentralisierte Organisation mit eisernen Disziplinierungs- und Kaderisierungsmaßnahmen gegenüber der eigenen „Front“ erfordere. Gramsci selbst mag sich hierbei eine konsequent kommunistische Partei, die in diesem oder jenem Gebiet Teilerfolge erringt, aber vornehmlich ihre Größe kontinuierlich steigert, gedacht haben, die eine Art Gegengesellschaft in Teilbereichen errichtet, um irgendwann ihre Hegemonie über die Gesamtgesellschaft herstellen zu können. Als die PCI im Nachkriegsitalien Gramscis Gefängnishefte veröffentlichte, war die Interpretation dagegen ganz klar: im Rahmen eines bürgerlichen Italiens mehr und mehr Positionen in Regionalregierungen zu erobern, bis hin zu Regierungsbeteiligun-gen mit den bürgerlichen Parteien, um so die bürgerliche Gesellschaft graduell in eine sozialistische zu transformieren. Dieser „Gradualismus“ wurde geradezu direkt mithilfe Gramscis führenden Theoretikern der PCI gerechtfertigt (insbesondere von Luciano Gruppi, dem „Chefideologen“ des „Eurokommunismus“). Es ist schon ein Hohn, dass Gramsci, der vor den antirevolutionären Wirkungen einer ArbeiterInnenbürokratie im Prozess der revolutionären Krise gewarnt hatte, letztlich zur Rechtfertigung einer bürokratischen Integration des italienischen Stalinismus in das bürgerliche System dienen sollte. Andererseits ist bereits sein Konzept des „politischen Stellungskrieges“ selbst fragwürdig – denn wer führt hier die „proletarische Stellung“ und was soll diese im politischen Sinn überhaupt darstellen? Die Schlussfolgerung, dass es sich bei der Stellung um einen stalinistischen Parteiapparat mit vielfältigen Vorfeld- und Frontorganisationen handeln könnte und bei den „Erfolgen im Stellungskrieg“ um Institutionen und Posten im bürgerlichen System, liegt eben einfach zu nahe, als dass man Gramsci davon freisprechen kann.

Bleibt letztlich die Frage, ob Gramsci damit recht hat, dass die ökonomisch-politische Krise in entwickelten kapitalistischen Staaten nie so tief sein kann, dass etwas wie der Oktoberumsturz von 1917 noch einmal möglich wäre. Hiermit wird behauptet, dass es in entwickelteren kapitalistischen Staaten, als es Russland 1917 war, Systeme der bürgerlichen Herrschaft gäbe, die in ökonomisch-politischen Krisen weitreichendere Abfangmechanismen bereithalten, als es das Russland des Zarismus bzw. der Kerenski-Regierungen zur Verfügung hatten. Wie schon gezeigt, bleibt Gramscis Analyse in Bezug auf diese angeblichen Mechanismen mit seinem Hegemoniebegriff äußerst vage und unfruchtbar in Bezug auf reale revolutionäre Situationen, in denen sich der Konflikt zwischen Reform oder Revolution historisch offenbar gemacht hat.

Althusser und die neo-marxistische „Entmystifizierung“ der Oktoberrevolution

Eine tatsächliche, wenn auch noch revisionistischere Begründung für diese Stabilität des bürgerlichen Systems und die Einmaligkeit der Oktoberrevolution lieferten erst die „neo-marxistischen“ Nachfolger von Gramsci in den 1960er/70er Jahren. Eine herausragende Rolle dabei spielte – zumindest im methodischen Sinn – Luis Althusser.

Der Artikel „Widerspruch und Überdetermination“ aus der bekannten „Für Marx“-Anthologie kann als Ausgangspunkt für die methodische Wende herangezogen werden, die Althusser dem „Wissenschaftsbegriff“ im Rahmen des Marxismus gab. Kernpunkt dieser Wende ist die Ablehnung oder Neuinterpretation des Marx’schen Diktums, dass die Hegel’sche Dialektik als Schlüssel für gesellschaftliche und historische Analyse „umgestülpt“, „vom Kopf auf die Füße gestellt“ werden müsse. Althusser beharrt dagegen darauf, dass nicht nur der idealistische Inhalt problematisch sei, sondern dass auch die dialektische Methode selbst von idealistischem Zukunftsglauben und vereinfachter historischer Logik, die zu einem „Zielpunkt der Geschichte“ hinführen sollen, durchtränkt sei. Althussers Programm ist daher, die marxistische Gesellschaftsanalyse auf „wissenschaftliche“ Grundlage zu stellen, auf einer Dialektik von Strukturanalysen zu begründen. Ein Muster dafür entwickelt er im Begriff der „Überdetermination“, den er im besagten Artikel an einem Beispiel erläutert: der Oktoberrevolution 1917.

Er beginnt die Analyse mit der Fragestellung, warum die Oktoberrevolution in Russland („ausgerechnet Russland“) möglich war und warum sie dort und nur dort erfolgreich gewesen sei.

In Bezug auf die Möglichkeit der Oktoberrevolution gibt Althusser eine klassische Antwort (gegenüber einem „Theoretiker“ des isw-Flügels der DKP, Conrad Schuhler, der im anfangs zitierten Artikel einen Widerspruch zur Marx’schen Revolutionstheorie sieht, hat der Revisionist Althusser hier eine durchaus klare und korrekte Sicht): „Sie war in Russland aus einem Grund möglich, der weit über Russland hinausging – weil nämlich mit der Entfesselung des imperialistischen Krieges die Menschheit in eine objektiv revolutionäre Situation eingetreten war. Der Imperialismus hatte das ‚friedliche‘ Gesicht des alten Kapitalismus erschüttert. Die Konzentration der Industriemonopole und die Unterwerfung der Industriemonopole unter die Finanzmonopole hatte die Ausbeutung der Arbeiter und der Kolonien gesteigert. Die Konkurrenz der Monople machte den Krieg unvermeidlich. Aber dieser gleiche Krieg, der bis zu den Kolonialvölkern, aus denen man Truppen bezog, ungeheure Massen in seine endlosen Leiden hineinzog, warf sein ungeheures Fußvolk nicht nur in die Massaker, sondern auch in die Geschichte. Das Erlebnis des Krieges sollte in allen Ländern dem langen Protest eines ganzen Jahrhunderts gegen die kapitalistische Ausbeutung als Transportgehilfe und als Enthüllungsmittel dienen; schließlich auch als ein Punkt, an dem sich dieser Protest festmachen konnte, indem er eine ganz überwältigende Evidenz und damit auch wirksame Mittel des Handelns gewonnen hat“ (23).

Warum wurde aus dieser Möglichkeit nur in Russland nachhaltig ein sozialistischer Umsturz (die Versuche in Deutschland und Ungarn scheiterten ja in relativ kurzer Zeit)? Althusser geht aus von Lenins Erklärung, dass Russland das „schwächste Glied“ im Staatensystem des Imperialismus war. Diese Schwäche habe sich aus der „Anhäufung und Zuspitzung aller damals möglichen Widersprüche in einem einzigen Staat“ (24) ergeben. Dies betraf die Verschärfung der weiter bestehenden feudalen Ausbeutung, die zu einer Zuspitzung der ländlichen Revolten führen musste und so, anders als 1905, ArbeiterInnen und Ba(e)uerInnen in eine Front gegen den Zarismus bringen sollte; verschärfte Konflikte durch die rasche Industrialisierung, die zu Erfahrungen harter Klassenkämpfe in allen großen Städten und Industriezentren geführt hatte; scharfe nationale Konflikte durch den inneren und äußeren Kolonialismus im „Völkergefängnis“ des Zarismus; „ein gigantischer Widerspruch“ zwischen dem Grad der Entwicklung kapitalistischer Produktionsmethoden (z. B. Konzentration von ArbeiterInnenmassen wie die 40.000 in den Putilowwerken in Petersburg) und der mittelalterlichen Rückständigkeit auf dem Land; Zuspitzung der politischen Konflikte nicht nur mit der ArbeiterInnenklasse, sondern auch in den herrschenden Klassen selbst (insbesonder auch was die bürgerliche und kleinbürgerliche Opposition gegen den „Despotismus“ betraf). „Dazu traten in den Einzelheiten der Ereignisse noch andere Umstände mit ‚Ausnahmecharakter‘, die ohne diese ‚Überlagerung‘ der inneren und äußeren Widersprüche unverständlich geblieben wären“ (25): Althusser nennt hier den „fortgeschrittenen Charakter der russischen revolutionären Elite“, die sich z. B. vor allem im Exil bildete, „das ganze Erbe der politischen Erfahrung der Arbeiterklassen des westlichen Europas (und vor allem: den Marxismus)“ aufsog – nicht zuletzt mit den Bolschewiki eine Partei entwickelte, „die an Bewusstsein und Organisation alle westlichen ‚sozialistischen‘ Parteien bei weitem übertraf“; die Generalprobe von 1905, die unter anderem das wesentliche Organisationsmoment der Sowjets hervorbrachte; schließlich das Moment der Erschöpfung der alten Mächte im dritten Jahr des verheerenden Krieges, die es den Bolschewiki ermöglichte, ihre Bresche in die Geschichte zu schlagen (die Politik der Alliierten, die den Zaren loswerden, aber mit der „demokratischen Regierung“ den Krieg fortsetzen wollten, ebenso wie die zumindest indirekte Unterstützung des deutschen Generalstabs für die Rückkehr der exilierten Revolutionäre, um gerade dies zu untergraben…).

Daraus schlussfolgert Althusser: „Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus mündete über den Krieg von 1914 in die Russische Revolution, weil Russland in der vor der Menschheit eröffneten revolutionären Periode das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Staaten war: weil es die größte Summe damals möglicher Widersprüche anhäufte; weil es zugleich die am meisten verspätete und die am meisten fortgeschrittene Nation war, ein ungeheurer Widerspruch, den ihre unter sich uneinigen herrschenden Klassen weder umgehen noch auch lösen konnten“ (26).

Dies konfrontiert Althusser nun mit der Revolutionserwartung der SozialdemokratInnen in Deutschland des 19. Jahrhunderts: „Sie glaubten offensichtlich, dass die Geschichte über die andere … Seite fortschreitet, die der größten ökonomischen Entwicklung, der größten Expansion, des auf seinen allerreinsten Aufriss reduzierten Widerspruchs (zwischen Kapital und Arbeit) – wobei sie aber vergaßen, dass sich dies alles im vorliegenden Fall in einem mit einem mächtigen Staatsapparat ausgestatteten Deutschland abspielte, das mit einer Bourgeoisie ausgestattet war, die schon seit geraumer Zeit ‚ihre‘ politische Revolution im Austausch für den polizeilichen, bürokratischen und militärischen Schutz erst Bismarcks, dann Wilhelms, ‚heruntergeschluckt‘ hatte, sowie für die ungeheuren Profite der kapitalistischen und kolonialen Ausbeutung, zudem ausstaffiert mit einem chauvinistischen und reaktionären Kleinbürgertum – wobei sie auch noch vergaßen, dass im vorliegenden Fall dieser so simple Aufriss des Widerspruchs ganz einfach abstrakt war: der wirkliche Widerspruch war so sehr mit diesen ‚Umständen‘ eins geworden, dass er nur durch sie hindurch und in ihnen überhaupt noch zu erkennen, zu identifizieren und zu handhaben war“ (27). Sicherlich ist diese Darstellung der deutschen Vorkriegs-Sozialdemokratie nicht gerecht, was viele ihrer führenden TheoretikerInnen betrifft – dies ist aber an dieser Stelle irrelevant.

Was sicher stimmt, ist, dass über die Frage der Bedingungen und des Charakters der proletarischen Revolution eine sehr unklare Vorstellung herrschte, wie sich speziell an der Staatsfrage zeigt (siehe den Abschnitt zu Kautsky im ersten Teil dieses Artikels). Sicher ist auch richtig, dass es eineTendenz zur mechanischen Ableitung des „Sieges der Revolution“ aus der Entwicklung des ökonomischen Klassenkampfes gab. Die Bemerkung Althussers, dass sich der ökonomische Klassenkampf in entwickelten kapitalistischen Ländern immer mehr mit Elementen der politischen Auseinandersetzungen verschränkt und Klassenkonflikte sich dort in „normalen Zeiten“ kaum in den rein ökonomischen Kämpfen widerspiegeln, ist sicher eine richtige Spitze gegen den Ökonomismus.

Bemerkenswert an dem Abschnitt ist zweierlei:

1) Althusser betont den „Ausnahmecharakter“ der Oktoberrevoluton anhand der genannten Anhäufung von Umständen und kontrastiert diese Umstände mit der ungünstigen Situation der deutschen Sozialisten in Bezug auf die Stärke von Staatsapparat und reaktionären politischen Kräften. Er führt aber dann nicht mehr aus, dass trotzdem nach dem November 1918 in Deutschland eine Situation entstehen konnte, die derjenigen in Russland 1917 an Schärfe in nichts nachstand, auch wenn im Vergleich zu Russland das Militär und der alte Staatsapparat noch weit intakter waren und die Hegemonie der sozialdemokratischen VerräterInnen weit weniger herausgefordert wurde.. In Deutschland entwickelte sich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seines Generalstabs eine der umfassendsten Rätebewegungen dieser von Althusser richtig beschriebenen revolutionären Menscheitsperiode. Die Erschütterung des Machtapparats war derart, dass das kapitalistische Sytem 1918/1919 nur durch die Sozialdemokratie selbst (d. h. ihren rechten Flügel) gerettet werden konnte. Diese Situation war außerdem nicht auf Deutschland beschränkt, sondern entwickelte sich auch in den Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie, in denen entweder Räterepubliken errichtet wurden (Ungarn, Slowakei) oder nur die konterrevolutionäre Politik der Sozialdemokratie die Herrschaft der Bourgeoisie retten konnte (Österreich). Auf Italien haben wir schon weiter oben verwiesen. Selbst in Ländern wie Britannien zeigten sich in der Shop Steward-Bewegung und in der politischen Entwicklung bis zum Generalstreik 1926 massenhaft Formen proletarischer Selbstorganisation. Hinzu kommen die Entwicklungen der Revolutionen in den vom Imperialismus beherrschten Ländern, die auch die Frage der permanenten Revolution auf die Tagesordung stellten (China).

Althusser unterstellt einen „Ausnahmecharakter“ der Russischen Revolution, der von der realen historischen Entwicklung nicht gestützt wird. Wie schon beim späten Gramsci wird die Rolle der ReformistInnen zu einem nebengeordneten „Umstand“, als sei der Verrat der Sozialdemokratie im Westen eine Art objektive Notwendigkeit, ein Element der bürgerlichen Herrschaft wie alle anderen gewesen. Wie bei Gramsci verschwindet auch die subjektive Schwäche der RevolutionärInnen im Westen, rechtzeitig nach dem Vorbild der Bolschewiki eine aktionsfähige Einheit gebildet zu haben, die auf der Grundlage von Herrschaftskrise, Rätebewegung und Doppelmacht ähnlich wie in Russland in die „Bresche der Geschichte“ hätte schlagen können. Unerwähnt bleibt auch, dass Lenins Bemerkung, dass mit Russland „das schwächste Glied im System der imperialistischen Staaten“ gerissen sei, ja auch der Umstand gemeint war, dass diese Revolution natürlich ungeheure Stoßkraft auf alle Klassenkämpfe im Westen hatte – damit ja auch tatsächlich eine Kette internationaler Revolutionen möglich geworden war.

2) Methodisch entwickelt Althusser in der Gegenüberstellung „Anhäufung der Widersprüche“, „abstrakter Glaube an den Widerspruch von Kapital und Arbeit“ allerdings eine prinzipielle Relativierung der Bedeutung des ökonomischen Grundwiderspruchs. Althusser sieht es als das „mystisch-unwissenschaftliche“ Erbe des Hegelianismus, von zentralen, wesentlichen Widersprüchen, die in einem hierarchischen Gefüge zusammenwirken und letztlich von der Bewegungsrichtung der zentralen Widersprüche bestimmt seien und auf deren „Aufhebung“ (auch ein angeblich unwissenschaftliches Konzept) zustreben. Am klarsten: Wenn in der Althusser’schen Analyse die Oktoberrevolution so sehr als „Ausnahme“ erscheint, dann fragt sich: als Ausnahme von was?

„Etwa in Bezug auf eine gewisse ganz abstrakte, aber doch bequeme und beruhigende Vorstellung eines ‚dialektischen‘, bereinigten, einfachen Schemas, das in seiner Einfachheit gewissermaßen die Erinnerung des Hegel’schen Modells bewahrte oder aber einfach dessen Gangart wieder aufnahm – und zwar den Glauben an die lösende ‚Kraft‘ des abstrakten Widerspruchs als solchen. Im vorliegenden Fall ging es um den ‚schönen‘ Widerspruch von KAPITAL und ARBEIT. Ich leugne gewiss nicht, dass die Einfachheit des ‚bereinigten‘ Schemas gewissen subjektiven Notwendigkeiten der Massenmobilisierung entsprechen konnte“ (28).

Vielmehr würde sich in allen konkreten politischen Analysen von Marx und Engels etwas über das dialektische Schema Hinausreichendes finden: „Es zeichnet sich in ihnen ab, dass der Widerspruch Kapital-Arbeit niemals einfach ist, sondern dass er immer durch die Formen und die konkreten historischen Umstände spezifiziert ist, unter denen er wirkt. Spezifiziert durch die Formen des Überbaus (der Staat, die herrschende Ideologie, die Religion, die organisierten politischen Bewegungen etc.); spezifiziert durch die äußere und innere historische Situation,… nationale Vergangenheit (vollzogene oder zurückgenommene bürgerliche Revolution, völlig, teilweise, oder gar nicht beseitigte feudale Ausbeutung, lokale Sitten, spezifische nationale Überlieferungen beziehungsweise ein ‚eigentümlicher Stil‘ der politischen Kämpfe oder Verhaltensweisen etc.) … des jeweils bestehenden globalen Zusammenhangs… Kann das überhaupt etwas anderes bedeuten, als dass der scheinbar einfache Widerspruch immer überdeterminiert ist?“ (29)

Dies bedeutet, dass jede gesellschaftliche Situation jeweils durch ein Geflecht von Strukturen, mit jeweils eigenen Widersprüchen/Konflikten/Bewegungsformen ausgezeichnet ist, die sich jeweils gegenseitig beeinflussen/determinieren. Insofern ist auch der Kapital/Arbeit-Widerspruch bei Althusser seinerseits nur über das Geflecht der anderen Strukturwiderprüche gegeben bzw. selbst bestimmt, tritt nie in einer „reinen Form“ auf, sondern ist immer z. B. mit Widersprüchen in Überbau, Staat, Institutionen verknüpft bzw. äußert sich zugespitzt dort und nur untergeordnet in den unmittelbaren Produktionsstätten. Die Konstellation des Verhältnisses der verschiedenen Strukturen und ihrer Widersprüche führt entweder dazu, dass trotz derselben „Schärfe des Kapital-Arbeit-Widerspruchs“ die gesellschaftliche Entwicklung gehemmt ist oder aber zu einem „revolutionären Bruch“ (ein zentraler Begriff für Althusser) führen kann: „… dass der überdeterminierte Widerspruch überdeterminiert entweder im Sinne eines historischen Hemmnisses sein kann, einer echten Blockierung des Widerspruchs (Beispiel: das wilhelminische Deutschland) oder aber im Sinne des historischen Bruchs (das Russland von 1917)…“ (30).

Umkehrung der Hegel’schen Geschichtsphilosophie im dialektischen Materialismus

In Hegels Geschichtsdialektik muss sich die „sittliche Idee“ durch die Ebene der bürgerlichen Gesellschaft (der interessengeleiteten, ökonomisch handelnden Menschen) hindurchbewegen, um im Staat/Geistesleben zu sich selbst zu kommen – als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“. Die „Idee“ wird zum bewegenden Faktor der Geschichte, indem sie sich in ihren verschiedenen Momenten durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entfaltet, als „Wahrheit“ einer Epoche „erscheint“. Dabei scheitere diese Verwirklichung immer wieder am eigenen Anspruch, das „Sein“ entspricht nicht dem „Begriff“, werde damit zu „unwahrem Sein“. Daher strebe die gesellschaftliche Wirklichkeit über die jeweils erreichte Erscheinungsform, die bestehende staatliche Ordnung hinaus – wenn es sein muss. Sie verwende die „List der Vernunft“ dabei auch die ihr scheinbar widersprechenden gewalttätigen Perioden des Niedergangs. Doch nach jedem Umbruch, in jeder neuen Epoche, seien die bisher erreichten Momente der Idee in der neuen Stufe der Entwicklung aufgehoben, bis am „Ende der Geschichte“ die Idee der Vernunft in ihrer reichen und durch all die vorangegangen Stufen vervollkommneten Form im Zukunftsstaat erscheine.

Um die Wirkungskraft dieser Hegel’schen Fortschrittsmythologie zu demonstrieren, ist es eine gute Veranschaulichung, hier kurz auf den italienischen Neuhegelianer Benedetto Croce einzugehen, dessen historische Studien ein wichtiger Anknüpfungspunkt für Gramsci waren (die Hegemonietheorie entstand in einer Auseinandersetzung Gramscis mit Croces Machiavelli-Studien). Croces geschichtsphilosophisches Hauptwerk ist sicherlich seine „Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert“ (31).

Darin führt er aus, dass mit der Französischen Revolution die „Idee der Freiheit“, die in vielen Jahrhunderten davor im Untergrund der Geschichte heranwuchs, unwiderruflich an die Oberfläche der Geschichte durchgebrochen sei. In allen Ereignissen bis zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, schildert nun Croce, wie bei allen Rückschläge der Drang nach Durchsetzung von Freiheit das nach vorne drängende Moment der europäischen Geschichte gewesen sei. Selbst den Faschismus, der ihn sein Buch unter Hausarrest schreiben ließ (wenn auch nicht unter ebensolch schlimmen Bedingungen wie denen des von ihm geschätzte Gramsci), sah Croce als einen extremen „Ausreißer“, der letztlich in einer Art „List der Vernunft“ die Völker Europas zur Besinnung bringen würde, so dass sie nach dem Zeitalter der Extreme unweigerlich eine Form der demokratischen und liberalen Vereinigung Europas anstreben würden. Nachdem die Entwicklung dann nach der Niederschrift seines Werkes in Europa unmittelbar doch „etwas“ anders verlief, schrieb Croce im Nachwort von 1947: „Für den Verfasser wie für andere Männer seiner Generation ist es gewiss schmerzhaft, dass der Lauf der Geschichte nach 1931 andere Wege eingeschlagen und dass keine Wiederentdeckung des Freiheitsideals stattgefunden hat. Einigen Trost kann man jedoch aus den Worten Hegels gewinnen: dass die Idee keine Eile hat“ (32).

Althussers Punkt ist, dass die übliche, vereinfachte Form der materialistischen Uminterpretation der Hegel’schen Geschichtsphilosophie, in der statt der Idee nunmehr die Entwicklung der Produktivkräfte im Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen und der darauf beruhende Klassenkampf zum Motor der Geschichte würden, nichts anderes als eine neu eingekleidete Heilserwartung à la Hegel sei. In „materialistischer Paraphrase“ von Croce könnte man sagen: Mit der Oktoberrevolution ist die Periode der Weltrevolution, das letzte Gefecht gegen das todgeweihte kapitalistische System auf die Bühne getreten. Es mag diese oder jene Rückschläge geben, aber der Sieg der Weltrevolution ist nun nicht mehr aufzuhalten. Tausende Militante gingen beruhigt in den Tod, mit der Gewissheit, dass die Weltrevolution auf dem Marsch ist…

Althussers „wissenschaftliche Alternative“

Was ist nun Althussers „wissenschaftliche Alternative“ zu dieser angeblich materialistisch verkleideten „Heilslehre“?

Bekanntlich verlegt die marxistische Gesellschaftsanalyse die geschichtlich vorantreibenden Widersprüche nicht einfach (was eine einfache „Umstülpung“ Hegels wäre) von der politischen Bühne des Staates auf „die Gesellschaft“. Die unhistorische Auffassung Hegels von der „bürgerlichen Gesellschaft“ als eine durch den „ökonomisch handelnden Menschen“ geschaffene Welt der Interaktion zwischen egoistischen Individuen abstrahiert eben gerade von den zentralen materiellen Bedingungen der handelnden Menschen. Die „Idee der Freiheit“ kann nicht verwirklicht werden, wenn der Großteil der Gesellschaft die Bedingungen ihrer Verwirklichung nicht kontrollieren kann und vor allem um seinen Anteil an der Verteilung auch der grundlegend zum Überleben benötigten Güter erstmal kämpfen muss. In der marxistischen Gesellschaftsanalyse wird Hegels „bürgerliche Gesellschaft“ durch die jeweils herrschende Produktionsweise ersetzt.

Hier beginnt Althusser nun eine neue Terminologie einzuführen: Die mit der Produktionsweise gegebenen Eigentumsverhältnisse als Produktionsverhältnisse bestimmen laut Althusser eine ökonomische Struktur, der auf einer anderen Ebene, der Ebene des sozialen Handelns, Klassenverhältnisse entsprechen. Der Staat wiederum wird auf der Ebene des politischen Handelns angesiedelt, im Zusammenhang mit der Sicherung bestehender Klassenherrschaft. Wichtig ist hier, dass Althusser nicht nur wie Marx die Relationsglieder in den gesellschaftlichen Bestimmungsverhältnissen gegenüber der Hegel’schen Dialektik ändert, er ändert auch das, was „Bestimmung“ bzw. „Determination“ bedeuten. Was „unwissenschaftlich“ bei Hegel sei, soll das einfache, hierarchische Determinationsverhältnis sein: Die ökonomischen, sozialen, politischen, ideologischen Strukturen müssten vielmehr jeweils zunächst einzeln betrachtet, um dann in ihrer wechselseitigen Beeinflussung erfasst zu werden.

Die einfache Bestimmung des staatlichen Überbaus durch die ökonomische Basis wird bei Althusser zu einer „letztlichen Bestimmung“, die aber auch in umgekehrte Richtung wirkt. Dazu kommt, dass es in einer konkreten Gesellschaft jeweils zur Verschränkung verschiedener Strukturen auch auf denselben Ebenen kommt: Z.B. mögen neben der dominierenden kapitalistischen Produktionsweise Reste der feudalen noch eine gewichtige Rolle spielen, eine Gesellschaftsformation umfasse viele Produktionsweisen und Klassenverhältnisse, es wirkten vormoderne Ideologien nach, auf politischer Ebene könne die Feudalaristokratie weiterhin zentrale Positionen im Staatsapparat besetzen usw. usf. Insofern bestimmt laut Althusser der Kapital-Lohnarbeits-Widerspruch nur „im Letzten“ die historische Tendenz. Tatsächlich würde sie jedoch überdeterminiert durch das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen, zum Teil sehr widersprüchlichen Teilstrukturen, aus denen sich in nicht-harmonischer Weise das Gesellschaftsganze zusammensetze.

Nicht durch den „Basiswiderspruch“, sondern auch durch die Widersprüche und Differenzen in der Gesamtheit der für die Situation wesentlichen Strukturen ergebe sich die Möglichkeit des „revolutionären Bruchs“. Das bedeutet das Auftreten einer Situation, in der eine revolutionäre Praxis auf allen Ebenen (der Ökonomie, der Politik, der sozialen Verhältnisse, der Ideologie…)von der Umwälzung der Produktionsweise ausgehend die Gesellschaft auf eine neue Grundlage stellen kann. Wie schon bei seiner Analyse der Oktoberrevolution ist dabei auch die revolutionäre Praxis selbst, hier in Gestalt der bolschewistischen Partei, ein Resultat einer „besonderen“ Entwicklung, ein weiteres hinzukommendes (kontingentes) Strukturelement. Auch der „subjektive Faktor“ wird bei Althusser zu einem Moment der objektiven Überdetermination.

Im Zusammenhang mit der Revolutionstheorie kommt dazu, dass Althusser davon ausgeht, dass sich, je mehr sich der Kapitalismus entwickelt, sich die Widersprüche und Auseinandersetzungen von der unmittelbaren ökonomischen Ebene umso mehr auf die von Politik und Überbau verlagern. In diesem Zusamenhang behauptet er (33), dass in der marxistischen Gesellschaftsanalyse die Analyse der Wirkungen des Überbaus und vor allem seiner Rückwirkung auf die ökonomischen Widersprüche unterbelichtet sei. Als rühmliche Ausnahme bezieht er sich auf Gramsci, der mit dem Begriff der Hegemonie „ein bemerkenswertes Beispiel für die Skizze einer theoretischen Lösung des Problems der wechselseitigen Durchdringung der Ökonomie und der Politik“ (34) aufgezeigt habe.

Mit seiner späteren „Theorie der ideologischen Staatsapparate“ begründete Althusser denn auch, warum die Subjektbildung im entwickelten Kapitalismus immer nur im Rahmen der beschriebenen überdeterminierten Widersprüche erfolge, eine selbstbestimmte Subjektivität nur selbst wieder ideologische Konstruktion sein könne. Im entwickelten Kapitalismus könne es nur in außergewöhnlichen Situationen von Brüchen zwischen diesen Strukturen dazu kommen, dass revolutionäre Praxis in jeweils ganz besonderer gesellschaftsspezifischer Form in jeweils zu analysierenden besonderen Kräften auf die Bühne tritt – ein allgemeines Modell wie die Errichtung der proletarischen Diktatur auf der Basis von Räteherrschaft à la Oktoberrevolution gebe es dann natürlich nicht.

Althussers „Austreibung von Hegel“ aus dem dialektischen Materialismus endet also eigentlich bei Kant: Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei nur in Teilstrukturen erkennbar. Dahinterstehende, übergreifende Tendenzen zu ergründen wäre „unwissenschaftlich“, ein allgemeines Subjekt der Geschichte gebe es nicht, sondern in Ereignissen des revolutionären Bruchs, die aufgrund der kontingenten Anhäufung einer Vielzahl von Strukturproblemen möglich würden, seien jeweils spezifische soziale und politische Kräfte zu revolutionärer Praxis fähig.

Es ist hier nicht der Platz, eine ausführlichere Kritik dieser strukturalistischen Revision des dialektischen Materialismus auszuführen. Es sollen hier die wichtigsten Kritikpunkte, wie sie für das Verständnis einer auf die Oktoberrevolution bezogenen marxistischen Revolutionsauffassung zentral sind, angeführt werden:

  • Indem Althusser den „Widerspruch“ aus dem Kernbereich der Ökonomie in Gegensätze der verschiedenen Teilsysteme einer Gesellschaftsformation verlegt, die sich zum Widerspruch verschärfen können, verkennt er die grundlegende Dynamik des in den Grundlagen des Kapitals selbst angelegten Widerspruchs. Im Nachwort zur zweiten Auflage von „Das Kapital“, in dem Marx seinen Bezug auf die Hegel’sche Dialektik begründet, betont Marx gerade, dass sich „die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft“ am schlagendsten in der Tendenz zur verallgemeinerten Krise zeige (35). Diese Tendenz sei die konkrete Form der Revolte der sich im Kapitalismus entwickelnden Produktivkräfte gegen die Fesseln der bürgerlichen Produktionsverhältnisse. Damit ist allerdings ein umfassender Rahmen gegeben, der alle Teilwidersprüche – unmittelbare ökonomische Klassenkämpfe, politische und soziale Auseinandersetzungen im Inneren und Äußeren, ideologische und institutionelle Erschütterungen etc. – zu einer „Totalität“ verbindet. Eine fundamentale Krisenperiode, wie sie der Oktoberrevolution vorausgegangen ist, ist keine „Einmaligkeit“ mit ganz „besonderer historischer Spezifik“. Krisenperioden, in denen von der Ökonomie bis zu den politischen und ideologischen Strukturen alles Bestehende grundsätzlich in Frage gestellt ist, sind für die bürgerliche Gesellschaft vielmehr notwendig wiederkehrende Bedrohung.
  • Die Behauptung, eine von den ökonomischen Grundwidersprüchen ausgehende allgemeine historische Dynamik anzunehmen, sei bloßer Hegel’scher „Geschichtsmystizimus“, verkennt, dass der dialektische Materialismus gerade die revolutionäre, subjektive Seite der Hegel’schen Dialektik in seinem System aufgehoben hat: Das Scheitern der Ideen und Ansprüche (z. B. des Freiheitsideals) an der Wirklichkeit führt gerade zur Frage eines Subjekts, eines Standpunktes, von dem aus dieses Scheitern nicht nur verstanden, sondern auch überwunden werden kann. Die materialistische Geschichtsauffassung gipfelt gerade darin, dass die objektiven historischen Voraussetzungen für einen solchen Standpunkt mit der Entwicklung der entscheidendsten Produktivkraft im Kapitalismus gegeben sind: im Klassenstandpunkt des Proletariats. Dies ist kein „Geschichtsmystizismus“, sondern darin begründet, dass mit dem Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte eine Klasse die Herrschaft erobern kann, die die Grundlagen aller gesellschaftlichen Praxis selbst produziert und somit deren selbstbestimmte Gestaltung bewusst angehen kann.
  • Kern der materialistischen Umkehrung Hegels ist nicht wie bei Althusser eine neuerliche Trennung von Theorie und Praxis, eine bei Althusser wiederum vollzogene bloß betrachtende, analysierende Gesellschaftskritik. Die Alternative ist nicht, dass ein mystischer „Geist der Weltrevolution“ die Geschichte antreibe, sondern dass das Proletariat als revolutionäre Klasse tatsächlich zum bewussten Subjekt des geschichtlichen Handelns werden kann. Das ist die revolutionäre Praxis, in der sich der Klassenstandpunkt des Proletariats verwirklichen kann. D. h., das Proletariat ist nicht mehr nur Resultat verschiedenster objektiver Prägungen, ist nicht nur Resultat seiner ihm selbst entfremdeten Produkte seiner Arbeit, sondern zugleich in der Lage, eine Gesellschaft hervorzubringen, in der es seine Zwecke selbst bestimmen und die Folgen seiner Entscheidungen auch vorhersehen kann. In seiner revolutionären Praxis drückt sich daher das Verständnis sowohl der Grundlagen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft, der notwendigen Handlungen zu ihrer Überwindung als auch die Möglichkeit einer selbstbestimmten sozialistischen Gesellschaft aus.
  • Die Behauptung, der Kapitalismus in entwickelten kapitalistischen Ländern würde Hegemonie-Mechanismen entwickeln, die ihn widerstandsfähig gegen allgemeine Krisenperioden und fähig zur Integration aller Oppositionskräfte machen würden, ist nicht nur eine Revision der marxistischen Krisentheorie. Sie verkennt auch die Bedeutung des subjektiven Faktors: Ob das Proletariat tatsächlich in der Lage ist, die von seinem Klassenstandunkt aus mögliche revolutionäre Praxis erfolgreich umzusetzen, hängt davon ab, ob es in der Lage ist, tatsächlich in der Praxis die Frage von „Staat und Revolution“ zu lösen, also die Krise für die Umwälzung der Produktionsverhältnisse, die Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht, die Durchsetzung der eigenen politischen Hegemonie gegenüber den Integrations- und Repressionsmöglichkeiten der Bourgeoisie zu nutzen. Gerade die Frage, warum die Ausdehnung der Revolution über Russland hinaus nach 1917 nicht gelang, zeigt eher nicht, dass es sich hier um eine Frage von „Bewegungs- oder Stellungskrieg“ handelte – sondern vor allem um eine Frage der Entwicklung des subjektiven Faktors, der revolutionären Praxis und Führung der ArbeiterInnenbewegung in Westeuropa.

Poulantzas als der Anti-Lenin – Transformation als „dritter Weg“

Die „Transformationstheorie“ sucht heute einen „dritten Weg“ zwischen Reform und Revolution. Nachdem unter Berufung auf Gramsci behauptet wird, dass die „Bewegungskriegstaktik“ der Oktoberrevolution für die entwickelten kapitalistischen Länder mit ihren komplexen Zivilgesellschaften und der durchgreifenden bürgerlichen Hegemonie nicht geeignet sei, wird als eine Taktik des Stellungskrieges die langwierige „Transformation“ des Kapitalismus vorgeschlagen, die durch immer radikalere Reformen und Aufbau von „Gegen-Hegemonie“ irgendwann in eine sozialistische Demokratie umschlagen werde.

Die theoretische Gründungsfigur dieses Transformationskonzeptes ist sicherlich Nicos Poulantzas, der auch explizit die VordenkerInnen in Linkspartei und DKP von Demirovic, Candeias bis Mayer und Schuhler methodisch geprägt hat.

Tatsächlich läßt sich Poulantzas‘ „Staatstheorie“ geradezu als Anti-Buch zu Lenins „Staat und Revolution“ lesen.

Poulantzas‘ Analyse des Staates im Kapitalismus steht in der Tradition der „Verwissenschaftlichung“ und „Entmystifizierung“ des Marxismus, wie sie hier schon am Beispiel von Althusser dargestellt wurde. So lehnt Poulantzas die „historisierende“ Herleitung des Staates aus der Entstehung von Klassengesellschaften und der daraus folgenden Notwendigkeit der politischen Absicherung von Klassenherrschaft ab. Die Reduktion des Staates auf dessen Klassen-Herrschaftsfunktion, die sich um den Kern des Gewaltapparates gruppiert, wie sie der „traditionelle Marxismus“ lehre, verkenne die verschiedenen Staatsfunktionen und die komplexe Überlagerung verschiedener Strukturen, die den Staat ausmachten. Der Staat basiere zwar auf den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, habe aber unterschiedliche materielle Apparate und geistige Potenzen, die sich in jeweils besonderer Weise mit diesen Produktionsverhältnissen verbänden. So erklärt Poulantzas etwa, dass sich aus der verstärkten Trennung von Hand- und Kopfarbeit im Kapitalismus ergebe, dass sich immer mehr Funktionen der Wissenschaftsproduktion, -vermittlung, der intellektuellen Verarbeitung, der Informations- und Analysefunktionen etc. in den öffentlichen Raum verschöben und daher in staatliche oder halbstaatliche Apparate hineinwüchsen. Genauso würden immer mehr Bereiche des unmittelbaren Alltagslebens, auch durch Institutionalisierung von z. B. kommunalen oder regionalen Konfliktlösungsprozeduren, vom Mitwirken im Staat durchzogen. Dazu komme im entwickelten, immer mehr der Krisenbewältigung dienenden Staat eine größer werdende unmittelbare ökonomische Funktion des Staates, ob in staatlichen Industrien oder im Finanzbereich.

Alle diese Faktoren (Poulantzas entwickelt natürlich noch viel mehr) sollen zeigen, dass der Repressionskern des Staates bloß einer unter vielen Strukturelementen ist. Wie auch schon bei Althusser kommt dazu, dass der Staat selbst auch wieder zu einem Moment der Bestimmung der Basis, also der Produktionsverältnisse selbst werde: „Der Staat spielt also eine entscheidende Rolle in den Produktionsverhältnissen und im Klassenkampf, insofern er von Anfang an in ihrer Konstitution und Reproduktion präsent ist“ (36).

Die Betonung der „konstitutiven Rolle“ des Staates für die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse wie auch für die Mechanismen der Austragung von Klassenkämpfen bedeuten, dass die ökonomischen Machtverhältnisse und Konfliktaustragungen im Kapitalismus immer einen bestimmten staatlichen Rahmen voraussetzten, der mit dieser Rahmensetzung zugleich sowohl das Bestehen als auch die systemkonforme Transformation dieser Verhältnisse garantiere. Poulantzas lehnt daher das „übliche marxistische“ Vorgehen ab, den Staat und die „eigentliche dahinter stehende Macht“ zu trennen. Der Staat sei kein reines „Instrument“, sondern in seiner Verschränkung mit dem Prozess der Kapitalreproduktion zugleich eine der Materialisierungen von „Macht“ im Kapitalismus: „Jede Macht … existiert nur in materiellen Apparaten… Diese Apparate sind nicht einfach Anhängsel der Macht, sondern beeinflussen sie in konstitutiver Weise: Der Staat selbst spielt eine organische Rolle in der Machtbeziehung von Klassen“ (37). Hier kommen wir also bei der Umkehrung von Engels‘ materialistischer Herleitung der Entfremdung staatlicher Machtstrukturen aus Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen an: Die immer komplexere Entwicklung von staatlichen Strukturen und die sich in ihnen ausdrückenden Konflikte würden zur Grundlage der Entwicklung von Klassenherrschaft.

Insofern wird auch klar, dass Poulantzas die Strategie der Zerschlagung des Staates (des Kapitals) und seine Ersetzung durch eine neue Form von rätedemokratischem Halbstaat nicht teilen kann: „Die Analyse und die Praxis von Lenin durchzieht eine prizipielle Linie: Der Staat muss en bloc durch einen frontalen Kampf in einer Situation der Doppelmacht zerstört, und durch eine zweite Macht, die Sowjets, ersetzt werden, deren Herrschaft kein Staat im eigentlichen Sinn mehr wäre, weil er bereits ein absterbender Staat sei“ (38). Dabei „reduziere“ Lenin den Staat in der Gleichsetzung von repräsentativer Demokratie und Macht des Kapitals auf die „Diktatur der Bourgeoisie“. Dagegen behauptet Poulantzas: „Der kapitalistische Staat wird dabei als bloßes Objekt oder Instrument betrachtet, das von der Bourgeoisie, deren Produkt er ist, nach Belieben manipuliert werden kann – man gesteht ihm keine inneren Widersprüche zu. Ebenso wenig wie die Kämpfe der Volksmassen in ihrer Opposition gegenüber der Bourgeoisie einer der Faktoren der Konstitution dieses Staates sein könnten (z. B. im Fall der Durchsetzung repräsentativer Demokratie), könnten sie den Staat selbst durchziehen, der als monolithischer Block ohne Risse begriffen wird. Die Klassenwidersprüche liegen zwischen dem Staat und den dem Staat von außen gegenüberstehenden Volksmassen – bis zu jenem Krisenpunkt der Doppelherrschaft, jenem Moment, in dem der Staat de facto durch die Zentralisierung von Paralellmächten, die zur realen Macht werden (die Sowjets), vernichtet worden ist“ (39).

Konsequenzen der Revision

Hier wird kristallklar, wohin die Revision der marxistischen Staatstheorie und die strukturalistische Widerspruchstheorie führen: Statt die gesellschaftlichen Widersprüche als Grundlage des Klassenstaates zu verstehen und den Klassenstaat im Kern als ein durch alle Klassenherrschaften hindurch immer mehr verfeinertes Herrschaftsinstrument zu sehen, wird der Staat selbst zu einem aus vielen, in Widersprüchen miteinander stehenden Strukturen, die konstitutiv für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte sind. Damit lässt sich der Staat, der alle gesellschaftlichen Ebenen durchzieht und wesentlicher Bestandteil der erreichten gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist, für Poulantzas auch nicht einfach durch etwas ganz Neues ersetzen. Der Versuch, die erreichte staatlich vermittelte Vergesellschaftung durch Sowjets zu ersetzen, müsse in der mangelhaften Widerspiegelung der gesellschaftlichen Komplexität und der damit verbundenen Auseinandersetzungen enden – womit die Basisdemokratie dann zwangsläufig durch autoritären Etatismus überholt werden müsse, da ja repräsentative Demokratie zerschlagen wird. Poulantzas nimmt Luxemburgs Kritik an der Zerschlagung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki wieder auf: Da die Sowjets nicht wirklich zur sozialistischen Transformation in der Lage gewesen wären, hätten Elemente der repräsentativen Demokratie die daraus notwendig gewordene Rückkehr zu administrativer Staatlichkeit ergänzen müssen.

Hier sind zwei wesentliche Revisionen des Leninismus enthalten: Erstens wird davon ausgegangen, dass „komplexe, entwickelte kapitalistische Staaten“ gar nicht wirklich durch Räteherrschaft in eine neue Staats-Funktionsweise umgewandelt werden können. Es wird entsprechend behauptet, Ziel sei weniger die tatsächliche Hervorbringung des proletarischen Rätehalbstaates, als vielmehr die Machteroberung im Staat selbst: „Es geht im Grunde gar nicht um eine Transformation des Staatsapparates: Zuerst ergreift man die Staatsmacht, sodann stellt man eine andere Macht an ihre Stelle“ (40).

Zweitens wird damit das Verhältnis von „Umwandlung des Staatsapparates“ und Machteroberung umgekehrt: Poulantzas spricht von einem „langen Prozess“ der Veränderung der Klassenverhältnisse innerhalb des Staates, der „eine gleichzeitige Transformation seiner Apparate“ umfasse: „Die radikale Transformation des Staatsapparates auf einem demokratischen Weg zum Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man traditionellerweise als ‚Zerschlagung‘ oder ‚Zerstören‘ dieses Apparates bezeichnet“ (41). Denn dies würde eine vorschnelle Beseitigung von Mechanismen wie z. B. der repräsentativen Demokratie bewirken, die jedoch für die Umgestaltung noch wesentlich seien. Andererseits müssten immer mehr Elemente des entfremdeten Parlamentarismus durch unmittelbare Beteiligung der Massen und basisdemokratische Strukturen ersetzt werden. Man müsse also noch im Rahmen der Kapitalherrschaft mit der Perspektive der Vergesellschaftung und des Absterbens des Staates beginnen.

Poulantzas ist sich dabei durchaus bewusst, dass die Vermeidung der Machtfrage die Gefahr des Reformismus bzw. der raschen Repression und Vernichtung aller „Transformationen“ durch die gegnerischen Klassenkräfte in sich birgt. Im Unterschied zu anderen „TransformationistInnen“ sieht Poulantzas daher die Veränderungen im Repressivapparat selbst als zentrales Element der „Bildung von Widerstandszentren im Staatsapparat“ an (und im Mangel davon den Grund des Scheiterns der Volksfront in Chile 1974).

Letztlich werde die „radikale Transformation“ zu einem langwierigen Prozess der „Kräfteverschiebung“ im Zwischenraum Staat-Klassenkämpfe, der über verschiedene „Linksregierungen“ durch viele Rückschläge hindurch zu einer immer breiteren Verankerung für die sozialistische Umgestaltung führe. Dies setzt Poulantzas der „Strategie der Ergreifung der Staatsmacht“ entgegen, die angesichts der fehlenden Umwandlung der gesellschaftlichen Strukturen nur entweder im sozialdemokratischen Reformismus oder im stalinistischen Etatismus enden könne. Bei der kontinuierlichen Transformation handle es sich dabei nicht um eine Anhäufung von Reformen, sondern um Reformen, die über das System hinausgingen.

„Das innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung ‚effektiver Brüche‘, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig ein solcher Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt“ (42).

Dies sei dann der Punkt, an dem tatsächlich Organe der proletarischen Selbstorganisation den alten Staat durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen – wobei Poulantzas nicht davon ausgeht, dass dieser Prozess „friedlich“ abläuft: „Es wäre falsch… aus der Präsenz der Volksklassen im Staat zu schließen, dass sie ohne eine radikale Transformation dieses Staates dort Macht besitzen oder auf lange Sicht behalten können. Die internen Widersprüche des Staates implizieren kein ‚widersprüchliches Wesen’…. nicht… eine Situation von Doppelherrschaft in seinem Inneren …. Selbst wenn sich das Kräfteverhältnis und die Staatsmacht zugunsten der Volksklassen verändern sollten, tendiert der Staat mehr oder weniger langristig dahin, das Kräfteverhältnis, manchmal in anderer Form, zugunsten der Bourgeoisie wiederherzustellen“ (43). Somit sieht Poulantzas die Aktionen und Reformen innerhalb des Staates nur als „hinreichende Bedingung“ der Transformation, die Selbstorganisation und Entwicklung rätedemokratischer Alternativen als notwendige Bedingung, die wohl oder übel an einem Punkt in gewaltsamen Konflikt mit den herrschaftssichernden Mechanismen des bestehenden Staates kommen würden: „Der Prozess bietet auch dem Gegner mehr Möglichkeiten, entweder das Experiment des demokratischen Sozialismus zu boykottieren oder aber brutal zu intervenieren, um ihm ein Ende zu setzen. Der demokratische Weg zum Sozialismus wird sicherlich kein friedlicher Weg sein“ (44).

In Verteidigung des Modells Oktoberrevolution

Wie leicht zu sehen ist, greift Poulantzas in neuem theoretischen Begründungszusammenhang die alten Diskussionen um die Fragen von Räteherrschaft, repräsentativer Demokratie und Diktatur des Proletariats wieder auf, wie sie angesichts der Oktoberrevolution innerhalb der Tradition der Zweiten Internationale geführt wurden: Natürlich erinnert die „Transformationsstrategie“ an Kautskys Vorstellung in „Der Weg zur Macht“, wo er die Koexistenz von Rätestrukturen und einer weiterhin parlamentarisch bestimmten Regierung, die langsame Umformung des Staatsapparates bis zum Umschlag der Kräfteverhältnisse skizziert. Erst dann könnten die unmittelbare Herrschaft des Proletariats und das Absterben des Staates beginnen. Auch hier war Kautsky nur Theoretiker einer vielfältigen, in verschiedenen Fraktionen der Rätebewegung vorherrschenden Vorstellung von einer langfristigen Transformationsperiode, in der die Rätebewegung mit fortbestehendem Kapitalismus und mit bloßer Kontrolle über fortbestehende Administrationen des alten Staatsapparates voranschreiten könne.

Die Problematik der Poulantzas’schen Theorie liegt nicht nur in einer undialektischen Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen des Staates, die nicht erkennt, dass die zugrundeliegende gesellschaftliche Dynamik des Kapitalwiderspruchs eine wesentliche Machtverschiebung und Transformation innerhalb des bestehenden Staatsapparates natürlich nicht zulässt und jegliche solche Ansätze in kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehren muss. Sie verkennt auch die Frage des Subjekts der „Transformation“, die weitgehend als objektiver Prozess einer parallelen Reformpolitik und spontaner Selbstorganisation angesehen wird. Die Frage, wie schon dargestellt, ist aber: Mit welchem Bewusstsein, mit welchem Verständnis des Prozesses und seiner Zielsetzung wird dies von den beteiligten Massen vorangetrieben? Wie am Beispiel der Novemberrevolution oder der italienischen Rätebewegung dargestellt, war selbst das Bewusstsein der fortgeschrittensten ArbeiterInnen bzw. von subjektiv gutwilligen RevolutionärInnen der politisch agierenden ArbeiterInnenorganisationen weit entfernt von Klarheit über die Notwendigkeiten des Moments der gesellschaftlichen Zuspitzung, und das bedeutet in der Konsequenz den sicheren Weg in die Niederlage.

Das weiterhin von den kapitalistischen Zuständen geformte Bewusstsein der Unterdrückten, die Herrschaftsinstrumente zu dessen Befestigung, letztlich die Entschlossenheit der Bourgeoisie, „stabile Verhältnisse“ so schnell wie möglich wiederherzustellen, geben dem Proletariat ohne Machteroberung keine „lange Periode“, in der es langsam selbstorganisierte Vergesellschaftung, Entwicklung von Produktionskontrolle etc. ausprobieren und dabei dann langsam sich auch in Denken und Handeln von der kapitalistischen Prägung befreien könnte. Weitaus mehr und öfter als die „Strategie der Machteroberung“ zur Ermöglichung von Räteherrschaft hat sich bisher die „Strategie der Transformation“ als Utopie und sicherer Weg in die Niederlage erwiesen. Und ein Sieg der Konterrevolution, eine Niederlage von Hoffnungen, auf selbstbestimmte Weise seine Probleme lösen zu können – das führt nicht einfach zu einem Einfrieren des Kräfteverhältnisses im Sinne des Stellungskrieges. Solche Niederlagen sind zumeist auch Wendepunkte die, kombiniert mit reaktionären, konterrevolutionären Bewegungen, auch die Unterdrückten spalten und Nährboden für reaktionäre subjektive Lösungen wie Chauvinismus und Faschismus sind.

Poulantzas‘ Warnung davor, dass die Machteroberungsperspektive die Tendenz zu autoritärem Etatismus enthält, verkürzt seinerseits die „Transformationsperspektive“ der Diktatur des Proletariats. Es ist gerade die Erkenntnis, dass die wirkliche Umgestaltung von Ökonomie und gesellschaftlichen Verhältnissen von den bestehenden staatlichen Apparaten mit aller Macht hintertrieben wird. Dies muss dazu führen, ihnen einen radikal neuen Typ von Demokratie entgegenzusetzen: eine Demokratie, die auf Grund ihrer Verbindung zu den unmittelbaren Produktionsagenten tatsächlich gesellschaftliche Veränderungsmacht hat. Gleichzeitig ist sich die Perspektive der Rätemacht, wie auch gezeigt wurde, durchaus bewusst, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Räte und die Vielfalt der staatlichen Aufgaben, die nicht unmittelbar und sofort überall durch Räte administriert werden können, dazu führen, dass der Rätestaat zunächst sogar zu einer Vergrößerung staatlicher Apparate führen kann. Die Frage des Abbaus und der Kontrolle dieser staatlichen Apparate ist sicherlich das Hauptproblem einer Übergangsgesellschaft zum Sozialismus. Und sicherlich ist die Sowjetunion mit der baldigen Degeneration ihres Rätesystems an dieser Aufgabe vollständig gescheitert. Dies heißt nicht, dass durch ein z. B. parlamentarisches Korrektiv zur „Sowjetmacht“ dieses staatlich-bürokratische Übergewicht wahrscheinlich vermieden worden wäre. Die schwierige Situation der Sowjetunion mit Bürgerkrieg, Blockaden und Hungersnöten hätte unter Fortbestestand einer Doppelmacht mit parlamentarischer Vertretung der Bourgeoisie wahrscheinlich bald zu einer Konterrevolution geführt, die in einer schrecklichen faschistischen Diktatur geendet hätte, sicher keine positivere Alternative.

Tatsächlich haben z. B. die Diskussionen in der Novemberrevolution gezeigt, dass es sehr wohl auch arbeiterInnendemokratische Alternativen gab: so etwa die Konzeption, die auf betrieblichen Räten basierende ökonomische Gesamtplanung zu ergänzen durch ein System politischer Räte, das die bürgerlichen Repräsentativorgane ersetzt als auch politische Kontrolle über die Wirtschaft im ArbeiterInnenstaat ausübt. Auch wenn die Perioden erfolgreicher Räteherrschaft bisher nicht sehr lange dauerten, so sind doch die geschichtlichen Erfahrungen eindeutig: Ohne Machteroberungsstrategie, ohne Diktatur des Proletariats keine wirkliche Räteherrschaft. Ohne sich entwickelnde Räteherrschaft, ohne immer umfassender werdende ArbeiterInnendemokratie keine nachhaltige sozialistische Umgestaltung, kein Übergang zum Sozialismus. Insofern bleibt die Oktoberrevolution von 1917 das bisher einzige erfolgreiche Modell einer sozialistischen Revolution. Durch das Scheitern der Sowjetunion nach ihrer bürokratischen Degeneration und der schließlich erfolgten Restauration des Kapitalismus bleibt sie für uns heute, ähnlich wie die Pariser Kommune von 1870/71, eine unumstößliche theoretische Errungenschaft der ArbeiterInnenbewegung: Jede zukünftige proletarische Revolution wird auf dem grundlegenden Konzept von Machteroberung und Räteherrschaft von 1917 aufbauen müssen und den unermesslichen Erfahrungsschatz dieser Revolution und der folgenden weltweiten Bewegung als Grundlage der Fortentwicklung des revolutionären Marxismus nutzen.

Die Oktoberrevolution als neue Entwicklungsetappe des Marxismus – Lukács und Korsch

Im Sinn der letzten Bemerkung haben zwei andere intellektuell sehr wirksame marxistische Theoretiker die Oktoerrevolution und das Scheitern ihrer Ausdehnung nach Westeuropa interpretiert: György Lukács und Karl Korsch. Althusser erwähnt sie an der Stelle, an der er sich lobend über Gramsci äußert, mit dem „Gott sei bei uns -Hegelianer!“-Schuldspruch. Dabei haben beide wesentlich treffendere theoretische Analysen der Problematik geliefert als Gramsci – zum Teil wohl auch deshalb, weil ihre wesentlichen Beiträge dazu schon 1923 veröffentlicht wurden, als die kommunistische Bewegung noch nicht derart degeneriert war wie zu dem Zeitpunkt von Gramscis Gefängnisheften.

Auch wenn Lukács und Korsch von ihren Gegnern (z. B. Sinowjew) gerne als „rote Professoren“ abgetan wurden (Korsch war Arbeitsrechtsprofessor, Lukács ein bekannter Literaturkritiker), so waren sie durchaus auch revolutionäre Praktiker: Lukács war nicht nur Volkskommissar für Erziehung und Kultur in der kurzlebigen ungarischen Räterepublik von 1919 – er befehligte als Politkommissar außerdem eine Division der ungarischen Roten Armee gegen die Invasion aus Rumänien und der Tschechoslowakei, die von den Entente-Mächten zur Niederschlagung der Räterepublik benutzt wurde. Korsch war ein Sprecher des ArbeiterInnen- und Soldatenrates seiner Heimatstadt und gehörte der Sozialisierungskommission für den deutschen Bergbau während der Novemberrevolution an; später wurde er in der kurzlebigen ArbeiterInnenregierung in Thüringen 1923 Justizminister für die KPD und war Mitorganisator für die proletarischen Hundertschaften. Die beiden zentralen Werke „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (45) von Lukács und „Marxismus und Philosophie“ (46) von Korsch betonten vor allem eines: wie sich mit der Oktoberrevolution und der folgenden revolutionären Welle das Proletariat als revolutionäres Subjekt der Geschichte herausgebildet hat, wie der Leninismus zum Ausdruck dieser neuen Subjektivität geworden ist – und dass das Scheitern der Revolution außerhalb Russlands vor allem Resultat des Versagens der Führungen in entscheidenen historischen Momenten war. Korsch entwickelt in „Marxismus und Philosophie“, dass mit der Oktoberrevolution eine „dritte Entwicklungsperiode“ des Marxismus (nach der Gründungsperiode und der Periode der Zweiten Internationale) eingesetzt habe. Während sich der vorherrschende Marxismus der Zweiten Internationale dem Problem von Staat und Revolution nur abstrakt genähert habe, kündigt Lenins „Staat und Revolution“ nicht einfach eine „Wiederbesinnung“ auf die Klassik an, sondern die Konkretisierung der Frage von Zerschlagung des bürgerlichen Staates und Errichtung der proletarischen Diktatur. Mit der Einbeziehung dieser Fragen in die revolutionäre Praxis des Proletariats erweisen sich die aus der Vorperiode überkommenen staatssozialistischen Vorstellungen von Kautsky bis weit auch in die Reihen der Komintern hinein als wesentliches subjektives Hindernis. Lenins Polemik dagegen war auch in ihrer Schärfe berechtigt, um den richtigen Weg aufzuzeigen.

Nachdem die Betonung auf subjektive Fehler und die vielfache Übernahme alter Lehren der Zweiten Internationale auch ganz offen als Kritik an Fehlern der Komintern-Führung zu verstehen war, wurden beide Werke speziell von Sinowjew und im Gefolge dann von mehreren subalternen bezahlten Theorie-Bürokraten als „Subjektivismus“ verurteilt bzw. ins „ultralinke“ Eck gestellt.

Lukács hat auf die Kritik in einer Verteidigungsschrift mit dem Titel „Chvostismus und Dialektik“ geantwortet, die hier von besonderem Interesse ist. Als Kritiker von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ fuhr die Komintern Deborin und Rudas auf. Insbesondere László Rudas war ein Kampfgenosse von Lukács aus der Räterepublik in Budapest, war aber inzwischen in Moskau zu einem Vertreter der sich etablierenden stalinistischen Schulphilosophie geworden. Deborin und Rudas gehörten zu den Vorläufern der Verflachung des Marxismus mit den bekannt-berüchtigten Schemata des DiaMat, auch wenn Deborin selbst ab 1930 zum Opfer stalinistischer Säuberungen wurde, als er sich weigerte, Stalins Autorität in philosophischen Fragen anzuerkennen (47).

Ähnlich wie die Adepten von Gramsci und Co. begründete auch schon Rudas, warum die ungarische Räterepublik unbedingt scheitern „musste“. Hier war es aber nicht die „Hegemonie“ oder die „Unterschätzung der Tiefe der Verteidigungslinien der Bourgeoisie“, hier waren es die „ungünstigen objektiven Bedingungen“ (die Lieblingsbegründung aller stalinistischen Bürokraten für „Rückschläge“). Dies wurde gegen Lukács angeführt, der darauf beharrte, dass die Verteidigung der Revolution 1919 auch in Ungarn möglich gewesen wäre.

Rudas führt insbesondere drei Faktoren an, an denen die Revolution scheitern musste: die Blockade durch die umliegenden kapitalistischen Staaten, der Verrat der Offiziere und die Ungunst des Territoriums, das eine Verteidigung gegen die Invasion schwierig machte. Lukács erwidert darauf: Ja, die Blockade führte zu Versorungsproblemen – aber die Situation erreichte nicht im Entferntesten die Hungerkatastrophe, die sich im russischen Bürgerkrieg ergab. Problematischer habe sich erwiesen, dass die Versorgungsprobleme auch in den Räten zu einer Verstärkung der sozialdemokratischen Propaganda führten, die versprach, „dass alle Probleme verschwänden, wenn man nur zur Demokratie zurrückkehrt“. Und hier erwies sich auch in Ungarn wieder das Problem, dass sich die KommunistInnen organisatorisch noch nicht von der Sozialdemokratie getrennt hatten.

„Was fatal in der Situation war, war, dass die Arbeiter der Demagogie glaubten – gerade weil ihr keine kommunistische Partei entgegentrat!“ (48). Auch der Verrat der Offiziere war natürlich fatal. „Aber Genosse Rudas als führender Kader musste wissen, dass überall, wo wir verlässliche und fähige Genossen in den Reihen der Armee hatten, die Divisionen standhaft blieben und zum Kampf bis zum Ende bereit waren. War es tatsächlich ‚objektiv‘ unmöglich, für unsere 8 Divisionen (und die entsprechenden Untereinheiten) kommunistische Kommissare und Kommandanten zu finden? Es war unmöglich, weil es keine kommunistische Partei gab, die die Auswahl traf, die Ernennungen durchführte und den richtigen Handlungsplan bestimmte“ (49).

Und zu den ungünstigen militärischen Voraussetzungen bemerkt Lukács: „Ich möchte Rudas daran erinnern, dass der Fall der Räteherrschaft nicht einfach eine militärische Angelegenheit war. Am 1. August befand sich die Rote Armee in einer vielversprechenden Gegenoffensive mit einigen militärischen Erfolgen (…), gerade als die Führung der Räterepublik zurücktrat – eben weil eine kommunistische Partei fehlte“.

Lukács bemerkt dazu, dass natürlich auch das Fehlen einer kommunistischen Partei zum damaligen Zeitpunkt in Ungarn objektive Gründe gehabt habe, aber diese „Objektivität“ habe auch mit einer Reihe subjektiver Momente zusammengehangen, die zu dieser Entwicklung geführt hätten. Die dialektische Herangehensweise verbietet eben gerade die mechanische Trennung von Subjekt und Objekt, muss ihre widersprüchliche Verbindung betrachten. In diesem Zusammenhang entwickelt Lukcas die Dialektik von „Prozess“ und „Moment“.

Der subjektive Faktor

Welche Rolle spielt in den durch objektive Faktoren der ökonomischen und sozialen Entwicklung bestimmten gesellschaftlichen Prozessen das Bewusstsein der in ihnen Handelnden? Abgesehen davon, dass die Absichten und Gedanken der Handelnden durch diese objektiven Faktoren nur zu oft hintertrieben oder umgekehrt werden, so ist jedenfalls die Widerspiegelung des Prozesses im Bewusstsein ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung des Prozesses. Mit dem Standpunkt des Proletariats als dem des allgemeinen unmittelbaren Produzenten wird es zusätzlich möglich, diese objektiven Faktoren auch tatsächlich zu durchschauen und selbst zu verändern. Gesellschaftliche Prozesse, die auf der Grundlage widersprüchlicher Bedingungen sich entfalten, stellen nun im Allgemeinen nie einfach immer eine „stetige Steigerung“ der Bedingungen bis zu einem objektiven Umschlag in einen neuen Prozess dar:

“Was ist ein Moment? Eine Situation, die länger oder kürzer sein mag, die aber von dem Prozess, der zu ihm geführt hat, sich darin unterscheidet, dass er alle wesentlichen Tendenzen dieses Prozesses zusammenballt und eine Entscheidung verlangt über die zukünftige Entwicklung des Prozesses. Das heißt, dass die Tendenzen einen gewissen Zenit erreichen, und entsprechend dem, wie die Situation gelöst wurde, nimmt der Prozess nach dem Moment eine andere Richtung. Die Entwicklung läuft nicht in der Art einer ständigen Intensivierung, in der die Situation dann mal günstig ist für das Proletariat, und morgen ist sie dann sogar noch günstiger und so weiter. Es bedeutet dagegen, dass an einem bestimmten Punkt die Situation eine Entscheidung verlangt, und morgen mag es schon zu spät sein, noch eine Entscheidung treffen zu können“ (50).

Lukács führt hier verschiedene Aussagen Lenins zur Frage des Aufstands an. So, als Lenin im Oktober 1917 feststellte: „Die Tage, in denen friedliche Kompromisse geschlossen werden konnten, sind vorbei… Die Geschichte wird den Revolutionären nicht verzeihen, wenn sie heute gewinnen können (und natürlich werden wir siegen), und sie morgen schon so viel verlieren können, alles verlieren können“ (51). Mit dem Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte sei es notwendig, dass solche Wendepunkte, solche Momente, in denen es auf das bewusste, subjektive Eingreifen ankomme, immer wieder in zugespitzten Situationen aufträten. Die kommunistische Partei, als „Form des proletarischen Klassenbewusstseins“ sei der entscheidende Faktor in solchen Momenten, wenn entschlossenes Handeln notwendig ist oder die Konsolidierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse droht. Alles andere wäre Nachtrabpolitik hinter der Erwartung, dass „die Bewegung“ schon kommen werde, dass die Situation jetzt möglicherweise „noch nicht reif ist“, dass man „alles Aufgebaute jetzt nicht gefährden soll“. Lukács kritisiert an dieser Stelle auch Rosa Luxemburgs Vertrauen in die „Spontaneität der Massen“, die kein „bolschewistisches Kommando“ bräuchten – auch dies habe sich als verhängnisvolle Nachtrabpolitik hinter der Hoffnung auf den „objektiven Prozess“ herausgestellt.

Natürlich sei auch die Erwartung, dass der „subjektive Moment“ immer gegeben sei, falsch: Dies führe zu ultralinkem Abenteurertum, bei dem die Frage des Aufstands immer auf der Tagesordnung stehe und eigentlich nur eine Frage der technischen Vorbereitung sei. Lukács verweist hier auf die Entwicklung der Frage des Aufstands bei Lenin: Während die Revolution nach dem Februar beständig auf den Aufstand zugearbeitet habe (Krieg, Hunger, Bauernbewegung, das Schwanken der Herrschenden zwischen Kompromiss und Sammeln der Kräfte für das Zurückschlagen, die Verschiebung der Kräfteverhältnisse in den Sowjets etc.), sei es entscheidend gewesen, wie sich diese Frage in der ArbeiterInnenklasse entwickelt – im Juli seien die Arbeiter und Soldaten noch nicht bereit gewesen, für den Umsturz „zu kämpfen und zu sterben“. Bis zum Oktober veränderte sich die Situation im Hinblick auf den Aufstand der Klasse : „Nun das stille Verzweifeln der Massen, die fühlen, dass weitere Halbmaßnahmen nichts mehr helfen, dass die Regierung nicht mehr beeinflussbar ist, dass der Hunger alles wegfegen wird, alles anarchistisch zusammenbricht – wenn die Bolschewiki nicht wissen, wie sie uns in den entscheidenden Kampf führen“.

Die Frage der Bewältigung der revolutionären Krisensituation, der sozialistischen Lösung des objektiven gesellschaftlichen Krisenprozesses kulminiert letztlich darin, ob es eine bewusste, politisch organisierte Kraft mit sozialistischem Programm gibt, die auf die entscheidenden Momente des gesellschaftlichen Umschwungs vorbereitet ist oder nicht. Offensichtlich war es das Fehlen einer starken kommunistischen Avantgarde, das in den entscheidenden Momenten in der Novemberrevolution in Deutschland, in den „2 roten Jahren in Italien“ oder in der ungarischen Räterepublik wesentlicher Faktor für die letztliche Niederlage war. Lukács führt als aktuelles Beispiel (sein Text erschien 1923) das Versagen der KPD-Führung im Oktober 1923 an – ein weitaus katastrophaleres subjektives Versagen als 1919. Trotz schwerer politischer und ökonomischer Krise UND einer diesmal vorhandenen revolutionären kommunistischen Partei wurde die Frage des Aufstandes von vorne bis hinten in den Sand gesetzt.

Der subjektive Faktor ist natürlich nicht nur in den entscheidenden Momenten der Zuspitzung von Bedeutung. Viele kleinere Momente zuvor können entscheidende Weichenstellungen dafür sein, ob es denn dann, wenn es darauf ankommt, eine organisierte Avantgarde gibt. Lukács zitiert aus den Thesen zur Organisation des dritten Komintern-Kongresses: „Es gibt keinen Moment, in dem eine kommunistische Partei nicht aktiv ist“, d.h., es gebe eben keinen Moment, in dem der subjektive Charakter des gesellschaftlichen Prozesses völlig fehlt, es daher nicht möglich wäre, aktiv die subjektiven Momente im Prozess zu beeinflussen. Schließlich komme es nach der Machtübernahme noch viel mehr auf das subjektive Moment der kommunistischen Partei an: nicht nur in Fragen des Kampfes gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung, sondern auch an entscheidenden Punkten, in denen es um Weichenstellungen zur Überwindung der Überreste der kapitalistischen Ökonomie geht.

Insofern ist es klar, dass die Erfahrung der Oktoberrevolution die marxistische Revolutionstheorie erweitern muss. Nicht nur die Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die Bildung von Räten und die Durchsetzung von Räteherrschaft sind unumgänglich – eine erfolgreiche proletarische Revoltution bedarf auch einer kommunistischen Partei, die sich der revolutionären Aufgaben bewusst ist, die in der Avantgarde der Klasse verankert ist und der es gelingt, im entscheidenden Moment die Mehrheit der Klasse für den Aufstand zu gewinnen.

Natürlich ist Lukács Theorie des Moments das glatte Gegenteil von Gramscis „Stellungskriegsformel“ (zumindest wie dies Gramscis heutige Epigonen verstehen). Die Vorstellung, man könne durch radikale Reformpolitik die bürgerliche Hegemonie graduell schwächen und eigene Bastionen Stück für Stück ausbauen, verkennt nämlich, wie schnell beim Verpassen bestimmter Momente das allgemeine Rollback auch sicher geglaubte „Bastionen“ wieder wegräumt. Man denke nur an den Moment nach dem siegreichen OXI-Referendum in Griechenland 2015 und den Niedergang des Widerstands gegen das EU-Diktat nach dem Einknicken der Syriza-Regierung. Statt dass der „Machterhalt“ der Syriza-Regierung, wie es von den Transformisten erhofft wurde, zu einer „Kräfteverschiebung“ im EU-Krisenregime geführt hat, hat der Verzicht auf das Risiko des zugespitzten Zusammenstoßes mit den EU-Institutionen und die Perspektivlosikeit solcher „linken Alternativen“ inzwischen europaweit eine Kräfteverschiebung nach rechts vorbereitet.

Die Partei und das Klassenbewusstsein des Proletariats

Lukács begründet die zentrale Bedeutung der Partei für die Frage der proletarischen Revolution noch aus einem anderen Aspekt: der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins selbst. Es braucht nicht wiederholt zu werden, dass schon Marx und Engels eine Unterscheidung vornehmen zwischen dem tatsächlichen, empirisch vorhandenen Bewusstsein der einzelnen ArbeiterInnen, „dem, was dieser oder jener Proletarier denkt“, und dem Bewusstsein, das dem Klassenstandpunkt des Proletariats gemäß wäre, „dem, was das Proletariat aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung zu tun gezwungen ist“. Lukács selbst hat in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ eine ausführliche Analyse für die materielle Befestigung bürgerlicher Ideologie in der Klasse geliefert, und zwar durch das Konzept der „Verdinglichung“ – also der mit dem Waren- und Geldfetisch in der kapitalistischen Ökonomie eingeübten Verhaltensweisen, die die Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft genauso verschleiern, wie sie das gewöhnliche Arbeiterbewusstsein auf Lohnfetisch und den „gerechten“ Staat beschränken.

Dieses Bewusstsein wird nur durch einschneidende historische Erfahrungen, durch Zuspitzung von Kämpfen etc. so erschüttert, dass es aufnahmebereit für eine auf dem eigenen gesellschaftlichen Sein beruhende Gesamtsicht auf die bürgerliche Gesellschaft ist. „Das gesellschaftliche Sein stellt den einzelnen Arbeiter unmittelbar nur in den Kampf mit einem gewissen Kapital, während das proletarische Klassenbewusstsein erst Bewusstsein für sich wird, wenn es das Wissen um die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Totalität einschließt“ (52).

Dies schließt also die Fragen der Politik und des Staates genauso ein wie die Frage der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft. Insofern wiederholt auch Lukács die Lenin’sche Formel von der Notwendigkeit, das Klassenbewusstsein „in die Klasse zu tragen“ als zentrale Aufgabe der kommunistischen Partei. Natürlich stellt Lukács dazu die Frage, wie die Partei selbst dieses Bewusstsein erlange. Dazu macht er klar, dass die Entwicklung von Klassenbewusstsein ein Prozess ist, in dem Partei und Klasse die bewegenden Momente sind. D. h., dass natürlich auch die Partei nicht von Anfang an „vollständig entwickeltes“ Klassenbewusstsein haben kann, dass es immer wieder Momente gibt, in denen Klassenaktionen weit über das Parteibewusstsein hinausgehen. Dass es also auch hier „Momente“ gibt, in denen wesentliche Entwicklungsschritte sehr schnell vorangehen, während es nach Zeiten der Rückschläge oft nur auf die Bewahrung der Erfahrungen in der kommunistischen Organisation ankommt. Oft sind auch Rückschläge und Niederlagen wesentlich für das Vorantreiben des Klassenbewusstseins, wenn die Ursachen der Niederlage schonungslos erfasst werden (siehe z. B. die große Weiterentwicklung der kommunistischen Auffassungen vom Staat nach der Niederlage der Pariser Kommune).

Als zentrale Errungenschaft des Leninismus erkennt Lukács die Bedeutung von „organisatorischen Formen“ als Vermittlungsformen zwischen dem in aktuellen Arbeiterkämpfen entwickelten Bewusstsein und dem notwendigen Klassenbewusstsein. „Die organisatorischen Formen des Proletariats, allen voran die Partei, sind die tatsächlichen Vermittlungsformen, in denen und durch die sich das Bewusstsein entwickelt, das seinem gesellschaftlichen Sein entspricht“ (53).

Die organisatorischen Formen sind es, in denen sich die vergangene Erfahrung der Klasse genauso verkörpert wie die Entwicklung der eigenen Stärke in aktuellen Kämpfen. Durch das Aufstellen von Forderungen, die den unmittelbaren Klasseninteressen entsprechen, kann sich das Proletariat in der Erfahrung der Kampfergebnisse ein immer besseres Verständnis der eigenen Lage und der notwendigen nächsten Schritte erarbeiten. Letztlich ist es das Programm der Partei, das für den gegenwärtigen Moment die zentralen Forderungen, Lehren und organisatorischen Aktivitäten zusammenfasst, das den höchsten Entwicklungsstand des Klassenbewusstseins zum Ausdruck bringen muss. Lukács zitiert hier Lenin: „Wir Kommunisten sind ein Tropfen im Ozean des Volkes. Wir können nur führen, wenn wir ihm den richtigen Weg aufzeigen“.

Die erste Antwort auf die Frage nach der Aktualität des „Modells Oktoberrevolution“ ist also: Es ist nicht eine Frage der besonderen objektiven Bedingungen oder der außerhalb des zaristischen Russlands schon viel entwickelteren „Zivilgesellschaft“ und der in „entwickelten Kapitalismen“ ungeheuer ausgebauten Hegemonie-Mechanismen, die seither eine Wiederholung des „Oktober-Ereignisses“ so schwierig gemacht haben – es ist vor allem eine Frage des subjektiven Faktors, d.h. die Frage einer den objektiv krisenhaften Bedingungen gewachsenen revolutionären kommunistischen Partei, die in der Lage wäre, die revolutionären Massen auch zu führen. Diese Betonung der Bedeutung einer das proletarische Klassenbewusstsein in entschlossener, revolutionärer Praxis zum Ausdruck bringenden Partei ist der entscheidende Bruch mit der Tradition des Marxismus der Zweiten Internationale.

Auch die linkesten TheoretikerInnen aus letzterer Tradition wie Rosa Luxemburg waren zwar keine VertreterInnen einer „Spontaneitätstheorie“, die ihnen später untergeschoben wurde. Sie vertrauten aber darauf, dass der Druck der objektiven Entwicklung und die spontane Radikalisierung der Massen die gesamte ArbeiterInnenbewegung nach links, zur Revolution stoßen würde – entweder indem sie die zögerlichen FührerInnen zu mehr Entschlossenheit treiben oder rasch durch geeignetere ersetzen würde. Das erklärt auch, warum bei Luxemburg einerseits sehr früh überaus weitsichtige und pointierte Kritiken am Revisionismus wie auch am „marxistischen Zentrum“ Kautskys zu finden sind, andererseits aber viel später und inkonsequenter ein Bruch mit dem sich formierenden Reformismus erfolgt.

Im 1909 erschienenen „Der Weg zur Macht“, also beim „orthodoxen“ Kautsky, bleibt die Frage offen, auf welche Organe sich die Regierung in einer Revolution und beim Übergang zum Sozialismus stützen solle. Den größten Teil des Buches widmet Kautsky vielmehr der Darstellung der objektiven Entwicklungstendenzen, die den Eintritt in eine neue Periode der revolutionären Umwälzung verkünden würden. Programmatisch bleibt der Text aber gerade angesichts dieser Prognose äußerst vage. Als einziges klares Ziel wird die „demokratische Republik“ formuliert, für das in der kommenden Periode auch mit revolutionären Mitteln (Generalstreik) gekämpft werden müsse, was schon allein heftige Ablehnung von Seiten des Parteivorstandes und der Gewerkschaftsführungen hervorrief.

Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kausky selbst eine Regierung auf parlamentarischer Ebene nicht ausgeschlossen hat, sondern im Grunde auch als Ergebnis einer „Revolution“ nahegelegt. Die Lehren der Kommune spielen in „Der Weg zur Macht“ eigentlich keine Rolle. Die Revolution und der Übergang zum Sozialimus werden vielmehr als eine langgezogene Periode gradueller Machtverschiebungen im Staat vorgestellt: „Anfangs der neunziger Jahre habe ich anerkannt, dass eine ruhige Weiterentwicklung der proletarischen Organisationen und des proletarischen Klassenkampfes auf den gegebenen staatlichen Grundlagen das Proletariat in der Situation jener Zeit am weitesten vorwärts bringe. Man wird mir also nicht vorwerfen können, es sei das Bedürfnis, mich in Rrrevolution und Rrradikalismus zu berauschen, wenn mich die Beobachtung der heutigen Situation zu der Anschauung führt, dass die Verhältnisse seit dem Anfang der neunziger Jahre gründlich geändert sind, dass wir alle Ursache haben, anzunehmen, wir seien jetzt in eine Periode von Kämpfen um die Staatseinrichtungen und die Staatsmacht eingetreten, Kämpfen, die sich unter mannigfachen Wechselfällen durch Jahrzehnte hinziehen können, deren Formen und Dauer vorläufig noch unabsehbar sind, die aber höchst wahrscheinlich bereits in absehbarer Zeit erhebliche Machtverschiebungen zugunsten des Proletariats, wenn nicht schon seine Alleinherrschaft in Westeuropa herbeiführen.” (54)

Im Gegensatz zu späteren Schriften schließt Kautsky 1909 noch jede Koalition mit bürgerlichen Parteien kategorisch aus, aber auch in seiner „orthodoxen Phase“ wird die Revolution als eine lang gezogene Reihe von „Kräfteverschiebungen“ gedacht, in der es dem Proletariat vor allem darum gehen müsse, immer organisierter zu werden, den Staat immer mehr zu demokratisieren und „verfrühte“ Zusammenstöße zu vermeiden. Im Wesentlichen kehrt der „Transformationismus“ zu diesen Ideen Kautskys zurück.

Lenin und die Bolschewiki haben auf dem Weg zur Oktoberrevolution radikal mit diesem Gradualismus, dieser Nachtrabpolitik, dem bloßen Warten auf das spontane Voranschreiten des Proletariats, dem Warten auf das Werk des „Prozesses“ gebrochen. Insofern hat Korsch vollkommen Recht, dass damit eine „neue Entwicklungsstufe“ des Marxismus erreicht wurde. Dies war nicht einfach nur der organisatorische Bruch mit dem Reformismus, wie er sich im Verrat von 1914 gezeigt hatte – es war ein viel fundamentalerer Bruch in der marxistischen Methode selbst. Die revolutionäre ArbeiterInnenorganisation kann nicht mehr eine Vereinigung verschiedener „mehr oder weniger marxistischer“ Funktionäre und Strömungen sein, sie muss eine geschlossene Einheit mit klarem methodisch begründeten Programm sein, das sie zur Führung der Revolution, zum entscheidenden Faktor in den Wendepunkten der revolutionären Entwicklungen macht.

Exkurs: Zizek  – Vom Ergreifen des Moments zum Rückfall in die Nachtrabpolitik

Slavoj Zizek macht in seinen „Dreizehn Versuche über Lenin“ (55) die Radikalität des Bruchs deutlich, der auch viele der Bolschewiki, die noch in der Tradition der Zweiten Internationale dachten, noch im April 1917 völlig vor den Kopf stieß: „Man kann das explosive Potential von ‚Staat und Revolution‘ gar nicht hoch genug einschätzen. In diesem Buch wurde das Vokabular und die Grammatik der westlichen Politiktradition abrupt dispensiert“ (56) – wobei mit „westlicher Politiktradition“ die gesamte, in der parlamentarischen und gewerkschaftlichen bürgerlichen Normalität denkende Adaption des Marximus der Zweiten Internationale gemeint ist. Dieser Bruch war nicht nur in Westeuropa heftig gewesen – auch für russische „Sozialdemokraten“ war es verblüffend:

„Als Lenin 1917 in seinen ‚Aprilthesen‘ den Augenblick erkannte, die einmalige Chance für die Revolution, wurden seine Vorschläge von der großen Mehrheit seiner Parteigenossen mit Fassungslosigkeit und Verachtung aufgenommen. Innerhalb der bolschewistischen Partei unterstützte keiner der Führer seinen Aufruf zur Revolution, und die Prawda tat den ungewöhnlichen Schritt, dass sich die Partei und die Herausgeber insgesamt von Lenins ‚Aprilthesen‘ distanzierten. … Bogdanow charakterisierte die ‚Aprilthesen‘ als das ‚Delirium eines Wahnsinnigen‘ und Nadeschda Krupskaja selbst kam zu dem Schluss: ‚Ich fürchte es sieht so aus, als sei Lenin verrückt geworden’“ (57).

Wie Zizek ausführt, war diese radikale Wendung Lenins offenbar auf eine lange Auseinandersetzung mit dem Charakter der Epoche (Imperialismustheorie) und dem darin begründeten Wesen des reformistischen Verrats zurückzuführen, aber auch auf die Erkenntnis, welcher entscheidende Moment mit der Februarrevolution aufzog, der zu einer Wende der Ereignisse nicht nur in Russland, sondern in der imperialistischen „Gesamtkette“ führen konnte.

Auch wenn in der Partei selbst viele noch nicht so weit waren – es war gerade das massenhafte Aufbrechen der sich selbst organisierenden Proletarier und Bauern, das Misstrauen gegenüber den halbgaren Antworten auch der „Marxisten“, was Lenins Thesen außerhalb der Partei so ungeheur populär machte. Hier funktionierte also die revolutionäre Dialektik von den Momenten der Entwicklung des Klassenbewusstseins über die Wechselwirkung zwischen den Polen Partei und Massenbewegung. Erst dieser Konflikt machte die bolschewistische Partei zu dem entschlossenen, bewussten Subjekt, das für den Weg zum Roten Oktober bereit war. Die Althusser’sche Behauptung aus „Für Marx“, die weiter oben zitiert wurde, dass zu den vielen „Überdeterminiertheiten“ der Oktoberrevolution auch gehöre, dass in dieser Periode die Bolschewiki als „stählerne Kette ohne schwaches Glied“ aufgetreten seien, ist also reiner Geschichtsmythos (aus der stalinistischen Mottenkiste).

Dies ist nochmal umso bedeutsamer, als diese Fähigkeit der Entwicklung der revolutionären Subjektivität ja offenbar nach Lenins Tod, nach der Degeneration der Kommunistischen Partei Russlands ab 1923 Schritt für Schritt verloren ging. Die Bürokratisierung des Parteiapparates, die faktische Diktatur über die Sowjets, die Zentralisierung von immer mehr Macht in den Händen des Generalsekretariats etc. führten auch dazu, dass immer weniger Impulse von außen das immer geistlosere Gefüge im Inneren erreichen konnten.

Mit dem Niedergang der revolutionären Praxis der Sowjetführung, ihrem Versagen in der Kominternführung wurde auch das Konzept der „marxistischen“ Politik wieder immer mehr ins Denken der Tradition der Zweiten Internationale zurückgeführt. Letztlich ist der Kampf gegen die „Theorie der permanenten Revolution“ Trotzkis, die eigentlich eine Systematisierung der „Aprilthesen“ in globalem Maßstab darstellte, nichts anderes als die letzte ideologische Schlacht um die Reetablierung der Nachtrabpolitik, mit der das Warten auf die stetig und unaufhaltsam wachsende „Sowjetmacht“, die strategische Beschränkung auf die gerade objektiv mögliche „Etappe“ etc. wieder zum Grundprinzip des Denkens der „Kader“ und der „Führung“ wird. Tragischerweise wurden die Form und die Sprechweise von „Sowjets“ bis hin zum „Marxismus-Leninismus“ beibehalten – der Inhalt war jedoch formelhaft entkernt und auf das Niveau der Diktatur der Stalin-Bürokratie abgesunken.

Diese Degeneration des subjektiven Faktors, die seit 1923 nicht wirklich überwunden werden konnte – auch nicht durch die nie zur Massenkraft gewordenen Versuche Trotzkis und seiner Nachfolger, eine Vierte Internationale zu begründen -, ist das Hauptproblem, dass trotz immer wieder gegebener Krisenperioden und möglicher Wendepunkte der Geschichte ein erneutes „Oktober-Ereignis“ nicht mehr möglich war. Insofern kann nur auf das Eingangsstatement des „Übergangsprogramms der Vierten Internationale“ von 1938 aus der Feder Leo Trotzkis verwiesen werden: „Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon ‚reif‘, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen. Ohne sozialistische Revolution… droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen. Alles hängt ab vom Proletariat, d. h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung“ (58).

Insoferne sind auch die „unorthodoxen“, scheinbar mit dem stalinistischen Schematismus brechenden Ansätze von Althusser oder die auf Gramsci sich beziehenden Theorien im besten Fall eine Rückkehr zu einer „linken“ Methode aus der Periode der Zweiten Internationale. Obwohl sie offenbar die Verfaultheit und Inhaltsleere der „marxistisch-leninistischen Orthodoxie“ zu überwinden scheinen, scheuen sie vor dem radikalen Bruch mit den Methoden des „beschaulichen Marxismus“ – hin zu einer radikalen revolutionären Subjektivität zurück, ein Bruch, der heute sicher nicht weniger „verrückt“ oder „dem Delirium entsprungen“ erscheint als das, was Lenin im April 1917 vertrat. Was bei diesen scheinbar „neuen Ansätzen“ herauskommt, ist bestenfalls eine Variante von Kautskys Transformationsillusionen, vor allem aber eine methodische Entkernung des Marxismus, die ihn jeder revolutionären Dialektik beraubt. Indem sie die Leiche des degenerierten Kommunismus auch noch zum modischen Zombiewesen machen, sind sie jedoch nur ein weiteres Hindernis dafür, dass eine wirklich revolutionäre Alternative aufgebaut werden kann.

Zur Diskussion über Räteherrschaft und die Bedeutung von Sowjets in der sozialistischen Revolution

Die zweite wesentliche Frage für die Aktualität des Modells Oktoberrevolution lautet, wie sehr die Erscheinungen von Rätebewegungen, Rätedemokratie als Alternative zur bürgerlichen Demokratie und die Möglichkeit der Räteherrschaft über die Periode der Oktoberrevolution hinaus in jeder revolutionären Periode grundlegend für eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft sind. Besonders ausführlich diskutiert und dokumentiert wurden diese Fragen in der Periode der Novemberrevolution in Deutschland. Der Grund: Hier gab es das außerhalb Russlands wohl entwickeltste und massenhaft verbreiteteste Beispiel von Rätedemokratie – und aufgrund des höheren ökonomischen Entwicklungsstandes Deutschlands auch mit einem größeren Modellcharakter für entwickelte kapitalistische Länder.

Bekanntlich ging die Hauptauseinandersetzung um die Frage der Doppelmacht zwischen Arbeiterräten und bestehendem bürgerlichen Staatsapparat: ein Punkt, dessen Nicht-Lösung (auch aufgrund der geringen Kraft der noch kleinen KPD) die Rätemacht letztlich in Deutschland scheitern ließ. Für die Fragestellung hier ist aber zunächst interessanter, wie sich insbesondere in der linken Avantgarde die Diskussion über die Realisierung der Rätemacht nach einer Errichtung der proletarischen Diktatur entwickelt hat. Denn auch innerhalb der Vertreter des „reinen Rätesystems“, also derjenigen, die das Rätesystem als unabhängiges Mittel zum Kampf für die Diktatur des Proletariats und zur Zerschlagung der bürgerlichen Herrschaftsapparate sahen, sowie zwischen ihnen und der KPD gab es unterschiedliche Auffassungen vom Weg zur Macht, der Ausgestaltung von Rätedemokratie und dem, wie Räteherrschaft nach der Machtübernahme aufgebaut werden müsse.

Die Entwicklung der Rätebewegung während der Novemberrevolution

Die frühe KPD hatte bis zur Erfahrung der Niederschlagung der Januarkämpfe eine eher spontaneistische Haltung zur Rätefrage – d. h., sie stellte zwar die Losung „Alle Macht den Räten“ in den Mittelpunkt ihrer Agitation, vernachlässigte jedoch den Kampf um die Führung in den Räten bzw. nahm an, dass der sozialdemokratische Einfluss in den Räten durch den Gang der Ereignisse wie von selbst überwunden werden könne. Danach kämpfte sie für „echte“, revolutionäre Räte, die rein auf der Basis von Betrieben gewählt werden, die Produktionskontrolle ausüben, sich gegen jede kapitalistische Regierung wehren sollten. „Alle Gegner der Räte, insbesondere die SPD-Anhänger“ sollten hinausgeworfen werden (59).

Tatsächlich waren die Rätewegungen sehr heterogen. In vielen Gegenden wurden Räte nicht nach dem Betriebsprinzip gewählt, sondern einfach aus SPD- oder/und USPD-AktivistInnen zusammengesetzt. In radikalen, proletarischen Zentren waren sie oft von linken USPD-AktivistInnen und revolutionären Obleuten (dem radikalen Kern der Rätebewegung, der sich aus den Streikleitungen während des Ersten Weltkrieges gebildet hatte) geführt. Auf nationaler Ebene ergab sich jedoch eine SPD-Mehrheit, die sich insbesondere beim ersten Reichs-Rätekongress (16.-21.12.1918) fatal auswirkte. Statt die mit dem Novemberumsturz errichtete Doppelmacht von Zentralrat und Reichsregierung aufzulösen, beschloss er, vor allem durch die Mehrheit in den Soldatenräten, dass die Räte nur als Übergang zu einer nach allgemeinem Wahlrecht bestimmten Nationalversammlung dienen sollten. Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung am 19.1.1919 und die Niederschlagung des Januaraufstandes (5. bis 12. Januar) waren entscheidende Momente für die Wiederetablierung der bürgerlichen Ordnung. Der Januaraufstand war sicher wie die Juli-Kämpfe 1917 in Russland das Beispiel, wie ein revolutionärer Aufstand zur Unzeit auf die Tagesordnung gesetzt werden kann. Der politische Rückhalt fehlte noch für eine solch weitreichende Aktion in den Räten. Im Unterschied zu den Bolschewiki vermochte es die gerade erst gegründete KPD jedoch nicht, sich an die Spitze der zum Losschlagen bereiten ArbeiterInnenavantgarde zu stellen und sie davon zu überzeugen, dass die Situation für den Aufstand noch zu unreif war, zu sagen, dass ein eventueller Erfolg des Aufstandes nicht zu verteidigen gewesen wäre, ohne sich zuvor den Rückhalt dafür in den Räten durch die Erlangung von deren Mehrheit verschafft zu haben. Dieser Fehler der KPD hatte nicht nur verheerende Folgen für die Stärkung der bürgerlichen Repressionsorgane. Es kostete auch auf tragische Weise das Leben der wichtigsten FührerInnen, Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts.

Der nach diesen Ereignissen begonnene Kampf um die Revolutionierung der Räte mit den oben genannten Programmpunkten, zusammen mit der USPD-Linken (den Vertretern des „reinen Rätesystems“), war bereits fast zu spät. Es gelang zwar, wichtige Positionen zu erkämpfen und nach langem Hinhalten auch einen zweiten Reichsrätekongress (8.-14.4.1919) zu erzwingen und dort zu verhindern, dass sich die politischen Räte zugunsten der Nationalversammlung auflösten. Doch die Mehrheit der SPD im Zentralrat konnte nicht gebrochen werden, so dass die politischen Räte als Doppelmachtorgane langsam abstarben. Nur während des Kapp-Putsches und in den folgenden Kämpfen erhielten sie noch einmal kurz (bis April 1920) eine wichtige Kampffunktion. Dagegen wirkten die wirtschaftlichen Räte im Sinne der Produktionskontrolle in wichtigen Industriebereichen noch das ganze Jahr 1919 unvermindert fort. Erst im Februar 1920 wurden sie durch die Etablierung des Betriebsrätegesetzes in den Rahmen der bürgerlichen Ordnung zurückgestutzt – auch dies erst nach einem langen politischen Kampf, in dem USPD und KPD zumeist zusammenwirkten (im Januar 1920 bei einer Massendemonstration von USPD und KPD mit über 100.000 TeilnehmerInnen vor dem Reichstag wurde das Feuer eröffnet und Ebert ließ den Ausnahmezustand ausrufen). Trotzdem konnte sich die KPD, besonders nach ihrer Vereinigung mit der linken USPD im Dezember 1920, auch über die Arbeit in diesen zurechtgestutzten Betriebsräten bis 1923 stark verankern, so dass bei der neuerlichen revolutionären Zuspitzung Mitte 1923 tatsächlich wieder die Möglichkeit einer auf Räten (diesmal mit starkem kommunistischen Einfluss) beruhenden ArbeiterInnenregierung gegeben war.

Aus der Geschichte der Rätebewegung in der Novemberrevolution und der Intervention der KPD in diese Bewegung lassen sich Diskussionen um folgende drei zentrale Fragestellungen veranschaulichen:

  • Sind Räte notwendigerweise (anfänglich oder in ihrer Entwicklung) revolutionär, muss um die politische Führung gekämpft werden, wie steht es mit Parteien innerhalb der Räte vor und nach der Revolution?
  • Was sind überhaupt Räte, wie sehr verändern sie sich selbst in ihrer Form im Verlaufe einer revolutionären Situation?
  • Welche Strukturen braucht ein Rätesystem sowohl im geographischen Sinn wie auch in Bezug auf politische und wirtschaftliche Fragen; war die Trennung in der deutschen Rätebewegung zwischen politischen ArbeiterInnenräten und wirtschaftlichen Betriebsräten notwendig?

Der Kampf um die revolutionäre Führung in den Räten

Ein großer Teil der Linken in der Novemberrevolution, anfänglich selbst in Spartakus/KPD, sah zuerst in den Räten selbst die Antwort auf die Frage der Revolution. In der spontaneistischen Tradition von Luxemburg und Pannekoek erwartete man aus der Erfahrung der wirklichen Demokratie der Räte gegenüber der entfremdeten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und der Konfrontation, die den ArbeiterInnen von der Reaktion aufgezwungen werden würde, dass die Proletarier in den Räten die Notwendigkeit der vollständigen Machteroberung und der Errichtung der Diktatur des Proletariats als Räteherrschaft schon von selbst erkennen würden. Luxemburg beharrte auch in der KPD-Programmdebatte zur Frage der Räte darauf, dass die KommunistInnen nur das „Sprachrohr der Massen“ in diesem Prozess sein könnten (60) und die Errichtung der Diktatur des Proletariats nur „das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse“ sein dürfe (61). Es überrascht daher nicht, dass viel zu spät erkannt wurde, dass sich die Räte im Wesentlichen weiterhin im Rahmen der sozialdemokratischen Hegemonie entwickelten und von sich aus zwar einzelne Schritte vorwärts, aber letztlich qualitativ keinen Sprung zu wirklich revolutionären Räten vollzogen. Als die KPD dazu überging, den politischen Kampf in den Räten aufzunehmen, ja, um die Führung der Räte zu kämpfen, war es schon fast zu spät.

Als dann die Parteiführung Ende 1919 die Niederlage der Rätebewegung konstatiert und den Rückzug auf den politischen Kampf inklusive Beteiligung an Parlamentswahlen antrat, spaltete sich ein beträchtlicher Teil des linken Flügels der KPD ab und gründete später die sogenannte „rätekommunistische“ KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands). Das Interessante daran ist, dass einer der führenden Köpfe dieser Abspaltung, Anton Pannekoek (zusammen mit Otto Rühle), die Differenz genau auf der Grundlage der alten spontaneistischen Theorie Luxemburgs begründete. Nicht nur das: Die Niederlage der Novemberrevolution gegenüber dem Sieg der Oktoberrevolution begründete Pannekoek sehr ähnlich wie Gramsci. Das viel entwickeltere bürgerliche System samt Partei- und Gewerkschaftsbürokratie, die entwickelteren bürgerlichen Institutionen etc. hätten sich so fest in die Hirne der ArbeiterInnen gebrannt, dass sie sich auch in der Revolution in ihrer Entwicklung und Entschlossenheit gehemmt gesehen hätten. Pannekoek zieht aber die gegenteilige Konsequenz von der, wie sie Gramsci unterstellt wird (möglicherweise meinte der aber angesichts seiner Räteerfahrungen mit dem „Stellungskrieg“ sogar etwas Ähnliches!): dass die Rätebewegung der einzige Weg zur „Entwicklung des Selbstbewusstseins“ (62), zum Brechen der ideologischen Bevormundung und zur politischen Handlungsfähigkeit des Proletariats sein könne. Trotz des Niedergangs der Rätebewegung sollten KommunistInnen daher vorrangig ihre Weiterentwicklung und Radikalisierung betreiben – und die „Parteiform“ als bürgerliches Element, das selbst an der Fremdbestimmung der Proletarier mitschuldig sei, aufgeben, um sich „räteartig“ zu organisieren. Die „Arbeiter-Unionen“, die die RätekommunistInnen anstelle von Partei- und Gewerkschaftsorganisationen setzten (z. B. AAUD, AAU-E), sollten die Räteform bewahren und bei Bedarf wieder zu Kernen einer neuen Rätebewegung werden. Auch wenn sie zu Zeiten erhöhter Massenaktivität Anfang der 20er Jahre großen Zulauf bekamen, verfielen sie nach dem Abebben der revolutionären Welle nach 1923 in bedeutungsloses Sektierertum.

Auch die größte der linken Strömungen in der Novemberrevolution, die linke USPD, die zumindest wichtige ArbeiterInnenräte, wie in Berlin, anführte, hatte letztlich eine ebenso passive Hoffnung auf den unausweichlichen Marsch der Massen nach links. Die führenden Köpfe, wie der Sprecher der revolutionären Obleute, der Metallarbeiter Richard Müller, oder der spätere USPD-Vorsitzende Ernst Däumig entwickelten das Konzept des „reinen Rätesystems“ (63). Einerseits lehnten sie, anders als die rechte USPD (um Kautsky und Haase), die Koexistenz von Räten und parlamentarisch-bürgerlichem Staatsapparat ab, insofern sollte das „reine Rätesystem“ sich der Doppelherrschaft mit den bürgerlichen Institutionen entledigen. Allerdings stellte man sich dies andererseits zugleich als einen Prozess vor, in dem irgendwann die Mehrheit dafür in den Räten gewonnen werden würde (Däumig stellte auch einen entsprechenden Antrag auf dem ersten Reichsrätekongress, der aber leider abgelehnt wurde). Entscheidend für letzteres hielten Däumig und GenossInnen, dass sich die Räte als „Organe der Zusammenfassung des Proletariats oberhalb der Parteien“ bilden sollten (ähnlich wie Gramsci in seiner Gegenüberstellung von Räten und Partei), dass in den Räten „keine Parteipolitik zu betreiben ist, sondern revolutionäre Arbeiterpolitik“ (64). Das reine Rätesystem sollte also auch „rein“ von Parteien und ihrem Führungsanspruch sein. Leider aber gaben die Mehrheits-Sozialdemokraten ihren Führungsanspruch doch nicht auf!

Ganz offensichtlich wird hier, dass mehr oder weniger bei allen linken Strömungen der deutschen ArbeiterInnebewegung 1918/1919 der dialektische Zusammenhang von revolutionärem Prozess, Herausbildung von Klassenbewusstsein im Proletariat und den Vermittlungsformen von Partei und Räten nicht verstanden wurde. Einerseits wurde ein mechanisch-spontaneistischer Zusammenhang von revolutionärer Zuspitzung, Entwicklung von Klassenbewusstsein und Radikalisierung der Räte angenommen. Andererseits wurde die Räteform selbst abstrakt abgehoben von ihren historisch-politischen Entstehungsbedingungen verstanden und idealisiert, ohne sie selbst auch in ihrer Form als ein grundsätzlich zu veränderndes Kampffeld zu begreifen.

Trotzki steckt dieses Kampffeld im Übergangsprogramm sehr klar ab: Sowjets sind zunächst klar zu unterscheiden von bloßen „Fabrikkomitees“, die ein Element der Doppelmacht in einem Betrieb sein mögen (65). Die Frage der Doppelmacht im ganzen Land, die eine Rätebewegung stellt, entwickelt sich jedoch nicht einfach stetig aus solchen Fabrikkomitees: „Sowjets können nur dort entstehen, wo die Massenbewegung in ein offen revolutionäres Stadium eintritt. Als Angelpunkt, um den sich Millionen von Arbeitern in ihrem Kampf gegen die Ausbeuter sammeln, werden Sowjets vom ersten Augenblick ihres Erscheinens an zu Rivalen und Gegnern der örtlichen Behörden und schließlich der Zentralregierung selbst“. Mit der spontanen Stellung der Machtfrage auf einer viel allgemeineren Ebene ändern sich auch der Charakter und die Zusammensetzung gegenüber den übersichtlichen Fabrikkomitees: „Die Sowjets sind a priori an kein Programm gebunden. Sie öffnen allen Ausgebeuteten ihre Türen. Die Vertreter aller Schichten, die in den allgemeinen Strom des Kampfes hineingezogen werden, finden Eingang in sie. Die Organisation erweitert sich mit der Bewegung und erneuert sich dadurch ständig. Alle politischen Richtungen des Proletariats können um die Führung der Sowjets auf der Basis der breitesten Demokratie kämpfen“.

Die Vorstellung, dass vereinzelte Fabrikkomittees mit Produktionskontrolle in „friedlichen Zeiten“ so etwas wie „sowjetische Keimzellen“ darstellten, geht genauso am Sowjet-Begriff vorbei wie die, dass sich nach dem Niedergang einer Rätebewegung diese durch „Arbeiter-Unionen“ als Keimzellen irgendwie am Leben halten ließen. Sowjets sind Ausdruck extrem zugespitzter revolutionärer Situationen, in denen das herrschende System derart erschüttert ist, dass spontan massenhafter Zustrom zu Basiskomitees der Protestbewegung tatsächlich zu so etwas wie vernetzten Gegenmachtinstitutionen führt. In allen tatsächlich zugespitzten revolutionären Situationen haben sich früher oder später sowjetartige Organisationsformen herausgebildet (was nicht heißt, dass revolutionäre Situationen nur dann bestehen können, wenn es solche Organe gibt – das revolutionäre Moment kann auch vorher niedergehen oder verpasst werden). Und anfänglich waren solche Organe nie ein Ebenbild von Organisationen mit klarem Plan und vollem Bewusstsein ihrer Aufgaben. Revolutionärer Elan, Begeisterung, endlich selbst die unmittelbaren Probleme besprechen und entscheiden zu können, ersetzen zunächst die notwendige Zielgerichtetheit. Jeder der schon mal den Anfang einer Protestbewegung erlebt hat, erinnert sich vielleicht daran, wie eine der üblichen langweiligen Protestversammlungen altbekannter PolitkaktivistInnen plötzlich von einer nicht geahnten Menge an TeilnehmerInnen überrannt wird und plötzlich die „linken“ AktivistInnen von immer radikaleren Vorschlägen aus der Versammlung geradezu überollt werden.

In größerem Ausmaß geschah dies auch in der Novemberrevolution, als die Räte, die ursprünglich aus Streikkomitees der revolutionären Obleute entstanden waren, zu Massenversammlungen wurden – und an allen Ecken und Enden „Räte nach dem Vorbild der Sowjets“ aus dem Boden schossen. Vielerorts hatte das nur bedingt mit betrieblichen Komitees zu tun und es handelte sich oft eher um Stadtteil- oder Gemeindekomitees. Und natürlich wurde nicht nach der Parteizugehörigkeit gefragt oder eine genaue soziologische Untersuchung über den „Proletarierstatus“ gemacht. Wie Trotzki oben richtig anmerkt, ist gerade in diesem ersten spontan nach vorwärts treibenden Moment Demokratie und Offenheit der Räte richtig und erforderlich, um den Klärungsprozess, der dann einsetzen muss, so umfassend und massenhaft wie möglich zu machen. Räte, die „von Anfang an unter kommunistischer Führung“ stehen, in der „keine nicht-revolutionären Arbeiterparteien geduldet sind“, lassen eher vermuten, dass es sich um Strohpuppen gewisser politischer Akteure handelt – dabei entspricht dies nicht nur stalinistischer Methodik, sondern leider auch der selbsternannter „trotzkistischer“ Strömungen. So behauptete etwa Namuel Moreno, dass es keine Demokratie für nichtrevolutionäre Strömungen in Sowjets geben könne, revolutionäre Räte nur kommunistisch geführte Räte sein könnten (66).

ArbeiterInnendemokratie und der Kampf um die Diktatur des Proletariats

Andererseits wäre es auch eine problematische Verallgemeinerung, aus dieser super-demokratischen und offenen Phase der Räte in der ersten Euphorie ihrer Entwicklung ein allgemeines Prinzip zu machen. So etwa das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale in seiner grundlegenden Resolution „Sozialistische Demokratie und die Diktatur des Proletariats“ (67). Darin wird ganz allgemein erklärt, im Rätesystem herrsche „ArbeiterInnendemokratie mit dem Recht der Massen, zu wählen, wen immer sie wollen, und die politische Organisationsfreiheit für diejenigen, die die Räteverfassung in der Praxis anerkennen (selbst wenn sie bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologien oder Programme vertreten)“. Alles Einschränken politischer Parteien führe „zu systematischer Einschränkung der ArbeiterInnendemokratie“ und tendiere „unvermeidlich zu einer Einschränkung der Freiheit in der Avantgardepartei selbst“ (68).

Die Frage der ArbeiterInnendemokratie derart abstrakt zu stellen, verkennt, dass sich der zugespitzte Kampf um die Macht natürlich auch in den Räten abspielt und zuspitzt, und zwar zwischen denjenigen, die die Diktatur des Proletariats erkämpfen wollen, und denen, die sie erst bekämpfen oder nach der Revolution beseitigen. Die Reife der Revolution in Russland konnte gerade aus der Verschiebung zwischen Menschewiki und Bolschewiki in den Sowjets abgeleitet werden, wobei (69) zumindest die rechten Menschewiki schon im Vorfeld des Oktoberaufstands zu Recht aus den Sowjets gedrängt wurden (bzw. die Arbeit dort aufgaben). Andererseits verhinderten die Mehrheits-SPDler mit aller Macht, dass andere Parteien ihre Mehrheit besonders in den Reichsorganen der Räte in Frage stellten. Die Forderung der KPD im Februar 1919, die SPD aus den Räten rauszuwerfen, war sicher angesichts der realen Kräfteverhältnisse in den Räten verfrüht und konnte wichtige Teile der ArbeiterInnenschaft nur vor den Kopf stoßen – aber früher oder später hätte eine wirklich revolutionäre Rätebewegung ohne die Marginalisierung der SPD in den Räten unmöglich siegreich sein können.

Produktionskontrolle und politische Macht

Schließlich muss noch die Frage der Räte zur Produktionskontrolle, zur Sozialisierung und den daraus folgenden Organisationsfragen behandelt werden. Die zentrale Errungenschaft der Sowjets ist sicher, dass sie eine Form der Demokratie entwickeln, die unmittelbar die Bestimmung über Produktion, Verteilung und Konsum mit einschließt. Doch wird auch dies in den ersten Phasen jeder Rätebewegung zunächst nur die Ebene der ArbeiterInnenKONTROLLE über wichtige Betriebe, Fragen der Verteilung öffentlicher Güter (z. B. Transport), der Gesundheitsversorgung u. Ä. betreffen. Sie wird kaum sofort zur Zerschlagung des bürgerlichen Eigentums und zu einer vergesellschafteten Ökonomie schreiten. Eine Radikalisierung der Rätebewegung wird jedoch immer zur Ausdehnung der Produktionskontrolle in Richtug auf Planung und Vergesellschaftung fortschreiten. Karl Korsch hat in seinem während seiner Rätezeit geschriebenen Artikel „Grundsätzliches zur Sozialisierung“ dargestellt, dass die Entwicklung der Räteorganisation wesentlich dafür sei, dass eine mit der Diktatur des Proletariats eingeleitete Übergangsgesellschaft tatsächlich eine sozialistische Entwicklung einleiten kann. Diese müsse zwischen den Polen „Staatssozialismus“ und „Produzentensozialismus“ vermitteln. Eine Sozialisierung der Produktion ohne ArbeiterInnendemokratie müsse zwangsläufig die Mechanismen des alten Systems und des staatlich-bürokratischen Zwangsmechanismus wiederherstellen und „Bürokratismus, Schematismus, Ertötung der Initiative und der Verantwortungslosigkeit… Lähmung und Erstarrung“ heraufbeschwören. Andererseits ist eine reine „Sozialisierung von unten“, eine sich „organisch aus den Räten“ entwickelnde Vergesellschaftung auch nur eine Quelle von Partikularismus bestimmter Großbetriebe, Verfestigung alter Arbeitsteilungen, ökonomistischer Verengung auf die am besten rätemäßig organisierten Teile der Ökonomie. Korsch spielt hier auf die Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung der Rätebewegung an, die wohl auch viele wichtige gesellschaftliche Bereiche noch nicht erfasse. Zum Ausgleich dieser Ungleichgewichte, ebenso zur Aufrechterhaltung der Disziplin, gerade auch in komplexen industriellen Großfertigungen, ist daher in den ersten Phasen der Vergesellschaftung eine wichtige ökonomische Funktion auch in der rätedemokratisch kontrollierten Neuschaffung einer staatlichen Verwaltung gegeben. Diese steckt sicherlich wichtige Eckpfeiler für die Frage einer arbeiterInnendemokratisch kontrollierten Planwirtschaft ab.

Korschs Artikel ist einer von vielen Beiträgen während der Novemberrevolution zur Frage der „wirtschaftlichen Räte“ – einer Diskussion, die teilweise mit großem formalistischen Aufwand betrieben wurde (z. B. wurde eine Vielzahl von komplexen Organisationsdiagrammen veröffentlicht – wahrscheinlich eine typisch deutsche Form von „Konkretheit“).

Real ergab sich die Aufspaltung von ArbeiterInnenräten und den Betriebsräten (den „wirtschaftlichen Räten“) eigentlich durch den politischen Niedergang der Rätebewegung, der jedoch auf betrieblicher Ebene noch in Form von mehr oder weniger Produktionskontrolle verzögert erfolgte. Während speziell in der USPD und der KAPD Illusionen in den weiteren Fortschritt der „wirtschaftlichen Räte“ und ihre angebliche Fähigkeit, die Vergesellschaftung „von unten“ voranzutreiben, bestanden, betonten Korsch wie auch die KPD die Unmöglichkeit dieses Programms ohne politische Machtergreifung und Errichtung eines proletarischen Halbstaates. Korsch bekräftigte, wie oben gesehen, dass selbst nach der Machtergreifung die politische Initiative und Führung gegenüber den betrieblichen Räten entscheidend zur wirklichen Überwindung der überkommenen kapitalistischen Strukturen seien. Klar ist auch, dass schon für den Kampf um die Macht eine Dominanz der politischen Räte gegenüber dem reinen Betriebsrätesystem erreicht werden muss. Die KPD entwickelte daher zu Recht ein paralleles Modell der politischen Räte, die nicht einfach einzelne Betriebe, sondern Wirtschaftsregionen nach zentralen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen repräsentierten (nach Delegiertensystemen aus Betrieben und Stadtteilen und Gemeinden). Über mehrere territorale Stufen bis zum politischen Zentralrat sollten Delegierte mit imperativem Mandat gewählt werden. Auch nach Errichtung der Diktatur des Proletariats sollte dieser Zentralrat, stärker die gesamtgesellschaftlichen Interessen vertretend, das letzte Wort gegenüber dem national von den Betriebsräten gebildeten Wirtschaftsrat in wirtschaftlichen Planungsfragen haben.

Conrad Schuhlers Behauptung in der isw-Broschüre „Kapitalismus oder Demokratie“ (70), die Rätebewegung der Novemberrevolution könne kein Vorbild für die heutige Suche nach Alternativen zur parlamentarischen Demokratie sein, da sie die „Menschen außerhalb der Betriebe“ nicht organisiert habe, also eine reine Vernetzung von Betriebsräten gewesen sei, zeugt also vor allem von geringer Kenntnis der Entwicklung der Räte in der Novemberrevolution wie auch der damaligen Diskussionen um die Räte selbst. Schuhlers Alternative, das „territoriale Prinzip“ und Föderation nach dem Vorbild der Pariser Kommune, fällt um Meilen zurück hinter die Entwicklung der Vermittlung betrieblicher Selbstverwaltung und gesamtgesellschaftlicher Rätekontrolle, wie sie während der Novemberrevolution skizziert wurde. Natürlich passt die „immer umfangreicher werdende Gemeinde-Kommunen-Bewegung“ besser zur unmerklichen Transformation der Gesellschaft, bei der ja irgendwie die Machtfrage nicht so heftig auf die Tagesordnung kommt und irgendwie auch Vergesellschaftung von unten wächst. Selbst die KAPD mit ihren „Unionen als Keinmzellen“ der Rätemacht war da wohl realistischer.

Sozialistische Revolution ohne Sowjets?

So wie die Frage der Partei vom bolschewistischen Typ ist natürlich auch der zweite Aspekt, die zentrale Rolle der Sowjets, ein Punkt, mit dem sich das „Modell Oktoberrevolution“ als etwas Vergangenes, für heutige „radikale Politik“ als nicht mehr anwendbar, ausgeben lässt. Hier muss nicht weiter auf die vielen Strömungen eingegangen werden, die mit dem „Abschied vom Proletariat“ und vom „ArbeiterInnenbewegungsmarxismus“ damit natürlich auch keine Verwendung für ArbeiterInnenräte haben können. Ersatzweise klassenunspezifische „Räten“, die nicht mehr ihre Basis in der Produktion haben, können natürlich nicht im Ansatz die gesellschaftliche Macht des Kapitals herausfordern, wozu tatsächliche Sowjets in der Lage sind. Noch viel weniger können sie Grundlage echter Vergesellschaftung und Durchsetzung einer demokratischen Planung des gesamtgesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozeses sein.

Slavoj Zizek, der sich in seiner Gesellschaftskritik in der Tradition von Althusser sieht, beschreibt das Problem anders: Zwar sei das Schicksal der Lohnsklaverei so verbreitet wie nie, gleichzeitig aber auch total „verdrängt“ (71) aus der Öffentlichkeit. Dass die Millionen, die in Fabriken arbeiten, in der postmodernen Kultur wieder zu „Nichtsichtbarkeiten“ wie in der klassischen Kultur geworden seien, ist für Zitek der Ausdruck für das Verschwinden des Proletariats als Subjekt. Der besondere Augenblick zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland, der eine beispiellose demokratische Massenbewegung und -diskussion hervorgebracht habe, sei der Moment für das „utopische Modell“ der Räteherrschaft gewesen, so Zizek (72). Seither sei das Proletariat als selbstbewusstes Subjekt von der Bühne getreten, wieder in die vielen, von objektiven Strukturen zerstückelten Formen von Subjektivität zerfallen: „Anstatt nach der verschwindenden Arbeiterklasse zu suchen, sollte man besser fragen: Wer besetzt heute ihre Position als Proletariat, wer ist in der Lage, sie zu subjektivieren?“. Insofern sieht Zizek die „TrotzkistInnen“, die er sonst gegenüber allen Linken als die „konsequenten Nachfolger Lenins“ sieht, dem „Arbeiterklassen-Fetisch“ verfallen (73). Zizek will eine „Rückkehr zu Lenin“, zur „genialen Auffassung des Augenblicks“, wie dieser sie 1917 geleistet hat, zu seiner Erfassung des plötzlichen, unverhofften Auftretens massiver Subjektivität. Außer dass „die Revolution kommt“, dass ein neues Proletariat unvermeidlich auf die Bühne träte, dass Kapitalismus und Demokratie am Scheitern seien, lässt uns Zizek aber im Dunkeln, was daraus abzuleitende Handlungsperspektiven wären.

Sicherlich bedeuten die Veränderungen im Produktionsprozess, die weitere Anonymisierung des Arbeitsprozesses und die jahrelange Zerstörung von radikalen Widerstandstraditionen in den produktiven Kernen der ArbeiterInnenschaft, dass die Bildung von Räten heute ganz andere Gestalten und Verläufe annehmen wird als 1917. Die Bildung der zersplitterten ArbeiterInnenschaft zum massenhaft handelnden Proletariat muss viele subjektive Schranken durchbrechen. Aber auch die enorm rasche Radikalisierung der ArbeiterInnenschaft nach 1917, einer ArbeiterInnenschaft in Russland und ganz Europa, die gerade zu Millionen als reines Schlachtvieh im Weltkrieg herumkommandiert worden war, und dies mit Billigung des allergrößten Teils der einzigen PolitikerInnen, denen sie vertraut hatten, war selbst für viele MarxistInnen eine Überraschung.

Und Zizek hat Recht, dass Lenin einer der wenigen war, der das Ausmaß der Dynamik dieser Radikalisierung sehr früh erfasst hat. Aber die Rätebewegung hatte auch den Aspekt, der großen Unzufriedenheit der Massen mit den bestehenden Parteien der Zweiten Internationale eine Bühne zu bieten. Die Räte waren somit auch ein Ausdruck der spontanen Erkenntnis der Massen, dass es einer übergreifenderen, weitaus demokratischeren Organisation ihrer Interessen bedürfe, um mitten in der Krise das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Insofern sind Räte in Zeiten der revolutionären Zuspitzung immer Ausdruck eines Bruchs der Ausgebeuteten mit bestehenden, verkrusteten, systemischen Organisationsformen der Klasse, die zum Hindernis für die Bildung zur „Klasse für sich“ geworden sind. Gerade in der Situation der gegenwärtigen ArbeiterInnenklasse ist es daher um so weniger denkbar, dass der „Augenblick der Revolution“ zur Möglichkeit wird, ohne dass sich vorher massenhaft selbstbestimmte Basisorganisationen gebildet hätten, die Produktionskontrolle, politische Entscheidungen, überregionale Vernetzung, Herausforderung der bestehenden staatlichen Institutionen in so etwas wie einer Rätebewegung vereinen.

Die Atomisierung der heutigen ProduktionsarbeiterInnenschaft, die weiter vorangetriebene Entpolitisierung des Betriebsalltags, die weitere Desillusionierung über die tradierten ArbeiterInnenorganisationen lassen natürlich spontan Organisationsformen von radikalisiertem Protest entstehen, die noch viel weniger „organisch“ aus Fabrikkomitees herauswachsen als in früheren Zeiten. Es wäre wohl eine opportunistische Verklärung, die Platzbesetzungen im Rahmen des Arabischen Frühlings oder der „Empörten“ der spanischen Anti-Krisenproteste als „Vorformen von Räten“ darzustellen. Trotzdem drückt sich auch in ihnen bereits der Bruch mit der bestehenden Form von repräsentativer Politik aus, das Misstrauen gegenüber den traditionellen „OppositionsführerInnen“, der Wunsch nach Formen der direkten, selbstbestimmten, massenhaften Demokratie.

Trotzki hat in seinen Beiträgen zur Entwicklung der spanischen Revolution in den 1930er Jahren klargemacht, wie wichtig es dort war, angesichts einer breiten Protestbewegung, die viele Formen klassenübergreifenden Protestes (katalanischen und baskischen Nationalismus, „Arbeiter- und Bauernblöcke“ etc.) hervorgebracht hat, die Losung des Kampfes um Arbeiterräte als zentrale politische Orientierung zu sehen (74). Dabei ginge es gerade um die Durchsetzung des proletarischen Charakters der Protestbewegung genauso wie um den Kampf um die politische Führung im Proletariat selbst. Deshalb trat Trotzki auch dafür ein, dass in den spanischen Juntas (unabhängige politische Machtorgane, Räte) alle wesentlichen Organisationen der ArbeiterInnenklasse vertreten sein, ja sie sogar dort hineingezogen werden müssten (ebd.). Dies ist wichtig gerade gegenüber den Tendenzen der heutigen radikal-demokratischen Protestformen, die „Alt-Parteien“ und alles Organisierte aus den Basisorganisationen mit allen möglichen Mitteln herauszuhalten. Dies ist nur eine Methode, um die insgesamt weiterbestehende Vorherrschaft reformistischer Organisationen innerhalb der ArbeiterInnenschaft zu befestigen und den echten Kampf um die Perspektive in der Gesamtklasse zu verhindern.

Letztlich geht es darum, das Proletariat aus diesen „Bewegungen des Volksprotestes“, die in vieler Hinsicht nur neue Formen der klassischen „Volksfront“ sind, eigenständig und als die Kraft zu organisieren, die tatsächlich in der Lage ist, das Ganze der bestehenden, krisenhaften Gesellschaft umzuwälzen und auf eine neue Grundlage zu stellen. Insofern hatte schon Trotzki in den 30er Jahren festgestellt, dass „die Volksfront die Hauptfrage der proletarischen Klassenstrategie“ geworden sei (75). Denn in jeder der aktuellen Revolutionen, auch der Oktoberrevolution, begeben sich nicht nur die reformistischen ArbeiterInnenorganisationen in Koalitionen mit bürgerlichen Kräften zur Kanalisierung des Protestes: „Vom Februar bis zum Oktober waren die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre … in engstem Bündnis mit der bürgerlichen Partei der Kadetten, mit denen sie zusammen eine Reihe von Koalitionsregierungen bildeten. Unter dem Zeichen dieser Volksfront befand sich die ganze Masse der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Freilich nahmen die Bolschewiki an den Räten teil. Aber sie machten nicht die geringsten Konzessionen an die Volksfront. Ihre Forderung lautete, diese Volksfront zu ZERBRECHEN … und eine echte Arbeiter- und Bauernregierung zu schaffen“.

Sowjetfetischismus oder sowjetische Strategie?

Die Abkehr von den „Sowjets“ gibt es aber noch in einer anderen, sehr viel „politischeren“ Form. Unter dem Eindruck der Entstehung „sozialistischer Staaten“ in Osteuropa, Asien und Kuba seit 1945 wurde die Vorstellung, dass „sozialistische Umwälzungen“ ohne Rätebewegung der „Normalfall“ und die Oktoberrevolution die „Ausnahme“ sei, nicht nur in der (post-)stalinistischen Linken verbreitetes Gemeingut. Vielleicht am konsequentesten wurde dies gerade vom „Trotzkisten“ Nahuel Moreno (der eine der größten lateinamerikanischen Strömungen des „Trotzkismus“ begründete) formuliert, als er seinen WidersacherInnen in der 4. Internationale vorwarf, einen „Sowjetfetischismus“ zu vertreten (76).

In der Polemik gegen die oben zitierte Resolution zur „Sozialistischen Demokratie und die Diktatur des Proletariats“ behauptet Moreno, dass der entscheidende Faktor der Revolution die Führung der Massen durch die revolutionäre Partei sei, während die Frage der Sowjets nur eine untergeordnete taktische Frage sei. Sowjets könnten eine Rolle bei der Erlangung der Führung der Massen durch die Partei spielen, doch könne dies auch anders erfolgreich gelingen. Im „Übergangsprogramm“ hatte Trotzki von der unwahrscheinlichen Möglichkeit gesprochen, dass eine von reformistischen ArbeiterInnenparteien (auch StalinistInnen) dominierte „Arbeiter- und Bauernregierung“ unter dem „Einfluss eines außergewöhnlichen Zusammentreffens bestimmter Umstände (Krieg, Niederlage, Finanzkrach, revolutionäre Offensive der Massen usw.)… auf dem Wege des Bruchs mit der Bourgeoisie weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist“ (77). Aus dieser „Ausnahmesituation“, der Überdetermination, die Trotzki nicht ausschließen wollte, macht Moreno nun das allgemeine Modell, dass die Errichtung der Diktatur des Proletariats vor allem über die ArbeiterInnenregierung voranschreitet – im positiven Fall über eine revolutionäre, das heißt für ihn von einer revolutionären Partei geführten ArbeiterInnenregierung, während in Fällen wie in China oder Kuba durch den mangelnden revolutionären Charakter der Führung, die nur durch den Gang der objektiven Umstände zur Diktatur gezwungen sei, eben ein „deformierter ArbeiterInnenstaat“ entstünde (in der Art, wie Lenin den Rückzug zu staatskapitalistischen Maßnahmen in den 1920er Jahren als „Deformation“ bezeichnete).

Diese Revolutionstheorie der „revolutionären ArbeiterInnenregierung“ verkennt die zentrale Rolle der Sowjets für eine wirkliche proletarische Revolution. Während sie die Sowjets zu einer untergeordneten Taktik macht, wird ein tatsächlich spezifisch taktisches Moment – die der Einheitsfronttaktik der Komintern entnommene Losung der „Arbeiter- und Bauernregierung“ – zu einer revolutionären Strategie fetischisiert. Die radikale Pose der „revolutionären Diktatur“ hat dabei die opportunistische Kehrseite, dass alle möglichen „revolutionären Einheitsfronten“ mit reformistischen GewerkschafterInnen, PeronistInnen, GuerillaistInnen, „Arbeiter- und Bauernblöcke“ etc. – die vor allem deshalb „revolutionär“ waren, weil sie mit den selbsternannten „Revolutionären“ zusammenarbeiteten – zu Etappen auf dem Weg zur „revolutionären Arbeiterregierung“, also zur „Revolution“ gemacht werden. Dies ist offensichtlich nur eine in die Terminologie der Komintern gekleidete Wiederauflage von Kautskys „Weg zur Macht“.

Tatsächlich sind die Bildung von Sowjets und der Kampf um ihre revolutionäre Führung nicht einfach eine taktische Frage unter besonderen Bedingungen – die Frage der Sowjets ist für die proletarische Revolution von strategischer Bedeutung. Die von Lenin in „Staat und Revolution“ entwickelte Staatstheorie bestimmt im Kern die Bedeutung der Sowjets für die Zerschlagung des bürgerlichen Staates damit, dass die Diktatur des Proletariats zugleich die Errichtung eines proletarischen Halbstaates sein muss, soll sie eine erfolgreiche proletarische Revolution sein. Je mehr es gelingt, die bürgerlichen Insitutionen, von den Repressionsorganen bis zur Verwaltung und den ideologischen Apparaten, durch die Selbstverwaltungsorgane des Proletariats zu ersetzen, umso größere Chancen bestehen für eine wirkliche, die Produktionsweise in allen ihren Aspekten umwälzende Übergangsgesellschaft Richtung Sozialismus. Je mehr diese innere, nicht bloß formale eigentumsrechtliche Enteignung und Entmachtung der Bourgeoisie durch die eigenständige Bewegung der Klasse voranschreitet, desto größer die Chancen auch für die Abwehr der notwendigen konterrevolutionären Gegenschläge.

Eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, die ohne diese Selbsttätigkeit vor allem „von oben“, vor allem über „Verstaatlichungen“ abläuft, wird umso mehr Elemente des alten bürgerlichen Staates bewahren und anstelle wirklicher Räte setzen. Alle Erfahrungen, von der Stalinisierung der Sowjetunion über die Umstürze in Osteuropa und der DDR bis zu den Siegen in China, Kuba und Vietnam, zeigen, dass die Formen der Staatlichkeit in diesen Regimen kaum zu unterscheiden waren von ganz gewöhnlichen bürgerlichen Diktaturen. Selbst was sich „Räte“ oder gar „Sowjets“ nannte, war nichts anderes als parlamentarische Staffagen, „Quasselbuden“ ohne Bezug zu den tatsächlichen Problemen der arbeitenden Bevölkerung, die sie angeblich vertraten. Die bürgerliche Form dieser Staaten im Gegensatz zu ihren nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnissen war Ausdruck der Abtötung des Lebenselements im Sinne eines wirklichen Übergangs zum Sozialismus: der immer weiter um sich greifenden Selbstorganisation der Arbeitenden, die immer mehr alle Formen von Staatlichkeit überwindet. Dagegen waren die Ausschaltung der Sowjets in der UdSSR bzw. die unter ganz besonderen Umständen möglich gewordenen Umwälzungen durch „bürokratische ArbeiterInnen- und Ba(e)uerInnenregierungen“, die auf militärischen Organen statt auf Räten beruhten, zentral dafür verantwortlich, dass die errichteten ArbeiterInnenstaaten zugleich Diktaturen bürokratischer Schichten über die ArbeiterInnen wurden. Früher oder später musste die ökonomische Krise des blockierten Übergangs und der bürokratischen Misswirtschaft große Teile dieser Bürokratie selbst zu Agenten der Konterrevolution machen. Die bürgerliche Form des Staatsapparates konnte ihre letzte Funktion in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten bei der formal legalistischen Durchführung der Restauration des Kapitalismus spielen.

Dies ist kein „Rückwärtslaufen des reformistischen Films“ des Weges zum Sozialismus – denn mit der stalinistischen Konterrevolution, der Zerschlagung der revolutionären Organisationsformen, der revolutionären Partei und der arbeiterdemokratischen Sowjets, war die „Diktatur des Proletariats“ bereits ihres revolutionären Subjekts beraubt. Die ArbeiterInnenklasse herrschte nur noch abstrakt, „objektiv“, über die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse vermittelt. Nachdem die Krise der bürokratischen Planwirtschaft große Teile der Klasse und der Bürokratie in diesen Staaten keine Perspektive mehr sehen ließ, fehlte jegliches Subjekt zur Verteidigung dieser Art von Staat – es blieb nur die kapitalistische Restauration oder eine neue politische ArbeiterInnenrevolution, die wiederum auch diesen „Arbeiterstaat“, d. h. seine bürokratischen Strukturen hätte zerschlagen müssen, um die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Insofern haben auch die Aufstände in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten, ob in Polen, der DDR, Ungarn oder der Tschechoslowakei sofort auch immer wieder zur Bildung von Streikkomitees und Rätestrukturen geführt. Auch hierin zeigt sich die spontane Tendenz der ArbeiterInnen in revolutionären Situationen, ihre unabhängige, gegen bestehende staatliche Strukturen gerichtete Stoßrichtung – genauso wie die beständige Gefahr, dass solche Räte oder Selbstorganisationsansätze unter reaktionäre Führung geraten können, wenn es keine revolutionären Organisationen gibt, die darin für eine sozialistische Perspektive kämpfen.

 

Endnoten

(1) Schuhler, Conrad: Der Marxismus und das Ende des Kapitalismus, Seite 5 von 8; zitiert wird aus den Gefängnisheften von Antonio Gramsci. In der Ausgabe „Philosophie der Praxis“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1967) findet sich das Zitat auf Seite 347, im Kapitel „Politischer Kampf und militärischer Krieg“

(2) Schuhler, ebd., S. 6 von 8

(3) In: Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, Berlin/O., 1975, S. 27 ff.

(4) Lenin, W. I.: Staat und Revolution (SuR). Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, LW 25, Berlin/O., 1972, S. 400

(5) Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), MEW 20, Berlin/O., 1962, S. 261

(6) ebda., S. 262

(7) Marx, zitiert nach Lenin, Staat und Revolution, a. a. O., S. 427

(8) Lenin, ebda, a. a. O., S. 463

(9) Lenin, ebda, a. a. O., S. 501, 504

(10) Gramsci, Antonio: Philosophie der Praxis, a. a. O., S. 75

(11) ebda., S. 33

(12) ebda., S. 96 f.

(13) ebda., S. 67

(14) ebda., S. 97 f.

(15) ebda., S. 34

(16) ebda., S. 60

(17) ebda.

(18) ebda., S. 86

(19) ebda., S. 346

(20) ebda., S. 328

(21) ebda., S. 332

(22) ebda., S. 349

(23) Althusser, Louis: Für Marx, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1968, S. 113 f.

(24) ebda., S. 114

(25) ebda., S. 115

(26) ebda., S. 116

(27) ebda., S. 117 f.

(28) ebda., S. 126 f.

(29) ebda., S. 128 f.

(30) ebda., S. 129

(31) Croce, Benedetto: Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1968. Original: Storia d’Europa nel secolo decimonono, Neapel, 1932

(32) ebda., S. 324

(33) Althusser, a. a. O., S. 140

(34) ebda., S. 141

(35) Marx, Karl: Das Kapital. Band I. Nachwort zur zweiten Auflage, MEW 23, Berlin/O., 1971, S. 27 f.

(36 Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, VSA Verlag, Hamburg, 2002. Originalausgabe: Paris, 1977, S. 64

(37) ebda., S. 74

(38) ebda., S. 279

(39 ebda., S. 281

(40) ebda., S. 289

(41) ebda.

(42) ebda., S. 286 f.

(43) ebda., S. 174

(44) ebda., S. 292

(45) Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Frankfurt/M., 1968; Erstausgabe: Berlin, 1923

(46) Korsch, Karl: Marxismus und Philosophie, London, 1998; Original: Berlin, 1923

(47) Rogowin, Stalins Kriegskommunismus, , Mehring Verlag, Essen, 2006, S. 277 ff.

(48) Lukács, Chvostismus und Dialektik (1925), Áron Verlag, Budapest, 1996, S. 51

(49) ebda., S. 51 f.

(50) ebda., S. 55

(51) Zitiert von Lukács, ebda.

(52) ebda., S. 83

(53) ebda., S. 78

(54) Kautsky, Karl : Der Weg zur Macht, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M., 1972, S. 60 f.

(55) Zizek, Slavoj: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2002

(56) ebda., S. 10

(57) ebda.; historische Bezüge und Zitate jeweils aus: Harding, Neil: Leninism, Durham, 1996

(58) Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Übergangsprogramm der 4. Internationale. Ende des ersten Abschnitts, in: ders., Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 bis 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen, o. J., S. 5 f.

(59) Arnold, Volker: Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution, Hamburg, 1985, S. 113

(60) ebda., S. 148

(61) ebda., S. 152

(62) ebda., S. 158

(63) ebda., S. 188 f.

(64) ebda., S. 190

(65) Trotzki, Übergangsprogramm, a. a. O., S. 28

(66) Karim, Darius (Pseudonym von Nahuel Moreno): Die revolutionäre Diktatur des Proletariats, Bogotá, 1979

(67) Resolution des 12. Weltkongresses der 4. Internationale, 1985. Aus: Warum wir den Sozialismus wollen II, RSB, Die Internationale Theorie, Heft 30, Mannheim, 2006

(68) ebda., S. 33

(69) Arnold, a. a. O., S. 214

(70) Schuhler, Conrad: Widerstand. Kapitalismus oder Demokratie, isw-Report 96, München, 2014

(71) Zizek, Lenin, a. a. O., S. 123 ff.

(72) ebda., S. 11 f.

(73) ebda., S. 185

(74) Siehe: Trotzki, Leo: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-1939, Frankfurt/M., 1975, Band 1, S. 75

(75) ebda., S. 204

(76) Karim, a. a. O., S. 149

(77) Trotzki, Übergangsprogramm, a. a. O., S. 27