Systemrelevanz oder Gotteslohn?

Zum Scheitern einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Tarifvertrags für die Altenpflege

Jürgen Roth, Infomail 1142, 17. März 2021

Am Donnerstag, dem 25. Februar 2021, hat sich die Arbeit„geber“Innenseite der arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas dagegen ausgesprochen, dass der von ver.di und BVAP, einem kleineren UnternehmerInnenverband in der Altenpflege, abgeschlossene Tarifvertrag (TV) für allgemeinverbindlich erklärt wird. Letzteres wollten Arbeitsminister Hubertus Heil, die Gewerkschaft, aber auch Unternehmen wie die AWO. Zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung wäre die Zustimmung von Caritas und Diakonie notwendig gewesen, weil sie das Gros der AltenpflegerInnen beschäftigen.

Fachkräftemangel und Niedriglohn

Die Gehälter in der Altenpflege sind in den letzten Jahren etwas stärker gestiegen als in anderen Branchen. In der Pflege herrscht ganz allgemein ein Fachkräftemangel. Zudem gelten die Beschäftigten dort seit der Pandemie als systemrelevant. Letztere geht überdies mit erhöhtem Arbeitsaufwand und -risiko einher.

Pflegefachkräfte in Altenheimen erhielten laut Statistischem Bundesamt 2019 für einen Vollzeitjob rund 3.100 (brutto) Euro im Monat, damit 25 % weniger als Chemiefachpersonal. AltenpflegehelferInnen erhielten im Mittel nur 2.150 Euro, in Ostdeutschland sogar unter 2.000 Euro. Die meisten der 1,2 Millionen Angestellten erhielten sogar noch weniger, weil sie eine Teilzeitstelle haben.

Der TV sieht vor, dass Kräfte mit einjähriger Ausbildung 13,10 Euro Stundenlohn ab August erhalten sollen (2.220 Euro/Monat in Vollzeit).

Nun bleibt es bei den bereits bestehenden Mindestlöhnen (11,20 Euro in Ost- und 11,60 Euro in Westdeutschland). Ab Juli gilt erstmals ein Mindestlohn für Fachkräfte (15 Euro).

Beschäftigte in Privathaushalten, oft Frauen aus Polen oder Rumänien, haben noch mehr das Nachsehen. Die meisten haben nicht einmal Anspruch auf den Pflegemindestlohn entweder weil sie Verträge als Haushaltshilfen haben oder offiziell als selbstständig gelten. Hier greift nur der gesetzliche Mindestlohn. Laut Schätzungen gibt es in der BRD bis zu 600.000 sogen. 24-Stunden-Betreuungskräfte, überwiegend aus Osteuropa. Mit diesen Beschäftigungsverhältnissen werden wir uns demnächst in einem weiteren Artikel auseinandersetzen.

Kirchliche Sonderregeln

Laut Rolf Cleophas, Sprecher der MitarbeiterInnenseite der arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas, liegen die Gehälter dort über den Mindestvergütungen im geplanten Branchentarifvertrag. Das gelte auch für kommunale Einrichtungen. Warum hat die Caritas ihn dann abgelehnt?

Der Dienstgeber der Caritas, Norbert Altmann, begründet die Ablehnung mit drohenden Konflikten im Gehaltsgefüge. Wenn ab Juni 2023 Kräfte mit einjähriger Ausbildung 14,40 Euro erhalten sollen, fürchtet er Druck in Richtung Lohnerhöhungen. Doch darüber hinaus fürchten die kirchlichen Unternehmen eine Gefährdung ihres „Dritten Weges“, wenn der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt würde.

So bezeichnen sie die Sonderregelungen, die die Kirchen aus ihrem „Selbstbestimmungsrecht“ ableiten. Dazu gehört, dass das Streikrecht eingeschränkt ist und dass das Betriebsverfassungs- bzw. Personalvertretungsgesetz nicht gelten. Auch bei Einstellungen und Entlassungen spielen das „richtige“ Gesangbuch bzw. „christliches“ Betragen eine ausschlaggebende Rolle. Lebt z. B. ein geschiedener katholischer Gärtner in „wilder Ehe“, so ist das ein Entlassungsgrund, und AtheistInnen müssen draußen bleiben. In den höchst irdischen Unternehmen des Herrn gibt es also weder Betriebs- noch Personalräte (BR, PR), sondern sogen. MitarbeiterInnenvertretungen (MAV) mit noch weniger Befugnissen als erstere. Und die oberste Instanz, Senior- und Juniorchef, kennt keinen Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital. Jede Anspielung darauf und sei’s nur in Form sozialpartnerschaftlich integrierter und verstümmelter Institutionen wie BR oder PR und erst recht mittels eines richtigen Streiks oder auch nur der Aushandlung von Tarifverträgen mit einer Gewerkschaft, sei sie auch noch so devot gegenüber „der Wirtschaft“ wie ver.di, gilt als Teufelswerk. So legt es zumindest die irdische Etage der Christenheit aus. Einspruch „von oben“ ist nicht in Sicht.

Konkordat

Der Dritte im Bunde – Pardon! Vierte, wenn man den Heiligen Geist mitrechnet – in diesem selig-unseligen Treiben ist allerdings die höchste Instanz in der ersten Etage: der bürgerliche Staat! Die Bundesrepublik hält seit ihrer Gründung am Konkordat mit den beiden christlichen Kirchen eisern fest. Damit ermöglicht sie ihnen nicht nur den arbeitsrechtlichen Status als besondere Tendenzbetriebe, sondern tätigt auch Investitionen in christlichen Krankenhäusern, treibt Kirchensteuer im Rahmen des Direktabzugs wie bei der Lohn- und Einkommensteuer und in einigen Bundesländern auch Kirchengeld für EhegattInnen ein, die nicht der Kirche angehören.

Darüber hinaus wird auch ein großer Teil des Klerus vom Staat bezahlt. Natürlich erhielten die Kirchen auch Verlustausgleich für die im Zuge der Säkularisierung verlustig gegangenen Ländereien aus Feudalbesitz. Das nur einige Beispiele. Faktisch ist die Trennung zwischen Kirche und Staat in Deutschland also nicht existent. Sie vehement zu fordern, bleibt eine elementare Pflicht für KommunistInnen, um bis heute nicht erfüllte Forderungen der bürgerlichen Revolution in diesem Lande und auf diesem Feld zu Ende zu bringen.

  • Für die vollständige Trennung von Kirche und Staat!
  • Volles Arbeits- und Streikrecht für Kirchenbeschäftigte!
  • Erzwingung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung durch Streik bis hin zum politischen Massenstreik!
  • Entschädigungslose Verstaatlichung der kirchlichen Unternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle im Falle ihrer Weigerung, den berechtigten Forderungen ihrer MAV-VertreterInnen nachzukommen!



Massenentlassungen von Studierenden – wie können wir uns dagegen wehren?

Peter Böttcher, Infomail 1102, 4. Mai 2020

Die Corona-Pandemie zeigt wie kaum ein anderes Beispiel, dass die kapitalistische Produktionsweise für gesellschaftliche Krisen besonders anfällig ist. Die als Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus beschlossenen Lockdowns führen überall auf der Welt zum Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität und damit zu massiv fallenden Aktienkursen. Die Profitverluste der Unternehmen während des Lockdowns und der plötzlich nicht mehr vorhandene Bedarf an Arbeitskräften führen zu Kurzarbeit, unbezahltem ,,Zwangsurlaub“ und auch zu Entlassungen.

Am heftigsten zeigen sich die Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft in den USA. Innerhalb von wenigen Wochen wurden dort fast 30 Millionen Menschen arbeitslos. Selbst bürgerliche AnalystInnen in den Vereinigten Staaten gehen davon aus, dass die Zahl der Arbeitslosen bis Ende Mai um weitere 20 Millionen ansteigen wird. Mit den bis März dieses Jahres etwa sieben Millionen erfassten Arbeitslosen kommen die USA bis Anfang Juni wahrscheinlich auf etwa 50 Millionen Arbeitslose, wohlgemerkt bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 328. Millionen Menschen. Und dabei befinden wir uns noch am Beginn der kommenden Weltwirtschaftskrise, die nun durch die Corona-Pandemie ausgelöst (aber wohlgemerkt nicht verursacht!) wurde.

Es sieht also düster aus um unsere Zukunft und um dies zu sehen, müssen wir nicht mal auf die von der Pandemie besonders hart betroffenen USA blicken.

Lage von Studierenden

Dass es auch in Deutschland nicht viel besser aussieht und gerade die Jugend besonders hart von den Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen betroffen ist, zeigt unter anderem die Zahl der Studierenden, die infolge der Corona-Krise ihre Beschäftigung verloren haben. Laut „junge welt“ vom 15. April haben demnach über 750.000 der insgesamt ca. 2 Millionen lohnarbeitenden Studierenden (69 % der 2,9 Mio. Studierenden) seit dem Lockdown kein Einkommen mehr oder jedenfalls deutlich weniger.

Da laut Sozialbericht des Deutschen Studentenwerks 59 % der erwerbstätigen Studierenden angeben, mit ihrem Verdienst ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sind diese von der aktuellen Situation besonders betroffen. Auch jene Studierende, die von monatlichen Zuwendungen ihrer Eltern abhängig sind, geraten im Falle von Kürzungen des Unterhalts durch deren Kurzarbeit oder Einkommensverluste in eine finanzielle Notlage.

Natürlich kann die Regierung da nicht einfach tatenlos zusehen und hat sich etwas besonders Perfides in dieser Notsituation einfallen lassen: Aktuell diskutiert die Bundesregierung über den Vorschlag der Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU), zinslose Kredite an bedürftige Studierende zu vergeben. So sollen die Studierenden indirekt selbst die Folgekosten der von den Regierungen beschlossenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung bezahlen, indem sie sich selbst verschulden. Den Vorschlag des Deutschen Studentenwerks, das Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) für „Pandemie verschuldete Härtefälle“ zu öffnen, hat die Bundesregierung abgelehnt. Immerhin soll das BAföG während der Corona-Krise weitergezahlt werden. Jedoch erhalten ohnehin nur etwa 18 % der Studierenden BaföG-Zahlungen (Stand 2016).

Dabei haben die genannten Probleme der Studienfinanzierung und der prekären Arbeitsverhältnisse, die dazu führen, dass man soeben von einen Tag auf den nächsten seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten kann, ihren Ursprung in der neoliberalen Sparpolitik der Herrschenden. Diese haben seit Jahrzehnten in den Bereichen Bildung, Forschung und Lehre Kürzungen vorgenommen und diese chronisch unterfinanziert. Die Kosten für den Staat sollten unter dem Diktat der sogenannten „Schwarzen Null“ möglichst niedrig gehalten werden, was zu allerlei „Reformen“ in den Bereichen der Ausbildungsförderung und der Bildungsfinanzierung führte.

Dass heute 2/3 der Studierenden lohnabhängig sind und sich gezwungen sehen, schlecht bezahlte, befristete Arbeitsverträge unter miesen Arbeitsbedingungen zu unterschreiben, dass in der Studiengangordnung vorgeschriebene Praktika unbezahlt sind, dass studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte oftmals die Arbeit erledigen, die eigentlich in den Aufgabenbereich von in Vollzeit angestellten und verhältnismäßig besser bezahlten wissenschaftlichen MitarbeiterInnen fallen, das alles sind Probleme, die schon lange vor der Pandemie existierten. Die Corona-Krise hat die miserablen Verhältnisse, unter denen eine Vielzahl der Studierenden leiden, nur für alle deutlich sichtbar an die Oberfläche gebracht und weiter zugespitzt.

Die kommende Weltwirtschaftskrise, welche sich schon vor Corona anbahnte, wird diese Verhältnisse noch weiter verschlechtern. Wir werden mit krassen Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich, aber auch mit weiteren Angriffen auf unsere Arbeitsrechte und weiteren Massenentlassungen rechnen müssen. Die bisherigen Auswirkungen der Corona-Krise sind nur ein Vorgeschmack auf das, was auf uns zukommen wird. Selbst bürgerliche ÖkonomInnen gehen davon aus, dass die kommende Krise alle bisherigen Wirtschaftskrisen der Menschheit in den Schatten stellen wird. Und ob das Virus durch die aktuellen Maßnahmen (Stichwort Öffnungen der Schulen, Unis, Kindergärten und Geschäfte) tatsächlich wirkungsvoll zurückgedrängt werden kann, ist fraglich. Es ist auch nicht auszuschließen, dass es auch noch zu einer zweiten oder sogar dritten Infektionswelle kommen kann.

So oder so werden wir mit Angriffen der herrschenden Klasse auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen konfrontiert werden. Wenn wir diese nicht einfach hinnehmen, sondern erfolgreich abwehren wollen, müssen wir Widerstand aufbauen. Hierzu müssen wir uns organisieren und Forderungen aufwerfen, für die wir kollektiv kämpfen können, um somit Druck von unten aufzubauen. Wenn jemand von uns wegen der Corona-Krise entlassen werden soll, dann müssen wir alle zusammen dagegen streiken! Dafür müssen wir uns in die Gewerkschaften einbringen und diese zur Unterstützung auffordern!

In der aktuellen Lage treten wir im Kampf gegen die Abwälzung der Kosten der Krise auf uns Studierende für folgende Forderungen ein:

  • Keine Entlassungen und uneingeschränkte Lohnfortzahlungen für alle lohnabhängigen Studierenden!
  • Bedingungslose Ausbildungs(Studien-)finanzierung durch Besteuerung der Reichen!
  • Tarifverträge für alle studentisch Beschäftigten, massive Ausfinanzierung von Bildung, Forschung und Lehre!
  • Während studentisch Beschäftigte in Forschung und Lehre oft die besser bezahlten Vollzeitstellen wissenschaftlicher MitarbeiterInnen als „billige Arbeitskräfte“ ersetzen, erhalten Studierende in Praktika für die beinahe gleichen Arbeiten, die von den KollegInnen ausgeführt werden, wegen „im Studium vorgesehener Praktika“ keine Bezahlung:
  • Darum gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit! Gesetzliche Pflicht zur Entlohnung aller Arbeitstätigkeiten von Studierenden bei mindestens 15 Euro/Stunde! Bei Nichteinhaltung durch private Unternehmen müssen diese entschädigungslos enteignet werden!

Da der Kapitalismus die Ursache für die Probleme und Widrigkeiten darstellt, denen wir als Jugendliche tagtäglich begegnen, müssen wir diesen letztlich durch eine sozialistische Planwirtschaft ersetzen.

Schließlich ist jede Form von Lohnarbeit, durch die der von den ArbeiterInnen geschaffene Mehrwert privat von den UnternehmerInnen angeeignet wird, immer mit Ausbeutung verbunden. Darum treten wir für eine Gebrauchswert orientierte Produktionsweise ohne Privateigentum an den Produktionsmitteln ein. Jedoch kämpfen wir auch für jegliche Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ausgebeuteten im Hier und Jetzt.

In einer Gesellschaft, in der demokratisch für die Bedürfnisse der Menschen produziert wird, wäre die Umsetzung von Maßnahmen und die Unterstützung Hilfsbedürftiger kein Problem, da diese nicht der Profitlogik und den Sparzwängen unterliegen würden. Für eine solche Gesellschaft, in der nicht mehr irgendwelche ChefInnen oder PolitikerInnen über unser Leben bestimmen, sondern in der die Entscheidungen von uns Lohnabhängigen selber getroffen werden, wollen wir mit Dir zusammen kämpfen.




SPD und Hartz IV: Krise als Dauerzustand

Tobi Hansen, Infomail 1030, 16. November 2018

Am Ende des „Debatten-Camps“ der SPD vom 10/11. November hüpfte Vorsitzende Andrea Nahles mit anderen um die Wette. So viel „positive“ Energie hatten wir zuletzt selten von der Partei- und Fraktionschefin gesehen. Zuletzt schien mit den Umfragewerten auch der Selbsterhaltungstrieb in den Keller gegangen zu sein. Das Festhalten an der Großen Koalition ruinierte die letzten Wahlchancen, die ritualhafte Beschwörung der „Sacharbeit“ bildete die makabere Begleitmusik zum Siechtum der Partei.

Nach den Landtagswahlen von Bayern und Hessen wurden die Rücktrittsforderungen gegenüber Nahles wie auch dem gesamten Vorstand zahlreicher und lauter. Die „Linke“ mahnte einen Sonderparteitag Anfang 2019 an, um sich sowohl personell wie inhaltlich neu aufzustellen. Wiederholt wurde die Forderung nach dem Ausstieg aus der Großen Koalition (GroKo) erhoben, z. B. durch den Landesverband Schleswig-Holstein. Die „Progressive Soziale Plattform“ um den Abgeordneten Marco Bülow und das „Forum Demokratische Linke 21“ (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis wollen eine Urwahl eines neuen Parteivorstandes, inklusive der/des Vorsitzende/n. Dafür würde sich auch Juso- Vorsitzender Kühnert begeistern, während er weiter Nahles politisch stützt. Kühnert bleibt medial das „Gesicht“ der innerparteilichen Opposition. Dass ihn der bayrische Fraktionschef Horst Arnold als neuen Vorsitzenden vorschlug, erhöhte den Druck auf den angeschlagenen Parteivorstand und die Regierungsmitglieder.

Linksschwenk als Rettung?

Als großen Durchbruch feierten Nahles und Klingbeil beim Debatten-Camp die Diskussionen um Hartz IV und Grundeinkommen. In der bürgerlichen Presse machte Nahles mit dem Satz „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“ Schlagzeilen.

Dies ist gerade für die SPD-Linke ein wichtiges Thema der programmatischen „Erneuerung“, die seit den Auseinandersetzungen um die GroKo versprochen wurde. Zentrale Themen des „Camps“ bildeten die Neuausrichtung des Sozialstaates, die „Vereinbarkeit“ von Umwelt und Wirtschaft wie auch die Perspektive der EU.

Bei der Zukunft der EU wurde deutlich, wie wenig „Linksschwenk“ von der SPD zu erwarten ist. Schon bei der Eröffnung der Veranstaltung machte Nahles „Europa“ zum Schwerpunkt. Sie verlor aber kein Wort zur Austeritätspolitik, zur Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa oder zu irgendeiner sozialen Perspektive für die Beschäftigten des Euro-Raumes. Stattdessen wurde im Gleichklang mit Merkel, von der Leyen und Macron der Aufbau einer EU-Armee angepriesen. Diese letzte „große“ Idee der Vertiefung des Bündnisses von deutschem und französischem Imperialismus wird dann auch von der SPD mit den gesteigerten „Unsicherheiten“ der globalen Politik begründet. Inwieweit dabei ein weiterer Militärblock „hilft“, bleibt im Ungefähren, aber diesen „Bruch“ mit NATO und US- Imperialismus kann man zumindest noch als „europäisches Projekt“ verkaufen.

Mit der verordneten Aufbruchstimmung, netten Bildern und bis zu 3000 freiwilligen BesucherInnen des Debatten-Camps versucht sich der SPD-Vorstand ins nächste Jahr zu retten. Der nächste Parteitag soll erst Ende 2019 stattfinden. Um vor allem die internen KritikerInnen ruhigzustellen, sollen die Fragen des Sozialstaates vermehrt, wenn auch ohne Folgen für die Regierungspolitik diskutiert werden. Seit der Einführung von Hartz IV, den „Agendareformen“ hat die SPD nicht nur die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, sondern auch ihre Wahlergebnisse halbiert – ein halbherziger, rhetorischer Linksschwenk des Vorstandes soll dieser Entwicklung wohl entgegenwirken.

Sanktionen und Grundsicherung

Die Formulierung von Nahles ist nicht neu. Selbst Arbeitsminister Heil kam schon auf die Idee, dass man „Hartz IV überwinden“ müsse, mindestens einen neuen Namen dafür bräuchte, da dies sonst auf ewig der SPD anhängen würde. Damit reagieren Teile der Führung auch ganz pragmatisch auf Urteile von Sozialgerichten. Diese stellten 14 Jahre nach der Einführung fest, dass die umfangreichen Sanktionen des Hartz-IV-Regimes verfassungswidrig seien und die BRD eine „sanktionsfreie“ Mindestsicherung anbieten müsse. Schließlich führten die Sanktionen bzw. die damit einhergehende soziale Repression dazu, dass sämtliche Geldmittel gestrichen werden können – bis hin zur einer möglichen Obdachlosigkeit der „KlientInnen“. Genau in dieser Frage ergingen die ersten Urteile zugunsten von Menschen, die von Sanktionen betroffen sind. Der Entzug der Wohnung durch den „Sozialstaat“ stünde diesem nämlich nicht zu; dementsprechend seien auch die Sanktionen, die dazu führten, insgesamt „unzulässig“.

So könnten die „Agenda-Reformen“ bzw. deren Weiterführung/Umbenennung eines der entscheidenden Themen der nächsten Zeit werden wie auch für mögliche nächste Bundestagswahlen. Manche SPD-Mitglieder hofften sicher seit dem Debatten-Camp, dass z. B. die Hartz-IV-Sanktionen und das System irgendwie verschwinden und die Partei möglicherweise durch den zuständigen Minister Heil wie auch durch Nahles den „Sozialstaat“ zu Gunsten derjenigen reformieren würde, die ihn brauchen. Ganz praktisch haben Kühnert und der „Parteilinke“ Stegner ihre Ideen zu einer Grundsicherung von sich gegeben, damit können manche Hoffnungen auch gleich begraben werden. Während Kühnert noch spaßige Anreize aus der Freizeitbranche/Industrie der Grundsicherung als Bonbon zusetzen möchte (vielleicht ein Fitness- Programm, Kinogutscheine oder eine Flatrate zur „digitalen Anbindung“), äußerte sich Stegner in der Manier eines Franz Müntefering. In der aktuellen Diskussion hatte Grünen-Chef Habeck ein sanktionsfreies Grundeinkommen in Aussicht gestellt. Stegner konterte dies mit: „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ (Spiegel online 14.11.18).

Dies erklärt zum einen, warum die SPD derzeit in den Meinungsumfragen um die Plätze 3 und 4 kämpft und diejenigen, die Hoffnungen in einen Linksschwenk hegen, dies ganz sicher nicht diesem Personal überlassen dürfen.

Wen Hartz IV hinter sich gelassen hat

Stegner schließt mit solchen Formulierungen an Müntefering, Clement, Schröder an, welche eine Massenverarmung organisiert und Millionen in Existenznot, Verzweiflung, Isolation und Dauerarmut getrieben haben. Diejenigen, die „etwas“ hatten, wurden jahrelang geschröpft, mussten ihre Ersparnisse auflösen, bevor sie eine sanktionsreiche Mindestsicherung überhaupt in Anspruch nehmen konnten. Auch dies gehörte immer zu den Milliardenüberschüssen der ARGE: eine Enteignung des Einkommens der Massen. Millionen Alleinerziehende wurden systematisch existenziell schikaniert. Kindergeld wurde mit dem Hartz-IV-Satz „verrechnet“ – von einem Staat, dem die Ernährung eines Kindes am Tag weniger wert ist als die eines Polizeihundes! Nachgewiesen ist auch, dass MigrantInnen besonders oft zu Unrecht drangsaliert wurden.

Wir können nur ahnen, wie viele Menschen dieses System in den Selbstmord bzw. in mögliche „Vorstufen“ sozio-psychischen Elends getrieben hat, inklusive Suchtkrankheiten.

Gearbeitet wurde unter dem Hartz-System für einen Euro pro Stunde, als Ersatz für viele Stunden Arbeit im öffentlichen Dienst – der 1-Euro-Job war Sinnbild des neoliberalen Umbaus unter Schröder/Fischer. Er diente später bei der Austeritätspolitik in Europa als Blaupause für Kürzungen im Sozialbereich.

Stegners Forderung „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ wäre auch ein interessanter Ansatz für die Kaste der bürgerlichen PolitikerInnen inklusive ihrer Techno- und BürokratInnen, AdjutantInnen, ClaqueurInnen und MitesserInnen, welche allesamt von den Steuereinnahmen durchgefüttert werden. Fast könnte man meinen, das wäre doch mal ein Thema für die „Linke“ – sei es als Partei oder als „radikales“ Spektrum.

Die Zeiten, in denen Erwerbslose gut organisiert waren, gab es ohnedies selten. Die letzte Massenbewegung gegen Hartz IV haben freilich die Führungen der DGB-Gewerkschaften verraten. Eine aktive Politik für Erwerbslose machten sie weder damals noch heute. Ebenso wenig stellen sie sich Hartz IV entgegen. So bleiben vielerorts nur Initiativen übrig, die entweder im rechtlichen oder sozialen Bereich Beratung/Unterstützung organisieren, quasi Selbsthilfegruppen der Deklassierten, da die Gewerkschaften selbst diese Aufgabe nicht übernehmen. Die andere Seite der Organisierung umfasst dann die AktivistInnen für den utopischen Traum eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dort finden sich die Linkspartei in Person von Katja Kipping oder in der Neuauflage dann bei den Grünen und Teilen der SPD-Linken wieder, aber ein Kampf der ArbeiterInnenbewegung gegen Hartz IV findet nicht statt.

Wie weiter?

Der Kampf für die sofortige Abschaffung von Hartz IV (wie auch der anderen Hartz- und Agenda-Gesetze müsste mit dem um einen Mindestlohn von 12,50 netto/Stunde für alle, für ein Mindesteinkommen von 1600,- Euro/Monat für alle Erwerbslosen und RentnerInnen und eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich verbunden werden. Dies wären reale Schritte zur Bekämpfung der Armut.

Für diese Forderungen müsste eine SPD-Linke innerhalb wie außerhalb der Partei eintreten. Dafür sollten sich die Gewerkschaften, die Linkspartei und die „radikale Linke“ stark machen.

Ein Aktionsbündnis um diese Forderungen würde einen realen Bruch mit der Agendapolitik darstellen – und könnte zugleich die Regierung wie die SPD-Rechten und BefürworterInnen der GroKo in die Defensive bringen. Die Frage, wie sehr die „soziale“ Neuausrichtung der SPD nur Gelaber zum Hinhalten der Parteilinken und der Basis bleibt oder einen realen Gehalt erhält, ist vor allem eine praktische. Der Kampf gegen das Hartz-IV-System, für ein Mindesteinkommen und einen Mindestlohn, die zum Leben reichen, muss jetzt aufgenommen werden – und zwar in den Betrieben, in Bündnissen, auf der Straße und gegen die Große Koalition!




Mindestlohn: Ein fauler roter Apfel

Hannes Hohn/Helga Müller, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Nach langem Hin und Her beschloss der Bundestag das Gesetz zum Mindestlohn. Danach  erhalten ab 1. Januar 2015 rund 3,7 Millionen ArbeiterInnen und Angestellte mindestens 8,50 Euro pro Stunde. Abgesehen von der unzureichenden Höhe und dem späten Einführungstermin entwerten diverse Ausnahmeregelungen den Mindestlohn. So sind Jugendliche unter 18 Jahren davon ausgenommen, ebenso Langzeitarbeitslose im ersten halben Jahr in einem neuen Job. Bei SaisonarbeiterInnen können Kost und Logis angerechnet werden – ein Freibrief für Lohnraub. Für ZeitungszustellerInnen wird der Mindestlohn zwischen 2015 und 2017 erst stufenweise eingeführt.

Von 2016 an soll die Höhe des Mindestlohns alle zwei Jahre von einer Kommission aus  „Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ festgelegt werden. Die Betroffenen bleiben also außen vor und vom weisen Ratschluss der BürokratInnen abhängig.

Dass gerade für Frauen der Mindestlohn ein unbedingtes Muss ist, ist in Gewerkschaftskreisen, der Linkspartei und auch in der SPD durchaus bekannt:

  • In Deutschland ist der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren stärker gestiegen als in jedem anderen Land. Viele Beschäftigte arbeiten im Niedriglohnsektor. Deutlich mehr Frauen als Männer sind in diesem Sektor tätig und auf staatliche Unterstützung – wie Hartz IV -angewiesen. Besonders Frauen leiden unter unsicheren Arbeitsverhältnissen wie befristeten Jobs, Mini-Jobs, Arbeit auf Abruf oder Springertätigkeiten, Teilzeitarbeit, Scheinselbstständigkeit, Werkverträgen. Nach der Rückkehr aus der Elternzeit werden sie oft in schlecht bezahlte und befristete Arbeit oder unfreiwillige Teilzeit gedrängt.
  • Satte 22 Prozent beträgt der sog. „Gender Pay Gap“- so viel Lohn bekommen Frauen weniger als ihre männlichen Kollegen. In Arbeitstagen ausgedrückt: Frauen arbeiten in Deutschland ungefähr 80 Tage im Jahr, ohne dafür bezahlt zu werden. (nach DGB-klartext 7/2014)
  • Im Jahr 2011 z. B. war der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst von Männern im Gewerbe- und Dienstleistungsbereich um 60 Prozent höher als der von Frauen. (nach DGB klartext 7/2014)
  • Frauen sind stärker von Armut bedroht als Männer. Besonders eklatant ist die Situation im Alter. Denn auf  die Rentenansprüche von Frauen wirken sich sowohl die vermehrte Beschäftigung im Niedriglohnsektor als auch die Lohndiskriminierung negativ aus. Dementsprechend beziehen auch mehr Frauen als Männer Grundsicherung im Alter. Einer Berechnung der Hans-Böckler-Stiftung zufolge nehmen 68 Prozent der über 64-Jährigen ihren Anspruch auf staatliche Unterstützung nicht wahr. (nach DGB-klartext 7/2014)

Die Einführung eines Mindestlohns ist daher für Frauen in Arbeit mehr als überfällig. Selbst mit der jetzigen Höhe von 8,50 Euro hätten nach Berechnung des DGB ungefähr  25 Prozent der weiblichen Beschäftigten sofort Anspruch auf eine ordentliche Lohnerhöhung (nach DGB-klartext 7/2014).

Doch die Höhe des jetzt eingeführten Mindestlohns ist weder existenzsichernd noch schützt er gerade Frauen vor Altersarmut  (abgesehen davon, dass er nicht für alle gilt, sondern  es etliche Ausnahmen gibt – wie am Anfang geschrieben).

Kritik am Mindestlohn

Neben anderen hat sich auch die Fraktion DIE LINKE (neben den Grünen) kritisch zu diesem Gesetz geäußert und fordert die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 10.- Euro, der jährlich an die Lebenshaltungskosten angepasst wird. Zudem soll, wenn in einer Branche der unterste Tariflohn über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt, dieser für allgemeinverbindlich erklärt werden. Diese Forderungen zielen in die richtige Richtung, doch sie lassen u.a. die wichtige Frage der Kontrolle der Lebenshaltungskosten (Inflationsrate) offen: Wer, welche Klasse kontrolliert?

Noch wichtiger ist aber, dass die LINKE keine Aussagen dazu macht, wie der Kampf für einen besseren Mindestlohn weitergeführt werden kann, welche Vorschläge oder eigene Initiativen sie diesbezüglich für die Gewerkschaften parat hält.

Immerhin gibt es selbst von einigen DGB-Spitzen wie Bsirske Kritik am Mindestlohn-Gesetz. Doch um einen existenzsichernden Lohn durchzusetzen und Altersarmut zu verhindern, sind folgende Bedingungen notwendig:

  • Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit statt Minijobs und Niedriglohn!
  • Ein gesetzlicher, flächendeckender und bundeseinheitlicher Mindestlohn von mindestens 12.- Euro für alle statt entwürdigender Hartz IV-Aufstockung!
  • Jährliche Anpassung des Mindestlohns an die Lebenshaltungskosten, kontrolliert durch einen gewählten Ausschuss von Gewerkschaften und KollegInnen, die auf das gesetzliche Minimum angewiesen sind!
  • Reguläre Beschäftigung statt Befristung, unfreiwilliger Teilzeit- und Leiharbeit!
  • Einführung einer Mindestrente, finanziert aus Steuern in der Höhe von 1600.- Euro/Monat, um Altersarmut zu überwinden!

Verbale Kritik an dem ungenügenden Mindestlohn der Bundesregierung reicht nicht aus. Die Gewerkschaften haben die Aufgabe, in den Betrieben und Arbeitsstätten für diese Forderungen einzutreten. Gerade jetzt während der anstehenden Tarifrunden in der Metallindustrie und im Öffentlichen Dienst haben die KollegInnen ein offenes Ohr dafür. Das wäre auch der Ausgangspunkt für eine Kampagne in den Betrieben dazu, die dann auch zusammen mit anderen Forderungen wie z.B. der Verteidigung des Streikrechts in Demonstrationen und letztendlich in politische Streiks münden müsste.