Defender 2024: Nur wer übt, wird kriegstüchtig

Linda Loony, Infomail 1248, 15. März 2024

„Kriegstüchtig“ und zum „Rückgrat der Abschreckung“ müsse die Bundeswehr lt. Verteidigungsminister Pistorius wieder werden. Dafür legt sich die Truppe zur Zeit mächtig ins Zeug.

Das „Steadfast Defender“-Manöver der NATO (STDE24/SD24; deutsch: standhafte Verteidigung), aktuell im Gange, markiert die größte militärische Übung des Bündnisses seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren. Die Simulation eines Konfliktszenarios mit Russland als potenziellem Gegner an der Ostflanke ist keine bloße Übung, sondern eine ernsthafte Vorbereitung. Denn nach Einschätzungen der Bundeswehr könnte Russland in wenigen Jahren bereit sein, einen Krieg gegen die NATO zu führen – und darauf will sich das Bündnis vorbereiten, indem die eigene Angriffsfähigkeit demonstriert und geübt wird.

Doch der Aufschrei in Bevölkerung und Medien scheint im kollektiven Halse steckengeblieben zu sein. Auf der Straße gibt es keine Großdemonstrationen gegen Krieg und Aufrüstung, die Berichterstattung über das Manöver und seine Ziele ist begrenzt und im Betrieb oder Freund:innenkreis dürften die wenigsten bisher darüber in Diskussionen geraten sein. Laut einer Bevölkerungsumfrage mit rund 2.200 Personen sind 70 % überzeugt, dass Deutschland weiterhin der NATO angehören muss, 65 % befürworten die finanziellen Zusagen an sie. Die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke werden ebenfalls überwiegend unterstützt.

Die Einstellung zur Bündnisverteidigung hängt jedoch stark von der Wahrnehmung Russlands als Bedrohung der „Freiheit“ ab, also wie sehr die NATO-Ideologie verfängt, dass es sich nicht um einen immer schärferen innerimperialistischen Gegensatz handeln würde, sondern um einen Konflikt zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“. Zweifellos wirkt diese Darstellung besonders angesichts der imperialistischen Aggression und Besatzung Russlands gegenüber der Ukraine. Der Kenntnisstand über die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke selbst ist jedoch eher gering (1). Dabei rasseln die Säbel in Europa so laut wie lange nicht mehr.

Dieser Artikel soll zunächst einen Überblick über das aktuell laufende Steadfast Defender- Manöver der NATO geben. Im Anschluss wird eine globale politische Einordnung vorgenommen. Abschließend beschäftigt sich der Artikel mit der Frage der Programmatik, für die die Arbeiter:innenklasse in diesen Zeiten gewonnen werden muss.

Alle machen mit

Die Teilnahme an diesem gigantischen Manöver erstreckt sich über alle 32 NATO-Mitgliedsstaaten. Ziel ist es, die Alarmierung nach dem Bündnisfall zu üben, sich auf den Einsatz vorzubereiten, Truppen in die Einsatzräume zu verlegen und letztlich „den Aggressor im Gefecht abzuwehren“ (2). Mit einer Stärke von 90.000 Soldat:innen soll die NATO ihre Schlagkraft demonstrieren und Russland zugleich vor Augen führen, welche Konsequenzen ein Angriff auf das Bündnisgebiet haben würde. Abschreckung ist das erklärte Ziel an der NATO-Ostflanke.

Das Manöver erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Monaten und umfasst verschiedene Übungen: Grand North, Grand Center, Grand South und schließlich die Abschlussübung Grand Quadriga. Dabei operiert die Bundeswehr nicht nur in Deutschland, sondern auch in Norwegen, Polen, Ungarn, Rumänien und Litauen. Diese umfangreiche Präsenz verdeutlicht, dass es nicht nur um eine regionale Verteidigungsübung geht, sondern um eine Koordination auf internationaler Ebene.

Der Menschen- und Materialeinsatz ist beeindruckend: Rund 90.000 Soldat:innen, 50 Marineschiffe, 80 Flugzeuge und über 1.100 Kampffahrzeuge werden mobilisiert. Die Bundeswehr ist mit ihrem Manöver Quadriga 24 Teil der NATO-Operation. Generalinspekteur Breuer betont die Bedeutung Deutschlands als Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung Europas (3). Quadriga 24 beinhaltet die Verlegung von Militärkonvois in vier Teilmanövern zu unterschiedlichen Zeiten, und es handelt sich um die größte Übung deutscher Landstreitkräfte seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Mit 12.000 Soldat:innen, 3.000 Fahrzeugen und 30 Luftfahrzeugen ist dies ein beachtliches Aufgebot.

Der Gegner Russland

Seit zwei Jahren tobt nun ein heißer Krieg in der Ukraine. Dies hat die Konfrontation zwischen den westlichen Imperialismen und ihrem russischen Gegenspieler in einem Maß verschärft, das es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Obwohl keine kämpfenden Einheiten der NATO direkt involviert sind, wurden und werden die ukrainischen Streitkräfte vor und während des Krieges massiv ausgerüstet. Die Unterstützung umfasst Waffen, Logistik, Informationsdienste und Ausbildung an modernen Waffensystemen. Die gelieferte Ausrüstung stammt aus westlichen Armeen, begleitet von einer Modernisierung der eigenen Rüstungsindustrie.

Der westliche Imperialismus hat sich dabei hierzulande die moralische Deutungshoheit über die Kriegssituation gesichert: Russland als undemokratischer, reaktionärer Staat greift die Ukraine an und bedroht damit den Frieden, die Freiheit und Demokratie in ganz Europa, während der Westen nur als selbstloser Helfer agiere. Auch wenn die Selbstverteidigung der Ukraine gegen die Invasion berechtigt ist und es zynisch wäre, den ukrainischen Massen vorzumachen, dass es egal wäre, ob ihr Land besetzt wird oder nicht, so geht es der NATO und der Bundesrepublik darum, selbst die Kontrolle über möglichst große Teile der Ukraine zu erlangen, diese als ihr Ausbeutungs- und Investitionsgebiet zu sichern und die NATO selbst nach Osten auszudehnen.

Dies soll demnach auch sämtliche Aufrüstungsprogramme der NATO legitimieren und dient den Herrschenden als Propagandamittel. Die Moral des westlichen Imperialismus bei der Verurteilung despotischer Regierungen wird aufmerksamen Beobachter:innen jedoch als recht dehnbar auffallen, denn sie hängt lediglich von der Nützlichkeit des betreffenden Staates für die Umsetzung eigener nationaler Interessen ab. So hat die EU weniger Probleme damit, den autoritären Staat Türkei im Krieg gegen die Kurd:innen gewähren zu lassen, denn schließlich hält dieser Massen geflüchteter Menschen zurück, die anderenfalls potenziell Zuflucht hinter der Mauer der Festung Europa suchen würden. Sie haben offenkundig auch kein Problem damit, die Bombardierung Gazas politisch und militärisch zu unterstützen – denn schließlich verteidigt das zionistische Regime westliche imperialistische Interessen.

Diese propagierte moralische Notwendigkeit der Verteidigung schmeckt jedenfalls deutlich besser, als würde offen propagiert werden, dass seit jeher der westliche wie auch der russische Imperialismus jeweils ihre eigenen geopolitischen und damit ökonomischen Interessen verfolgen, die nun in der Einflusssphäre Ukraine kollidieren. Das bedeutet, der Konflikt geht nicht nur darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern er ist zugleich mit der Frage verwoben, ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute sowohl Schauplatz eines Kampfes gegen die russische Invasion wie zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Neuaufteilung der Welt.

Der Kampf um Einflusssphären

Die NATO verfolgt seit den 1990er Jahren das Projekt der Erweiterung ihrer Mitgliedsstaaten und Einflussgebiete nach Osten. Die Aufnahme Nordmazedoniens im Jahr 2020 bildet die vorläufig letzte Etappe der Integration ehemaliger „sozialistischer Länder“. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde dann deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland sagte im Juni 2023 zu, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zurzeit sind rund 40.000 NATO-Soldat:innen in Osteuropa stationiert.

Russland wiederum erlebt dadurch seit jeher eine Bedrohung seiner eigenen Einflusssphären und forderte darüber hinaus als Reaktionen auf bevorstehende oder mögliche Beitritte immer wieder die militärische Neutralität von Staaten in Ost- und Südosteuropa als „Pufferzonen“ zwischen sich und der NATO ein. Hier ist ersichtlich, dass Russland umgekehrt die NATO als Angreiferin auf seine Souveränität und Sicherheit propagiert und auf Nationalismus als ideologisches Bindeglied setzt. Russland reagiert außerdem auf diese Aktivitäten seinerseits mit provokanten Manövern.

Hieraus wird deutlich, dass die militärische Mobilmachung des westlichen Imperialismus keine unmittelbare Folge des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine darstellt, sondern vielmehr eine fortbestehende Notwendigkeit im Kampf um Einflusssphären ist. Es wird ebenso deutlich, dass selbst ein Ende des Krieges in der Ukraine nicht das der Aufrüstung bedeuten würde, denn ein kriegsfähiges Militär ist essenziell im Konkurrenzkampf imperialistischer Staaten um die Ausbeutungshoheit über ihre Halbkolonien (4).

Kriegsvorbereitung

Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt der westliche Imperialismus über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome, die die Arbeiter:innenklasse zu spüren bekommt, Russland in die Schuhe zu schieben und damit auch wirtschaftliche Angriffe auf soziale Errungenschaften der Lohnabhängigen als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen. So stimmte beispielsweise die Führung der IG Metall als gewerkschaftliche Vertretung in der deutschen Rüstungsindustrie in ihrem Positionspapier zur Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Januar 2024 in den Tenor ein und unterstrich ihrerseits, dass sie die Aufrüstungsziele der Bundesregierung unterstütze. Die Gewerkschaft stellt die so gewonnenen bzw. erhaltenen Arbeitsplätze als Errungenschaft heraus und erklärt, Waffenexporte zu unterstützen. Die Gewerkschaftsbürokratie bewegt sich hier also vollständig auf Kurs der deutschen Bourgeoisie.

Auch die reformistische SPD stellt sich nicht gegen das Mantra der Aufrüstung, während DIE LINKE nicht so recht weiß, ob sie für oder gegen eine solche „Sicherheitspolitik“ sein soll. Während sie auf Parteitagen immer noch ein Bekenntnis zum „Frieden“ abgibt, verstoßen Parlamentarier:innen und Funktionär:innen vom rechten, „regierungssozialistischen“ Flügel immer wieder gegen diese Beschlüsse. In der Praxis fällt DIE LINKE vor allem dadurch auf, dass sie der Kriegsfrage möglichst aus dem Wege geht.

Jedoch ergaben sich auch kürzlich Konflikte innerhalb der Herrschenden darüber, welche der Zugeständnisse an die Lohnabhängigen für die Aufrüstungspläne gestrichen werden sollen. So hatte die SPD den Vorschlag des FDP-Vorsitzenden und Finanzministers Lindner kritisiert, bei denen das Sondervermögen für die Aufrüstung durch Einsparungen in den Sozialleistungen gedeckt werden sollte. Doch dieses kleinen Aufbegehren der Reformist:innen darf nicht als wahrer Einsatz für die Arbeiter:innenklasse verkannt werden, denn sowohl die SPD als auch die Grünen befürworten und gestalten die aktuelle Aufrüstungspolitik.

Welche Bewegung?

Laut der bereits zitierten Bevölkerungsumfrage sprach sich letztes Jahr über die Hälfte der Befragten weiterhin für eine Erhöhung des Verteidigungsetats, eine Aufstockung der Soldat:innen und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus. Nur 8 % plädieren für eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben und des Personals.

Die ideologische Mobilmachung scheint zu fruchten: Bürgerliche Arbeiter:innenparteien wie die SPD und Gewerkschaftsführungen (und in Teilen auch die Linkspartei) tragen die Staatsraison mit und versuchen, die Lohnabhängigen durch kurzfristige ökonomische Argumente sowie durch den Kampf für das vermeintlich moralisch „richtige“ Ziel zu binden, also die Verteidigung westlicher Freiheit und Demokratie.

Für revolutionäre Kräfte gilt es, den Widerspruch zwischen den Zielen der Bourgeoisie und dem objektiven Interesse der Lohnabhängigen aufzuzeigen, und das nicht nur durch symbolische Aktionen auf der Straße. Es muss ein politischer und ideologischer Kampf in der Arbeiter:innenbewegung geführt werden. Es gilt, die ideologische Mobilmachung aufzubrechen.

Dies gilt für die Arbeiter:innenschaft in Russland wie auch in den westlichen imperialistischen Staaten. Dieser Kampf bedeutet auch, mit Antikriegsforderungen, die einer pazifistisch-kleinbürgerliche Grundlage entspringen, zu brechen. Es geht nicht darum, Phrasen wie „Nie wieder Krieg“ zu wiederholen oder gar die Hoffnung zu schüren, dass uns eine „europäische Verteidigungsarchitektur“ besser als die NATO beschütze oder die Bundesregierung unseren Forderungen nachkommen würde.

Eine Antikriegsbewegung, die über dies nicht hinauskommt oder sich auf die Seite einer imperialen Macht stellt, ignoriert den systemischen Charakter des Krieges und ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn der Krieg ist im Rahmen der Klassengesellschaft und der imperialistischen Weltordnung ein politisches Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie. Der (Irr-)Glaube, man müsse sich beim Kräftemessen der Großmächte und deren Kriegsvorbereitung nur auf die „moralisch“ richtige Seite des Friedens stellen oder die Regierung um Einhalt bitten, greift vielleicht die Auswirkung des Krieges kurzfristig an, doch verfehlt es, seiner Voraussetzung den Kampf zu liefern: dem kapitalistischen System.

Proletarischer Antimilitarismus

Das Programm für die Arbeiter:innenklasse muss daher ein konsequenter proletarischer Antimilitarismus sein, d. h. ein Bekenntnis zum Defaitismus im neuen Kalten Krieg.

Der Hauptfeind ist nicht in einem imperialistischen Konkurrenten zu sehen, sondern im eigenen Land, in der eigenen nationalen Bourgeoisie. Und ein unmittelbares Ziel besteht darin, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zu einem offenen globalen Krieg zwischen den imperialistischen Mächten eskaliert.

In Russland muss die Arbeiter:innenklasse gegen den Einmarsch in die Ukraine kämpfen und die sofortige Beendigung des Krieges sowie den Abzug aller russischen Truppen fordern. Angesichts des autokratischen Charakters des Putin-Regimes ist der Kampf für demokratische Rechte, Meinungsfreiheit und die Freilassung politischer Gefangener entscheidend. Dieser muss mit dem Ziel verbunden werden zu verhindern, dass die Arbeiter:innen die Kosten des durch Sanktionen verursachten Elends und der Kriegstreiberei tragen müssen. Die Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit Massenstreiks und der Enteignung der Oligarch:innen verbinden. In der Ukraine ist der Kampf gegen die Besatzung zwar ein gerechtfertigter, aber er muss mit einem politischen Kampf gegen die reaktionäre Regierung Selenskyj, die falschen Hoffnungen in den westlichen Imperialismus und für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung und revolutionären Partei verbunden werden.

In den NATO-Ländern muss dazu aufgerufen werden, sich als Arbeiter:innenschaft gegen Kriegstreiberei, Aufrüstung und Sanktionen zu stellen, die kein reaktionäres Regime stürzen, sondern in ihrer Konsequenz der russischen Arbeiter:innenklasse schaden, vor allem aber die imperialistische Konfrontation weiter zuspitzen. Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Kräfte müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen ablehnen und gegen reaktionäre Gesetze kämpfen. Eine echte Antikriegsbewegung muss die imperialistischen Interessen der westlichen Unterstützung für die Ukraine aufdecken. Dabei müssen Revolutionär:innen gegen Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus vorgehen und den wahren Charakter des Krieges den Massen verständlich machen.

Perspektivisch bedeutet das auch, dass revolutionäre Kräfte Arbeit in der Armee leisten müssen, gerade bei einer potenziellen Wiedereinführung der Wehrpflicht, die das Heer aus der breiten Masse der Arbeiter:innenklasse zusammensetzen würde, statt wie aktuell nur aus Freiwilligen. Antimilitaristische Arbeit unter den und Organisierung der einfachen Soldat:innen und Wehrpflichtigen sind Schritte auf dem Weg zum Kampf gegen die Militarisierung und Aufrüstung der eigenen Nation.

Die Enteignung der Rüstungskonzerne und damit verbundene Kontrolle über die Produktion muss eine weitere Kernforderung der proletarischen Antikriegsbewegung sein. Ein proletarisches Antikriegsprogramm muss aber gleichzeitig auch Lösungen für die Arbeiter:innenschaft dieser Konzerne vorschlagen, d. h. für die dort Beschäftigten müssen Umschulungsangebote geschaffen werden, die ihnen einen Branchenwechsel zu gleichem Einkommen ermöglichen.

Es braucht einen Kursumschwung in der Arbeiter:innenbewegung und die beschriebene programmatische Methode gilt es sinngemäß auf sämtliche kriegerische Auseinandersetzungen anzuwenden, die vom westlichen Imperialismus unterstützt werden wie bspw. der Krieg im Gazastreifen. Die Schaffung einer internationalistischen Antikriegsbewegung ist das unabdingbare Mittel, den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen Klassenkampf gegen die Kapitalist:innenklasse zu transformieren.

Endnoten

(1) Quelle: ZMSBw-Bevölkerungsbefragung: https://zms.bundeswehr.de/de/bevoelkerunsgbefragung-zeitenwende-in-den-koepfen-5730686

(2) Quelle: Quadriga 2024: NATO-Landstreitkräfte üben den Bündnisfall [bundeswehr.de]

(3) Ebenda

(4) Mehr zu dem Thema auch hier: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/09/der-krieg-in-der-ukraine-und-der-kampf-um-die-neuaufteilung-der-welt/ bzw. hier https://arbeiterinnenmacht.de/2024/02/12/100-milliarden-sondervermoegen-fuer-die-bundeswehr-hochruestung-fuer-deutsche-kapitalinteressen/




100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr: Hochrüstung für deutsche Kapitalinteressen

Helga Müller, Neue Internationale 280, Februar 2024

Die Umorientierung der Bundeswehr von der Landesverteidigung zur Eingreiftruppe ist in vollem Gange. Schließlich gilt es, wirtschaftliche sowie geostrategische Interessen des deutschen Großkapitals im Kampf um die Neuverteilung der Welt zu verteidigen. Spätestens seit der Aussage des SPD-Verteidigungsministers Pistorius, die deutsche Bundeswehr müsse jetzt auch endlich mal kriegstüchtig werden, wird immer deutlicher, was Bundeskanzler Olaf Scholz unter der viel zitierten Zeitenwende versteht: Deutschland muss in der Lage sein, seine Interessen auch militärisch zu verteidigen.

Ganz nebenbei stellen Aufrüstung und Militarisierung auch noch ein willkommenes Konjunkturprogramm für die deutsche Rüstungsindustrie dar. Armin Papperger, Vorstandsvorsitzender der Rheinmetall AG, ist recht zufrieden. „Wir sind auf gutem Kurs, um unsere ehrgeizigen Jahresziele für nachhaltiges profitables Wachstum zu realisieren.“ Auch im dritten Quartal 2023 gingen die Geschäftszahlen des Konzerns insgesamt nach oben. Der Umsatz stieg in den ersten neun Monaten um 13 Prozent auf 4,6 Milliarden Euro.

Nicht an Waffen sparen

Trotz massiven Sparhaushalts, Beibehaltung der Schuldenbremse, wie es FDP-Finanzminister Lindner wünscht, trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und des daraus resultierenden Haushaltslochs, das finanziert werden muss – am Etat der Bundeswehr wird nicht gerüttelt. Das Sondervermögen über 100 Milliarden Euro – oder auch Sonderschulden, die genauso finanziert werden müssen wie der auf 2 % des BIP erhöhte reguläre Wehretat – bleiben unangetastet. In der Debatte um den Wehretat im Bundestag Anfang September 2023 garantierte Bundeskanzler Scholz, dass die Nato-Quote – also die 2 % vom BIP – „auch in den Jahren 2028, 2029 und in den 2030er Jahren erreicht wird“. Um das zu stemmen, müssten „allerspätestens ab 2028 zusätzliche 25, vielleicht auch fast 30 Milliarden Euro für die Bundeswehr aus dem Bundeshaushalt direkt finanziert werden“ (nd-aktuell.de, 6.9.2023, Bundestag zum Wehretat: Aufrüstung über alles). Insgesamt summieren sich die Militärausgaben mit den für das kommende Jahr eingeplanten Mitteln aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von gut 19 Milliarden und mit den für Rüstung und Truppe vorgesehenen Mitteln aus anderen Ressorts in Höhe von 14 Milliarden Euro auf 85 Milliarden Euro! Eine Summe, die im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge dringend benötigt würde!

Alle(s) für den Krieg?

Um dieses Ziel zu erreichen, schreckte Pistorius auch nicht davor zurück, sich direkt in die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes bei Bund und Kommunen einzumischen und die Tarifparteien dazu aufzufordern, die Lohnerhöhung nicht zu hoch zu schrauben, um das Sondervermögen nicht in Frage zu stellen. Wie wir mittlerweile wissen, hat sich ver.di und nicht nur diese an diese Aufforderung gehalten, ganz im Interesse des deutschen Imperialismus, um seine neue Rolle in der Welt auch spielen zu können. Wie eng hier Gewerkschaftsspitzen, Regierung und Arbeit„geber“:innenverbände zusammenarbeiten, hat nicht zuletzt die von Bundeskanzler Olaf Scholz einberufene Konzertierte Aktion gezeigt, bei der sich diese auf das Instrument der steuerfreien Einmalzahlungen bis 3.000 Euro geeinigt haben, um die realen Lohnerhöhungen abzuflachen.

Um was es beim Begriff der Kriegstüchtigkeit geht, hat SPD-Verteidigungsminister Pistorius in seinen auf der im November stattgefundenen Bundeswehr-Tagung – ein jährliches Treffen der Regierung mit dem militärischen und zivilen Spitzenpersonal der Bundeswehr – vorgelegten „Verteidigungspolitischen Richtlinien für die Zeitenwende“, die die Grundlage für eine „leistungsfähige Bundeswehr der Zukunft“ liefern sollen, dargestellt:

Der Ukrainekrieg dient als Begründung dafür, die Truppe noch schneller aufzurüsten, sie „schlagkräftiger“ zu machen, damit sie für „neue Aufgaben“ bereit ist. Da heißt es: „Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, in denen Einsätze zum internationalen Konfliktmanagement strukturbestimmend und Landes- und Bündnisverteidigung in den Hintergrund gerückt waren, lassen sich nicht in wenigen Jahren umkehren“ und „der Weg zu einer umfassend einsatzbereiten Bundeswehr, die unsere Bürgerinnen und Bürger ebenso wie unsere Bündnispartner zu Recht erwarten, erfordert einen langfristigen Anpassungsprozess“. Bei den „Reformen“, der Beschaffung von Ausrüstung und Material sowie Bauprojekten soll deshalb Tempo vorgelegt werden: „Unsere Wehrhaftigkeit erfordert eine kriegstüchtige Bundeswehr“. Maßstab hierfür sei „jederzeit die Bereitschaft zum Kampf mit dem Anspruch auf Erfolg im hochintensiven Gefecht“. Die BRD müsse „Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa sein“ (jw, 11.11.2023, Nur der erste Schritt).

SPD übernimmt Verantwortung …

Deutlicher wurde das Ziel ausgerechnet im außenpolitischen Leitantrag für den Parteitag der SPD in Berlin im Dezember 2023 formuliert. Dieser spricht sich für eine Führungsrolle Deutschlands in der Welt aus. Das Militär wird im Entwurf für den Leitantrag als Mittel der Friedenspolitik bezeichnet.

Schon ein dreiviertel Jahr vorher hatte Pistorius bei der sogenannten Münchner Sicherheitskonferenz 2023 genauer definiert, was er und die Bundesregierung unter der neuen Verantwortung der Bundeswehr und der deutschen Außenpolitik verstehen: Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Es geht um die Bekämpfung des Islamismus, die Begrenzung der Migration und die Sicherung von Einflusszonen und Rohstoffen. Man kann davon ausgehen, dass die Bundesregierung stattdessen vom „Schutz der Menschenrechte“ oder auch von Notwendigkeiten, die sich aus der „feministischen Außenpolitik“ ergeben werden, sprechen wird, wenn sie sich erneut militärisch in Afrika engagiert, denn „die russischen Ambitionen in Afrika bedeuten nicht, dass sich das Militär der Bundesrepublik komplett aus dem Kontinent zurückziehen wird.“ Doch auch andere Regionen bleiben für Deutschland von Interesse.

So werde der Indopazifik weiterhin eine Rolle spielen, erklärte Pistorius. Es gehöre dazu, mit Partner:innen zu üben und: „Es ist notwendig, dass wir Flagge zeigen. Wir müssen klarmachen, dass uns die Region nicht egal ist.“ Dort wird erwartet, dass sich der Konflikt zwischen den USA und China verschärfen wird.“

Noch offener kann man die neuen Ambitionen des deutschen Imperialismus nicht mehr aussprechen und das aus dem Mund eines Sozialdemokraten, Mitglied einer Partei, die aus der Arbeiter:innenbewegung entstanden ist und sich jetzt offen für die Verteidigung deutscher Kapitalinteressen einsetzt!

… und Gewerkschaften geben sie ab

Der mit nichts zu rechtfertigende Krieg Russlands gegen die Ukraine hat der deutschen Bundesregierung alle Argumente in die Hand gegeben, um die Hochrüstung im Interesse der Verteidigung der Interessen des deutschen Kapitals ohne größeren Widerstand in der Bevölkerung durchzusetzen. Die Gewerkschaftsspitzen haben das Ihre dazu getan, um gewerkschaftspolitischen Widerstand dagegen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Proteste gegen das Sondervermögen der Bundeswehr gab es keine und die Tarifrunden im öffentlichen Dienst wurden befriedet, statt zu versuchen, die Ausgaben für die Ausrüstung zurückzunehmen und für die Lohnabhängigen zu nutzen.

Auch die neu aufgekommene Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Angestoßen wurde diese wiederum vom Verteidigungsminister, der dafür ausgerechnet vom bayerischen Ministerpräsidenten Söder Unterstützung erhält: Auch wenn dieser Vorstoß in der SPD umstritten ist – so ist die SPD-Parteichefin Esken dagegen –, verwies die Wehrbeauftragte des Bundestags Högl von der SPD in ihrem Jahresbericht 2022 darauf, dass sich die Zahl der Bewerber:innen im Jahr 2022 mit einem Minus von elf Prozent erheblich verringert habe. Die Personalstärke betrug demnach 183.051 Soldati:nnen, ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr. „Bis zum Ziel, die Zahl der Soldatinnen und Soldaten auf 203.000 im Jahr 2031 zu erhöhen, ist es noch ein langer Weg“, konstatierte Högl. Neben dem weiter steigenden Altersdurchschnitt macht ihr auch der Anstieg der Abbrecherquote Sorgen.

Der Militarisierung entgegen!

Die militärischen Großmachtambitionen Deutschlands und der EU gehen einher mit massiven Angriffen auf unsere Lebensbedingungen in Form von Sozialraub, Bildungskürzungen und Zerschlagung von Tarifrechten. Und gerade dort, wo es besonders schwierig ist, einen Job, eine Lehrstelle oder einen gebührenfreien Studienplatz zu kriegen, umwirbt das Militär junge Leute mit dem Versprechen auf einen krisensicheren Arbeitsplatz.

Doch der Zusammenhang von neoliberalem Sozialabbau und Militarisierung geht tiefer: Die verstärkte kapitalistische Standortkonkurrenz zwingt zur neoliberalen „Mobilmachung“ der Gesellschaft, die in der militärischen Mobilmachung, im weltweiten Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte nur ihre logische Fortsetzung findet.

Die militärischen Ambitionen des deutschen Imperialismus richten sich gegen alle Lohnabhängigen und Unterdrückten – auch in Deutschland! Dieses Jahr findet die Sicherheitskonferenz vom 16. bis 18. Februar im Bayerischen Hof der bayerischen Landeshauptstadt statt. Die Proteste starten am Samstag, 17.2. um 13 Uhr am Karlsplatz. Wir begrüßen, dass auch der ver.di-Bezirk München zu den Protesten gegen die NATO-Sicherheitskonferenz aufgerufen hat. Auch die anderen Gewerkschaften und der DGB sind aufgefordert, ihre Politik des nationalen Konsenses mit der Regierung aufzugeben und zu den Protesten gegen die Konferenz aufzurufen und dafür in den Betrieben, im Stadtviertel, an Schulen und Universitäten zu mobilisieren! Diese Mobilisierung sollte mit Vollversammlungen in den jeweiligen Institutionen verbunden werden, wo die Auswirkungen der Aufrüstung zusammen mit den Einsparungen diskutiert werden – mit der Perspektive, Aktionskomitees zu bilden, die eine Bewegung gegen Krieg und Militarisierung vor Ort aufbauen.

Wir rufen alle Antikriegsaktivist:innen, linken Gruppen, Mitglieder der Linkspartei, Gewerkschafter:innen dazu auf, sich an den Protesten zu beteiligen und so zu mobilisieren, denn: „Wie schon seit 60 Jahren treffen sich im Februar 2024 Staatsvertreter, Militärs und Rüstungskonzerne zur Münchner ,Sicherheitskonferenz’ (Siko) im Bayerischen Hof. Bei dieser Privatveranstaltung, die u. a. mit Steuergeldern finanziert wird, ging es nie um Sicherheit, sondern immer um die Machtinteressen der NATO und ihrer Mitgliedstaaten – besonders die der deutschen Bundesregierung, die eine militaristische ,Zeitenwende’ losgetreten hat und nun das ganze Land ,kriegstüchtig’ machen will. Heute organisiert die Bundesregierung die größte Aufrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg und schickt Waffen in Kriegsgebiete. Das bedeutet: Wettrüsten, Konfrontation, Krieg – bis hin zum Atomkrieg.“ (Aus dem Aufruf des Anti-Siko-Bündnisses)




NATO-Erweiterung: Auferstehung des Militarismus

Robert Teller, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Noch Ende 2019 galt die NATO dem französischen Präsidenten Macron als hirntot. Trump drohte mit der Kürzung von US-Mitteln und sogar dem Austritt aus dem Kriegsbündnis. Der Krieg in der Ukraine lässt all das in Vergessenheit geraten und wird als Gelegenheit genutzt, neue Fakten zu schaffen. Binnen kurzer Zeit wurde, wenn auch nicht ohne Friktionen, der NATO-Beitritt von Schweden und Finnland in Angriff genommen.

Bestandsaufnahme der Expansion

Dieser wurde bereits auf dem NATO-Gipfel in Madrid am 29. Juni 2022 eingeleitet. Die Verabschiedung durch die beiden Beitritts- und sämtliche NATO-Mitgliedsländer wurde im Falle Finnlands bis April 2023 abgeschlossen. Im Falle Schwedens wird eine endgültige Einigung im Herbst diesen Jahres erwartet. Die Aufnahmen markieren eine Wende nach einer jahrzehntelangen Politik zumindest formeller Unabhängigkeit von geopolitischen Machtblöcken – der NATO, dem Warschauer Pakt und von Russland und dessen Bündnispartner:innen.

Nicht zuletzt sollte die jüngste Expansion der NATO auch die politische Botschaft aussenden, dass die Zeit des Manövrierens zwischen den imperialistischen Machtblöcken in Ost und West der Vergangenheit angehört, jedes Land sich entscheiden muss, auf welcher Seite es steht. Durchkreuzt wurde dieses Verdikt durch die Türkei, die eine strategische Ambivalenz gegenüber Russland als Druckmittel einsetzen konnte, um von Schweden und Finnland das Versprechen einer verschärften Repression gegenüber der PKK-Bewegung zu erhalten. Nach ihrer Drohung, die Beitritte zu blockieren, erhält die Türkei nun zugleich Rückendeckung für ihre militärischen Ziele in Rojava und im Nordirak.

Zwar fand unter dem Deckmantel ihrer Unabhängigkeit in den beiden skandinavischen Ländern schon lange – und verstärkt nach dem Zusammenbruch der UdSSR – eine Zusammenarbeit mit der NATO statt. Im Falle Schwedens beinhaltete dies auch die Teilnahme an NATO-Manövern und die Ausrichtung von Waffensystemen auf NATO-Standards. Die „Blockfreiheit“ beruhte immer auf der zentralen Prämisse, dass einer NATO-Mitgliedschaft faktisch nichts im Wege steht. Als Nicht-NATO-Mitglied sind Finnland – und Schweden als wichtigste Truppenstellerin – zudem schon seit 2008 Teil der „Nordic Battlegroup“ der EU.

Finnland praktizierte während des Kalten Kriegs eine Art „Schweizer Modell“, das eine Eingliederung in das westliche Militärbündnis vor allem dadurch vermied, dass eine eigenständige Verteidigung gegen eine mögliche Invasion auch ohne Beteiligung verbündeter Streitkräfte als glaubhaftes Abschreckungsszenario vorbereitet wurde, was ebenso ein vergleichsweise großes Heer an Reservist:innen erforderte wie das Primat der „Landesverteidigung“ auf allen Ebenen, also die Durchdringung aller Institutionen und ihre Vorbereitung auf ihre jeweiligen Aufgaben im Kriegsfall. Der wichtige Unterschied zur Schweiz ist jedoch, dass im Falle Finnlands nur die Sowjetunion als Kontrahentin in Frage kam.

Dennoch unterwarfen sich beide Länder bis 2022 nicht der NATO-Beistandspflicht und konnten daher nicht in NATO-Operationspläne, die im Fall einer militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion bzw. mit Russland aktiviert werden können, eingebunden werden. Aus Sicht der NATO soll der Beitritt genau dies ermöglichen – das Schließen der nördlichen Flanke gegenüber Russland durch Einbeziehung der finnischen und schwedischen Streitkräfte. Laut Berichten wurde diese Integration auf dem jüngsten NATO-Gipfel im Juli 2023 durch Verabschiedung eines detaillierten Verteidigungsplans für Nordeuropa vollzogen, der auch die Einrichtung eines regionalen Hauptquartiers in den USA vorsieht – wie auch die Verabschiedung regionaler Verteidigungspläne und Hauptquartiere für Mittel- und Südeuropa.

Ausdehnung in Osteuropa

Militärisch wird die Neuaufnahme von Schweden und Finnland die Dominanz der NATO über die Ostsee weiter festigen, die im Falle einer größeren Konfrontation mit Russland strategisch bedeutsam wäre. Zur Vorbereitung auf ein solches Szenario dient bereits seit 2004 die „gemeinsame Luftraumüberwachung“ im Baltikum, die durch ein Rotationssystem aller NATO-Mitgliedsstaaten ein jederzeit einsatzbereites Kontingent an Abfangjägern in den baltischen Staaten in Einsatzbereitschaft hält. Insbesondere Deutschland betrachtet die Kontrolle der Seewege vom Nordatlantik über die Nordsee bis zur Ostsee als eine Kernaufgabe und hat zunehmend seine Marinekapazitäten auf dieses Einsatzgebiet ausgerichtet.

Eingeleitet wurde die Osterweiterung der NATO im Grunde schon mit der deutschen Wiedervereinigung. Am 3. Oktober 1990 wurde nicht nur die Bundesrepublik um die ehemalige DDR erweitert, sondern auch das NATO-Gebiet. Zugleich versicherten jedoch damals die westlichen Führungsmächte gegenüber der Sowjetunion, dass eine weitere Ausdehnung der Allianz nicht vorgesehen sei. Von diesen Versprechen wurde, wie vorauszusehen, nichts gehalten. Allerdings dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis die NATO-Ausweitung 1999 mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns neuen Schwung erhielt. Dies fällt nicht zufällig mit der Rekonsolidierung des russischen Imperialismus als globalem Konkurrenten unter Putin zusammen und seiner klaren Bestimmung als strategischen Gegner der USA, während die europäischen führenden Mächte damals eine andere Strategie verfolgten.

Unter dem Schlagwort der „Open Door Policy“ wurde die Aufnahme weiterer Staaten ins Auge gefasst. Insgesamt wurden zwischen 1999 und 2020 14 Länder Osteuropas als Neumitglieder aufgenommen, darunter 9 ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts, vier Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien) sowie Albanien. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland hat im Juni 2023 zugesagt, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zur Zeit sind rund 40.000 NATO-Truppen in Osteuropa stationiert.

Aufrüstung im Pazifikraum

Auch wenn die aktuellen Diskussionen sich auf den Ukrainekrieg konzentrieren, ist der geopolitische Einfluss im „Indopazifik“ – kurz gesagt im Umkreis von China – ein strategisches Kernanliegen der USA und zentral im übergeordneten imperialistischen Hauptkonflikt zwischen den ihnen und China. Im NATO-Strategiedokument von 2022 schlägt sich dies auch in der Formulierung nieder, dass „Entwicklungen im Indopazifik die euro-atlantische Sicherheit direkt beeinflussen“ und daher die NATO ein Interesse an dieser Region habe.

Seit 2022 nehmen Japan, Australien und Südkorea mit ihren Delegationen an NATO-Gipfeln teil. Die USA haben Anfang 2023 die Zustimmung der philippinischen Regierung (auf Grundlage eines schon seit 2014 bestehenden Abkommens) zur Einrichtung von vier neuen Militärstützpunkten erreicht, die einen direkten Zugang zu dem Teil des Westpazifiks ermöglichen, der neben China (dort unter der Bezeichnung „South China Sea“) auch von Vietnam („Östliches Meer“), den Philippinen („West Philippine Sea“) und teils von Indonesien („North Natuna Sea“ nach dem zu Indonesien gehörenden Natuna-Archipel) beansprucht wird und letztlich im Zentrum der „Indopazifik“-Debatten steht. Auch Joe Bidens Staatsbesuch in Vietnam Mitte September 2023 unterstreicht das Interesse des US-Imperialismus, sich in der Region zu verankern.

Gemeinsame Manöver von US-Streitkräften mit Australien, Japan und den Philippinen fanden zuletzt im August 2023 im Westpazifik statt. Unabhängig davon laufen seit 2009 jährliche Übungen der US- und indonesischen Streitkräfte, an denen sich in den vergangenen beiden Jahren auch das Vereinigte Königreich, Frankreich, Japan, Singapur und Australien beteiligten. All das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch enge US-Verbündete wie Japan, Südkorea und Singapur enge wirtschaftliche Beziehungen zu China pflegen und nicht bereit sind, sich in eine einseitige Abhängigkeit zu begeben.

Geschichte der NATO

All dies verdeutlicht, wie sehr sich die NATO seit dem Kalten Krieg verändert hat. Allerdings gibt es keinen Grund, dabei ihre Vergangenheit zu verklären. Seit ihrer Gründung 1949 bildet sie eine Allianz der mächtigsten kapitalistischen Staaten der Welt, verpflichtet zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer Hegemonie.

Zur Zeit ihrer Gründung bedeutete dies die konterrevolutionäre Stabilisierung einer Nachkriegsordnung vor allem in Europa – also die Wiedererrichtung der bürgerlichen Nationalstaaten. Diese sollten sowohl über den kapitalistischen Weltmarkt als auch über politische und militärische Allianzen in einen globalen Einflussraum unter Führung der USA eingebunden werden.

Vor allem erforderte dies die Entwaffnung der Arbeiter:innenklasse, die den wichtigsten Beitrag zum Sieg über den Faschismus geleistet hatte. Diese angestrebte Nachkriegsordnung wurde ideologisch verklärt zum Reich der selbstbestimmten demokratischen Nationen. Dies war jedoch immer ein Hohn, wie schon ein Blick auf die Gründungsmitglieder zeigt, zu denen auch solch demokratische Musterschüler wie der „Estado Novo“ – das Portugal unter der Diktatur von António de Oliveira Salazar – oder Kolonialreiche wie Frankreich gehörten. Die Botschaft an den Rest der Welt war, dass ein Land, sofern es sich für die „richtige“ Seite entschieden hatte, auf die wirtschaftliche und militärische Unterstützung der USA hoffen konnte.

Auch wenn die Sowjetunion der Hauptgegner des imperialistischen Projekts werden musste, konnte die konterrevolutionäre Stabilisierung nicht ohne Mithilfe der stalinistischen Bürokratie erzielt werden. Die Aufteilung Osteuropas – wie unter den Siegermächten vereinbart – setzte voraus, dass die mit der UdSSR verbündeten stalinistischen Parteien ihre Aktivitäten und Programmatik so anpassten, dass sie mit den außenpolitischen Zielen der Kreml-Bürokratie verträglich waren, also der Kampf für proletarische Revolution und gegen die imperialistische Militärmaschinerie in der westlichen Sphäre „nicht länger auf der Tagesordnung“ stand. Die NATO indes machte durch die Aufnahme der BRD, ihre Wiederbewaffnung und die Stationierung von US-Atomwaffen auf ihrem Territorium den Krieg gegen die Sowjetunion in Mitteleuropa zu dem realistischen Bedrohungsszenario, das sie zur „Eindämmung des Kommunismus“ für geboten hielt.

Veränderte Doktrin nach Kaltem Krieg

Das Selbstverständnis der NATO als „Verteidigungsbündnis“ war schon immer eine Lüge, die über ihren eigentlichen Zweck – die Durchsetzung und Absicherung imperialistischer Hegemonie – hinwegtäuscht. Der Wegfall des Hautgegners durch den Zusammenbruch der Sowjetunion war daher zwar Anlass für allerlei chauvinistischen, bürgerlich-demokratischen Siegestaumel, nicht aber für eine Auflösung der NATO. Sie wurde vielmehr neu ausgerichtet für eine Welt, in der kein kohärenter Machtblock mehr der Durchsetzung ihrer Ziele im Weg steht. Vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege und der Bürger:innenkriege in der ehemaligen sowjetischen Peripherie rückte nun die Fähigkeit zu schnellen globalen, auch präventiven Militärinterventionen in den Fokus. Der NATO-Gipfel in Madrid 1997 erklärte solche Einsätze auch ohne UNO-Mandat für legitim und dehnte den möglichen Einsatz von Atomwaffen weit über die Abschreckungsdoktrin des Kalten Kriegs aus. Von der Eindämmung Russlands ist die NATO hingegen nie abgekommen – sie wurde lediglich verkauft als Verwirklichung neu erlangter Souveränität der neu aufgenommenen Staaten.

Vor dem Hintergrund der neuen Doktrin folgte der Angriff auf Afghanistan (2001) und den Irak (2003). Die 2000er Jahre zeigten auch die Spaltungstendenzen innerhalb der Allianz durch Bestrebungen Deutschlands und Frankreichs, die sich am deutlichsten in einer (wenn auch inkonsequenten) deutschen Opposition zur Irakinvasion ausdrückten, eine eigenständigere europäische Bündnisformation zu etablieren. Kernfrage dieser Spaltungslinie war, ob der deutsche und französische Imperialismus als eigenständiger Block einen gleichberechtigten Platz neben den USA beanspruchen kann.

Eng damit verbunden war die Idee, Russland einen Platz in der zweiten Reihe der imperialistischen Mächte zuzugestehen, es in eine „europäische Sicherheitsarchitektur“ einzubinden (also sein militärisches Drohpotenzial zu neutralisieren) und zugleich dem deutschen Imperialismus einen verlässlichen Konkurrenzvorteil durch stetig verfügbare fossile Energie zu Preisen unter Weltmarktniveau zu verschaffen. In dieser Frage war auch die deutsche Bourgeoisie bis zuletzt gespalten. Erst die russische Invasion der Ukraine vermochte es, in hier Klarheit zu schaffen und zugleich Schröder und Merkel – unbestritten verdiente Veteran:innen der deutschen Sache – als „bei Lichte betrachtet“ geblendete Naivlinge, weil Putinversteher:innen, zu entlarven. Erwähnt sei noch, dass eines der wichtigsten „Friedensargumente“ der reformistischen Linken – die Kritik, NATO bzw. Regierung seien nicht „ernsthaft“ genug auf die russischen Sicherheitsanliegen eingegangen – im Wesentlichen eine Verteidigung des deutschen Imperialismus von gestern gegen den von heute liefert.

NATO-Doktrin 2022

Die 2022 neu gefasste NATO-Doktrin beschreibt Russland als militärische Hauptbedrohung, die den Aufbau eines neuen, „glaubhaften“ Abschreckungspotentials erfordert. China wird vor allem durch seine Wirtschaftsmacht und seinen Griff nach strategischen Rohstoffvorkommen als Hauptfeind für NATO-Interessen ausgemacht. Dem Land werden aber auch explizit „böswillige“ und „undurchsichtige“ Absichten unterstellt, die die „regelbasierte internationale Ordnung“ untergraben würden. Erklärtes Ziel der NATO-Doktrin ist die Vorbereitung auf einen „High Intensity“-Krieg gegen „nuklear bewaffnete Konkurrent:innen“, also Russland und China.

Schon in den 2000er Jahren hatte die NATO gemäß ihrer globalen Strategie eine sog. „schnelle Eingreiftruppe“ (NRF) geschaffen. Diese umfasste zu Beginn des Ukraine-Krieges rund 40.000 Soldat:innen, die innerhalb kurzer Zeit einsetzbar sein sollten. Dies entsprach der Doktrin, die Interessen der NATO-Mitglieder auch außerhalb des Bündnisgebietes rasch umsetzen zu können, vorzugsweise als Ordungsmacht in halb-kolonialen Ländern.

Mit der zunehmenden Konfrontation mit Russland und seit dem Ukraine-Kriegs veränderte sich die Lage. So schlug NATO-Generalsekretär Stoltenberg im Sommer 2022 auf dem Gipfel von Madrid vor, die NRF massiv auszubauen. Sie soll auf mindestens 300.000 vergrößert werden, also fast verzehnfacht. Außerdem geht es bei den meisten dieser Truppen nicht um den Einsatz irgendwo auf der Welt, sondern vor allem gegen den altem und neuen Hauptfeind Russland. So sollen z. B. Teile der deutschen Kontingente der Eingreiftruppe gemäß dem sog. New Force Modell in Deutschland stationiert bleiben, aber ständig bestimmten Ländern oder Territorien als Einsatzgebiet zugeordnet sein.

Mit der Umstellung geht auch eine massive Ausweitung der Verteidigungsbudgets auf allen Ebenen einher. Die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr sind hier sicher nur ein erster Teil, die Armee, Verteidigungspolitiker:innen und Expert:innen trommeln längst für mehr.

Ausweitung und Planung

Schließlich umfassten die Ausweitung und das Testfeld Ukraine nicht nur einen massiven Export, sondern auch eine Erneuerung der Waffenbestände der NATO-Armeen weltweit. In Europa werden neue Systeme angeschafft. Die Armeen werden – anders als noch vor einigen Jahren, wo sie auf einen Kernbestand an rasch einsatzfähigen, kleinen Interventionstruppen konzentriert werden sollten – wieder zu großen Streitkräften, die gegen eine imperialistische Macht im Landkrieg siegen können. Daher auch wieder neue Kampfpanzer, schweres Gerät, moderne Luftwaffen usw.

Schließlich bedeutet das auch, dass die Bundeswehr und andere NATO-Armeen nicht nur andere, sondern auch mehr Soldat:innen brauchen. Der Beruf soll daher attraktiver, die Werbung an Schulen verbessert werden. Hilft das alles nichts (was durchaus sein kann), steht früher oder später die Wiedereinführung der Wehrpflicht, der „Schule der Nation“ ins Haus.

Wie bekämpfen?

Eine Haltung zur imperialistischen Kriegsmaschinerie einzunehmen, bedeutet in erster Linie, sich zu deren Zielen, zu den Interessen des eigenen Imperialismus überhaupt zu positionieren, also eine Klassenposition zum imperialistischen Staat einzunehmen. Als Revolutionär:innen lehnen wir nicht nur die gewaltsamen Mittel ab, mit denen imperialistische Staaten ihre Einflussräume erobern und verteidigen – sondern bereits ihren Anspruch, die Welt in Sphären ökonomischer, politischer und militärischer Kontrolle unter sich aufzuteilen, selbst wenn dies am Verhandlungstisch geschieht.

Andererseits erkennen wir das Recht halbkolonialer Länder an, sich gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen. Das entscheidende Moment bilden dabei der Klassencharakter der kämpfenden Kriegsparteien und die Klasseninteressen, die sie wirklich verfolgen. Die entscheidende Aufgabe einer Antikriegsbewegung liegt darin, eine Bewegung aufzubauen und eine soziale Basis zu gewinnen, die die militärischen Pläne der Imperialist:innen tatsächlich durchkreuzen können, statt sie nur moralisch zu kritisieren. Und das heißt vor allem, eine Bewegung der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, die auch in den Betrieben gegen die Kriegstreiber:innen vorgehen kann. Das bedeutet auch antimilitaristische Arbeit in der Armee und unter einfachen Soldat:innen.

Der revolutionäre Antimilitarismus unterscheidet sich dabei grundsätzlich vom kleinbürgerlichen Pazifismus der „alten“ Friedensbewegung, die unbestritten auf eine lange Geschichte des Protests gegen Aufrüstung und Kriegseinsätze zurückblickt. Der Krieg, der sich nun vor unseren Augen abspielt, lässt sie jedoch ratlos zurück. Als Beispiel hierfür kann ein Redebeitrag von Gerhard Trabert zum Antikriegstag in Stuttgart genannt werden, der von DIE LINKE anschließend veröffentlich wurde. Er gesteht gleich zu Beginn zu, dass mehr Militärausgaben „eventuell notwendig“ seien, um „sich gegenüber Diktatoren und Despoten wehren zu können und Demokratien zu verteidigen“. Ob dies eine Zustimmung zum 100-Milliarden-Programm und zur Aufrüstung der NATO-Ostflanke ist, bleibt bewusst im Unklaren, denn der Rest des Beitrags ist eine Predigt für die christliche „Feindesliebe“.

In der Rivalität verschiedener imperialistischer Mächte oder Blöcke ergreifen wir keine Seite. Dieser revolutionäre Defätismus entbindet uns jedoch nicht von der Pflicht, die von imperialistischen Mächten angegriffenen Nationen zu verteidigen. Während wir im gegenwärtigen Krieg das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen gegen den russischen imperialistischen Überfall anerkennen (und somit auch ihr Recht, sich die Mittel zur Verteidigung zu beschaffen), lehnen wir jede Unterstützung der Politik und der Kriegsziele Deutschlands und der NATO kategorisch ab.

Letztere Position wiederum hindert uns nicht daran, innerhalb der Ukraine die Politik der Selenskyj-Regierung zu bekämpfen, die bereit ist, die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine den Kriegszielen der westlichen „Partner:innen“ unterzuordnen. Es hindert uns auch nicht daran, die nationalen und demokratischen Rechte der russischsprachigen Bevölkerung, einschließlich etwa des Rechts auf Lostrennung für die Krim, auf die Tagesordnung zu setzen. Deren Verwirklichung stehen jedoch vor allem die Interventionen beider imperialistischen Machtblöcke im Weg.

Wir bekämpfen jede Aufrüstung von Bundeswehr und NATO, wie wir auch grundsätzlich jedes Militärbudget dieser Staaten und ihrer Bündnisformationen ablehnen. Angesichts der engen Verknüpfung der NATO-Expansions- und Aufrüstungspläne mit der militärischen Unterstützung der Ukraine (etwa in Form von „Ringtausch“-Programmen) lehnen wir auch die Forderung nach Waffenlieferungen des NATO-Lagers an die Ukraine und jede Zustimmung zu diesen in den Parlamenten ab. Aus dem gleichen Grund lehnen wir auch alle Formen von Wirtschafts- und Handelssanktionen der imperialistischen Staaten ab. Jede Unterstützung ihrer „Verteidigungs-“ und iMilitärausgaben würde letztlich einer politischen Unterstützung des deutschen Imperialismus gleichkommen. Denn im Kampf um die Neuaufteilung der Welt stellt dieser für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland den Hauptfeind dar.




Schweden – Teil der Kriegsallianz der NATO

Arbetarmakt, schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, 12. Juli 2023, Infomail 1228, 15. Juli 2023

Mit der Aufnahme Schwedens in die NATO wird formalisiert, was schon lange militärische und sicherheitspolitische Realität ist: Der schwedische Imperialismus verbündet sich mit Washington. Dies war nicht nur in den Jahren als enger Partner der USA und NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Fall. Schon während des Kalten Krieges war

Schweden grundsätzlich loyal zu den USA, auch wenn es sich nach außen hin als bündnisfrei präsentierte. Jetzt ist die Verbindung offen und vollständig statt wie früher versteckt, heuchlerisch und zurückhaltend. Dies ist Teil der Entstehung einer neuen Weltsituation mit einem immer stärkeren Wettbewerb zwischen verschiedenen imperialistischen Mächten. Die USA werden herausgefordert und Schweden zeigt deutlich, zu welchem imperialistischen Block es gehört.

Der NATO-Beitritt wird eine Eskalation der amerikanischen Beteiligung an verschiedenen militärischen Konflikten bedeuten. Er wird auch eine verstärkte Loyalität gegenüber reaktionären Regimen innerhalb des amerikanischen Blocks beinhalten. Insbesondere wird der schwedische Staat nun als Gegner von Gruppen auftreten, die den islamistischen Tyrannen Erdogan in der Türkei bekämpfen.

Die internationalen Kommunist:innen ergreifen im Kampf der imperialistischen Blöcken keine Seite. Wir sind für den Sturz aller imperialistischen Regime, aber wir konzentrieren uns natürlich auf den Feind im eigenen Land, denn gegen ihn können und müssen wir in erster Linie einen Kampf entwickeln. In den kommenden Jahren muss es eine wichtige Aufgabe für uns sein, in Schweden und innerhalb der NATO einen antiimperialistischen Kampf gegen die Kriegsabenteuer der NATO, ihre militaristische Agitation und ihre Unterdrückung fortschrittlicher Befreiungsbewegungen zu entwickeln.

  • Löst die NATO auf!

  • Zerschlagt den US-Imperialismus, zerschlagt den schwedischen Imperialismus!

  • Kämpft gegen alle Kriegstreiberei und den Imperialismus!

  • Keinen Cent, keine Krone für die Armee des bürgerlichen Staates!

  • Für eine antiimperialistische Bewegung, die zum Kampf für den internationalen Sozialismus    beiträgt – der einzige Weg, um den imperialistischen Kriegstreiber:Innen endgültig das Handwerk zu legen!



Der Krieg in der Ukraine

Resolution des LFI-Kongresses, 24. Juni 2023, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

1. Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine markiert eine entscheidende Veränderung der Weltlage. Der Antagonismus, der sich seit Jahren zwischen den „alten“ westlichen imperialistischen Mächten, allen voran den USA und ihren Verbündeten, und China und Russland als neuen imperialistischen Mächten und globalen Konkurrenten entwickelt, eröffnet eine neue Etappe im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

2. Dieser wird derzeit vor allem auf dem Boden der Ukraine und in Form eines Wirtschaftskrieges durch das von den G7-Staaten initiierte Sanktionsregime ausgetragen. Der reaktionäre Einmarsch Russlands, die offene Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des ukrainischen Volkes, ja sogar die Leugnung seiner Existenz durch Putin sowie dessen barbarische Kriegsführung stellen zweifellos einen Akt imperialistischer Aggression dar, der das ukrainische Nationalbewusstsein gestärkt hat.

Der Charakter des Krieges

3. Isoliert betrachtet ist der Kampf gegen die russische Invasion also ein gerechtfertigter Krieg der nationalen Verteidigung – ungeachtet des reaktionären politischen Charakters des Kiewer Regimes, der sich in seiner Pro-NATO- und Pro-EU-Position ausdrückt. Aber für Marxist:innen ist der Charakter des politischen Regimes einer Halbkolonie, wenn sie angegriffen wird, nicht der entscheidende Faktor für die Charakterisierung eines Krieges. So war beispielsweise die Verteidigung des Irak oder Afghanistans gegen eine imperialistische Invasion trotz des extrem reaktionären Charakters der Regime in Bagdad und Kabul gerechtfertigt und unterstützenswert.

4. Den Charakter eines Krieges unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen, würde jedoch ebenfalls zu einem schweren Fehler führen. Viele Linke kommen heute zu dem Schluss, dass die Invasion eines halbkolonialen Landes wie der Ukraine durch eine imperialistische Macht mit dem Ziel, es zu einer Kolonie Russlands zu machen oder zumindest große Teile seines Territoriums zu annektieren, reaktionär ist und die Unterstützung der Ukraine durch die NATO in Form von beispielloser wirtschaftlicher und militärischer Hilfe daher gerechtfertigt und fortschrittlich sein muss.

5. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass das Eingreifen der NATO nicht durch demokratische Ideale motiviert ist, sondern durch den Wunsch, Russland als seinen imperialistischen Rivalen auf der Weltbühne zu schwächen und es so unfähig zu machen, die USA auf Schauplätzen wie dem Nahen Osten und Afrika südlich der Sahara herauszufordern. Andere Motive Washingtons sind darin zu finden, die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Russland zu sabotieren und China eine Warnung vor seiner unverminderten militärischen Macht und seiner anhaltenden wirtschaftlichen Dominanz zu senden. Kurz gesagt, die demokratische Rhetorik der NATO ist nur eine zynische Tarnung, um Handlungen zu rechtfertigen, die ausschließlich durch ihre imperialistischen Eigeninteressen motiviert sind.

6. Die Entwicklungen, die zum reaktionären Einmarsch Russlands geführt haben, bestätigen in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht nur um einen Krieg der Landesverteidigung handelt, sondern dass auch der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluss der NATO selbst ein entscheidender Faktor ist und zu einem zwischenimperialistischen Krieg von beispielloser Zerstörungskraft für die Menschheit führen könnte.

Warum die Ukraine?

7. Dass sich der Kampf zwischen dem Westen und Russland um die Ukraine zugespitzt hat, ist kein Zufall. Vielmehr ist er selbst das Ergebnis der Entwicklungen seit dem Zusammenbruch des Stalinismus, des Versuchs, eine neue Weltordnung zu etablieren, und des sich verschärfenden Konflikts mit Russland seit dessen Wiedererstarken als imperialistischer Macht unter Putin.

8. Die Eskalation um die Ukraine seit den 1990er Jahren ist nur in diesem Kontext zu verstehen. Wie der Balkan vor 1914 entwickelt sich dieser Konflikt seit langem zu einem Pulverfass für einen möglichen zwischenimperialistischen Krieg. Sowohl als Vielvölkerstaat mit einer großen russischsprachigen Minderheit im Süden und Osten als auch durch die fortbestehenden wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland befand sich die Ukraine nach 1991 zunächst in einer Abhängigkeit vom neu etablierten russischen Imperialismus, die sich auch in einem fragilen System west- und ostukrainischer politischer Kräfte und Oligarch:innen widerspiegelte.

9. Die Ukraine war wirtschaftlich und militärisch zu schwach, um selbst eine imperialistische Macht zu werden (insbesondere nachdem sie die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen der Sowjetunion aufgegeben hatte). Sie hatte die „Wahl“, entweder eine Halbkolonie Russlands oder der Europäischen Union und der USA zu werden. Unter dem Gesichtspunkt des Widerstands gegen die russische Vorherrschaft lag im Wunsch, der NATO ähnlich wie die anderen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten beizutreten, die sicherheitspolitische Seite dieser westlichen Orientierung. Zwei Jahrzehnte lang schwankte die Ukraine zwischen Regierungen, die die eine oder andere dieser Orientierungen verfolgten, was in der Maidan-Bewegung 2014 gipfelte.

10. Zu diesem Zeitpunkt war vor allem in der Westukraine eine starke nationalistische Bewegung entstanden, die eine „prowestliche“ Ausrichtung und einen Bruch mit der russischen Dominanz anstrebte. Sie hatte einen rechtsextremen und faschistischen Flügel, Swoboda/Rechter Sektor (Prawyj Sektor) usw. Dies führte schließlich zu einem Bürger:innenkrieg, als das Regime von Janukowytsch, das den früheren prorussischen Kompromiss vertrat, die Verhandlungen über ein EU-Assoziierungsabkommen abbrach. Dies führte zunächst zur Euromaidan-Bewegung, die das Regime mit Gewalt niederzuschlagen versuchte. Doch als auf die Demonstrant:innen geschossen wurde, führten die rechten und faschistischen Kräfte auf dem Maidan einen Putsch an, durch den Janukowytsch gestürzt wurde. Die nationale Unterdrückung der russischsprachigen Minderheiten in der Ostukraine führte nach dem Umsturz auf dem Maidan 2014 faktisch zu einem Bürger:innenkrieg in der Ukraine. Auch diese Minderheiten haben ein legitimes Recht auf nationale Selbstbestimmung, was die nationale Frage in der heutigen Ukraine weiter verkompliziert. Die nationalen Gefühle der Menschen in diesen Regionen waren Teil der Rechtfertigung des russischen Imperialismus für diese reaktionäre Invasion.

11. Die russische Antwort darauf war die Annexion der Krim durch Putin. Dann vertrieben die Separatist:innen in Luhansk und Donezk die Kiewer Regierungstruppen und riefen autonome „Volksrepubliken“ aus. Während die EU-Führung um Deutschland und Frankreich versuchte, den Konflikt durch die Abkommen von Minsk 1 und 2 (2014 und 2015) zu entschärfen, wurde dies sowohl von Moskau als auch von Washington mit Hilfe der ukrainischen Nationalist:innen in der Rada sabotiert, die sich gegen jegliche Zugeständnisse (Autonomie, Sprachrechte) an die russischsprachige Minderheit wehrten. Putins Übernahme der „Republiken“ bedeutet, dass der Krieg seither mit mehr oder weniger Intensität weiterging.

Interessen der Westmächte

12. Warum entstand ein so offensichtlicher Unterschied zwischen den USA und Großbritannien auf der einen und Deutschland und Frankreich an der Spitze der EU auf der anderen Seite? Für Letztere war die Einbindung Russlands, seines enormen Rohstoffpotenzials und seiner militärischen Kapazitäten, immer eine strategische Option, um eine gewisse unabhängigere Rolle gegenüber dem schwächer werdenden US-Hegemon zu erlangen. Die Politik der EU zielte darauf ab, den Ukrainekonflikt, ähnlich wie in Jugoslawien, auf der Ebene von Abkommen und Handelsbeziehungen einzufrieren, um die Spannungen mit Russland letztlich in Schach zu halten. Für die USA hingegen war die Ukraine ein strategischer Angriffspunkt auf das russisch-chinesische Bündnis, das sie schon lange als gefährlichen Hauptkonkurrenten in der Weltordnung identifiziert hatten. Die USA sehen in der Ukraine auch eine Möglichkeit, Russland von den europäischen Märkten zu isolieren und damit Russland zu schwächen, während sie die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Europas von ihnen selbst fördern.

13. Aufgrund des schlechten Abschneidens der ukrainischen Armee im Jahr 2014 begannen die USA und Großbritannien 2016 mit dem systematischen Aufbau einer schlagkräftigen ukrainischen Streitmacht. Die Ukraine, ein Land, das seit 2015 praktisch bankrott ist, hoch verschuldet und unter einem Schuldenregime von IWF-Paketen schmachtet, gibt einen großen Teil ihrer Einnahmen für Militärausgaben aus und erhielt zudem jährlich milliardenschwere Militärhilfe aus dem Westen (allein von Anfang 2022 bis zum Beginn des Krieges Rüstungsgüter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar). Dies hat nicht nur die Verbreitung wichtiger Waffensysteme (Drohnen, Raketen, panzerbrechende Waffen, Luftabwehr usw.) mit entsprechender Ausbildung ermöglicht, sondern auch eine unterstützende Infrastruktur geschaffen, von der Kommunikation über die Aufklärung (Satellitensysteme) bis hin zur strategisch-taktischen Führung.

Auswirkungen der NATO-Beteiligung

14. Damit wird auch deutlich, dass sich der Krieg in der Ukraine wesentlich von den Kriegen imperialistischer Armeen gegen Halbkolonien, wie etwa der USA gegen den Irak oder des Vereinigten Königreichs gegen Argentinien, unterscheidet. Es handelt sich nicht um eine hilflose, waffentechnisch hoffnungslos unterlegene Armee, die einem militärisch tausendfach überlegenen Imperialismus gegenübersteht. Vielmehr handelt es sich um eine vom westlichen Imperialismus systematisch für diesen Krieg vorbereitete und ausgerüstete Armee, die für die Interessen ihrer Geldgeber:innen zu kämpfen hat. Mit Ausbruch des Krieges hat sich deren Unterstützung noch einmal vervielfacht. Und zwar nicht nur in Form von Waffenlieferungen, sondern auch in Form von Aufklärung, Ausbildung, strategischer Beratung und Wirtschaftshilfe.

15. Auch wenn die meisten NATO-Länder nicht offen Truppen entsenden, um sich an den Kämpfen zu beteiligen, sind sie doch seit langem als Waffenlieferanten, Ausbilder und Finanziers beteiligt. Eine große Einschränkung, die die NATO darauf beschränkt, die Ukraine als „Stellvertreterin“ einzusetzen, bereitet natürlich die Gefahr, dass sich der Krieg zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland ausweitet, die auch den Einsatz von Atomwaffen beinhalten könnte. Russland wiederum hat mehrfach mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen gedroht, um die NATO zu einer Begrenzung ihres Engagements zu bewegen. Aus diesem Grund wurde der Krieg hauptsächlich auf ukrainischem Gebiet ausgetragen. In den letzten Wochen scheint sich dies jedoch zu ändern (Grenzüberfälle durch ukrainisch ausgerüstete russische Milizen, mysteriöse Drohnenangriffe in Moskau usw.). Die Reaktion der westlichen Regierungen fiel gemischt aus: Während der globale Hegemon (die USA) zur Vorsicht mahnte, erklärte zumindest eine unbedeutendere, aber wichtige Macht (das Vereinigte Königreich), die Ukraine habe „das Recht, ihre Kräfte über ihre Grenzen hinaus einzusetzen“.

16. Die Art und Weise, wie das vorherrschende „demokratische“ Kriegsnarrativ der NATO nun die Gefahr einer Ausweitung des Krieges und der Konfrontation der Blöcke herunterspielt, dient dazu, eine zunehmend offensive und direkte Intervention in der Ukraine zu rechtfertigen – letztlich mit dem Ziel, Russland militärisch und politisch zu besiegen. Allerdings ist auch der Übergang zu einem begrenzten zwischenimperialistischen Krieg nicht auszuschließen. Denn die Logik der Ausweitung der Kriegsführung ist dem aktuellen Konflikt unmittelbar inhärent. Auch in diesem Sinne kann dieser Krieg nicht einfach als isolierter Konflikt betrachtet werden.

Beiwerk oder wesentliches Moment?

17. Neben der militärischen Eskalation des zwischenimperialistischen Konflikts enthält die Situation auch einen direkten wirtschaftlichen Aspekt. Die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen (Ausschluss von SWIFT, Einfrieren der internationalen Devisenreserven der russischen Zentralbank, Aussetzung der Aktivitäten westlicher Unternehmen in Russland, weitreichende Handelsbeschränkungen usw.) sind in der Tat von einem in der Geschichte noch nie dagewesenen Ausmaß (auch nicht in den vorangegangenen Weltkriegen). Das Ausmaß der westlichen Unterstützung bildet also nicht nur eine Begleiterscheinung des Krieges, sondern ein wesentliches „Moment“, das für seinen Charakter entscheidend ist. Natürlich kommt es in zahlreichen Kriegen einer Halbkolonie gegen eine imperialistische Macht oder ein imperialistisches Staatenbündnis immer wieder zu einer Intervention einer konkurrierenden Macht auf der Seite der unterdrückten Nation. Aber dies trägt meist nur einen episodischen, untergeordneten Charakter, der den des Krieges nicht verändert.

18. Dies ist jedoch keineswegs ein untergeordneter Aspekt eines jeden Krieges zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie. Am deutlichsten wird dies, wenn ein direkter zwischenimperialistischer Krieg ausbricht. Im Fall der Balkanländer im Ersten Weltkrieg beispielsweise bestand kein Zweifel daran, dass die ansonsten gerechtfertigte Landesverteidigung Serbiens gegen den Angriff Österreichs nach Ausbruch des Krieges ein untergeordnetes Moment wurde. Es wäre reaktionär gewesen, eine Position der Unterstützung für Serbiens Beschützer und Verbündete, die Entente-Mächte (Frankreich, Russland und Großbritannien), einzunehmen. Solange der imperialistische Krieg andauerte, war es nicht möglich, eine eigene Position der Unterstützung für Serbien einzunehmen.

19. Im Krieg um die Ukraine handelt es sich zwar nicht um einen offen erklärten Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten, aber die Westmächte, allen voran die USA, haben einen großen Einfluss auf die Führung und die Ziele des Krieges in der Ukraine. Es wäre mechanisch, aus der Tatsache, dass die NATO-Truppen nicht direkt und offen im Land aktiv sind, zu schließen, dass ihr Eingreifen von untergeordneter Bedeutung ist. Für die Ukraine und ihre Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen ist der Krieg jedoch in erster Linie einer der Selbstverteidigung gegen einen eindringenden Unterdrückerstaat. Außerhalb der Ukraine trägt der Konflikt zwischen Russland und der NATO einen reaktionären Charakter, dem sich Sozialist:innen entgegenstellen müssen.

20. So haben der Krieg und die massive „westliche“ Unterstützung für die Ukraine dem Konflikt einen multiplen Charakter verliehen – ein Angriffskrieg, der auf dem Territorium der Ukraine geführt wird, zu dem der Aspekt eines Stellvertreterkrieges zwischen den imperialistischen Mächten durch das Material und die strategischen Informationen der NATO sowie ein Kalter Krieg durch die Sanktionen der G7-Staaten gegen Russland hinzugekommen sind. Der Verlauf des Krieges hat diese Einschätzung und politische Schlussfolgerung bestätigt. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die revolutionäre Politik in diesem Krieg unterschiedliche Formen in Russland, in den westlichen NATO-Ländern und in der Ukraine selbst annimmt.

Für die Niederlage des russischen Imperialismus

21. Russland ist eine imperialistische Macht, die direkt in den Versuch verwickelt ist, die Ukraine ganz oder teilweise zu besetzen. Daher gilt die Politik des revolutionären Defätismus hier in Russland am deutlichsten. Russlands Niederlage und Rückschläge können die Revolution beflügeln und Putins Herrschaft erschüttern. Das entscheidende Ziel stellt die Umwandlung des reaktionären Krieges in einen Klassenkampf für seinen Sturz und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung dar. Das steht in Russland unmittelbar auf dem Spiel:

  • Entlarvung des imperialistischen Charakters des Krieges und der Kriegsziele Russlands.
  • Aktionen gegen den Krieg. Antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee sind unerlässlich, um eine Revolution gegen Putin oder ein anderes diktatorisches Regime vorzubereiten.
  • Gegen die Abwälzung der Kriegskosten auf die Massen (Kontrolle über die Warenverteilung, Enteignung von Unternehmen).
  • Rückzug der russischen Armee aus der Ukraine, der Wagner-Söldner:innen und ähnlicher Verbände.
  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine.
  • Auflösung der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit).
  • Aufbau einer Bewegung auf der Grundlage von Streiks und Aktionskomitees in Fabriken und Wohngebieten mit dem Ziel des Sturzes des Putin-Regimes und der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung zur Durchsetzung von Arbeiter:innen- und demokratischen Rechten, des Kampfes für Arbeiter:innenkontrolle und eine Arbeiter:innenregierung auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten.
  • Unterstützung der Kriegsgegner:innen, insbesondere der Rolle der Frauen, einschließlich der Angehörigen der in die Ukraine entsandten Soldat:innen, und des Feministischen Antikriegs-Widerstands (FAS).
  • Ablehnung der Ablösung Putins entweder durch einen Palastputsch ultrareaktionärer Kräfte oder die Einsetzung einer „prowestlichen“ Regierung.

22. Putins Entscheidung, die Bezirke Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson mit Pseudoreferenden zu annektieren, zusammen mit der teilweisen Mobilisierung von 300.000 Reservist:innen in Russland, ist ein reaktionärer Akt der Verzweiflung, der gleichzeitig seine Schwäche zum Ausdruck bringt.

23. Aufgrund der militärischen Niederlagen, der drohenden Einberufung von Hunderttausenden, die in der Ukraine als Kanonenfutter eingesetzt werden sollen, und der prekären wirtschaftlichen Lage wird sich die Situation in Russland zuspitzen. Das hängt aber auch vom Ausmaß und Stärke der nationalistischen Propaganda ab bzw., ob sie durch politische, militärische und wirtschaftliche Umwälzungen in Frage gestellt wird. Die Unterstützung antiimperialistischer, internationalistischer Kräfte in Russland ist unerlässlich, um den Aufbau einer revolutionären Organisation im Lande voranzutreiben.

24. Während unser übergreifendes Ziel in Russland der Sturz der russischen Regierung durch eine demokratische Antikriegsbewegung und der Aufbau einer breiteren sozialistischen Bewegung ist, die sich auf die Macht vorbereitet, sehen wir den Sturz Putins nicht als Vorbedingung für eine russische Niederlage. Vielmehr sind die Aussichten auf seinen Sturz umso größer, je schneller die russischen Streitkräfte militärisch besiegt werden. Im Zusammenhang mit dem Widerstand der Ukraine gegen die imperialistische Aggression sind wir für die militärische Niederlage der russischen Streitkräfte und ihren Rückzug aus dem ukrainischen Gebiet.

Revolutionäre Politik in der Ukraine

25. Hier ist die Situation wahrscheinlich am schwierigsten – sowohl für die Massen, die Opfer der Invasion, als auch bezüglich der Taktik, weil einerseits der zwischenimperialistische Konflikt eine prägende Rolle spielt und andererseits auch das wichtige Element der realen nationalen Unterdrückung vorhanden ist. Das bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen auf Widerstand gegen die russische Besatzung verteidigen sollten, aber ohne die Selenskyj-Regierung in irgendeiner Form zu unterstützen und ohne Illusionen in die Motive der imperialistischen NATO-Mächte zu wecken. Tatsächlich besteht der Kern der „nationalen Selbstbestimmung“ der ukrainischen Bourgeoisie in der Unterordnung des Landes unter den politisch-wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Apparat der EU und der USA. Es ist kein Zufall, dass ihre Kriegsziele im Wesentlichen mit denen des Westens und vor allem der USA übereinstimmen – einschließlich der Tatsache, dass sie die Gefahr einer Entwicklung zu einem vollständigen imperialistischen Krieg in Kauf nimmt und sogar fordert.

26. In der Ukraine schließt diese Politik des Regimes jedoch keineswegs die Unterstützung des Kampfes gegen die Besatzung aus. Es wäre absurd, zu erklären, dass die Frage der russischen Panzer und Flugzeuge, die ganze Städte plattmachen, keine Bedeutung hat. Wir erkennen an, dass die Ukraine trotz ihrer bürgerlichen Führung und des westlichen Einflusses ein Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Besatzung besitzt. Dazu gehört auch, dass wir das Recht der Ukraine anerkennen, die dafür notwendigen Waffen zu erwerben.

27. Aber diese Unterstützung durch die westlichen Imperialist:innen erfolgt nicht gratis. Da die Ukraine bereits vor dem Krieg praktisch bankrott war, erhielt sie im ersten Kriegsjahr einen Betrag an militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung, der in etwa dem jährlichen BIP der Vorkriegszeit entsprach. Die Wirtschaftshilfe wurde in Form von Krediten gewährt, die mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Für März 2023 hat der IWF ein neues Programm in Höhe von 15,6 Milliarden US-Dollar angekündigt (eines der größten in seiner Geschichte), das mit weitreichenden Forderungen für die Zukunft der Nachkriegsukraine verbunden ist. Westliche Kommentator:innen haben betont, dass die Beteiligung des IWF an der Ukrainehilfe unerlässlich ist, da er über „Erfahrung beim Wiederaufbau“ eines bankrotten Staates verfüge. Es ist ganz klar, dass diese Form der westlichen „Unterstützung“ die Vorbereitung einer halbkolonialen Zukunft der Ukraine mit schrecklichen Folgen für die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verkörpert. Präsident Selenskyj hielt bereits Reden vor Bänker:innen von JP Morgan, Goldman-Sachs und anderen, in denen er unbegrenzte Renditen für deren „großzügige Investitionen“ versprach. Gegen diesen zunehmenden Einfluss des westlichen Finanzkapitals auf die Ukraine muss unbedingt Widerstand geleistet werden, indem der Erlass der Schulden, die Ablehnung jeglicher „Wirtschaftsberater:innen“, die mit der westlichen Hilfe einhergehen, und die Entwicklung einer demokratischen Kontrolle über die bisher geleistete Hilfe gefordert werden. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, selbst Waffen zu erwerben und produzieren, ohne von westlichen Lieferungen abhängig zu sein – und der daraus folgenden Umwandlung in eine Halbkolonie des westlichen Imperialismus!

28. Andererseits dürfen fortschrittliche Kräfte in der Ukraine Selenskyjs Ziel der militärischen und wirtschaftlichen Integration der Ukraine in den „Westen“ (NATO-Mitgliedschaft oder „Neutralität“ mit westlichen Sicherheitsgarantien) sowie die gewaltsame Integration der sogenannten Volksrepubliken und der Krim in eine „eine und unteilbare“ Ukraine um den Preis eines langwierigen Krieges nicht unterstützen. Diese Regionen müssen das Recht haben, ihre eigene Selbstbestimmung frei zum Ausdruck zu bringen, ohne die Anwesenheit von Besatzungstruppen aus Moskau oder Kiew.

29. In den Fabriken und an den Arbeitsplätzen bleibt es unerlässlich, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die gewerkschaftlichen und demokratischen Rechte der Lohnabhängigen zu verteidigen. Dies steht nicht im Gegensatz zur Verteidigung gegen die russischen Angreifer:innen. Vielmehr stärkt es die Widerstandskraft und die Moral der einfachen Menschen. Wir verteidigen ihre Rechte gegen die gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen Selenskyjs. Diese Verteidigung muss die Wahrung der Rechte der Freiwilligen in den Verteidigungseinheiten und den regulären Streitkräften gegen rechtsnationalistische und faschistische Kommandant:innen und Kräfte einschließen. Die letzten Monate haben die arbeiter:innenfeindliche und proimperialistische Natur des ukrainischen Regimes noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Selbstverteidigung des Landes ihre Bedeutung verloren hat. Solange der nationale Kampf gegen die russische Invasion einen gerechten Charakter beibehält, wäre es für Revolutionär:innen selbstschädigend, diesen aufzugeben. Es würde bedeuten, eine mächtige Waffe zur Sammlung der Massen in den Händen der Bourgeoisie zu lassen. Revolutionär:innen müssen vielmehr die Unterstützung der nationalen Selbstverteidigung mit dem Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse und der Aufdeckung der reaktionären Ausprägung des ukrainischen Regimes und seiner imperialistischen Hintermänner verbinden.

30. Die Liga für die Fünfte Internationale betonte von Anfang an zu Recht die Schlüsselrolle des zwischenimperialistischen Konflikts. Gleichzeitig erkannte sie an, dass die „berechtigte Antwort gegen die nationale Unterdrückung, die ein Haupthindernis für den Vormarsch der russischen Truppen darstellt, die Unterstützung der Revolutionär:innen verdient. Die ukrainischen Massen haben das Recht, sich und ihr Land gegen die russische Besatzung zu verteidigen“. Aber wir taten dies auf inkonsequente Weise, als wir das Recht der Ukrainer:innen, die Mittel für dieses Ziel zu erhalten, nicht anerkannten. Wir korrigieren diesen Fehler, der nicht nur die Selbstverteidigung der Volksmassen, sondern auch den Kampf um die Führung der und durch die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine geschwächt hätte.

31. Die Revolutionär:innen in der Ukraine müssen den Klassenkampf führen, auch wenn dieser heute vor allem einen politisch vorbereitenden Charakter innehat. Zentrale Elemente der revolutionären Politik müssen folgende sein:

  • Unterstützung für das ukrainische Recht auf Selbstverteidigung.
  • Agitation, revolutionäre Propaganda, Aufdeckung des Charakters des Krieges, die nicht nur Russland und die NATO/USA/EU angreifen, sondern auch die Kriegsziele der ukrainischen Regierung verdeutlichen.
  • Forderung nach wirksamem Schutz und Verteidigung der Zivilbevölkerung durch Regierung und Armee.
  • Kampf um die Kontrolle über Waffen und knappe Gütern in Fabriken, Städten und Dörfern, wenn möglich auch Aufbau von Milizen.
  • Streichen der Schulden! Die Lohnabhängigen sollten sich für die Einrichtung einer Arbeiter:innenkontrolle über den Erhalt und die Produktion von Rüstungsgütern einsetzen.
  • Antimilitaristische und antiimperialistische Agitation, die sich gegen die russischen Besatzungssoldat:innen richtet; Widerstand gegen die Konsolidierung der russischen Besatzung.
  • Kampf gegen die Einschränkung der demokratischen Rechte und die Angriffe auf die Arbeiter:innenrechte durch das Kiewer Regime. Anerkennung der Rechte aller nicht-ukrainischsprachigen Minderheiten, gegen ihre kulturelle oder politische Unterdrückung.

32. Zu diesem letzten Punkt müssen wir ganz klar sagen, dass die Zukunft der sogenannten Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein. Gleichzeitig verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht der Krim und der „Volksrepubliken“ (einschließlich ihres Rechts, sich Russland anzuschließen oder ein unabhängiger Staat zu werden). Allerdings kann nur eine sozialistische Föderation von Arbeiter:innenstaaten die verschiedenen nationalistischen herrschenden Klassen daran hindern, die Feindseligkeiten in ihrem eigenen Interesse zu schüren.

Keinen Fußbreit der NATO!

33. In den westlichen imperialistischen Staaten und ihren Unterstützer:innen gilt es, die weitere Eskalation des Konflikts zu einem offen erklärten zwischenimperialistischen Flächenbrand, eine Vertiefung des neuen Kalten Krieges zu verhindern und auch gegen die Verhängung eines globalen Sanktionsregimes zu kämpfen. Unser Ziel ist es, nicht nur die Frage der Kosten, der Angriffe auf demokratische Rechte usw. aufzuwerfen, sondern auch zu erklären, warum die westlichen Staaten nicht die „Demokratie“ und die Menschenrechte verteidigen, sondern ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgen.

34. Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Mobilisierung an den Ostgrenzen, massive Waffenlieferungen oder „begrenzte“ Flugverbotszonen sind unbedingt abzulehnen. Der Hinweis darauf, dass NATO-Politik, Aufrüstung und Sanktionen teuer sind, hinterlässt einen schlechten Beigeschmack, wenn die behaupteten Kriegsziele der NATO-Länder – Verteidigung der Unterdrückten – gerecht erscheinen. Deshalb müssen auch die Kriegsziele und der Klassencharakter der imperialistischen Politik offengelegt werden. Während die Existenz der NATO (bzw. ihre Expansion) auf dem Schlachtfeld in der Ukraine nicht in Frage gestellt werden, ist der Ausgang des Krieges von größter Bedeutung für das globale Kräfteverhältnis zwischen dem Westen und Russland (und China). In den Parlamenten müssen die Mitglieder der Arbeiter:innenparteien gegen alle Waffenlieferungen und militärische Unterstützung stimmen, weil diese – ob gewollt oder nicht – einer politischen Legitimation der Kriegsziele der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten gleichkämen.

35. Während wir eine Sabotage der ukrainischen Kriegsanstrengungen ablehnen, wozu auch gehört, dass wir uns Waffenlieferungen in die Ukraine nicht widersetzen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, was die Mobilisierung der NATO an ihren Ostgrenzen sowie die Militarisierung (die in Osteuropa am stärksten ausgeprägt ist) und die sog. Ringtausche bedeuten. Angesichts der engen Verflechtung von Waffenlieferungen an die Ukraine mit der NATO-Aufrüstung, z B. über das System der Ringgeschäfte und den Ersatz alter Waffenbestände durch die Modernisierung der Armeebestände, müssen die Lohnabhängigen und Gewerkschaften die Offenlegung aller Lieferungen fordern. Wir kämpfen für die Arbeiter:innenkontrolle über den Transportsektor, damit unsere Klasse zwischen Waffentransporten in die Ukraine und solchen für die Truppenaufstellung, die Militarisierung und den Ringtausch unterscheiden und so beschließen kann, welche Transporte durchgelassen und welche gestoppt werden sollen.

36. Die West- und NATO-Mächte unterstützen die Ukraine nicht nur politisch, finanziell und militärisch, um ihre eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Sie haben auch einen Wirtschaftskrieg begonnen, um den russischen Imperialismus in die Schranken zu weisen. Wirtschaftssanktionen sind zu einem wichtigen Instrument der USA und anderer Mächte geworden, um ihre Ziele gegenüber anderen Ländern durchzusetzen. Dafür sind sie bereit, nicht nur die Arbeiter:innen ihres eigenen Landes für die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise und Inflation zahlen zu lassen, sondern auch die Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Armen im globalen Süden.

37. Die westlichen Imperialist:innen führen nicht nur umfangreiche Aufrüstungs- und Waffenlieferungsprogramme sowie einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch eine große ideologische Kampagne. Nach dem „Krieg gegen den Terror“ befinden sich die westlichen Imperialist:innen nun in einem universellen „Krieg für die Demokratie“. Die NATO wird als eine neue Art von „Anti-Hitler“-Koalition präsentiert – und jede/r, die/der sich kritisch zu einer NATO-Erweiterung, Superaufrüstung oder einer weiteren Eskalation des Konflikts mit Russland oder gar China äußert, wird entweder zur „Putin-Marionette“ oder bestenfalls zum/r naiven Beschwichtigungsidiot:in erklärt. Dies ist nicht nur eine mächtige ideologische Kampagne in den westlichen imperialistischen Ländern, sondern erstreckt sich auch auf den politischen Druck auf halbkoloniale Regierungen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wollen (und das wird dann auch mit wirtschaftlichem Druck kombiniert). Wie heuchlerisch diese demokratische Pose ist, zeigt die jüngste Aufhebung des Vetos des (nicht besonders demokratischen) NATO-Mitglieds Türkei gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens zum Militärbündnis im Gegenzug für eine formelle Zusammenarbeit mit der Erdogan-Regierung im Kampf gegen die kurdischen Oppositionellen der PKK und der YPG, die sie als terroristische Organisationen bezeichnet. Die gesamte Geschichte der NATO zeigt, dass sie ein wesentlicher Bestandteil der Unterdrückung jeder demokratischen Bewegung ist, die sich gegen die Interessen der USA und ihrer wichtigsten Verbündeten richten könnte (siehe Spanien, Portugal, Griechenland usw.). Wir stehen fest in der Ablehnung der NATO und ähnlicher Institutionen des „demokratischen Imperialismus“, da die „Demokratie“, die sie verteidigen, die einer privilegierten Minderheit auf dem Globus ist, die letztendlich nur die Demokratie der 1 % der reichsten Personen in den „westlichen Demokratien“ verteidigt.

38. Zentrale Slogans in den westlichen imperialistischen Staaten sind:

  • Gegen alle Sanktionen! Bekämpft die wirtschaftliche Kriegsführung! Bekämpft jeglichen politischen und wirtschaftlichen Druck auf jedes Land, den von den USA und der EU verhängten Sanktionen zu folgen!
  • Nein zu den massiven Aufrüstungsprogrammen der NATO-Staaten und Truppenverlegungen. In den Parlamenten müssen die Parteien und Abgeordneten der Arbeiter:innenbewegung gegen Waffenlieferungen und -genehmigungen stimmen! Gegen die Ausweitung der NATO, für den Austritt aus ihr! Für die Auflösung der NATO!
  • Für die Auflösung der NATO und jeder anderen imperialistischen Allianz, die vorgibt, die „Demokratie“ zu verteidigen, in Wirklichkeit aber die bewaffnete Macht der bestehenden imperialistischen Weltordnung ist!
  • Keinen Mensch und keinen Cent für die imperialistische Politik! Überwälzung der Kosten, Preiserhöhungen usw. auf die Herrschenden! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Notprogramm für Arbeitslose, Rentner:innen, Geringverdiener:innen, Übernahme der gestiegenen Wohnkosten durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Aufnahme aller Flüchtlinge, Bleiberecht und Staatsbürger:innenschaft für alle an dem Ort, an dem sie leben wollen – finanziert durch den Staat! Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, Zulassung zu Gewerkschaften!
  • Unterstützung für die gerechten Kriegsziele des ukrainischen Widerstands: Abzug der russischen Truppen und Anerkennung der ukrainischen Souveränität!
  • Nein zu den westlichen Kriegszielen: Keine Ausplünderung der ukrainischen Wirtschaft durch das imperialistische Kapital! Streicht die Schulden der Ukraine!
  • Solidarität mit den Sozialist:innen und Gewerkschafter:innen in der Ukraine, die wegen der Verteidigung der Rechte der Lohnabhängigen und ihrer internationalistischen Ansichten von der Regierung oder rechten Banden angegriffen werden!
  • Im Falle einer direkten Intervention (z B. Einrichtung von Flugverbotszonen, Entstehung neuer Krisenherde im Baltikum): politischer Massenstreik gegen den Krieg!
  • Ablehnung jeglicher Politik des Klassenfriedens!
  • Für eine massenhafte proletarische Antikriegsbewegung, die sich dem NATO-Aufbau in Osteuropa und international entgegenstellt, die Kriegsziele der imperialistischen Bourgeoisie entlarvt und vor der Gefahr einer Eskalation hin zu einem zwischenimperialistischen Konflikt warnt!

39. Dies ist nicht nur für den Klassenkampf in den imperialistischen Ländern und anderen NATO-Ländern entscheidend. Gleichzeitig müssen die fortschrittlichen Bewegungen und Organisationen in Russland wie auch in der Ukraine gestärkt werden, indem deutlich gemacht wird, dass die Arbeiter:innenklasse eine unabhängige Politik verfolgt, die die Hauptfeindin in der eigenen Bourgeoisie erkennt.

Weitere Entwicklungen

40. Die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird ein entscheidender Faktor für die Weltpolitik in den kommenden Monaten, wenn nicht Jahren sein.

41. Dass die internationale wirtschaftliche Isolierung Russlands durch die NATO und die G7 auf massive Schwierigkeiten stößt und sich nicht nur China, sondern auch große halbkoloniale Volkswirtschaften weigern, die Embargos in vollem Umfang mitzutragen, hat mehrere Ursachen. Erstens ist die Unterstützung für Sanktionen und einen Stellvertreter:innenkrieg gegen Russland in den Halbkolonien viel schwächer, wenn sie überhaupt vorhanden ist. Die demokratisch-imperialistische Ideologie des Westens ist dort viel weniger wirksam. Zweitens ist das aber auch Ausdruck einer Erschütterung der US-Hegemonie und einer Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses. Deshalb könnten sich die Sanktionen gegen Russland vor allem für die EU-Staaten zu einem wirtschaftlichen Bumerang entwickeln. Angesichts der Bedeutung des Krieges um die Ukraine und des Wirtschaftskrieges gegen Russland ist es jedoch trotz dieser offensichtlichen Schwierigkeiten alles andere als sicher, dass eine der beiden Seiten einlenken und Kompromisse eingehen wird.

42. Andererseits machen der Krieg, die Sanktionen und die Tendenzen zur Zersplitterung des Weltmarktes eine tiefe Wirtschaftskrise in den kommenden Monaten sehr wahrscheinlich, die sich in Form von Preissteigerungen, Verarmung und in den halbkolonialen Ländern sogar in einer drohenden Hungersnot äußern wird. Der Krieg und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese Krisentendenzen massiv verschärfen und Wellen von Klassenkämpfen, vorrevolutionären und revolutionären Situationen hervorrufen. Damit steht die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale fest auf der Tagesordnung.

43. Es gibt mehrere Optionen für die weitere Entwicklung des Krieges:

  • Eine unmittelbar wahrscheinliche Entwicklung ist, dass beide Seiten ihre Kriegsanstrengungen weiter verstärken werden. Für die Ukraine würde dies mehr Rüstung und wirtschaftliche Unterstützung durch den Westen bedeuten. Dies würde Hand in Hand gehen mit einem massiven Ausbau der NATO und der Einführung von Elementen einer Kriegswirtschaft. Russland hat seine Wirtschaft bereits in diese Richtung umstrukturiert. Die Sanktionen des Westens und der Krieg haben die Schwäche des russischen Imperialismus offenbart, aber auch seine Abhängigkeit von China als dem wirtschaftlich und mit der Zeit auch militärisch stärkeren Imperialismus deutlich erhöht. China wiederum kann sich eine offene russische Niederlage nicht leisten.

  • Da es aber unwahrscheinlich ist, dass eine der beiden Seiten einen umfassenden militärischen Sieg erringt, würde dies entweder zu einem länger andauernden Stellungskrieg führen, der weiteren Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden das Leben kosten würde. Oder, sollte eine Seite hingegen verlieren, könnte dies zu weiteren verzweifelten Aktionen und einer Eskalation des Krieges über die Ukraine hinaus führen.

  • Er könnte aber auch zu einem anderen Szenario führen, in dem der imperialistische Krieg einem imperialistischen Frieden weicht. Der Krieg und seine wirtschaftlichen Auswirkungen haben nicht nur Russland betroffen, sondern die gesamte Weltwirtschaft. Er hat die halbkoloniale Welt, aber auch die Westmächte getroffen. Während sie Russland eindämmen und isolieren wollen, ist ein Zusammenbruch und Zerfall des russischen Imperialismus nicht in ihrem Sinne, da dies die Welt instabil geraten lassen würde. Zweitens entstehen dem Westen auch massive wirtschaftliche und soziale Kosten, die in einer Zeit der globalen Krise und der zunehmenden Rivalität mit China statt mit Russland schwer zu verkraften sind.

  • Daher könnte es irgendwann im kommenden Jahr zu einem Einfrieren des Krieges kommen. Es würde wahrscheinlich die Form von imperialistisch aufgezwungenen Friedensgesprächen annehmen (möglicherweise unter dem Deckmantel der UNO oder unter Einbeziehung einiger der mächtigeren Halbkolonien wie Indien, Türkei oder Brasilien als „unabhängiger“ Kräfte). Ein solcher „Frieden“ würde in erster Linie auf Kosten der ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen gehen. Er würde wahrscheinlich zu einer Spaltung des Landes führen, und er würde dazu führen, dass der Klassenkampf neue Formen annimmt.

Während die Arbeiter:innenklasse eindeutig kein Interesse an einem jahrelangen Zermürbungskrieg hegt, muss sie auch einen von den imperialistischen Mächten aufgezwungenen „Frieden“ aus mehreren Gründen ablehnen. Erstens könnte er einige Zugeständnisse in Bezug auf die territorialen Eroberungen Russlands beinhalten und nicht nur den Konflikt mit neuen erweiterten Grenzen einfrieren, sondern auch die tiefgreifende nationale Unterdrückung der Ukrainer:innen, ukrainisch und russischsprachig, die jetzt unter einer offenen, chauvinistischen Diktatur leben, die ihnen ihre Identität, ihre nationalen Rechte (Bildung, kulturelle Freiheit usw.) verweigert und Hunderttausende zur Flucht vor der Besatzung getrieben hat. Zweitens wird er, auch wenn er vielleicht von der ukrainischen Regierung und den Oligarch:innen unterstützt wird, für die Massen eine Katastrophe mit sich bringen – die Ukraine zu einer verarmten Halbkolonie der westlichen imperialistischen Mächte machen, die ihrerseits um ihren Anteil am Reichtum (sowohl an den natürlichen Ressourcen als auch an der Arbeitskraft) des Landes ringen werden.

Eine solche Entwicklung wird die Formen und Prioritäten des Klassenkampfes in allen Ländern verändern und den Kampf gegen einen aufgezwungenen, ungerechten Frieden zugunsten der Imperialist:innen und der ukrainischen herrschenden Klasse auf die Tagesordnung setzen. Es würde auch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes gegen die Ausbeutung des Landes durch das globale Kapital und für eine vereinigte europäische Bewegung zum Widerstand dagegen auf die Tagesordnung setzen – eine Bewegung, die den Kampf für Selbstbestimmung und gegen kapitalistische Ausbeutung mit dem für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa verbinden müsste. Damit steht die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale fest auf der Tagesordnung.

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies in der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




Air Defender 2023: dunkle Kriegswolken über Europa

Jürgen Roth, Infomail 1226, 14. Juni 2023

Vom 12. bis zum 23. Juni 2023 trainieren rund 10.000 Soldat:innen aus 25 Nationen mit ca. 250 Luftfahrzeugen v. a. über Deutschland im größten Luftkampfmanöver seit Bestehen der NATO. 2.000 Flüge sind an den 10 Manövertagen geplant. Die wollen nicht nur spielen!

Das Szenario

Dem Manöver liegt ein Szenario zugrunde, dem zufolge jahrelange Konfrontation zum Krieg geführt hat. Occasus, eine fiktive östliche Militärallianz, hat den unabhängigen Kleinstaat Otso überrannt und greift nun NATO-Gebiet an. Eine von Coronapandemie, Verknappung von Energielieferungen geschwächte, von bisher unbekannt hoher Inflation gebeutelte Bundesrepublik erscheint dem Aggressor als leichte Beute. Reguläre Truppen und die Spezialeinheit Organisation Brückner fallen daraufhin ins Land ein und besetzen im Blitzkrieg die Region Klebus. Ein Viertel der Republik ist besetzt. Aus der Luft wird Rostock angegriffen. Die Einnahme seines Hafens soll mehr Nachschub ins Kampfgebiet bringen. Die NATO ruft gemäß Beistandsartikel 5 den Verteidigungsfall aus. An diesem Punkt startet das Riesenmanöver.

Einschätzung und Ausmaß des Manövers

Die beteiligten Militärs werten die Luftkampfübung bereits jetzt als Erfolg, gelang doch in recht kurzer Zeit die Mobilmachung von 25 Ländern, v. a. NATO-Mitgliedern, und 250 Flugzeugen, v. a. Kampfjets. Rund 100 davon stellen die USA. Die Bundesluftwaffe beteiligt sich mit 64 Maschinen: Eurofighter, Tornados, A400M-Transporter, A330-Tanker und Hubschrauber. Learjets der Gesellschaft für Zieldarstellung und A-4 einer kanadischen Firma mimen das Aggressorluftpotential.

Ähnliche gewaltige Manöver wurden bereits zu Zeiten des Kalten Kriegs abgehalten, doch damals hatten die USA, Großbritannien und Kanada ihre Flugmaschinen direkt in Deutschland stationiert. Nun erfolgte deren Verlegung schnell über Tausende Kilometer.

Die Übung erfolgt dennoch nicht im Namen des westlichen Militärbündnisses. Es war von der BRD geplant und wird von ihr geleitet. Generalleutnant Ingo Gerhartz, seines Zeichens Bundesluftwaffenoberbefehlshaber, betont, sekundiert von US-Generalleutnant Michael Rose, Direktor der Air National Guard, die Übung sei keine direkte Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine. Nur wenige Einsätze würden über Estland, Polen und Rumänien geflogen. Es gehe darum, sich selbst die eigene Verteidigungsfähigkeit zu beweisen. Eine Provokation Russlands durch Flüge in Richtung Kaliningrad solle vermieden werden. US-Botschafterin Amy Gutmann verhielt sich weniger vorsichtig und bekräftigte, dass die Übung auch ein Signal der Stärke aussenden solle. Wohin wohl?

Das Szenario nimmt bis aufs i-Tüpfelchen den sehr realen russischen Überfall als Anlass zum Gegenschlag wahr. In ihrem Bemühen, das Feinbild Russland abzutun, vergessen die NATO-Militärs auch, dass bis zum 5. Juni ein ähnliches Manöver namens Arctic Challenge an der russischen Nordgrenze lief und sich derzeit rund 50 NATO-Schiffe und über 45 Flugzeuge im Rahmen der Übung Baltops in der Ostsee konzentrieren. Und schließlich muss man aus Zeiten des Kalten Kriegs wissen, wie schnell eine Übung als Bedrohung wahrgenommen wurde. Nun wütet ein heißer Krieg. Die Militärs betreiben also Desinformationspolitik.

Geschehen in den Flugzonen

Für Air Defender 2023 sind über Deutschland 3 Flugzonen eingerichtet, die zu gewissen Zeiten für jeglichen anderen Luftverkehr gesperrt sind. Das Militär beansprucht dann hier den Luftraum zwischen 2.500 und 15.000 Metern Höhe. Tiefflüge sollen über dem nördlichen Brandenburg, Teilen Mecklenburg-Vorpommerns, der Ostsee sowie den Truppenübungsplätzen Baumholder (Rheinland-Pfalz, südlicher Hunsrück) und Grafenwöhr (Bayern, Oberpfalz) erfolgen.

In den kommenden 2 Wochen wird also v. a. der zivile Luftverkehr leiden. Die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) redet von täglich 50.000 Minuten Verspätung und der Flughafenverband Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen (ADV) rechnet mit ausfallenden Flügen, z. B. über Schleswig-Holstein. Dort wird zwischen 16 und 20 Uhr geübt. Hamburg-Fuhlsbüttel plant beispielsweise für den 13. Juni 30 Starts. Um Chaos zu vermeiden, hat man das Nachtflugverbot aufgehoben.

Ökologische Kosten

Zu den direkten Kosten gibt es keine und zu den Umweltauswirkungen nur vage Angaben. Laut Bundeswehr wird das Manöver 32.000 Tonnen CO2 erzeugen – so viel wie 3.500 Deutsche im Jahr 2020 produzierten. Täglich werden allein am Fliegerhorst Wunstorf (ca. 20 km westlich von Hannover) 400.000 – 500.000 Liter Kerosin bereitgestellt. Damit kann ein Airbus A 320 mit 77 Tonnen Gewicht und 170 Passagier:innen an Bord rund 190 Stunden lang um den Globus düsen. Laut wird es außerdem, obwohl nicht scharf geschossen wird. Bis zu 60 Maschinen werden im Nordosten gleichzeitig in der Luft sein.

Protest

Die NATO spielt also mit dem Feuer, präsentiert ihre Stärke und Hoheit, auf dass „dem Iwan“ angst und bange werden möge. Dagegen ist Protest allemal gerechtfertigt. So versammelten sich am Sonntag, den 11. Juni 2023, ca. 150 Friedensbewegte am Sielmann-Hügel in der Kyritz-Ruppiner Heide zur Friedenswanderung auf dem Wanderparkplatz Pfalzheim (Ostprignitz-Ruppin) und bildeten ein Friedenszeichen mit Stoffbahnen über ihren Köpfen.

An diesem historischen Ort sammelten sich ehemals bis zu 10.000 bei Ostermärschen gegen die Naturzerstörung durch einen Truppenübungsplatz der Bundeswehr, auf dem die Luftwaffe Tiefflüge und Bombenabwürfe trainieren wollte. Das Bombodrom konnte 2009 verhindert werden. Jetzt, wo sich die Lage immer drohender auf einen III. Weltkrieg zubewegt, verbleiben ganze 150 Aufrechte. Welche Schande! Doch nicht für sie, sondern für die Linke und Arbeiter:innenbewegung, die dieses Szenario nicht hinterm Ofen hervorlockt. So bleibt ihr Widerstand gegen die große NATO-Kriegsübung bisher aus.

Neue atomare Rüstungsspirale

Dabei gibt das neue atomare Wettrüsten zusätzlichen Anlass zum Protest. Der Jahresbericht 2023 des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (Stockholm International Peace Research Institute; SIPRI) liefert nämlich nur auf den ersten Blick frohe Kunde: Die Anzahl der Atomsprengköpfe ist im vergangenen Jahr weltweit um 198 gesunken. Russland und die USA verfügen demnach über 90 % der 12.000 Waffen. Doch dieser Rückgang geht einher mit ihrer zielstrebigen Modernisierung. Die Sprengköpfe werden mobiler, dauerhaft einsatzfähig und sind schwerer abzuwehren.

Zudem legt sich seit Beginn des bewaffneten Ukrainekonflikts immer mehr der Schleier des Geheimnisses über diese Rüstungskategorie. Die Zahl der gefechtsbereiten Atomsprengköpfe hat im letzten Jahr um 86 auf vermutlich 9.576 zugenommen. Insbesondere China forciert die Aufrüstung, steigerte sein Arsenal von 350 auf 410. Vor 5 Jahren besaß es nur 280. Bis zum Ende des Jahrzehntes könnte es über mindestens ebenso viele Interkontinentalraketen verfügen wie die USA oder Russland. Die kleineren Atommächte ziehen nach: Pakistan (170), Indien (164), Nordkorea (30), Frankreich (290), Großbritannien (225), Israel (90).

2026 endet „New Start“, der letzte Atomwaffenkontrollvertrag zwischen Russland und den USA. Er begrenzt die Zahl der einsatzbereiten strategischen Atomsprengköpfe seit 2010 auf je 1.550 und der Trägersysteme zu Land, Wasser und in der Luft auf je 800. Kein Wunder, dass SIPRI-Direktor Dan Smith fürchtet: „Wir driften in eine der gefährlichsten Periode der Menschheitsgeschichte.“

Anfang Juni riefen die USA China und Russland zu Gesprächen über nukleare Rüstungskontrolle auf – ohne Vorbedingungen. Freilich bedeute das nicht, andere Atommächte nicht für ihr „rücksichtsloses Verhalten“ zur Rechenschaft zu ziehen, wie Jake Sullivan, nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten, betonte. Dieser Vorschlag ist also alles andere als uneigennützig: Geht Chinas Aufrüstung ungebremst weiter, stehen die USA bald vor dem Dilemma, erstmals in ihrer Geschichte zwei annähernd gleich große Atommächte in Schach zu halten. Er hob die Bedeutung von NATO-Verbündeten wie der BRD hervor, die zwar keine Nuklearwaffen besitzen, aber Einsatzmittel fürs US-Arsenal zur Verfügung stellten.

Zu ähnlich düsteren Prognosen kommt auch das Friedensgutachten 2023 von 4 deutschen Instituten. Deutschland und die EU müssten die Ukraine dauerhaft militärisch, ökonomisch und politisch unterstützen. Friedensgespräche seien derzeit keine realistische Option, müssten aber vorbereitet werden. Zu einer solchen Verhandlungsrunde sollten auch China und Brasilien gehören. Somit gerieren sich diese Institute ganz als brave Stimme ihres Herrn. Pazifismus ja, aber zuerst muss die richtige Seite unterstützt werden. Dafür zahlen wir schließlich Steuern – insbesondere für die weitere Aufrüstung.

EU-Militärpolitik: unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Die Ankündigung des militärischen Sondervermögens über 100 Mrd. Euro durch „Zeitenwende“kanzler Scholz löst eine massive Verschiebung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU aus: Der Trend zu wachsenden Verteidigungsausgaben ist europaweit zu verfolgen. Im Jahr 2019 lag das diesbezügliche Budget aller EU-Mitglieder bei 186 Mrd. Künftig wird allein Deutschland jährlich seines um 25 Mrd. aufstocken. Standen Ende 2021 die Zeichen im Koalitionsvertrag noch auf Rüstungskontrolle und Wiederbelebung der internationalen Abrüstung, setzte ab 2022 eine kontrollierte Rüstung ein. Die Ukraine erhielt Militärgerät, wobei östliche EU-Länder ihre noch aus Zeiten des Warschauer Paktes stammenden Waffensysteme abgaben und durch Nachkauf westlicher Ausrüstung sich dem NATO-Standard anpassten, ihn somit vereinheitlichten.

Die Antwort auf den Ukrainekrieg wird also vornehmlich in Aufrüstung gesucht, nicht in diplomatischen EU-Vermittlungs- und Verhandlungsmissionen. Dabei steht die europäische Verteidigungspolitik im Schatten der Öffentlichkeit. PESCO/SSZ, die ständige strukturierte Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten – wir berichteten in NI 226, Februar 2018: https://arbeiterinnenmacht.de/2018/02/03/muenchner-sicherheitskonferenz-2018-auf-dem-weg-zur-eu-armee/ – begann Ende 2017 und weist heute große Schnittmengen mit der NATO selbst auf. Beleg für den laufenden Ausbau dieser Politik liefern die Missionen auf dem Balkan, im Mittelmeer und Afrika (Mali, Niger).

In welche Richtungen EU-Gelder und -Budgets fließen, veranschaulicht das Projekt „Open Security Data EU“ (https://opensecuritydata.eu/). Man bedenke: Diese Gelder tragen zu einem Militärhaushalt ohne eigene EU-Armee bei! Der Europäische Verteidigungsfonds umfasst allein zwischen 2021 und 2027 8 Mrd. Euro für militärische Forschung und Entwicklung. Im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität stehen weiter 5 Mrd. für gemeinsame Missionen und Hilfe an Drittstaaten zur Verfügung. Weitere 500 Mio. liefert das Instrument zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (Edirpa) für den Zeitraum Juli 2022 – 2024.

Dass es bei einer EU ohne Armee bleiben wird, erscheint zudem immer unsicherer. Im März 2022 wurde der Strategische Kompass vorgestellt. Eine neue Schnelleingreiftruppe aus 5.000 Soldat:innen soll für Rettungs- und Evakuierungsaufträge, aber auch den Ersteinsatz im Rahmen der Krisenintervention bis 2025 aufgestellt werden.

Diese Zahlen und Hinweise verdanken wir einer Expert:innenrunde des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Oberthema: „Der Militarisierung entgegenwirken: Bestandsaufnahme und gemeinsame Wege im Kampf gegen die Militarisierung der Europäischen Union“ von Anfang September 2022 (https://www.rosalux.eu/de/article/2154.der-militarisierung-der-eu-etwas-entgegensetzen.html).

Doch so dankbar wir auch für die wertvolle Recherche der Stiftung sind, ihr „Antimilitarismus“ bleibt ein zahnloser:

„In der Summe der Projekte, Budgets und strategischen Planungen sowie deren absehbaren Ausweitungen drohen die Idee des friedlichen Charakters der Europäischen Union sowie die Vorstellung von einer Mittlerrolle im Rahmen von Friedensverhandlungen, die bislang im Ukrainekrieg auch nicht eingenommen worden ist, weiter Schaden zu nehmen. […] Wenn künftig das Mittel zur konstruktiven Enthaltung auch bei Militärmissionen zum Einsatz kommen sollte, dürfte die Zahl der Missionen aus nationalen Interessen einzelner oder mehrerer europäischer Staaten heraus zunehmen. Damit läuft die EU Gefahr, dass sich abgekoppelte Kriege auf Betreiben einzelner Staaten hin entwickeln. Analog kann der US-Feldzug in Afghanistan gesehen werden, dessen Angriffe im Rahmen der Operation Enduring Freedom mit Verteidigung nicht begründbar waren. Das zur Verteidigung angerückte Bündnis aus NATO- und Nicht-NATO-Mitgliedern leistete dafür eine wesentliche Unterstützung.

Linke europäische Politik muss sich angesichts dieser und vieler weiterer Aspekte, beispielsweise der Einsätze von Frontex im Mittelmeer und der auf Abwehr angelegten Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen, über die Rolle innerhalb der Europäischen Union klar werden, um den friedensfördernden Charakter des Bündnisses nicht an die Rüstungsindustrie und Wirtschaftslobbyisten zu verlieren.

Das verlangt linker europäischer Politik aber auch ab, bei der Ablehnung der etablierten konventionellen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eigene Lösungen aufzuzeigen. Dabei muss auch das Bedürfnis nach dem Schutz, den Sicherheits- und Verteidigungsbündnisse vorgeblich bieten, in linke Lösungsvorschläge einfließen. Die Fragen nach einer neuen europäischen Sicherheitsordnung und einer gemeinsamen europäischen Verteidigung müssen von links beantwortet werden.“

Die Märchenerzähler:innen der RLS wollen uns weismachen, die EU sei eigentlich ein friedlicher Zusammenschluss, wenn egoistische Nationalinteressen, Wirtschafts- und Rüstungslobby nicht die Oberhand gewinnen. Kautskys Idee vom Ultraimperialismus erlebt hier eine Renaissance. Sie ist zwar ein Staatenbund, aber kein Superstaat, indem sich die konkurrierenden Interessen nationaler Gesamtkapitale schiedlich-friedlich verflüchtigt haben. Sie bildet ein politisch-wirtschaftliches Kartell unter Ägide des deutschen und französischen Imperialismus als dessen Hauptprofiteuren. Sieht so die Transformationsstrategie aus, der EU ihren grundlegend militaristischen und imperialistischen Charakter abzusprechen? Im Transformatorenhäuschen der RLS fließt nur reformistischer Schwachstrom, der den EU-Militarismus höchstens ein bisschen kitzelt. Das Gesundbeten dieses Saulus zum Paulus wird niemals gelingen. Die Linkspartei und ihre Ableger betreiben „konstruktiven, kritischen“ Sozialpatriotismus.




Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs

Markus Lehner, Neue Internationale 271, Februar 2023

Der Krieg in der Ukraine ist sicherlich eine historische Zäsur. Da hilft es auch nicht, wenn Linke wie Sahra Wagenknecht immer wieder betonen, dass er nur einer von vielen sei – und die meisten würden ja vom „Wertewesten“ geführt oder unterstützt. Tatsächlich waren die meisten Kriege mit Beteiligung von Großmächten seit dem 2. Weltkrieg „asymmetrische“ (außer dem Koreakrieg oder den beiden Vietnamkriegen), bei denen eine Seite militärisch vollkommen überlegen war.

Der Ukrainekrieg ist ein grausamer „konventioneller“, zerstörerisch wie der Zweite Weltkrieg, mit allen Schrecken von Artillerie- und Panzerschlachten, Schützengrabenkämpfen, Bombardements, wochenlangen Belagerungen und Kesselschlachten. Dazu kommt, dass dahinter die Konfrontation der wichtigsten Großmächte im europäischen Raum steht und somit auch die industrielle Massenfertigung der Tötungsmaschinerien auf beiden Seiten dafür immer weiter hochgefahren wird – mit der Gefahr einer sehr langen Dauer und wachsender Eskalation, was die Art der Waffen bis hin zu Nuklearsprengsätzen betrifft. Dieser Konflikt ist eingebettet in eine krisenhafte Entwicklung des imperialistischen Weltsystems, in dem eine schwächelnde kapitalistische Weltwirtschaft zur Neuaufteilung der Welt unter die Großmächte, insbesondere China und die USA, drängt. Ob dabei der Ukrainekrieg auch noch gekoppelt wird etwa mit einer Verschärfung des Taiwankonflikts oder nicht – wir sind jedenfalls in eine neue Periode der gesteigerten, auch militärischen Konfrontation der großen imperialistischen Mächte eingetreten, die die rein ökonomische Globalisierungskonkurrenz auf eine neue Ebene hebt.

Problematische Vergleiche

Es wurden schon verschiedene Vergleiche mit den beiden Weltkriegen bzw. deren Vorläuferkonflikten angestellt. In der bürgerlichen Debatte herrscht der mit dem Zweiten Weltkrieg vor, insbesondere um an den „antifaschistischen Kampf“ bzw. die „historischen Lehren“ aus den Fehlern von „Appeasementpolitik“ anzuschließen. Vorherrschend ist die Erzählung vom „durchgedrehten“ Autokraten Putin, der analog zu Hitler sein Land mit einer faschistischen Diktatur überzogen habe und dessen irre Gefährlichkeit von den „naiven“ demokratischen Regierungen insbesondere in Europa lange nicht gesehen worden wäre. Aus marxistischer Sicht ist das Putinregime natürlich kein Faschismus, wohl aber ein über Jahre gefestigtes autoritäres, das dem nach der Restauration des Kapitalismus entstandenen russischen Imperialismus aus einer Position der Schwäche heraus mit allen Mitteln einen Platz im Orchester der Großmächte zu sichern versucht. Das „System Putin“ ist damit auch nicht an seine besondere Person gebunden, sondern umfasst eine mit den großen Rüstungs- und Rohstoffkonzernen eng verflochtene politische Führungsschicht, deren imperialistische Extraprofite aufs Engste mit dem Erhalt von Einflusssphären und militärischer Potenz verbunden sind. Die Expansion der NATO bzw. USA in Osteuropa und Zentralasien ebenso wie seine wachsende ökonomische Schwäche mussten daher Russland um seine Stellung als Weltmacht fürchten lassen. Konkret in der Ukraine wurde nach 1990 lange Zeit eine Art Patt zwischen prorussischen und -westlichen Kräften aufrechterhalten, das mit der Maidanbewegung um 2014 kippte und zum Konflikt um die Ostukraine und Krim führte. Die Geschichte des Hineinschlitterns in den Krieg mitsamt der Rolle der verschiedenen Großmächte und nationalistischen Kräfte in der Ukraine erinnert dann auch mehr an den Prolog zum Ersten Weltkrieg und die „schlafwandlerische“ Eskalation rund um den Balkan.

Umgekehrt gibt es auch in Teilen der Linken den Missbrauch des Faschismuslabels. So bezeichnet die „Junge Welt“ die Selenskyjregierung gerne als „faschistischen Büttel der NATO“, die mit dem „Maidanputsch“ 2014 in der Ukraine eine naziähnliche Diktatur errichtet hätte. Auch wenn ukrainische Nazis für den unmittelbaren Machtwechsel 2014 eine wichtige Rolle spielten, reicht dies keinesfalls aus, um das danach entstandene westlich orientierte System eines oligarchischen Kapitalismus in der Ukraine treffend zu charakterisieren. Die ökonomische Dauerkrise zwingt dieses Regime, den Nationalismus als gesellschaftlichen Kitt zu verwenden und insbesondere im Sicherheitsapparat viele extrem rechte Kräfte einzusetzen. Doch sind dies eher untergeordnete Aspekte gegenüber einer generellen Westorientierung, die bei den Massen in der Ukraine mit großen Illusionen in „westliche Demokratie und Wohlstand“ verbunden sind.

Beide Seiten des „Lager“kampfes gegen den „Putinfaschismus“ oder die Maidannazis begehen eine üble Verschleierung des tatsächlichen Charakters des Krieges. Die Beschwörung des angeblich faschistischen Charakters der jeweils anderen Seite dient offenbar der Rechtfertigung einer Parteinahme für einen „demokratischen“ oder „antifaschistischen“ Imperialismus, also für eine offene Unterstützung der NATO oder Russlands im „antifaschistischen Kampf“. Wie immer nützt die „antifaschistische Volksfront“ hier der Aufgabe von Klassenpolitik zugunsten der politischen Unterordnung unter die reaktionären Ziele eines der sich bekämpfenden bürgerlichen Lager. Der Charakter dieses Krieges sollte also zunächst mal jenseits dieser falschen Fährte Krieg gegen den Faschismus verstanden werden.

Susan Watkins hat im „New Left Review” in dem Artikel „Five Wars in One” eine hilfreiche Aufschlüsselung seiner verschiedenen Ebenen erstellt. In Analogie zur bekannten Analyse von Ernest Mandel zum Zweiten Weltkrieg hat sie für diesen als „Weltordnungskrieg“ fünf Konfliktebenen dargestellt. Anhand dieser lassen sich gut die Probleme für eine linke Positionsfindung und die Gefahren von Verkürzungen darstellen.

1. Imperialistischer Angriffskrieg

Der erste und sicher offensichtlichste Aspekt ist, dass es sich um einen brutalen imperialistischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine handelt. Anders als in der bürgerlichen Öffentlichkeit wird dabei nicht auf eine „imperialistische“ Ideologie des Putinregimes Bezug genommen, sondern auf die in der gegenwärtigen Epoche des Weltkapitalismus bestehende imperialistische Weltordnung. Der Imperialismus ist dabei Ausdruck der Unfähigkeit des globalen Kapitalismus, die historisch überholte Form des Nationalstaates durch ein den globalen Problemen angemessenes politisches Weltsystem zu ersetzen. An dessen Stelle tritt ein System von Großmächten und deren Einflusssphären, das notwendig mit den Prinzipien nationalstaatlicher Souveränität in Konflikt geraten muss. Die westlichen imperialistischen Mächte sichern ihre heute im günstigsten Fall durch „Softpower“.

Die Halbkolonien des Westens scheinen sich freiwillig für „Demokratie und Menschenrechte“ zu entscheiden, die von der NATO und ähnlichen Mächten dann „geschützt“ werden (und nur zu oft mit militärischen Mitteln). Wenn jetzt zu Russland gesagt wird, die Verteidigung seiner „Einflusssphäre“ wäre „veraltetes Denken“, so wird nur verschleiert, dass es bei z. B. der NATO-Osterweiterung oder der EU-Ausdehnung natürlich auch um deren Sicherung geht. Anders als „der Westen“ hat Russland jedoch immer weniger ökonomische und politische Vorteile anzubieten und erscheint sicherlich nicht als eine weniger unterdrückerische und demokratischere Alternative. Ein schwächelnder Imperialismus neigt, wie die Geschichte, zeigt, dazu, seine Einflusssphäre dann eben militärisch zu sichern.

Diese Erklärung des russischen Angriffs ist aber natürlich in keiner Weise eine Rechtfertigung. Es ist vor allem ein Argument dafür, dass das imperialistische System als Ganzes menschenverachtend und krisenbehaftet ist und als solches überwunden werden muss. Dies bedeutet vor allem auch, dass die Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Staaten ihren Führungen die Waffen aus den Händen schlagen und sie gegen ihre Kriegsherr:innen selber richten müssen. Die Position von Sozialist:innen in der russischen Föderation muss eine des verstärkten Klassenkampfes gegen das reaktionäre, nationalistische Putinregime sein. Hier vertreten wir den revolutionären Defaitismus und die Umwandlung des Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des russischen Imperialismus.

Wir lehnen daher auch die Scheinlösungen ab, die in Linkspartei und DKP zur Beilegung des Konflikts vorherrschen: Man müsse eine Friedensordnung erreichen, die die „berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“ garantiere. Diese Position beinhaltet sowohl eine Erzählung von der NATO-Osterweiterung u. a. als Grund, warum „fehlende Sensibilität“ gegenüber Russland zum Krieg geführt habe. Sie beinhaltet aber auch den „Plan“, dass eine Friedenslösung mit Russland über ein Abkommen mit den westlichen Mächten zur „Sicherheitsarchitektur“ in Europa den Konflikt nachhaltig entwirren könne. Einerseits wird bei dieser Art von Lösung ausgeblendet, dass es hier tatsächlich um den Kampf um Einflusssphären imperialistischer Mächte geht, der noch weit von einer Entscheidung wie dem seinerzeitigen Potsdamer Abkommen entfernt ist.

Es wird vor allem stillschweigend darüber hinweggegangen, dass es hier auch um die Frage der Selbstbestimmung von Ländern wie der Ukraine geht, die im Rahmen solcher „Sicherheitsarchitekturen“ tatsächlich durch das eine oder andere halbkoloniale System unterjocht werden. Die Frage ist dabei auch nicht, ob Beitritt zu einem Bündnis oder durch Sicherheitsgarantien begleitete „Neutralität“ Auswege wären, sondern dass nur eine antiimperialistische Bewegung in der Ukraine und in den Arbeiter:innenklassen Europas für ein Ende des Zwangs zur Einbindung in welche Einflusssphären, Militärbündnisse, Wirtschaftsunionen auch immer sorgen könnte. Nicht irgendwelche Abkommen zwischen EU, Russland und den USA über die zukünftige Ordnung in Europa können, sondern nur der Kampf um vereinigte sozialistische Staaten von Europa durch soziale Revolution von unten kann eine wirkliche Friedensordnung auf diesem Kontinent herstellen.

2. Selbstverteidigungskrieg

Der zweite Aspekt ist der eines nationalen Selbstverteidigungskrieges von Seiten der Ukraine. Sie ist eines der ärmsten Länder des Kontinents, das gleichzeitig reich an mineralischen und agrarischen Rohstoffen ist. In ganz Europa wird ukrainische Arbeitskraft aufs Blut ausgebeutet. Im Land selbst herrscht ein extrem korrupter Oligarchenkapitalismus, der seine ausbeuterische Fratze hinter demokratischen Phrasen und der nationalistischen Verteidigungspose verbirgt.

All dies ist nicht ungewöhnlich für ausgebeutete Halbkolonien auf der ganzen Welt. Im Fall des Angriffs einer imperialistischen Macht, die sich dieses Land einverleiben will, gibt es bei den Massen trotz aller Entfremdung zu ihrer Führung den klaren Impuls, das demokratische Selbstbestimmungsrecht auf einen eigenen Staat zu verteidigen. Insbesondere war die Ukraine seit Jahrhunderten von ihren Nachbarstaaten unterjocht – nicht nur von Russland, sondern auch von Polen/Litauen und der Habsburger Monarchie. Auch wenn jetzt sowohl von Putin als auch den ukrainischen Nationalist:innen verhöhnt, waren es Lenin und die Bolschewiki, die zuerst den Kampf gegen Zarismus und Habsburger:innen nicht nur mit dem internationalen Klassenkampf sondern auch mit dem um die Selbstbestimmung der Ukraine verbunden haben.

Seit Jahrhunderten wurde damit nach dem Bürgerkrieg zum ersten Mal ein ukrainischer Staat gebildet – auch wenn dessen Unabhängigkeit in der stalinisierten Sowjetunion mehr als prekär geriet. Aber nur so wurde in den Wirren der Auflösung der Sowjetunion die Ukraine als eigenständiger Nationalstaat möglich. Auch wenn sie selbst ein Vielvölkerstaat ist, gibt es eine große Mehrheitsbevölkerung, die sich der ukrainischen Identität zugehörig fühlt und sich keineswegs wieder einem anderen Nationalstaat unterordnen will. Sozialist:innen müssen diesen demokratischen Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung respektieren – so wie sie das auch im Freiheitskampf um Irland oder Kurdistan immer schon getan haben.

Bei aller Klassenspaltung in der Ukraine werden die Arbeiter:innen kaum für ihre zentralen sozialen Kämpfe gewonnen werden können, wenn man nicht zugleich mit ihnen gegen die nationale Unterjochung kämpft, was ihnen als Voraussetzung dafür erscheint, auch ihre ureigensten Klassenkämpfe auf vertrautem Terrain führen zu können. Bei aller Kritik an der korrupten, proimperialistischen Führung des Verteidigungskrieges rufen wir, zumindest bis eigenständige Kampfverbände aufgebaut sind, dazu auf, in die bestehenden Verteidigungsstrukturen zu gehen (sofern sie nicht offen faschistische Einheiten sind). Auch dort müssen wir den verräterischen und klassenfeindlichen Charakter der politischen Führung aufzeigen wie auch die Gefahr des Missbrauchs des Verteidigungskrieges für die westlichen imperialistischen Interessen – also auch für die Fortsetzung des Kampfes nach Abwehr des russischen Angriffs. Diese Kritik kann aber nicht dazu führen, die Niederlage der Ukraine einfach billigend in Kauf zu nehmen. Diese würde die Kampfbedingungen der ukrainischen Arbeiter:innen um ein Vielfaches verschlechtern und es zugleich faktisch unmöglich machen, sie von ihren Illusionen in das prowestliche Regime zu lösen.

Insofern lehnen wir die pazifistischen Positionen gegenüber dem berechtigten Kampf für Selbstverteidigung genauso ab wie die Versuche, die Verteidigungskräfte der Ukraine insgesamt nach dem Bild des Asowregiments zu charakterisieren. Auch wenn wir die Einheiten, die an die Nazikollaborateurtruppen des Stepan Bandera anknüpfen, ablehnen und sie nicht als „Kampfgenossinnen“ akzeptieren, so weigern wir uns, diese mit dem ukrainischen Kampf insgesamt gleichzusetzen. Auch im palästinensischen Widerstand ist es unvermeidlich, z. B. mit der Hamas auf denselben Barrikaden zu stehen. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukrainer: innen verteidigen, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

3. Bürger:innenkrieg

Der dritte Aspekt ist der des innerukrainischen Bürger:innenkriegs. Das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und -russischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine genauso wie der Ausgleich zwischen den Nationalitäten im Vielvölkerstaat Ukraine wurden mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwendete zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und den Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war der letztlich auch bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedrohten Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine und auf der Krim vorprogrammiert. Der Kampf um Minderheitenrechte und Autonomie, der dort begann, war sicherlich berechtigt und musste von Sozialist:innen ebenso im Sinn des Selbstbestimmungsrechtes verteidigt werden. Allerdings wurde er letztlich vom russischen Imperialismus für seine Intervention und Annexionspolitik missbraucht.

In der gegenwärtigen Situation ist diese Frage daher der des Selbstverteidigungsrechts der Ukraine untergeordnet. Andererseits wird keine Lösung des Konflikts zentral auch um den Status von Donbas(s) (Donezbecken), Luhansk und der Krim herumkommen. Dabei wird auch die Heuchelei aller „Verteidiger:innen des Völkerrechts“ klar, die betonen, die Ukraine müsse um jeden Preis in ihren ursprünglichen Grenze, also sogar mit Eroberung der Krim wiederhergestellt werden. In den genannten Regionen gibt es historische und ethnische Gründe, die durchaus dafür sprechen, dass die Bevölkerung dort selbst bestimmen können sollte, in welchen Grenzen sie zukünftig leben will – ob in der Ukraine, Russland, als autonome Region bei einem von beiden, selbstständig etc.

Die Fetischisierung bestehender Grenzen erwies  sich bei von Nationalitätenkonflikten gebeutelten Grenzregionen noch nie als Frieden stiftend. Es ist auch eine ziemliche Heuchelei, wenn heute gegen eine Lostrennung der Krim von der Ukraine das Völkerrecht ins Spiel gebracht wird, im (ebenso berechtigten) Fall des Kosovo gegenüber Serbien jedoch nicht. Hier zeigt sich letztlich, dass es dem westlichen Imperialismus nicht um das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker geht, sondern um den Sieg ihres nationalistischen Stellvertreterregimes unter Inkaufnahme einer brutalen Unterdrückung der russischen Minderheit. Daher müssen Revolutionär:innen auch in der Ukraine deutlich machen, dass die Zukunft der sog. Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein! Zugleich verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht für die Krim und die „Volksrepubliken“.

4. Westlicher Imperialismus

Der vierte Aspekt des Krieges ist die massive Unterstützung des westlichen Imperialismus für die Ukraine, die ihn de facto zu einem Stellvertreterkrieg macht. Angefangen bei den USA sprechen auch alle deren Verbündeten von einem „Krieg der Demokratie“ gegen den „Autoritarismus“. Wenn also aus bestimmten Gründen keine direkte Beteiligung von NATO-Verbänden gegeben ist, so ist doch sowohl der Wirtschaftskrieg gegen Russland wie auch das Ausmaß ökonomischer, logistischer und waffentechnischer Unterstützung von bisher nicht gesehenem Umfang in einem solchen Konflikt.

Die Ukraine, die vor dem Krieg praktisch zahlungsunfähig war, erhielt im ersten Kriegsjahr Hilfspakete und Waffen im Umfang von zwei Dritteln ihres Sozialprodukts – praktisch täglich die Summe an Unterstützung, die zu Hochzeiten jährlich in Afghanistan investiert wurde. Sie stellt sogar die der USA für Israel in den Schatten. Dabei werden nicht einfach nur Waffen geliefert. Die ukrainische Armee wurde und wird systematisch an neuen Waffensystemen technisch und taktisch ausgebildet ebenso wie offensichtlich die modernsten Kommunikationssysteme zur Gefechtsunterstützung umstandslos zur Verfügung gestellt werden.

Ziemlich unverhohlen werden nachrichtendienstliche Erkenntnisse über den Gegner sofort an die Ukraine weitergeleitet wie auch Taktik und Strategie mit Militärberater:innen aus den NATO-Stäben abgestimmt. Über Ringtausche ist die Bewaffnung der Ukraine dabei auch ganz klar in Aufrüstungsprogramme aller NATO-Staaten, auch der Bundesrepublik, einbezogen. In Kombination mit den Wirtschaftssanktionen, die ähnlich der alten Kriegstaktik der „Kontinentalsperre“ wirken sollen, kann man mit voller Berechtigung davon sprechen, dass der westliche Imperialismus den ukrainischen Verteidigungskrieg dazu benützt, den russischen Imperialismus per Stellvertreterkrieg entscheidend zu schwächen. Dies entspricht der langfristigen globalen Strategie der USA, die gegenüber China und Russland als globalen Hauptkonkurrenten entwickelt wurde. Der Ukrainekrieg wurde da als günstige Gelegenheit ergriffen, um die EU-Imperialist:innen ebenso auf diese Konfrontation einzuschwören und Russland als Hauptverbündeten Chinas auf Jahre in die zweite Reihe zu verbannen.

Es scheint aber auch so zu sein, dass die USA nicht zu unbeschränkter Unterstützung der Ukraine bereit sind. Die umstrittenen Äußerungen des US-Generalstabschefs (CJCS) Mark A. Milley, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen könne, kann wohl als Ausplaudern der Pentagonstrategie verstanden werden: Wenn die USA wollten, könnten sie natürlich solche militärische Unterstützung leisten, die den Krieg längst beendet hätte – aber das ist wohl nicht bezweckt. Sie wollen offenbar Russland aufgrund seiner geostrategischen Bedeutung nicht gänzlich zum Zerfallskandidaten machen und andererseits auch nicht in Europa neue militärische Rivalen entstehen lassen. Insofern nimmt man im Pentagon wohl gerne einen langwierigen, blutigen Stellungskrieg in der Ukraine in Kauf, der Europa und Russland auf lange Sicht als globale Rivalen schwächt.

Von daher müssen wir in den westlichen imperialistischen Staaten gegen diesen Missbrauch des Verteidigungskrieges der ukrainischen Bevölkerung und seine blutige Verstetigung als Stellvertreterkrieg protestieren. Wir müssen daher auch gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland Stellung beziehen, da sie nicht getrennt werden können von den Aufrüstungsprogrammen der NATO und dem globalen Konflikt, der hier mithilfe der Ukraine geführt wird. Auf globaler Ebene ist dieser Aspekt das dominierende Element, auch wenn dies nicht bedeutet, dass deshalb der Kampf um Selbstverteidigung in der Ukraine keine Berechtigung hätte. Alle Waffenlieferungen an sie, ob über Ringtausche oder direkt, sind einerseits ganz klar mit eigenen Rüstungsprojekten, dem Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie und deren Profiten verbunden, andererseits an die US-Strategie zur Niederringung der chinesischen und russischen globalen Rivalen gekettet. Ebenso müssen wir die ukrainischen Arbeiter:innen davor warnen, dass die große Hilfe aus „dem Westen“ nicht ohne Kosten für sie daherkommen wird. Die Rechnung dafür wird genau ihnen und den Ärmsten präsentiert werden, die dafür mit Überausbeutung in Sonderaufbauprogrammen der westlichen Imperialist:innen für ihre neue Halbkolonie bezahlen werden.

5. Weltkriegspotential und das Verhältnis der verschiedenen Dimensionen des Krieges zueinander

Schließlich beseht der fünfte Aspekt des Krieges darin, dass er jederzeit das Potential birgt, zu einer unmittelbaren Konfrontation zwischen Russland und der NATO – also zu einem offenen Weltkrieg – zu eskalieren. Durch die Art der Unterstützung des Westens für die Ukraine ist dies zwar angelegt, aber bisher noch nicht Realität geworden. Die ukrainische Führung und einige osteuropäische und baltische Staaten sind an sich für eine „Endlösung der russischen Bedrohung“ und tun viel dafür, dass die Bereitschaft dazu im Westen wächst. Andererseits stellt die russische Führung ebenso den Westen bereits als kriegsführende Partei dar und deutet bei ungünstigem Verlauf auch die Möglichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen an – was wahrscheinlich rasch zu Gegenschlägen führen würde.

Diese mögliche Eskalation wird auch von einigen Linken als Grund genannt, den Ukrainer:innen de facto zu raten, möglichst rasch zu einem Waffenstillstand zu kommen. Eine zynische Position: Insofern müsste dann in jedem Konflikt mit imperialistischen Mächten eigentlich sofort kapituliert werden, weil ansonsten vielleicht ein Welt- oder Nuklearkrieg drohen. Angesichts der globalen Zuspitzung der imperialistischen Gegensätze und dem beginnenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt erweist sich der Pazifismus als hoffnungslos desorientiert. Nur internationaler Klassenkampf zur Zerschlagung, Entwaffnung der mörderischen Arsenale, Aufdeckung und Bekämpfung der räuberischen Absichten aller Seiten kann den drohenden Weltkrieg tatsächlich abwenden.

Den Charakter eines Krieges unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen, würde zu einem schweren Fehler führen. Viele Linke kommen heute zu dem Schluss, dass die Invasion eines halbkolonialen Landes wie der Ukraine durch eine imperialistische Macht mit dem Ziel, es zu einer Kolonie Russlands zu machen oder zumindest große Teile seines Territoriums zu annektieren, reaktionär ist und deshalb die Unterstützung der Ukraine durch die NATO in Form einer beispiellosen wirtschaftlichen und militärischen Hilfe ebenfalls gerechtfertigt und fortschrittlich sein muss.

Dabei wird aber die Tatsache ignoriert, dass die Intervention der NATO nicht durch demokratische Ideale motiviert ist, sondern durch den Wunsch, Russland als ihren imperialistischen Rivalen auf der Weltbühne zu schwächen und es so unfähig zu machen, die USA auf Schauplätzen wie dem Nahen Osten und Afrika südlich der Sahara herauszufordern. Andere Motive Washingtons waren, die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Russland zu sabotieren und China eine Warnung vor seiner unverminderten militärischen Macht und anhaltenden wirtschaftlichen Dominanz zu senden. Kurz gesagt, die demokratische Rhetorik der NATO ist nur eine zynische Tarnung, um Handlungen zu rechtfertigen, die ausschließlich durch ihre imperialistischen Eigeninteressen motiviert sind.

Die Entwicklungen, die zu dem reaktionären Einmarsch Russlands geführt haben, bestätigen in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht nur um einen Krieg der Landesverteidigung handelt, sondern auch der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluss der NATO selbst ein entscheidender Faktor ist und zu einem zwischenimperialistischen Krieg von beispielloser Zerstörungskraft für die Menschheit führen könnte.

Angesichts einer Weltlage, in der multiple Krisen und der zunehmende Kampf um die Neuaufteilung der Welt viele solch komplexer Situationen wie den Ukrainekrieg hervorrufen (z. B. Taiwan), ist es notwendig, dass die Linke zu einer programmatisch klaren sozialistischen Antikriegsposition findet. Diese kann nicht in abstrakt allgemeinen Formeln bestehen und muss sowohl die gegenwärtige Weltlage wie auch die konkreten Analyse der Kriegssituation beinhalten. Im gegenwärtigen Moment bedeutet das die Anerkennung des Rechts auf Selbstverteidigung der Ukraine bei gleichzeitiger Bekämpfung des Eingreifens der westlichen Imperialist:innen, die diesen Konflikt zur Niederwerfung ihres Konkurrenten nutzen.

Die Grundlinien einer solchen Positionsfindung müssen also beinhalten: Unterstützung der Antikriegsopposition in Russland und Umwandlung des Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des russischen Imperialismus; Verteidigung der Ukraine bei gleichzeitigem Aufzeigen des reaktionären Charakters der Führung des Kampfes, Verweigerung jeder politischen Unterstützung seines Missbrauchs als Stellvertreterkrieg; Verurteilung und Bekämpfung der Aufrüstungspolitik in den NATO-Staaten und des Missbrauchs der Waffenlieferungen an die Ukraine als Mittel zur Führung eines Stellvertreterkrieges; Aufbau einer Antikriegsbewegung, die sich der wachsenden Gefahr eines neuen Weltkriegs bei weiter wachsenden Atomwaffenarsenalen entgegenstellt.




Nein zum Panzerpakt!

Martin Suchanek, Infomail 1211, 26. Januar 2023

Einmal mehr ist Kanzler Scholz eingeknickt. Und das nicht zum ersten Mal. Seit Monaten trommelten nicht nur die oppositionelle CDU/CSU, sondern auch Grüne und FDP dafür, endlich auch Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken.

Nun haben auch Scholz und die SPD zugestimmt. Notdürftig wird das Nachgeben als „umsichtige“ Abwägung verkauft, als Teil eines „Panzerpakts“ mit den USA und allen anderen Verbündeten. Dass die USA der Lieferung von Abrams-Tanks auch nur widerwillig und gegen das Pentagon zugestimmt haben, macht die Sache nicht besser.

Zur Zeit wird davon ausgegangen, dass Berlin und die anderen europäischen NATO-Verbündeten insgesamt 90 Leopard-Panzer liefern. Hinzukommen sollen 31 US-amerikanische Abrams (plus 14 britische Challenger 2). Wann diese genau ankommen werden und wie sehr sie den Krieg wirklich beeinflussen, ist zwar offen.

Klar ist aber, dass die Entscheidung einhergeht mit der allgemeinen Aufrüstung der NATO. Schließlich sollen die Bundesrepublik und die anderen NATO-Staaten die Leopard-Panzer nicht einfach abgeben, sondern diese sollen durch modernere und kampffähigere neue Typen ersetzt werden. Deutsche und andere Waffen und Truppenverbände sollen zur Stärkung der NATO-Truppen beschafft werden. Milliardenaufträge also für die Rüstungsindustrie. Und angesichts von Milliarden für den Verteidigungshaushalt und Sondervermögen für die Bundeswehr werden diese nicht die letzten sein.

Der berechtigte Widerstand der Ukrainer:innen gegen den russischen, imperialistischen Angriff und die Besatzung bildet für die Entscheidung letztlich nicht die Grund, sondern die ideologische Rechtfertigung. Für die NATO, für die USA, die Bundesrepublik und alle anderen westlichen Verbündeten, stellt die Selbstverteidigung der Ukraine nur einen wohlfeilen Vorwand zur Verfolgung ihrer eigenen geostrategischen Interessen der: die Ausdehnung der eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessenssphäre und der Zurückdrängung des russischen imperialistischen Rivalen.

Mögen sich auch viele Ukrainer:innen (nicht nur die Regierung) über die Waffen freuen, so seien sie gewarnt. Ihre westlichen Verbündeten liefern sie nicht selbstlos, sondern aus eigenen, imperialistischen Motiven.

Für die NATO-Staaten fungiert die Ukraine als Stellvertreter, als Vorposten in einem größeren globalen Konflikt, im innerimperialistischen Kräftemessen um die Neuaufteilung der Welt. Dieser wird schließlich nicht nur politisch und militärisch, sondern auch als Wirtschaftskrieg ausgetragen mittels von Sanktionen. Dass dieser die Inflation und die globale ökonomische Krise befeuert, wird billigend und durchaus bewusst in Kauf genommen.

  • Nein zum Panzerpakt der Regierung und der NATO-Staaten! Nein zu den Sanktionen! Nein zur Ukraine-Politik der Bundesregierung!



Boris Pistorius wird Minister – Zeitenwende im Verteidigungsministerium

Martin Suchanek, Infomail 1211, 17. Januar 2023

Nach dem Rücktritt der unglücklichen, weil etwas aus der Zeit gefallenen Ministerin Lambrecht, vollzieht Kanzler Scholz nun auch auf personalpolitischer Ebene die Zeitenwende zu Militarisierung und Aufrüstung des deutschen Imperialismus.

Trotz massiver Budgetsteigerungen, 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr,  Rekordaufträgen für die Rüstungsindustrie ging bisher alles zu langsam, zu bürokratisch, zu wenig enthusiastisch. Lambrecht stand an der Spitze eines gigantischen Aufrüstungs- und Militarisierungsprojekts wider Willen. Sie vertrat dabei nicht nur sich, sondern auch jenen Flügel der SPD, dem die westliche Kriegspolitik im Kampf um die Ukraine nicht ganz geheuer war und ist. Als Getriebene, nicht Treibende vollzog sie die Wende. Eine Person, die zwar alles mitträgt, aber letztlich zum Jagen getragen werden muss, passt nicht mehr zum Zeitgeist.

Nun sind andere Männer und Frauen gefragt. Noch vor dem offiziellen Rücktritt von Lambrecht formulierte der Bundeswehrverband, welche Eigenschaften und Fähigkeiten von der Spitze des Ministeriums in Kriegszeiten erwartet werden (und welche implizit Lambrecht abgesprochen wurden): Sachkompetenz, Reformwilligkeit, parteiübergreifende Anerkennung, Motivation, die Bundeswehr rasch voranzubringen, Kommunikationsfähigkeit.

Gedient müsse die Person nicht haben, Militärexpert:in müsse sie auch nicht sein, umso bereitwilliger müsse sie sich aber die Zielsetzungen der Truppe und NATO zu eigen machen. Sie müsse diese entschlossen und glaubwürdig vertreten, neue Geldquellen erschließen, die Modernisierung und Anschaffung neuer Waffensysteme voranbringen, soldatisch-freudig eine Führungsrolle im Kampf für „unsere“ Interessen annehmen.

Entspricht Pistorius diesen Wünschen? Wahrscheinlich. Als niedersächsischer Innenminister seit 2013 und als rechter Sozialdemokrat hat er sich als „Sicherheitspolitiker“ schließlich einen Namen gemacht. Wie nur wenige in der SPD steht er für Law and Order. In den letzten 10 Jahren setzte er sich unter anderem für folgende Forderungen ein oder machte sich für diese stark:

  • Überwachung islamischer Vereine, natürlich, um fein säuberlich zwischen schlechten Islamist:innen und guten Gläubigen unterscheiden zu können.

  • Verbot islamischer Vereine.

  • Abschiebung sog. Gefährder:innen und „krimineller Flüchtlinge“.

  • Stärkere Finanzierung von Polizei und Ausweitung von überwachungsstaatlichen Rechten wie z. B. Vorratsdatenspeicherung und Kontrolle des Internets.

  • Deutliche personelle Stärkung der Bundespolizei und ihrer Kompetenzen.

  • Errichtung einer EU-Polizei nach dem Vorbild des FBI.

  • Aufbau einer europäischen Grenzpolizei zum Schutz des Schengenraums.

  • Verbot von Antifagruppierungen und stärkere Verfolgung des „gewaltbereiten Linksextremismus’“.

Natürlich. Der Ausbau und die Modernisierung der Bundeswehr, die Popularisierung und Rechtfertigung des zunehmen Militarismus und einer imperialistischen Außenpolitik stellen andere „Herausforderungen“ dar als der Posten des hannoverischen Innenministeriums. Doch was reaktionären, staatspolitischen Enthusiasmus und ein aktives Verfolgen dieser Ziele betrifft, bringt Pistorius genau jene „Reformwilligkeit“, jene „Kompetenz“, jene „Motivation“ und Hingabe an die Truppe mit, die der Bundeswehrverband einfordert.

Die vereinigten Militarist:innen und Imperialist:innen Deutschlands können zufrieden sein. Boris Pistorius entspricht ihrem Anforderungsprofil und einer Zeitenwende zu mehr Konkurrenz und Krieg.




2022 – ein Jahr des Kriegs um die Ukraine

Martin Suchanek/Markus Lehner, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Der Krieg um die Ukraine markiert eine entscheidende Veränderung der Weltlage. Der sich seit Jahren entwickelnde Antagonismus zwischen den tradierten westlichen imperialistischen Mächten, also allen voran den USA und ihren Verbündeten, sowie China und Russland als globalen Konkurrenten eröffnet ein neues Stadium im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

Zurzeit wird dieser vor allem auf dem Boden der Ukraine und in Form eines Wirtschaftskrieges ausgefochten. Der reaktionäre Überfall Russlands, die offene Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der ukrainischen Nation, die Leugnung von deren Existenz sowie die barbarische Kriegsführung stellen ohne jeden Zweifel einen Akt der imperialistischen Aggression dar, der das ukrainische Nationalgefühl gestärkt hat.

Charakter des Krieges

Für sich genommen wäre der Kampf gegen die russische Invasion ein gerechtfertigter nationaler Verteidigungskrieg – und zwar unabhängig vom reaktionären Charakter des Kiewer Regimes. Das politische Regime einer Halbkolonie stellt für Marxist:innen nicht den entscheidenden Faktor für die Bestimmung des Kriegscharakters dar (so war die Verteidigung des Irak oder Afghanistans gegen die imperialistische Invasion gerechtfertigt und unterstützenswert trotz des extrem reaktionären Charakters der Regime in Bagdad oder Kabul).

Umgekehrt stellt es eine Verkürzung dar, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Warum Ukraine?

Dass sich der Kampf zwischen dem Westen und Russland gerade um die Ukraine zuspitzte, stellt keinen Zufall dar. Vielmehr ist dieser selbst Resultat der Entwicklung seit dem Zusammenbruch des Stalinismus, dem Versuch der Errichtung einer neuen Weltordnung und dem schärfer werdenden Konflikt mit Russland seit dessen Rekonsolidierung als imperialistischer Macht unter Putin.

Die Zuspitzung rund um die Ukraine seit den 1990er Jahren kann nur in diesem Zusammenhang verstanden werden. Wie der Balkan vor 1914 hat sich dieser Konflikt schon lange als Pulverfass für einen potenziellen imperialistischen Krieg entwickelt. Sowohl als Vielvölkerstaat mit einer großen russischsprachigen Minderheit im Süden und Osten als auch durch die fortbestehenden Verbindungen ihrer Ökonomie mit Russland hatte sich die Ukraine nach 1991 zunächst in Abhängigkeit vom sich neu etablierenden russischen Imperialismus befunden – was sich auch in einem fragilen System aus west- und ostukrainischen politischen Kräften und Oligarch:innen niederschlug. Dagegen hatte sich insbesondere in der Westukraine eine starke nationalistische (bis rechtsextreme) politische Bewegung herausgebildet, die einer „prowestlichen“ Orientierung im Bruch mit der russischen Dominanz zum Durchbruch verhelfen wollte. Dies führte letztlich zum Bürgerkrieg, als wegen der Frage der EU-Assoziation durch die „Maidan-Bewegung“ das den bisherigen Kompromiss repräsentierende Regime Janukowytsch 2014 gestürzt wurde. Die Annexion der Krim und die Abtrennung der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk waren die Folge. Während die Führung der EU um Deutschland und Frankreich den Konflikt durch einen „Ausgleich“, in den Abkommen von Minsk, zu entschärfen suchte, waren die USA und die nationalistische Führung in Kiew von Anfang an gegen einen solchen neuen Kompromiss mit Moskau oder den Vertreter:innen der russischen Minderheit – und führten den Krieg seitdem unvermindert fort.

Interessen der westlichen Mächte

Warum kam es zu einer solch offensichtlichen Differenz zwischen den USA und Britannien mit dem Rest der EU? Für letztere war eine Einbindung Russlands, seines enormen Rohstoffpotentials und seiner militärischen Kapazitäten immer schon eine Option, um eine gewisse unabhängigere Rolle gegenüber der schwächer werdenden US-Hegemonie zu erlangen. Ihre Politik zielte darauf ab, den Ukrainekonflikt ähnlich wie denjenigen in Jugoslawien auf der Ebene von Abkommen und Handelsbeziehungen einfrieren zu lassen, damit sich die Spannungen zu Russland letztlich in Grenzen hielten.

Für die USA bildete dagegen die Ukraine einen strategischen Angriffspunkt auf das russisch-chinesische Bündnis, das sie seit langem als gefährlichen Hauptkonkurrenten in der Weltordnung ausgemacht hatten. Aufgrund der schlechten Performance der ukrainischen Armee 2014 begannen die USA und Britannien daher seit 2016 mit dem systematischen Aufbau einer schlagkräftigen ukrainischen Streitmacht. Die Ukraine, ein Land das seit 2015 praktisch bankrott ist, hochverschuldet und unter Schuldenregime von IWF-Paketen dahinvegetiert, gibt einen Großteil ihrer Einnahmen für Militärausgaben aus und erhielt dazu noch jährlich Militärhilfe aus dem Westen in Milliardenhöhe (allein von Anfang des Jahres bis zum Beginn des Krieges Rüstungsgüter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar). Damit konnten nicht nur wichtige Waffensysteme (Drohnen, Raketen, panzerbrechende Waffen, Luftabwehr etc.) mit entsprechender Ausbildung verbreitet werden, sondern es wurde auch eine Infrastruktur an Unterstützung geschaffen, von der Kommunikation über die Aufklärung (Satellitensysteme) bis zur strategisch-taktischen Führung.

Unterschied

Damit wird auch klar, dass sich der Krieg in der Ukraine wesentlich von solchen imperialistischer Armeen gegen Halbkolonien, wie etwa USA gegen Irak oder UK gegen Argentinien, unterscheidet. Es steht hier nicht deren hilflose, waffentechnisch hoffnungslos unterlegene Armee einem tausendfach militärtechnisch überlegenen Imperialismus gegenüber. Es handelt sich vielmehr um eine vom westlichen Imperialismus systematisch auf diesen Krieg vorbereitete und hochgerüstete, die für die Interessen ihrer Geldgeber:innen zu kämpfen hat. Mit Kriegsausbruch hat sich ihre Unterstützung nochmals vervielfacht. Dies nicht nur in Bezug auf Waffenlieferungen, sondern auch Aufklärung, Ausbildung, strategische Beratung und Wirtschaftshilfe.

Auch wenn sich die NATO-Staaten nicht offen am Kampf beteiligen, sind sie längst als Kriegspartei auch in die ukrainische Kriegsführung eingebunden. Den einzigen Grund, warum die Ukraine hier „stellvertretend“ handelt, bildet natürlich die Gefahr einer Ausweitung des Krieges zu einer direkten NATO-Russland-Konfrontation, die auch den Einsatz von Nuklearwaffen mit einbeziehen könnte.

Die Art und Weise, in der im herrschenden Demokratiekriegsnarrativ inzwischen die Gefahr einer Ausweitung des Kriegs und der Blockkonfrontation heruntergespielt wird, dient dazu, ein immer offensiveres und direkteres Eingreifen in der Ukraine zu rechtfertigen – letztlich mit dem Ziel, Russland militärisch und politisch zu besiegen. Dabei kann auch der Übergang zu einem begrenzten innerimperialistischen Krieg nicht ausgeschlossen werden. Schließlich ist die Logik der Ausweitung der Kriegshandlungen im aktuellen Konflikt direkt angelegt. Auch in diesem Sinn kann dieser Krieg nicht einfach als isolierter Konflikt betrachtet werden.

Beiwerk oder wesentliches Moment?

Zusätzlich besitzt die innerimperialistische Zuspitzung der Situation auch einen unmittelbar ökonomischen Aspekt. Die Wirtschaftssanktionen des Westens (Ausschluss aus SWIFT, Einfrieren der internationalen Devisenreserven der russischen Zentralbank, Aussetzen der Aktivitäten westlicher Konzerne in Russland, weitreichende Handelseinschränkungen etc.) sind tatsächlich von einem historisch noch nie gesehenen Ausmaß (nicht einmal in den bisherigen Weltkriegen).

Der Grad der westlichen Unterstützung stellt also nicht bloß ein Beiwerk bezüglich des Krieges dar, sondern ein wesentliches, für seinen Charakter entscheidendes Moment. Natürlich finden wir auch bei zahlreichen Kriegen einer Halbkolonie gegen eine imperialistische Macht oder ein imperialistisches Staatenbündnis oft eine Intervention einer konkurrierenden Macht auf Seite der unterdrückten Nation vor. Doch diese trägt dabei meist nur einen episodischen, untergeordneten Charakter, der den des Krieges nicht ändert.

Doch dies nimmt keinesfalls in jedem Krieg zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie einen untergeordneten Aspekt ein. Im imperialistischen Krieg ist dies am deutlichsten. So bestand z. B. bei den Ländern des Balkans im 1. Weltkrieg kein Zweifel, dass das nationale Moment einen untergeordneten Charakter trug, eine Politik der nationalen Verteidigung Serbiens eindeutig reaktionär gewesen wäre und daher in Serbien und anderen Balkanstaaten eine Politik des revolutionären Defätismus notwendig war.

Im Krieg um die Ukraine haben wir es zwar nicht mit einem offen erklärten Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten zu tun, aber die westlichen Mächten, allen voran die USA, bestimmen wesentlich die Kriegsführung und -ziele der Ukraine mit. Es wäre mechanisch, aus der Tatsache, dass NATO-Truppen nicht direkt und offen im Land agieren, zu schließen, dass deren Intervention einen untergeordneten Stellenwert annehme (siehe oben).

Der Kriegsverlauf hat diese Einschätzung und politische Schlussfolgerung bestätigt. Zugleich müssen wir festhalten, dass revolutionäre Politik in diesem Krieg unterschiedliche Formen in Russland, in den westlichen NATO-Staaten und in der Ukraine selbst annimmt.

Für die Niederlage des russischen Imperialismus!

Russland ist eine imperialistische Macht. Die Politik des revolutionären Defätismus greift hier am deutlichsten von allen kriegführenden Staaten. Niederlage und Rückschläge Russlands können die Revolution stimulieren und die Herrschaft Putins erschüttern. Das entscheidende Ziel ist die Umwandlung des reaktionären Kriegs in einen Klassenkrieg zu seinem Sturz und zur Errichtung einer Arbeiter:innenregierung. Unmittelbar geht es in Russland darum:

  • Entlarven des imperialistischen Charakters des Kriegs und der Kriegsziele Russlands.

  • Rückzug der russischen Armee.

  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine.

  • Auflösung der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit).

  • Kampf für demokratische Rechte, gegen die Abwälzung der Kosten auf die Massen (Kontrolle über Verteilung der Güter, Enteignung von Betrieben).

  • Aufbau einer Bewegung, die sich auf Aktionsausschüsse in Betrieben und auf Wohnviertel des Proletariats stützt.

Aktionen gegen den Krieg. Antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee sind essentiell, um die Revolution vorzubereiten.

Die Entscheidung Putins, mit Pseudoreferenden die Bezirke Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson zu annektierten, stellt zusammen mit der Teilmobilisierung von 300.000 Reservist:innen in Russland einen reaktionären Verzweiflungsakt dar, der zugleich aber auch seine Schwäche zum Ausdruck bringt.

Aufgrund der militärischen Niederlagen, der drohenden Einberufung von Hunderttausenden, die in der Ukraine als Kanonenfutter verheizt werden sollen, und der prekären ökonomischen Lage wird sich die Lage in Russland massiv zuspitzen. Aber das hängt wesentlich auch davon ab, wie sehr und stark die nationalistische Propaganda wirkt bzw. diese aufgrund von politischen, militärischen und ökonomischen Erschütterungen in Frage gestellt wird.

Die Unterstützung antiimperialistischer, internationalistischer Kräfte in Russland ist dabei essentiell, um den Aufbau einer revolutionären Organisation im Land voranzubringen.

Revolutionäre Politik in der Ukraine

Hier ist die Lage wohl am schwierigsten – sowohl für die Massen, die Opfer der Invasion, wie für die Taktik, weil einerseits der innerimperialistische Konflikt auch eine prägende Rolle spielt, andererseits auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung existiert. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine verteidigen, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

Es geht v. a. darum, die Kriegsziele Russlands – Verhinderung der militärischen, weniger der ökonomischen Integration der Ukraine in den Westen (NATO, Neutralität, Sicherheitsgarantien) sowie Eroberung von Donezk, Luhansk und der Südukraine (und sei es als Faustpfand für mögliche zukünftige Verhandlungen) – zu begreifen. Dem stehen die v. a. der USA und damit der NATO sowie der ukrainischen herrschenden Klasse und Regierung entgegen.

Diese wollen eine volle Westintegration (NATO, EU, … ) und das Zurückdrängen Russlands aus der gesamten Ukraine einschließlich der sog. Volksrepubliken und der Krim auch auf Kosten eines langwierigen Krieges. Eigentlich besteht in der Westbindung der Kern der „nationalen Selbstbestimmung“ der ukrainischen Bourgeoisie. Es ist kein Zufall, dass ihre Kriegsziele im wesentlichen deckungsgleich mit jenen des Westens und v. a. der USA sind – einschließlich der Tatsache, dass sie die Gefahr einer Entwicklung zum vollen imperialistischen Krieg billigend in Kauf nimmt, ja geradezu fordert.

In der Ukraine schließt das jedoch den Kampf gegen die Okkupation keineswegs aus. Es wäre selbstmörderisch zu erklären, dass die Frage, ob russische Panzer und Flugzeuge ganze Städte plattmachen, keine Bedeutung hätte. Aber zugleich darf und kann es kein Zurückstellen des Klassenkampfes gegen die reaktionäre Regierung geben. Zentrale Elemente revolutionärer Politik müssen Folgendes umfassen:

  • Agitation, revolutionäre Propaganda, die den Charakter des Krieges enthüllen, nicht nur Russland und die NATO/USA/EU angreifen, sondern auch die Kriegsziele der ukrainischen Regierung verdeutlichen.

  • – Forderung nach wirksamem Schutz, Verteidigung der Zivilbevölkerung durch Regierung und Armee.

  • Kampf um Kontrolle von Waffen und knappen Versorgungsgütern in Betrieben, Städten, Dörfern, wenn möglich auch Aufstellung von Milizen.

  • Antimilitaristische und antiimperialistische Agitation in und gegenüber der russischen Armee; Kampf gegen die Festigung der Okkupation.

  • Kampf gegen die Einschränkung demokratischer Rechte und Angriffe auf das Arbeitsrecht durch das Kiewer Regime.

Außerdem müssten wir in der Ukraine deutlich machen, dass die Zukunft der sog. Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein! Zugleich verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht für die Krim und die „Volksrepubliken“ (inkl. ihres Rechts auf Anschluss an Russland oder Eigenstaatlichkeit).

Keinen Fußbreit der NATO!

In den westlichen imperialistischen Staaten und ihren Unterstützer:innen kommt es darauf an zu verhindern, dass sie bzw. die NATO weiter in den Krieg „schlittern“, aus der weiteren Zuspitzung des Konflikts ein offener imperialistischer oder ein neuer Kalter Krieg resultieren und ein globales Sanktionsregime durchgesetzt wird.

D. h., nicht nur die Frage der Kosten, der Angriffe auf demokratische Rechte usw. zu stellen, sondern auch zu erklären, warum die westlichen Staaten nicht „Demokratie“ und Menschenrechte verteidigen, sondern eigene imperialistische Interessen verfolgen.

Dies ist essentiell, weil sich nur so die Ablehnung von Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Verlagerungen an die Ostgrenzen, massive Waffenlieferungen durch die Regierung oder „begrenzten“ Flugverbotszonen schlüssig begründen lässt. Der Verweis darauf, dass NATO-Politik, Aufrüstung und Sanktionen teuer sind, trägt einen schalen Beigeschmack, wenn die Kriegsziele der NATO-Staaten – Verteidigung der Unterdrückten – gerecht erscheinen. Es müssen daher auch Kriegsziele und Klassencharakter der imperialistischen Politik entlarvt werden.

Zentrale Losungen in den westlichen imperialistischen Staaten sind:

  • Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen, Waffenlieferungen! Gegen die Ausweitung der NATO, für den Austritt daraus!

  • Keinen Cent für die imperialistische Politik! Abwälzung der Kosten, Preissteigerungen usw. auf die Herrschenden! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Notprogramm für Erwerbslose, Rentner:innen, Niedriglöhner:innen, Übernahme gestiegener Wohnungskosten durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle an dem Ort, wo sie leben wollen – finanziert durch den Staat! Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!

  • Bei direkter Intervention (z. B. Errichtung von Flugverbotszonen, Entwicklung neuer Brandherde im Baltikum): politischer Massenstreik gegen den Krieg!

  • Ablehnung jeder Burgfriedenspolitik!

Dies ist nicht nur für den Klassenkampf in den imperialistischen Ländern und anderen NATO-Staaten entscheidend. Zugleich müssen so die fortschrittlichen Bewegungen und Organisationen in Russland wie in der Ukraine gestärkt werden, indem deutlich gemacht wird, dass die Arbeiter:innenklasse eine unabhängige Politik verfolgt, die die Hauptfeindin in der eigenen Bourgeoisie erkennt.

Weitere Entwicklung

Die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird ein entscheidender Faktor für die Weltpolitik der kommenden Monate, wenn nicht Jahre. Es ist durchaus möglich, dass es in den nächsten Monaten und vor allem in Winter 2022/23 zu einer Befestigung aktueller Stellungen kommt. Andererseits wird Russland auf keinen Fall eine Rückgabe der besetzten Gebiete ohne substantielle Zugeständnisse der NATO akzeptieren. Diese sind im Gegenzug äußerst unwahrscheinlich.

Die Tatsache, dass die internationale ökonomische Isolierung Russlands durch NATO und G7 auf massive Schwierigkeiten trifft und sich nicht nur China, sondern auch große halbkoloniale Volkswirtschaften weigern, die Embargos voll mitzutragen, hat mehrere Ursachen. Erstens ist die Unterstützung für Sanktionen und einen Stellvertreter:innenkrieg gegen Russland in den Halbkolonien sehr viel schwächer, wenn überhaupt vorhanden. Die demokratisch-imperialistische Ideologie des Westens greift dort weitaus weniger. Zweitens drücken sich darin aber auch die Erschütterung der US-Hegemonie und eine Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses aus. Daher können die Sanktionen gegen Russland gerade für die EU-Staaten zu einem wirtschaftlichen Bumerang geraten.

Angesichts der Bedeutung des Krieges um die Ukraine und des Wirtschaftskriegs gegen Russland ist jedoch trotz dieser offenkundigen Schwierigkeiten ein Einlenken beider Seiten alles andere als sicher.

Zum anderen machen der Krieg, die Sanktionen und Tendenzen zur Fragmentierung des Weltmarktes in den kommenden Monaten eine tiefe ökonomische Krise, die sich in Form in Preissteigerungen, Verarmung und in den halbkolonialen Ländern sogar in Form von drohenden Hungerkatastrophen manifestieren wird, sehr wahrscheinlich. Der Krieg und Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese Krisentendenzen massiv verschärfen – und die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale auf die Tagesordnung setzen.