100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr: Hochrüstung für deutsche Kapitalinteressen

Helga Müller, Neue Internationale 280, Februar 2024

Die Umorientierung der Bundeswehr von der Landesverteidigung zur Eingreiftruppe ist in vollem Gange. Schließlich gilt es, wirtschaftliche sowie geostrategische Interessen des deutschen Großkapitals im Kampf um die Neuverteilung der Welt zu verteidigen. Spätestens seit der Aussage des SPD-Verteidigungsministers Pistorius, die deutsche Bundeswehr müsse jetzt auch endlich mal kriegstüchtig werden, wird immer deutlicher, was Bundeskanzler Olaf Scholz unter der viel zitierten Zeitenwende versteht: Deutschland muss in der Lage sein, seine Interessen auch militärisch zu verteidigen.

Ganz nebenbei stellen Aufrüstung und Militarisierung auch noch ein willkommenes Konjunkturprogramm für die deutsche Rüstungsindustrie dar. Armin Papperger, Vorstandsvorsitzender der Rheinmetall AG, ist recht zufrieden. „Wir sind auf gutem Kurs, um unsere ehrgeizigen Jahresziele für nachhaltiges profitables Wachstum zu realisieren.“ Auch im dritten Quartal 2023 gingen die Geschäftszahlen des Konzerns insgesamt nach oben. Der Umsatz stieg in den ersten neun Monaten um 13 Prozent auf 4,6 Milliarden Euro.

Nicht an Waffen sparen

Trotz massiven Sparhaushalts, Beibehaltung der Schuldenbremse, wie es FDP-Finanzminister Lindner wünscht, trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und des daraus resultierenden Haushaltslochs, das finanziert werden muss – am Etat der Bundeswehr wird nicht gerüttelt. Das Sondervermögen über 100 Milliarden Euro – oder auch Sonderschulden, die genauso finanziert werden müssen wie der auf 2 % des BIP erhöhte reguläre Wehretat – bleiben unangetastet. In der Debatte um den Wehretat im Bundestag Anfang September 2023 garantierte Bundeskanzler Scholz, dass die Nato-Quote – also die 2 % vom BIP – „auch in den Jahren 2028, 2029 und in den 2030er Jahren erreicht wird“. Um das zu stemmen, müssten „allerspätestens ab 2028 zusätzliche 25, vielleicht auch fast 30 Milliarden Euro für die Bundeswehr aus dem Bundeshaushalt direkt finanziert werden“ (nd-aktuell.de, 6.9.2023, Bundestag zum Wehretat: Aufrüstung über alles). Insgesamt summieren sich die Militärausgaben mit den für das kommende Jahr eingeplanten Mitteln aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von gut 19 Milliarden und mit den für Rüstung und Truppe vorgesehenen Mitteln aus anderen Ressorts in Höhe von 14 Milliarden Euro auf 85 Milliarden Euro! Eine Summe, die im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge dringend benötigt würde!

Alle(s) für den Krieg?

Um dieses Ziel zu erreichen, schreckte Pistorius auch nicht davor zurück, sich direkt in die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes bei Bund und Kommunen einzumischen und die Tarifparteien dazu aufzufordern, die Lohnerhöhung nicht zu hoch zu schrauben, um das Sondervermögen nicht in Frage zu stellen. Wie wir mittlerweile wissen, hat sich ver.di und nicht nur diese an diese Aufforderung gehalten, ganz im Interesse des deutschen Imperialismus, um seine neue Rolle in der Welt auch spielen zu können. Wie eng hier Gewerkschaftsspitzen, Regierung und Arbeit„geber“:innenverbände zusammenarbeiten, hat nicht zuletzt die von Bundeskanzler Olaf Scholz einberufene Konzertierte Aktion gezeigt, bei der sich diese auf das Instrument der steuerfreien Einmalzahlungen bis 3.000 Euro geeinigt haben, um die realen Lohnerhöhungen abzuflachen.

Um was es beim Begriff der Kriegstüchtigkeit geht, hat SPD-Verteidigungsminister Pistorius in seinen auf der im November stattgefundenen Bundeswehr-Tagung – ein jährliches Treffen der Regierung mit dem militärischen und zivilen Spitzenpersonal der Bundeswehr – vorgelegten „Verteidigungspolitischen Richtlinien für die Zeitenwende“, die die Grundlage für eine „leistungsfähige Bundeswehr der Zukunft“ liefern sollen, dargestellt:

Der Ukrainekrieg dient als Begründung dafür, die Truppe noch schneller aufzurüsten, sie „schlagkräftiger“ zu machen, damit sie für „neue Aufgaben“ bereit ist. Da heißt es: „Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, in denen Einsätze zum internationalen Konfliktmanagement strukturbestimmend und Landes- und Bündnisverteidigung in den Hintergrund gerückt waren, lassen sich nicht in wenigen Jahren umkehren“ und „der Weg zu einer umfassend einsatzbereiten Bundeswehr, die unsere Bürgerinnen und Bürger ebenso wie unsere Bündnispartner zu Recht erwarten, erfordert einen langfristigen Anpassungsprozess“. Bei den „Reformen“, der Beschaffung von Ausrüstung und Material sowie Bauprojekten soll deshalb Tempo vorgelegt werden: „Unsere Wehrhaftigkeit erfordert eine kriegstüchtige Bundeswehr“. Maßstab hierfür sei „jederzeit die Bereitschaft zum Kampf mit dem Anspruch auf Erfolg im hochintensiven Gefecht“. Die BRD müsse „Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa sein“ (jw, 11.11.2023, Nur der erste Schritt).

SPD übernimmt Verantwortung …

Deutlicher wurde das Ziel ausgerechnet im außenpolitischen Leitantrag für den Parteitag der SPD in Berlin im Dezember 2023 formuliert. Dieser spricht sich für eine Führungsrolle Deutschlands in der Welt aus. Das Militär wird im Entwurf für den Leitantrag als Mittel der Friedenspolitik bezeichnet.

Schon ein dreiviertel Jahr vorher hatte Pistorius bei der sogenannten Münchner Sicherheitskonferenz 2023 genauer definiert, was er und die Bundesregierung unter der neuen Verantwortung der Bundeswehr und der deutschen Außenpolitik verstehen: Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Es geht um die Bekämpfung des Islamismus, die Begrenzung der Migration und die Sicherung von Einflusszonen und Rohstoffen. Man kann davon ausgehen, dass die Bundesregierung stattdessen vom „Schutz der Menschenrechte“ oder auch von Notwendigkeiten, die sich aus der „feministischen Außenpolitik“ ergeben werden, sprechen wird, wenn sie sich erneut militärisch in Afrika engagiert, denn „die russischen Ambitionen in Afrika bedeuten nicht, dass sich das Militär der Bundesrepublik komplett aus dem Kontinent zurückziehen wird.“ Doch auch andere Regionen bleiben für Deutschland von Interesse.

So werde der Indopazifik weiterhin eine Rolle spielen, erklärte Pistorius. Es gehöre dazu, mit Partner:innen zu üben und: „Es ist notwendig, dass wir Flagge zeigen. Wir müssen klarmachen, dass uns die Region nicht egal ist.“ Dort wird erwartet, dass sich der Konflikt zwischen den USA und China verschärfen wird.“

Noch offener kann man die neuen Ambitionen des deutschen Imperialismus nicht mehr aussprechen und das aus dem Mund eines Sozialdemokraten, Mitglied einer Partei, die aus der Arbeiter:innenbewegung entstanden ist und sich jetzt offen für die Verteidigung deutscher Kapitalinteressen einsetzt!

… und Gewerkschaften geben sie ab

Der mit nichts zu rechtfertigende Krieg Russlands gegen die Ukraine hat der deutschen Bundesregierung alle Argumente in die Hand gegeben, um die Hochrüstung im Interesse der Verteidigung der Interessen des deutschen Kapitals ohne größeren Widerstand in der Bevölkerung durchzusetzen. Die Gewerkschaftsspitzen haben das Ihre dazu getan, um gewerkschaftspolitischen Widerstand dagegen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Proteste gegen das Sondervermögen der Bundeswehr gab es keine und die Tarifrunden im öffentlichen Dienst wurden befriedet, statt zu versuchen, die Ausgaben für die Ausrüstung zurückzunehmen und für die Lohnabhängigen zu nutzen.

Auch die neu aufgekommene Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Angestoßen wurde diese wiederum vom Verteidigungsminister, der dafür ausgerechnet vom bayerischen Ministerpräsidenten Söder Unterstützung erhält: Auch wenn dieser Vorstoß in der SPD umstritten ist – so ist die SPD-Parteichefin Esken dagegen –, verwies die Wehrbeauftragte des Bundestags Högl von der SPD in ihrem Jahresbericht 2022 darauf, dass sich die Zahl der Bewerber:innen im Jahr 2022 mit einem Minus von elf Prozent erheblich verringert habe. Die Personalstärke betrug demnach 183.051 Soldati:nnen, ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr. „Bis zum Ziel, die Zahl der Soldatinnen und Soldaten auf 203.000 im Jahr 2031 zu erhöhen, ist es noch ein langer Weg“, konstatierte Högl. Neben dem weiter steigenden Altersdurchschnitt macht ihr auch der Anstieg der Abbrecherquote Sorgen.

Der Militarisierung entgegen!

Die militärischen Großmachtambitionen Deutschlands und der EU gehen einher mit massiven Angriffen auf unsere Lebensbedingungen in Form von Sozialraub, Bildungskürzungen und Zerschlagung von Tarifrechten. Und gerade dort, wo es besonders schwierig ist, einen Job, eine Lehrstelle oder einen gebührenfreien Studienplatz zu kriegen, umwirbt das Militär junge Leute mit dem Versprechen auf einen krisensicheren Arbeitsplatz.

Doch der Zusammenhang von neoliberalem Sozialabbau und Militarisierung geht tiefer: Die verstärkte kapitalistische Standortkonkurrenz zwingt zur neoliberalen „Mobilmachung“ der Gesellschaft, die in der militärischen Mobilmachung, im weltweiten Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte nur ihre logische Fortsetzung findet.

Die militärischen Ambitionen des deutschen Imperialismus richten sich gegen alle Lohnabhängigen und Unterdrückten – auch in Deutschland! Dieses Jahr findet die Sicherheitskonferenz vom 16. bis 18. Februar im Bayerischen Hof der bayerischen Landeshauptstadt statt. Die Proteste starten am Samstag, 17.2. um 13 Uhr am Karlsplatz. Wir begrüßen, dass auch der ver.di-Bezirk München zu den Protesten gegen die NATO-Sicherheitskonferenz aufgerufen hat. Auch die anderen Gewerkschaften und der DGB sind aufgefordert, ihre Politik des nationalen Konsenses mit der Regierung aufzugeben und zu den Protesten gegen die Konferenz aufzurufen und dafür in den Betrieben, im Stadtviertel, an Schulen und Universitäten zu mobilisieren! Diese Mobilisierung sollte mit Vollversammlungen in den jeweiligen Institutionen verbunden werden, wo die Auswirkungen der Aufrüstung zusammen mit den Einsparungen diskutiert werden – mit der Perspektive, Aktionskomitees zu bilden, die eine Bewegung gegen Krieg und Militarisierung vor Ort aufbauen.

Wir rufen alle Antikriegsaktivist:innen, linken Gruppen, Mitglieder der Linkspartei, Gewerkschafter:innen dazu auf, sich an den Protesten zu beteiligen und so zu mobilisieren, denn: „Wie schon seit 60 Jahren treffen sich im Februar 2024 Staatsvertreter, Militärs und Rüstungskonzerne zur Münchner ,Sicherheitskonferenz’ (Siko) im Bayerischen Hof. Bei dieser Privatveranstaltung, die u. a. mit Steuergeldern finanziert wird, ging es nie um Sicherheit, sondern immer um die Machtinteressen der NATO und ihrer Mitgliedstaaten – besonders die der deutschen Bundesregierung, die eine militaristische ,Zeitenwende’ losgetreten hat und nun das ganze Land ,kriegstüchtig’ machen will. Heute organisiert die Bundesregierung die größte Aufrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg und schickt Waffen in Kriegsgebiete. Das bedeutet: Wettrüsten, Konfrontation, Krieg – bis hin zum Atomkrieg.“ (Aus dem Aufruf des Anti-Siko-Bündnisses)




Ukrainekrieg – und kein Ende?

Markus Lehner, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das Sterben geht weiter auf den Schlachtfeldern der Ukraine. In den bisher fast 2 Jahren seit dem russischen Angriff soll etwa ein halbe Million Soldat:innen Opfer dieses Krieges geworden sein, davon etwa 150.000 Tote. Überprüfen lassen sich die Angaben der verschiedenen Seiten und internationaler Geheimdienste zu den militärischen Opfern kaum – doch dies sind die realistischsten Schätzungen aus den unterschiedlichen Quellen. Laut dem zuständigen UN-Kommissariat für zivile Opfer wurden bisher etwas über 10.000 Zivilist:innen Opfer von militärischen Schlägen – bemerkenswerterweise etwa die Hälfte deren, die dieselbe Stelle für 2 Monate Krieg in Gaza angibt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser Krieg vor allem auf konventionelle militärische Art, d. h. durch Massakrieren von Soldat:innen vonstattengeht.

Ausgebliebene Wende

Die von vielen im Westen erwartete Wende durch die ukrainische „Sommeroffensive“ trat offenbar nicht ein. Der Krieg entwickelt sich derzeit immer mehr zu einem Stellungskrieg, ähnlich dem Ersten Weltkrieg. In einem bemerkenswerten Interview im „Economist“ (11/4/2023) bemerkte der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj: „Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg haben wir eine kriegstechnologische Lage erreicht, die uns zum Stellungskrieg zwingt.“ Gemäß den Lehrbüchern der NATO-Kriegsführung hätten die ukrainischen Offensivkräfte innerhalb von 4 Monaten die Krim erreichen müssen. Tatsächlich, erklärt Saluschnyj im Interview, habe er an allen Fronten schon nach kurzer Zeit ein Steckenbleiben oder nur sehr langsames Vorgehen feststellen müssen, was er zuerst auf schlechte Kommandoführung oder nicht ausreichend ausgebildete Einheiten zurückgeführt habe. Doch als auch Personalrochaden und Truppenumgruppierungen nichts änderten, habe er in alten Handbüchern aus Sowjetzeiten  nachgeschlagen und festgestellt, dass die Beschreibungen des Steckenbleibens der Offensivkräfte im Ersten Weltkrieg genau dem Bild entsprächen, das er von der Front wahrnahm.

Sowohl wenn er Angriffswellen der russischen wie der ukrainischen Seite beobachtete, ergäbe sich immer das Bild, dass die verteidigende Seite einen enormen technologischen Vorteil hat. Beide Seiten würden sofort Massierungen von Panzern oder Truppen mit ihren elektronischen Mitteln bemerken und durch Einsatz von Drohnen oder Artillerie jeglichen Vorstoß zu einem Unterfangen machen, bei dem ein großer Teil von Angreifer:innen und ihrem Material ausgeschaltet wird. Von daher bleibt der Ausbau von Verteidigungsstellungen auf beiden Seiten das bevorzugte Ziel. Auch die ukrainische Führung ist inzwischen von ihrer groß propagierten Offensivstrategie abgerückt und erklärt ihre gegenwärtige generelle Linie als „strategische Verteidigung“. Nur ein besonderer kriegstechnologischer Sprung könne laut Saluschnyj aus diesem Gleichgewicht des Schreckens herausführen. Aber militärhistorische Erfahrungen, wie etwa der Einsatz von Panzern am Ende des ersten Weltkriegs, zeigen, dass solche wirklich qualitativ neuen Technologien länger bis zur erfolgreichen Integration brauchen und zumeist erst im nächsten Krieg entscheidend werden.

Abnutzungskrieg

Da es sich jetzt offenbar um einen Abnutzungskrieg handelt, wird die Frage der Kriegswirtschaft und der quantitativen Versorgung der Truppen mit militärischem Material immer entscheidender. Der Krieg wird also immer mehr durch die Ökonomie entschieden, wie schon im Ersten Weltkrieg. Und hier gewinnt Russland immer mehr an Boden. Wie ein US-Banker kürzlich bemerkte, haben sich Prognosen, dass die russische Ökonomie aufgrund der westlichen Sanktionen und Belastungen durch die Kriegswirtschaft in wenigen Monaten zusammenbrechen würde, als „triumphally wrong“ erwiesen. Anders als auch viele Linke analysiert haben, hat sich die russische Ökonomie eindeutig als die einer imperialistischen Macht erwiesen. Nicht nur, dass die Ausfälle von Kapital- und Warenimporten mit nur leichten Einbrüchen weggesteckt werden konnten, inzwischen hat sich die russische Waffenproduktion um 68 % erhöht und einen Anteil von 6,5 % des BIP erreicht. Nach einer Rezession 2022 ist die russische Ökonomie 2023 um 2,8 % gewachsen. Natürlich haben sowohl steigende Importpreise wie Kriegswirtschaft zu einer wachsenden Inflation um die 7 % geführt. Die Leidtragenden sind wie bei militärischen Opfern vor allem die Arbeiter:innen, die mit immer höheren Lebenshaltungskosten bei eingeschränkterem Angebot zu kämpfen haben. Trotzdem wird für die Präsidentschaftswahlen im März kaum mit einem Machtwechsel gerechnet. Und danach wird wohl der entscheidende Nachschub für die Truppen wieder im größeren Maße fließen: mehr Soldaten durch weitere Mobilisierungen!

Dass die Ukraine größere Probleme mit dem Abnutzungskrieg hat, hat sich in den letzten Monaten immer deutlicher gezeigt: Zu Hochzeiten der Sommeroffensive feuerte die ukrainische Artillerie etwa 7.000 Projektile am Tag ab – wesentlich mehr als die russische. Doch derzeit muss sie sich aufgrund von Knappheit auf 2.000 pro Tag beschränken, während die russische Artillerie 5-mal so viel abfeuert. Ursache dafür sind nicht nur stockende Hilfsgelder aus dem Westen (z. B. die vom US-Kongress zurückgehaltenen Militärhilfen), sondern viel grundlegendere Probleme der westlichen Rüstungsindustrie. In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich diese auf hochtechnisierte und spezialisierte Waffen, während es im konventionellen Abnutzungskrieg vor allem auf Masse und traditionelle „Hardware“ ankommt. Nachdem bisher vor allem aus Beständen der westlichen Armeen geliefert wurde, kommt es jetzt immer mehr auf tatsächliche Neuproduktion an. Die Ukraine selbst kann schon aufgrund der kriegsbedingten Infrastrukturprobleme (z. B. Ausfall von mehr als der Hälfte der Stromversorgung) kaum selbst die nötigste Menge produzieren.

Grenzen des westlichen Imperialismus

Doch auch der westliche Imperialismus erweist sich als nicht so übermächtig, wie er von vielen gemalt wird. Munitionsproduktion benötigt Unmengen an Stahl. Sieht man sich die 15 größten Stahlkonzerne der Welt an, so findet sich dort kein einziger US-Konzern mehr, wohl aber rangieren dort 9 chinesische. Die USA sind aus einem der bedeutendsten Stahlproduzenten der Welt heute zu einem der größten Importeure geworden. Sie und Westeuropa müssen unter hohen Kosten für Zulieferungen heute ihre Munitionsproduktion um ein Vielfaches steigern, um mit Russland und China mithalten zu können. Insbesondere bei 155-mm-Geschossen wollen sie bis 2025 ihre Jahresproduktion auf 1,2 Millionen erhöhen, sechsmal so viel wie 2023. Damit wird man vielleicht die russische Produktion einholen, die sich jetzt schon seit Kriegsbeginn verdoppelt hat (nicht gerechnet den massiven zusätzlichen Bezug solcher Munition aus Nordkorea).

Viele solche Versprechen lassen sich jedoch aufgrund von Lieferengpässen und technischer Umstellungsprobleme in der Kürze der Zeit kaum umsetzen. So hatte die EDA (die „Verteidigungsagentur“ der EU) der Ukraine im März 2023 für den Rest des Jahres 1 Million solcher Munition zugesagt, tatsächlich jedoch nur 480.000 beschaffen können. Während die unter Staatskontrolle stehende US-Munitionsproduktion aufgrund politischer Entscheidungen hochgefahren werden kann, sind die europäischen Rüstungskonzerne (vor allem die deutsche Rheinmetall, die britische BAE Systems, die französische Nexter S. A., die norwegisch-finnische Nammo AS) als Privatkonzerne nur durch konkrete finanzielle Zusagen zur Ausdehnung ihrer Produktion bereit. Ihre Auftragsbücher sind jetzt schon dreimal so voll wie vor dem Krieg. Rheinmetall überzieht den Kontinent derzeit mit neuen Produktionsstätten. Trotzdem wird diese Produktion der Quantität nach mindestens bis Anfang 2026 hinter der russischen zurückbleiben.

In einem Abnutzungskrieg, der vor allem durch Verteidigungsstellungen und Artillerie geprägt ist, können solche Faktoren entscheidend sein. Wie der Erste Weltkrieg gezeigt hat, können Munitionsmangel und geballte Artillerieüberlegenheit dann doch immer wieder zu einzelnen Durchbrüchen führen – und letztlich eine Seite zur Aufgabe zwingen. Noch sind die Kriegsparteien aber offensichtlich weit von einem solchen Punkt entfernt. Es werden also nicht nur weitere Milliarden in die Rüstungsindustrien gesteckt, sondern vor allem tausende Soldat:innen in die so entstandene Kriegshölle geschickt werden. In den letzten Monaten gab es insbesondere in der Ukraine wachsende Rekrutierungsprobleme. Auch wenn die Motivation der ukrainischen Verteidiger:innen um ein Vielfaches höher ist, so sind doch viele Soldat:innen nach Monaten des Kampfes und der vielen toten Kamerad:innen einfach ausgebrannt. Ausdruck davon ist die wachsende Bewegung der Angehörigen, die dafür kämpfen, dass ihre Ehemänner oder Söhne endlich abgelöst werden. Doch neue Rekrut:innen werden immer weniger und vor allem weniger militärisch geeignet. Daher werden auch die Rekrutierungsbemühungen des ukrainischen Militärs immer brutaler und weniger „freiwillig“.

Innere Widersprüche

Schließlich werden in der Führung der Ukraine immer deutlichere Widersprüche sichtbar. Das erwähnte Interview von Oberbefehlshaber Saluschnyj führte zu einer wütenden Replik von Präsident Selenskyj, der seine optimistische Darstellung des Kampfverlaufs für die westlichen Geldgeber:innen dadurch in Frage gestellt sah. Andererseits wurde deutlich, dass die politischen Vorgaben lange zu einer verlustreichen Verteidigung Bachmuts wie der schon gescheiterten Offensive führten – und die militärische Führung Selenskyj praktisch die Wende zur Verteidigungsstrategie aufzwingen musste. Saluschnyj hat Ersteren längst in den Popularitätswerten überholt, insbesondere unter den Soldat:innen. Hinter ihn stellt sich auch der Kiewer Bürgermeister Klitschko, so dass hier eine tatsächliche politische Gegenmacht zu entstehen beginnt. Es ist nicht auszuschließen, dass Selenskyj eher als Putin fällt, insbesondere wenn man im Westen eine gesichtswahrende Beendigung der Kampfhandlungen ohne Erreichen der Kriegsziele der Ukraine anstrebt.

In der Linken wird der Ukrainekrieg gerne auf einen Stellvertreterkrieg zwischen den imperialistischen Mächten USA/EU und Russland reduziert. Auch wenn dies ein bestimmendes Moment des gesamten Krieges darstellt, der untertrennbar mit dem neuen Kalten Krieg und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden ist, so ist er auf Seiten der Ukraine auch ein nationaler Verteidigungskrieg gegen die Jahrhunderte alte Unterdrückung durch das imperiale Russland. Das erklärt jedenfalls die massive Unterstützung auch der ärmeren Bevölkerung in der Ukraine für den Kampf gegen die russischen Invasor:innen.

Zugleich ist die westliche Unterstützung nicht absolut und bedingungslos – trotz aller warmen Worte, dass hier „unsere Freiheit“ verteidigt würde. Einerseits wird das ökonomische Fell der Ukraine schon heftig unter den westlichen Agenturen verteilt (siehe die IWF-Programme für die Ukraine und ihre Auswirkungen auf die ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen). Andererseits machten Biden & Co. von Anfang an klar, dass sie nur soviel Militärhilfe leisten würden, wie zur Verteidigung notwendig ist, und nichts liefern wollten, das sie unmittelbar zu Beteiligten in einem Krieg machen – oder sie gar direkt in die militärische Konfrontation mit Russland bringen würde. Dies unterscheidet die Ukraine 2022 auch deutlich von Serbien 1914. Diese Grenzen der Unterstützung für sie durch USA und EU machen auch klar, dass die derzeitigen Engpässe in der militärischen Versorgung möglicherweise den Anfang einer (bewussten oder unbewussten) Ausstiegsstrategie markieren. D. h. in der Hoffnung, dass der Abnutzungskrieg sowohl die Ukraine wie Russland soweit militärisch schwächt, dass beide immer mehr zu einem „Ausgleich“ bereit sind. Ein solches „Minsk 3“ (sicher nicht unter diesem Namen, aber mit ähnlichen Konsequenzen) würde der Ukraine wesentliche Gebiete kosten und Russland im Gegenzug den endgültigen Verlust des größten Teils der Ukraine aus ihrem Einflussgebiet bringen. Mit der gegenwärtigen Führung der Ukraine wird dies kaum zu machen sein – aber dafür stehen ja wohl schon Alternativen bereit.

Millionen ukrainischer Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, die für die Unabhängigkeit ihres Landes und eine demokratische Selbstbestimmung in den Kampf gezogen sind, werden dies als enormen Verrat empfinden. Aber auch ein festgefahrener, länger anhaltender Stellungskrieg wird den Unmut über die Kriegspolitik des kapitalistischen Regimes in Kiew, ja über die Sinnhaftigkeit des Krieges selbst und dessen Führung befördern, zumal dieses während des Kriegs die Ausbeutung der Lohnabhängigen vorantrieb und die gewerkschaftlichen und politischen Rechte der Arbeiter:innenklasse massiv einschränkte. Die inneren Widersprüche in der Ukraine werden noch zusätzlich dadurch befeuert, dass das Regime für ungezügelte Ausbeutungsverhältnisse und Ausverkauf des Agrarreichtums an „westliche Investor:innen“ steht. Wir warnen daher vor jedem Vertrauen in irgendwelche dieser vorgeblichen Führer:innen der nationalen Verteidigung. Es ist vielmehr notwendig, dafür zu kämpfen, dass die Arbeiter:innenklasse den verschiedenen nationalistischen Führungsgruppen jede politische Unterstützung entzieht und sich schon jetzt gegen den Ausverkauf der Ukraine in jeder Hinsicht organisiert, um so den Kampf für eine unabhängige sozialistische Ukraine vorzubereiten und in Angriff zu nehmen.

Perspektiven

Hierzulande müssen wir gegen die Aufrüstung und die Milliarden für die Rüstungskonzerne kämpfen. Unter dem Vorwand der Verteidigung der Ukraine wird Aufrüstung im Interesse eigener aggressiver imperialistischer Ziele betrieben und die Kapazität der Rüstungsindustrie entsprechend ausgebaut. Auch wenn wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und die Beschaffung der dafür nötigen Mittel anerkennen, so müssen Revolutionär:innen in der Ukraine und im Westen vor den Illusionen warnen, dass die gegenwärtige militärische Unterstützung der NATO-Staaten wirklich der Unabhängigkeit dient. Vielmehr sind diese Lieferungen mit der Bedingung der Sicherung der eigenen Einfluss- und Ausbeutungssphäre verknüpft und letztlich nicht auf wirkliche Selbstbestimmung für die gesamte Ukraine ausgerichtet, sondern sollen dem Westen Beute bringen. Ob diese Rechnung aufgeht oder die ukrainischen Massen diese durchkreuzen, hängt letztlich davon ab, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, eine eigene revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die russische Okkupation mit dem für eine sozialistische Ukraine verknüpft.

In Russland sind die Bedingungen für eine Opposition gegen den Krieg seit dessen Beginn nicht leichter geworden. Der russische Imperialismus konnte sich nach den ersten, sicher so nicht erwarteten, schweren Rückschlägen stabilisieren. Sowohl ökonomisch wie auch politisch hat das Regime die Lage weitgehend im Griff. Die Pseudoopposition der Wagner-Anführer:innen hat ihren Zweck der Kanalisierung von Protest gegen „die da oben“ erfüllt und konnte in Person von Prigoschin zum Absturz gebracht werden. Allerdings werden Preissteigerungen, Knappheit bestimmter Waren und eine massive Auswanderungswelle insbesondere von gut ausgebildeten Menschen langfristig zu neuen Erschütterungen führen. Hunderttausende Tote und Verwundete für kleine Landgewinne in der Ukraine werfen Fragen an die Führung auf. Die jüngsten massiven Proteste in der Teilrepublik Baschkortostan an der Wolga zeigen, dass die Ruhe in dem Riesenreich nur eine scheinbare ist. Das mutige Auftreten des Umweltaktivisten Fayil Alsynov gegen den Ukrainekrieg und die übermäßige staatliche Repression dagegen haben genügt, um eine bisher passive Provinz in Aufruhr zu versetzen. Je länger und blutiger der gegenwärtige Abnutzungskrieg in der Ukraine andauert, um so mehr wird der Ruf nach „Brot und Frieden“ wieder das russische Regime erschüttern. Es kommt für die russischen Sozialist:innen darauf an, diesen Moment für einen neuen russischen Oktober vorzubereiten!

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies muss mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine verknüpft werden, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




Belgische Transportarbeiter:innengewerkschaften gegen Waffenlieferungen an Israel

Mattis Molde, Infomail 1235, 3. November 2023

Ein bemerkenswertes Beispiel für internationale Solidarität: 4 Gewerkschaften rufen gemeinsam auf, keine Waffen über das oder aus dem Land zu versenden! Alle Beschäftigten werden aufgefordert, solche Transporte nicht abzufertigen.

Die sozialistischen belgischen Transportgewerkschaften in Flandern und der Wallonie, BBTK (Bond van Bedienden, Technici en Kaderleden; Verband der Angestellten, Techniker:innen und Manager:innen) und BTB/UBT (Transportarbeiter:innenbund), sowie die entsprechenden Branchengewerkschaften des Christlichen Gewerkschaftsbundes, ACV Puls und ACV Transcom haben ihre Mitglieder am Dienstag aufgefordert, sich nicht mehr am Transport von Waffen nach Israel zu beteiligen (ACV: Algemeen Christelijk Vakverbond; Allgemeiner Christlicher Gewerkschaftsbund).

„Während in Palästina ein Völkermord stattfindet, sehen Arbeiter:innen an verschiedenen Flughäfen in Belgien Waffenlieferungen in Richtung des Kriegsgebiets“, zitierte Reuters aus einer gemeinsamen Pressemitteilung. „Wir, mehrere in der Bodenlogistik tätige Gewerkschaften, fordern unsere Mitglieder auf, keine Flüge abzufertigen, die militärische Ausrüstung nach Palästina/Israel transportieren“, heißt es in dem Aufruf. „Als Gewerkschaften stehen wir an der Seite derjenigen, die sich für den Frieden einsetzen.“ Sie fordern einen sofortigen Waffenstillstand und verlangen von der belgischen Regierung, keine Waffenlieferungen über belgische Flughäfen zu dulden. Die Gewerkschaften folgen damit einem entsprechenden Aufruf ihrer Kolleginnen und Kollegen in Palästina vom 16. Oktober. In Belgien sind die „christlichen“ Gewerkschaften übrigens Massenorganisationen, die ihre Wurzeln in der Geschichte der belgischen Arbeiter:innenbewegung haben, keine Gegengewerkschaften wie der CGB in Deutschland.

Was wir tun können

Das ist ein hervorragendes Beispiel für alle Transportgewerkschaften. In Deutschland wären das ver.di, EVG, GDL, aber auch Cockpit und viele kleine Verbände, die z. B. am Frankfurter Flughafen entstanden sind, nachdem dort ver.di keinen umfassenden Widerstand gegen Ausgliederungen und Lohnkürzungen geleistet hatte.

Kämpferische Gewerkschafterinnen sollten nicht nur Erklärungen und Aufrufe an ihre Führungen richten, sondern auch Kontrollkommissionen einrichten, die Waffenlieferungen untersuchen: woher, wohin.

Eine Vorlage für einen solchen Aufruf gibt es bei der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften VKG:

Italien

Schon vor zwei Wochen hatten Basisgewerkschaften aus Italien, ebenfalls viele aus dem Transport- und Logistiksektor erklärt:

„Wir unterstützen euren Aufruf, die Lieferungen von Waffen an Israel zu boykottieren, die gegen das palästinensische Volk eingesetzt würden“, hieß es bereits am 17. Oktober in einem Brief der italienischen Basisgewerkschaft SI Cobas an die Gewerkschaften in Palästina. „Als große Gewerkschaft im Logistiksektor werden sich die Beschäftigten von SI Cobas gegen jeden Waffentransport nach Israel aussprechen, von dem sie Kenntnis erlangen.“ Eine gerechte Lösung der Palästinafrage komme nicht von den „Großmächten oder den kapitalistischen Regierungen der Region“, sondern nur „durch den gemeinsamen Kampf der Arbeiter:innen des Nahen Ostens, alle Ethnien und Religionen eingeschlossen.“

Die Beschlüsse der belgischen und italienischen Gewerkschaften bilden einen scharfen Kontrast zu den sozialchauvinistischen und proimperialistischen Beschlüssen der Führungen der DGB-Gewerkschaften. Sie zeigen aber auch: Eine andere, eine internationalistische Gewerkschaftspolitik ist möglich. Lasst und dafür auch in den Gewerkschaften in Deutschland kämpfen!




NATO-Erweiterung: Auferstehung des Militarismus

Robert Teller, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Noch Ende 2019 galt die NATO dem französischen Präsidenten Macron als hirntot. Trump drohte mit der Kürzung von US-Mitteln und sogar dem Austritt aus dem Kriegsbündnis. Der Krieg in der Ukraine lässt all das in Vergessenheit geraten und wird als Gelegenheit genutzt, neue Fakten zu schaffen. Binnen kurzer Zeit wurde, wenn auch nicht ohne Friktionen, der NATO-Beitritt von Schweden und Finnland in Angriff genommen.

Bestandsaufnahme der Expansion

Dieser wurde bereits auf dem NATO-Gipfel in Madrid am 29. Juni 2022 eingeleitet. Die Verabschiedung durch die beiden Beitritts- und sämtliche NATO-Mitgliedsländer wurde im Falle Finnlands bis April 2023 abgeschlossen. Im Falle Schwedens wird eine endgültige Einigung im Herbst diesen Jahres erwartet. Die Aufnahmen markieren eine Wende nach einer jahrzehntelangen Politik zumindest formeller Unabhängigkeit von geopolitischen Machtblöcken – der NATO, dem Warschauer Pakt und von Russland und dessen Bündnispartner:innen.

Nicht zuletzt sollte die jüngste Expansion der NATO auch die politische Botschaft aussenden, dass die Zeit des Manövrierens zwischen den imperialistischen Machtblöcken in Ost und West der Vergangenheit angehört, jedes Land sich entscheiden muss, auf welcher Seite es steht. Durchkreuzt wurde dieses Verdikt durch die Türkei, die eine strategische Ambivalenz gegenüber Russland als Druckmittel einsetzen konnte, um von Schweden und Finnland das Versprechen einer verschärften Repression gegenüber der PKK-Bewegung zu erhalten. Nach ihrer Drohung, die Beitritte zu blockieren, erhält die Türkei nun zugleich Rückendeckung für ihre militärischen Ziele in Rojava und im Nordirak.

Zwar fand unter dem Deckmantel ihrer Unabhängigkeit in den beiden skandinavischen Ländern schon lange – und verstärkt nach dem Zusammenbruch der UdSSR – eine Zusammenarbeit mit der NATO statt. Im Falle Schwedens beinhaltete dies auch die Teilnahme an NATO-Manövern und die Ausrichtung von Waffensystemen auf NATO-Standards. Die „Blockfreiheit“ beruhte immer auf der zentralen Prämisse, dass einer NATO-Mitgliedschaft faktisch nichts im Wege steht. Als Nicht-NATO-Mitglied sind Finnland – und Schweden als wichtigste Truppenstellerin – zudem schon seit 2008 Teil der „Nordic Battlegroup“ der EU.

Finnland praktizierte während des Kalten Kriegs eine Art „Schweizer Modell“, das eine Eingliederung in das westliche Militärbündnis vor allem dadurch vermied, dass eine eigenständige Verteidigung gegen eine mögliche Invasion auch ohne Beteiligung verbündeter Streitkräfte als glaubhaftes Abschreckungsszenario vorbereitet wurde, was ebenso ein vergleichsweise großes Heer an Reservist:innen erforderte wie das Primat der „Landesverteidigung“ auf allen Ebenen, also die Durchdringung aller Institutionen und ihre Vorbereitung auf ihre jeweiligen Aufgaben im Kriegsfall. Der wichtige Unterschied zur Schweiz ist jedoch, dass im Falle Finnlands nur die Sowjetunion als Kontrahentin in Frage kam.

Dennoch unterwarfen sich beide Länder bis 2022 nicht der NATO-Beistandspflicht und konnten daher nicht in NATO-Operationspläne, die im Fall einer militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion bzw. mit Russland aktiviert werden können, eingebunden werden. Aus Sicht der NATO soll der Beitritt genau dies ermöglichen – das Schließen der nördlichen Flanke gegenüber Russland durch Einbeziehung der finnischen und schwedischen Streitkräfte. Laut Berichten wurde diese Integration auf dem jüngsten NATO-Gipfel im Juli 2023 durch Verabschiedung eines detaillierten Verteidigungsplans für Nordeuropa vollzogen, der auch die Einrichtung eines regionalen Hauptquartiers in den USA vorsieht – wie auch die Verabschiedung regionaler Verteidigungspläne und Hauptquartiere für Mittel- und Südeuropa.

Ausdehnung in Osteuropa

Militärisch wird die Neuaufnahme von Schweden und Finnland die Dominanz der NATO über die Ostsee weiter festigen, die im Falle einer größeren Konfrontation mit Russland strategisch bedeutsam wäre. Zur Vorbereitung auf ein solches Szenario dient bereits seit 2004 die „gemeinsame Luftraumüberwachung“ im Baltikum, die durch ein Rotationssystem aller NATO-Mitgliedsstaaten ein jederzeit einsatzbereites Kontingent an Abfangjägern in den baltischen Staaten in Einsatzbereitschaft hält. Insbesondere Deutschland betrachtet die Kontrolle der Seewege vom Nordatlantik über die Nordsee bis zur Ostsee als eine Kernaufgabe und hat zunehmend seine Marinekapazitäten auf dieses Einsatzgebiet ausgerichtet.

Eingeleitet wurde die Osterweiterung der NATO im Grunde schon mit der deutschen Wiedervereinigung. Am 3. Oktober 1990 wurde nicht nur die Bundesrepublik um die ehemalige DDR erweitert, sondern auch das NATO-Gebiet. Zugleich versicherten jedoch damals die westlichen Führungsmächte gegenüber der Sowjetunion, dass eine weitere Ausdehnung der Allianz nicht vorgesehen sei. Von diesen Versprechen wurde, wie vorauszusehen, nichts gehalten. Allerdings dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis die NATO-Ausweitung 1999 mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns neuen Schwung erhielt. Dies fällt nicht zufällig mit der Rekonsolidierung des russischen Imperialismus als globalem Konkurrenten unter Putin zusammen und seiner klaren Bestimmung als strategischen Gegner der USA, während die europäischen führenden Mächte damals eine andere Strategie verfolgten.

Unter dem Schlagwort der „Open Door Policy“ wurde die Aufnahme weiterer Staaten ins Auge gefasst. Insgesamt wurden zwischen 1999 und 2020 14 Länder Osteuropas als Neumitglieder aufgenommen, darunter 9 ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts, vier Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien) sowie Albanien. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland hat im Juni 2023 zugesagt, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zur Zeit sind rund 40.000 NATO-Truppen in Osteuropa stationiert.

Aufrüstung im Pazifikraum

Auch wenn die aktuellen Diskussionen sich auf den Ukrainekrieg konzentrieren, ist der geopolitische Einfluss im „Indopazifik“ – kurz gesagt im Umkreis von China – ein strategisches Kernanliegen der USA und zentral im übergeordneten imperialistischen Hauptkonflikt zwischen den ihnen und China. Im NATO-Strategiedokument von 2022 schlägt sich dies auch in der Formulierung nieder, dass „Entwicklungen im Indopazifik die euro-atlantische Sicherheit direkt beeinflussen“ und daher die NATO ein Interesse an dieser Region habe.

Seit 2022 nehmen Japan, Australien und Südkorea mit ihren Delegationen an NATO-Gipfeln teil. Die USA haben Anfang 2023 die Zustimmung der philippinischen Regierung (auf Grundlage eines schon seit 2014 bestehenden Abkommens) zur Einrichtung von vier neuen Militärstützpunkten erreicht, die einen direkten Zugang zu dem Teil des Westpazifiks ermöglichen, der neben China (dort unter der Bezeichnung „South China Sea“) auch von Vietnam („Östliches Meer“), den Philippinen („West Philippine Sea“) und teils von Indonesien („North Natuna Sea“ nach dem zu Indonesien gehörenden Natuna-Archipel) beansprucht wird und letztlich im Zentrum der „Indopazifik“-Debatten steht. Auch Joe Bidens Staatsbesuch in Vietnam Mitte September 2023 unterstreicht das Interesse des US-Imperialismus, sich in der Region zu verankern.

Gemeinsame Manöver von US-Streitkräften mit Australien, Japan und den Philippinen fanden zuletzt im August 2023 im Westpazifik statt. Unabhängig davon laufen seit 2009 jährliche Übungen der US- und indonesischen Streitkräfte, an denen sich in den vergangenen beiden Jahren auch das Vereinigte Königreich, Frankreich, Japan, Singapur und Australien beteiligten. All das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch enge US-Verbündete wie Japan, Südkorea und Singapur enge wirtschaftliche Beziehungen zu China pflegen und nicht bereit sind, sich in eine einseitige Abhängigkeit zu begeben.

Geschichte der NATO

All dies verdeutlicht, wie sehr sich die NATO seit dem Kalten Krieg verändert hat. Allerdings gibt es keinen Grund, dabei ihre Vergangenheit zu verklären. Seit ihrer Gründung 1949 bildet sie eine Allianz der mächtigsten kapitalistischen Staaten der Welt, verpflichtet zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer Hegemonie.

Zur Zeit ihrer Gründung bedeutete dies die konterrevolutionäre Stabilisierung einer Nachkriegsordnung vor allem in Europa – also die Wiedererrichtung der bürgerlichen Nationalstaaten. Diese sollten sowohl über den kapitalistischen Weltmarkt als auch über politische und militärische Allianzen in einen globalen Einflussraum unter Führung der USA eingebunden werden.

Vor allem erforderte dies die Entwaffnung der Arbeiter:innenklasse, die den wichtigsten Beitrag zum Sieg über den Faschismus geleistet hatte. Diese angestrebte Nachkriegsordnung wurde ideologisch verklärt zum Reich der selbstbestimmten demokratischen Nationen. Dies war jedoch immer ein Hohn, wie schon ein Blick auf die Gründungsmitglieder zeigt, zu denen auch solch demokratische Musterschüler wie der „Estado Novo“ – das Portugal unter der Diktatur von António de Oliveira Salazar – oder Kolonialreiche wie Frankreich gehörten. Die Botschaft an den Rest der Welt war, dass ein Land, sofern es sich für die „richtige“ Seite entschieden hatte, auf die wirtschaftliche und militärische Unterstützung der USA hoffen konnte.

Auch wenn die Sowjetunion der Hauptgegner des imperialistischen Projekts werden musste, konnte die konterrevolutionäre Stabilisierung nicht ohne Mithilfe der stalinistischen Bürokratie erzielt werden. Die Aufteilung Osteuropas – wie unter den Siegermächten vereinbart – setzte voraus, dass die mit der UdSSR verbündeten stalinistischen Parteien ihre Aktivitäten und Programmatik so anpassten, dass sie mit den außenpolitischen Zielen der Kreml-Bürokratie verträglich waren, also der Kampf für proletarische Revolution und gegen die imperialistische Militärmaschinerie in der westlichen Sphäre „nicht länger auf der Tagesordnung“ stand. Die NATO indes machte durch die Aufnahme der BRD, ihre Wiederbewaffnung und die Stationierung von US-Atomwaffen auf ihrem Territorium den Krieg gegen die Sowjetunion in Mitteleuropa zu dem realistischen Bedrohungsszenario, das sie zur „Eindämmung des Kommunismus“ für geboten hielt.

Veränderte Doktrin nach Kaltem Krieg

Das Selbstverständnis der NATO als „Verteidigungsbündnis“ war schon immer eine Lüge, die über ihren eigentlichen Zweck – die Durchsetzung und Absicherung imperialistischer Hegemonie – hinwegtäuscht. Der Wegfall des Hautgegners durch den Zusammenbruch der Sowjetunion war daher zwar Anlass für allerlei chauvinistischen, bürgerlich-demokratischen Siegestaumel, nicht aber für eine Auflösung der NATO. Sie wurde vielmehr neu ausgerichtet für eine Welt, in der kein kohärenter Machtblock mehr der Durchsetzung ihrer Ziele im Weg steht. Vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege und der Bürger:innenkriege in der ehemaligen sowjetischen Peripherie rückte nun die Fähigkeit zu schnellen globalen, auch präventiven Militärinterventionen in den Fokus. Der NATO-Gipfel in Madrid 1997 erklärte solche Einsätze auch ohne UNO-Mandat für legitim und dehnte den möglichen Einsatz von Atomwaffen weit über die Abschreckungsdoktrin des Kalten Kriegs aus. Von der Eindämmung Russlands ist die NATO hingegen nie abgekommen – sie wurde lediglich verkauft als Verwirklichung neu erlangter Souveränität der neu aufgenommenen Staaten.

Vor dem Hintergrund der neuen Doktrin folgte der Angriff auf Afghanistan (2001) und den Irak (2003). Die 2000er Jahre zeigten auch die Spaltungstendenzen innerhalb der Allianz durch Bestrebungen Deutschlands und Frankreichs, die sich am deutlichsten in einer (wenn auch inkonsequenten) deutschen Opposition zur Irakinvasion ausdrückten, eine eigenständigere europäische Bündnisformation zu etablieren. Kernfrage dieser Spaltungslinie war, ob der deutsche und französische Imperialismus als eigenständiger Block einen gleichberechtigten Platz neben den USA beanspruchen kann.

Eng damit verbunden war die Idee, Russland einen Platz in der zweiten Reihe der imperialistischen Mächte zuzugestehen, es in eine „europäische Sicherheitsarchitektur“ einzubinden (also sein militärisches Drohpotenzial zu neutralisieren) und zugleich dem deutschen Imperialismus einen verlässlichen Konkurrenzvorteil durch stetig verfügbare fossile Energie zu Preisen unter Weltmarktniveau zu verschaffen. In dieser Frage war auch die deutsche Bourgeoisie bis zuletzt gespalten. Erst die russische Invasion der Ukraine vermochte es, in hier Klarheit zu schaffen und zugleich Schröder und Merkel – unbestritten verdiente Veteran:innen der deutschen Sache – als „bei Lichte betrachtet“ geblendete Naivlinge, weil Putinversteher:innen, zu entlarven. Erwähnt sei noch, dass eines der wichtigsten „Friedensargumente“ der reformistischen Linken – die Kritik, NATO bzw. Regierung seien nicht „ernsthaft“ genug auf die russischen Sicherheitsanliegen eingegangen – im Wesentlichen eine Verteidigung des deutschen Imperialismus von gestern gegen den von heute liefert.

NATO-Doktrin 2022

Die 2022 neu gefasste NATO-Doktrin beschreibt Russland als militärische Hauptbedrohung, die den Aufbau eines neuen, „glaubhaften“ Abschreckungspotentials erfordert. China wird vor allem durch seine Wirtschaftsmacht und seinen Griff nach strategischen Rohstoffvorkommen als Hauptfeind für NATO-Interessen ausgemacht. Dem Land werden aber auch explizit „böswillige“ und „undurchsichtige“ Absichten unterstellt, die die „regelbasierte internationale Ordnung“ untergraben würden. Erklärtes Ziel der NATO-Doktrin ist die Vorbereitung auf einen „High Intensity“-Krieg gegen „nuklear bewaffnete Konkurrent:innen“, also Russland und China.

Schon in den 2000er Jahren hatte die NATO gemäß ihrer globalen Strategie eine sog. „schnelle Eingreiftruppe“ (NRF) geschaffen. Diese umfasste zu Beginn des Ukraine-Krieges rund 40.000 Soldat:innen, die innerhalb kurzer Zeit einsetzbar sein sollten. Dies entsprach der Doktrin, die Interessen der NATO-Mitglieder auch außerhalb des Bündnisgebietes rasch umsetzen zu können, vorzugsweise als Ordungsmacht in halb-kolonialen Ländern.

Mit der zunehmenden Konfrontation mit Russland und seit dem Ukraine-Kriegs veränderte sich die Lage. So schlug NATO-Generalsekretär Stoltenberg im Sommer 2022 auf dem Gipfel von Madrid vor, die NRF massiv auszubauen. Sie soll auf mindestens 300.000 vergrößert werden, also fast verzehnfacht. Außerdem geht es bei den meisten dieser Truppen nicht um den Einsatz irgendwo auf der Welt, sondern vor allem gegen den altem und neuen Hauptfeind Russland. So sollen z. B. Teile der deutschen Kontingente der Eingreiftruppe gemäß dem sog. New Force Modell in Deutschland stationiert bleiben, aber ständig bestimmten Ländern oder Territorien als Einsatzgebiet zugeordnet sein.

Mit der Umstellung geht auch eine massive Ausweitung der Verteidigungsbudgets auf allen Ebenen einher. Die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr sind hier sicher nur ein erster Teil, die Armee, Verteidigungspolitiker:innen und Expert:innen trommeln längst für mehr.

Ausweitung und Planung

Schließlich umfassten die Ausweitung und das Testfeld Ukraine nicht nur einen massiven Export, sondern auch eine Erneuerung der Waffenbestände der NATO-Armeen weltweit. In Europa werden neue Systeme angeschafft. Die Armeen werden – anders als noch vor einigen Jahren, wo sie auf einen Kernbestand an rasch einsatzfähigen, kleinen Interventionstruppen konzentriert werden sollten – wieder zu großen Streitkräften, die gegen eine imperialistische Macht im Landkrieg siegen können. Daher auch wieder neue Kampfpanzer, schweres Gerät, moderne Luftwaffen usw.

Schließlich bedeutet das auch, dass die Bundeswehr und andere NATO-Armeen nicht nur andere, sondern auch mehr Soldat:innen brauchen. Der Beruf soll daher attraktiver, die Werbung an Schulen verbessert werden. Hilft das alles nichts (was durchaus sein kann), steht früher oder später die Wiedereinführung der Wehrpflicht, der „Schule der Nation“ ins Haus.

Wie bekämpfen?

Eine Haltung zur imperialistischen Kriegsmaschinerie einzunehmen, bedeutet in erster Linie, sich zu deren Zielen, zu den Interessen des eigenen Imperialismus überhaupt zu positionieren, also eine Klassenposition zum imperialistischen Staat einzunehmen. Als Revolutionär:innen lehnen wir nicht nur die gewaltsamen Mittel ab, mit denen imperialistische Staaten ihre Einflussräume erobern und verteidigen – sondern bereits ihren Anspruch, die Welt in Sphären ökonomischer, politischer und militärischer Kontrolle unter sich aufzuteilen, selbst wenn dies am Verhandlungstisch geschieht.

Andererseits erkennen wir das Recht halbkolonialer Länder an, sich gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen. Das entscheidende Moment bilden dabei der Klassencharakter der kämpfenden Kriegsparteien und die Klasseninteressen, die sie wirklich verfolgen. Die entscheidende Aufgabe einer Antikriegsbewegung liegt darin, eine Bewegung aufzubauen und eine soziale Basis zu gewinnen, die die militärischen Pläne der Imperialist:innen tatsächlich durchkreuzen können, statt sie nur moralisch zu kritisieren. Und das heißt vor allem, eine Bewegung der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, die auch in den Betrieben gegen die Kriegstreiber:innen vorgehen kann. Das bedeutet auch antimilitaristische Arbeit in der Armee und unter einfachen Soldat:innen.

Der revolutionäre Antimilitarismus unterscheidet sich dabei grundsätzlich vom kleinbürgerlichen Pazifismus der „alten“ Friedensbewegung, die unbestritten auf eine lange Geschichte des Protests gegen Aufrüstung und Kriegseinsätze zurückblickt. Der Krieg, der sich nun vor unseren Augen abspielt, lässt sie jedoch ratlos zurück. Als Beispiel hierfür kann ein Redebeitrag von Gerhard Trabert zum Antikriegstag in Stuttgart genannt werden, der von DIE LINKE anschließend veröffentlich wurde. Er gesteht gleich zu Beginn zu, dass mehr Militärausgaben „eventuell notwendig“ seien, um „sich gegenüber Diktatoren und Despoten wehren zu können und Demokratien zu verteidigen“. Ob dies eine Zustimmung zum 100-Milliarden-Programm und zur Aufrüstung der NATO-Ostflanke ist, bleibt bewusst im Unklaren, denn der Rest des Beitrags ist eine Predigt für die christliche „Feindesliebe“.

In der Rivalität verschiedener imperialistischer Mächte oder Blöcke ergreifen wir keine Seite. Dieser revolutionäre Defätismus entbindet uns jedoch nicht von der Pflicht, die von imperialistischen Mächten angegriffenen Nationen zu verteidigen. Während wir im gegenwärtigen Krieg das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen gegen den russischen imperialistischen Überfall anerkennen (und somit auch ihr Recht, sich die Mittel zur Verteidigung zu beschaffen), lehnen wir jede Unterstützung der Politik und der Kriegsziele Deutschlands und der NATO kategorisch ab.

Letztere Position wiederum hindert uns nicht daran, innerhalb der Ukraine die Politik der Selenskyj-Regierung zu bekämpfen, die bereit ist, die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine den Kriegszielen der westlichen „Partner:innen“ unterzuordnen. Es hindert uns auch nicht daran, die nationalen und demokratischen Rechte der russischsprachigen Bevölkerung, einschließlich etwa des Rechts auf Lostrennung für die Krim, auf die Tagesordnung zu setzen. Deren Verwirklichung stehen jedoch vor allem die Interventionen beider imperialistischen Machtblöcke im Weg.

Wir bekämpfen jede Aufrüstung von Bundeswehr und NATO, wie wir auch grundsätzlich jedes Militärbudget dieser Staaten und ihrer Bündnisformationen ablehnen. Angesichts der engen Verknüpfung der NATO-Expansions- und Aufrüstungspläne mit der militärischen Unterstützung der Ukraine (etwa in Form von „Ringtausch“-Programmen) lehnen wir auch die Forderung nach Waffenlieferungen des NATO-Lagers an die Ukraine und jede Zustimmung zu diesen in den Parlamenten ab. Aus dem gleichen Grund lehnen wir auch alle Formen von Wirtschafts- und Handelssanktionen der imperialistischen Staaten ab. Jede Unterstützung ihrer „Verteidigungs-“ und iMilitärausgaben würde letztlich einer politischen Unterstützung des deutschen Imperialismus gleichkommen. Denn im Kampf um die Neuaufteilung der Welt stellt dieser für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland den Hauptfeind dar.




Air Defender 2023: dunkle Kriegswolken über Europa

Jürgen Roth, Infomail 1226, 14. Juni 2023

Vom 12. bis zum 23. Juni 2023 trainieren rund 10.000 Soldat:innen aus 25 Nationen mit ca. 250 Luftfahrzeugen v. a. über Deutschland im größten Luftkampfmanöver seit Bestehen der NATO. 2.000 Flüge sind an den 10 Manövertagen geplant. Die wollen nicht nur spielen!

Das Szenario

Dem Manöver liegt ein Szenario zugrunde, dem zufolge jahrelange Konfrontation zum Krieg geführt hat. Occasus, eine fiktive östliche Militärallianz, hat den unabhängigen Kleinstaat Otso überrannt und greift nun NATO-Gebiet an. Eine von Coronapandemie, Verknappung von Energielieferungen geschwächte, von bisher unbekannt hoher Inflation gebeutelte Bundesrepublik erscheint dem Aggressor als leichte Beute. Reguläre Truppen und die Spezialeinheit Organisation Brückner fallen daraufhin ins Land ein und besetzen im Blitzkrieg die Region Klebus. Ein Viertel der Republik ist besetzt. Aus der Luft wird Rostock angegriffen. Die Einnahme seines Hafens soll mehr Nachschub ins Kampfgebiet bringen. Die NATO ruft gemäß Beistandsartikel 5 den Verteidigungsfall aus. An diesem Punkt startet das Riesenmanöver.

Einschätzung und Ausmaß des Manövers

Die beteiligten Militärs werten die Luftkampfübung bereits jetzt als Erfolg, gelang doch in recht kurzer Zeit die Mobilmachung von 25 Ländern, v. a. NATO-Mitgliedern, und 250 Flugzeugen, v. a. Kampfjets. Rund 100 davon stellen die USA. Die Bundesluftwaffe beteiligt sich mit 64 Maschinen: Eurofighter, Tornados, A400M-Transporter, A330-Tanker und Hubschrauber. Learjets der Gesellschaft für Zieldarstellung und A-4 einer kanadischen Firma mimen das Aggressorluftpotential.

Ähnliche gewaltige Manöver wurden bereits zu Zeiten des Kalten Kriegs abgehalten, doch damals hatten die USA, Großbritannien und Kanada ihre Flugmaschinen direkt in Deutschland stationiert. Nun erfolgte deren Verlegung schnell über Tausende Kilometer.

Die Übung erfolgt dennoch nicht im Namen des westlichen Militärbündnisses. Es war von der BRD geplant und wird von ihr geleitet. Generalleutnant Ingo Gerhartz, seines Zeichens Bundesluftwaffenoberbefehlshaber, betont, sekundiert von US-Generalleutnant Michael Rose, Direktor der Air National Guard, die Übung sei keine direkte Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine. Nur wenige Einsätze würden über Estland, Polen und Rumänien geflogen. Es gehe darum, sich selbst die eigene Verteidigungsfähigkeit zu beweisen. Eine Provokation Russlands durch Flüge in Richtung Kaliningrad solle vermieden werden. US-Botschafterin Amy Gutmann verhielt sich weniger vorsichtig und bekräftigte, dass die Übung auch ein Signal der Stärke aussenden solle. Wohin wohl?

Das Szenario nimmt bis aufs i-Tüpfelchen den sehr realen russischen Überfall als Anlass zum Gegenschlag wahr. In ihrem Bemühen, das Feinbild Russland abzutun, vergessen die NATO-Militärs auch, dass bis zum 5. Juni ein ähnliches Manöver namens Arctic Challenge an der russischen Nordgrenze lief und sich derzeit rund 50 NATO-Schiffe und über 45 Flugzeuge im Rahmen der Übung Baltops in der Ostsee konzentrieren. Und schließlich muss man aus Zeiten des Kalten Kriegs wissen, wie schnell eine Übung als Bedrohung wahrgenommen wurde. Nun wütet ein heißer Krieg. Die Militärs betreiben also Desinformationspolitik.

Geschehen in den Flugzonen

Für Air Defender 2023 sind über Deutschland 3 Flugzonen eingerichtet, die zu gewissen Zeiten für jeglichen anderen Luftverkehr gesperrt sind. Das Militär beansprucht dann hier den Luftraum zwischen 2.500 und 15.000 Metern Höhe. Tiefflüge sollen über dem nördlichen Brandenburg, Teilen Mecklenburg-Vorpommerns, der Ostsee sowie den Truppenübungsplätzen Baumholder (Rheinland-Pfalz, südlicher Hunsrück) und Grafenwöhr (Bayern, Oberpfalz) erfolgen.

In den kommenden 2 Wochen wird also v. a. der zivile Luftverkehr leiden. Die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) redet von täglich 50.000 Minuten Verspätung und der Flughafenverband Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen (ADV) rechnet mit ausfallenden Flügen, z. B. über Schleswig-Holstein. Dort wird zwischen 16 und 20 Uhr geübt. Hamburg-Fuhlsbüttel plant beispielsweise für den 13. Juni 30 Starts. Um Chaos zu vermeiden, hat man das Nachtflugverbot aufgehoben.

Ökologische Kosten

Zu den direkten Kosten gibt es keine und zu den Umweltauswirkungen nur vage Angaben. Laut Bundeswehr wird das Manöver 32.000 Tonnen CO2 erzeugen – so viel wie 3.500 Deutsche im Jahr 2020 produzierten. Täglich werden allein am Fliegerhorst Wunstorf (ca. 20 km westlich von Hannover) 400.000 – 500.000 Liter Kerosin bereitgestellt. Damit kann ein Airbus A 320 mit 77 Tonnen Gewicht und 170 Passagier:innen an Bord rund 190 Stunden lang um den Globus düsen. Laut wird es außerdem, obwohl nicht scharf geschossen wird. Bis zu 60 Maschinen werden im Nordosten gleichzeitig in der Luft sein.

Protest

Die NATO spielt also mit dem Feuer, präsentiert ihre Stärke und Hoheit, auf dass „dem Iwan“ angst und bange werden möge. Dagegen ist Protest allemal gerechtfertigt. So versammelten sich am Sonntag, den 11. Juni 2023, ca. 150 Friedensbewegte am Sielmann-Hügel in der Kyritz-Ruppiner Heide zur Friedenswanderung auf dem Wanderparkplatz Pfalzheim (Ostprignitz-Ruppin) und bildeten ein Friedenszeichen mit Stoffbahnen über ihren Köpfen.

An diesem historischen Ort sammelten sich ehemals bis zu 10.000 bei Ostermärschen gegen die Naturzerstörung durch einen Truppenübungsplatz der Bundeswehr, auf dem die Luftwaffe Tiefflüge und Bombenabwürfe trainieren wollte. Das Bombodrom konnte 2009 verhindert werden. Jetzt, wo sich die Lage immer drohender auf einen III. Weltkrieg zubewegt, verbleiben ganze 150 Aufrechte. Welche Schande! Doch nicht für sie, sondern für die Linke und Arbeiter:innenbewegung, die dieses Szenario nicht hinterm Ofen hervorlockt. So bleibt ihr Widerstand gegen die große NATO-Kriegsübung bisher aus.

Neue atomare Rüstungsspirale

Dabei gibt das neue atomare Wettrüsten zusätzlichen Anlass zum Protest. Der Jahresbericht 2023 des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (Stockholm International Peace Research Institute; SIPRI) liefert nämlich nur auf den ersten Blick frohe Kunde: Die Anzahl der Atomsprengköpfe ist im vergangenen Jahr weltweit um 198 gesunken. Russland und die USA verfügen demnach über 90 % der 12.000 Waffen. Doch dieser Rückgang geht einher mit ihrer zielstrebigen Modernisierung. Die Sprengköpfe werden mobiler, dauerhaft einsatzfähig und sind schwerer abzuwehren.

Zudem legt sich seit Beginn des bewaffneten Ukrainekonflikts immer mehr der Schleier des Geheimnisses über diese Rüstungskategorie. Die Zahl der gefechtsbereiten Atomsprengköpfe hat im letzten Jahr um 86 auf vermutlich 9.576 zugenommen. Insbesondere China forciert die Aufrüstung, steigerte sein Arsenal von 350 auf 410. Vor 5 Jahren besaß es nur 280. Bis zum Ende des Jahrzehntes könnte es über mindestens ebenso viele Interkontinentalraketen verfügen wie die USA oder Russland. Die kleineren Atommächte ziehen nach: Pakistan (170), Indien (164), Nordkorea (30), Frankreich (290), Großbritannien (225), Israel (90).

2026 endet „New Start“, der letzte Atomwaffenkontrollvertrag zwischen Russland und den USA. Er begrenzt die Zahl der einsatzbereiten strategischen Atomsprengköpfe seit 2010 auf je 1.550 und der Trägersysteme zu Land, Wasser und in der Luft auf je 800. Kein Wunder, dass SIPRI-Direktor Dan Smith fürchtet: „Wir driften in eine der gefährlichsten Periode der Menschheitsgeschichte.“

Anfang Juni riefen die USA China und Russland zu Gesprächen über nukleare Rüstungskontrolle auf – ohne Vorbedingungen. Freilich bedeute das nicht, andere Atommächte nicht für ihr „rücksichtsloses Verhalten“ zur Rechenschaft zu ziehen, wie Jake Sullivan, nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten, betonte. Dieser Vorschlag ist also alles andere als uneigennützig: Geht Chinas Aufrüstung ungebremst weiter, stehen die USA bald vor dem Dilemma, erstmals in ihrer Geschichte zwei annähernd gleich große Atommächte in Schach zu halten. Er hob die Bedeutung von NATO-Verbündeten wie der BRD hervor, die zwar keine Nuklearwaffen besitzen, aber Einsatzmittel fürs US-Arsenal zur Verfügung stellten.

Zu ähnlich düsteren Prognosen kommt auch das Friedensgutachten 2023 von 4 deutschen Instituten. Deutschland und die EU müssten die Ukraine dauerhaft militärisch, ökonomisch und politisch unterstützen. Friedensgespräche seien derzeit keine realistische Option, müssten aber vorbereitet werden. Zu einer solchen Verhandlungsrunde sollten auch China und Brasilien gehören. Somit gerieren sich diese Institute ganz als brave Stimme ihres Herrn. Pazifismus ja, aber zuerst muss die richtige Seite unterstützt werden. Dafür zahlen wir schließlich Steuern – insbesondere für die weitere Aufrüstung.

EU-Militärpolitik: unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Die Ankündigung des militärischen Sondervermögens über 100 Mrd. Euro durch „Zeitenwende“kanzler Scholz löst eine massive Verschiebung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU aus: Der Trend zu wachsenden Verteidigungsausgaben ist europaweit zu verfolgen. Im Jahr 2019 lag das diesbezügliche Budget aller EU-Mitglieder bei 186 Mrd. Künftig wird allein Deutschland jährlich seines um 25 Mrd. aufstocken. Standen Ende 2021 die Zeichen im Koalitionsvertrag noch auf Rüstungskontrolle und Wiederbelebung der internationalen Abrüstung, setzte ab 2022 eine kontrollierte Rüstung ein. Die Ukraine erhielt Militärgerät, wobei östliche EU-Länder ihre noch aus Zeiten des Warschauer Paktes stammenden Waffensysteme abgaben und durch Nachkauf westlicher Ausrüstung sich dem NATO-Standard anpassten, ihn somit vereinheitlichten.

Die Antwort auf den Ukrainekrieg wird also vornehmlich in Aufrüstung gesucht, nicht in diplomatischen EU-Vermittlungs- und Verhandlungsmissionen. Dabei steht die europäische Verteidigungspolitik im Schatten der Öffentlichkeit. PESCO/SSZ, die ständige strukturierte Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten – wir berichteten in NI 226, Februar 2018: https://arbeiterinnenmacht.de/2018/02/03/muenchner-sicherheitskonferenz-2018-auf-dem-weg-zur-eu-armee/ – begann Ende 2017 und weist heute große Schnittmengen mit der NATO selbst auf. Beleg für den laufenden Ausbau dieser Politik liefern die Missionen auf dem Balkan, im Mittelmeer und Afrika (Mali, Niger).

In welche Richtungen EU-Gelder und -Budgets fließen, veranschaulicht das Projekt „Open Security Data EU“ (https://opensecuritydata.eu/). Man bedenke: Diese Gelder tragen zu einem Militärhaushalt ohne eigene EU-Armee bei! Der Europäische Verteidigungsfonds umfasst allein zwischen 2021 und 2027 8 Mrd. Euro für militärische Forschung und Entwicklung. Im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität stehen weiter 5 Mrd. für gemeinsame Missionen und Hilfe an Drittstaaten zur Verfügung. Weitere 500 Mio. liefert das Instrument zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (Edirpa) für den Zeitraum Juli 2022 – 2024.

Dass es bei einer EU ohne Armee bleiben wird, erscheint zudem immer unsicherer. Im März 2022 wurde der Strategische Kompass vorgestellt. Eine neue Schnelleingreiftruppe aus 5.000 Soldat:innen soll für Rettungs- und Evakuierungsaufträge, aber auch den Ersteinsatz im Rahmen der Krisenintervention bis 2025 aufgestellt werden.

Diese Zahlen und Hinweise verdanken wir einer Expert:innenrunde des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Oberthema: „Der Militarisierung entgegenwirken: Bestandsaufnahme und gemeinsame Wege im Kampf gegen die Militarisierung der Europäischen Union“ von Anfang September 2022 (https://www.rosalux.eu/de/article/2154.der-militarisierung-der-eu-etwas-entgegensetzen.html).

Doch so dankbar wir auch für die wertvolle Recherche der Stiftung sind, ihr „Antimilitarismus“ bleibt ein zahnloser:

„In der Summe der Projekte, Budgets und strategischen Planungen sowie deren absehbaren Ausweitungen drohen die Idee des friedlichen Charakters der Europäischen Union sowie die Vorstellung von einer Mittlerrolle im Rahmen von Friedensverhandlungen, die bislang im Ukrainekrieg auch nicht eingenommen worden ist, weiter Schaden zu nehmen. […] Wenn künftig das Mittel zur konstruktiven Enthaltung auch bei Militärmissionen zum Einsatz kommen sollte, dürfte die Zahl der Missionen aus nationalen Interessen einzelner oder mehrerer europäischer Staaten heraus zunehmen. Damit läuft die EU Gefahr, dass sich abgekoppelte Kriege auf Betreiben einzelner Staaten hin entwickeln. Analog kann der US-Feldzug in Afghanistan gesehen werden, dessen Angriffe im Rahmen der Operation Enduring Freedom mit Verteidigung nicht begründbar waren. Das zur Verteidigung angerückte Bündnis aus NATO- und Nicht-NATO-Mitgliedern leistete dafür eine wesentliche Unterstützung.

Linke europäische Politik muss sich angesichts dieser und vieler weiterer Aspekte, beispielsweise der Einsätze von Frontex im Mittelmeer und der auf Abwehr angelegten Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen, über die Rolle innerhalb der Europäischen Union klar werden, um den friedensfördernden Charakter des Bündnisses nicht an die Rüstungsindustrie und Wirtschaftslobbyisten zu verlieren.

Das verlangt linker europäischer Politik aber auch ab, bei der Ablehnung der etablierten konventionellen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eigene Lösungen aufzuzeigen. Dabei muss auch das Bedürfnis nach dem Schutz, den Sicherheits- und Verteidigungsbündnisse vorgeblich bieten, in linke Lösungsvorschläge einfließen. Die Fragen nach einer neuen europäischen Sicherheitsordnung und einer gemeinsamen europäischen Verteidigung müssen von links beantwortet werden.“

Die Märchenerzähler:innen der RLS wollen uns weismachen, die EU sei eigentlich ein friedlicher Zusammenschluss, wenn egoistische Nationalinteressen, Wirtschafts- und Rüstungslobby nicht die Oberhand gewinnen. Kautskys Idee vom Ultraimperialismus erlebt hier eine Renaissance. Sie ist zwar ein Staatenbund, aber kein Superstaat, indem sich die konkurrierenden Interessen nationaler Gesamtkapitale schiedlich-friedlich verflüchtigt haben. Sie bildet ein politisch-wirtschaftliches Kartell unter Ägide des deutschen und französischen Imperialismus als dessen Hauptprofiteuren. Sieht so die Transformationsstrategie aus, der EU ihren grundlegend militaristischen und imperialistischen Charakter abzusprechen? Im Transformatorenhäuschen der RLS fließt nur reformistischer Schwachstrom, der den EU-Militarismus höchstens ein bisschen kitzelt. Das Gesundbeten dieses Saulus zum Paulus wird niemals gelingen. Die Linkspartei und ihre Ableger betreiben „konstruktiven, kritischen“ Sozialpatriotismus.




Krieg in Kampf um soziale Befreiung umwandeln!

Katjuscha Seelig, Infomail 1222, 10. Mai 2023

Am Dienstag, dem 9. Mai 2023, sind wir mit Genoss:innen von REVOLUTION und rund 250 weiteren Menschen in Berlin lautstark gegen Kriegs- und Krisenprofiteur:innen auf die Straße gegangen. Das Bündnis „Rheinmetall entwaffnen“ rief auf zu einer Demonstration unter dem Titel „Rheinmetall entwaffnen — Kriegstreiberei von Grünen & Co stoppen!“ Die Demonstration zog von der Parteizentrale der Grünen über die der FDP zum Brandenburger Tor.

Anlass war die Aktionär:innenversammlung vom deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall, auf welcher die durch den Krieg eingefahrenen Profite ausgeschüttet wurden. Auch wenn die Versammlung seit Beginn der Pandemie rein digital stattfindet, dass sie am Tag des Sieges über den deutschen Faschismus einberufen wurde, ist allein schon zynisch. Dies erfolgt in Ergänzung zu den Einschränkungen des demokratischen Rechts am 8. und 9. Mai, die Fahnen der Siegermächte zu tragen, wie durch das Verbot der russischen Flagge, aber auch der der Sowjetunion deutlich wird. Während also die deutsche Waffenindustrie Rekordgewinne ausschüttet, verbietet sie die Würdigung aller Sieger:innen gegen den deutschen Faschismus. Währenddessen mahnte ein Auszug des Schwurs von Buchenwald am Lautsprecherwagen hängend an: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

In unserer Rede haben wir aufgezeigt, dass der Kampf gegen den Krieg zugleich einer gegen den interimperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt sein muss, mitsamt des Eintretens gegen den neuen Militarismus und seine Profiteur:innen als auch für die Freiheit der Ukraine von jeder imperialistischen Einflussnahme. Das bedeutet sowohl den sofortigen Abzug aller ausländischen Soldat:innen aus der Ukraine als auch die Öffnung sämtlicher Geheimverträge für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes und die sofortige Streichung seiner sämtlichen Schulden.

Lasst uns gemeinsam für eine Bewegung kämpfen, die dem System der Krieg den Krieg erklärt: No War but Class War!

Arbeiter:innenmacht-Rede auf der Demonstration von „Rheinmetall entwaffnen“

Genossinnen und Genossen,

der Krieg in der Ukraine nimmt immer mehr Merkmale eines Abnutzungs- und Stellungskriegs an. Die Masse an eingesetzter Artillerie, Panzern, Drohnen und Munition frisst ganze Industrieproduktionen auf. Ganz zu schweigen von den Menschen, die zu zehntausenden getötet und verwundet werden.

Was für den russischen Imperialismus bereits durch das westliche Sanktionsregime zunahm, kommt jetzt auch für die Nato-Staaten auf die Tagesordnung: Umstellung auf Kriegswirtschaft und goldene Jahre für die Rüstungsindustrie. So haben deutsche und US-amerikanische Rüstungskonzerne bereits neue Standorte ins Leben gerufen. Rheinmetall selbst plant den Bau einer Panzerfabrik auf ukrainischem Boden.

Wir erleben nicht nur einen reaktionären Angriffskrieg des russischen Imperialismus, sondern zugleich auch einen Stellvertreterkrieg zwischen zwei imperialistischen Blöcken. Unsere Aufgabe als Revolutionär:innen muss es sein, diese reaktionäre innerimperialistische Konfrontation zu bekämpfen – und das heißt für uns in Deutschland, dass wir uns klar und deutlich gegen die Kriegsziele der NATO und des deutschen Imperialismus wenden.

Denn es geht es darum, wer der Welt den Stempel aufdrücken kann. Phrasen wie Kampf für Demokratie und Menschenrechte sind nur Maskerade dessen, schauen wir nur auf andere Kriegsgebiete der Nato-Schlächter:innen.

Der Ringtausch, das 100-Mrd.-Euro-Rüstungspaket, die Nato-Stärkung durch den Beitritt Finnlands und die Beitragserhöhungen: Das sind im Hier und Jetzt Schritte, um für den eigenen Platz an der Sonne ein drittes Mal kämpfen zu können.

Die Schulden für die Ukraine sowie die Angriffe auf soziale und Arbeitsrechte: Das sind schon jetzt Mittel, mit denen dieses Land noch mehr den westlichen Staaten und Konzernen unterworfen werden soll. Es ist das Selenskyj-Regime, das bereits jetzt für eine Ukraine kämpft, die zur Handlangerin anderer Imperialist:innen wird. Daher sagen wir: Offenlegung der Geheimverträge für die sogenannte wirtschaftliche Neugestaltung!

Ein echter, dauerhafter Frieden ist nur möglich, wenn wir alle imperialistischen Interessen in der Ukraine bekämpfen. Dazu muss der russische Imperialismus raus aus dem Land, muss das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer:innen, aber auch der Bevölkerung der sog. Volksrepubliken und der Krim anerkannt werden. Dazu müssen wir aber auch der westlichen Sanktions- und Kriegspolitik, der NATO-Osterweiterung und permanenten Aufrüstung den Kampf ansagen.

Unsere Antwort bedeutet, dem System der Kriege den Krieg zu erklären, unsere Antwort heißt Klassenkampf. Ob in Russland oder Deutschland: Der Hauptfeind ist die eigene herrschende Klasse. Lasst uns den Krieg in einen Kampf um soziale Befreiung umwandeln!




Boris Pistorius wird Minister – Zeitenwende im Verteidigungsministerium

Martin Suchanek, Infomail 1211, 17. Januar 2023

Nach dem Rücktritt der unglücklichen, weil etwas aus der Zeit gefallenen Ministerin Lambrecht, vollzieht Kanzler Scholz nun auch auf personalpolitischer Ebene die Zeitenwende zu Militarisierung und Aufrüstung des deutschen Imperialismus.

Trotz massiver Budgetsteigerungen, 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr,  Rekordaufträgen für die Rüstungsindustrie ging bisher alles zu langsam, zu bürokratisch, zu wenig enthusiastisch. Lambrecht stand an der Spitze eines gigantischen Aufrüstungs- und Militarisierungsprojekts wider Willen. Sie vertrat dabei nicht nur sich, sondern auch jenen Flügel der SPD, dem die westliche Kriegspolitik im Kampf um die Ukraine nicht ganz geheuer war und ist. Als Getriebene, nicht Treibende vollzog sie die Wende. Eine Person, die zwar alles mitträgt, aber letztlich zum Jagen getragen werden muss, passt nicht mehr zum Zeitgeist.

Nun sind andere Männer und Frauen gefragt. Noch vor dem offiziellen Rücktritt von Lambrecht formulierte der Bundeswehrverband, welche Eigenschaften und Fähigkeiten von der Spitze des Ministeriums in Kriegszeiten erwartet werden (und welche implizit Lambrecht abgesprochen wurden): Sachkompetenz, Reformwilligkeit, parteiübergreifende Anerkennung, Motivation, die Bundeswehr rasch voranzubringen, Kommunikationsfähigkeit.

Gedient müsse die Person nicht haben, Militärexpert:in müsse sie auch nicht sein, umso bereitwilliger müsse sie sich aber die Zielsetzungen der Truppe und NATO zu eigen machen. Sie müsse diese entschlossen und glaubwürdig vertreten, neue Geldquellen erschließen, die Modernisierung und Anschaffung neuer Waffensysteme voranbringen, soldatisch-freudig eine Führungsrolle im Kampf für „unsere“ Interessen annehmen.

Entspricht Pistorius diesen Wünschen? Wahrscheinlich. Als niedersächsischer Innenminister seit 2013 und als rechter Sozialdemokrat hat er sich als „Sicherheitspolitiker“ schließlich einen Namen gemacht. Wie nur wenige in der SPD steht er für Law and Order. In den letzten 10 Jahren setzte er sich unter anderem für folgende Forderungen ein oder machte sich für diese stark:

  • Überwachung islamischer Vereine, natürlich, um fein säuberlich zwischen schlechten Islamist:innen und guten Gläubigen unterscheiden zu können.

  • Verbot islamischer Vereine.

  • Abschiebung sog. Gefährder:innen und „krimineller Flüchtlinge“.

  • Stärkere Finanzierung von Polizei und Ausweitung von überwachungsstaatlichen Rechten wie z. B. Vorratsdatenspeicherung und Kontrolle des Internets.

  • Deutliche personelle Stärkung der Bundespolizei und ihrer Kompetenzen.

  • Errichtung einer EU-Polizei nach dem Vorbild des FBI.

  • Aufbau einer europäischen Grenzpolizei zum Schutz des Schengenraums.

  • Verbot von Antifagruppierungen und stärkere Verfolgung des „gewaltbereiten Linksextremismus’“.

Natürlich. Der Ausbau und die Modernisierung der Bundeswehr, die Popularisierung und Rechtfertigung des zunehmen Militarismus und einer imperialistischen Außenpolitik stellen andere „Herausforderungen“ dar als der Posten des hannoverischen Innenministeriums. Doch was reaktionären, staatspolitischen Enthusiasmus und ein aktives Verfolgen dieser Ziele betrifft, bringt Pistorius genau jene „Reformwilligkeit“, jene „Kompetenz“, jene „Motivation“ und Hingabe an die Truppe mit, die der Bundeswehrverband einfordert.

Die vereinigten Militarist:innen und Imperialist:innen Deutschlands können zufrieden sein. Boris Pistorius entspricht ihrem Anforderungsprofil und einer Zeitenwende zu mehr Konkurrenz und Krieg.




Taiwan – ein Zeichen der Zeit

Peter Main, Infomail 1194, 5. August

Der 4. August, der Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, scheint kein günstiges Datum für China zu sein, um seine Streitkräfte zu mobilisieren und Taiwan zu umzingeln. Xi Jinpings Ankündigung von Sperrzonen, die jeglichen Zugang zu den Häfen der Insel blockieren sollen, um eine „Live-Feuer“-Übung zu ermöglichen, birgt das sehr reale Risiko einer Eskalation, ob beabsichtigt oder nicht.

Abgesehen von diesem Risiko bedeutet das Fehlen einer umfassenden Mobilisierung auf der chinesischen Seite der Meerenge, dass alles Gerede über eine mögliche Invasion nur Kriegshetze ist, aber deswegen nicht weniger gefährlich.

Die wirkliche Parallele liegt nicht im Jahr 1914, sondern in der Zeit unmittelbar davor. Im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, dem Beginn der imperialistischen Epoche, kam es zu einer Reihe von Krisenherden, die auf direkte imperialistische Rivalität, Aufstände gegen imperialistische Besatzung oder nationalistische Revolten innerhalb der seit langem bestehenden großen Imperien zurückzuführen waren.

Heute sind die inter-imperialistische Rivalität und das Kriegspotenzial auf das Entstehen neuer imperialistischer Mächte – Russland und China – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Restauration des Kapitalismus zurückzuführen. In einer Welt, die bereits von älteren imperialistischen Mächten beherrscht wird, kann eine weitere Expansion im Falle Chinas sowie vielleicht ein weiteres Überleben im Falle Russlands nur auf Kosten dieser etablierten Mächte gewährleistet werden.

Ebenso können sich die Staaten, die an globale Macht gewöhnt sind, nur erhalten, indem sie ihre neuen Rivalen behindern, sei es durch die Einbindung in bestehende Bündnisse, durch wirtschaftliche Zwangsjacken oder letztlich durch Krieg. Wie in der Zeit vor 1914 gibt es auch in der heutigen Welt zahlreiche Beispiele dafür.

Pelosi-Besuch

Der besondere Auslöser für die Auseinandersetzung um Taiwan, der vielbeachtete Besuch von Nancy Pelosi in Taipeh, erscheint auf den ersten Blick fast komisch trivial. Eine alternde Politikerin, hinter dem Präsidenten und der Vize-Präsidentin Dritte in der offiziellen Hierarchie der US-Politik, die bei den Zwischenwahlen im November vor dem Ende ihrer Karriere steht, wollte ein letztes Mal über die Weltbühne stolzieren und vielleicht sogar ein paar chauvinistische Stimmen einsammeln. Aber was sagt es über den Zustand der US-Innenpolitik aus, dass der amtierende Präsident Joe Biden sie nicht aufhalten konnte?

Warum hat Xi Jinping auf der anderen Seite des Pazifiks diesen eher traurigen Versuch der Selbstverherrlichung nicht einfach abgetan? Wie in den USA sind es innenpolitische Gründe, die die Antwort liefern. Angesichts einer allenfalls nur noch stagnierenden Wirtschaft, einer weit verbreiteten Unzufriedenheit über die Auswirkungen seiner Pandemiepolitik und eines bevorstehenden Parteitags, auf dem er eine dritte Amtszeit anstrebt, musste Xi selbst die chauvinistische Trommel rühren.

Seine Behauptung, Taiwan gehöre zu Chinas Staatsgebiet, zeugt von der Arroganz einer imperialistischen Macht, die die Bestrebungen einer kleineren Nation zurückweist. Taiwan war in der Tat ein Territorium, das vor langer Zeit Tribut an das chinesische Kaiserreich zahlen musste, was übrigens auch für Japan galt. Das kaiserliche China war jedoch kein Nationalstaat, in seiner langen vorkapitalistischen Geschichte kamen und gingen viele verschiedene Völker und Territorien unter seiner Kontrolle.

Die Behauptung, dass Taiwan, das in der kapitalistischen Epoche der Nationalstaaten eine von Festlandchina völlig getrennte Geschichte hatte, immer noch Peking untersteht, ist so sinnvoll wie die Forderung, dass all die europäischen Staaten, die einst Teil des Heiligen Römischen Reiches waren, jetzt Deutschland angegliedert werden sollten. Ob das taiwanesische Volk ein unabhängiger Staat oder ein Teil Chinas sein will, muss das taiwanesische Volk selbst entscheiden. Bislang hat es niemand gefragt.

Strategische Zweideutigkeit

Es gibt noch ein letztes Rätsel: Warum hat keine US-Regierung die taiwanesische Unabhängigkeit unterstützt, obwohl sie so viel über Taiwans Rechte geredet und Pekings Vorgehen lautstark verurteilt hat? Warum verstecken sie sich hinter der „strategischen Zweideutigkeit“, nur eine chinesische Regierung in Peking anzuerkennen, während sie gleichzeitig Taiwans „demokratische Rechte“ verteidigen?

Angesichts der neuen wirtschaftlichen und militärischen Stärke Pekings könnte man meinen, dass es sich hierbei einfach um Realpolitik handelt, aber das war in der Vergangenheit, als die US-Position erstmals formuliert wurde, nicht der Fall. Damals brachte die „Ein-China“-Politik die Absicht der USA zum Ausdruck, eines Tages das Regime der Kommunistischen Partei Chinas zu stürzen und das Regime von Chiang Kai-shek und seinen Nachfolgern wieder einzusetzen – zweifellos immer noch, ohne das Volk von Taiwan zu fragen.

Dieses Ziel ist in Washington nicht in Vergessenheit geraten, und bei den Parlamentswahlen 2020 in Taiwan hat Chiangs Partei, die Kuomintang, die die Position Washingtons in der nationalen Frage vertritt, ein Drittel der Wählerstimmen erhalten. Rein formal ist der Flügel der Kuomintang, der 1948 von Chiangs Regime abtrünnig wurde, immer noch in der Regierung in Peking vertreten.

Unter der neuen chinesischen Kapitalist:innenklasse, die nun unter dem Druck von Xis Politik steht, mag es sogar einige geben, die Vorteile in einem „wiedervereinigten“, vielleicht sogar „demokratischen“ China sehen. Sollte dies jemals der Fall sein, hätte die Bevölkerung Taiwans immer noch das Recht zu entscheiden, ob sie ein Teil davon sein möchte.

Genau wie vor 1914 sind diese Provokationen und Konflikte die Frühwarnzeichen eines Systems, das auf einen Krieg zusteuert. Wie damals muss sich die Arbeiter:innenklasse gegen jegliches Säbelrasseln, militärische Vorbereitungen und Wettrüsten mobilisieren, die nur zu einem größeren Gemetzel führen können. Weder die „demokratischen“ Großmächte noch ihre „autokratischen“ Rivalen können den Frieden sichern.

Nur der Sturz des gesamten Systems der kapitalistischen Großmachtkonkurrenz, des Imperialismus, und seine Ersetzung durch eine internationale sozialistische Ordnung, die die Freiheit und Selbstbestimmung der Völker garantiert, kann dies leisten. Nur dann kann eine rationale und demokratische Planung der Weltressourcen die Menschheit in die Lage versetzen, die Krisen der Armut, der Pandemien und der Umweltzerstörung zu überwinden, die der Imperialismus verursacht hat.




G7-Proteste – eine nüchterne Bilanz ist nötig

Wilhelm Schulz / Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1162, 1. Juli 2022

Olaf Scholz und Co. feierten den G7-Gipfel der westlichen Staats- und Regierungschefs als harmonische, geradezu weltoffene Veranstaltung für Demokratie, Menschenrechte, soziale und ökologische Vorsorge. Ganz zu offen war es dann natürlich doch nicht. Knapp 18.000 Polizist:innen wurden zum Schutz des G7-Gipfels in der Region Werdenfelser Land (Oberbayern) stationiert. Es glich einem Belagerungszustand. Mit Maschinenpistolen ausgestattete Polizist:innen standen hinter Nato-Stacheldrahtzäunen, ständig erfolgten Polizeikontrollen, Geschäfte mussten für den Protest schließen, Autobahnabsperrungen wurden verfügt. Mindestens 170.000.000 Euro soll allein der Polizeieinsatz gekostet haben.

Dessen Umfang entspricht dem von 2015, dem letzten G7-Gipfel in Elmau. Trotz ähnlicher Anzahl erschien die Polizeipräsenz angesichts der schwachen Mobilisierung stärker.

Allerdings besaß die Präsenz eine größere Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Schon während der Pandemie wurde polizeiliche Überwachung zunehmend und weit über deren Bekämpfungsmaßnahmen hinaus verstärkt. Der Krieg in der Ukraine dient zusätzlich als Rechtfertigung dieses Zustandes, zumal die Politik von G7 und NATO zu einem „demokratischen“ Eingreifen verklärt wird.

Eine verschärftes Polizeiaufgabengesetz, ständige Kontrollen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit bis hin zu abstrusen Fahnenregeln, Flyerverboten, Angriff wegen Verknüpfung von Transparenten, Polizeipräsenz bei linken Veranstaltungen im Vorfeld gehören mittlerweile schon fast zum „Normalzustand“ der deutschen Demokratie, und zwar nicht nur in Bayern oder bei G7-Gipfeln.

Sicherlich schüchterte die schon im Vorfeld angedrohte massive Repression Menschen ein und wirkte demobilisierend. Das erklärt aber keineswegs die enttäuschend geringe Beteiligung an allen Aktionen. Im Folgenden wollen wir auf einzelne eingehen, um am Ende die Frage zu beantworten, worin die zentralen Gründe für die schwache Mobilisierung lagen.

Großdemo mit 6.000 Teilnehmer:innen?

Die von den NGOs angekündigte „Großdemo“ mit Start und Ziel auf der Münchener Theresienwiese blieb am Samstag, den 25. Juni, weit unter den Erwartungen. Die Mehrheit der rund 6.000 Teilnehmer:innen wurde von verschiedenen antikapitalistischen, antiimperialistischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen mobilisiert. Die Masse der NGOs blieb aus.

Dabei hatten diese im Vorfeld die politische Ausrichtung der Demonstration am 25. Juni an sich gerissen, alle politischen Parteien und radikaleren Gruppierungen aus dem Träger:innenkreis, der Festlegung des Aufrufes und auch weitestgehend aus der Mobilisierung zur Demo gedrängt.

Dieses bürokratische und undemokratische Manöver hatte nicht nur die Gesamtmobilisierung erheblich geschwächt und behindert. Der Verzicht auf eine grundlegende Ablehnung der G7, das Ausweichen vor der Kriegsfrage und die Anbiederung an die Mächte der Welt, die im Aufruf deutlich wurde, erwiesen sich als politischer Rohrkrepierer.

Einige der NGOs und Gruppen der sog. Zivilgesellschaft dürften schon im Vorfeld ihre Mobilisierung faktisch eingestellt haben. Andere wie Fridays For Future scheinen sich selbst im Spannungsverhältnis zwischen Pressuregroup der grünen Regierungspartei und sozialem Faktor auf der Straße zu zerlegen. So konzentrierte sich FFF auf eine Kleinstdemo am Freitag mit einigen 100 Teilnehmer:innen, die unabhängig von anderen Protesten stattfand, und war kaum sichtbar auf der Großdemo.

FFF mutierte von einer Streikbewegung zu einer Eventorganisation. Obwohl es auf dem Papier Unterstützer:in der Gegenproteste war, konnte kaum von einer öffentlichen Mobilisierung die Rede sein. Bis auf einzelne bekannte Gesichter am Samstag und eine kleine eigene Aktion am Freitag mit knapp 300 Teilnehmer:innen war FFF nicht präsent. Scheinbar liegt der Fokus aktuell auf einer Unterstützung der Embargos gegen den russischen Imperialismus, anstatt die eigene Regierung und ihre zerstörerische Umweltpolitik anzugreifen.

Auffällig war nicht nur, dass die NGOs zahlenmäßig gering vertreten waren, sondern auch die Abwesenheit anderer Parteien, die sonst auf solchen Protesten anzutreffen waren. Während bei den letzten Gipfelprotesten auch Teile der Grünen und sogar der SPD teilnahmen, so ist ihr Fernbleiben einfach durch die Einbeziehung in die Ampelkoalition sowie die Unterstützung deren Kurses zu erklären. Ähnliches gilt auch für die Gewerkschaften. Der sozialpartner:innenschaftlichen Anbindung an die SPD wurde durch die Pandemie kein Abbruch getan und auch jetzt werden die Kosten des Krieges auf dem Rücken der Lohnabhängigen stumm mitgetragen. Vereinzelt sah man ver.di- und GEW-Mitglieder aus München, aber eigene Blöcke oder gar Lautsprecherwagen waren nicht zu finden. Dies ist nicht verwunderlich, da diese bereits während der Vorbereitung mit Abwesenheit glänzten.

Die NGOs haben in diesem Jahr die Spaltung der Gegenproteste erreicht. Sie weigerten sich mit fadenscheinigen Argumenten, gemeinsam mit sämtlichen Parteien und allen subjektiv revolutionären Organisationen sie zu organisieren. Als NGOs dürften sie keinen Widerstand gegen den Staat organisieren. Solche Argumente tauchen inmitten einer Krise der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf!

Warum galten diese Einwände bei vergangenen Gipfelprotesten nicht? Sie stellen nichts anderes dar als den Versuch, den Widerstand konform zu lenken und jene, die nach einer Perspektive gegen und nicht mit den G7 suchen, ruhigzustellen. Gesagt, getan. Das Ergebnis war ein doppeltes. Einerseits wurde die Desorganisation der Linken dadurch befeuert, andererseits die Aussicht auf eine größere Mobilisierung bewusst aufs Spiel gesetzt. Die Entscheidung, dass die G7 zu beraten statt zu bekämpfen sind, liefert die Erklärung für diese Entwicklung. Die NGOs haben sich so als Erfüllungsgehilfinnen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenz präsentiert. Die „Zivilgesellschaft“, für die sie einzustehen versuchen, stellt eben nichts weiter als einen Hofstaat jener Klassengesellschaft voller sozialer Gegensätzlichkeiten dar. Ebenjene ist es, die im letzten Jahrzehnt nach rechts rückte. Sich in ihrer Mitte zu positionieren, erzwingt die Bekämpfung oder zumindest das Ausbremsen radikaler Kräfte. Der Fördertropf an dem sie hängen, bildet die materielle Hintergrundfolie einer ideologischen Kapitulation.

Wie verliefen die Aktionen?

Während die Hoffnungen im Vorhinein nicht allzu groß waren, so geriet die Realität mit nur 6.000 Teilnehmer:innen noch bitterer. Als positives Moment bleibt zu bemerken, dass sich die Demonstrierenden trotz ihrer inhaltlichen Differenzen gegenüber der Polizeirepression solidarisch verhielten. Als die Cops ohne ernsthaften Grund bei der Abschlusskundgebung den antikapitalistischen Block angriffen, solidarisierten sich die Sprecher:innen von der Bühne dagegen und riefen die Polizei auf, sich zurückzuziehen. Sie akzeptierten die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Demonstrierende nicht.

Man würde sich an der Stelle mehr wünschen, aber viel Besseres gibt es auch nicht zu berichten.

Leider blieben auch die Aktionen in Garmisch selbst deutlich hinter jenen von 2015 zurück. Dabei haben viele Genoss:innen und Aktivist:innen ihre gesamte Energie dafür aufgebracht, ein Camp mit geringsten Ressourcen auf die Beine zu stellen. Sie haben gekocht, Nachtwachen afgestellt, ein Workshop- und Kulturprogramm organisiert und einiges mehr. Doch leider blieben Tausende fern. Das Camp trug eher den Charakter eines alpinen Urlaubsprogramms als einer Koordinationszentrale des Kampfes gegen den G7-Gipfel. Wenige hundert Menschen übernachteten vor Ort.

Die größte Aktion, die von ihm ausging, war die Demonstration am 26. Juni. Das Bündnis „Stopp G7 Elmau“ rief dazu auf. Etwa 1.500 Teilnehmer:innen folgten dem Aufruf. Dominiert wurde die Demonstration von verschiedensten antiimperialistischen Kräften. Ihre Überrepräsentanz ist dabei nicht in erster Linie Ausdruck ihrer Stärke, sondern, wie beschrieben, einer allgemeinen Defensive. Teile der Demonstration wurden von der Polizei durchgehend im Spalier „begleitet“. Bereits vor Beginn wurde deutlich, dass der Protest zu nicht viel mehr als einem Ausdruck symbolischen Widerstands gegen den Gipfel des Kapitals geraten würde.

Noch deutlicher wurde dieser rein symbolische Charakter am Montag, dem 27. Juni. An dem Tag nahmen zusätzlich 50 Personen unter Polizeigeleit an einer kleinen Protestkundgebung außerhalb der Hör- und Sichtweite des Gipfels statt. Die Polizei führte erniedrigende Leibesvisitationen bei den Teilnehmer:innen durch und agierte dabei übergriffig, konfiszierte Gegenstände wie Marker, die mit Sicherheit keinerlei Bewaffnungen oder Ähnliches darstellen. Ebenso fand ein Sternmarsch statt. Aufgeteilt auf eine Wanderroute und Fahrradtour nahmen 100 Teilnehmer:innen den Marsch in die oberbayrischen Alpen auf.

Linke, Krise Globalisierung

Doch die zahlenmäßig schwachen Proteste gegen den G7-Gipfel sind freilich nur die Spitze des Eisbergs. Unter dem Wasserspiegel verbirgt sich der desaströse Zustand der Linken und Arbeiter:innenbewegung in der heutigen Zeit, die enorm zugespitzte proletarische Führungskrise eben.

Dieser wurde mittels Fokussierung auf Eventmobilsierungen wie „Blockupy“, „Castor schottern“ oder „Tag X“ versucht zu überdecken. Angesichts der heutigen Lage waren dies reine Heerschauen und Selbstbeweihräucherung linker Organisationen, die sich in Stärkeposition wähnten. Sie waren reine Symbolproteste. Aktivist:innen konnten sich an ihren Symbolen stärken oder scheitern, aber sie erkämpften keine realen Verbesserungen für die Klasse und schafften es nicht, inhaltliche Differenzen innerhalb der Radikalen Linken zu klären. Vielmehr formten diese Stunts eine Fassade, die den Zustand der Ratlosigkeit zu überdecken versuchte. Prominente Beispiele dafür bilden Interventionistische Linke und vor allem die Linkspartei.

Über Jahre blieben in der Deutschen Linken ernsthafte programmatisch-strategische Debatten zu den Aufgaben gegen den vorherrschenden Rechtsruck, den erstarkenden Nationalismus angesichts des aufkochenden Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und der Krise aus. So wie viele während der Pandemie darauf hofften, dass diese an ihnen vorbeiginge, ohne darauf eine politische Antwort geben zu müssen, so flehen andere wiederum, dass der Krieg um die Neuaufteilung der Welt bald vorbei sein möge.

Fast schon folgerichtig war die Interventionistische Linke auf keiner einzigen Blockade oder Demonstration als Kraft sichtbar. Die Linkspartei schaffte es, ihren Krisenparteitag parallel zum Gipfel stattfinden zu lassen und nur in kleinster Form ihres bayrischen Landesverbandes aufzutreten. Selbst dieser war ein Schatten seiner selbst.

Während manche Kräfte das Fernbleiben dieser Akteur:innen als Fortschritt feiern, das den Protest „radikal“ erscheinen lasse, ist die Realität doch eine andere. Durch die geringe Mobilisierung droht der Gegenprotest, in die Bedeutungslosigkeit zu schwinden und mit ihr die Debatte um den Inhalt.

Für eine Strategie- und Aktionskonferenz

Das Fernbleiben dieser Kräfte ist dabei Resultat ihrer eigenen Schwäche. Die unzählbaren Krisen, die Veränderung unserer Kampfbedingungen in Zeiten der Pandemie und Kriegseuphorie zeigen auf, dass die reine Fokussierung auf einzelne Aspekte reine Feuerwehrpolitik bleibt. Sie weicht der Frage aus, wie dieser Totalität des Elends ein Ende gesetzt werden kann. Noch schlimmer: Sie leugnet deren Notwendigkeit. Somit kam und kommt es zum Unterordnen unter die jeweiligen Führungen der Bewegungen, seien es bürgerliche Kräfte bei der Umweltbewegung bzw. gegen Rechtsruck oder ökonomistische Nachtrabpolitik bei gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen.

Damit wurde nicht nur verpasst, Kämpfe erfolgreich zu führen, sondern auch aus Niederlagen zu lernen.

Angesichts dieser schwachen Mobilisierung ist zu diskutieren, welche Aufgaben sich Internationalist:innen, Antiimperialist:innen und Antikapitalist:innen in dieser Zeitenwende stellen, um zumindest größere Teile der Avantgarde der Arbeiter:innenklasse gegen die Neuorientierung der westlichen Imperialismen im Kampf gegen die russischen und chinesischen Widersacher programmatisch und praktisch in Stellung zu bringen. Es ist Aufgabe der teilnehmenden Organisationen, einen offenen Austausch um die Kampfperspektive inmitten der Defensive zu führen. Wir brauchen eine Strategie- und Aktionskonferenz im kommenden Herbst. Wir richten diesen Appell insbesondere, aber natürlich nicht nur an jene Kräfte, die an der Demonstration teilgenommen haben: DKP, SDAJ, MLPD, REBELL, Föderation klassenkämpferischer Organisationen, Zora, Perspektive Kommunismus, Atik, Young Struggle, Neue Demokratische Jugend, Partizan, Atif, Kuhle Wampe, Karawane, Klasse gegen Klasse, die Sozialistische Alternative.




Die Kriegsziele des westlichen Imperialismus in der Ukraine

Dave Stockton, Infomail 1191, 16. Juni

Die Weltlage im Jahr 2022 ist durch mehrere Krisen gekennzeichnet – die unmittelbarste und in ihren globalen Folgen weitreichendste ist der Krieg in der Ukraine, der die Aufrüstung, die Ausweitung der NATO, des weltweit größten kriegführenden Bündnisses, und damit die globale Hegemonie der USA massiv vorangetrieben hat, gepaart mit einer globalen Nahrungsmittelkrise.

Zu diesen Faktoren, die die globalisierte Weltwirtschaft destabilisieren und fragmentieren, kommen noch die Schließungen und Unterbrechungen der internationalen Lieferketten infolge der Covid-Pandemie in den letzten zwei Jahren sowie das Versagen von COP26, des Klimagipfels in Glasgow, etwas gegen die drohende Klimakatastrophe zu unternehmen, das sich in der zunehmenden Serie von Dürren, Überschwemmungen und Waldbränden manifestiert.

Jede dieser Krisen hat ihre Wurzeln im kapitalistischen Profitsystem und im Wirtschaftskrieg zwischen den Großmächten, der sich in Sanktionsregimen und Blockaden ausdrückt. Diese Faktoren sowie die zerstörerischen regionalen Kriege in Syrien, im Jemen, am Horn von Afrika und jetzt in der Ukraine sind alle Ausdruck der höchsten Stufe des Kapitalismus – des Imperialismus.

Die Erweiterung der NATO

In den Jahren 1989 – 1991 hätte man meinen können, dass mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Wiedervereinigung Deutschlands die Aufgabe der Nordatlantischen Paktorganisation NATO, wie sie von ihren Gründer:innen definiert wurde, abgeschlossen sei. In der Tat stellte Russland in den folgenden 10 Jahren – nach einem massiven Rückgang seines Bruttoinlandsproduktes und dem Ausscheiden der drei baltischen Staaten, der Ukraine und Georgiens – trotz seiner Kriege in Tschetschenien kaum eine Bedrohung für die NATO-Staaten dar.

Unter US-amerikanischem Druck wuchs das Bündnis jedoch weiter und nahm Polen, die Tschechische Republik und Ungarn auf, während Boris Jelzins und später Wladimir Putins Vorschläge, auch Russland beitreten zu lassen oder das Bündnis durch einen gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag zu ersetzen, abgelehnt wurden.

Die Interventionen der NATO auf dem Balkan und ihre spätere Beteiligung an Amerikas Kriegen im Nahen Osten zeigten, dass sie weit davon entfernt war, ein defensives oder friedliches Bündnis darzustellen. In der Zwischenzeit erholte sich Russland dank der steigenden Öl- und Gaspreise von seiner Demütigung und begann, sein „Recht“, als „Großmacht“ behandelt zu werden, wieder geltend zu machen und diese Macht im Nahen Osten zu demonstrieren.

Prorussische und sogar neutrale Regime wurden von den so genannten „farbigen Revolutionen“ in Georgien (2003) und der Ukraine (2004) getroffen. Diese hatten zwar echte innenpolitische Ursachen in der Unzufriedenheit mit den oligarchischen Regimen, aber US-Diplomat:innen und „Nichtregierungsorganisationen“ spielten eine offensichtliche Rolle. Diese Putsche zeigten die Gefahr eines ähnlichen Schicksals für Putins zunehmend autoritäres bonapartistisches Regime auf, insbesondere als der Boom der Öl- und Gaspreise mit der Rezession zu Ende ging.

Russischer Imperialismus

Angesichts der wiederholten Weigerung der USA, das kapitalistische Russland mit demselben Respekt zu behandeln wie die Sowjetunion, obwohl es den USA und ihren Verbündeten bei der Besetzung Afghanistans im Jahr 2001 logistisch geholfen hatte, versuchte Wladimir Putin ab 2008, sein Prestige mit Nachdruck wiederherzustellen.

Russland ist mit seiner herrschenden Klasse von milliardenschweren Oligarch:innen, die sich auf einen Rentierkapitalismus stützen, sowie mit der von der Sowjetunion geerbten und von Putin entwickelten Raumfahrt-, Nuklear- und Waffentechnologieindustrie wirtschaftlich in den imperialistischen Club aufgestiegen. Putins Regime beschnitt die unabhängige Macht der Oligarch:innen und stellte die staatliche Kontrolle über strategische Industrien wieder her.

Im Jahr 2008 reagierte Putin auf die prowestliche Ausrichtung Georgiens mit einem kurzen, aber entschiedenen Einmarsch in die autonomen Regionen Abchasien und Südossetien. Dies bildete das Muster für seine Interventionen im Jahr 2014, als der prorussische ukrainische Präsident Janukowytsch durch den Maidan-Putsch gestürzt wurde, was die Einnahme der Krim und das Eingreifen russischer Streitkräfte zur Unterstützung der Separatist:innen in den Gebieten Luhansk und Donezk zur Folge hatte.

Die Invasion der Ukraine

Beim Maidan-Putsch von Dezember 2013 bis Februar 2014 wurde der gewählte prorussische Präsident Wiktor Janukowytsch von einer Allianz aus ukrainischen Neoliberalen, rechtsextremen Nationalist:innen und Faschist:innen mit Hilfe von US-Diplomat:innen und Nichtregierungsorganisationen gestürzt. Auf diese Weise wurde die Ukraine aus der Umlaufbahn Putins in die der NATO gebracht und zu einer Halbkolonie des Westens, die unter wirtschaftlicher Kontrolle des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union steht und Waffen und Ausbildung durch die NATO erhält.

Als Reaktion darauf beschlagnahmte Putin die Krim mit ihrem riesigen Marinestützpunkt und unterstützte – zunächst etwas widerwillig – eine De-facto-Abtrennung von Teilen von Luhansk und Donezk, die von den nationalistischen Maßnahmen des neuen Regimes in Kiew und den von Faschist:innen begangenen Gräueltaten entfremdet waren.

Die russische Invasion am 24. Februar dieses Jahres hat die Situation noch verschärft. Die Gräueltaten, die wir in Falludscha und Aleppo gesehen haben, sehen wir jetzt in Butscha, einem Vorort von Kiew, und die Verwüstung von Mariupol als Ergebnis eines dreimonatigen erbarmungslosen Bombardements, bei dem 95 Prozent der Stadt zerstört wurden und Tausende ums Leben kamen. Dies wiederholt sich nun in anderen Städten in den östlichen Provinzen Luhansk und Donezk.

Die Flucht von fünf Millionen Flüchtlingen über die Westgrenzen der Ukraine und die Vertreibung von über sieben Millionen Menschen innerhalb des Landes zeigen das Ausmaß der Zerstörung. Dies ist der Krieg einer imperialistischen Macht, die die Souveränität einer Nation verletzt, die nach Ansicht des russischen Diktators kein Recht hat zu existieren.

Auch wenn Putin und sein Regime die unmittelbaren Aggressor:innen sind, so haben doch die Handlungen der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und insbesondere seit 2013 diesen Krieg ebenfalls provoziert. Zusätzlich zu den Übergriffen der NATO auf Osteuropa haben die USA und andere westliche Länder die Ukraine seit 2014 mit Raketensystemen und kleinen Drohnen bewaffnet, die in der Lage sind, russische Panzer auszuschalten, sowie mit Boden-Luft-Raketen, um russische Flugzeuge abzuschießen, und ihre Streitkräfte für eine asymmetrische Kriegsführung umgeschult.

Allein die USA haben der Ukraine in diesem Zeitraum mehr als 2,5 Mrd. US-Dollar an Militärhilfe zur Verfügung gestellt und seit Februar weitere 3 Mrd. an Rüstungsgütern, darunter 1.400 Stinger-Flugabwehrraketen und 5.100 Javelin-Panzerabwehrraketen sowie Mi-17-Hubschrauber, Patrouillenboote, Langstreckenartillerie, Radarsysteme zur Drohnenabwehr und Küstenschutzschiffe. Am 19. Mai brachte Präsident Biden einen Gesetzentwurf ein, der der Ukraine weitere 40 Mrd. US-Dollar an Unterstützung verspricht.

Washingtons Ziel ist es nicht nur, Russland strategisch zu schwächen, sondern auch seine Vorherrschaft über die eigenen Verbündeten, wie Deutschland und Frankreich in Europa, und die untergeordneten Länder in der ganzen Welt zu behaupten. Der Beweis, dass sich niemand mit den USA anlegt und ungeschoren davonkommt, ist eine Lektion, die sich vor allem an den strategischen Rivalen China unter Xi Jinping richtet.

Der neue Kalte Krieg

Teil dieser Strategie ist die Rückkehr zur Politik des Kalten Krieges gegenüber Russland, die in der beispiellos harten Sanktionsblockade gegen dieses Land zum Ausdruck kommt. Als Reaktion darauf hat es die ukrainischen Getreideexporte über Odessa blockiert, was zu einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit geführt hat. Russland hat eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug für die Aufhebung der Blockade gefordert. Unterdessen drohen die NATO-Länder unter Führung Großbritanniens mit der Entsendung von Kriegsschiffen, um den Hafen zu öffnen, wobei es zu einem direkten Zusammenstoß mit der russischen Marine kommen könnte.

Die US-Strategie besteht in der Ausweitung der NATO auf ganz Skandinavien, kombiniert mit dem Aufbau eines NATO-Äquivalents im asiatisch-pazifischen Raum, einer von den USA dominierten Allianz für die Konfrontation mit China. Sie versuchen, den „unaufhaltsamen Aufstieg“ Chinas zu verhindern, den sie in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts unterstützt haben. Doch als China, das den Kapitalismus wiederhergestellt hat, wenn auch unter einer vermeintlich kommunistischen Partei, sich zu einer eigenständigen imperialistischen „Großmacht“ entwickelte, drohte dies, ein „zweites amerikanisches Jahrhundert“ zu beenden.

Aus diesem Grund haben die USA unter Barack Obama und Hillary Clinton eine „Hinwendung zu Asien“ angekündigt. Dies wurde durch Trumps chaotische Präsidentschaft etwas unterbrochen, aber Joe Biden hat die Strategie seines  Vorgängers von der Demokratischen Partei noch einmal aufgegriffen. Zusammen mit Australien und dem Vereinigten Königreich hat er AUKUS gegründet, einen Pakt zur Lieferung von Atom-U-Booten an Australien.

Biden ist auch dabei, die so genannte Quad (den vierseitigen Sicherheitsdialog) – Australien, Japan, Indien und die USA – sowie den Indo-Pazifischen Wirtschaftsrahmen aufzuwerten. Washington bemüht sich intensiv darum, Indien enger in sein System einzubinden, obwohl Premierminister Narendra Modi sich weigert, sich den Sanktionen gegen Russland, einem wichtigen Waffenlieferanten Indiens, anzuschließen. Bidens Versprechen, Taiwan im Falle eines Angriffs durch China militärisch zu verteidigen, basiert auf diesem neuen Militärbündnis, das gerade im Entstehen ist.

Deutschland, das sich lange Zeit dem Druck der USA widersetzte, seine Verteidigungsausgaben auf das NATO-Niveau von 2 % zu erhöhen, das sich zunächst weigerte, das Nord-Stream-2-Pipeline-Abkommen aufzugeben, und weiterhin auf russische Gas- und Öllieferungen angewiesen ist, sieht sich nun gezwungen, seine Militärausgaben massiv zu erhöhen und sich um Treibstofflieferungen aus Quellen in oder nahe den USA und ihren Verbündeten im Nahen Osten zu bemühen.

All dies wurde unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz erreicht, dessen Partei lange Zeit die Fortsetzung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland als Teil einer größeren Autonomie der EU gegenüber Washington verteidigt hat, ein Ziel, das Frankreich noch unverblümter verfolgt. Diese Politik liegt nun in Trümmern, ebenso wie die jahrhundertelange Neutralität Finnlands und Schwedens.

Das Ziel der USA und ihrer Verbündeten bildet nicht die Befreiung der Ukraine oder der Schutz der Demokratie in Taiwan, sondern Putin und Xi Jinping davon abzuhalten, Amerika und seine untergeordneten Verbündeten und Halbkolonien in der ganzen Welt in Schwierigkeiten zu bringen.

Krieg und Revolution

Die Schrecken und das Elend, die durch Putins Invasion verursacht wurden, und das wirtschaftliche Chaos, das durch die Antwort der NATO droht, werfen die Frage auf, wie ein solcher Krieg beendet werden kann. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hat verschiedentlich angedeutet, dass ein Waffenstillstand und sogar eine Friedensregelung möglich sein könnten, einschließlich des Verzichts des Landes auf einen NATO-Beitritt im Gegenzug zu einer gesamteuropäischen Verteidigungsregelung, aber Sprecher:innen der USA sowie der Druck von ukrainischen Rechtsnationalist:innen und Faschist:innen schlossen dies schnell aus.

Sicher ist, dass keiner der Kombattanten, ob Putin, Selenskyj, Biden, Johnson oder die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen der EU, diesen Krieg auf eine Weise lösen wird, die eine stabile und dauerhafte Regelung für die Völker in der Region gewährleistet. Auf keine/n von ihnen ist Verlass, wenn es darum geht, eine demokratische und dauerhafte Lösung zu suchen oder anzubieten.

Seit über einem Jahrzehnt sind wir in eine neue Periode der innerimperialistischen Rivalität eingetreten, des Afghanistan- und Irakkrieges sowie der anderen Interventionen im Kampf gegen den Terror.

Außerdem endete die Boomphase der Globalisierung mit dem Einbruch von 2008. Die Senkung der Zinssätze auf nahezu null in den 2010er Jahren, um den Aufschwung zu fördern, führte nicht zu einer Rückkehr zu ernsthaftem Wachstum. Jetzt heizen selbst vorsichtige Erhöhungen der Zentralbankzinsen eine Inflation ohne Wirtschaftswachstum (Stagflation) an. Der Krieg und die Sanktionen könnten durchaus eine ausgewachsene Rezession auslösen.

Die Politik der Arbeiter:innenbewegungen aller Länder gegenüber dem aktuellen Konflikt sollte derjenigen entsprechen, die revolutionäre Sozialist:innen wie Karl Liebknecht und Lenin während des Ersten Weltkriegs verfolgten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! In den westlichen Ländern müssen wir uns gegen alle weiteren militärischen Interventionen und den Anspruch des Westens wenden, eine gerechtere oder demokratischere Version des Kapitalismus zu vertreten, im Gegensatz zu den autoritären Regimen von Putin oder Xi. Die jahrhundertelange globale Unterdrückung durch unsere eigenen kapitalistischen Oberherr:innen, die sich bis in die Gegenwart erstreckt, entlarvt solche Behauptungen als völlig haltlos.

Heute kämpfen wir für den Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine, die Beendigung des G7-Sanktionsregimes und der russischen Blockade der ukrainischen Häfen, die Auflösung sowohl der NATO als auch der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) und dafür, den Krieg in der Ukraine in eine Revolution gegen die Herrscher:innen beider Länder zu verwandeln und den Weg zu den sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa zu öffnen.