Trotzkistisches Archiv Österreichs online

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1211, 23. Januar 2023

Seit Mitte November 2022 ist eine neue Homepage zugänglich: das Trotzkistische Archiv Österreichs. Es ist das Produkt jahrelanger Arbeit und umfasst bereits an die zehntausend Seiten mit Texten linksoppositioneller Organisationen Österreichs aus den Jahren 1933 bis 1976.

Alle Organisationen, von denen hier Publikationen und (interne) Materialien dokumentiert werden, arbeiteten konspirativ, waren also illegal tätig. Das bedeutet auch, dass ein großer Teil der Texte archivalisch nirgends erfasst ist und auf dieser Homepage überhaupt zum ersten Mal zugänglich gemacht wird. In jahrelanger Tätigkeit ist es Manfred Scharinger gelungen, ein umfangreiches (aber immer noch alles andere als vollständiges) Archiv des österreichischen Trotzkismus aufzubauen.

Zusätzlich werden auf dieser Homepage auch eine Reihe weiterer Texte, die sich auf die Geschichte der österreichischen linksoppositionellen Bewegung beziehen, sowie 27 der zwischen 1985 und 2021 erschienenen 28 Nummern der Kleinen Schriftenreihe zur österreichischen Arbeiter:innengeschichte, die zuletzt von der Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt herausgegeben wurde, digital zugänglich gemacht.

Das Trotzkistische Archiv Österreichs gliedert sich in drei große Bereiche: Die Kleinen Schriftenreihe zur österreichischen Arbeiter:innengeschichte, diverse Texte (darunter auch die zweibändige Ausgabe Österreichischer Trotzkismus) und das eigentliche Archiv. Darin finden sich in zwei große Sektionen: vor 1945 und ab 1945.

Im Archiv der Jahre 1918-1945 können derzeit die Texte von fünf Organisationen dokumentiert werden: zuerst einmal die der personell und politisch dominierenden Gruppierung, des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse (1934-1941) mit seiner Zeitschrift Arbeitermacht und einer großen Zahl weiterer Texte und (interner) Materialien. Aus dem Kampfbund gingen die Organisation Proletarischer Revolutionäre (1939-1943) mit ihrer Zeitschrift Iskra und die Linksfraktion des Kampfbundes, die spätere Gruppe ‚Gegen den Strom‘ – 1939-1943 hervor, während die dritte oppositionelle Gruppe, die Proletarischen Internationalisten, derzeit noch nicht ins Archiv aufgenommen werden konnte. Weder der Kampfbund noch diese anderen Organisationen waren anerkannte Teile der (werdenden) IV. Internationale. Die offizielle österreichische Sektion der Internationalen Linksopposition waren die Bolschewiki-Leninisten Österreichs (1933-1936), später die Revolutionären Kommunisten Österreichs (1936-1938), die in diesem Teil des Archivs ebenfalls mit Publikationen und anderen Texten vertreten sind.

Im zweiten Teil, im Archiv ab 1945, sind zwei Strömungen dokumentiert. Zuerst einmal die „offizielle“ Sektion der IV. Internationale mit allen ihren Facetten: der Karl-Liebknecht-Bund (Internationale Kommunisten) (1945-1946) und deren Nachfolgeorganisation, die Internationalen Kommunisten Österreichs (1946-1955), dazu die Internationalen Kommunisten Österreichs (Opposition) (1949-1955). Die zweite Strömung ist der 1945 wieder reorganisierte Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse mit seiner „Vorfeldorganisation“, der Proletarischen Vereinigung Österreichs, und dem aus dem Kampfbund hervorgegangenen Arbeiterstandpunkt (1972-1976). Der Kampfbund, der zwischen 1945 und 1973 ein reges, aber auch nach 1955 immer noch streng illegales Organisationsleben aufwies, war bisher außer einigen Nummern der Zeitschrift Arbeiterblatt archivalisch praktisch überhaupt nicht erfasst. Besonders stolz sind wir, dass wir in der Rubrik Kampfbund auch viele nach 1945 erschienene Texte von Josef Frey aufnehmen konnten, darunter auch seinen mehr als 1.000 Seiten starken Schulungskurs Die internationale proletarische Demokratie und den Schriftverkehr zwischen Josef Frey und den österreichischen Kampfbund-Mitgliedern. Insgesamt liegen jetzt in unserem Archiv ab 1945 mehr als 2.400 Seiten von KLB / IKÖ / IKÖ-Opposition vor, vom Kampfbund sogar fast 5.600 Seiten.

Natürlich ist das Trotzkistische Archiv Österreichs alles andere als vollständig. Aber es ist ein großer Schritt zur Dokumentation der Geschichte der trotzkistischen Bewegung Österreichs. Klarerweise wollen wir auch in Zukunft das Archiv weiter ausbauen und vervollständigen – wir, das sind die Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt, unter deren Schirmherrschaft das Projekt umgesetzt wurde, Genosse B., der für die technische Umsetzung des Projekts verantwortlich zeichnete, und Manfred Scharinger, der praktisch das gesamte Material digitalisierte und die Homepage mit Leben erfüllte.

Wir wollen mit dem Archiv mehrere Ziele erreichen. Zuerst einmal geht es darum, die vielfach in keiner Bibliothek archivierten Dokumente vor dem Vergessen-Werden zu bewahren. Zum anderen soll damit eine Basis dafür geboten werden, dass sich möglichst viele Genoss:innen auf einfache Weise intensiver mit der reichhaltigen und facettenreichen Geschichte des österreichischen Trotzkismus beschäftigen können. Schließlich bitten wir auch um Mithilfe, denn wir haben es schon gesagt: Wir wollen auch in Zukunft das Archiv weiter ausbauen und vervollständigen. Sollten Genoss:innen Zugang zu interessantem Material haben, das wir noch nicht publizieren konnten, bitten wir um Zusammenarbeit. Und natürlich sind wir daran interessiert, dass die Homepage auch in einem breiterem Umfang bekannt gemacht wird. Hier daher nochmals die Internet-Adresse:




1918: Die Gründung der revolutionären KPÖ

Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), ursprünglich erschienen in Flammende 1, Infomail 1196, 19. August 2022

Hiermit veröffentlichen wir einen schon älteren Artikel. Er wurde im Oktober 1993 unter dem Titel „Vor 75 Jahren: Gründung der revolutionären KPÖ“ in unserer Zeitung „ArbeiterInnenstandpunkt“ Nr. 55 von unserem damaligen Genossen Manfred Scharinger publiziert.

Hintergrund

Als die KPÖ am 3. November 1918 in den Eichensälen in Wien-Favoriten gegründet wurde, gehörte sie zu den ersten Kommunistischen Parteien der Welt und war im heutigen West- und Mitteleuropa sogar die allererste Gründung. Gleichzeitig war dieser formale Akt ein vorläufiger Abschluss in einem länger andauernden Differenzierungsprozess im Schoße der deutschen Sozialdemokratie in Österreich. Die am konsequentesten mit der russischen Revolution in Solidarität Stehenden vollzogen den Schritt zur eigenständigen politischen Kraft.

Zweitens war diese Gründung eingebettet in eine politisch aufs äußerste zugespitzte Situation in Mitteleuropa: Die Hohenzollernmonarchie in Deutschland stand im Herbst 1918 ebenso vor dem Ende wie die Habsburgerdynastie, deren Österreich-Ungarn im Oktober in Nationalstaaten zerfiel. Beide teilten das Schicksal des russischen Zarismus, der schon im März 1917 von den Petersburger Massen in die Knie gezwungen wurde. Nach russischem Vorbild entstanden
überall Arbeiter:innenräte – vier lange Kriegsjahre hatten weite Teile der Gesellschaft von ihrer anfänglichen Kriegsbegeisterung geheilt und Platz gemacht für Friedenssehnsucht und revolutionäres Gedankengut. Auch in Österreich schien der Weg bereitet für eine Lösung der Krise ähnlich wie in Russland, dessen soziale Revolution das Europa der Monarch:innen von Grund auf umzugestalten begonnen hatte.

In den ersten Monaten nach der Gründung der KPÖ (bzw. der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs – KPDÖ-, wie sie bis Jänner 1921 hieß) war das Proletariat die entscheidende Kraft in Österreich. Julius Braunthal, einer der Parteitheoretiker der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SdAP), stellte fest: „Die österreichische Arbeiterklasse hat seit November 1918 zu jeder Stunde die Macht, die Rätediktatur zu errichten“. Und Otto Bauer, der SP-Parteiführer, bemerkte in seiner „Österreichischen Revolution“: Jede bürgerliche Regierung wäre „binnen 8 Tage in Straßenkämpfen gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden“. Nur eine Partei war in der Lage, eine Revolution in Österreich aufzuhalten: die SdAP, der es gelungen war, sich die Massenloyalität der radikalisierten Arbeiter:innenklasse zu erhalten. Ihrer Führung glückte das Kabinettstück, die revolutionären Erwartungen so weit zu kanalisieren, dass das kapitalistische System erhalten blieb, ohne dass gleichzeitig größere Teile der Basis zur neugegründeten Kommunistischen Partei überliefen. Diese Erblast wird die KPÖ von ihrer Gründung bis heute begleiten: Die übermächtige Konkurrenz der Sozialdemokratie im Lager der Arbeiter:innenklasse.

Vorgeschichte

Die österreichische Sozialdemokratie war in ihrer Geschichte immer auf zwei Dinge ganz besonders stolz: erstens auf ihre Rettung Österreichs „vor dem Bolschewismus“. Und zweitens darauf, dass in der SdAP bzw. der SPÖ nach 1945 quasi die Einheit der Arbeiter:innenklasse repräsentiert sei – mit einer KPÖ als zu vernachlässigender und entweder belächelter oder dämonisierter Restgröße. Wo liegen nun die Gründe dafür, dass die KPDÖ nach 1918 nicht zur Massenkraft wie z.B. ihre deutsche Schwesterpartei werden konnte? Der Grund ist ganz sicher nicht in einem besonderen, fast mythischen Einheitsstreben des österreichischen Proletariats zu suchen – eine populäre Erklärung, die von Viktor Adler bis Bruno Kreisky immer wieder bemüht wurde. Genauso wenig ein besonderer Antikommunismus der SPÖ – ein Argument, mit dem sich die KP-Führer:innen vor jeglichem Anteil an der spezifischen Schwäche des österreichischen „Kommunismus“ freizusprechen trachteten. Die SPD war in ihrer Geschichte nicht weniger antikommunistisch, und trotzdem war die KPD die stärkste Partei der Kommunistischen Internationale außerhalb der UdSSR. Stattdessen liegen die Gründe in den Bedingungen, mit denen die KP bei ihrer Gründung konfrontiert war und in Fehlern der jungen, unerfahrenen KP-Führung.

Anders als im Falle der russischen Bolschewiki, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die notwendige Spaltung der Sozialdemokratie in revolutionäre und reformistische Kräfte vollzogen hatten, existierte in Österreich nie eine durchgehende revolutionäre Opposition. Dies behinderte ganz wesentlich die Herausbildung einer revolutionären Alternative zur Sozialdemokratie auch nach 1914, als die SdAP mit fliegenden Fahnen ins Lager der Vaterlandsverteidigung übergewechselt war und die Arbeit an der Gründungeiner neuen revolutionären und internationalistischen Arbeiter:innenpartei notwendig geworden war. Eine organisierte Linksopposition bestand im Unterschied zu Deutschland, wo Karl Liebknecht gegen die Kriegskredite im Reichstag gestimmt hatte, nicht. Einzig dem Reichenberger „Vorwärts“ (Nordböhmen) gebührt die Ehre, wegen seiner Antikriegsartikel verboten worden zu sein. Erst langsam bildete sich im Verlauf des Weltkrieges, als die Massenstimmung bereits zu schwanken begann, auch in Österreich eine klarer umrissene Oppositionsströmung gegen die Kriegspolitik der sozialdemokratischen Parteiführung heraus. Friedrich Adler, der gewichtigste Exponent dieser „Linken“ – wie sie sich selbst nannte – hatte 1916 den amtierenden Ministerpräsidenten, Graf Stürghk, aus verzweifeltem Protest gegen die Burgfriedenspolitik der SdAP-Führung erschossen.

Im Kreise der oppositionellen Sozialdemokrat:innen ergaben sich 1916/1917 zwei getrennte Entwicklungslinien: Einerseits kam es zu einer Versöhnung der „Linken“ mit der SdAP-Parteiführung, und andererseits setzte sich die Bewegung der „Linksradikalen“, einer Minderheitsströmung der „Linken“, zunehmend stärker von der SdAP-Führung und den nun wieder mit ihr versöhnten „Linken“ ab: Mit ihrer kompromisslosen Antikriegspolitik („Nieder mit dem imperialistischen Krieg! Es lebe der Klassenkampf! Er allein kann dem Krieg ein Ende bereiten! Arbeiter seid bereit!“- so der Schluss eines 1917 illegal verbreiteten Flugblattes) konnte sie vor allem unter proletarischen Jugendlichen und sozialistischen Student:innen viel Sympathie gewinnen – im Frühjahr 1917gewann die linksradikale Richtung vorübergehend sogar die Oberhand unter den sozialistischen Jugendlichen. Natürlich kam ihr dabei die internationale Entwicklung zugute: Die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 in Russland standen Pate für den Aufschwung der proletarischen Bewegung, und wenn die Linksradikalen – nunmehr bereits als „revolutionäre Sozialisten“ – in einem Aufruf an die Arbeiter:innen des Artilleriearsenals schrieben: „Lernet Russisch, lernet von Petersburg!“, so konnten sie sich der Zustimmung der fortgeschrittenen Arbeiter:innen sicher sein.

Jännerstreik 1918

So hatten, als der Jännerstreik 1918 begann, die „Linksradikalen“ in Wien, vor allem aber in Wiener Neustadt und im Wiener Becken, eine beschränkte Massenbasis und Einfluss vor allem unter den fortgeschrittensten Arbeiter:innen. Der Jännerstreik wurde damit zur ersten entscheidenden Auseinandersetzung zwischen der jungen „linksradikalen“ Bewegung, die die Notwendigkeit eines Bruches mit der SdAP-Parteiführung erkannt hatte, und der „alten“ Sozialdemokratie. Die Bewegung gewann rasch an Stärke und wurde – vor allem im Wiener Neustädter Gebiet – schnell zu einem politischen Streik: Sofortige Annahme des Friedensangebotes der russischen Arbeitermacht war die Losung der Stunde.

Doch der sozialdemokratischen Parteiführung gelang das Abwürgen der Bewegung: Zu unerfahren waren die Führer:innen der „Linksradikalen“, zu sehr war es der Parteiführung gelungen, die schweren Bataillone des Proletariats von ihrer Friedenssehnsucht und Kampfbereitschaft zu überzeugen – und zu sehr lastete noch das Gewicht des Militärapparates auf der ersten großen revolutionären Streikbewegung, die mitten im Krieg die Monarchie an den Rand des inneren Zusammenbruchs gebracht hatte. Doch dieser Jännerstreik hatte noch eine zweite, für die Gründung der KPDÖ wichtige Seite: Der nach dem Abbruch der Bewegung folgenden Repressionswelle fielen v.a. die wenigen überzeugten „Linksradikalen“ zum Opfer. An die Front abkommandiert, ins Gefängnis geworfen oder aber demoralisiert von der Niederlage in der Bewegung, der im Juni 1918 eine zweite in einer Niederlage endende Streikbewegung folgte, sollten sie bis zum Untergang der Monarchie im Herbst zu ohnmächtigen Zuschauer:innen degradiert werden.

Im Frühjahr 1918 trat neben den „Linksradikalen“ eine weitere revolutionäre Gruppe um das Ehepaar Elfriede und Paul Friedländer (1) in Erscheinung. Gemeinsam mit dem sich ihnen anschließenden Kreis um Klaus Steinhardt führten sie eine streng konspirative Arbeit und blieben so, nachdem die „Linksradikalen“ vom Staatsapparat zerschlagen wurden, die einzig intakte marxistische Struktur, die dazu noch eine monatliche Zeitung, „Der Weckruf“, herausgab. So wurde die „Weckruf“-Gruppe zum Motor der Parteigründung.

Die Zerschlagung der „Linksradikalen“, die im ostösterreichischen Proletariat verankert waren, und die Festigung der Kontrolle der Bürokratie über die sozialdemokratischen Parteiorganisationen nach der Niederlage der Jännerstreiks 1918 erschwerten die revolutionäre Massenarbeit ungemein. Trotzdem: Der Zerfall des Habsburgerreiches im Oktober 1918 und allgemeine Zuspitzung der Kriegswirren machten klar, dass in Mitteleuropa die Revolution auf der Tagesordnung stand. Die Kommunist:innen zogen daraus völlig zurecht die logische Schlussfolgerung: Keine Zeit ist zu verlieren – eine Kommunistische Partei muss gegründet werden.

Nach der Gründung

Die Gründungsversammlung am 3.11.1918 selbst wurde nicht öffentlich angekündigt. Die Herausgabe eines Agitations- und Propagandaorgans wurde beschlossen, dass zuerst als „Weckruf“ dreimal pro Woche erschien und 1919 als „Rote Fahne“ zur Tageszeitung wurde. Mit mehreren Flugblättern wurden die Arbeiter, Soldaten und die „geistigen Arbeiter“ zum Beitritt in die neue Partei aufgefordert. Die Wiener Bezirksversammlungen vom 4.-12.11. waren allerdings eher mäßig besucht, was auf die relativ schwache Verankerung der Organisation hindeutet.

Dazu kam noch, dass es erst schrittweise gelang, die anderen revolutionären Kräfte außerhalb des FriedIänder/Steinhardt-Kreises für den Beitritt zu gewinnen. Die „alten Linksradikalen“ um Koritschoner wollten ursprünglich in der Sozialdemokratie Fraktionsarbeit leisten, schlossen sich aber dann am 7.12. der KPDÖ an. Dazu kamen dann auch noch die aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Linken (wie Tomann und Koplenig) sowie viele revolutionäre Jugendliche, die aus dem sozialdemokratischen Jugendverband ausgeschlossen wurden oder ausgetreten waren. Etwas später stießen dann schließlich noch die Linke der jüdischen Arbeiterpartei Poale Zion sowie die „Föderation revolutionäre Sozialisten ‚Internationale‘“ hinzu.

Versagen der SdAP-Linken

Die Linken innerhalb der reformistischen Partei blieben großteils ihrer Haltung während des Krieges treu: Radikal reden, aber um jeden Preis in der Partei bleiben. Zu einem beträchtlichen Teil gelang es der alten Führung um Victor Adler und Karl Renner 1917,die Linken zu integrieren, die sich dafür mit einer loyalen, pro-kapitalistischen Politik bedankten. Bekannt ist der Ausspruch Otto Bauers: „Arbeiter und Soldaten hätten jeden Tag die Diktatur des Proletariats aufrichten können. Es gab keine Gewalt, sie daran zu hindern“. Der verbal radikalere Friedrich Adler, Attentäter von 1916, sprach sich zwar in Worten für die „Diktatur des Proletariats“ aus, wenn es aber darum ging, die Massen für den Sturz der bürgerlichen Herrschaft zu mobilisieren, versagte er komplett. AII das wurde mit Phrasen, um jeden Preis die Einheit der Partei (unter dem Deckmantel der „Einheit des Proletariats“) aufrecht erhalten zu wollen, gerechtfertigt.

Schließlich gab es noch die besten Elemente der SdAP-Linken, einerseits die Reichenberger Linke um Isa und Josef Strasser (Verfasser der Broschüre „Der Arbeiter und die Nation“), die sich umgehend der KPDÖ anschloss und andererseits die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft Revolutionärer Arbeiterräte (SARA) um Josef Frey und Franz Rothe. Letztere war von der Notwendigkeit der proletarischen Revolution überzeugt und wollte die SdAP für ein revolutionäres Programm und für den Anschluss an die kommunistische Internationale (Komintern) gewinnen. Sie übte vor allem innerhalb des Wiener Arbeiterrates eine einflussreiche Rolle aus. Doch so sehr sie auch gegen die reformistischen Verräter in der SdAP-Führung kämpfte, so schreckte sie doch vor der letzten Konsequenz zurück. Entgegen der Aufforderung der Komintern, „Vernichtungskampf gegen die österreichische Sozialdemokratie… und Vereinigung mit der KPDÖ“, schreckten Frey-Rothe in den entscheidenden Monaten 1919 vor der letzten Konsequenz, der Spaltung der SdAP und dem Anschluss an die KPDÖ, zurück. Zwar traten die revolutionärsten Teile der SARA im Jänner 1921 dann doch über und spielte gerade Josef Frey eine wesentliche Rolle in der KPDÖ, aber dieser Schritt kam zu spät. Gerade am Höhepunkt der Krise, als auch die SARA einen bedeutenden Einfluss in der Arbeiter:innenklasse besaß, gerade in dieser Situation wäre ein Bruch mit dem Reformismus am günstigsten gewesen. Eine qualitativ stärkere und einflussreichere KPDÖ wäre die Folge gewesen. So überließ die SARA der Parteibürokratie die Initiative. Nach dem Rückfluten der Revolution Ende 1920/21 wurden sie aus allen wichtigen Positionen verdrängt und schließlich ausgeschlossen. Der Rückgang ihres Einflusses drückte sich in den mageren 1,4% bei den Wahlen zum Arbeiterrat im Dezember 1920 aus, die nicht einmal 1/3 des KPDÖ-Ergebnisses darstellte.

Die Lehre daraus liegt auf der Hand: Ist es grundsätzlich immer die klare Pflicht revolutionärer Marxist:innen, eine eigenständige bolschewistische Organisation aufzubauen, so gilt das in Situationen des zugespitzten Klassenkampfes noch mehr. Nur so kann gewährleistet werden, dass man ohne Einschränkungen revolutionäre Ideen und Aktionen umsetzen kann. Diese zentrale Lehre zogen die Marxist:innen in der SARA zu spät. Andere, wie der „Vorwärts“ und seine internationale Militant-Strömung, ziehen sie teilweise überhaupt nicht, teilweise zu spät und dann aber auch nur halbherzig. Das britische Militant ist Mitte der 1980er Jahre, als es in Teilen der Labour Party einen nicht unbeträchtlichen Einfluss ausübte, in dieser um den Preis beträchtlicher politischer Anpassungen geblieben, um Anfang der 1990er Jahre, in einer Situation des Niedergangs und der Passivität der Parteibasis, auszutreten. Und Congress Militant in Südafrika weigert sich sogar angesichts der vorrevolutionären Situation in Südafrika und des offenen Ausverkaufs der bürgerlichen ANC-Führung, eine eigenständige marxistische Organisation aufzubauen, und ist auch bereit, für das Verbleiben innerhalb des ANC seine politische Kritik an der bürokratischen Führung zu mäßigen.

Aufstieg und Krise der KPDÖ

Nach Anlaufschwierigkeiten gelang der KPDÖ im Frühjahr 1919 ein kometenhafter Aufstieg von ca. 3000 Mitgliedern im Februar 1919 auf 10000 im März und schließlich 30-40000 Mitglieder im Mai 1919. Als die KPDÖ im März endlich zu den Wahlen im Arbeiterrat zugelassen wurde, erreichte sie immerhin 10% der Stimmen. Besonders unter den Heimkehrern aus der Gefangenschaft, aber auch den Soldaten (v.a. im Volkswehrbataillon 41), aber auch den arbeitslosen Massen übte sie einen bedeutenden Einfluss aus, und konnte zehntausende von ihnen für Demonstrationen mobilisieren. Dies zeigte das Potential für revolutionäre Politik und die Richtigkeit, eine selbstständige kommunistische Partei aufzubauen.

Im Zentrum der kommunistischen Agitation stand angesichts der revolutionären Zuspitzung die von den Bolschewiki entwickelte Forderung, dass die Arbeiterräte nicht der Koalitionsregierung von Sozialdemokratie und Christlich-Sozialen vertrauen dürfen, sondern selbst die Macht übernehmen müssten. „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!“ hieß die zentrale Losung. Die KP war damit die einzig konsequente Organisation, die angesichts des kapitalistischen Desasters auf der Notwendigkeit des Sturzes der bürgerlichen Herrschaft beharrte.

Aber auch international spielte die Partei eine wichtige Rolle. Das enthusiastische und überzeugende Auftreten des österreichischen Delegierten Steinhardt sicherte gegen die zaudernde deutsche KP die Gründung der kommunistischen Internationale im März 1919. Ebenso nahm die KPDÖ den proletarischen Internationalismus ernst und entsendete eine Kompanie der „Roten Garde“ in das von den Weißen bedrohte Räte-Ungarn, wo deren Kommandant, Leo Rothziegel, fiel. Im Arbeiter:innenrat brachte sie einen Antrag durch, aufgrund dessen in Osterreich ein eintägiger Solidaritätsstreik mit der ungarischen Räterepublik durchgeführt wurde.

Doch sollen hier nicht die Schwächen der jungen KP verschwiegen werden. In der Frühphase dominierte eine ultralinke Politik, die davon ausging, dass die Massen bloß auf den Sturm des Parlaments durch eine entschlossene revolutionäre Minderheit warten würden. (2) Daraus ergab sich eine Politik, die die Revolution mehr proklamierte als durch systematische Agitation und Kampagnen die Notwendigkeit einer Umwälzung hier und jetzt in den Massen zu verankern. Damit ging eine sektiererische Herangehensweise an die SdAP einher, die immerhin noch das Vertrauen der überwältigenden Mehrheit des Proletariats besaß. Einheitsfrontpolitik war den damaligen Kommunist:innen ein Fremdwort. Schließlich litt die Partei unter schweren Fraktionskämpfen. Dies alles führte zu einem deutlichen Rückgang ihres Einflusses. Bei den Wahlen zum Arbeiterrat im Dezember 1920 erreichte die KPDÖ nur noch 4,7%.

Erst durch die vehemente Intervention der Komintern und nach der Vereinigung mit der SARA Anfang 1921 konnte die Partei ihre Fehler weitgehend korrigieren. Unter der Führung von Frey entwickelte sie, entsprechend der Beschlüsse des 3. und 4. Weltkongresses eine flexible Einheitsfronttaktik gegenüber der Sozialdemokratie. Sie beschränkte sich nun nicht mehr auf propagandistische Entlarvungen, sondern kombinierte diese mit konkreten Aufforderungen an die SdAP zur gemeinsamen Aktion. Auf Initiative der Kommunist:innen organisierte der Wiener Arbeiterrat im Frühjahr 1922 eine Demonstration unter der Losung „Für den 8-Stunden-Tag!“, die zur machtvollsten Kundgebung der Nachkriegszeit wurde. Doch auch wenn die reformistische Parteispitze in der Regel gemeinsame Aktionen ablehnte, konnten durch diese Taktik viele sozialdemokratische Arbeiter:innen in Aktionen einbezogen werden. So wurde in Österreich, trotz Ablehnung der SdAP, die größte Spendensammlung für Sowjetrussland aller kapitalistischen Länder durchgeführt. Ebenso kam es, trotz des dezidierten Boykotts der SP-Parteispitze, am 1. Mai vielerorts zu gemeinsamen Kundgebungen. Einen Höhepunkt fand diese Politik vor dem Hintergrund der sogenannten Genfer Sanierung 1922. Durch dieses Gesetz wurde faktisch die gesamte österreichische Wirtschaft dem Diktat des Völkerbundes unterstellt. Die Sozialdemokratie kläffte, aber biss nicht. Sie schlug das Angebot zu einer gemeinsamen Protestkampagne aus. Trotzdem vermochte die KP, über 30000 Arbeiter:innen auf die Straße zu bringen.

Die zunehmende Bürokratisierung der russischen KP durch die Sinojew-Stalin-Clique führte auch zur Bürokratisierung der Komintern. Dies bedeutete eine verstärkte Unterordnung der Sektionen unter Moskau. Deren Intervention spielte dann auch eine Rolle bei der Verdrängung Freys aus der Führung auf dem VI. Parteitag im März 1923. Danach verfiel die Partei in einen permanenten Zick-Zack-Kurs zwischen sektiererischer „Einheitsfront nur von unten“ und opportunistischer Anpassung. Nach einer ultralinken Periode 1929-1933 („Sozialfaschismus-Theorie“) folgte ein scharfer Rechtsruck, der die KPÖ endgültig in eine reformistische Kraft verwandelte. Austropatriotische Ergüsse, die die Volksfront mit den Schuschnigg-Faschisten vorbereiteten, und die Erfindung der „Österreichischen Nation“ durch Alfred Klohr rundeten diese Degeneration ab.

Anmerkungen:

(1) Elfriede Friedländer spielte später bei der deutschen KP unter dem Namen Ruth Fischer eine zentrale Rolle. In den 1930er Jahren arbeitete sie eine Zeit lang bei der trotzkistischen Bewegung mit.

(2) Man nannte dies, nach einem ungarischen Emissär, „Bettelheimerei“.




Corona-Demos in Österreich: Neue alte Rechte in der Pandemie

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1178, 15. Februar 2022

Seit einigen Wochen gibt es wieder regelmäßige Massendemonstrationen auf den Straßen Wiens. Demonstriert wird gegen allerlei Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Die Impf- wird ebenso abgelehnt wie die Maskenpflicht, vorgeschriebene Testungen im Zuge der 3G-Regel am Arbeitsplatz oder aber auch unterschiedliche Ausformungen des Lockdowns. Die Stimmung der Teilnehmer:innen schwankt zwischen einem Leugnen der Pandemie und der Sorge über die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Auf dem Höhepunkt erreichten die Mobilisierungen eine Stärke von an die 50.000 Menschen.

Im Wesentlichen werden die Demonstrationen von einigen „prominenten“ Persönlichkeiten der „corona-kritischen“ Szene organisiert. Die Hauptstützen haben sich seit den Demonstrationen im letzten Winter – als eine gesetzliche Impfpflicht noch bei weitem nicht ins Haus stand – nicht wesentlich geändert. Zu nennen sind beispielsweise der weit rechts stehende Martin Rutter oder auch Hannes Brejcha. Der entscheidende Unterschied zu letztem Winter ist aber, dass sich die FPÖ – jetzt geführt von Herbert Kickl – aktiv in die Mobilisierungen einbringt und organisatorisch führend auftritt. Sorgte damals seine Unterstützung für die Demonstrationen noch für Unmut in der FPÖ, steht die Partei nun zumindest nach außen nahezu geschlossen hinter der neuen Linie. Organisatorisch steht hinter den corona-skeptischen Demonstrationen also ein rechtes Spektrum, das von der FPÖ über einzelne weit rechts stehende Einzelpersonen und die faschistischen Identitären bis hin zu Neonazis (Gottfried Küssel und Co.) und Nazi-Hooligans aus der Fußballszene reicht. Daneben gibt es auch eine sehr große Anzahl an nicht-ideologischen Menschen auf der Straße, aber diese sind entweder politisch nach rechts offen oder legen bewusste Ignoranz der Tatsachen an den Tag.

Was die soziale Zusammensetzung der Demonstrationen betrifft, ist vor allem eines sehr auffällig. In Wien kommt die große Mehrheit der Menschen immer aus den Bundesländern (teilweise auch aus dem Ausland) angereist. Es liegen dazu zwar keine wissenschaftlich erfassten Zahlen vor, aber diese Tatsache ist aus den vielen Bundesländerfahnen auf den Demos ersichtlich, den Reaktionen der Demonstrationsteilnehmer:innen auf Redner:innen („Wo sind die Wiener?“) sowie insbesondere aus den Erfahrungen regionaler Mobilisierungen. So riefen etwa am 1.12.2021 diverse Vertreter:innen der Bewegung zum „Warnstreik“ gegen die Maßnahmen auf. Dabei gab es Mobilisierungen in den diversen Landeshauptstädten. Die größten davon waren in Linz (1.500 – 2.000), Graz (bis zu 1.500) und Innsbruck (1.500). In Wien waren es hingegen nur „einige Hundert“ (orf.at).

Die politische Richtung, in die sich die Demonstrationen seit mehr als einem Jahr entwickeln, ist ganz eindeutig nach rechts. Die Impfpflicht wird abgelehnt, aber nicht weil die Umsetzung der Bundesregierung sozial ungerecht ist, sondern aus einer individualistischen, chauvinistischen und wissenschaftsfeindlichen Haltung heraus. Die mehr als zehntausend Todesopfer der Pandemie alleine in Österreich werden entweder relativiert bzw. geleugnet oder damit gerechtfertigt, dass es „eh nur“ alte bzw. schon vorher kranke Leute betroffen hätte. International reiht sich die Bewegung in Österreich ganz klar in Mobilisierungen der Rechten in Deutschland oder den USA mit den dazugehörigen Verschwörungsmythen ein.

Als Linke muss man dieser Bewegung zweierlei entgegensetzen. Einerseits braucht es klare Gegenmobilisierungen auf der Straße, damit Faschist:innen nicht ungehindert dort die Oberhoheit  übernehmen und zur physischen Bedrohung werden. Andererseits ist der Regierungspolitik eine brauchbare linke Alternative entgegenzustellen und sichtbar zu machen. Anstatt rechtzeitig wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Pandemie zu treffen und die Menschen dabei sozial und gesundheitlich abzusichern, wird nämlich leider lieber der Profit für den Wintertourismus gesichert und die Durchseuchung der Gesellschaft forciert.




Vierte Welle in Österreich: Wie bekämpfen wir die Pandemie?

Heidi Specht, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1171, 1. Dezember 2021

Alle Jahre wieder kommt der nächste Lockdown … Naja, ein bisschen häufiger kommt er schon in letzter Zeit. Nach einem Sommer, in dem die ÖVP die Pandemie für beendet erklärt und die Politik scheinbar geschlafen hat, stehen wir jetzt vor neuen Spitzenrekorden der Infektionszahlen und erneut im Lockdown. Wir werden im Folgenden einen Blick darauf werfen, wie es so weit kommen konnte, wie die Gesamtsituation gerade aussieht und was eigentlich notwendig gewesen wäre  ist.

Die Pandemie und die Impfung

Viren mutieren, das ist weder neu noch außergewöhnlich. Mutationen führen zu Resistenzen gegen Antikörper, die durch Impfungen oder durchgemachte Erkrankungen erlangt wurden. Auch das ist in der Infektionslehre schon lange bekannt. Gerade die neue Omikron-Mutation bringt mit hoher Wahrscheinlichkeit neue Herausforderungen in Bezug auf Impfresistenzen mit sich. Darüber hinaus bietet nicht jeder Impfstoff eine vollständige Immunität. Es steht völlig außer Frage, dass die Impfstoffe gegen Covid-19 eines der wichtigsten Werkzeuge im Kampf gegen die Pandemie sind. Sie verringern das Risiko einer Ansteckung und, sofern es trotzdem dazu kommt, die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs. Doch die Durchimpfungsrate der Bevölkerung ist immer noch zu gering. Eine ungeimpfte Person die an der Delta-Variante erkrankt, steckt statistisch betrachtet vier weitere Personen an. Gefährdet sind neben ungeimpften Personen insbesondere Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Dass prozentuell immer mehr Geimpfte erkranken, ist wenig überraschend – es liegt ganz einfach an der steigenden Zahl von geimpften Personen und der zeitlich abnehmenden Wirksamkeit der Impfung. So oder so, so lange das Virus sich weltweit ausbreitet, mutiert und der Impfschutz nur kurzzeitig wirkt, so lange kann die Impfung alleine die Pandemie nicht beenden. Dazu bräuchte es internationale, politische Maßnahmen.

Aktuelle Situation

Dass die Zahlen im Winter steigen, überrascht MedizinerInnen nicht und sollte PolitikerInnen, die sich informieren, genauso wenig überraschen. Ein Faktor ist, dass sich wieder mehr Menschen in Innenräumen aufhalten und treffen, wodurch das Ansteckungsrisiko im Vergleich zu Treffen im Freien deutlich steigt. Außerdem ist unser Immunsystem in der kalten, feuchten Jahreszeit generell schwächer. Das geschwächte Immunsystem in Kombination mit dem steigenden Infektionsrisiko in Innenräumen führt also generell zu einem Anstieg der Zahlen, insbesondere bei Ungeimpften und Menschen mit Vorerkrankungen.

Neue Rekordzahlen werden also stetig vermeldet, die Intensivstationen sind wieder ausgelastet und überlastet. Hinter den Kulissen in den Krankenhäusern wird wieder eine der schlimmsten Maßnahmen nicht nur diskutiert sondern teilweise auch schon umgesetzt – die Triage. Diese ergibt sich aus Kapazitätsengpässen der Intensivstationen und für die aktuelle Lage unzureichenden Ressourcen. Es geht dabei darum zu entscheiden, wer (lebensrettende) medizinische Versorgung bekommt und wer keine oder unzureichende Behandlung erfährt. Das Krankenhauspersonal wird dazu gezwungen Menschen zum Tode zu verurteilen und diesen hilflos beim Sterben zuzuschauen.

Die Politik hat diesen Zustand auf den Intensivstationen zu verantworten: sowohl die Lage der Beschäftigten als auch die Situation für Menschen, die medizinische Behandlung benötigen. Denn der Sommer wurde wieder nicht genutzt, um Vorbereitungen zu treffen, damit es nicht so weit kommt. Doch bei den aktuellen Pressekonferenzen wird erneut ins selbe Horn geblasen: Wir sitzen (angeblich) alle im selben Boot und müssen die Pandemie gemeinsam besiegen.

Lockdown

Als eine zentrale Maßnahme hat die Regierung einen neuerlichen Lockdown beschlossen. Doch das Letzte, was dieser beweist, ist, dass wir alle im selben Boot sitzen. Der größte Unterschied zu früheren besteht darin, dass er noch weniger Wirkung zeigt.

Vieles entspricht früheren Lockdowns: Freizeitaktivitäten werden de facto auf die eigenen vier Wände eingeschränkt. Homeoffice bleibt eine Empfehlung. Das Haus darf man nur in Ausnahmefällen verlassen, z. B. zum Arbeiten. Doch er ist kaum spürbar. Straßen und öffentliche Verkehrsmittel sind so voll wie immer. Die meisten Menschen haben kein Homeoffice. Selbst ein relevanter Teil der Bundesbediensteten arbeitet entgegen der Behauptungen der Regierung komplett oder teilweise vom Büro aus.

Noch schwammiger ist der aktuelle Lockdown, was die Schulen anbelangt. Die Eltern sollen selbst entscheiden, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken. Die LehrerInnen sollen Präsenzunterricht für die Anwesenden machen und gleichzeitig Lernpakete für die zuhause Gebliebenen schnüren. Viele Eltern haben gar nicht die Möglichkeit, ihre Kinder zuhause zu behalten, weil sie selbst zur Arbeit müssen. Die Übrigen stehen vor der Entscheidung, ob sie ihre Kinder der Infektionsgefahr aussetzen oder riskieren, dass diese im Unterricht nicht mehr mitkommen, wenn sie nicht dazu in der Lage sind, das Wissen selbst zu vermitteln. Das Offenhalten der Schulen wirkt wie ein bewusster Schritt zu einer weiteren Durchseuchung der Bevölkerung, ausgetragen auf dem Rücken einer Altersgruppe, die zu einem Gutteil noch ungeimpft ist. Insgesamt werden bei diesem Lockdown, wie bei allen vorherigen, Unternehmensprofite über Menschenleben gestellt.

Impfpflicht

Außerdem hat die Regierung angekündigt, ab Februar 2022 eine allgemeine Impfpflicht für Covid einzuführen. Die Details dazu sind noch unklar. Doch scheint es auf Verwaltungsstrafen, potentiell Jobverlust und Streichung von AMS-Leistungen hinauszulaufen. (AMS: österreichischer Arbeitsmarktservice; d. Red.) Maßnahmen also, die Arme wesentlich härter treffen als Reiche.

Die Impfung gegen das Corona-Virus darf keine individuelle Entscheidung sein, denn sie betrifft einen nicht nur persönlich. Durch die Impfung des Großteils der Bevölkerung wird die Verbreitung des Virus deutlich reduziert. Dadurch werden genauso Menschen geschützt, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, wie jene, die aufgrund eines geschwächten Immunsystems ein höheres Risiko für Impfdurchbrüche tragen. Diese Entscheidung betrifft nicht nur ein Individuum, sondern die gesamte Gesellschaft.

Doch der Versuch des österreichischen Staates, diese Verantwortung mit Zwangsmaßnahmen umzusetzen, wird entweder halbherzig und unwirksam oder für klassenkämpferische Kräfte untragbar – mit hoher Wahrscheinlichkeit aber beides. Wir dürfen kein Vertrauen in den bürgerlichen Staat setzen, dass dieser für eine ausreichende Durchimpfung der Bevölkerung sorgen wird. Die Regierung hat in den letzten neun Monaten bewiesen, dass sie unfähig ist, die Bevölkerung von der Impfung zu überzeugen.

ImpfgegnerInnen

Seit Beginn der Pandemie gibt es Teile der Bevölkerung, die die Existenz des Virus, dessen Gefährlichkeit oder die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Masken oder Impfungen leugnen bzw. stark relativieren. Je mehr die Regierung die Pandemiepolitik fahrlässig oder mutwillig verbockt, desto stärker wird auch die Bewegung der Menschen, die sich gegen die Maßnahmen stellen. Es handelt sich dabei nicht um eine homogene Gruppe an Menschen, aber geführt werden die Proteste von rechten und faschistischen Kräften, die die Pandemie nutzen, um ihre eigene Agenda voranzutreiben.

Große Aufmärsche wie in Wien genauso wie kleinere Bewegungen wie in Gleisdorf demonstrieren die Gefahr, die diese Bewegung darstellt. Rechtsradikale Kräfte wie die Identitären stehen an der Spitze einer Bewegung, die die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung mit Juden-/Jüdinnenverfolgung gleichsetzt. Diese Bewegung kommt nicht aus der Mitte der Gesellschaft. Es ist eine der extremen Rechten, die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft für sich gewinnt und damit erstarkt. Dass es bei der großen Demonstration in Wien im November diesen Jahres keine starke Gegenmobilisierung gab, zeigt die Schwäche der ArbeiterInnenbewegung und der radikalen Linken. Das größte Übel ist allerdings, dass keine eigene linke Strategie der Pandemiebekämpfung sichtbar ist.

Notwendige Maßnahmen

Zu Zeiten steigender Fallzahlen und neuer Mutationen ist ein Shutdown der notwendige erste Schritt und als solcher quasi unvermeidbar. Im Gegensatz zum Lockdown der Regierung darf ein solcher nicht in erster Linie die Freizeit und Treffen im Freien einschränken. Vielmehr müssen alle nicht unmittelbar notwendigen Arbeiten eingestellt oder ins Homeoffice verlagert werden. KapitalistInnen sind bereit, für ihre Profite die Leben der ArbeiterInnen zu riskieren. Ihnen darf die Entscheidung, welche Arbeiten notwendig sind, nicht überlassen werden. Wir brauchen ArbeiterInnenkomitees in den Betrieben, die darüber entscheiden, welche Tätigkeiten fortgesetzt werden. Außerdem müssen dort, wo weiterhin gearbeitet wird, die notwendigen Schutzmaßnahmen von den Beschäftigten selbst entschieden und deren Umsetzung kontrolliert werden. Die Zeit des Shutdowns muss genutzt werden, um die Bevölkerung durchzutesten und so einen möglichst großen Anteil der infizierten Bevölkerung gleichzeitig zu identifizieren.

Die Beschäftigten selbst müssen die Arbeitsbedingungen entscheiden, im Bündnis mit den Gewerkschaften und der Wissenschaft – gerade in systemrelevanten Berufen. Damit ist auch die Entscheidung über Schutzmaßnahmen gemeint. Es geht aber weit darüber hinaus. Gerade im Gesundheitswesen sehen wir neben einem Mangel an Betten und Maschinen auch einen akuten an Personal. Dieser rührt her aus katastrophalen Arbeitsbedingungen, die eine massive körperliche und emotionale Belastung darstellen und viele Menschen aus dem Job drängen. Personalschlüssel, Pausenzeiten, Gehälter etc. müssen deutlich verbessert werden, denn Arbeit im Gesundheitswesen darf nicht krank machen! Das Gesundheitswesen wird hier als Beispiel genannt, da es in der aktuellen Lage besonders belastet und wichtig ist, doch diese Forderung trifft alle Arbeitsverhältnisse, denn Arbeit darf niemanden krank machen.

Forderungen

  • Für einen solidarischen Shutdown unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für die Freigabe aller Impfpatente!
  • Für Offenlegung und Kontrolle der Impfstoffforschung und -produktionsabläufe durch Organe der ArbeiterInnenklasse!
  • Für die Enteignung der ImpfstoffproduzentInnen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für eine Aufklärungskampagne zu den Impfstoffen und  eine breit angelegte Impfkampagne, kontrolliert durch die ArbeiterInnenklasse in den Betrieben, Schulen und Wohnvierteln!
  • Für die Kontrolle über Schutzmaßnahmen im Betrieb durch die Beschäftigten selbst!



KPÖ Wahlsieg in Graz: (K)ein Grund zum Fürchten?

Michael Märzen, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1167, 19. Oktober 2021

Die Gemeinderatswahlen in Graz brachten für viele eine große Überraschung: Die KPÖ ist mit 28,84 % (+ 8,5 %) stärkste Kraft und löst damit die ÖVP mit 25,91 % (- 11,88 %) unter Bürgermeister Siegfried Nagl ab. Nach der schwarz-blauen Koalition folgen nun Sondierungsgespräche über Rot-Rot-Grün. Herrscht ab jetzt in Graz der Kommunismus?

Gründe für den Wahlsieg

Die KPÖ in Graz bildet in Österreich eine Ausnahme. In keiner anderen bedeutenden Gemeinde ist die Kommunistische Partei so stark. Die Wurzeln für diesen Erfolg liegen in den 1990er Jahren, als sich die damals langjährig regierende SPÖ immer unbeliebter machte (mittlerweile bei 9,53 %), während die KPÖ mit einer bodenständigen und ehrlichen Kommunalpolitik punktete. Vor allem ihr unermüdlicher Einsatz für die Ärmsten in der Gesellschaft, ihr Fokus auf die immer brisanter werdende Wohnungsthematik und die Tatsache, dass KPÖ-MandatarInnen nur ein Einkommen in der Höhe eines durchschnittlichen FacharbeiterInnenlohns beziehen und den Rest spenden, haben der Partei Anerkennung gebracht. So konnte sie schon 1998 mit Ernst Kaltenegger als Wohnbaustadtrat einen Sitz in der Grazer Proporzregierung einnehmen.

Aber natürlich gehört zu einer Gewinnerin auch der Beitrag der Verliererin. So hat die ÖVP gezeigt, dass sie keine Lösung für die steigenden Wohnkosten hat, sondern diese nur durch Prestigeprojekte für InvestorInnen steigert, während sie gleichzeitig die Verschuldung hochtreibt.

Linke Aufbruchstimmung

Der Wahlsieg hat natürlich breite Begeisterung in der österreichischen Linken ausgelöst. Tatsächlich eröffnet dieser Wahlerfolg die Möglichkeit, dass linkere Kräfte über Graz hinaus wieder ernster genommen werden und ebenfalls profitieren können. Dazu müsste aber auch die KPÖ Graz tatsächlich ein gutes Beispiel als gestaltende Kraft abgeben, was ihr nur gelingen kann, wenn sie ihre angestrebte Sozialpolitik auf die Macht der organisierten ArbeiterInnenklasse stützen würde. Dazu müsste sie über ihre kommunalpolitische, wohltäterische und elektorale Strategie hinausgehen und eine klassenkämpferische im allgemeinpolitischen Sinn einschlagen.

Neuer alter Reformismus

Hinter der kommunalpolitischen Strategie der KPÖ Graz steht eigentlich ein althergebrachtes Fehlkonzept. Zum einen ist die Orientierung auf das Kommunale und Lokale ein Ausdruck der Schwäche, quasi das, wo man zumindest ein bisschen etwas bewirken kann, wenn auch nichts Entscheidendes. Zum anderen verkörpert die KPÖ Steiermark mehr als die Bundes-KPÖ die stalinistischen Überbleibsel der Partei. Dazu gehörte eigentlich immer schon ein Sich-gut-Stellen mit der österreichischen Bourgeoisie im Interesse der „demokratischen“ österreichischen Nation, was man heute noch an der Offenheit für eine Zusammenarbeit mit der ÖVP sehen kann. An diesem Problem des Sich-Abfindens mit dem kapitalistischen System ändert auch nichts die Selbstbezeichnung von Elke Kahr als Marxistin oder die neue mediale Debatte um Kommunismus, in der man die Selbstdiffamierung des Antikommunismus erblickt.

Den altbekannten Reformismus der KPÖ Graz erkennt man eigentlich schon sehr gut, wenn man sich ihr Wahlprogramm zu Gemüte führt. Schon der Form nach ist es dem gewöhnlicher bürgerlicher Parteien nachempfunden, als Ansammlung von Themenblöcken, in denen allgemeinpolitische Floskeln mit Auflistungen von kleinen Reförmchen gespickt werden. Inhaltlich vermisst man bitter die Analyse der politischen Klassenverhältnisse (inkl. Geschlechterverhätlnisse u. v. a.) in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus, aus der eine konkrete Strategie zur Befreiung der ArbeiterInnenklasse formuliert wird. Das würde eine marxistische Partei auszeichnen. Nun könnte man einwenden, dass es sich hierbei um das Programm für eine Gemeindewahl handelt. Aber selbst wenn man eine ernsthafte linke Kommunalregierung stellen möchte, ist die Machtfrage zumindest perspektivisch aufgeworfen, schon durch den Konflikt, der sich mit der Zwangsgewalt des kapitalistischen Zentralstaates ergeben würde. Und dafür sollte man zumindest erwarten, dass die Kommunalpolitik in einem allgemeineren Kontext behandelt wird. Der Schlüssel läge auch schon im Kleinen darin, die Macht der KapitalistInnen, ihr Vermögen und ihr Eigentum zu konfrontieren und dabei die massenhafte Organisierung der Lohnabhängigen in Stadtteilen und Betrieben voranzutreiben.

Für eine echte neue Linke!

Trotz der offensichtlichen Grenzen der kommunalreformistischen Politik der KPÖ begrüßen wir ihren Wahlerfolg selbstverständlich. Er gibt allen fortschrittlichen AktivistInnen Kraft und Mut und hoffentlich eine bessere Ausgangslage für den Klassenkampf in Österreich. Soll er aber weitere Erfolge nach sich ziehen, dann muss schon jetzt eine Debatte gestartet werden, wie der nächste linke Wahlkampf auf Bundesebene aussehen soll. Wir sprechen uns für eine gemeinsame, klassenkämpferische Wahlkampagne links von SPÖ und Grünen aus. Die akute Regierungskrise aufgrund der Inseratenaffäre um Sebastian Kurz mag zwar überwunden sein, aber die Regierung Schallenberg stellt nur ein Intermezzo zu einem neuen politischen Kräfteverhältnis in Österreich dar.




Rücktritt von Kurz: Abfuhr für Bürgerliche – Chance für Linke!

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1166, 14. Oktober 2021

Nicht einmal eine Woche, nachdem es zu Hausdurchsuchungen bei der ÖVP in der Parteizentrale sowie im Bundeskanzleramt gekommen war, war Sebastian Kurz schon nicht mehr Kanzler. Nach dem kometenhaften Aufstieg war das sein bisher größter Rückschlag.  Ob er dabei verglühen oder wieder wie eine Bombe einschlagen wird, wird sich noch zeigen. Fest steht: Die politischen Karten werden neu gemischt!

Projekt Ballhausplatz

Am gleichen Tag wie die Hausdurchsuchungen kam auch die Anordnung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) an die Medien. In ihr ist dargelegt, was für Vorwürfe gegen Sebastian Kurz und enge Vertraute von ihm vorliegen. Als schon davor bekanntes „Projekt Ballhausplatz“ wurde der mehrstufige Plan von Sebastian Kurz bezeichnet, von seinem Amt als Außenminister und Zukunftshoffnung der ÖVP aus, zuerst in einem Putsch die Partei und später das Bundeskanzleramt zu übernehmen. Neu ist die strafrechtlich relevante Dimension. In mehreren Stufen wurden offenbar frisierte Umfragen an Medien verteilt, insbesondere an die der Fellner-Gruppe (Österreich, oe24.at).

Zu einer Zeit, als Kurz noch Außenminister war, sollte die ÖVP – damals noch geführt von Vizekanzler Reinhold Mitterlehner – in den Umfragen schlecht dargestellt werden. Als dann Sebastian Kurz die ÖVP übernahm, sollte sich das Blatt wenden. Dafür soll mit der Meinungsforscherin Beinschab zusammengearbeitet worden sein, die teilweise durch Pseudoprojekte des Finanzministeriums und später durch die Fellner-Gruppe bezahlt worden sein soll. Das Wesentliche dabei war, dass es zwar durchaus echte Rohdaten für die Umfragen gegeben haben dürfte, diese aber zugunsten von Sebastian Kurz gewichtet und teilweise frisiert wurden. Schon 2016 hatte Kurz ein Netzwerk an loyalen UnterstützerInnen in der ÖVP sowie in unterschiedlichen Ministerien aufgebaut. Thomas Schmid und Johannes Frischmann waren im Finanzministerium tätig, Sophie Karmasin war Familienministerin, Stefan Steiner war Generalsekretär der ÖVP – sie alle und noch mehr sind als Beschuldigte in der Anordnung für die Hausdurchsuchungen aufgeführt.

Bürgerliche wie Boulevard

Die engste Zusammenarbeit dürfte die Kurz-Clique mit den Medien der Brüder Fellner getätigt haben. Die Meinungsforscherin Beinschab wurde laut Vorwürfen später von deren Seite bezahlt – im Gegenzug für die Inserate in der Höhe von mehr als einer Million Euro. Doch man sollte hier nicht den Fehler begehen zu glauben, dass sich nur das Boulevard einkaufen lassen würde. Vielmehr ist das nur eine Komponente der Vorwürfe, die im Raum stehen. Des Weiteren geht aus den Chatverläufen hervor, dass auch über Rainer Nowak, Chefredakteur der „Die Presse“, Umfragen platziert worden sein sollen. So schreibt Thomas Schmid: „Nowak macht Story Abgrenzung zu NEOS. Blümel spielt in Wien NEOS an die Wand. Rund um Parteitag spielen wir Umfragen groß. Macht er uns.“ Sebastian Kurz dazu: „Großartig!!! Du bist super!“ Nowak dürfte aber auch Umfragen an unterschiedliche Zeitungen in diversen Bundesländern vermittelt haben.

Was sich in den Chatverläufen gut zeigt, ist das, was für KommunistInnen zum politischen Einmaleins gehört, nämlich dass die bürgerlichen Medien alles andere als neutrale und objektive Berichterstattung leisten. Neben den natürlich existierenden unbewussten gesellschaftlichen Prägungen im Interesse des Kapitals, der Vorauslese gewisser bessergestellter Bevölkerungsschichten in den Reihen der JournalistInnen und natürlich noch mehr der RedakteurInnen und ChefredakteurInnen, gibt es noch die gute alte Korruption. Oder wie es Thomas Schmid zusammenfasst: „Hehe, Objektivität gibt es nicht im Journalismus“.

Bestechlichkeit und Bestechung

Von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wird eine ganze Reihe an Leuten für Tatbestände wie Bestechlichkeit, Untreue und Bestechung als Beschuldigte geführt. Was hierbei aber vor allem interessant ist, ist, dass sich diese Korruptionsaffäre vom typischen Schema der Bestechlichkeit von bürgerlichen PolitikerInnen abhebt. Zuerst einmal kurz zur Klarstellung der Begrifflichkeit. Im österreichischen Strafgesetzbuch werden diese Begriffe nämlich etwas anders verwendet als im normalen Sprachgebrauch. Normalerweise trifft Bestechlichkeit auf den passiven Part einer Bestechung zu. Kurz gesagt, wer sich für eine Gegenleistung zahlen lässt, ist bestechlich, wer zahlt, besticht. Im Strafgesetzbuch beziehen sich die Begriffe aber nicht auf einen etwaigen aktiven oder passiven Teil des Geschäfts, sondern hier wird danach unterschieden, welche Funktion der Personen jeweils existiert. Auf öffentliche AmtsträgerInnen trifft hier der Vorwurf der Bestechlichkeit zu, auf jene, die die AmtsträgerInnen bestechen, der der Bestechung. In weiterer Folge werden wir die geläufigen Begrifflichkeiten und nicht die juristischen verwenden.

Schon die Unterscheidung zwischen juristischen und geläufigen Begrifflichkeiten legt nahe, warum es sich hier um einen speziellen Fall von Korruption handelt. Denn die Rollenverteilung ist in diesem Fall eigentlich vertauscht. Die Kurz-Clique versuchte nicht, aus ihren Rollen als MinisterInnen und BeamtInnen zu profitieren, sondern ihre Posten dazu zu verwenden, um Geld aufzutreiben. Mit diesem sollten dann Bestechungen durchgeführt werden und zwar im Interesse ihrer eigenen Machtsteigerung. Das klassische Gegenbeispiel ist Karl-Heinz Grasser, der versuchte, aus seinem Amt (finanzielle) Vorteile zu ziehen.

Doch was sagt uns das über Sebastian Kurz als Politiker? Im Gegensatz zu einem passiven Gehilfen des Kapitals, der erst durch Bestechung gefügig gemacht werden muss, war (und ist) er entschlossen, die unterschiedlichsten Mittel einzusetzen, um in Machtpositionen zu kommen. Dieser persönliche Ehrgeiz war von ihm von Anfang an mit einer offensiven Politik im Interesse des Kapitals verbunden: Er brachte rassistische Spaltung, den 12-Stundentag und Steuergeschenke für Reiche und Unternehmen. Aber eben nicht primär aus einer passiven Rolle, wo von Seiten der KapitalistInnen (finanziell) nachgeholfen werden musste, sondern aus einer aktiven, eigenständigen Position heraus. Das ist einer der zentralen Gründe dafür, warum er nahezu alle relevanten Teile des Kapitals hinter sich versammeln konnte.

Schritt zur Seite?

Nachdem er 3 Tage lang einen Rücktritt ausgeschlossen hatte, wurde schließlich doch der Druck zu groß – vor allem wegen der Gefahr eines Koalitionsbruchs – und Sebastian Kurz zog die Konsequenzen –  so könnte man meinen. Er legte das Amt des Bundeskanzlers zurück, kehrte aber als Klubobmann in den Nationalrat als Abgeordneter zurück. Das Amt des ÖVP-Chefs behielt er gleichermaßen. Sein Nachfolger als Bundeskanzler wurde Außenminister Alexander Schallenberg.

Schallenberg selbst könnte kaum aus einem elitäreren Hintergrund stammen. Seine Familie ist ein Jahrhunderte altes Adelsgeschlecht, sein Vater war Botschafter und Generalsekretär im Außenministerium. Er selbst ist Berufsdiplomat. Wesentliche Fortschritte auf seiner Karriereleiter hat er Kurz zu verdanken. Nachdem Sebastian Kurz 2013 das Außenministerium übernahm, wurde Schallenberg zum Leiter der neu geschaffenen „Stabsstelle für strategische außenpolitische Planung“ und damit mehr oder weniger direkter Berater von Sebastian Kurz und prägend für seine außenpolitischen Positionen. Nachdem Kurz zuerst die ÖVP und kurze Zeit später das Bundeskanzleramt übernommen hatte, saß Schallenberg im Verhandlungsteam der ÖVP. Unter der Übergangsregierung von Brigitte Bierlein wurde er zum Außenminister bestellt – ein weiterer Beweis dafür, dass die damalige „ExpertInnen“-Regierung einen deutlichen Rechtsdrall aufwies. Unter der neuen türkis-grünen Regierung wurde er dann ebenfalls wieder Außenminister. Deutlich zeigt sich hier also, dass Alexander Schallenberg ganz klar dem Kurz-Flügel der Partei zuzuordnen ist und die wesentlichen Aufstiege in seiner Karriere – wie wohl auch den bisher letzten zum Bundeskanzler – Kurz zu verdanken hat.

Unmut in der ÖVP

Doch wir sollten uns nicht der verkürzten Analyse hingeben, dass mit dem Rücktritt von Kurz und der Ernennung Schallenbergs zum Kanzler sich überhaupt nichts geändert hätte. Unmittelbar ist Sebastian Kurz zumindest als Parteichef offensichtlich bestimmend in der ÖVP und darüber sollten wir uns nicht täuschen, aber gleichzeitig sollte man nicht den Beginn des Aufstiegs von Sebastian Kurz vergessen. Als er sich im Mai  2017 zum ÖVP-Chef krönen ließ, konnte er gleichzeitig wesentliche Vollmachten in der ÖVP durchsetzen, die sogar statutarisch verbrieft wurden. Das ging mit einer deutlichen Zentralisierung der traditionell föderalistisch und in Bünden aufgebauten ÖVP einher. Aber die laufenden Ermittlungen werden wohl oder übel weitere Offenbarungen über Sebastian Kurz und sein Umfeld zu Tage bringen und die teilentmachteten Bünde der ÖVP werden ihre Chance wittern, sich die Macht zurückzuholen. Schon jetzt wurde eine klare Diskrepanz zwischen Zentrum in Wien und den Bundesländern deutlich. Während Kurz von den Nationalratsabgeordneten der ÖVP mit 100 % zum Klubobmann gewählt wurde, gingen gleichzeitig einige ÖVP-Landeshauptleute auf Distanz. Platter (ÖVP-Landeshauptmann von Tirol) sagte von sich, dass er „ein Schwarzer“ (und damit kein Türkiser) sei, Mikl-Leitner (Landeshauptfrau Niederösterreichs) meinte, sie sei „allen voran Niederösterreich verpflichtet“ und die „Vorwürfe [müssen] aufgeklärt werden“ oder Wallner (Landeshauptmann Vorarlbergs) dazu: „Nicht unser Stil. Wo man’s kann, muss man es abstellen.“

Wir dürfen also davon ausgehen, dass in der ÖVP langsam aber sicher die uneingeschränkte Macht von Sebastian Kurz aufhören wird, gerade wenn es in den nächsten Wochen und Monaten neue Enthüllungen gibt. Damit ist natürlich auch die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen verbunden, auch wenn eine unmittelbare Aussicht darauf erstmal gebannt zu sein scheint.

Und die Linke?

Die Linke hat es zwar in Wien geschafft, durch spontane und kräftige Mobilisierungen einen gewissen öffentlichen Druck gegen Sebastian Kurz auszuüben, aber wie schon bei der Ibiza-Affäre zeigte sich, dass sie von sich aus nicht im Stande ist, einen (Vize)-Kanzler zu Fall zu bringen. Die offizielle ArbeiterInnenbewegung, organisierte in den Gewerkschaften und der SPÖ, blieb passiv. Letztere beschränkte ihren Misstrauensantrag sogar auf Finanzminister Blümel, statt ihn gegen die ganze Regierung zu richten. Gleichzeitig ist aber aktuell durch unterschiedliche Faktoren die Chance einer stärkeren linken Alternative bei durchaus wahrscheinlichen verfrühten Nationalratswahlen vor 2024 sehr groß. Vor nicht einmal einem Monat konnte die KPÖ in Graz zur stärksten Kraft aufsteigen und damit verbunden ist eine noch nie dagewesene Akzeptanz für kommunistische Politik – auch wenn die der KPÖ Steiermark mit klassisch sozialdemokratischer mehr gemein hat. Die unterschiedlichen linken Kräfte links der SPÖ und der Grünen sollten sich also heute schon darüber Gedanken machen, wie ein österreichweites Projekt für die nächsten Nationalratswahlen aussehen kann, um nicht – wie so oft – von den Ereignissen überrollt zu werden. Ein Wahlbündnis könnte den Weg zu einer neuen, linken Partei eröffnen, in der KommunistInnen für eine Ausrichtung auf die ArbeiterInnenklasse und einen revolutionären Antikapitalismus kämpfen können.




Ökonomische Lage in Österreich: Wo ist der Aufschwung?

Mo Sedlak, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1161, 6. September 2021

Der Kapitalist ist ein Hundling (Schweinehund). Bis vor kurzem war ihre/seine Profitmacherei gefangen in der tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, was die Reichen und Mächtigen zum Anlass genommen haben, Jobs abzubauen und Löhne zu kürzen. Jetzt gehen Investitionen und Umsätze wieder hinauf und zu diesem Anlass werden Arbeitsverhältnisse unsicherer gemacht und Sozialabbau auf Schiene gebracht. Die optimistischen Wirtschaftsprognosen, vom WIFO bis zum IWF, deuten an, dass aus einem Kampf um die Aufteilung der Krisenkosten ein Verteilungskampf um den Aufschwung geworden ist.

Das vorhergesagte Wirtschaftswachstum 2021 ist vor allem ein Aufholen des Zusammenbruchs 2020. In Österreich war das die tiefste Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise der Zweiten Republik. Der Aufschwung baut auf den Öffnungen und den riesigen Investitionspaketen in der EU, aber auch den USA auf. Diese können die pandemiebedingt geschlossene Wirtschaft eventuell wieder in Gang bringen. Aber die dahinter liegenden Ursachen der Krise, Überproduktion und fallende Profitraten, werden so nicht gelöst, sondern im Gegenteil verschärft. Aber die Unternehmen hoffen, im Windschatten der Pandemiebekämpfung Arbeitskosten zu senken und noch intensiver ausbeuten zu können. Der Aufschwung ist auf Sand gebaut.

Die Pandemie hat die weltweiten Machtverhältnisse zugunsten der imperialistischen Staaten mit ihren Impfstoffpatenten verschoben. Innerhalb der Staaten sind die KapitalistInnen mächtiger und die ArbeiterInnenbewegung schwächer geworden. Trotz aller offensichtlichen Widersprüche und Ungerechtigkeiten ist Widerstand vereinzelt und erfolglos geblieben, weil ihm die revolutionäre Methode und Organisierung fehlt. Es bleibt die Aufgabe von RevolutionärInnen, die kommenden Kämpfe zu nutzen, sich vor den Unterdrückten als vernünftig und radikal zu beweisen und damit diese Schwäche zu überwinden.

Was ist da 2020 eigentlich passiert?

Die Corona-Pandemie hat die schwerste Wirtschaftskrise der Zweiten Republik ausgelöst. 2020 schrumpfte das österreichische Bruttoinlandsprodukt um 6,6 %. Das ist der tiefste Einbruch seit 1950. Von Februar bis April verloren 190.000 Menschen ihren Job –  der größte Anstieg der Arbeitslosigkeit seit der Staatsgründung.

Damit war Österreich nicht allein: Sowohl das Pandemiegeschehen als auch die Lockdowns gingen um die ganze Welt. Nicht nur sind weltweit die nationalen Wirtschaftssysteme eingebrochen. Auch weltweite Produktionsketten wurden zeitweise gestoppt. Und auch ein vergleichsweise gutes Pandemiemanagement bringt die Wirtschaft nicht aus der Bredouille, wenn Vorprodukte aus anderen Ländern nicht ankommen.

Das ist auch besonders wichtig für westliche imperialistische Länder wie Österreich, deren Wertschöpfung auf der Überausbeutung in neokolonialen Ländern aufbaut. Ein guter Teil des Profits westeuropäischer Firmen, den sie beim Verkauf einstreichen, baut darauf auf, wie wenig den ArbeiterInnen in der osteuropäischen Vorproduktion bezahlt wurde. Solange diese Überausbeutung nicht wieder anläuft (zum Beispiel, weil die ärmeren Länder weiterhin nicht genügend Impfdosen bekommen), kochen auch die österreichischen Profite auf Sparflamme.

Was die Wirtschaft nicht umbringt macht sie nicht notwendigerweise stärker

Aber so dramatisch die Wirtschaftsforschungsinstitute sich 2020 gegeben haben, so euphorisch sind sie jetzt. Das WIFO prognostiziert, dass das österreichische BIP 2021 um 4 % und 2022 um 5 % wachsen soll. Schon dieses Jahr soll die Wirtschaft größer sein als vor der Krise! Für die ganze Welt sagt der Internationale Währungsfonds (IWF) sogar ein Wachstum von 6 % 2021 und 4 % 2022 voraus.

Ein guter Teil dieses Wachstums ist auf der Wiedereröffnung von Wirtschaftsbereichen gegründet, die vom Lockdown betroffen waren. Das ist eine recht einfache Rechnung: Einem Beisl, das von Oktober bis Mai kein Bier verkaufen durfte, ist der Umsatz auf null zusammengeschrumpft. Wenn es jetzt nur ein Bier pro Woche verkauft, ist das in Prozenten schon ein ziemlich großes Wachstum. WIFO, IWF usw. rechnen mit weiteren Öffnungen, weil die Impfstoffproduktion jetzt halbwegs funktioniert und in den imperialistischen Ländern größere Teile der Bevölkerung „durchgeimpft“ sind.

Außerdem werden große Hoffnungen in staatliche Investitionen und Dynamiken bei den Privatunternehmen gesetzt. Weltweit haben Regierungen Anreizpakete geplant, die jeweils die größten Staatsausgaben in Friedenszeiten darstellen. Die EU will 650 Milliarden Euro ausgeben. In den USA sind neben den bereits beschlossenen 1,8 Billionen Dollar über die nächsten zehn Jahre zwei weitere Pakete geplant, die insgesamt 4 Billionen schwer sein sollen. Bisher scheint das die privaten Unternehmen tatsächlich zu motivieren: Die österreichischen Investitionen in Produktionsanlagen sollen 2021 um 7 % steigen.

Aufschwung auf Sand gebaut

Aber der Aufschwung hat drei Schwachstellen: die zweifelhafte Verwandlung von Staatsinvestitionen in unternehmerische Aktivität, das weiter dramatische Pandemiegeschehen außerhalb der imperialistischen Zentren und die ungleiche Verteilung des Wachstums zwischen den Industriebereichen.

Erstens machen staatliche Investitionen nur einen kleinen Anteil am Bruttoinlandsprodukt aus, wenn man sie mit den Privatunternehmen vergleicht. Der Stimulus führt also nur zu relevantem Wachstum, wenn er private Investitionen anstupst. Und es ist nicht gesagt, dass das so sein muss.

Der marxistische Ökonom Michael Roberts hat das am Beispiel der USA vorgerechnet. Die bereits beschlossenen 2 Billionen Dollar sind viel Geld. Auf zehn Jahre verteilt machen sie aber nur ein halbes Prozent der US-Wirtschaftsleistung aus. Insgesamt stehen Staatsinvestitionen dort nur bei 3 % des BIP, produktive Investitionen der Unternehmen sind fünfmal so hoch.

Zweitens ist die Pandemielage weltweit sehr ungleich. Während Europa, China und die USA sich benehmen, als wäre Corona überwunden, ist das Pandemiegeschehen in Lateinamerika, Indien und Afrika weiter dramatisch. Viele der imperialistischen Profite bauen aber auf der Industrieproduktion in diesen Ländern auf.

Sie werden sich nicht erholen können, solange die Überausbeutung in Osteuropa, Afrika und Indien nicht wieder anläuft. Der Impfstoffnationalismus von EU und USA verlangsamt die Normalisierung in diesen Ländern.

Das gilt auch für die dortigen Absatzmärkte. Durch die Pandemie wurden weltweit 150 Millionen Menschen in die Armut gedrängt. Eine Erholung beim Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse wird nach den gegenwärtigen kapitalistischen Plänen erst sehr spät in diesen Ländern ankommen – und die Profite aus dem Konsum dieser Menschen noch später wieder in den europäischen, chinesischen und amerikanischen Konzernen.

Und drittens erfolgt der Aufschwung auch in den imperialistischen Ländern ungleichzeitig. Es wachsen vor allem die Wirtschaftsbereiche, die von den Lockdowns weniger betroffen waren, vor allem die Industrieproduktion, Versandhandel und nicht körpernahe Dienstleistungen. Dort herrscht teilweise Arbeitskräftemangel wie in der Hochkonjunktur. Auf eine offene Stelle kommen nur zwei bis drei potenzielle BewerberInnen. Im Tourismus und Handel bleiben die Arbeitslosenzahlen aber weiter hoch.

Wirtschaft war schon vor Corona auf dem absteigenden Ast

Das kapitalistische Zusammenspiel aus Regierung und Unternehmen gibt sich redlich Mühe, die Krise zu lösen. Aber hier gibt es ein Problem: Die Krise 2020 war ja nicht nur das Ergebnis des Lockdowns. Schon seit 2016 sind die Profitraten in der europäischen Industrie gefallen. Eine Rezession wäre irgendwann zwischen 2019 und 2021 überfällig gewesen.

Solche Krisen werden gelöst, indem kleinere und schwächere Firmen untergehen und wieder mehr Platz für Investitionen und Profitmacherei entsteht. Das Kapital (und damit das BIP) wächst, weil Profite hoch sind, und diese entstehen aus menschlicher Arbeit. Je mehr Kapital angehäuft wird, um die Arbeit effizienter auszubeuten, desto weniger Profit schaut im Vergleich heraus. Und je mehr Firmen sich auf dem Markt gegenseitig unterbieten, desto kleiner werden die Profitmargen. Daran ändern Staatsausgaben erstmal nichts. Dafür müssen „schwächere“ Unternehmen in Insolvenz gehen und ihre Marktanteile freimachen. Dann haben die verbliebenen (und ein paar neue) Unternehmen wieder Platz zum Wachsen.

Wenn der Staat solche Firmen mit Umsatzersatz, Fixkostenzuschuss und verschleppte Insolvenzen am Leben erhält, erreicht er genau das Gegenteil. Die Bekämpfung der Pandemiefolgen und die „Lösung“ der kapitalistischen Krise widersprechen sich.

Aber selbst die Lockdownkrise kann nicht durch staatliche Investitionen gelöst werden. Der allergrößte Teil von Nachfrage und Löhnen geht auf private Unternehmen zurück. Und die produzieren nur, wenn sie sich hohe Profite erwarten. Die Politik der Europäischen Zentralbank, viel Geld zu niedrigen Zinsen zu verleihen, würde also nur helfen, wenn das Problem der KapitalistInnen die Kosten für Kapital wären. Wenn das Problem aber am anderen Ende des Produktionsvorgangs, nämlich bei den erzielten Preisen für verkaufte Güter liegt, ändert die Geldmengenerhöhung erstmal nichts.

Deshalb setzt der Staat auch auf direkte Nachfrage: indem die Einkommen der ArbeiterInnenklasse halbwegs stabil gehalten und Aufträge für Infrastrukturprojekte vergeben werden. Das spült Umsatz in die Kassen der Konsumgüter-, Dienstleistungs- und Bauindustrie.

Aber auch das funktioniert nur, wenn damit ein umgekehrter Teufelskreis in Gang gesetzt wird, ArbeiterInnen und Firmen ihre Einkommen wieder ausgeben und so für noch mehr Profite sorgen. Diese  hängen aber nicht von der Menge der Nachfrage ab, sondern vom Produktionsprozess, vom Verhältnis der Stückkosten zum Verkaufspreis. Das ist die entscheidende Variable für den kapitalistischen Aufschwung. Wenn die nicht passt, verkaufen die Firmen einfach dieselbe Anzahl Produkte zu einem höheren Preis und die Staatshilfen verpuffen.

Aufschwung für wen?

Die ungleichzeitige Erholung des Arbeitsmarktes (Einstellungsoffensive in der Industrie, drohende Entlassungswelle in Handel, Gastronomie und Dienstleistungen) ist bemerkenswert. In der Industrieproduktion sind vor allem Männer beschäftigt und es werden zum Teil recht hohe Löhne bezahlt. In Tourismus und Handel arbeiten viele Frauen, die Löhne sind oft schlecht und die Arbeitsverhältnisse unsicher.

So wie die Krise überproportional Frauen betroffen hat, wird die Erholung überproportional männlichen und bessergestellten ArbeiterInnen zugutekommen. Das erhöht die Lohnungleichheit innerhalb der ArbeiterInnenklasse. Es kann auch zu einer Prekarisierung der Menschen führen, die jetzt und in den kommenden Monaten ihre Jobs verlieren. Die bedeutet nicht nur Ausschluss vom öffentlichen Leben (und damit oft leider auch aus der Solidarität innerhalb der Klasse), sondern auch die Schaffung eines Niedriglohnsektors. Darauf zielen die Reformpläne der Regierung ab, von degressivem Arbeitslosengeld bis zu Änderungen bei den Zumutbarkeitsbestimmungen: ein österreichisches Hartz IV.

So sehen auch viele der „neuen“ Jobs aus, die jetzt entstehen. In Onlinehandel und Zulieferung sind Scheinselbstständigkeit normal, aber Betriebsräte die Ausnahme. Und die Industrie scheint vor allem auf LeiharbeiterInnen zu setzen. Die Pläne der Regierung zur Erholung sind, wenig überraschend, ein weiteres Umverteilungsprogramm in die Geldbörsen der KapitalistInnen.

Fürs Erste scheint kein krasser Kampf um die Krisenkosten anzustehen. Die schuldenfinanzierten Investitionspakete von Regierung und EU zögern diese Frage hinaus, spätestens bis zur nächsten Krise. Aber die kommt bestimmt, der Aufschwung ist auf Sand gebaut.

Stattdessen befinden wir uns mitten in einem Kampf um die Aufteilung des Aufschwungs. Große Unternehmen dürfen nicht nur die Überförderung aus Umsatzersatz, Fixkostenzuschuss und Kurzarbeit einstecken. Regierung und AMS (Arbeitsmarktservice) tun zusätzlich alles dafür, dass Arbeitsverhältnisse in der Zukunft noch billiger sind – auf Kosten der ArbeiterInnenklasse.

Auch aus den versprochenen Corona-Boni und der Anerkennung für die notwendigsten ArbeiterInnen ist wenig bis gar nichts geworden. Es ist auch kein Zufall, dass PflegerInnen und ZustellerInnen gleichzeitig am schlechtesten bezahlt werden. Außer dem Applaus von vor einem Jahr bleibt für sie vom Aufschwung nichts übrig, nicht einmal offensichtlich notwendige Investitionen in den Gesundheitsbereich.

Auch international bedeutet das Monopol der imperialistischen Staaten über Impfstoffe und Investitionspakete eine weitere Machtverschiebung. Die „Impfstoffdiplomatie“ von China, Russland und USA bringt neokoloniale Länder in weitere Abhängigkeit (die sie durch Verschleudern von Staatseigentum und Aushöhlen von ArbeiterInnenrechten und Umweltauflagen teuer bezahlen werden). Sie spitzt aber auch die internationalen Widersprüche weiter zu.

Perspektive: Organisierung und Revolte

Die Pandemie hat die Herrschaft der KapitalistInnen über die Mehrheit der Menschheit und die Machtungleichheit zwischen imperialistischen und neokolonialen Staaten brutal offengelegt. Bis auf kleinere Unruhen haben sich die Unterdrückten dagegen aber nicht wehren können. Eine erste Bilanz des Krisenjahrs verzeichnet eine Stärkung der Reichsten und des Kapitals im Allgemeinen.

Das zeigt auch, dass Verelendung und sichtbare Ungleichheit für revolutionäre Erhebungen nicht ausreichen. Es braucht eine strategisch klare und unter den Unterdrückten verankerte Partei, um solche Kämpfe anführen und gewinnen zu können.

Der nationale Schulterschluss, den ReformistInnen mit „ihren“ Regierungen eingegangen sind, blamiert sie. Dasselbe gilt für SektiererInnen, die in der Krise den VerschwörungstheoretikerInnen nachgelaufen sind und deren rechtspopulistische und faschistische FührerInnen ignoriert haben. Sie sind die beiden Seiten derselben Medaille: der derzeitige Unfähigkeit der ArbeiterInnenklasse, sich den Herrschenden mit einem eigenständigen Programm entgegenzustellen.

Die brennende Aufgabe von RevolutionärInnen liegt darin, die richtige Strategie mit den richtigen Menschen zusammenzubringen. Das gilt es anzugehen: bewaffnet mit dem Wissen der breiten Masse über die Ungerechtigkeiten, die die Pandemie gezeigt hat, und dem eigenen, wie die nächste kapitalistische Krise zur letzten gemacht werden kann.




Österreich: LINKS-Kampagne „Mach ma 30“ – Arbeitszeitverkürzung muss erkämpft werden!

Michael Märzen, Neue International3 258, September 2021

Die neue Wiener Partei LINKS ruft zur Arbeitszeitverkürzung auf. In einer zentralen Kampagne soll für die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche mobilisiert und über eine Petition an den Gemeinderat die Arbeitszeitverkürzung zunächst von der Stadt Wien für die eigenen Beschäftigten verwirklicht werden. Wir als Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt sind am Aufbau von LINKS beteiligt und unterstützen die Kampagne. Wir rufen daher an dieser Stelle dazu auf, die Petition zu unterzeichnen. Wir wollen aber auch über die Ausrichtung, Strategie und praktische Umsetzung der Kampagne diskutieren.

Die Petition findet sich unter https://www.wien.gv.at/petition/online/ mit dem dem Titel „Stufenweise Verkürzung der Normalarbeitszeit für Bedienstete der Stadt Wien auf 30-Stunden-Woche“.

Ungleiche Verteilung von Arbeit im Kapitalismus

Eine der grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten im Kapitalismus ist die ungleiche und ungerechte Verteilung von Arbeit. Und dabei sprechen wir noch nicht einmal von der ungerecht verteilten unbezahlten Reproduktionsarbeit in Form von Pflege, Sorgeleistung, Erziehung und Hausarbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird! In der „gewöhnlichen“ Lohnarbeit sehen wir, wie auf der einen Seite versucht wird, aus den beschäftigten Arbeitskräften das Möglichste herauszupressen, während ein großer Anteil der Gesellschaft keine Beschäftigung findet. Für die einzelnen Unternehmen ist es effektiver und somit billiger, möglichst wenige ArbeiterInnen anzustellen, diese aber so lange arbeiten zu lassen, wie es das Gesetz hergibt. Die Erhaltungskosten für die Beschäftigungslosen werden auf den Rest der Gesellschaft abgewälzt, das heißt vor allem wieder auf die ArbeiterInnen. Dem Kapital insgesamt dient die Masse an Arbeitslosen aber auch dazu, einen ökonomischen Druck auf die lohnarbeitende Klasse auszuüben. Wer befürchten muss, ersetzt zu werden, ist eher bereit, schlechtere Arbeitsbedingungen hinzunehmen.

Forderungen der Petition

Die LINKS-Petition spricht das Problem der Überarbeitung bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit an und fordert korrekterweise die Arbeitszeitverkürzung als wichtigen Bestandteil zur Lösung dieses Problems. Die Arbeitszeit der 65.000 Bediensteten der Stadt Wien würde schrittweise reduziert werden, womit 20.000 neue Stellen frei würden. Das betreffe zu 60 % Frauen, wovon 2/3 im Pflege-, Gesundheits- und elementarpädagogischen Bereich arbeiten. Die Petition beinhaltet allerdings auch eine allgemeinere Ausrichtung. Die Stadt würde sich mit ihrer Annahme nämlich auch hinter die Forderungen der Gewerkschaften stellen, eine Arbeitszeitverkürzung in den Kollektivverträgen durchzusetzen und als langfristiges Ziel die 30-Stunden-Woche im Arbeitsrecht zu fordern.

Worin besteht die Strategie?

Eine Petition erhält ihre Schlagkraft selbstverständlich dadurch, dass sie von vielen Menschen unterstützt wird. Somit wird es darauf ankommen, ob LINKS auch noch nach den Wien-Wahlen in der Lage ist zu mobilisieren. Bisher ist die Kampagne noch nicht wirklich angelaufen. Aber auch die stärksten Petitionen werden nicht einfach umgesetzt. Das hat zuletzt das Frauenvolksbegehren 2.0 bewiesen, welches von 481.959 Menschen unterzeichnet und von der Regierung de facto ignoriert wurde. In einer Frage, wo es einen eindeutigen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit gibt, ist es ohne ordentlichen ökonomischen und politischen Druck fast schon ausgeschlossen, dass eine bürgerliche Regierung einer radikalen Arbeitszeitverkürzung zustimmt. Zu stark wiegen die Interessen der KapitalistInnen in der Gesellschaft. Das klassische Mittel, um Forderungen der Arbeitenden gegen das Kapital durchzusetzen, wäre hingegen ein Streik. In einer allgemeinen politischen Angelegenheit kann das nur in Form eines politischen Massenstreiks geschehen. LINKS ist allerdings weit davon entfernt, einen solchen Kampf organisieren zu können. Die einzige Kraft, die dazu heute, wenn überhaupt, in der Lage wäre, ist der Österreichische Gewerkschaftsbund. Dieser reformistische, bürokratische Apparat macht aber lieber strategische Kompromisse mit den Interessenverbänden der KapitalistInnen, als die Arbeitenden für einen ernsthaften Kampf zu mobilisieren, was im Falle einer 30-Stunden-Woche ja eine heftige Konfrontation zwischen den Klassen bedeuten würde. Der Kampf für eine Arbeitszeitverkürzung ist strategisch betrachtet also auch einer um die Gewerkschaften und die Herzen und Hirne ihrer Mitglieder. Auch hier kann LINKS maximal Ansätze schaffen. Die „Mach ma 30“-Losung taugt somit vor allem als Einleitung zu einer Profilierungs-, Propaganda- und Organisierungskampagne.

Worum es gehen muss

„Mach ma 30“ wäre also ein gutes Mittel, um die 30-Stunden-Woche in die öffentliche Auseinandersetzung zu bringen und mittel- bis langfristig Kräfte zu gewinnen, die organisations- und parteiübergreifend für die Forderung aktiv werben. Dazu braucht es kämpferische Aktionen, die öffentliches Aufsehen erregen, sowie Aktivitäten und Strukturen, in denen sich ArbeiterInnen, Arbeitslose und GewerkschafterInnen als Teil eines breiteren AktivistInnennetzwerks organisieren können. Wenn das ansatzweise gelingt, können wir es auch schaffen, die Unterstützung von einzelnen BetriebsrätInnen und Gewerkschaftsgruppen zu gewinnen und die großen reformistischen Apparate der sozialdemokratischen Partei und des Gewerkschaftsbundes mit unserer Forderung zu konfrontieren.




FPÖ: Wachablösung durch Herbert Kickl

Alex Zora, Infomail 1156, 15. Juli 2021

„Ja, ich trete zurück. Ich mag nicht mehr.“ So kündigte Norbert Hofer auf Twitter Ende Mai seinen Rücktritt an. Der Tweet wurde zwar kurz darauf wieder gelöscht, die Entscheidung war aber durchaus ernst gemeint. Nach monatelangem Gezanke war es jetzt nun so weit, Norbert Hofer zog sich als FPÖ-Chef zurück. Sein Nachfolger wurde, wie kaum anders zu erwarten, der bisherige FPÖ-Klubobmann im Nationalrat und die klare Nummer zwei in der FPÖ – Herbert Kickl.

Einflüsterer an der Spitze

Lange Zeit war Herbert Kickl die graue Eminenz hinter Ex-Parteichef Strache. Er verdiente sich sein erstes politisches Kleingeld mit Reden Schreiben für Jörg Haider. Mit der Abspaltung des Haider-BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich) von der FPÖ 2005 war aber für Herbert Kickl auch ein klarer innerparteilicher Durchbruch gesichert. Sein Aufstieg war eng mit dem von HC Strache verknüpft. Auch für ihn schrieb er Reden und war für viele Wahlkampfinhalte verantwortlich – so zum Beispiel für den zutiefst rassistischen Slogan für die Wien Wahl 2010: „Mehr MUT für unser ,Wiener Blut’ – zu viel Fremdes tut niemandem gut.“ Außerdem war er ab 2005 auch Generalsekretär der FPÖ und Geschäftsführer der Parteizeitung „Neue Freie Zeitung“. Beide diese Ämter legte er mit der Regierungsbeteiligung als Innenminister in der türkis-blauen Koalition unter Bundeskanzler Sebastian Kurz Ende 2017 zurück. In seiner Zeit als führender Propagandist war er zentral für die rechtspopulistische, rassistische Ausrichtung der FPÖ verantwortlich und damit auch für den Schwenk der FPÖ hin zu ihren zentralen Feindbildern heute – MuslimInnen und Geflüchtete.

In der Regierung Kurz war Kickl als Innenminister tätig. Lange hatte er aber nicht Zeit, um einen großen Fußabdruck zu hinterlassen. In der Rhetorik wurde hier natürlich weiterhin auf einen strammen Nationalismus und Rassismus gegenüber MuslimInnen und Geflüchteten gesetzt. Probleme mit den zentralen türkis-geführten Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse (12-Stunden-Tag, Reform Mindestsicherung, Reform Krankenkassen etc.) gab es – wie kaum anders für einen FPÖ-Politiker zu erwarten war – nicht. Vielmehr kam Kickl durch diverse Eigenheiten in die Medien. Hier sind auf der einen Seite eher sonderbare Projekte wie Polizeipferde oder Pressekonferenzen in Fantasieuniformen zu nennen. Auf der anderen gab es mit dem BVT-Skandal doch auch eine wichtige Auseinandersetzung mit wichtigen ÖVP Stützen im Staatsapparat (BVT: Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung; Nachrichtendienst des Bundesministeriums für Inneres). Generell war Herbert Kickl in der FPÖ-Arbeitsteilung immer der „Mann fürs Grobe“, der die Basis aktiv halten sollte, während Norbert Hofer versuchte, die ultrareaktionären Inhalte durch ein gemäßigteres Auftreten besser in die Breite wirken zu lassen.

Mit dem Ibiza-Skandal war die Zeit von Kickl im Ministeramt dann auch nach etwas mehr als einem Jahr wieder vorbei. Gemeinsam mit Norbert Hofer überlebte er die mediale Berichterstattung zwar mehr oder weniger unbeschmutzt, aber gleichzeitig diente er Sebastian Kurz als willkommener Grund für ein Ende der Koalition. Für Kurz war es nämlich untragbar, dass gegen ein Regierungsmitglied von Seiten der Justiz ermittelt wird. Durchaus eine humorvolle Bewertung, angesichts der Ermittlungen, die mittlerweile Sebastian Kurz und seine ÖVP-MinisterkollegInnen selbst treffen.

Persönlicher oder politischer Konflikt?

Nach der brisanten Zeit nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos und dem Zusammenbruch der FPÖ bildeten Norbert Hofer als Parteichef und Herbert Kickl als Klubobmann im Parlament recht bald eine Doppelspitze. Formell war zwar Norbert Hofer als Parteichef die Nummer eins. Doch das hielt Kickl nicht davon ab, sich sehr bald in den Vordergrund spielen zu wollen. Vor allem in der coronaskeptischen Bewegung sah Kickl ein wesentliches Potential, um die FPÖ nach ihrem Absturz wieder aufzubauen. So arbeitete sie mit wichtigen rechten AkteurInnen dieser Bewegung zusammen, mobilisierte zu den untersagten Demonstrationen und organisierte auch eigene Kundgebungen. Die Rückendeckung in inhaltlichen Fragen blieb natürlich auch nicht aus und die FPÖ stemmte sich im Parlament und außerhalb davon gegen nahezu alle sinnvollen Maßnahmen, die Pandemie zu bekämpfen, und drängte, egal zu welchem Zeitpunkt, auf weitere Öffnungsschritte.

Norbert Hofer hingegen nahm dazu einen deutlich gemäßigteren Standpunkt ein. Er kündigte an, sich impfen zu lassen, und akzeptierte die Maskenpflicht im Parlament, die Kickl vehement ablehnte. Um diese Frage entbrannte dann aber auch der erste mehr oder weniger öffentliche Schlagabtausch zwischen Hofer und Kickl, über den in den Medien ausführlich berichtet wurde. Schon hier drang nach außen, dass Kickl wohl nahezu den gesamten FPÖ-Nationalratsklub hinter sich hatte. Aber auch in der Frage der Beteiligung an Demonstrationen auf der Straße gingen die Meinungen von Hofer und Kickl stark auseinander. Hofer selbst betonte, dass er angeblich noch nie auf einer Demonstration gewesen sei (eine mehr als fragliche Selbsteinschätzung), während Kickl sich aber nicht nur medial und organisatorisch an den coronaskeptischen Demonstrationen im Winter beteiligte, sondern auch selbst daran teilnahm.

Im Zuge dieser Auseinandersetzungen kam es dann zu einer klaren innerparteilichen Frontenbildung. Hinter Kickl stand der Parlamentsklub mehr oder weniger einhellig. Hofer hingegen hatte vor allem bei den FPÖ-Bundesländerspitzen und im FPÖ-Vorstand Rückhalt genossen. Das Ganze ist auch nicht unbedingt verwunderlich, wenn die jeweiligen politischen und charakterlichen Ausprägungen mit den sektoralen Interessen unterschiedlicher Teile der FPÖ zusammenfallen.

In den Bundesländern ist die FPÖ in mehreren Landesregierungen vertreten und insbesondere in Oberösterreich hat sie gute Verbindungen zur dortigen Bourgeoisie aufgebaut. Deshalb versucht sie dort, vor allem auf Stabilität und Sicherheit zu setzen. Nach Norbert Hofers Abgang steht insbesondere der oberösterreichische FPÖ-Landeschef Manfred Haimbuchner für diese Linie. Er betonte erst kürzlich in einem Kurier-Interview, dass er sich „Kontinuität statt Brüche[n]“ erwartet. Denn „[e]s geht nicht nur um Wahlergebnisse“ sondern um „die Gesamtstrukturierung und Professionalisierung der Partei“. Dieser Flügel der FPÖ steht also ganz klar dafür, der Bourgeoisie in der Krise Stabilität zu geben und sich als treue Kraft in ihrem Interesse Vertrauen zu erarbeiten.

Kickl auf der anderen Seite steht viel eher dafür, die Gunst der Stunde – Unzufriedenheit mit den Coronamaßnahmen, Korruptionsskandale der ÖVP etc. – dazu zu nutzen, eine starke potenzielle WählerInnenbasis aufzubauen. Ob er im Zuge dessen den Gang in die Opposition antritt oder trotz des rabiaten Kurses gegen die Kurz-ÖVP trotzdem als Juniorpartner für letztere zur Verfügung steht, ist für ihn zweitrangig. Vielmehr sieht er das Heil der FPÖ wohl wieder in einer kontinuierlichen Stärkung über einige Jahre (und vermutlich auch über die nächsten Wahlen hinaus), wie es die FPÖ schon je einmal unter Jörg Haider und HC Strache vorzeigen konnte – diesmal hingegen aber von einer deutlich stärkeren Ausgangsbasis aus. Unterstützung bekommt er hierbei u. a. von der FPÖ-Parteigröße Andreas Mölzer, der Kickls Oppositionskurs und seine Strategie lobt.

Die Unterschiede auf der äußerlichen Ebene, der PR-Praxis, der Wortwahl und der Schwerpunktsetzung in den Außenauftritten spiegeln aber nicht unbedingt große inhaltliche Differenzen wider. In allen wesentlichen Punkten der rassistisch-nationalistischen Praxis ist man sich großteils einig. Beide Flügel werden, wenn sie in einer Regierung agieren, Sozialabbau betrieben, sind zutiefst rassistisch, sexistisch und alles, was dazugehört. Beide Flügel genießen gute Beziehungen zu den deutschnationalen Burschenschaften usw. Kickl und Hofer stehen primär für eine andere taktische Ausrichtung und weniger für ernsthafte inhaltliche Differenzen.

Kickls FPÖ

Was Kickl aber versuchen wird, ist, die FPÖ klar auf seinen populistischen Kurs auszurichten und vor allem mit radikaler Rhetorik Oppositionspolitik zu betreiben. Je nach Stärke des in den Medien so gerne bezeichneten „gemäßigten“ Flügels – was wie oben analysiert in erster Linie auf die Nähe zu und Akzeptanz der herrschenden Klasse bezogen ist – wird dieser vielleicht an den Rand gedrängt werden, oder, was die viel wahrscheinlichere Variante ist, in der FPÖ wird sich eine interne Arbeitsteilung durchsetzen. Im medialen und politischen Zentrum werden Kickl, die Wiener FPÖ, der Parlamentsklub usw. stehen, der versuchen wird, die ÖVP von rechts vor sich herzutreiben, während in den Bundesländern und Landesregierungen versucht wird, weiterhin eine seriöse Partnerin abzugeben.

Gleichzeitig möchte sich Kickl aber ganz offensichtlich gegenüber der (mittlerweile vergangenen) coronaskeptischen Bewegung auf der Straße öffnen. Auch sein bewusstes Nicht-Abgrenzen von den neofaschistischen Identitären (was Norbert Hofer vor ihm schon getan hatte) ist wohl ein bewusstes Signal an die Kräfte, die im letzten Jahr auch außerparlamentarisch aktiv waren. Nicht zufällig hatten die Identitären auf einem ihrer Transparente, das sie auf Demonstrationen vor sich her trugen, eine bewusste Anspielung auf Herbert Kickl gemacht („Kurz wegkickln“) – und das, als Norbert Hofer noch Parteichef war.

Wenn es also in den kommenden Monaten und Jahren zu einer rechten Straßenbewegung wie 2016 gegen die Geflüchteten an der Grenze in Spielberg oder von Seiten der Corona-SkeptikerInnen kommen wird, dann wird die FPÖ wohl unter Kickl sehr schnell versuchen, auf diesen Zug aufzuspringen. Auf der einen Seite wird das bei solchen Bewegungen zur „Gefahr“ führen, dass sie von der FPÖ vereinnahmt und damit für eine breite Maße unattraktiver werden, auf der anderen Seite aber auch dazu, dass die unterschiedlichen kleinbürgerlichen, verschwörungstheoretischen, rassistischen und auch neofaschistischen Einflüsse stärker in die FPÖ hineinwirken können. Die FPÖ ist unter Kickl wohl mehr von den äußeren Einflüssen abhängig und setzt weniger auf eine attraktive Partnerschaft für eine mögliche Koalition – auch wenn das alles andere als ausgeschlossen bleibt.




Wien: Stadtstraße Aspern verhindern

Frida Lechner, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1153, 21. Juni 2021

Die Wiener Stadtregierung plant, in den nächsten Jahren zwei große Straßenbauprojekte umzusetzen. Die sogenannte Stadtstraße soll bis 2025 die zunehmend besiedelte Region des äußeren 22. Bezirks an das Zentrum anbinden. Geplant ist eine vierspurige Autobahn mitten durch Grüngürtel und Siedlungen, die in die bereits jetzt überlastete A23 münden soll. Das primäre Ziel des Projektes ist, Staus zu reduzieren und den Verkehr in den Wohngebieten zu entlasten. Gelobt wird das Vorhaben der „sozial-liberalen Fortschrittskoalition“ von Wirtschaftskammer, ÖAMTC, ASFINAG (Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft) und ÖVP.

Was bringt eine Autobahn durch Wien?

Kann die Stadtstraße dieses Ziel überhaupt erfüllen? Aller konkreten Kritik am Projekt sei vorangestellt, dass die tradierte Art der Verkehrsplanung, in der zunehmendem Stauaufkommen mit Straßenausbau begegnet wird, zu sogenannten Rebound-Effekten führt. Das bedeutet, dass der Straßenausbau zuerst kurzfristig zu weniger Staus führt. Das macht aber wiederum das PKW-Fahren attraktiver und so erhöht sich das Verkehrsaufkommen, bis die neue Infrastruktur wieder überlastet ist.

Eine weitere bekannte Strategie aus derselben Planungstradition ist der Ausbau eines Straßennetzes rund um eine heikle Gegend. Wenn alles fertig ist, bleibt nur noch diese letzte Klammer zu schließen, was die Bekämpfung erheblich erschwert. Schließlich handelt es sich dann nur noch um ein vergleichsweise kleines Opfer, um ein großes Verkehrsnetz zusammenzuschließen. Die Stadtstraße ist besonders deshalb gefährlich, weil sie der „Lobau-Autobahn“, die mitten durch das Naturschutzgebiet gebaut würde, argumentativ Tür und Tor öffnet. Wenn beide Autobahnprojekte umgesetzt werden, würde ein transnationales Verkehrsnetz entstehen, das internationalen Schwerverkehr durch Wien anzieht, so eine Aktivistin von „Platz für Wien“.

Das ist vor allem deshalb brisant, weil die Bundesregierung ausgerufen hat, bis 2040 klimaneutral werden zu wollen. Auto- und LKW-Verkehr sind jedoch die Klimakiller schlechthin und beanspruchen nebenher auch unverhältnismäßig viel öffentlichen Raum. Noch unter der rot-grünen Stadtregierung wurde ein eigener Klimarat eingerichtet, der die Stadt in der Bekämpfung der Klimakrise beraten soll. Eine Maßnahme oberster Priorität ist laut einem Sitzungsprotokoll des Jahres 2020 der Stopp von fossilen Großprojekten unter expliziter Anführung des Lobautunnels und der Stadtstraße.

Dem Koalitionsabkommen von SPÖ-NEOS ist zu entnehmen, dass die Regierung für die „Klimamusterstadt“ auf Elektromobilität setzt. Die Antriebswende ist aber schon längst entzaubert, löst eine Umstellung auf E-Mobilität doch weder das Platzproblem noch die Feinstaubbelastung, die primär von Reifenabrieb und Staubaufwirbelung kommt und somit durch schwerere Autos mit E-Motoren sogar verschlimmert wird. Von den ökologischen Probleme, die sich durch den für E-Mobilität notwendigen Rohstoffabbau ergeben, einmal ganz abgesehen.

Kritik von links

In der Bevölkerung formiert sich nun ein breiter Protest, angestoßen von Umweltschutzorganisationen und BürgerInneninitiativen und unter zunehmender Beteiligung linker Gruppen. Neben mehreren Petitionen gab es auch Fahrraddemonstrationen, organisiert von Platz für Wien, Fridays for Future Österreich, System Change not Climate Change, Extinction Rebellion und dem Jugendrat Wien. Gefordert wird ein sofortiges Ende der Bauprojekte.

Die Jugendlichen vom Jugendrat kritisieren die mangelnde Beteiligung der BürgerInnen im Entscheidungsprozess. Die Sprecherin Lena Schilling fordert zunächst einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, sodass eine tatsächliche Wahlfreiheit überhaupt gegeben sein kann. Sollten die Bauprojekte trotz der Proteste umgesetzt werden, droht die Organisation mit einem „zweiten Hainburg“. Dort hatten 1984 UmweltaktivistInnen durch die Besetzung der Hainburger Au den Bau eines Wasserkraftwerks verhindert. Der Jugendrat könne gemeinsam mit der Fridays for Future Bewegung genügend junge AktivistInnen mobilisieren, um eine solche Besetzung zu wiederholen.

Umweltschutz heißt Antikapitalismus

Sinnvoll scheint da auch der direkte Angriff auf profitierende Großunternehmen. Eine Demonstration am 28. Mai startete vor der Industriellenvereinigung. Im Fokus steht insbesondere die ASFINAG. Für das Autobahnunternehmen wird eine groß angelegte Umstrukturierung gefordert, sodass ihr Geschäftsmodell die Klimakrise nicht weiter anheizt. Solche Feindbilder bergen das Potenzial, die umwelt- und menschenfeindliche Verkehrspolitik Wiens mit Kapitalismuskritik zu verbinden und vor allem junge MitstreiterInnen aus der Umweltbewegung für einen antikapitalistischen Kampf zu politisieren.

Ziel für linke Gruppen muss es also sein, diese Proteste weiter nach links zu ziehen und zuzuspitzen. Das bedeutet zum Beispiel, die Enteignung von Aktiengesellschaften wie der OMV präsenter zu fordern. Eine Herausforderung bleibt, wie diese Mobilisierung auf direkt betroffene ArbeiterInnen ausgeweitet werden kann. Die proletarischen Schichten in den schlecht angeschlossenen Randbezirken für den Kampf gegen profitorientierte, klimaschädliche Verkehrspolitik zu überzeugen, ist bisher noch kaum gelungen. Dazu gilt es, die Mobilitätsbedürfnisse mit sinnvoller Stadtplanung und attraktiven öffentlichen Verkehrskonzepten zu beantworten.