Entstehung und Charakter des Staates Israel

Teil 4 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 7, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1249, 23. März 2024

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: „Wie ist der israelische Staat entstanden und wie lässt er sich charakterisieren?“

Schon in unserer vergangenen Folge haben wir uns mit dem Zionismus und somit auch mit Israel befasst. Bevor wir uns in der kommenden Folge unserem Aktionsprogramm für den palästinensischen Befreiungskampf zuwenden, möchten wir heute noch mal genauer auf die Entstehungsgeschichte und den Charakter des Staates Israel eingehen.

Die Entstehung Israels lässt sich einordnen in die Periode der sogenannten „Dekolonialisierung“ nach dem Zweiten Weltkrieg – also der Ablösung der direkten Kolonialherrschaft durch indirekte postkoloniale Systeme, in welchen imperialistische Mächte noch immer durch politische und wirtschaftliche Mittel die halbkoloniale Welt in ihrer Knechtschaft halten. In unserer Folge zur Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus haben wir dabei eine historische Skizze zu den Auseinandersetzungen zwischen dem Assimilationsansatz, der marxistischen und der zionistischen Perspektive zum Kampf gegen die Unterdrückung von Jüdinnen und Juden präsentiert, die vor allem das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert prägten.

Existenzrecht des jüdischen Volkes

Ohne selbst eine imperialistische Macht darzustellen, fungiert Israel seit seiner Gründung im Mai 1948 als kapitalistisch organisierter Staat in dieser Entwicklung als willkommener „engster Verbündeter“ für westliche Imperialismen, um durch ihn Kontrolle über den Nahen Osten auszuüben und sich den Zugang zu wertvollen Rohstoffen zu sichern.  In diesem Sinne lässt sich Israel in seiner Entstehung als „letzte Siedler:innenkolonie des Westens“ bezeichnen, welche ohne die massive militärische und wirtschaftliche Unterstützung, insbesondere der USA, nicht überlebensfähig wäre. Der enorme Kapitalimport erlaubte in den 1950er und 1960er Jahren satte Gewinne, ohne zugleich wesentliche Teile der israelischen Arbeiter:innenklasse in die Überausbeutung zu drängen oder in besonderem Maße besteuern zu müssen, wie es in Halbkolonien meist der Fall ist. Viel eher stieg der Lebensstandard der jüdischen Bevölkerung parallel zur Akkumulation. Nichtsdestoweniger ist Israel kein imperialistischer Staat. Dafür ist er nicht einerseits ökonomisch zu schwach und andererseits kein unabhängiger Akteur, der der Welt seinen Stempel aufdrücken kann. Außerhalb des arabischen Raums spielt er im Weltgeschehen allenfalls eine Nebenrolle. Er ist vielmehr selbst eine besondere Halbkolonie insbesondere der USA und in gewissem Maß der EU geworden, der aus sich heraus einen fortgesetzten Neokolonialismus betreibt, ein besonderer imperialistischer Statthalter oder auch Brückenkopf. Über die vergangenen Jahrzehnte gibt es kein Land auf dieser Welt, das so umfassende Militärhilfe von den USA erhalten hat. Auch Deutschland hat beispielsweise seit dem 7. Oktober seine Waffenlieferungen an Israel verzehnfacht.

Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina sowie immer wiederkehrende Unruhen in der Region, die selbst ein Ergebnis der neokolonialen Abhängigkeit, Unterdrückung und imperialistischer Kriege sind, liefern der ständigen Präsenz der USA in der Region dabei den Vorwand.

Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung des israelischen Staates war, wie wir bereits in unserer vergangenen Folge thematisiert haben, der Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung welcher in die Schoa mündete. Ohne diesen tragischen Massenmord hätte der zionistische Ansatz, als scheinbare Alternativlosigkeit, niemals einen so großen Zuspruch unter Juden und Jüdinnen erreichen können. Jedoch, und das stellten wir in unserer ersten Folge heraus, eine Perspektive, die den Antisemitismus als überhistorisch gegeben akzeptiert und damit die Unterdrückung anderer rechtfertigt. Seit mehr als 70 Jahren hat sich auf dem Gebiet Palästinas eine israelische Nation herausgebildet, die ein uneingeschränktes Existenzrecht auf eben dieses beansprucht. Dieses Existenzrecht muss der dort lebenden jüdischen Bevölkerung uneingeschränkt zugestanden werden. Alles andere wäre äußerst reaktionär und entspräche auch nicht der Vorstellung, die wir von einer sozialistischen und säkularen Ein-Staaten-Lösung haben. Die Anerkennung der Existenz einer jüdischen Nation auf dem Territorium des historischen Palästina darf aber nicht verwechselt werden mit der Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel, welchen wir als rassistisches Projekt ablehnen. Dafür führen wir die kurze Definition des Verhältnisses von Nation und Staat aus der ersten Folge unserer Podcastreihe zum Antisemitismus an:

Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Nakba und Besatzungsregime

Nach wie vor sind es aber wesentliche Elemente, die Israel als zionistisches Projekt und unterdrückerisches Kolonialregime ausmachen und starke Tendenzen bis hin zum Völkermord an den Palästinenser:innen in sich tragen. Eines dieser Elemente ist das israelische Besatzungsregime, welches auf Grundlage der ethnischen Säuberung und der Vertreibung von 750.000 Palästinenser:innen errichtet wurde. Dies geschah entgegen der ursprünglich im UNO-Teilungsplan vorgesehenen gemeinsamen Verwaltung. Die arabische Bevölkerung hatte lediglich die Wahl, sich zu unterwerfen oder zu fliehen. Von ihr wird diese historische Tragödie als Nakba bezeichnet, was das arabische Wort für Katastrophe ist – ein Krieg von 1947 bis 1949. In der Nakba wurden 1948 78 % Palästinas erobert. Durch zionistische Milizen und die Armee wurden mindestens 750.000 Palästinenser:innen vertrieben, viele weitere flohen. Die Anzahl der arabischen Bevölkerung im von Israel beanspruchten Gebiet verringerte sich von etwa 1.324.000 1947 auf etwa 156.000 ein Jahr später. Der größte Teil der Menschen mit palästinensischer Herkunft lebt heute außerhalb der Gebiete Palästinas. So wird beispielsweise vermutet, dass etwa 60 bis 70 % der Jordanier:innen (insgesamt 4,5 Millionen) aus Palästina kommen oder palästinensische Vorfahren haben. Das UNRWA geht heute von etwa 5 Millionen palästinensischen Geflüchteten aus. Rund 1,5 Millionen von ihnen leben in den 58 Camps im Westjordanland, Gaza, aber auch Jordanien, Syrien und dem Libanon.

Bis heute ist es den palästinensischen Bürger:innen Israels verboten, der Nakba zu gedenken. Der Schrecken endete damals jedoch noch lange nicht: Im 6-Tage-Krieg 1967 schloss Israel die Besetzung aller verbliebenen palästinensischen Gebiete ab, indem die IDF das gesamte Westjordanland und Gaza einnahm und weitere 300.000 Menschen vertrieben wurden. Seitdem sind die Palästinensischen Autonomiegebiete unter eine de facto Kolonialverwaltung gesetzt worden. Dies widerspricht eindeutig der UNO-Resolution 242, welche seit 1967 das Ende der israelischen Kontrolle über die besetzten Gebiete verlangt.

Wie wir in unserer Folge zur historisch-materialistischen Perspektive über die Entstehung und den Charakter von Antisemitismus und Antijudaismus deutlich machten, beginnt die Geschichte nicht mit der Nakba, sondern bereits mit einem ungleichen Verständnis des Nationalstaatsbegriffs und seines Charakters zwischen der religiösen Aufladung und der bürgerlichen Epoche.

Ein weiteres Element, was Israel als Kolonialregime ausmacht, ist, dass es den Vertriebenen vehement das Recht auf Rückkehr verweigert. Alle in der Westbank, einschließlich Ostjerusalem, verbliebenen Araber:innen wurden unter besonderes Militärrecht gestellt, während für die dort lebenden Siedler:innen das israelische Zivilrecht gilt. Es ist auch der Siedler:innenkolonialismus, der zu einer anhaltenden Annexion in den besetzten Gebieten führt. Unterdessen ist die Zahl der jüdischen Siedler:innen, welche in der Westbank und in Ostjerusalem in festungsartigen Siedlungen leben, seit 2007 um 700.000 Menschen angestiegen. Als Siedler:innenkolonialismus wird die Kontrolle über ein Territorium bezeichnet, die nach Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch eine andere trachtet. Historische Beispiele sind neben Palästina beispielsweise auch Australien und die USA.

Die Spaltung der palästinensischen Bevölkerung, welche ein typisches Merkmal kolonialistischer Beherrschungspolitik ist, erinnert unweigerlich an das Apartheidssystem Südafrikas: Mehr als 50 Gesetze diskriminieren palästinensisch-israelische Bürger:innen in Bezug auf Landbesitz, Wohnen, Familienleben, Bildung und viele weitere Lebensbereiche. Den Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten werden jedoch schon die elementarsten Rechte verwehrt, auch wenn versucht wird, über diesen Umstand durch die Farce einer angeblichen Eigenstaatlichkeit hinwegzutäuschen. Anders als im südafrikanischen Apartheidssystem ist das zionistische Regime jedoch nicht in dem Maße auf arabische Arbeitskraft angewiesen – ein qualitativer Unterschied zwischen klassischem Kolonialismus und Siedler:innenkolonialismus. Insbesondere, als seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die sich bis dato größte Einwanderungsbewegung vollzog, ist Israel mit ausreichend, überwiegend russischer und ukrainischer, Arbeitskraft versorgt worden, welche hervorragend zur Ausbeutung dient.

Als 1996 die Osloer Friedensprozesse scheiterten, auch, da die zionistische Rechte den Siedler:innenkolonialismus als identitätsstiftendes Moment nicht aufgeben wollte, kam es zum Niedergang des säkularen zionistischen Lagers und es vollzog sich der Ausbau eines rein jüdischen Israel. Das sogenannte Palästinenser:innenproblem ließ sich aber nicht, wie von den Zionist:innen erhofft, einfach beseitigen. Spätestens seit dem 7. Oktober ist die Vision einer ethnischen Säuberung im Zionismus eine für viele akzeptable geworden. Bezeichnend dafür ist, dass der rechtsextreme Finanzminister der Regierung Netanjahu, Bezalel Smotrich, ganz offen formulierte, dass die verbleibende palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten sich entweder zu assimilieren oder das Land zu verlassen habe. Was er nicht sagt, ist, dass diese, wenn sie weder das eine noch das andere mit sich machen lässt, weiterhin mit fortgesetztem Krieg gegen sie zu rechnen hat.

Zionismus und Spaltungen

Landesweite Proteste und massiver Widerstand gegen die Justizreform der israelischen Regierung im vergangenen Juni zeigten, dass sich auch in der jüdischen Bevölkerung Ansätze zum Aufbegehren gegen den herrschenden Rechtszionismus regen. Leider war der Widerstand in Israel nicht bereit, seinen Kampf mit dem ihrer unterdrückten arabischen Klassengeschwister zu verbinden. Hier werden die Fehler deutlich, die auch der Linkszionismus begeht, indem er sich bisher nicht willens zeigte, eine wirkliche Konfrontation mit dem zionistischen Chauvinismus einzugehen. Seitens der israelischen Gewerkschaften hat es zwar darüber Auseinandersetzungen gegeben, in welchem Maß nicht-jüdische Arbeiter:innen ausgrenzt werden, aber die Histadrut als Dachorganisation der israelischen Gewerkschaften hat für das zionistische Projekt immer als gelbe Gewerkschaft durch ihren staatstragenden Charakter gewirkt. Die Histadrut wurde bereits 1920 von Linkszionist:innen gegründet, auch Labourzionist:innen genannt. Der Dachverband nahm damals eine entscheidende militärische, wirtschaftliche und politische Rolle im Kolonialisierungsprozess und in der Vertreibung der Palästinenser:innen ein. Statt die Klasseneinheit und Solidarität mit den palästinensischen Arbeiter:innen zu fördern, setzte er sich stattdessen für den Ausschluss und die Entrechtung derselben ein. Er kann demnach weniger als einfache Gewerkschaft eingeordnet, sondern muss vielmehr als ein Grundpfeiler des Kapitalismus in Israel verstanden werden. Die Klassendifferenzierung und Polarisierung in Israel zu unterdrücken und hinauszuzögern, ist ihr Vermächtnis. Somit ist aus einer proletarischen Klassenkampfperspektive klar, dass die Histadrut von der israelischen Arbeiter:innenklasse durch eine Gewerkschaft ersetzt werden muss, die allen Arbeiter:innen, unabhängig von ihrer Ethnie, Zugang zu ihren Strukturen gewährt. Letztlich ist es die Arbeiter:innenklasse, als einzige multi-ethnische Kraft in der Lage, die nationalistischen Spaltungslinien zu überwinden, oder wäre zumindest potentiell dazu imstande. Aber sie kann nur dann eigenständig als Kraft auftreten, wenn sich jüdische, palästinensische und migrantische Arbeiter:innen in gemeinsamen Kampforganisationen für ihre Interessen verbinden. Hierfür braucht es sowohl den Bruch mit dem Zionismus wie mit dem korrupten palästinensischen Nationalismus und reaktionären Islamismus. 

Im Laufe der vergangenen 75 Jahre haben die Jüdinnen/Juden Israels ihre ursprüngliche ethnische Verschiedenheit teilweise durch eine gemeinsame nationale Kultur ersetzen können. Ein wesentliches Element ihres Nationalbewusstseins ist jedoch durch ihre chauvinistische Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung geprägt. Dies bildet die Grundlage dafür, der zionistischen Erzählung, das Volk Israel sei das für Palästina bestimmte, Taten folgen zu lassen – also die Vertreibung der Palästinenser:innen aus der Region und ihre rein jüdische Besiedelung. Um überhaupt ein Nationalbewusstsein zu entwickeln, wurde einer anderen Ethnie ein solches Recht auf nationale Selbstbestimmung abgesprochen. Hinsichtlich der israelischen Nationalidentität gibt es jedoch auch ethnische und klassenspezifische Aspekte, die diese umfassende Identität spalten. Diese Spaltung vollzieht sich nicht nur zwischen israelischen Araber:innen und Juden/Jüdinnen, sondern auch innerhalb der israelisch-jüdischen Gemeinschaft:

So sind es die Aschkenasim, die das Land 1948 kolonialisiert haben, und daher auch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die privilegierten Positionen beziehen. Sie stellen die ansehnliche Arbeiter:innenaristokratie aber auch -bürokratie dar, die mittleren und leitenden Positionen der Staatsbürokratie und ihre Kultur wird als die vorherrschende betrachtet. Zudem werden über sie wichtige Verbindungen zu der in den USA und Europa lebenden, ökonomisch bedeutsamen jüdischen Gemeinschaft gehalten.

Seit der Staatsgründung war jedoch klar, dass es orientalische Jüdinnen und Juden braucht, welche als Arbeitskräfte für halbqualifizierte Berufe und niedere Arbeiten eingesetzt werden konnten. So holte man ebendiese gezielt ins Land, welche sich nicht wegen antisemitischer Verfolgung, sondern in der Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard in die unteren Reihen der israelisch-jüdischen Arbeitsgemeinschaft eingliederten. Durch die Besetzung des Westjordanlands 1967 wurden jedoch massenhaft arabische Arbeiter:innen in die israelische Wirtschaft integriert. Dies ermöglichte einer Vielzahl von Juden/Jüdinnen von der Position der Arbeiter:innnen in die der Kleinunternehmer:innen aufzusteigen und als solche arabische Beschäftigte unter sich zu vereinen. Alle Parteien sowie die jüdische Bourgeoisie sehen die Notwendigkeit, sich konjunkturell auch fortwährend mit arabischen Arbeiter:innen versorgen zu müssen, auch wenn dies tendenziell abnimmt. Letztlich ist nicht nur die israelisch-jüdische Gemeinschaft in sich gespalten, sondern auch die Gruppe der orientalischen Jüdinnen/Juden unterteilt sich ihrerseits in vier weitere Untergruppen, zwischen welchen tief verwurzelte Feindschaften herrschen. Auch hier gibt es eine ökonomische Schichtung.  
All diese Spaltungen, die von den weißen Aschkenasim maßgeblich gefördert werden, zeigen deutlich, dass die israelische Arbeiter:innenklasse, auch wenn sie von der Unterdrückung und Überausbeutung der arabischen Israelis profitiert, letztlich eine Verliererin in ihrem kapitalistisch organisierten Staat ist.

Daher legen wir euch auch unsere nächste Folge ans Herz, welche sich damit beschäftigen wird, was es braucht, um eine freie, säkulare und sozialistische Ein-Staaten-Lösung zu erkämpfen. Aber das ist eine andere Frage zur Lage der Klasse.




Marxistische Filmkritik: die Sissi-Trilogie

Felix Ruga, REVOLUTION, Infomail 1241, 3. Januar 2024

Dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, die Sissi-Trilogie aus den 1950er Jahren, die jedes Jahr im Wohnzimmer meiner Familie zur Weihnachtszeit läuft, mal etwas bewusster zu schauen, und konnte es zunächst kaum verstehen: Wie kann das eigentlich sein, dass gerade dieser Film zu so einem Weihnachtsklassiker geworden ist? Da geht es kein bisschen um Weihnachten! Aber irgendwie fühlt es sich doch stimmig an. Welche Bedürfnisse werden also bedient? Warum gehört der Film zur Weihnachtstradition doch einiger Familien in Deutschland?

Kurzer Überblick

In der Trilogie wird ziemlich frei das junge Leben der Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sissi und gespielt von Romy Schneider, nacherzählt. Im Grunde verläuft die Handlung entlang ihrem romantischen Verhältnis zu Kaiser Franz. Sie treffen 1853 zufällig aufeinander, während Sissi noch eine jugendliche Adlige in Bayern ist, und verlieben sich natürlich innerhalb weniger Stunden unsterblich ineinander. Damit beginnen dann die ganzen Konflikte des Films: Was ist mit der bereits arrangierten Ehe von Franz? Hat Sissi als niedere Adelige überhaupt das Zeug dazu, Kaiserin zu werden? Wie gewinnt Sissi das Herz des Wiener Hofs und gerade ihrer herrischen Schwiegermutter? Wie kriegen die beiden die Politik und ihre Liebe unter einen Hut? Kann Sissi die politischen Krisen im großen Kaisertum und Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn mit ihrer Forschheit, Cleverness und ihrem Charme lösen? Und dann wird sie auch noch schwanger! Das alles wird dann verhandelt auf Hofbällen, Ausflügen, dem Schloss oder in den vielen humorvollen bis melodramatischen Dialogen.

Damit hätte man schon den ersten Ansatz, was den Film so passend zu Weihnachten macht: Er ist auf mehreren Ebenen „leicht“. Zum einen wäre da natürlich das Filmische, also dass die Ästhetik kitschig und das Schauspiel übertrieben theatralisch ist, sodass man eigentlich immer sofort versteht, was bei den Charakteren so abgeht. Alle Rollen passen ins Gut-böse-albern-Schema. Zum anderen ist die Stimmung leicht, denn man kann den Film eigentlich gar nicht ernst nehmen. Immer, wenn es mal etwas schwerfälliger werden könnte, trampelt irgendein trotteliger Offizier herein oder der Film schneidet rüber zu den herzlich-komischen Eltern von Sissi. Alles wird getragen von der schnulzigen und reinen Romantik zwischen den Protagonist:innen. Kein Wort über die wahren Verhältnisse in der Ehe zwischen dem Kaiser, der seine damals 16-jährige Cousine heiratete oder Sissis ständiger Flucht vom Hof, Magersucht und „Melancholie“. Und letztendlich sind Sissis Adeligenprobleme für uns moderne Arbeiter:innen doch mehr als fremd und deswegen besonders leicht bekömmlich.

Die guade oide Zeit

So weit, so gewöhnlich. Solche seichte Unterhaltung ist so alt wie das Kino selbst und heute mit etwas anderer Ästhetik immer noch weitverbreitet. Um zu verstehen, was die Sissi-Trilogie für die Deutschen so betörend macht, muss man schauen, unter welchen Vorzeichen diese gedreht wurden. Die 3 Filme kamen 1955, 1956 und 1957 raus und lagen damals voll im Trend, denn da wurde eine Heimatschnulze nach der anderen gedreht. Nach der Befreiung Deutschlands von den Nazis kann man hier die Stimmung ablesen: Zum einen hegten die Deutschen immer noch die ideellen Werte von Heimat, Familie, Autorität und symbiotischer Einigkeit zwischen Volk und Staat, zum anderen wurde man jedoch besiegt, gedemütigt und so manche:r wird mit der eigenen Mitwirkung an den Untaten der Nazis konfrontiert, während ein Großteil gar nicht dran denken will. Heimatschnulzen klemmen sich in diesen Widerspruch besonders gut rein: oberflächlich unpolitisch, unkompliziert und unbeschwert, aber gleichzeitig wird die Romantisierung der ganzen alten Naziwerte betrieben.

Die Sissi-Trilogie hat dieses politische Unpolitisch-Sein gemeistert und das ist sicherlich ein entscheidender Grund, warum sie bis heute so ein großer Erfolg ist. Indem man nämlich in die romantisierte Darstellung einer längst vergangenen Zeit schlüpft, bricht man oberflächlich aus der kapitalistischen Modernität aus. Das wird durch den ganzen Kitsch noch weiter zementiert. Dazu werden antimoderne Wünsche befriedigt: Da wäre zum einen natürlich die fast schon skandalöse Idealisierung des Adels und Verniedlichung seiner Herrschaft. Da in dem Film fast ausschließlich Adelige oder deren unmittelbare Bediensteten auftreten, entsteht der Eindruck einer „Klassenlosigkeit“: kein Wort zu den heftigen Klassenkämpfen und revolutionären Bestrebungen zu dieser Zeit, keine Beachtung des anwachsenden Proletariats, der beraubten Bauern-/Bäuerinnenschaft von ihrem Land, am Rande werden mal die aufsteigenden Nationalbewegungen verhandelt. Vor allem geht es aber um die auf magische Weise wohlhabenden Adligen in ihren prunkvollen Sälen. Das gibt mehr als genug Raum für Eskapismus aus den Mühen des modernen Kapitalismus.

Zum anderen sind da die nationalistischen Gefühle, die dem Film zwar aus allen Poren triefen, aber nicht so plump wie im Nazi-Stil. Denn es geht im Film ja nicht um Deutschland, sondern „nur“ um das Habsburgerreich Österreich-Ungarn, was aber für Deutschnationale eigentlich ja auch nur verlorene Deutsche sind, und zwar genau zu einer Zeit, als dieses noch mächtig und groß war und diverse Länder unterjochen konnte. Dadurch wird die Sehnsucht nach der Zeit bedient, „als wir in der Welt noch wer waren“, ohne es so offensichtlich zu machen, dass man sich damit aktiv auseinandersetzen müsste. Das alles kulminiert in der Schlussszene der Trilogie: Venedig will sich vom Habsburgerreich emanzipieren und protestiert, indem dem Kaiserpaar bei der Ankunft nicht zugejubelt wird. Doch Sissi erwärmt mit ihrem Charme die Herzen der Venezianer:innen und die politische Krise ist abgewehrt. Zur Feier schmettert in voller Länge die deutsche Nationalhymne los. Aber zwinker, zwinker – es ist ja nicht wirklich die bundesdeutsche Nationalhymne, sondern Österreich hatte damals die gleiche Melodie! Ist ja nichts dabei, in Zeiten des geteilten Deutschlands die Nation zu beschwören. Alles nur geschichtliche Sorgfalt, nicht wahr?

Schuldige Unschuld und unschuldige Schuld

Zuletzt sollte man sich noch die ideologische Rolle der namensgebenden Protagonistin Sissi anschauen. Hier kann man die Interpretationen zwischen damals und heute etwas aufteilen. Sissi wird in dem Film als gutherzige, liebenswürdige, volksnahe, jugendlich-unschuldige Frau dargestellt, die zwar eigensinnig, aber doch irgendwie pflichtbewusst in die herrschenden Kreise aufsteigt. Mächtig, beliebt, unschuldig und irgendwie einzigartig in einer fremden Welt. Das ist der ferne deutsche Traum in der Nachkriegszeit und dementsprechend war Sissi damals eine besondere Identifikationsfigur.

Aber auch für das aktuelle Zeitenwende-Deutschland hält Sissi etwas bereit. Überhaupt, als weibliche und starke Protagonistin hat sie etwas Modernes. Sie ist eine Rebellin, aber nicht durch Wut oder Kampfeswillen, sondern weil sie einfach ein gutes Herz hat und ideelle Werte verkörpert und sich nicht an den althergebrachten Machtspielchen beteiligen, aber doch die Weltpolitik mitgestalten will. Eigentlich perfektes Spiegelbild der „wertegeleiteten“ Außenpolitik. Und beide sind doch nur Fassade und im Hintergrund bleibt das Streben nach Ordnung im nationalstaatlichen Interesse.

So lässt sich insgesamt auch erklären, warum der Film so ein Weihnachtsklassiker geworden ist: Er bedient über die historischen Perioden hinweg deutsche Träume, setzt sich dabei aber immer in einen unpolitischen und ungefährlichen Kontext und kann deswegen ganz gedankenlos geguckt werden. Wie immer in den Weihnachtsfilmen werden die guten alten Werte wie Familie, Treue und Nächstenliebe ganz großgeschrieben und das alles wird dann in eine ordentliche Portion Kitsch, Frohsinn und Romantisierung gepackt. Nostalgie dürfte das zentrale Moment des Films sein: Schon in den 1950er Jahren hat er eine nostalgische Vergangenheitsklitterung betrieben, heute ist der Film schon aus der Tradition heraus mit Nostalgie verbunden. Dementsprechend sollte man aber die Ideologie des Films als eine reaktionäre verstehen, denn sie ist rückwärtsgewandt im eigentlichen Sinne, will die modernen Probleme mit der Besinnung auf Altes bewältigen ohne eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Konsequenzen. Die Kälte, Konflikte und Widersprüche der kapitalistischen Moderne lassen sich nicht durch solche Beschönigungen lösen, was auch für fast alle weihnachtlichen Vorstellungen gilt. Das kann nur die Überwindung des Kapitalismus schaffen.




Bergkarabach: Nein zur Vertreibung der Armenier:innen!

Lina Lorenz, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Vor den Augen der Weltöffentlichkeit eroberte Aserbaidschan innerhalb weniger Wochen die seit Jahren umkämpfte armenische Enklave Bergkarabach im Südkaukasus. Damit endet ein seit Jahrzehnten andauernder Konflikt zwischen den beiden Staaten Armenien und Aserbaidschan mit einer blutigen Niederlage der Armenier:innen.

Innerhalb von nur zwei Wochen besiegte Aserbaidschan die Truppen der völkerrechtlich nicht anerkannten Republik Arzach, die 1994, nach dem ersten Krieg, von den armenischen Bewohner:innen Bergkarabachs proklamiert worden war.

Angriff und Eroberung

Am 19. September startete Aserbaidschan einen großangelegten Angriff auf die Region und griff die Stellungen der ethnisch-armenischen Kräfte in Bergkarabach an. Innerhalb weniger Tage  wurden die Streitkräfte der Republik Arzach geschlagen, ihre Stellungen vernichtet und die Übergabe ihrer Waffen erzwungen. Weder der Staat Armenien noch die 2.000 Personen starke russische „Friedenstruppe“ kamen ihnen zu Hilfe.

Dem vorausgegangen war eine monatelange Blockade des Latschin-Korridors. Dieser stellt die einzige Landverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien dar und ist die einzige Möglichkeit, die in Bergkarabach lebenden Armenier:innen mit ausreichend Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen. Dies war durch die Blockade über Monate nicht mehr möglich. Die Bevölkerung in Bergkarabach wurde quasi ausgehungert.

Bei der militärischen Auseinandersetzung waren die Karabacharmenier:innen nicht nur dramatisch in der Unterzahl, sondern auch durch die vorangegangenen Blockaden unterversorgt und geschwächt. Daher waren sie und ihre international nicht anerkannte Republik Arzach nach nur einem Tag zur Aufgabe gezwungen. Der aserbaidschanische Präsident Alijew verkündete, dass die angeblichen „Antiterrormaßnahmen“ gegen die armenischen Separatist:innen erfolgreich beendet seien und, die Souveränität des Landes wiederhergestellt zu haben. In einer Rede an die Nation ließ er verlauten, Bergkarabach sei komplett unter seiner Kontrolle.

Bei den Angriffen wurden hunderte Menschen umgebracht, darunter auch viele Zivilist:innen. Rund 85.000 Menschen – etwa zwei Drittel der Einwohner:innen Arzachs – sind mittlerweile geflohen, zum größten Teil nach Armenien. Das Regime von Aserbaidschan setzt auf diese ethnische Säuberung, um nicht nur Bergkarabach voll in das Staatsgebiet zu integrieren, sondern auch um durch die Vertreibung der armenischen Bevölkerung jeden zukünftigen Widerstand zu unterbinden.

Das Alijew-Regime lässt keinen Zweifel daran, dass es die Armenier:innen loswerden möchte. Im Staatsfernsehen wird von ihnen als „Ungeziefer“ gesprochen und Politiker:innen erklärten während des zweiten Bergkarabachkonflikts, man müsse Armenier:innen wie Hunde aus Bergkarabach verjagen. Auch die aserbaidschanischen Soldat:innen, die sich nun dort befinden, sind mit antiarmenischem Hass aufgewachsen. Ein brutales Vorgehen der aserbaidschanischen Truppen in Bergkarabach könnte dem Alijew-Regime sogar nutzen, sich innenpolitisch zu festigen.

Unter diesem Druck sahen sich die Behörden Bergkarabachs zur vollständigen Kapitulation gezwungen. Am 28. September 2023 erklärten sie die vollständige Auflösung der Republik Arzach bis zum 1. Januar 2024.

Derweil sieht die „Weltgemeinschaft“ tatenlos zu. Die „Schutzmacht“ Russland wäscht ihre Hände in Unschuld, die Türkei feiert den Sieg der „Brüder“ und legt mit der Forderung nach einem Korridor zwischen Aserbaidschan und der azerischen Enklave Nachitschewan nach.

Das verdeutlicht, dass die Eroberung Bergkarabachs längst nicht das Ende der nationalen Gegensätze bedeutet und weitere Kriege folgen könnten. Der Kaukasus gleich dabei dem Balkan, wo sich Konflikte zwischen den Staaten und ihren nationalistischen Führungen mit dem Kampf zwischen Groß- und Regionalmächten um geostrategischen und ökonomischen Einfluss verbinden. Vor diesem Hintergrund muss auch die Geschichte des Konflikts betrachtet werden.

Hintergrund des Konflikts

Nach Ende der Sowjetunion wurde Bergkarabach Aserbaidschan zugesprochen und wird auch international als dessen Teil anerkannt. Die armenische Bevölkerung war aber schon damals nicht einverstanden damit. In den Jahren 1992 – 1994 spitzte sich der Konflikt zu und es kam zu einem offenen Krieg. Dabei gelang es den militärischen Verbände Bergkarabachs, unterstützt von Armenien, die Enklave zu verteidigen und zusätzliche Gebiete Aserbaidschans zu erobern. Die von Armenier:innen kontrollierten Gebiete vergrößerten sich also, sodass eine Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach entstand. Diese Gebiete wurden damals nicht nur annektiert, sondern auch viele Azeris vertrieben. Die Unabhängigkeitserklärung der Republik Bergkarabach, die später in Republik Arzach umbenannt wurde, erfolgte schon 1991, also vor dem Krieg. Seit dem Ende des ersten Krieges war Arzach dann auch de facto selbstständig. Seither wurde eine eigene Regierung gewählt und die Region über 30 Jahre unabhängig verwaltet.

Als es 2020 zum zweiten Krieg kam, wendete sich das Blatt. Die Republik Arzach erlitt dabei trotz Unterstützung durch Armenien große Gebietsverluste. Aserbaidschan verfügt, anders als Armenien, über große Öl- und Gasvorkommen und konnte die durch den Export eingenommenen Devisen für Rüstungsausgaben verwenden. Diese übertrafen die Armeniens in den letzten Jahren um ein Vielfaches. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Aserbaidschan einen großen Teil Bergkarabachs und angrenzender Gebiete zurückeroberte, die zuvor von armenischen Streitkräften gehalten worden waren. Russland vermittelte damals einen Waffenstillstand und nutzte die Gelegenheit, eine Friedenstruppe von mehreren tausend Soldat:innen in der Gegend zu stationieren. Diese blieben aber sowohl bei der monatelangen Blockade des Latschin-Korridors als auch beim aktuellen militärischen Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach untätig. Dabei hätten die russischen Friedenstruppen dafür sorgen sollen, dass das 2020 ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen eingehalten wird. Neben dem armenischen und aserbaidschanischen Staatsoberhaupt hatte es damals auch der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet. Das Abkommen sollte die Existenz der Republik Arzach sichern.

Kräfteverhältnis im Südkaukasus

Für Armeniens Regierung unter Premierminister Nikol Paschinjan könnte die aktuelle Lage zu einer Zerreißprobe werden. Viele Armenier:innen protestieren gegen ihn und werfen ihm vor, dass die Regierung Armeniens Bergkarabach hätte schützen können. Sie sind wütend, dass Paschinjan sich aus den Kämpfen raushielt und erklärte, sich nicht einmischen zu wollen. Der weitere Umgang mit der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach wird zeigen, ob er sich im Amt halten kann. Am 23. September verkündete er, dass 40.000 Plätze für Geflüchtete aus Bergkarabach vorbereitet seien. Eine komplette Evakuierung der Karabacharmenier:innen würde aber sicherlich eine große Herausforderung darstellen.

Die Proteste in der armenischen Hauptstadt Jerewan (Eriwan) richten sich auch gegen Russland, das lange Zeit als Schutzmacht Armeniens galt. Jetzt fühlen sich viele Armenier:innen im Stich gelassen. Russland hat nicht nur die Blockade des Latschin-Korridors zugelassen, sondern auch beim Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach tatenlos zugesehen, obwohl Armenien Teil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist – von Russland dominierten wirtschaftliche, politischen und militärischen Bündnissen.

Dass Russland Arzach fallengelassen hat, kann sicherlich zum Teil mit seiner Fokussierung auf den Krieg in der Ukraine erklärt werden. Daneben hängt das Vorgehen aber auch mit veränderten Interessen in der Region zusammen. Russland unterhielt schon lange enge wirtschaftliche Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan. Es verkaufte an beide Seiten Waffen und fungierte als Vermittler zwischen ihnen. Momentan scheint es zu einer Verschiebung in dieser Konstellation zu kommen. Im autoritären Präsidenten Alijew scheint Putin zunehmend einen gewinnbringenden Verbündeten gefunden zu haben, um neue Transportwege zu erschließen und wirtschaftliche Beziehungen zu dem heute wesentlich reicheren Aserbaidschan zu pflegen. Formell ist Russland zwar immer noch Verbündeter Armeniens, de facto scheinen sich aber die Beziehungen zu Aserbaidschan zu vertiefen.

Doch nicht nur Russland, auch die Türkei und zunehmend auch westliche imperialistische Mächte verfolgen wirtschaftliche Interessen im Südkaukasus. Die Türkei ist für Aserbaidschan langjährige Verbündete, liefert ausschließlich an Aserbaidschan Waffen und unterstützte den Einmarsch in Bergkarabach. Der türkische Präsident Erdogan machte in einer Rede vor der UN-Vollversammlung die armenische Regierung für die Eskalation des Konflikts verantwortlich, da diese die Chance für Verhandlungen nicht genutzt habe.

Die Türkei unterstützt also nach wie vor die von ihr als legitim erachteten Schritte Aserbaidschans gegen Bergkarabach, das als aserbaidschanisches Territorium angesehen wird. Allerdings könnte sie auch versucht sein, die Lücke, die Russland in Armenien hinterlässt, mit ihrem Einfluss zu füllen. Sicherlich wäre die Öffnung der Grenze zu Armenien auch für die Türkei wirtschaftlich gewinnbringend und würde die Möglichkeit für vermehrte Exporte bieten. Doch Armenien und die Türkei verbindet eine Geschichte lange Feindschaft. Bis heute weigert sich Erdogan, die Massaker an der armenischen Bevölkerung durch das Osmanische Reich während des ersten Weltkrieges als Völkermord anzuerkennen. Für die Beziehungen bezeichnend ist das Monument der „Mutter Armenien“, das auf einem Hügel über der armenischen Hauptstadt Jerewan thront. Es zeigt eine heroische Frauenstatue, die von Panzern flankiert ist und mit festem Griff um ihr Schwert und entschlossenem Blick Richtung Türkei, deren Grenze sich in Sichtweite des Monuments befindet, schaut. Zugleich gab es auch immer wieder Versuche, die Beziehung beider Länder zu normalisieren und Schritte in Richtung Öffnung der Grenze zu gehen. So gratulierte Paschinjan auf Twitter zur Wiederwahl Erdogans und betonte seinen Wunsch nach Normalisierung der Beziehungen und weiterer Zusammenarbeit.

Im Vergleich zu Russland und der Türkei hat die EU im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan bislang nur eine recht geringe Rolle gespielt. Anfang diesen Jahres richtete sie eine zivile Mission in Armenien ein. Dann sprachen sich die EU sowie die Bundesregierung für diplomatische Verhandlungen aus. So ließ Bundesaußenministerin Baerbock in einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York zur Lage in Bergkarabach verlauten, dass jetzt die Zeit zur Deeskalation gekommen sei. Andererseits unterzeichnete die EU im vergangenen Jahr ein Gasabkommen mit Aserbaidschan, wobei dieses von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als „entscheidender Partner“ bei der Bewältigung der Energiekrise bezeichnet wurde.

Wie sich die politische Lage in der Südkaukasusregion verändert, wird sich zeigen. Fakt ist aber, dass sowohl Russland, die Europäische Union, die USA, die Türkei und der Iran Interessen in der Region verfolgen. Auch ist gewiss, dass es eine Verschiebung der bisherigen Beziehungen gibt. Armeniens Ministerpräsident Paschinjan bedauert, sich allein auf Russlands Unterstützung verlassen zu haben. „Armeniens Sicherheitsarchitektur war zu 99,999 Prozent mit Russland verbunden“, äußerte er Anfang September. Er bezeichnete dies als strategischen Fehler und will nun ein gemeinsames Militärmanöver mit den USA abhalten.

Angesichts des erneut eskalierenden Konflikts in Bergkarabach wird deutlich, dass auch der Südkaukasus einen Schauplatz imperialistischer Machtinteressen darstellt. Wie sich diese zukünftig verschieben und ob sich das Eskalationspotenzial auch auf andere Regionen ausdehnt, wird sich zeigen. So gibt es beispielsweise mit Abchasien und Südossetien zwei unabhängige Regionen auf dem Gebiet Georgiens, deren Souveränität zwar von den wenigsten Staaten international anerkannt wird, die sich allerdings mit Hilfe russischer Truppen der Kontrolle von Georgien entziehen und damit de facto unabhängige Republiken darstellen. Der Konflikt um diese Regionen ist somit zwar momentan eingefroren, schwelt aber sicherlich immer noch.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns klar gegen die Einflussnahme imperialistischer Mächte, die bestehende Konflikte für die Durchsetzung ihrer Interessen nutzen, stellen. Das bedeutet, dass wir uns auch gegen geostrategische Interventionen der Türkei und Russlands stellen müssen, aber natürlich auch gegen die der EU und unserer eigenen Regierung, die schon seit Jahren versuchen, in Georgien Einfluss zu nehmen. So ist es seit 2014 Teil der Vertieften und umfassenden Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area; DCFTA) und plant langfristig einen Beitritt zur EU. Wir müssen hier klar eine Antikriegsperspektive aufzeigen und der Arbeiter:innenklasse verdeutlichen, dass sie in der Zusammenarbeit mit imperialistischen Mächten nichts als Abhängigkeit gewinnen kann. Nur eine unabhängige Arbeiter:innenklasse, die sich international organisiert, kann die Konflikte in der Region langfristig befrieden.

Lage in Armenien und Aserbaidschan

Den Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach müssen wir eindeutig als reaktionär charakterisieren. Die armenische Bevölkerung Bergkarabachs ist eine unterdrückte Nation, deren Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten wird. Und sie hat zweifellos ein Recht auf Selbstbestimmung und -verteidigung und sollte selbst entscheiden können, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich Armenien bzw. Aserbaidschan anschließen möchte.

Wir müssen die Proteste gegen den reaktionären Angriff Aserbaidschans also unterstützen, sollten aber gleichzeitig deren nationalistischen Charakter kritisieren. Die momentanen in der armenischen Hauptstadt Jerewan richten sich hauptsächlich gegen den amtierenden Premierminister Paschinjan und gegen seine regierende Partei „Zivilvertrag“. Die Proteste werden u. a. vom Oppositionsblock „Mutter Armenien“ dominiert, dessen Vorsitzender Andranik Tewanjan am vergangenen Freitag bei den Protesten vorübergehend festgenommen wurde. Dieser fordert den Rücktritt des amtierenden Premierministers. Er stellet aber selbst ebenso wenig eine fortschrittliche Alternative dar und umfasst armenisch-nationalistische bis liberale Kräfte. Teile der Opposition unterstützen auch den ehemaligen Premierminister Robert Kotscharjan, der als Spitze des nationalkonservativen Bündnisses „Armenien“ wieder zu Wahlen antritt.

Wir müssen diesem Nationalismus entschieden entgegentreten. Denn wozu dieser führen kann, zeigte sich während des zweiten Bergkarabachkrieges. In den 1990er Jahren wurden vom armenischen Nationalismus aserbaidschanische Gebiete brutal erobert, was in Massakern ganzer Dörfer gipfelte. Auch hier kam es zu Vertreibung und ethnischen Säuberungen aserbaidschanischer Siedlungsgebiete. Die armenische Arbeiter:innenklasse und die Linke müssen somit das Recht auf Selbstbestimmung verteidigen, sie dürfen sich aber nicht vor den Karren des Nationalismus oder imperialistischer „Freund:innen“ Armeniens spannen lassen.

Doch nicht nur die armenische Arbeiter:innenklasse, vor allem auch jene in Aserbaidschan steht vor großen Aufgaben. Sie muss sich klar gegen die Eroberungspolitik „ihrer“ Regierung und den nationalistischen Siegestaumel im Land stellen. Die Eroberung Azachs und die Vertreibung der Armenier:innen müssen als das angeprangert werden, was sie sind: ein brutaler Eroberungskrieg der herrschenden Klasse, der nur zur Festigung ihres Regimes dienen wird. Nur wenn die Arbeiter:innen klar für das Recht auf Rückkehr und Selbstbestimmung der Armenier:innen eintreten, können sie auch einen eigenen Klassenstandpunkt gegen „ihre“ Bourgeoisie und deren russischen, türkischen und europäischen Verbündeten einnehmen.

Nur wenn dem Nationalismus in Armenien und Aserbaidschan ein Programm, das eine Lösung der drängenden sozialen Fragen bereithält, entgegengestellt wird, kann der Arbeiter:innenklasse aufgezeigt werden, dass der Nationalismus keine zufriedenstellenden Antworten für sie bereithält. Wir müssen also für den Aufbau von Arbeiter:innenparteien eintreten, die für das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen kämpfen, dies aber im Kontext des Internationalismus tun. Dabei muss klar sein, dass die nationale nur im Zusammenhang mit der Klassenfrage gelöst werden kann. Denn im Kapitalismus, der immer wieder zu Krisen, Arbeitslosigkeit und Armut führt, können nur reaktionäre, nationalistische oder rassistische Scheinlösungen gefunden werden. Daher treten wir für die Bildung einer sozialistischen Föderation der Staaten des Kaukasus ein, die offene Grenzen und die Rückkehr aller Vertriebenen ermöglicht. Denn nur sie ist in der Lage, dem Kapitalismus seine Grundlagen zu entreißen, die Produktivkräfte zu enteignen und unter Arbeiter:innenkontrolle demokratisch zu planen.




Indien: Hindu-Extremismus provoziert ethnische Säuberung in Manipur

Bernie McAdam, Infomail 1231, 19. September 2023

Als im Juli ein Video auftauchte, das zwei Frauen zeigte, die von einem Mob im indischen Bundesstaat Manipur nackt vorgeführt wurden, warf es ein Schlaglicht auf die Verbrechen von Modis Indien.

Das Hindutva-Regime (Hindutva ist eine extreme Form des Hindu-Chauvinismus) von Premierminister Nahendra Modi hat zu einer alarmierenden Zunahme von Übergriffen auf ethnische Minderheiten, Muslime, Christ:innen und Frauen geführt. Auf den Überfall vom 4. Mai reagierte Modi erst im Juli. Als dann der Angriff auf zwei christliche Kuki-Frauen durch eine Bande von Meitei-Hindu-Männern international bekannt wurde, sah er sich mit Verspätung gezwungen, eine Verurteilung auszusprechen, „da dies Indien Schande bereitet hat“.

Manipur

Der nordöstliche Bundesstaat Manipur wird von Modis Partei, der BJP, regiert, und die Regierung des Bundesstaates unterstützt zweifellos eine Kampagne zur ethnischen Säuberung des Kuki-Volkes mit fadenscheinigen Argumenten über die Notwendigkeit des Schutzes der Wälder, „illegale“ Migration und Mohnanbau. Dies hat dazu geführt, dass rund 60.000 Menschen vertrieben und über 7.000 Häuser niedergebrannt wurden. Mehr als 100 Menschen starben und Hunderte von Dörfern und Kirchen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Wie bei ähnlichen Konflikten üblich, sind es die Frauen, die die Hauptlast der Gewalt tragen.

Die Aktivitäten der Regierung des Bundesstaates unter Biren Singh bedrohen mehrere ethnische Gruppierungen und haben zu wütenden Protesten geführt. Insbesondere die Anordnung, 38 Dörfer in einem geschützten Waldgebiet zu räumen, hat Widerstand ausgelöst. Die Siedlungen wurden als illegal und ihre Bewohner als „Eindringlinge“ bezeichnet. Proteste gegen diese Räumungsaktionen wurden von der Polizei angegriffen.

Das Volk der Kuki war auch das Ziel von Meitei-Milizen, die offenbar mindestens fünf Waffenlager geplündert haben, wobei die Polizei zweifellos ein Auge zugedrückt hat. 

Unmittelbarer Auslöser der aktuellen Gewalt war die Anordnung des Obersten Gerichtshofs von Manipur an die Regierung des Bundesstaates, der indischen Unionsregierung die Aufnahme der Meitei-Gemeinschaft in die Liste der „Scheduled Tribes“ zu empfehlen. Die Meitei sind die vorherrschende ethnische Gemeinschaft in Manipur, und dieser neue Status wird ihre ohnehin schon mächtige Position stärken und ihnen Vorteile in den Bereichen Bildung und Arbeit verschaffen, aber auch Landrechte gewähren, um sich in Kuki-Gebieten „niederzulassen“ – oder besser gesagt, um Kuki zu vertreiben.

Angesichts dieser Unterdrückung ist es nicht verwunderlich, dass das Volk der Kuki zunehmend die vollständige Trennung vom Staat Manipur fordert. Es gibt eine lange Geschichte von Kuki-Aufständen in Manipur und auch Konflikte mit den Nagas, die ihren eigenen Aufstand und Forderungen nach Selbstbestimmung hatten. Sozialist:innen und Kommunist:innen sollten natürlich Forderungen nach Selbstverteidigung und Selbstbestimmung unterstützen, wo Unterdrückung herrscht. Ein erfolgreicher Kampf zum Sturz von Modi und der BJP wird jedoch eine Offensive der gesamten indischen Arbeiter:innenklasse erfordern.

Die verschiedenen Kräfte der Opposition in der indischen Gesellschaft erfordern einen vereinten Kampf aller indischen Arbeiter:innen und Bäuer:innen, um die Modi-Regierung und das von ihr verteidigte kapitalistische System zu stürzen. Nur ein Kampf zur Abschaffung des Kapitalismus, der für die chronische Armut, die kommunale Gewalt und die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten verantwortlich ist, kann den gesamten indischen Subkontinent grundlegend verändern. Nur ein Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die das Kapital enteignet und die sich auf Räte stützt, kann die Grundlagen für eine menschwürdigen, sozialistischen Zukunft frei von Ausbeutung und Unterdrückung legen.




Palästina/Israel: Widerstand gegen Israels Unterdrückung vereinen!

Alex Rutherford, Neue Internationale 272, April 2023

Der Besuch des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in Großbritannien (und Deutschland) fand zu einer Zeit statt, in der die Brutalität des israelischen Apartheidstaates einen weiteren Höhepunkt erreicht. Im Jahr 2023 wurden bisher mindestens 83 Palästinenser:innen von den israelischen Verteidigungskräften (IDF) und verschiedenen bewaffneten Siedler:innengruppen getötet.

Die Gewalt geht einher mit Angriffen der israelischen Regierung auf die vermeintlich demokratische Verfassung des Landes, einschließlich der Unabhängigkeit der Justiz.

Diese miteinander verknüpften Faktoren haben zu einem Aufschwung des Widerstands gegen den israelischen Staat sowohl in der israelischen als auch in der palästinensischen Bevölkerung geführt. Sie haben auch zu einem ungewöhnlichen Anblick auf den Straßen Londons geführt – Menschenmassen von israelischen und palästinensischen Demonstrant:innen, die gegen einen gemeinsamen Feind demonstrieren – wenn auch mit deutlich unterschiedlichen Slogans.

Entwicklung seit Jahresbeginn

Nach dem Massaker vom 26. Januar in Dschenin führten israelische Streitkräfte am 6. Februar eine Razzia in Jericho durch, bei der fünf Palästinenser:innen getötet wurden und die zu Massenprotesten führte. Am nächsten Tag ermordeten IDF-Kräfte einen 17-jährigen Palästinenser. An Reaktion darauf rammte am 10. Februar ein palästinensischer Autofahrer sein Fahrzeug in eine Menschenmenge, die an einer Bushaltestelle in Jerusalem wartete; drei israelische Zivilist:innen starben dabei. Vier Tage später führten israelische Streitkräfte eine Razzia in einem Flüchtlingslager in der Nähe der palästinensischen Stadt Tubas durch, bei der ein palästinensisches Kind getötet wurde.

Am 22. Februar verübten die IDF ein weiteres Massaker, diesmal in der Stadt Nablus im Westjordanland, bei dem 11 Einwohner:innen getötet und mehr als 100 verwundet wurden. Am 26. Februar eröffnete ein Palästinenser an einer Verkehrskreuzung das Feuer und brachte zwei israelische Siedler:innen um.

Stunden später randalierten mehr als hundert israelische Siedler:innen in palästinensischen Dörfern in der Umgebung von Nablus, was die palästinensischen Behörden als „Pogrom“ bezeichneten. Bei dem Angriff wurden Häuser, Geschäfte und Autos in Brand gesetzt, 390 Zivilist:innen verletzt und Samih al-Aqtash, ein Vater von fünf Kindern, erschossen. Dorfbewohner:innen berichteten, dass IDF-Kräfte anwesend waren und nichts unternahmen, um sie zu stoppen. Am nächsten Tag wurden Hunderte weiterer israelischer Truppen in das Westjordanland entsandt.

Ein weiterer Angriff von israelischen Siedler:innen ereignete sich am 6. März in Huwara, als sie eine palästinensische Familie mit Steinen und einer Axt  attackierten. Am 7. März folgte ein weiterer israelischer Überfall in Dschenin.

Am 8. März zeigte ein Generalstreik in den palästinensischen Städten Nablus, Dschenin und Ramallah das Ausmaß der Empörung der Arbeiter:innenklasse über die Gewalt. In der darauf folgenden Woche, am 9. und 16. März, fanden jedoch zwei weitere israelische Razzien statt.

Die zunehmende Gewalt, die nicht nur von offiziellen staatlichen Kräften, sondern auch von bewaffneten Siedler:innenbanden ausgeht, weist alarmierende Ähnlichkeiten mit der Art von staatlich geförderter Gewalt auf, die die jüdische Bevölkerung in Europa im 20. Jahrhundert erleben musste und die im Holocaust gipfelte. Dies spiegelt sich auch in dem wütenden antipalästinensischen Rassismus wider, den die derzeitige israelische Regierung an den Tag legt.

Das Argument, dass das Pogrom und andere Gewalttaten von Siedler:innen gegen Palästinenser:innen in irgendeiner Weise durch die israelische Wut über palästinensische Terrorakte gerechtfertigt oder zumindest milder beurteilt werden müssen, kann leicht zurückgewiesen werden.

Die Gewalt der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker:innen kann in keiner Weise mit der Barbarei der militärischen und zivilen Besatzungstruppen gleichgesetzt werden. Revolutionäre Kommunist:innen müssen an der Seite der palästinensischen Widerstandsbewegung und der arbeitenden Massen in ihrem Kampf gegen den rassistischen israelischen Siedler:innenkolonialstaat stehen, während sie gleichzeitig die Ideologie, Strategie und Taktik der Führerung der Bewegung schonungslos kritisieren.

Verfassungskrise

Es ist klar, dass sich Israel unter der mit Rechtsextremen besetzten Regierung Netanjahu auf ein unverhohlen autoritäres Regime zubewegt, nicht nur für seine palästinensischen, sondern auch für seine jüdischen israelischen Bürger:innen. Auch wenn es sich nicht, wie manche behaupten, um einen faschistischen Staat handelt, sind die jüngsten Schritte zur Beschneidung der verfassungsmäßigen Befugnisse des Obersten Gerichtshofs bedrohlich.

Solche Schritte entlarven weiter die Falschheit der Behauptung, Israel sei seit seiner Gründung eine „liberale Demokratie“. Wie kann dies der Fall sein, wenn es Millionen von Palästinenser:innen, die in den besetzten Gebieten und Flüchtlingslagern an den Grenzen Israels leben, systematisch elementare demokratische Rechte verweigert? Deren Aushöhlung für jüdische Israelis ist letztlich eine unvermeidliche Folge eines solchen Regimes.

Der Aufstieg des extremistischen jüdisch-israelischen Nationalismus innerhalb des israelischen Staatsapparats und die derzeitige Vorherrschaft rechter Demagog:innen in der Exekutive spiegeln den Vormarsch einer virulenten Ideologie innerhalb der Siedler:innenbevölkerung selbst wider.

Die jüdische Vorherrschaftsideologie von Regierungsmitgliedern wie Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich ist in hohem Maße repräsentativ für die Mehrheitsmeinung in den illegalen israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland.

Dies wiederum hat seine materielle Grundlage in der Segregation und Unterdrückung der Palästinenser:innen innerhalb des Apartheidstaates und dem zunehmenden palästinensischen Widerstand gegen diese Unterdrückung.

Die offensichtliche Brutalität und der Autoritarismus des neuen Regimes schaffen jedoch einen Widerspruch zwischen den wütenden zionistischen Kräften in Israel, deren Annäherung an eine pogromistische Politik gegenüber den Palästinenser:innen immer deutlicher wird, und den liberalen Zionist:innen sowohl in Israel als auch in Großbritannien, der EU und den USA, den wichtigsten imperialistischen Unterstützer:innen des Regimes.

Diese liberalen zionistischen Kräfte wollen ihre Verteidigung Israels als demokratischen Staat rechtfertigen – eine Propaganda, die mit jeder neuen Gräueltat des Regimes zunehmend diskreditiert wird.

Innerer Widerspruch des liberalen Zionismus

Darin spiegelt sich ein tieferer Widerspruch zwischen der angeblich befreienden Ideologie, dem jüdischen Volk eine sichere „Heimat“ zu bieten, und der brutalen Realität, ein ganzes Volk aus seinem eigenen Land zu vertreiben und es neu zu besiedeln. Dieser Zwiespalt verursacht enorme Probleme für die westlichen Unterstützer:innen des Zionismus, die versuchen, die Herzen und Köpfe der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern zu gewinnen.

Diesen gelingt es in der Regel, große Teile dieser Arbeiter:innenschaft in eine stillschweigende Unterstützung der liberal-zionistischen Ideologie einzulullen, solange die Brutalität des israelischen Staates von den Medien und Politiker:innen verdeckt wird. In Großbritannien ist der liberale Zionismus in den letzten Jahren in die politische Offensive gegangen, nachdem seine Behauptungen über weit verbreiteten Antisemitismus eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Zerstörung der Corbyn- und der wirksamen Unterdrückung der BDS-Bewegung gespielt haben. In Deutschland wurde die „bedingungslose Solidarität“ mit Israel zu einem Bestandteil der Staatsräson, der sich letztlich auch die Linkspartei unterordnet.

Die offenen Angriffe des israelischen Staates auf die rechtsstaatliche Demokratie und eine sich dagegen entwickelnde Protestbewegung eines großen Teils der jüdischen israelischen Bevölkerung, einschließlich der Weigerung von IDF-Reservesoldat:innen, ihren Dienst zu verrichten, wurden bisher strikt im Rahmen einer liberalen, rechtsstaatlich-demokratischen Bewegung durchgeführt, die Palästinenser:innen von einer wirksamen Beteiligung ausschließt und auch palästinensische Flaggen bei Demonstrationen in Israel verbietet.

Die linkszionistische Ideologie der Protestbewegung verengt ihren politischen Horizont und schließt die Perspektive der Einheit mit den Millionen von unterdrückten und enteigneten Palästinenser:innen aus. Obwohl 200.000 linkszionistische Demonstrant:innen gegen die Verfassungsreform auf die Straße gingen, kamen nur 1.000 jüdische Israelis, um gegen das Pogrom vom 22. Februar zu protestieren.

Während Sozialist:innen diesen mutigen Demonstrant:innen ihre Solidarität bekunden sollten, ist dies nur ein Anfang. Israelische und palästinensische Sozialist:innen müssen dringend Solidarität mit den Arbeiter:innen und Jugendlichen ausüben, die in der Netanjahu-Regierung und den Siedler:innenpogromen einen gemeinsamen Feind erkennen. Wenn eine neue Intifada wächst, braucht sie internationalistische israelische Unterstützung und breite internationale Rückendeckung, insbesondere im imperialistischen Europa und den USA. Nur so können die Fundamente des Apartheidstaates untergraben und das Ziel eines binationalen, demokratischen, sozialistischen Palästinas realisierbar werden.

Der palästinensische Widerstand

Die zunehmende Repression durch die israelischen Streitkräfte ist Teil einer Kampagne mit der offiziellen Bezeichnung „Break the Wave (Wellenbrecher)“, die Massenverhaftungen und Tötungen in Städten des Westjordanlands vorsieht, die als Zentren des palästinensischen Widerstands bekannt sind und sich insbesondere gegen bewaffnete Gruppen wie die al-Quds-Brigaden des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) und die al-Aqsa-Märtyrer:innenbrigaden der Fatah richten.

Obwohl die Kampagne darauf abzielt, den Widerstand zu brechen, hat sie in Wirklichkeit den gegenteiligen Effekt, indem sie den Widerstand gegen die Besatzung innerhalb Palästinas verstärkt. Bei der Beerdigung von palästinensischen Kämpfer:innen, die bei der israelischen Razzia in Dschenin am 7. März getötet wurden, war die Zahl der bewaffneten Menschen auffallend hoch, und die Fahnen der verschiedenen Fraktionen der Widerstandsbewegung waren miteinander vermischt.

Diese Gruppierungen organisieren den bewaffneten Widerstand gegen den israelischen Staat, aber auch gegen ihre Kollaborateur:innen, die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA), die es seit fünfzehn Jahren nicht gewagt hat, Wahlen auszurufen. Die Anwesenheit von Kämpfer:innen, die nominell mit der Fatah, der dominierenden Gruppierung in der PNA, verbunden sind, zeigt, dass sich die Spaltung in ihren Reihen vertieft.

Während die Zahl der Todesopfer durch die Gräueltaten der israelischen Streitkräfte und der zivilen Siedler:innen steigt, sind die Mitschuld der Palästinensischen Autonomiebehörde an der Unterdrückung des palästinensischen Volkes und ihre Unterwürfigkeit gegenüber dem israelischen Staat für viele in der Widerstandsbewegung deutlich geworden.

Obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde ursprünglich nur als Übergangsregierung für einen Zeitraum von fünf Jahren vor der Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates gedacht war, hat sie fast drei Jahrzehnte nach der Unterzeichnung der Osloer Abkommen nichts getan, um die politischen und gesetzlichen Rechte der palästinensischen Bürger:innen zu fördern – im Gegenteil, der Lebensstandard der Palästinenser:innen ist weiter gesunken.

Israel hat seine Apartheidpolitik weiter vertieft, und der israelische Staat, der schon immer auf den Grundsätzen des Kolonialismus beruhte, hat sich selten so offen entschlossen gezeigt, die Zerstörung der Palästinenser:innen als souveräne nationale Gemeinschaft, die in ihrem eigenen Land lebt, zu vollenden. Da es der PNA nicht gelungen ist, nennenswerte Verbesserungen für die eigene Bevölkerung zu erreichen, ganz zu schweigen von der utopischen Zwei-Staaten-Lösung, hat sie ihre politische Autorität innerhalb der Widerstandsbewegung verloren, während die Aktivist:innen nach wirksamen Antworten auf ihre brennenden Probleme suchen.

Damit die PNA ihre relativ privilegierte Stellung durch die Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung aufrechterhalten kann, muss sie sich als legitimer politischer Ausdruck des palästinensischen Volkes darstellen. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird durch die Entwicklung einer unabhängigen Widerstandsbewegung bedroht, die sie nicht kontrollieren kann. Sie muss daher mit allen Mitteln gegen die unabhängige Organisation des palästinensischen Bevölkerung vorgehen.

Die israelische Militärkampagne hat keineswegs „die Welle gebrochen“, sondern im Gegenteil die Woge des Widerstands noch verstärkt, da überall in den besetzten Gebieten neue „Brigaden“ von palästinensischen Widerstandskämpfer:innen entstanden sind. Diese unterscheiden sich jedoch deutlich von den Gruppierungen, aus denen sich die bewaffnete Widerstandsbewegung in jüngster Vergangenheit zusammensetzte. Die Brigaden stützen sich nicht auf eine bestimmte religiöse Ideologie, sondern sind in lokalen Gemeinschaften wie Dschenin, Nablus und Tubas verwurzelt.

Veränderung der Kräfte

In Nablus war eines der populären Gesichter der bewaffneten palästinensischen Widerstandsbewegung der 19-jährige Ibrahim al-Nabulsi, ein Kämpfer der al-Aqsa-MärtyrerInnenbrigaden, der als „Löwe von Nablus“ bekannt war. Er wurde am 9. August getötet und wurde zum Symbol für eine neue bewaffnete Widerstandsgruppe, die als „Höhle des Löwen“ bekannt ist und durch die die wachsende Wut ihren politischen Ausdruck findet.

Diese Bewegung, die ausdrücklich dazu aufruft, dem Fraktionsdenken innerhalb der Widerstandsbewegung ein Ende zu setzen, steht offenbar nicht unter der Kontrolle der traditionellen Fraktionen des palästinensischen Widerstands, was für Israel sehr gefährlich ist, da es selbst die Fähigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde, als Gendarm im Westjordanland zu agieren, unerbittlich untergräbt.

In allen palästinensischen Vierteln in den besetzten Gebieten finden sich jetzt die Insignien der Löwenhöhle. Eine kürzlich vom Palästinensischen Zentrum für Politik- und Umfrageforschung durchgeführte Meinungserhebung ergab, dass 72 % aller Palästinenser:innen die Gründung weiterer bewaffneter Widerstandsgruppen im Westjordanland unterstützen, 79 % die Auslieferung von Militanten an die PA-Kräfte ablehnen und 87 % die Vorstellung zurückweisen, dass die PA das Recht hat, Verhaftungen vorzunehmen.

Die Parole der Einheit, die von der Höhle des Löwen ausgegeben wurde, ist richtig. Die Koordination zwischen den verschiedenen Fraktionen des Widerstands wird entscheidend sein, um einen wirksamen Kampf gegen die israelische Offensive zu führen. Die derzeitigen Anzeichen deuten darauf hin, dass es im Westjordanland zu einem bewaffneten Massenaufstand kommt, wie er seit der Zweiten Intifada von 2000 – 2005 nicht mehr stattgefunden hat.

Was jedoch die gegenwärtige Situation von diesem früheren Kampf unterscheidet (abgesehen von der enormen Verschärfung der Unterdrückung und des Landraubs in den dazwischen liegenden Jahren), ist die politische Position der PNA. Während der Zweiten Intifada unterstützten ihre Sicherheitskräfte den Aufstand, und die PNA genoss in der gesamten palästinensischen Gesellschaft noch breite Unterstützung. Da die PNA nun rundum diskreditiert ist, da sie nicht mehr in der Lage ist, auch nur symbolischen Widerstand gegen die Besatzung zu leisten, wird sich die Dritte Intifada stattdessen auf die Basisorganisation der palästinensischen Bevölkerung selbst stützen müssen.

Welche Führung, welche Strategie?

Leider sind sowohl die palästinensischen als auch die israelischen Arbeiter:innenmassen von schädlichen Ideologien beeinflusst, die die Entwicklung ihrer Bewegung zu einer wirklich selbstbewussten sozialistischen behindern, die in der Lage ist, den zionistischen Apartheidstaat zu stürzen und eine säkulare, sozialistische demokratische Republik in Palästina zu errichten.

Auf der jüdischen Seite hindert die reaktionäre Ideologie des Zionismus selbst jene jüdischen Arbeiter:innen, die die Brutalität ihrer eigenen Regierung erkennen, daran, eine konsequente befreiende Politik zu vertreten.

Auf palästinenischer Seite führt die schein-radikale, aber reaktionäre Ideologie des Islamismus dazu, dass die Widerstandsbewegung unter den Einfluss religiöser Fanatiker:innen gerät und in dschihadistische und individualterroristische Taktiken abgleitet, die eine Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten zur Folge haben und auch zum „Märtyrer:innentod“ der entschlossensten Kämpfer:innen führen.

Während wir unsere volle Unterstützung und Solidarität mit dem berechtigten Widerstandskampf der Palästinenser:innen zeigen müssen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre politische Unabhängigkeit von diesen Führungen erringen und die Fehler ihrer Strategie aufzeigen, um die Massen von ihren Ideologien zu lösen und den Weg für die Entwicklung einer wirklich sozialistischen Massenbewegung der palästinensischen und israelischen Arbeiter:innenklassen zu öffnen.

Wir müssen die Perspektive einer gemeinsamen revolutionären Partei für ganz Palästina aufzeigen, die die palästinensischen Arbeiter:innen mit dem fortschrittlichsten Teil der israelischen Arbeiter:innen hinter einem gemeinsamen Programm für den Sturz des israelischen kapitalistischen Staates und seine Ersetzung durch eine gemeinsame säkulare, demokratische, sozialistische Republik Palästina, in der alle Bürger:innen gleiche Rechte haben, vereint – als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens.




Eine neue Friedensbewegung?

Susanne Kühn, Infomail 1412, 27. Februar 2023

Den Beginn einer neuen „Friedensbewegung“ verkündeten Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer bei der Kundgebung „Aufstand für den Frieden“ am 25. Februar. 50.000 Menschen wollen Ordner:innen gezählt haben. Die Polizei wiederum konnte nur 13.000 ausmachen. Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte bei 25.000 liegen.

Zweifellos ein Achtungserfolg, zumal die regierungsoffiziellen Ukrainesolidaritätsdemos nach offiziellen Berichte weniger Menschen – rund 10.000  – auf die Straße gebracht haben dürften.

Vorweg: Die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, mit den lohnabhängigen Massen, den Hauptopfern des imperialistischen Angriffskriegs Russlands, blieb letztlich bei beiden vor allem eine Beschwörungsformel, ein Lippenbekenntnis. Für die NATO, für die USA und auch für den deutschen Imperialismus bedeutet die „Solidarität“ mit den Ukrainer:innen nur einen Vorwand für die Verfolgung ihrer eigenen ökonomischen und geostrategischen Interessen in der Konkurrenz mit Russland.

Wagenknecht, Schwarzer und Co. vermögen den Ukrainer:innen auch nicht mehr zu bieten  als einen von den Großmächten ausgehandelten Frieden. Kein Wunder also, dass sie der ukrainischen Bevölkerung letztlich nicht viel mehr zu sagen haben, als dass ein halbkoloniales Land eben die „Sicherheitsinteressen“ der Großmächte zu akzeptieren habe.

Teilnehmer:innen

Nichtsdestotrotz verdeutlichen über 600.000 Unterzeichner:innen des „Manifest für den Frieden“ und der Mobilisierungserfolg der Kundgebung, dass sich die öffentliche Stimmung in Deutschland dreht. Der Kurs der Bundesregierung wird zu Recht für seine „unklare“ Zielrichtung, für sein widersprüchliches Schwanken zwischen offener Kriegstreiberei durch FPD und Grüne im Gleichklang mit den Unionsparteien und einer hinhaltenden SPD, die letztlich immer einknickt, kritisiert. Zu Recht wird bemängelt, dass der Westen selbst den Konflikt befeuert hat und natürlich versucht, Russland in die Schranken zu weisen.

Die 600.000 Unterzeichner:innen und rund 25.000 Teilnehmer:innen an der Kundgebung bringen berechtigte Sorgen zum Ausdruck. Zweifellos finden sich unter diesen auch Anhänger:innen der rechtspopulistischen AfD und neurechter Gruppierungen wie der Querdenker:innen. Doch diese machten sicher nicht das Gros der Kundgebung aus, von der offen faschistische Kräfte wie die Leute vom Compactmagazin auch lautstark verwiesen wurden.

Die deutliche Mehrzahl der Teilnehmer:innen kam allerdings aus den Reihen frustrierter oder ehemaliger Anhänger:innen von SPD, Grünen und Linkspartei, also jenen Kräften, die einst den Kern der Friedensbewegung ausmachten oder die Wagenknecht und Schwarzer zu einer neuen Friedensbewegung formieren wollen.

Neue Friedensbewegung

Ihr Ziel besteht darin, eine solche Friedensbewegung wieder aufzubauen. Als Bündnispartner:innen schweben ihnen dabei nicht die Rechte, auch nicht die AfD vor. Vielmehr zielen Wagenknecht und Schwarzer auf „respektable“ Bürgerliche wie den ehemaligen Brigadegeneral und Merkelberater Vad, der auch als einer der Hauptredner:innen der Kundgebung fungierte. Auch einer der Architekten der Schocktherapie der Restauration des Kapitalismus in Russland und Osteuropa, Jeffrey Sachs, kam als Redner zu Wort. Schließlich will der etwas moderater gewordene Neoliberale auch „Frieden“ für eine Ukraine, deren ökonomische Krise in den 1990er Jahren seine Politik massiv verschärft hatte.

Eine solche klassenübergreifende Friedensbewegung erinnert an die der 1980er Jahre. Sie hat auch dieselben Schwächen. Den russischen und US-amerikanischen Imperialismus benennen Wagenknecht und Schwarzer durchaus. Vom deutschen wollen sie aber nichts wissen. Schließlich werfen sie der Bundesregierung ja nicht die Verfolgung der nationalen, kapitalistischen Interessen vor, sondern dass sie dies viel zu wenig täte.

Daraus erklärt sich auch das Paradox ihrer Ausrichtung. Einerseits werden die Kriegstreiberin Baerbock und der „Panzer“-Toni Hofreiter ebenso wie der „Zauderer“ Scholz heftig kritisiert. Niemand dürfe ihnen vertrauen, wurden wir auf der Kundgebung ermahnt. Andererseits wird von derselben Regierung die Bildung „einer Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen“ gefordert – am besten in Zusammenarbeit mit Frankreich und der EU-Kommission, mit China und Brasilien. Am deutschen Verhandlungswesen soll die Welt genesen. Scholz, dem eine vollständige Unfähigkeit und Unzuverlässigkeit attestiert wird, soll federführend einen „Frieden“ herbeiführen, der alle Großmächte zufriedenstellt.

Dieses Konzept läuft letztlich bloß auf eine alternative, sozialpazifistische Ausrichtung des deutschen Imperialismus hinaus. Die ukrainische Bevölkerung und die russische Antikriegsbewegung dürfen nur als Verhandlungsmasse zu ihrem vermeintlich Besseren zusehen. Aber auch für die Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Ländern sind nur Plätze auf den Zuschauerrängen vorgesehen. Als Akteur:innen, geschweige denn als prägende Subjekte einer Antikriegsbewegung sind die Lohnabhängigen bei Schwarzer und Wagenknecht nicht vorgesehen. Bei aller Kritik an der gegenwärtigen Politik der Regierungen soll die internationale Politik auch weiter von Großmächten unter Wahrung von deren Interessen bestimmt werden,

Eine solche Politik ist nicht nur rein bürgerlich. Sie ist auch vollkommen utopisch. Der Konflikt zwischen den alten, westlichen Mächten wie der USA oder auch Deutschland mit den „neuen“ wie Russland und China liegt in der Krise des Kapitalismus begründet, im Niedergang der US-Hegemonie und im Aufstieg Chinas. Zur Zeit wird er um die Ukraine ausgefochten, doch selbst ein imperialistischer Frieden wäre nicht nur reaktionär, weil er auf dem Rücken der ukrainischen Massen vereinbart werden würde, sondern auch nur von begrenzter Dauer, nur eine Zwischenstation zu einer weiteren Verschärfung der imperialistischen Konkurrenz.

Auf der Kundgebung haben die Gruppe Arbeiter:innenmacht und Genoss:innen der Jugendorganisation Revolution gemeinsam eine internationalistische, klassenkämpferische Perspektive vertreten und ein gemeinsames Flugblatt verteilt. Dessen letzten Abschnitt wollen wir hier noch einmal darlegen:

Welcher Frieden? Welche Bewegung?

Ein dauerhafter Frieden, der diesen Namen verdient, kann nicht durch diplomatische Manöver von Großmächten erzielt werden. Dazu müssten diese selbst ihre eigenen ökonomischen, politischen und militärischen Interessen zurückstellen, was angesichts des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und der schärfer werdenden globalen Konkurrenz einfach unmöglich ist. Der Imperialismus kann nicht friedlich gestaltet werden – weder in Russland, noch in den USA, aber auch nicht in Deutschland oder der EU.

Wir können uns daher nur auf uns selbst verlassen. Ein echter Frieden, eine gerechte Lösung für die Ukraine müsste die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Landes bei gleichzeitiger Wahrung der Selbstbestimmung der Volksrepubliken im Donbass und auf der Krim beinhalten.

Um aber überhaupt dorthin zu kommen, müssen wir eine internationale Bewegung gegen den Krieg und dessen Auswirkungen aufbauen; eine Bewegung der gemeinsamen Aktion der deutschen, der europäischen, der US-amerikanischen, der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse, der Gewerkschaften, der Linken und Arbeiter:innenparteien. Eine solche Bewegung muss sich um bestimmte, gemeinsame Forderungen formieren. Dazu schlagen wir vor:

  • Nein zu Putins Angriffskrieg! Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!

  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!

  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!

  • Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen jede Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!

  • Keinen Cent für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampelkoalition! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Nein zu allen Sanktionen! Streichung der Schulden der Länder der sog. Dritten Welt, die durch die Sanktionen in wirtschaftliche Not geraten sind!

  • Die Kosten für die Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Unterstützung der Tarifkämpfe der Gewerkschaften! Für eine automatische Anpassung der Löhne und Einkommen an die Preissteigerung für alle Beschäftigten, Rentner:innen, von Erwerbslosen und Studierenden!“



Nordirland: Sinn Feins historischer Sieg wird vom unionistischen Veto blockiert

Bernie McAdam, Infomail 1190, 1. Juni 2022

Sinn Fein hat bei den Wahlen zur Nordirischen Versammlung einen historischen Sieg errungen. Die Partei, die der politische Flügel der Provisional IRA (Provisorische Irische Republikanische Armee) war und von der britischen Regierung sechs Jahre lang mit einem Sendeverbot belegt wurde, ist jetzt die größte Partei im Stormont, dem Parlament. Zum ersten Mal in der Geschichte des nordirischen Staates hat eine Partei, die sich für ein vereintes Irland einsetzt, mehr Sitze gewonnen als die größte Partei der Unionist:innen. Nach hundert Jahren unionistischer Dominanz in der Regierung hat eine nationalistische Partei nun das Recht, den Ersten Minister (First Minister) in der neuen Exekutive mit geteilter Macht zu benennen. Berechtigt ist jedoch nicht ermächtigt!

In Wirklichkeit hat sich die größte unionistische Partei, die Democratic Unionist Party (DUP), geweigert, einer solchen Exekutive beizutreten, wodurch die wichtigste Institution des Karfreitagsabkommens (GFA) zusammengebrochen ist. Die DUP möchte, dass das Nordirland-Protokoll, das Abkommen zwischen dem britischen Vereinigten Königreich und der EU, das eine Wirtschaftsgrenze entlang der Irischen See gezogen hat, aufgehoben wird, bevor sie einer neuen Exekutive oder Versammlung beitritt. Die Parteien haben bis zu 24 Wochen Zeit, um eine neue Exekutive zu bilden, andernfalls müssen Neuwahlen abgehalten werden.

Unnachgiebigkeit der Unionist:innen

Der DUP-Führer Jeffrey Donaldson sagt, er werde das Wahlergebnis akzeptieren (so?!), aber selbst wenn er nicht den Vorwand des Protokolls hätte, die Exekutive zu sabotieren, hätte die DUP es immer noch demütigend genug gefunden, einen nationalistischen Ersten Minister zu akzeptieren. Das zeigt, dass der Unionismus nicht weniger überheblich und bigott ist als der sektiererische Staat im Norden, den er seit über einem Jahrhundert verteidigt.

Der Nordstaat kann nur durch die Rolle Großbritanniens bei der Teilung Irlands im Jahr 1921 und der Schaffung eines willkürlichen Stücks Land mit einer unionistischen Mehrheit unter dem Namen „Nordirland“ verstanden werden. Der entstehende Staat wurde aufgebaut und konzipiert, um die nationalistische Minderheit niederzuhalten, mit systematischer Diskriminierung und Unterdrückung, die in den späten 60er Jahren zum Kampf für Bürger:innenrechte führte.

Die Unionist:innen wehrten sich gegen die Forderung nach gleichen Bürge:innenrrechten und reagierten durch Unterstützung der nachfolgenden britischen Regierungen mit verstärkter Repression. Als sich die nationalistische Minderheit gegen loyalistische Pogrome und staatliche Repressionen zur Wehr setzte, kam es zu einem Massenaufstand, der in einen bewaffneten Kampf zur Vertreibung der britischen Truppen und gegen die Teilung mündete. Sinn Fein und die IRA führten diesen Kampf an, und ihre Unterstützung ist noch heute ein Erbe ihrer Beteiligung an diesem berechtigten Widerstand.

Die Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens war der krönende Abschluss des Friedensprozesses, bei dem Unionist:innen und Nationalist:innen zum ersten Mal die politische Macht teilten. Die DUP wurde schreiend zu dieser Übung gezerrt, aber eigentlich hatte sie wenig zu verlieren, schließlich hatte Sinn Fein/IRA ihre Waffen außer Dienst gestellt und entgegen den republikanischen Grundsätzen ein Veto der unionistischen Mehrheit gegen ein vereinigtes Irland akzeptiert. Selbst nach einem solchen Einlenken wurde es von den Hardliner-Unionist:innen immer noch als Machtteilung mit dem Feind angesehen.

Nichtsdestotrotz teilten sich die DUP und Sinn Fein die Macht. Sie waren sich beide einig, den Staat und die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, sie und ihre Anhänger:innen waren beide Nutznießer:innen einer sektiererischen Mittelzuweisung, und sie stimmten beide, zusammen mit allen anderen großen politischen Parteien, der Umsetzung der Sparpolitik der britischen Regierung in Westminster zu, die die öffentlichen Dienstleistungen bis auf den Grund kürzt. Die Versammlung/Exekutive wurde zum Hauptinstrument der britischen Herrschaft im Norden.

Seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 wurde der Nordstaat mit einem dezentralisierten Parlament kosmetisch verschönert und einige der schädlichsten Formen der Diskriminierung wurden beseitigt, was einer kriegsmüden Bevölkerung viel Hoffnung gab. Doch die versprochenen wirtschaftlichen Vorteile des Friedens blieben aus, und es gab keine wirklichen Fortschritte beim Abbau des Sektierertums. Vielmehr kam es immer wieder zu einer Verschärfung der sektiererischen Spannungen, vor allem dann, wenn die DUP es für nötig hielt, den loyalistischen Eifer anzufachen. Die Rolle der DUP bei den „Flaggenkrawallen“ im Jahr 2013 ist ein typisches Beispiel dafür.

Sinn Fein hat sich verpflichtet, die Macht mit der DUP zu teilen, einer der reaktionärsten Parteien Europas, einer Partei, die sich kompromisslos gegen Abtreibungsrechte, die gleichgeschlechtliche Ehe, die Rechte der irischen Sprache usw. stellt. Das Karfreitagsabkommen basiert auf der Anerkennung eines Vetos der Unionist:innen in der Grenzfrage – eine Grenze, die seit ihrer Entstehung im Jahr 1921 die Gemeinden und das wirtschaftliche Hinterland vollständig geteilt hat, was mit sozialer Benachteiligung einherging.

Alle, von der EU, den USA, der Irischen Republik und den britischen Regierung bis hin zu allen großen politischen Parteien im Norden, schwören auf dieses Abkommen. Sie alle sind daran beteiligt, die Teilung zu veredeln, aber das Karfreitagsabkommen kann das Demokratiedefizit im Herzen des Nordstaates nicht beheben. Die Teilung der Macht ist ein geschickter Weg, dies zu verbergen, zumindest für eine gewisse Zeit. Aber der Widerspruch wird immer zum Vorschein kommen, der Widerspruch, eine britische Grenze in Irland zu haben, eine Grenze, die dem irischen Volk als Ganzes das Recht verweigert, über seine eigene Zukunft zu entscheiden.

Brexit

Der nächste Schritt war der Brexit, der diesen Widerspruch einer britischen Grenze auf der irischen Insel ausnutzte und verschärfte. Der britische Austritt aus der EU war in Irland überwältigend unpopulär. Im Norden stimmte eine Mehrheit dagegen, abgesehen von einer unionistischen Minderheit unter Führung der DUP, die nun meint, sie habe das „demokratische“ Recht, ein Veto gegen die Mehrheit einzulegen.

Als Mitglieder der EU hatten sowohl die Republik Irland als auch Nordirland eine offene Grenze und einen gemeinsamen Markt. Durch den Brexit drohte eine harte Grenze zwischen den beiden Staaten mit allen daraus resultierenden Kosten und Unannehmlichkeiten für beide Seiten. Die britische Regierungspartei der Tories scheinen die Folgen ihrer Pläne für Irland nicht bedacht zu haben.

Die Befürworter:innen des Brexit der DUP haben heuchlerisch gegen eine harte Grenze gewettert, aber warum dann für den Austritt aus der EU stimmen? Was erwartet man, wenn man eine Freihandelszone verlässt? Das Protokoll wurde von den Tories und der EU vereinbart, um die nachteiligen Auswirkungen einer harten Grenze zu umgehen. Anstelle von Kontrollen an der irischen Grenze, der einzigen Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, würde es Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland geben, wobei sich Nordirland bereit erklärt, die EU-Vorschriften für Produktstandards zu befolgen.

Die DUP und die Traditional Unionist Voice (Traditionelle Unionistische Stimme TUV) halten diese Grenze an der Irischen See für inakzeptabel, da sie den Platz von Norirland im Vereinigten Königreich untergräbt, daher muss das Protokoll weg. Die Tatsache, dass die Wirtschaft des Teilstaates vom Verbleib auf dem EU-Markt profitiert, wird geflissentlich übersehen. Obwohl die neue Versammlung eine pro-Protokoll-Mehrheit hat, wird die DUP/TUV ihr unionistisches Veto nutzen, um das Wahlergebnis zu kippen, das Donaldson angeblich akzeptiert hat!

Dies zeigt einmal mehr die paranoide Angst vor einem vereinigten Irland, das jeden ihrer Schritte bestimmt, selbst um den Preis einer harten Grenze zwischen Nordirland und der EU. Die Reaktion darauf erklärt zum Teil das schnelle Wachstum der Alliance Party zur drittgrößten Partei. Die Entwicklung dieser liberalen, wirtschaftsfreundlichen und EU-freundlichen Mittelschichtspartei könnte die Wirtschaft in Nordirland von ihrer traditionellen Loyalität zu den Unionist:innen abbringen, doch die Befürwortung der Alliance für die britische Union steht nicht zur Disposition.

Das anhaltende Brexit-Dilemma des britischen Premier Boris Johnson besteht darin, wie er das Protokoll so ändern kann, dass es die DUP und die EU zufriedenstellt. Zweifellos wird er dies in den kommenden Wochen mit seinen charakteristischen Lügen und Täuschungen tun, da das Parlament bereits über ein Gesetz zur Aufhebung des Protokolls beraten wird. Die EU und die USA haben ihn bereits vor solchen einseitigen Maßnahmen gewarnt, die ein Handelsabkommen mit den USA gefährden könnten. Außerdem würde dies die Gefahr eines Handelskriegs mit der EU erhöhen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Wirtschaft mit einer drohenden Rezession konfrontiert ist.

Es wird also ein interessantes Rätsel sein, inwieweit Johnson die Unionist:innen beschwichtigen kann. Es wird jedoch mehr als deutlich, dass der Brexit für Irland, im Norden wie im Süden, immer eine Katastrophe sein würde. Das Protokoll soll die Auswirkungen bis zu einem gewissen Grad abmildern, aber die Unnachgiebigkeit der Unionist:innen wird die Wahrscheinlichkeit einer harten Grenze nur erhöhen.

Eine neue Ära?

Die Vorsitzende von Sinn Fein im Norden, Michelle O’Neill, sagt, der Sieg läute „eine neue Ära“ für Nordirland ein. Er wird auch südlich der Grenze den politischen Schwung der Partei verstärken. Aber kommt Sinn Feins Vision eines vereinten Irlands dadurch näher? Sicherlich hat die Debatte über ein vereinigtes Irland seit dem Brexit zugenommen, aber die Verwirklichung ist nicht in greifbare Nähe gerückt.

Die Strategie von Sinn Fein besteht darin, sowohl in der nördlichen als auch in der südlichen Regierung politische Macht zu erlangen – kein unwahrscheinliches Szenario – um Druck auf Großbritannien auszuüben, eine Grenzabstimmung abzuhalten. Sie weisen darauf hin, dass Großbritannien nach den Bestimmungen des Karfreitagsabkommens berechtigt ist, eine Grenzabstimmung anzusetzen, sofern eine Mehrheit für ein vereinigtes Irland wahrscheinlich ist. Ihre Vorsitzende Mary Lou McDonald geht von einem Zeitrahmen von 5 bis 10 Jahren aus.

Diese Entscheidung liegt jedoch nicht bei Sinn Fein, sondern kann nur vom britischen Außenminister getroffen werden, und zwar auf der Grundlage dessen, was die britische Regierung bei einem Referendum für wahrscheinlich hält. Es gibt keinen Mechanismus, der die Regierung zum Handeln zwingt. Das irische Volk hat hier kein Mitspracherecht!

Es überrascht nicht, dass Johnson dies bereits „für eine sehr, sehr lange Zeit“ ausgeschlossen hat, und Keir Starmer von der Labour-Partei ist nicht besser, da er glaubt, dass ein Referendum nicht in Sicht ist, und selbst wenn es eines gäbe, würde er sich gegen ein vereinigtes Irland einsetzen. Sinn Fein macht sich also der Illusion schuldig, dass die Grenzabstimmung in greifbare Nähe gerückt ist und im Falle ihrer Durchführung eine Mehrheit finden würde, was jedoch nicht unvermeidlich ist, wenn man den Meinungsumfragen glauben darf.

Eine weitere Illusion besteht darin, dass Großbritannien als „neutraler“, „desinteressierter“ Akteur die Einheit fördern und alle Bestimmungen des Karfreitagsabkommens in gutem Glauben umsetzen würde. Doch die britische Präsenz ist das Hauptproblem. Nicht umsonst haben aufeinanderfolgende britische Regierungen einen 30-jährigen Krieg gegen diejenigen geführt, die die Grenze abschaffen wollten. Großbritannien könnte sich zwar prinzipiell für ein vereinigtes kapitalistisches Irland erwärmen, aber zu britischen Bedingungen, was in naher Zukunft höchst unwahrscheinlich ist.

Man kann sich nicht auf das Abkommen verlassen, das sich ohnehin auflöst, oder auf die Forderung nach einer Grenzabstimmung, um Irland zu vereinen. Die Tatsache, dass eine Abstimmung im Norden gefolgt von einer Abstimmung im Süden stattfinden müsste, ist eine Parodie dessen, was geschehen sollte. Die konsequente demokratische Position ist eine gesamtirische Wahl zu einer gesamtirischen Versammlung, in der das irische Volk als Ganzes über seine Zukunft im Norden entscheidet.

Die Sozialist:innen sollten sich für die Selbstbestimmung als Teil einer Strategie zum Aufbau einer Arbeiter:innenrepublik einsetzen. Die Teilung hat die Arbeiter:innenklasse in Irland schon zu lange gespalten. Da das Ausmaß des Elends und der Entbehrungen im gegenwärtigen Klima in die Höhe schießt, ist es unerlässlich, dass eine kämpferische Arbeiter:innenbewegung aufgebaut wird, um die Arbeiter:innenklasse in ganz Irland zu verteidigen. Eine Massenbewegung auf der Straße und direkte Aktionen sind der Weg, um die Interessen der Arbeiter:innenklasse voranzubringen und dem imperialistischen Staat nördlich der Grenze die Kontrolle ebenso zu entreißen wie dem kapitalistischen Staat im Süden.

Der Kapitalismus ist entschlossen, die Kosten für seine zahlreichen Krisen auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen. Die Arbeiter:innen müssen darauf mit Arbeitskämpfen und dem Aufbau demokratischer Arbeiter:innenräte reagieren, die sich selbst verteidigen und den Kapitalismus letztendlich zerschlagen können. In Irland muss eine revolutionäre Partei aufgebaut werden, die für diese Strategie kämpfen kann – eine Strategie, die auf der permanenten Revolution basiert, in der die Arbeiter:innenklasse die uralte nationale Frage durch den Kampf für eine Arbeiter:innenrepublik löst.




EU und Belarus: „Hybridkrieg“ auf Kosten der Geflüchteten

Urte March/Susanne Kühn, Infomail 1169, 11. November 2021

Tausende Geflüchtete hängen mittlerweile in der Grenze zwischen Belarus und den benachbarten EU-Staaten Polen, Lettland und Litauen bei Kälte, ohne ausreichende Lebensmittel und ohne Gesundheitsversorgung fest. Sie leben faktisch im Niemandsland. Verzweifelt versuchen immer wieder größere Gruppen, das angeblich humanitäre Ufer der EU zu erreichen – und werden dort von den polnischen oder anderen Sicherheitskräften brutal abgefangen und zurückgetrieben. Polen hat einen massiven Grenzzaun zum Schutz der Festung Europa hochgezogen und entlang der Grenze einen drei Kilometer langen De-facto-Sperrstreifen gebildet. Selbst jene Menschen, die es mit größter Anstrengung bis nach Deutschland schaffen, sollen an den Grenzen abgefangen werden.

Folgt man der polnischen, lettischen oder deutschen Regierung, der EU-Kommission oder dem US-Präsidenten, liegt die Sache klar. Belarus führe mit Putins Unterstützung einen „hybriden Angriff“ auf die EU. Die Geflüchteten würden, so der für sich genommen durchaus zutreffende Vorwurf, von Lukaschenko missbraucht. Dessen Zynismus will die EU offenkundig selbst nicht nachstehen. Dass die Geflüchteten als politische Manövriermasse benutzt werden, reicht ihr als Vorwand dafür, selbst tausende Geflüchtete zurückzuschicken, ihnen jede elementare Versorgung zu verweigern und selbst die Reste des Asylrechts vorzuenthalten, indem etwaige Anträge erst gar nicht angenommen werden.

An der Grenze zwischen Weißrussland und seinen EU-Nachbarn Polen, Lettland und Litauen herrscht auf jeden Fall ein Krieg – nämlich der gegen die Flüchtlinge. Die Menschen aus dem globalen Süden werden wieder einmal als Spielfiguren in einem brutalen zwischenstaatlichen Machtkampf benutzt.

Die sog. Welle

Seit dem Frühsommer berichten benachbarte EU-Länder und bürgerliche Medien von einer „Welle“ von Flüchtlingen, die versuchen, ihre Grenzen von Belarus aus zu überqueren, um Asyl zu beantragen. AugenzeugInnen und GrenzpolizistInnen bestätigen, dass belarussische Sicherheitskräfte den Transport zur Grenze organisieren und die Menschen mit dem Versprechen, sie nach Europa zu bringen, zur Überfahrt ermutigen.

Die MigrantInnen stammen aus dem Nahen Osten und Nordafrika, wobei eine größere Anzahl von KurdInnen, SyrerInnen und AfghanInnen gemeldet wurde. Obwohl die Zahl der Flüchtlinge keineswegs überwältigend ist (bis zu 10.000 in den drei Ländern), werden sie von einigen in diesen Staaten als eine große soziale Störung angesehen. Dies ist das Ergebnis eines starken Trends zum Ethnonationalismus, der irrationale Ängste über die Auswirkungen dieser MigrantInnen auf die „ethnisch homogenen“ Gesellschaften dieser Länder schürt.

Die Regierungen Polens, Lettlands und Litauens haben darauf mit einem unterschiedlichen Maß an Repression reagiert. Alle drei haben verschiedene Maßnahmen ergriffen, darunter den Bau von Zäunen und eine verstärkte Polizei- und Militärpräsenz, um die Grenzübertritte zu verhindern, und den Ausnahmezustand entlang der Grenze ausgerufen.

Polen ist auf diesem Weg am weitesten gegangen und hat Flüchtlinge, die die Grenze bereits überschritten haben, gewaltsam abgeschoben. Tausende MigrantInnen sitzen mittlerweile zwischen den Grenztruppen der beiden Länder fest, ohne Zugang zu Wasser, Nahrung oder Unterkunft. Dies verstößt eindeutig gegen geltendes Recht, nach internationalem Gesetz Asyl zu beantragen, und wurde von Amnesty International und anderen Menschenrechtsgruppen kritisiert.

Am 25. August wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen an, MigrantInnen und Flüchtlingen an den Grenzen humanitäre Hilfe zu leisten, und erneuerte die Anordnung am 27. September. Polen ist der Anordnung des Gerichtshofs bisher nicht nachgekommen, und Menschenrechtsgruppen haben mindestens sechs Todesfälle festgestellt. Probleme mit der EU und einzelnen EU-Staaten braucht es dafür nicht zu fürchten, im Grunde sind die EU-Kommission, Deutschland und andere froh darüber, dass Polen die rassistische Drecksarbeit für sie verrichtet.

In Litauen werden diejenigen, die das Land betreten, in provisorischen Räumlichkeiten untergebracht. Da die bestehenden Migrationszentren nicht für die Aufnahme der neuen Menschen geeignet waren, wurden die MigrantInnen zunächst in Waldlagern oder stillgelegten Schulen aufgenommen und später in umfunktionierten öffentlichen Gebäuden, darunter auch ehemaligen Gefängnissen, einquartiert. In vielen dieser Einrichtungen wurde über mangelnde Hygiene, fehlendes Wasser und nicht funktionierende Heizung berichtet.

Die Rechtsgrundlage für die unbefristete administrative Inhaftierung aller GrenzgängerInnen ist zwar unklar, aber das kümmert die westlichen Regierungen nicht. BeamtInnen bemühen sich auch auf diplomatischer Ebene, MigrantInnen daran zu hindern, ihre Heimatländer überhaupt zu verlassen. Im August flogen litauische VertreterInnen nach Bagdad und handelten eine Einstellung der kommerziellen Flüge vom Irak nach Minsk aus. Nun sollen Sanktionen gegen Fluglinien erfolgen, die Menschen nach Belarus fliegen, die Flüchtlinge sein könnten!

Imperialistisches Schachspiel

Obwohl die EU den Anschein erwecken will dass sie die Menschenrechte durchsetzt, erweist sich dies täglich als mörderische Lüge. Ihr Hauptinteresse besteht darin, Lukaschenko und seinen russischen UnterstützerInnen zu zeigen, dass seine Politik mit einer aggressiven Reaktion begegnet wird. Die Klärung von Einzelfällen, die an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergeleitet werden, wird Monate oder Jahre dauern. In der Zwischenzeit macht jeder Staat mit der Überwachung der Grenzen der Festung Europa weiter.

Obwohl in den internationalen Medien immer wieder von sozialer Unruhe die Rede ist, gab es auch vor Ort zahlreiche Solidaritätsbekundungen. In Litauen wurden eine Reihe von humanitären Hilfsorganisationen, darunter das Rote Kreuz, die Caritas und religiöse Gruppen, von Freiwilligen und Spenden überschwemmt. Außerdem fanden am 17. Oktober große Demonstrationen statt, bei denen eine humanere Politik gegenüber den Flüchtlingen gefordert wurde. In Warschau versammelten sich schätzungsweise 3.000 Menschen unter dem Motto „Stoppt die Folter an der Grenze“.

Auch im Ausland hat es Solidaritätsaktionen gegeben. Am Sonntag, den 17. Oktober, versammelten sich mehrere Hundert Menschen vor der polnischen Botschaft in London, um gegen die illegalen Rückschiebungen von MigrantInnen über die Grenze zu protestieren, die die Regierung vornimmt. Die Demonstration wurde von humanitären Organisationen wie Amnesty zusammen mit polnischen Gruppen wie Polish Migrants Organise organisiert.

Doch selbst bei denjenigen, die sich für humanitäre Hilfe engagieren, hält sich im öffentlichen Bewusstsein die Unterscheidung zwischen „legitimen“ Flüchtlingen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, und „illegalen“ WirtschaftsmigrantInnen. Es gab auch nur wenige Versuche, die Logik der Grenzen und das Recht der Staaten, sie zu überwachen, in Frage zu stellen. Dies zeigt, dass das Gift des Rassismus in die ArbeiterInnenklasse eingedrungen ist und weiter wirkt. Die rassistische Ideologie wird von der herrschenden Klasse als Instrument verbreitet, um die ArbeiterInnen zu spalten und zu beherrschen und sie daran zu hindern, zu erkennen, dass ihr wahrer Feind nicht die ArbeiterInnen anderer Länder sind, sondern das System des globalen Kapitalismus, das alle ArbeiterInnen unterdrückt.

Auch andere europäische Staaten bereiten sich darauf vor, eine neue Welle von Flüchtlingen aus Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban abzuwehren. Griechenland hat kürzlich einen Zaun und ein Überwachungssystem an seiner Grenze zur Türkei fertiggestellt. Der griechische Minister für Bürgerschutz, Michalis Chrisochoidis, sagte bei einem Besuch auf der Insel Evros: „Wir können nicht passiv auf die möglichen Auswirkungen warten. Unsere Grenzen werden unantastbar bleiben.“ Dies zeigt einmal mehr die Heuchelei der EU, die die Achtung der Menschenrechte von MigrantInnen fordert, während sie gleichzeitig ihre Grenzen verstärkt und zulässt, dass sich die Leichen von Geflüchteten an den Stränden des Mittelmeers stapeln.

Währenddessen sind es die MigrantInnen, die vor unvorstellbarer Armut und Krieg fliehen, die unter den Folgen dieses imperialistischen Schachspiels leiden. Die ArbeiterInnenbewegung, ob in Polen, Griechenland oder anderswo, muss an der Seite dieser MigrantInnen stehen und für eine Welt kämpfen, in der rassistische Grenzen auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden, zusammen mit dem globalen kapitalistischem System, auf dem sie beruhen.




Vierte Welle der Pandemie: Und täglich grüßt das Murmeltier

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 258, September 2021

Die vierte Welle der Pandemie hat längst begonnen. Ende August 2021, zum Zeitpunkt der Drucklegung, befinden wir uns in einer Phase des langsamen exponentiellen Anstiegs. Am 26. August wurden 12.626 Infektionsfälle neu gemeldet, die 7-Tage-Inzidenz lag bei 66, am 28. August bereits bei 74. Seit Ausbruch des Corona-Virus sind mittlerweile weltweit 214 Millionen Menschen infiziert worden und 4,47 Millionen gestorben – und das sind nur die gesicherten, offiziellen Zahlen.

Und doch: Täglich grüßt das Murmeltier. Waren wir hier nicht schon? Hatten wir nicht bereits im vergangenen Jahr einen „Supersommer“, um dann verwundert in die nächste Welle des Pandemiegeschehens zu geraten? Und aus Perspektive des Autoren: Habe ich nicht schon beim letzten Artikel dazu die Sorge gehabt, dass er zum Zeitpunkt seines Abdrucks veraltet wirken könnte, die Zahlen weit schlechter sind als noch zum Zeitpunkt des Verfassens, noch weit mehr Menschen an den Folgen der Pandemie leiden, erkranken oder gar sterben?

Internationale Lage

Aber hier stehen, sitzen, liegen wir nun und die Pandemie bleibt weiterhin eine der brennenden Fragen der internationalen Krise. Dabei verfügen wir – anders als im Sommer 2020 – über wirksame Impfstoffe, wäre eine gezielte und koordinierte Politik zur Bekämpfung der Pandemie weitaus effektiver möglich. Doch während die reichen, imperialistischen Staaten einen Teil der Bevölkerung geimpft haben, mangelt es daran in den ärmsten Regionen der Welt, in den Ländern des globalen Südens – eine Folge der kapitalistischen Weltordnung, der Monopolisierung von Forschung, Entwicklung bei den großen Konzernen in den imperialistischen Staaten. Riesige Profite gehen offenkundig vor Gesundheitsschutz. Die vierte Welle der Pandemie ist noch direkter und unmittelbarer als die anderen gesellschaftlich verschärft und verursacht.

Die Debatten und Maßnahmen gegen die Pandemie verdeutlichen, dass wir immer wieder in eine Sackgasse geraten, solange wir einem bürgerlichen Klassenstaat die Festlegung und Kontrolle über die Maßnahmen überlassen.

Mit einer Impfkampagne die vierte Welle brechen?

Die Bundesregierung agiert als sogenanntes „One-Trick Pony“, als Pferd, das nur einen Trick draufhat. Doch die Pandemie lässt sich nicht nur durch eine Maßnahme, nicht nur durch das ständige Beschwören einer Impfkampagne stoppen.

Genau das macht aber die Bundesregierung, während wir eine ganze Palette von Maßnahmen bräuchten, um neben dem Impfen die Pandemie international einzudämmen. Maßnahmen wären: Testung, Quarantäne, Impfung, Masken, Abstand, eine Corona-Ampel, die regionale Maßnahmen festlegt, ArbeiterInnenkontrolle über alle Lebensbereiche, also auch die Arbeitswelt und vieles mehr.

Dahinter steht mehr als nur ein Wahlkampf, bei dem sich bis zum 26. September keine Partei die Finger verbrennen möchte. Es ist die logische Konsequenz einer Gesellschaftsordnung, in der die Verwertungslogik des Kapitals (G-W-G‘) stets an oberster Stelle stehen muss. Eine Ordnung, in der sinnvolle Konzepte wie das von #ZeroCovid, bei denen der Schutz der Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung im Zentrum steht, notwendigerweise mit den Profitinteressen kollidieren und nicht ohne organisierten Druck durch Streiks und soziale Kämpfe durchgesetzt werden können.

Die Politik der Bundesregierung hat während der gesamten Pandemie einen Kurs verfolgt, die Verwertungsinteressen des Kapitals zu sichern. Daher endete der Gesundheitsschutz letztlich vor den Werkstoren, die Produktion musste weiterlaufen – auch in der 2. und 3. Welle der Pandemie. Geschlossen wurden Freizeit und Bereiche der sozialen Reproduktion. Genau diese Politik hat auch die Akzeptanz gegenüber wirksamen und gesundheitspolitischen Maßnahmen zerstört, weil sie in sich widersprüchlich war und am Werkstor haltgemacht hat. Das hat nicht nur ihre Wirkung reduziert, es hat vor allem auch die Verantwortung für die Gesundheit und die Lasten der Maßnahmen den Einzelnen aufgehalst.

Backlash

Diese widersprüchliche Politik führte in den letzten Monaten zu einem ideologischen Rückschlag. Wurden zu Beginn der Pandemie jene Regierungen kritisiert, die sich für eine Strategie der Herdenimmunität aussprachen und dafür auf andere Maßnahmenkataloge und Lockdowns verzichteten, so scheint dies nun faktisch zum vorherrschenden Modell zu werden. Damit folgt die Bundesregierung dem ideologischen Chor, dass es notwendig bleibt, mit dem Virus zu leben und die Konsequenzen daraus tragische, aber individuelle Schicksale seien.

Kurzum: Wer stirbt, ist selbst schuld. Zugleich werden jene, die keinen Impfschutz bekommen können, recht kategorisch als Impfunwillige stigmatisiert, also hartnäckige, irrationale Corona-LeugnerInnen mit anderen in einen Topf geworfen. Der Staat oder die Gesellschaft haben dieser Darstellung zufolge keine anderweitigen Möglichkeiten, als an die individuelle Vernunft zu appellieren, und entledigen sich dabei weitgehend der Verantwortung.

Schon in der zweiten Welle wurde eine solche Politik mit Schlagworten wie „mit dem Virus leben“ oder „akzeptable Sterberaten“ von Unternehmerverbänden und bürgerlichen Medien propagiert. Aber es erfolgte damals auch noch ein öffentlicher Aufschrei ob der offenen Inkaufnahme vermeidbarer Todesopfer. Nun scheint sich die Lage so weit geändert zu haben, dass ein „akzeptables“ Ausmaß von Opfern – gewissermaßen die Kosten der „Freiheit“ – billigend in Kauf genommen wird.

Im Zuge dessen versucht die Bundesregierung,  durch die Einführung einer Schnelltestpauschale ab 11. Oktober die „Motivation“ zum Impfen zu fördern. Diese trifft die ärmeren Teile der ArbeiterInnenklasse deutlich härter als andere Menschen. Angebote wie garantierte bezahlte Krankheitstage im Anschluss an die Impfung, die Ausweitung mobiler Impfteams in ärmeren Stadtvierteln, in ländlichen Regionen oder gegenüber sozial marginalisierten Gruppen wie beispielsweise Wohnungslosen wären zwei mögliche wirkliche Motivationen. Sie würden allerdings Kosten verursachen – und die will der Staat lieber sparen.

Doch die Beendigung einer flächendeckenden Teststrategie auch außerhalb des Verdachtsfalls hat schwerwiegende Konsequenzen. Durch diese werden Superspreader-Events durch asymptomatisch Infizierte wahrscheinlicher. Dasselbe gilt durch die schrittweise Rücknahme der Pflicht zum Maskentragen. Der Strategiewechsel und die technik-optimistische Orientierung auf das Impfen können so leicht zu einem bloßen Hinauszögern der Überlastung des Gesundheitssystems führen.

Inzidenzen oder lockere Werte?

Am deutlichsten wird dies durch die Diskussion über die Inzidenzwerte. Es stimmt zwar, dass wir keine eindeutigen Inzidenzen haben, solange es zwei ähnlich große Gruppen in der Bevölkerung gibt, einerseits Geimpfte und Genesene und andererseits die, die nicht darunterfallen. So hat beispielsweise der bayrische Gesundheitsminister Holetschek (CSU) am 25. August bekanntgegeben, dass die Inzidenz in Bayern bei 110,55 unter Ungeimpften und bei Geimpften bei 9,18 lag.

Eine reine Betrachtung der Auslastung der Krankenhäuser, die sogenannte Krankenhaus-Ampel, ist hingegen makaber gegenüber den Beschäftigten in den Krankenhäusern, anderen notwendigen intensivmedizinischen Behandlungen und jeder von Long-Covid betroffenen Person. Um das Pandemiegeschehen weiterhin abschätzen und eindämmen zu können, ist die Inzidenz also weiterhin zentral, da wir damit die Reproduktionszahl (R) abschätzen können. Durch diese lässt sich der Trend des Infektionsgeschehens verstehen, ob exponentielles Wachstum oder exponentielle Abnahme, woraus sich wiederum etwaige Maßnahmen ableiten lassen.

Impfquoten, -stoffe und -patente

Die Gefahr einer Infektion bleibt jedoch weiterhin für geimpfte Personen bestehen. Durch die Infektion von Geimpften erhöht sich wiederum die Gefahr weiterer Mutationen, die die Immunität fähig sind zu umgehen. Dies unterstreicht die Zentralität eines internationalen Plans zur Bekämpfung der Virusausbreitung, da mittlerweile auch Regionen, deren Strategien besonders erfolgreich waren, von der Deltamutante betroffen sind, wie Vietnam. Die Basisreproduktionszahl des ursprünglichen Corona-Virus lag noch zwischen 2,8 und 3,8, die der Delta-Variante wird auf 6 geschätzt. Zwar ist es beispielsweise Taiwan gelungen, die Fallzahl wieder auf null zu senken, jedoch stellt dies eine stetige Aufgabe dar und wird mit jeder Mutante etwas unmöglicher.

Heute sind erst etwa 24,9 % der Weltbevölkerung vollständig geimpft. Wir sind also weit davon entfernt, irgendeine Art der Herdenimmunität zu erreichen aus geimpften und genesenen Personen, die in der Lage wäre, die Ausbreitung des Virus zu stoppen und dieses einzudämmen. Auch hierzulande reichen die Zahlen nicht aus (60,1 % vollständig und 64,9 % mindestens einfach geimpft; 27.08.).

Zugleich haben wir mittlerweile die paradoxe Situation erreicht, dass in Deutschland ein Überschuss an Impfstoffen existiert, der nicht ausreichend verbraucht wird, während wir international weiter einen realen und gigantischen Mangel haben. Laut einer Umfrage des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland drohen bis Herbst bis zu 3,2 Millionen Impfdosen zu verfallen. Dies führt uns einmal mehr die Folgen des Impfstoffnationalismus drastisch vor Augen, bei dem imperialistische und andere wohlhabende Länder große Mengen des Impfstoffes vorbestellten oder gar jedwede Ausfuhr verboten, solange keine ausreichende Anzahl an Impfstoffen im Inneren vorlag.

Wir haben uns bereits in mehreren Artikel in der Neuen Internationale und auf unserer Homepage mit der wichtigen Frage der Impfstoffe nebst ihrer Patente befasst, so dass wir an dieser Stelle diese nur kurz streifen werden. Um die Pandemie systematisch bekämpfen zu können, brauchen wir u. a. eine internationale Impfstrategie. Diese muss die Freigabe ihrer Patente sowie den Austausch von Wissen und Technologien beinhalten. Durch den Aufbau neuer Produktionsstätten international gilt es, die jeweiligen Flaschenhälse der Impfstoffproduktion zu vermeiden, kontrolliert durch Organe der ArbeiterInnenbewegung.

Schulen

Doch auch in Deutschland bleibt die Situation notwendig widersprüchlich. Das zeigt uns leider erneut die Schulpolitik. Über SchülerInnen hielt sich dabei lange Zeit das Gerücht, dass die Infektion kaum bis keine Gefahr bieten würde, weshalb die StiKo (Ständige Impfkommission des RKI) keine Notwendigkeit einer Impfkampagne unter SchülerInnen in den Sommermonaten gesehen hat. Im epidemiologischen Bulletin 33 des RKI  vom 24. August wurden nun neue Daten veröffentlicht, die eine andere Geschichte erzählen und eine zügige Impfkampagne unter den 12- bis 17-jährigen Jugendlichen stark empfehlen.

Die Studie enthält eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit einer Long-Covid-Erkrankung bei der Altersgruppe. In etwa 2,75 % der Infektionsfälle sei eine solche Erkrankung zu erwarten (Standardabweichung 1,96, somit zu 95 % eine sichere Aussage). Die Zahlen sind zwar immer noch geringer als die in der Gesamtbevölkerung erwarteten 10 – 20 %, betreffen jedoch weiterhin mehr als jede vierzigste Infektion.

Nichtsdestotrotz bleibt die Empfehlung eines konsequenten Offenlassens der Schulen durch die StiKo bestehen. Das Risiko sowohl einer Durchseuchung der SchülerInnen als auch ihrer Angehörigen wird somit bewusst eingegangen. Zusätzlich muss leider gesagt werden: Bisher konnte noch kein signifikanter Unterschied im Risiko einer Long-Covid-Erkrankung pro Infektion bei geimpften oder ungeimpften Personen festgestellt werden. Außerdem enthält die Studie nicht genug Daten bezüglich der Deltavariante. In den USA können wir jedoch erkennen, dass die Infektionsverläufe bei SchülerInnen häufiger schwerer sind.

Sogar die Pflicht zur Maske wird nur für die Zeit der „Urlaubsrückkehr“ bundesweit beibehalten. Die Strategie lautet also auch hier: Durchseuchung. Dem stellen wir das Ende der Pflicht zum Präsenzunterricht und die Kontrolle des Infektionsschutzes durch Lernende, Lehrende und die Gewerkschaften entgegen.

Exkurs: Nachlassender Impfschutz in Israel?

Kurz sollten wir noch auf einen aktuellen Kritikpunkt am Impfschutz eingehen: die Frage des nachlassenden Impfschutzes und etwaiger Drittimpfungen. Als vor einigen Wochen eine Studie (Quelle: https://www.covid-datascience.com/post/israeli-data-how-can-efficacy-vs-severe-disease-be-strong-when-60-of-hospitalized-are-vaccinated) über die zu Krankenhausaufenthalten führenden Durchbruchsinfektionen (das sind Corona-Infektionen bei vollständig Geimpften) in Israel veröffentlicht wurde, gab es laute Aufschreie: Der Impfstoff von BioNTech/Pfizer sei nicht effektiv gegen die Deltavariante! Begründet wurde dies mit den höheren Anteilen an stationierten Infizierten je 100.000 EinwohnerInnen (214 zu 301). Diese Gegenüberstellung stimmt zwar, ist jedoch verkürzt, fehlen doch die Proportionen in der Bevölkerung (18,2 % ungeimpft, 78,7 % vollständig geimpft) und die verhältnismäßigen Anteile an Infektionen (16,4 %; 5,4 %). Wenn diese noch auf die Altersgruppen über und unter 50 Jahren aufgeteilt werden, so erkennen wir, dass der Schutz vor einem schweren Verlauf samt Krankenhausaufenthalt bei den unter 50-Jährigen um 91,8 % und bei den über 50-Jährigen um 85,2 % reduziert wird. Daraus erklärt sich die Diskussion zur Dreifachimpfung in ausgewählten Bevölkerungsgruppen. Dies zeigt an, dass die geimpften und ungeimpften Gruppen verglichen werden müssen, jedoch ebenfalls in ihrer Altersstruktur, da ältere Menschen im Durchschnitt anfälliger für Lungenerkrankungen sind. Daneben bleibt zu sagen, dass die tendenzielle Abnahme eines Impfschutzes an sich eine natürliche Folge ist und die älteren Bevölkerungsteile die ersten waren, die geimpft wurden. Richtig ist jedoch die Sorge, dass bei bestehendem Impftempo die Pandemie nicht mit diesem Werkzeug allein auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden kann.

Was tun?

Für uns ist einiges klar. Die Pandemie wird mit dem Programm der Bundesregierung, aber auch jeder oppositionellen Partei im Parlament weitestgehend ausgesessen. Die Folgen der Infektion werden jeder einzelnen Person überlassen. International gibt es eine Perspektive zur Zurückdrängung noch viel weniger. Es braucht ein Ende der Odyssee des Wellenreitens!

Wir brauchen also eine soziale Bewegung, die für ein unabhängiges Klassenprogramm zur Beendigung der Pandemie und gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die arbeitende und unterdrückte Bevölkerung des Planeten kämpft. Dafür muss der Wahlkampf genutzt werden, müssen aber auch Arbeitskämpfe wie die der Krankenhausbewegung in Berlin und zu guter Letzt die verschiedenen Proteste in einem sich abzeichnenden heißen Herbst wie #unteilbar, Mietenwahnsinn, die Proteste gegen die IAA oder die Klimastreiks.

All diese Auseinandersetzungen agieren vor dem Hintergrund der internationalen Pandemie und sollten beantworten können, wie die von ihr aufgeworfenen Fragen in diesen Zeiten zu lösen sind. An Aktionen mangelt es dabei nicht, sondern das zentrale Problem ist das Fehlen einer einheitlichen politischen Perspektive. Deshalb braucht es gemeinsame Strategiediskussionen dieser verschiedenen Kämpfe, wie der Widerstand gegen die dreifache Krise von Ökonomie, Ökologie und Pandemie organisiert werden soll.

Wir brauchen ein Sofortprogramm, wie wir diesen Kampf führen wollen. Einige mögliche Aspekte eines solchen Programms könnten die folgenden sein:

  • Sofortige Aussetzung der Präsenzpflicht in Betrieben, Schulen und Universitäten! Festlegung dieser durch Kontrollorgane der Beschäftigten bzw. der Lehrenden und Lernenden!
  • Bezahlte und garantierte Krankschreibungen von mindestens zwei Tagen nach der Impfung!
  • Keine Aussetzung des kostenlosen flächendeckenden Schnelltestangebotes und Einführung einer Testpflicht für Großveranstaltungen, egal ob bereits geimpft oder genesen!
  • Ausweitung der mobilen Impfteams, ob in ärmeren Vierteln, auf dem Land oder in Betrieben!
  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen, international! Sofortige Aufhebung des Patentschutzes sowie Transfer von Wissen und Technologien!
  • Zahlen sollen die KrisengewinnerInnen! Beschlagnahmung der Pandemiegewinne zur Finanzierung der Kosten zu ihrer Bekämpfung. Wer sich weigert, soll enteignet und verstaatlicht werden!
  • Kontrolle der Maßnahmen durch Organe aus Beschäftigten, Gewerkschaften und von ExpertInnen, die unser Vertrauen genießen!



Sofortige Aufhebung des Patentschutzes – Corona-Impfstoff für alle!

Katharina Wagner, Infomail 1150, 18. Mai 2021

Wer in den letzten Wochen Nachrichten hörte oder die Zeitung aufschlug, dürfte überrascht gewesen sein. Denn nach wochenlangen Diskussionen über den herrschenden Impfnationalismus forderte plötzlich auch Joe Biden das zumindest vorübergehende Aussetzen des Patentschutzes, um die weltweite Versorgung mit Impfstoffen gegen COVID-19 und damit ein Beherrschen der Corona-Pandemie zu gewährleisten.

Unter Druck von progressiven DemokratInnen und BefürworterInnen des öffentlichen Gesundheitswesens, vor allem wegen der derzeit katastrophalen Zuspitzung der Pandemie in Indien, sah sich der US-Präsident zu einer geänderten Stellungnahme gezwungen. Natürlich nicht ohne zu ergänzen, dass er nach wie vor die bereits verfügbaren Impfstoffe zunächst für die eigene Bevölkerung einsetzen werde.

Weltweite Forderung

Die Forderung nach Aussetzung der Patente wird seitens der WHO und vielen Ländern des globalen Südens seit langem geäußert, um die Produktion von Impfstoffen weltweit ohne Zahlung von Lizenzgebühren zu ermöglichen. Bereits im Oktober 2020 wurde durch Brasilien und Indien ein Antrag an die Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht, der die Aussetzung von mehreren Punkten des TRIPS-Abkommens vorsieht. Dieser wird mittlerweile von über 100 Ländern unterstützt. Hierbei geht es um die Aussetzung bestimmter Aspekte bezüglich des Recht sauf geistiges Eigentum in Bezug auf Vakzine, Heilmittel und medizinische Ausrüstung im Zusammenhang mit COVID-19. Ein solcher Antrag muss aber von den Mitgliedsstaaten einstimmig angenommen werden und scheiterte bisher am Veto der USA und der EU.

Warum die Forderung nach Aufhebung der Patente für Vakzine nicht von der Hand zu weisen ist, zeigen die Zahlen der bisherigen globale Impfstoffverteilung. Afrikanische Staaten, deren Anteil an der Weltbevölkerung rund 16 % der Gesamtbevölkerung ausmacht, wurden bisher nur mit 2 % der verfügbaren Impfstoffmenge beliefert. Dem gegenüber sollen bis zu 70 % der verfügbaren Vakzine an die Industriestaaten gehen. Und dass sich die ärmeren Länder dieser Welt nicht alleine auf das COVAX-Programm der WHO verlassen dürfen, ist nicht erst seit dem starken Anstieg der Infektionszahlen in Indien deutlich geworden, welcher zu drastischen Reduzierungen der für das Programm bestimmten Impfdosen geführt hat. Die dort hergestellten Dosen des AstraZeneca-Impfstoffes werden nun dringend für die eigene Bevölkerung benötigt und fehlen somit außerhalb Indiens.

Die Forderung nach Aussetzung des Patentrechts für Impfstoffe wird sogar von der Bevölkerung der imperialistischen Länder befürwortet. Rund 70 % der Befragten in G7-Staaten sind laut einer Meinungsumfrage für die Aussetzung des Patentrechts, um die globale Pandemie schnellstmöglich zu beenden. Schließlich müsste jedem klar sein, dass die Pandemie nur global überwunden werden kann. Vor allem in Regionen mit geringer Impfquote ist biologisch betrachtet die Wahrscheinlichkeit von weiteren Mutationsvarianten deutlich erhöht, und somit wird auch die Wirksamkeit der Impfstoffe aufs Spiel gesetzt.

Lautstarke Kritik und Erklärungsversuche

Vor allem aus der EU kommt großer Vorbehalt gegen diesen Antrag. Bundeskanzlerin Merkel hat sich bereits mehrmals eindeutig gegen die Aufhebung des Patentschutzes ausgesprochen. Aus Kritikerkreisen ist zudem zu hören, dass nicht der bestehende Patentschutz, sondern vor allem die fehlenden Produktionskapazitäten, Fachkenntnisse und die Beschaffung von Rohstoffen die größten Hindernisse seien.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU bei einer Aufhebung des Patentschutzes vor allem Wettbewerbsvorteile für die Volksrepublik China befürchtet. Denn diese könne im Gegensatz zu vielen halbkolonialen Ländern die dann zugänglichen Informationen viel schneller für eigene Impfstoffproduktionen nutzen.

Im Folgenden wollen wir die Entwände gegen eine Aufhebung des Patentschutzes näher betrachten. Tatsächlich handelt es sich bei der Herstellung von mRNA-Impfstoffen um ein völlig neuartiges Verfahren, und nur wenige Pharma- beziehungsweise Biotechfirmen verfügen derzeit tatsächlich über das notwendige Fachwissen, um diese Impfstoffe in hoher Qualität herzustellen. Dies liegt aber in erster Linie an dem sehr restriktiven Vorgehen der Biotechfirmen BioNTech, Moderna sowie CureVac, welche ihre jeweiligen KooperationspartnerInnen meist nur mit einzelnen Schritten innerhalb des Herstellungs- oder Abfüllungsprozesses beauftragen, um die Produktionsmengen zu erhöhen. Hierbei werden aber lediglich die zwingend erforderlichen Informationen weitergeleitet. Ein vollständiger Wissenstransfer findet nicht statt.

Im Oktober 2020 gab es von der US-amerikanischen Biotechfirma Moderna sogar das Angebot, den Patentschutz für ihr mRNA-Vakzin nicht durchsetzen zu wollen, damals vermutlich hauptsächlich aus Imagegründen, und das geistige Eigentum erst nach Ende der Pandemie lizenzieren zu wollen. Auch die Mainzer Firma BioNTech hat kürzlich angekündigt, ihre Patente kurzfristig aussetzen und bis zum Ende der Pandemie den Patentschutz juristisch nicht durchsetzen zu wollen.

Allerdings wird ein Ende der Pandemie von der WHO festgelegt, und da in zahlreichen Industrieländern schon ein gewaltiger Impffortschritt und niedrige Inzidenzzahlen erzielt werden konnten, könnte dieses „Ende“ vielleicht früher als erwartet verkündet werden, während sich die Pandemie in den halbkolonialen Ländern mit voller Wucht weiter ausbreitet.

Ob die jeweilige Zeitspanne dann ausreichend ist, um in diesen Ländern die erforderlichen Produktionskapazitäten aufbauen und Fachpersonal bereitstellen zu können, bleibt fraglich. Daher ist die Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes notwendig, aber nicht ausreichend. Ebenso wichtig ist die Forderung nach einem umfassenden Technologie- und Wissenstransfer sowie nach Bereitstellung von personellen und finanziellen Ressourcen, um die weltweiten Produktionskapazitäten für diese Art von Impfstoff stark auszuweiten.

Allerdings ist dies ohne Zugang zum Wissen und zur Erfahrung der jeweiligen Unternehmen kaum denkbar. Es bräuchte daher staatliche Zwangsmaßnahmen, um einen Transfer dieses Wissens und eine umfassende Kooperation zu erzwingen. Ein weiteres Mittel, welches schon jetzt eingesetzt werden könnte, wäre die Vergabe von Lizenzen an andere, auch internationale Pharmafirmen. Firmen aus Dänemark, Bangladesch sowie Indonesien und Südafrika hatten sich bisher vergeblich bemüht, in die Impfstoffherstellung einzusteigen. Doch bisher wurden selbst diese Schritte unter Berufung auf den Patentschutz vor allem von den USA und der EU blockiert. Die rechtliche Möglichkeit der Zwangslizenzierung wird aufgrund des enormen Drucks seitens der Pharmabranche von den bürgerlichen Regierungen natürlich auch nicht genutzt.

Nicht nur bei der Patentfrage, sondern auf allen Ebenen erweist sich das Profitinteresse der großen Kapitale als entscheidendes Hindernis für eine effektive, international koordinierte Pandemiebekämpfung.

Zahlreiche Initiativen weltweit

Derzeit gibt es international zahlreiche Initiativen von NGOs, Sozial- und Gesundheitsverbänden sowie Gewerkschaften, welche eine Aussetzung des Patentschutzes fordern. Neben der Partei DIE LINKE, welche bereits im Januar diesen Jahres einen entsprechenden Antrag zur Freigabe der Patente im deutschen Bundestag einreichte, stellen sich auch zahlreiche linke Gruppen wie marx21 oder die Interventionistische Linke (IL) eindeutig hinter diese Forderung.

Im Kampf für das weltweite Recht auf Gesundheit und freien Zugang zu Impfstoffen sind transnationale, breite Bündnisse wie bspw. die Bewegung #ZeroCovid unbedingt notwendig. Zwar fehlt diesen losen Bündnissen oft noch ein „politischer Hebel“. Dennoch ist es gelungen, diese Forderung zu verbreitern und somit zumindest einen Ansatzpunkt für einen gemeinsame Kampf zu finden. Um allerdings global einen gerechten Zugang zu Impfstoffen durchzusetzen, reicht allein die Forderung nach einer Aussetzung des Patentrechtes nicht aus, vielmehr muss die weitreichendere Forderung nach vollständiger Enteignung der Pharmakonzerne sowie des gesamten Gesundheitssektors auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Denn es herrscht ja nicht nur eine ungleiche Verteilung von Impfstoffen, sondern auch von Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung, von finanziellen Ressourcen und Produktionskapazitäten insgesamt. Und eines ist im Zuge der Pandemie sehr deutlich geworden: Innerhalb einer kapitalistischen Marktwirtschaft handelt es sich dabei in erster Linie nicht um „öffentliche Güter“, sondern zunächst einmal um Waren, mit denen Profit erwirtschaftet werden kann. Eine weitere, und bereits angesprochene Forderung ist der notwendige Technologietransfer. Dieser kann freilich nicht den einzelnen EigentümerInnen und dem Management überlassen werden. Die Aufhebung von Patenten und der öffentliche Zugang zu Know-how und Forschungsergebnissen muss vielmehr durch die ArbeiterInnenklasse erzwungen und deren Kontrollorgane überwacht werden. Nur so kann ein zügiger Ausbau von Produktionskapazitäten medizinisch notwendiger Güter weltweit und eine Versorgung sichergestellt sowie die Abhängigkeit halbkolonialer Länder von Industriestaaten abgebaut werden.

Perspektive

Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht unterstützen die oben genannten Forderungen ausdrücklich, allerdings wurde bisher nicht deutlich genug dargestellt, wie die Umsetzung dieser Forderungen praktisch tatsächlich erreicht werden kann. Zwar spricht die IL auch davon, dass der „Druck der Straße“ jetzt notwendig sei und wir nicht müde werden dürfen „gegen die Unternehmensinteressen wie auch gegen die Macht der Herrschenden das Recht auf Gesundheit zu verteidigen und ihre Warenförmigkeit anzugreifen“. Wer dieses „Wir“ aber eigentlich verkörpert, wird leider nicht näher erläutert.

Anders als die IL gehen wir davon aus, dass die Lohnabhängigen zur führenden Kraft in den Bündnissen, bestehend aus Gewerkschaften, NGOs sowie Teilen des KleinbürgerInnentums, werden müssen. Aus unserer Sicht kann dies nur durch einen solidarischen Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse und ihrer jeweiligen Organisationen, allen voran den Gewerkschaften, gelingen – einen Kampf, der nicht nur auf Demonstrationen setzt, sondern auch durch Streiks und betrieblich Aktionen das Gewicht der ArbeiterInnenklasse in die Waagschale wirft.

Ebenso ist eine Vernetzung mit anderen sozialen Kämpfen notwendig. Um die Gewerkschaften stärker in den Kampf für das Recht auf Gesundheitsschutz und eine globale Gesundheitsversorgung einzubeziehen, muss gegen die herrschende Gewerkschaftsbürokratie und die „Sozialpartnerschaft“ vorgegangen werden. Dazu ist der Aufbau einer oppositionellen, klassenkämpferischen Basisbewegung unerlässlich. Auch die Forderung nach Enteignung der Pharmakonzerne und des Gesundheitssektors allein ist nicht ausreichend. Sie müssen nicht nur enteignet, sondern danach unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse gestellt werden. Denn nur so wird es uns gelingen, den dringend benötigten Wissens- und Technologietransfer zu organisieren und den weltweiten Ausbau von Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Medikamente und medizinische Ausrüstung massiv voranzutreiben.

Weder die kapitalistische Pharmaindustrie noch bürgerliche Regierungen haben ein wirkliches Interesse daran. Lediglich für die gesamte internationale ArbeiterInnenklasse besteht ein objektives Interesse an einer gerechten Gesundheitsversorgung weltweit. Daher dürfen wir die Bekämpfung dieser Pandemie weder den bürgerlichen Regierungen noch den KapitalistInnen überlassen und treten für folgende Forderungen ein:

  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen statt Wettbewerb um den schnellsten Profit: sofortige Aufhebung des Patentschutzes, welcher nur die Monopolprofite der Konzerne schützt! Bildung einer internationalen Kommission, gewählt aus SpezialistInnen, welche die Forschungsteams in den verschiedenen Bereichen koordiniert!
  • Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und Offenlegung aller Forschungsergebnisse staatlicher wie privater Institute.!Internationale Koordinierung der Impfstoffentwicklung sowie kostenloser Zugang zu sicheren Impfstoffen für alle Menschen weltweit!
  • Aufhebung aller Exportstopps für Vakzine, dringend benötigte Rohstoffe einschließlich Verpackungsmaterial sowie medizinische und technische Ausrüstung, um eine globale Impfstoffproduktion sowie -versorgung sicherzustellen!
  • Massiver Ausbau der globalen Produktionskapazitäten für die Impfstoff- und Arzneimittelherstellung, Technologie- und Wissenstransfer, um weltweit sichere Impfstoffe mit höchster Qualität herstellen zu können, bezahlt durch eine massive Besteuerung derer, die in der Pandemie noch reicher wurden!
  • Entschädigungslose (Wieder-) Verstaatlichung der privatisierten Teile des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, um die Ressourcen zu bündeln und unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen!
  • Für eine frei zugängliche, globale Gesundheitsversorgung, die sich nach den tatsächlichen Bedürfnissen und nicht an Profiten orientiert!