30. November 2023 – Feministischer Generalstreik im Baskenland

Jürgen Roth, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Am 30. November 2023 wurde im Baskenland gestreikt. Neben Gewerkschaften hatten dazu auch Feminist:innen, Rentner:innenvereinigungen und soziale Organisationen aufgerufen. Es handelte sich um eines der größten und bedeutendsten Ereignisse dieser Art weltweit. Zudem hält es für Linke etliche Lehren bereit, wirft aber auch Fragen nach weiteren Perspektiven auf.

Nicht nur bessere Arbeitsbedingungen

Zu den Streikenden gehörten die Beschäftigten der Mercedes-Autofabrik in Vitoria-Gasteiz, der U-Bahn in Bilbao, des öffentlichen Gesundheitsdienstes (Osakidetza), alle Reinigungskräfte der drei größten Reinigungsunternehmen (Eulen, Garbialdi, ISS) und die Belegschaft des größten baskischen Fernsehsenders (EITB). So blieben Bahnen und Busse stehen, in zahlreichen Ortschaften Schulen und Verwaltung geschlossen. Der Rundfunk strahlte nur ein Notprogramm aus und ein Dutzend Fabriken mussten ihre Produktion komplett einstellen. Zentrale Forderungen des Generalstreiks lauteten: Aufbau eines öffentlich-gemeinwohlorientierten Caresektors, Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften, Anhebung der Renten, Einführung der 30-Stundenwoche, mit der eine Umverteilung der Sorge- und Pflegearbeit zwischen den Geschlechtern angestoßen werden soll.

Die Mobilisierung verlief alles andere als einfach. Die spanischen Gewerkschaften Unión General de Trabajadores (UGT; Allgemeine Arbeiter:innengewerkschaft) und CC.OO. (Comisiones Obreras; Arbeiter:innenkommissionen) hatten erst gar nicht aufgerufen. Sie sind allerdings im Baskenland schwächer als die regionalen Dachverbände Eusko Langileen Alkartasuna (ELA; Arbeiter:innensolidarität) und Langile Abertzaleen Batzordeak (LAB; Komitees Patriotischer Arbeiter:innen). Die Sekretärin der LAB, Maddi Isasi Azkarraga, meinte dazu, dass CC.OO. und UGT den Streik deshalb nicht unterstützt hätten, weil er aufs Baskenland fokussiert blieb und sie generell Kämpfe nicht zuspitzen wollten. Sie stimmten aber mit den Zielen des Generalstreiks überein. Der Hauptgrund lag nicht etwa darin, dass sie Schwierigkeiten darin sahen, sich als gemischtgeschlechtliche Organisation an einem feministischen Streik zu beteiligen.

Längerer Organisierungsprozess

Ausgehend von Lateinamerika wurden seit Jahren zum 8. März Millionen Menschen mobilisiert. Auch im Baskenland fanden an diesem Datum seit 2018 feministische Streiks statt, bei denen Frauen die Pflege- und Sorgearbeit niederlegen sollten, damit deren gesellschaftliche Bedeutung sichtbar wird. Der jetzige Generalstreik richtete sich hingegen an die gesamte Gesellschaft und wurde vom feministischen Bündnis namens Denon Bizitzak Erdigunean (Das Leben in den Mittelpunkt stellen) angestoßen.

Dafür ging das Bündnis auf Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Kleinbauern- und -bäuerinnenverbände sowie die Rentner:innenbewegung zu. Letztere fordert seit Jahren eine Mindestrente von 1.080 Euro. Nach längerer Diskussion wurde ein Forderungskatalog (Sozialcharta) erstellt. Neben vom Bündnis formulierten längerfristigen Zielen wie dem Aufbau eines öffentlich-gemeinschaftlichen Pflegesystems wurden kurzfristig auszuräumende Missstände benannt wie die Arbeitsbedingungen von illegalisierten, migrantischen Frauen in Privathaushalten, die oft 7 Tage die Woche Alte betreuen. Es wurden mehr als 1.000 Versammlungen in Dörfern, Stadtteilen und Betrieben durchgeführt.

Dies wurde dadurch getragen, dass der Carebereich – Alten- und Krankenpflege sowie Kinderbetreuung – während der Coronapandemie zusehends in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte rückte. Die schlecht bezahlten und überwiegend von Frauen geleisteten Pflege- und Sorgearbeiten stellten sich als die unverzichtbarsten heraus, zudem das Baskenland an Überalterung leidet und viele Menschen Pflege benötigen. So waren die Grundforderungen des Streiks nicht schwer zu vermitteln.

Und jetzt?

Amaia Zubieta, eine der Sprecherinnen des Organisationsbündnisses, erklärte: „Ein Generalstreik ist kein Selbstzweck.“ Damit verlegt sie aber den eigentlichen „Kampf“schauplatz auf die Verhandlungen mit den Autonomieregierungen des Baskenlandes und der nordspanischen Region Navarra. In der baskischen Autonomiegemeinschaft regiert jedoch die Christdemokratie in Gestalt der Baskisch-Nationalistischen Partei EAJ – PNV. Direkt nach Streikende betonte der scheidende Ministerpräsident Urkullu, „seine Partei sei einem staatlich gelenkten öffentlichen und gemeinschaftlichen Pflege- und Sorgesystem“ verpflichtet.

Vorschneller Jubel ist allerdings unangebracht. Seine Rhetorik dient dem Gewinn der in diesem Frühjahr anstehenden Wahlen. Er will keine Angriffsfläche bieten. Die Praxis seiner Regierung spricht aber eine andere, weniger doppelzüngige Sprache, hat doch die regionale Christdemokratie in den vergangenen Jahrzehnten die Privatisierung der öffentlichen Grundversorgung massiv vorangetrieben. Und das wirft Fragen auf: Was bleibt vom Streik? Und wie können die Forderungen umgesetzt werden?

Revolutionäre Perspektive

Ohne Frage war der Streik ein eindrucksvoller politischer Massenstreik. Doch im Angesicht des drohenden Ausverkaufs blieb er durch die  bürokratische Begrenzung auf einen Tag nur ein symbolischer Protest. Natürlich ist das trotzdem ein Schritt vorwärts. Gleichzeitig gibt es jedoch die Gefahr, dass Teilnehmende demoralisiert werden, wenn man nicht klar aufzeigt, was die eigene Strategie ist, um die Forderungen zu erkämpfen. Deshalb müssen Revolutionär:innen in solchen Situationen von Anfang an argumentieren, dass der Generalstreik bis zur Erreichung seiner Ziele „befristet“ bleiben sollte. Gleichzeitig hätten sie betont, dass er mit dem Aufbau von Kontrollkomitees und Milizen zu seiner Verteidigung einhergehen müsse. Denn letzten Endes wirft ein ernsthaft geführter Generalstreik auch immer die Machtfrage auf: Also wem gehört eigentlich der Betrieb, der bestreikt wird? Was passiert, wenn sich weiter geweigert wird, die Forderungen durchzusetzen bzw. zu erfüllen?

Deswegen ist der Aufbau solcher Strukturen elementar, um vorbereitet zu sein, so einen Kampf auch ernsthaft durchzusetzen. Denn entweder man erkämpft zeitweise Verbesserungen, knickt ein und geht zum Status quo zurück oder geht einen Schritt voran und bildet eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen, um die Forderungen selber umzusetzen und das Tor zum Sturz des kapitalistischen Gesamtsystems, zur Diktatur des Proletariats, gestützt auf die werktätige Bauern-/Bäuerinnenschaft aufzusperren.

Gewerkschaftsbürokrat:innen und das feministische Organisationsbündnis hätten dem sicher entgegnet, dafür seien die Massen noch nicht reif. Aber welche Art Führung haben sie dem Kampf denn gegeben, die diese Reife beschleunigen hätte können? Natürlich hätten Revolutionär:innen auf Anhieb kaum einen Blumentopf für ihre Forderungen bei den Massen gewinnen können. Doch mindestens einem Teil der Fortgeschrittensten und Aktivsten wäre spätestens nach dem Ausgang des Streiks klar geworden, dass es mehr braucht. Kurzum: Natürlich ist die Forderung des Umsturzes des Kapitalismus nicht die, worum man den Generalstreik organisiert. Doch es ist wichtig, währenddessen die unterschiedlichen Ansätze offen zu diskutieren, vor allem, da auch viele Vertreter:innen des baskischen Feminismus sich als Antikapitalist:innen verstehen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigt die Debatte um den Umgang mit der Transformation des Caresektors:

Wie bei der „Reife“ des Klassenbewusstseins, die sich baskische und andere Reformist:innen und Zentrist:innen offensichtlich nur als Naturprozess wie beim Apfelbaum vorstellen können, so gehen sie auch an die Transformation des Caresektors heran.

Transformation des Caresektors

Elena Beloki von der linken Parteienstiftung Fundación Iratzar dazu: „Der Staat muss die Mittel für die Grundversorgung bereitstellen. Die Einrichtungen sollten genossen- oder gemeinschaftlich getragen werden.“ Dieser Aufbau eines nicht profitorientierten öffentlichen Pflegesystems sei nicht einfach „nur“ eine Verstaatlichung. Doch was ist es denn dann? Sozialismus? Leider nicht. Dieser von vielen Anarchist:innen, Zentrist:innen und Linksreformist:innen gehuldigten Transformation liegt die Vorstellung zugrunde, man könne die Ballonhülle des Systems schrittweise durch Austausch von kapitalistischem Gas mit sozialistischem füllen, ohne sie zum Platzen bringen zu müssen. Doch genossenschaftliche Inseln inmitten profitorientierter Meereswellen werden ein Laden wie jeder andere auch oder Teil eines Planes für die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen. Dieser lässt sich jedoch ohne gewaltsame Sprengung des Ballons nicht erreichen.

Deswegen reicht es nicht zu schweigen, welche und wie viele Mittel der Staat bereitstellen müsse oder wie man besagte Transformation finanzieren will. Das sind berechtigte Fragen, bei denen es gilt, eine klare Perspektive im Interesse der Arbeiter:innen und Unterdrückten zu formulieren: Das heißt beispielsweise, dafür einzutreten, dass die Finanzierung durch eine progressive Besteuerung v. a. bei den Reichen stattfindet, sowie den staatlichen wie genossenschaftlichen Sektor unter Kontrolle der Beschäftigten und Nutzer:innen zu stellen. Warum? Zum einen haben sie durch ihre Stellung im Produktionsprozess Einblick, was gebraucht wird und ob die Veränderungen in ihrem Interesse stattfinden. Zum anderen sorgt es dafür, dass Streik- und Aktionskomittees über den Streik hinaus bestehen bleiben und als Kontrollorgane fungieren können. Das ist nicht nur ein Schritt voran, wenn es darum geht, Selbstermächtigung zu erlernen, sondern erleichtert auch Mobilisierungen, wenn es darum geht, Errungenschaften zu verteidigen oder weitere Angriffe abzuwehren.

Lehren des feministischen Streiks

Was sind also die Lehren des Streiks? Der Streikkampf vom 30. November stellt einen großen Schritt nach vorne dar. Gemeinsame Mobilisierungen sind nicht Standard: Aus Angst, dass „gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften“ den Streik vereinnahmen (oder diese den Streik ablehnen, weil es „kein richtiger Streik“ wäre) kommt es häufig zu isolierten Streiks. Darüber hinaus gibt es einen Teil des feministischen Spektrums, der den gemeinsamen Kampf per se ablehnt, da die Unterdrückung der Frau in männlicher Gewalt, einer Art universellen Patriarchats, wurzelt. Historisch bezeichnet Patriarchat aber die Herrschaft männlicher Familienoberhäupter über andere Menschen, darunter auch junge und familienlose Männer. Sie konnte erst mit der Erzeugung eines stetigen Überschusses und dessen Aneignung durch die Patriarchen inkraft treten, Der Kapitalismus hat sich das zu eigen gemacht und in eine systematische Diskriminerung umgeformt. Deswegen muss sich der Kampf gegen Frauenunterdrückung auch gegen das kapitalistische System richten. Das bedeutet nicht, dass man Ersteren unterordnet, sondern beide Hand in Hand gehen sollten.

Deswegen ist der Einbezug aller Geschlechter ein positiver Schritt nach vorne. Dieser wurde von dem Bündnis aus mehreren Gründen gesetzt. So sollten gut bezahlte, meist männliche Industriebelegschaften auch deshalb streiken, weil schlecht bezahlte, meist weibliche Pflegekräfte ihre Arbeit oft erst gar nicht niederlegen können. Ein weit bedeutenderer Grund liegt unserer Meinung nach indes darin, dass die Unternehmen dann deutlichere Profiteinbußen erleiden – der eigentliche Antrieb jeden Streiks! So kann nämlich mehr Druck ausgebübt werden. Darüber hinaus bringt der gemeinsame Kampf die Möglichkeit mit sich, die Auswirkungen der sozialen Unterdrückung politisch zu diskutieren und bestehende Vorurteile zu überwinden.

Eine weitere Lehre ist die Frage der Kontrolle des Streiks. Um die Instrumentalisierung der Mobilisierung durch gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften zu verhindern, wurde vereinbart, dass das feministische Organisationsbündnis „federführend“ bleibt. Laut Azkarraga hat es alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Die Frage ist jedoch, was das praktisch heißt?

Unserer Meinung nach muss die Kontrolle des Streiks bei den Streikkomittees und über  diese bei den Massenversammlungen der Streikteilnehmer:innen selber liegen. Nur so ist es möglich, die Entwicklung von Klassenbewusstsein und Selbsttätigkeit angemessen zu fördern. Nur so ist es möglich, Organe der Kontrolle von unten zu schaffen, die Streikführung und -ergebnis im Sinne der Masse der Klasse zu überwachen und ggf. revidieren ermöglichen. Die Streikenden – darunter auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen und anderen Bevölkerungsschichten – müssen das Streikkomitee, ihre unmittelbare Kampfesführung auf Vollversammlungen wählen und jederzeit abwählen können! Alles andere ist mit den Prinzipien der Arbeiter:innendemokratie unvereinbar.

Dieser elementare Grundsatz bedeutet, dass sich feministische wie Vertreter:innen anderer politischer Couleur dem Votum und der Kontrolle durch die Masse der Streikenden stellen müssen. Geht man diesen Weg nicht, kann auch die feministische Führung dazu führen, sich nicht von der klassischen Gewerkschaftsbürokratie zu unterscheiden, da die Kontrollmöglichkeit durch die Streikenden fehlt.

Verglichen mit Ländern wie Deutschland, wo die Gewerkschaften schon kalte Füße bekommen, wenn es darum geht, die eigenen Lohnforderungen durchzusetzen, zeigt dieser Streik, was alles möglich ist – und dass weitergehende Forderungen und Kämpfe dementsprechend auch keine Utopie bleiben müssen. So wäre es beispielsweise auch sinnvoll – neben den Elementen der Arbeiter:innendemokratie – auch dafür einzutreten, dass der Streik auf ganz Spanien ausgeweitet wird. Dort erfolgt aktuell ein massiver Angriff auf das Gesundheitssystem und statt sich mit den Ausreden der UGT und CC.OO. zufriedenzugeben, sollte man diese offen auffordern, aktiv mitzukämpfen und zu streiken – nicht nur im Interesse der Streikenden, sondern der gesamten Bevölkerung!




Der Januar-Aufstand und die Massenstreiks in Kasachstan

Gastbeitrag von Sozialistische Bewegung Kasachstans, 24. Januar 2022, Infomail 1177, 1. Februar 2022

Wir veröffentlichen eine vorläufige Analyse der Ereignisse im Januar 2022 in Kasachstan. Der Text wurde zuerst am 24.01.2022 auf Russisch auf der Website www.socialismkz.info veröffentlicht (http://socialismkz.info/?p=26989) und von Christoph Wälz übersetzt.

Ursachen der Proteste

Die soziale Explosion selbst ist herangereift und zum jetzigen Zeitpunkt längst überreif. Dies liegt daran, dass Kasachstan zu einer Rohstoffkolonie der entwickelten kapitalistischen Länder geworden ist. 30 Jahre lang führten die ehemaligen Spitzenfunktionäre der sowjetischen Partei- und Jugendorganisation, angeführt von Nasarbajew, härteste Marktreformen durch, die auf die Privatisierung der Großindustrie und vor allem des Bergbaus abzielten. Das Sozialversicherungssystem wurde abgeschafft und das Rentenalter wurde angehoben, so dass der ehemalige Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kasachstans Lob von Margaret Thatcher und den Titel ihres besten Schülers unter den Präsidenten im postsowjetischen Raum erhielt.

Millionen von Menschen fielen unter die Armutsgrenze und verloren Mitte der 90er Jahre durch die Betriebsschließungen im verarbeitenden Gewerbe und die erzwungene Schließung landwirtschaftlicher Kollektivbetriebe über Nacht ihre Arbeit. Infolgedessen konzentrierte sich die gesamte Großindustrie im Westen Kasachstans in den Ölfördergebieten, wo sich seit 1993 US-amerikanische und europäische Unternehmen angesiedelt haben und zwei Drittel der Produktion kontrollieren, und im Zentrum Kasachstans, wo die wichtigsten Unternehmen „Arcelor Mittal Temirtau“ des britischen Milliardärs Lakshmi Mittal und der „Kazakhmys“-Konzern sind. In Bezug auf den Bezirk Mangistau und die Regionen Westkasachstans, in denen die ersten Proteste ausbrachen, können wir sagen, dass sich dort alle sozialen Widersprüche und Unzufriedenheiten am stärksten konzentrierten, was zu Streiks und Massendemonstrationen führte, über die wir im Folgenden berichten werden.

Erstens sind die Bezirke Mangistau, Aktobe, Atyrau, Westkasachstan und Kyzylorda Regionen der Massenarbeitslosigkeit, in denen es außer Betrieben im Öl- und Gassektor praktisch keine andere Arbeit gibt. Die dortige Industrie aus der Sowjetzeit wurde in den 90er Jahren fast vollständig zerstört. Und genau dort in Zhanaozen und Aktau, wo die ersten Kundgebungen und Streiks verzeichnet wurden, gibt es 7-8 weitere arbeitslose Verwandte und erwachsene Kinder pro arbeitendem Ölarbeiter. Und deshalb haben die Streikenden und Demonstrant:innen unter anderem den Aufbau neuer Industrien gefordert.

Unter so harten Bedingungen und auch schwierigen klimatischen Bedingungen, da es sich um Halbwüstenregionen handelt, bildeten Betriebskollektive und die lokale Bevölkerung eine starke Verbindung zueinander. Solidarität und Zusammenhalt wurden zum Schlüssel des Erfolgs bei der Durchführung zahlreicher Streiks, die seit Beginn der 2000er Jahre durchgeführt wurden.

Zweitens führten die Inflation im Sommer und Herbst letzten Jahres und der Anstieg der Lebenshaltungskosten zu einer Abwertung der Landeswährung Tenge und zu einem Rückgang der Kaufkraft der Löhne. Das zeigte sich besonders in der Region Mangistau, die sich geografisch in einer „Sackgasse“ befindet, in der alle Produkte und Waren importiert werden müssen und deren Preise zwei- bis dreimal so hoch sind wie im Landesdurchschnitt. Außerdem stiegen die Preise für Kraftstoffe sowie für alle Arten der öffentlichen Versorgung. Es war klar, dass die Verdopplung des Preises auf Flüssiggas zum 1. Januar zum Auslöser einer Explosion der Unzufriedenheit nicht nur der Autofahrer:innen wurde, da diese Kostensteigerung auch einen starken Anstieg der Preise von auf der Straße transportierten Produkten bedeutete.

Drittens war der Aufstand alles andere als eine völlig unerwartete und zufällige Überraschung, wie sie uns glauben machen wollen. Denn das ganze Jahr 2021 über wurden der Bezirk Mangistau und alle Regionen Westkasachstans von ständigen Kundgebungen und Streiks von Ölarbeiter:innen und Arbeiter:innen in Dienstleistungsunternehmen überzogen, überwiegend bei Unternehmen, an denen ausländisches Kapital beteiligt ist. Das waren größtenteils Besetzungsstreiks, bei denen Zelte und Jurten auf dem Gelände von Betrieben oder vor den Toren aufgestellt wurden, um zu verhindern, dass die Produktionsanlagen herausgebracht oder Streikbrecher hereingebracht werden. Die lokale Bevölkerung und benachbarte Betriebskollektive brachten ebenso wie Anfang Januar Lebensmittel, Wasser, Kleidung und sammelten sogar Spenden bei den Kundgebungen.

Viertens wurden – obwohl durch die Streiks Lohnerhöhungen durchgesetzt werden konnten – die wichtigsten Forderungen ignoriert. Dazu gehörten die Forderungen nach einem Ende von Rationalisierungen und nach einer Rückführung von Servicebetrieben in den Mutterbetrieb, nach Gewährleistung der Freiheit der Gewerkschaftstätigkeit und nach der Legalisierung und Anerkennung unabhängiger Gewerkschaften, die von den Arbeiter:innen selbst gegründet wurden. Es sei darauf hingewiesen, dass infolge der von westlichen Manager:innen durchgeführten Rationalisierung Hunderttausende von Ölarbeiter:innen ihre Gehälter und Sozialleistungen verloren haben.

Fünftens wurden im Dezember 2021 auf dem Tengiz-Ölfeld beim „Tengizchevroil“-Joint Venture im Bezirk Atyrau, wo 75 Prozent der Anteile im Besitz der US-Konzerne Chevron und Exxon Mobil sind, 40.000 Arbeiter:innen aus Dienstleistungs- und Bauunternehmen mit sofortiger Wirkung ohne Bereitstellung irgendwelcher Ersatzarbeitsplätze entlassen. Die gleiche Gefahr von Entlassungen hing über den Arbeiter:innen von Dienstleistungsunternehmen im Bezirk Mangistau.

Zu berücksichtigen ist auch, dass in Mangistau die zu Sowjetzeiten entdeckten Vorkommen bereits schwinden und viele bis 2030 erschöpft sein werden. Hier müssen alle Ölarbeiter:innen der Perspektive eines bevorstehenden Arbeitsplatzverlustes ins Auge blicken. Drohende Entlassungen und der bevorstehende Zusammenbruch der ganzen Branche in diesem Bezirk schufen daher eine aussichtslose Situation.

Soziale Explosion

Anlass für die Explosion der Unzufriedenheit wurde die Entscheidung der Regierung, Flüssiggas für Autos an der Börse zu verkaufen und den Preis dem Markt zu  überlassen. In der Folge profitierten die Monopole, die den Preis gleich am ersten Tag spekulativ erhöhten. Der Kraftstoffpreis ist von 60 auf 120 Tenge (24 Euro-Cent) pro Liter gestiegen. Dies führte dazu, dass am nächsten Tag, am Sonntag, dem 2. Januar, Bewohner:innen von Zhanaozen und Arbeiter:innen lokaler Öl-Unternehmen, die gasbetriebene Fahrzeuge benutzen, begannen, zu spontanen Kundgebungen zu gehen und Straßen zu blockieren.

Sie wurden sofort von Einwohner:innen und Arbeiter:innen aller örtlichen Zentren des Bezirks unterstützt. Am Abend kam es bereits zu einer Kundgebung im Bezirkszentrum Aktau, bei der die Polizei zunächst erfolglos versuchte, die Menge vom zentralen Yntymak-Platz zu vertreiben. Infolgedessen wurden auch dort alle zentralen Straßen blockiert und die Menschen weigerten sich rundweg, sich zu zerstreuen. So entstanden zwei Protestzentren – Zhanaozen und Aktau, wo die Teilnehmer:innen beschlossen, eine unbefristete Kundgebung abzuhalten, bis ihre Forderung vollständig umgesetzt sein würde – die Senkung des Benzinpreises auf 50 Tenge pro Liter (10 Euro-Cent). Parallel dazu stellten die Demonstrant:innen eine weitere Forderung auf – eine Lohnerhöhung um 100 Prozent.

Anschließend begannen sich in der Nacht und dann am Morgen und Mittag des 3. Januar Betriebskollektive den Demonstrant:innen anzuschließen und gaben Unterstützungsbekundungen ab. Auf den Plätzen wurden Zelte und Jurten errichtet, die lokale Bevölkerung organisierte warme Mahlzeiten und begann, Spenden zu sammeln. Die aktuellen Proteste können daher als Fortsetzung der Massenstreiks des letzten Jahres gegen die von der westlichen Unternehmensführung auferlegte Rationalisierungspolitik bezeichnet werden, bei der viele Service-Einheiten aus den Mutterunternehmen ausgegliedert wurden.

Am 3. Januar erregten Informationen über die Verlegung von Militärtransportflugzeugen mit Truppen die Empörung der Demonstrant:innen. Infolgedessen weitete sich der Protest noch weiter aus, und Einwohner:innen und Arbeiter:innen des Bezirkszentrums blockierten alle Zufahrtsstraßen zum Flughafen.

Diese Reaktion war auch zu erwarten, da alle noch frische Erinnerungen an die Erschießung von Streikenden in Zhanaozen im Dezember 2011 haben. Deshalb rief die Nachricht Schmerz hervor und bereits nachts und morgens begann als Reaktion auf diese Maßnahme der Behörden ein Generalstreik der Ölarbeiter:innen im Bezirk Mangistau. Im benachbarten Bezirk Atyrau stellten Arbeiter:innen die Produktion auf dem Tengiz-Ölfeld ein.

Es waren die Ölarbeiter:innen des Unternehmens Tengizchevroil, an dem zu 75 Prozent US-Kapital beteiligt ist, die in den Streik traten. (Chevron besitzt 50 Prozent, ExxonMobil 25 Prozent und das kasachische Unternehmen KazMunayGas nur 20 Prozent.) Dort waren kurz vor Neujahr  40.000 Arbeiter:innen auf die Straße geworfen worden. Aber danach erfassten die Streiks nicht nur alle Ölförderunternehmen der fünf Bezirke Westkasachstans, sondern auch die gesamte Bergbauindustrie des Landes und die Metallindustrie.

Infolgedessen traten am 4. Januar Bergleute und Metallarbeiter:innen des Unternehmens „ArcelorMittal“ in der Region Karaganda sowie Arbeiter:innen aus Bergwerken und Kupferhütten des Kazakhmys-Konzerns, an dem britisches Kapital beteiligt ist, in den Streik. Örtliche Metallarbeiter:innen besetzten die Stadt Khromtau im Bezirk Aktobe vollständig.

Wichtigste soziale Forderungen der Streikenden wurden eine Absenkung der Preise für bestimmte Waren, höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, ein Ende der Entlassungen, die Freiheit der Gewerkschaftstätigkeit und der Bau neuer Fabriken – die Schaffung einer modernen Fertigungsindustrie, um die Zukunft der Region zu gewährleisten.

Am 5. Januar wurden in Zhanaozen, das zum eigentlichen politischen Hauptquartier der gesamten Arbeiter:innenbewegung wurde, auch politische Forderungen gestellt: der Rücktritt von Präsident Tokajew und allen Beamten aus dem Umkreis von Ex-Präsident Nasarbajew, die Freilassung politischer Gefangener und Inhaftierter, eine Rückkehr zur Verfassung von 1993, die die Freiheit garantiert, zu streiken und Gewerkschaften und Parteien zu gründen. Dort wurde aus Vertreter:innen aller Branchen der sogenannte Ältestenrat gewählt, der zum Koordinierungsgremium der Bewegung in der Region wurde und ein Beispiel für die Schaffung solcher Komitees und Räte in anderen von Streiks erfassten Regionen gab.

Die Rolle der Arbeiter:innenbewegung bei diesen Ereignissen war entscheidend, da es die Betriebskollektive waren, die zum Kern der Proteste in den Industrieregionen wurden und den Anstoß zu Massenkundgebungen in allen Städten Kasachstans gaben.

Die Ereignisse in Almaty und die Verhängung des Kriegsrechts

Gleichzeitig begannen am Dienstag, dem 4. Januar, auch schon zeitlich unbefristete Kundgebungen in Atyrau, Uralsk, Aktjubinsk, Kyzyl-Orda, Taraz, Taldykorgan, Turkestan, Shymkent, Ekibastuz, in den Städten des Bezirks Almaty und in Almaty selbst, wo die  Straßenblockaden bereits in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar zu einem offenen Zusammenstoß zwischen Demonstrant:innen und der Polizei führten, in dessen Folge das Rathaus vorübergehend eingenommen wurde. Dies veranlasste den Präsidenten Kassym-Zhomart Tokajew, am Morgen des 5. Januar den Ausnahmezustand auszurufen. Anzumerken ist, dass an diesen Protesten in Almaty hauptsächlich arbeitslose Jugendliche und Binnenmigrant:innen teilnahmen, die in den Vororten der Metropole leben und in befristeten oder schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Und Versuche, sie mit Versprechungen zu beruhigen, indem der Gaspreis für die Bezirke Mangystau und Almaty auf 50 Tenge (10 Euro-Cent) gesenkt wurde, haben schon niemanden mehr zufrieden gestellt.

Die Entscheidung von Kassym-Zhomart Tokayew, die Regierung zu entlassen und dann Nursultan Nasarbajew vom Posten des Vorsitzenden des Sicherheitsrates zu entfernen, hat die Proteste ebenfalls nicht gestoppt, da es bereits am 5. Januar zu Massenkundgebungen in den Bezirkszentren Nord- und Ostkasachstans kam, wo es sie zuvor nicht gegeben hatte – in Petropawlowsk, Pawlodar, Ust-Kamenogorsk, Semipalatinsk. Gleichzeitig wurde in Aktyubinsk, Taldykorgan, Shymkent und Almaty versucht, die Gebäude der Bezirksverwaltungen zu stürmen.

Viele Aktivist:innen beobachteten den Einsatz organisierter Provokateure durch die Behörden am 5. Januar, als die Proteste ganz Kasachstan erfassten und Polizei und Armee die Demonstrant:innen nicht länger zurückhalten konnten. So gab es in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar und im Verlaufe des 5. Januars in Almaty, dem Bezirk Mangistau, in Shymkent, Taldykorgan, Taraz und anderen Städten zahlreiche Fälle von Polizisten und Soldaten aus den unteren Rängen, die auf die Seite der Aufständischen überliefen.

Daher setzte der Geheimdienst „Nationales Sicherheitskomitee“ ausgebildete Kampfgruppen ein, die schon seit Langem in abgeschlossenen Stützpunkten und Lagern ausgebildet worden waren, um eine „Chaos-Zone“ in Almaty und Südkasachstan zu schaffen. Diese ausgebildeten Gruppen von jungen Menschen sowie dem Geheimdienst unterstellte kriminelle Gruppierungen verübten Pogrome, Plünderungen, Angriffe auf staatliche Einrichtungen und verfügten über Waffen.

Der Einsatz dieser Provokateure zielte darauf ab, alle Demonstrant:innen des „Terrorismus“ zu beschuldigen und den Beschuss friedlicher Kundgebungen und Streiks anzuordnen. Deshalb versuchten sie im Fernsehen und in Zeitungen, alle Demonstrant:innen als Plünderer, Räuber, Mörder und sogar Terroristen darzustellen. Am 6. Januar wurden Einheiten der Armee und der Nationalgarde nach Almaty gebracht, die viele unbewaffnete Demonstrant:innen sowie diejenigen jungen Arbeitslosen erschossen, die, nachdem sie am Tag zuvor die örtliche Polizei und Militäreinheiten entwaffnet hatten, zu den Waffen gegriffen haben, um das Nasarbajew-Regime zu stürzen.

Infolgedessen wurde nun in Kasachstan ein strenges Kriegsrecht verhängt, das auf Befehl Kassym-Zhomart Tokayews eingeführt wurde, um Volksaufstände und Streiks von Arbeiter:innen in der Rohstoffindustrie wie auch in den Metallbetrieben im Besitz US-amerikanischer und europäischer Konzerne mit militärischer Gewalt zu unterdrücken.

Bis heute wurden nach offiziellen Angaben mehr als 10.000 Menschen festgenommen, 225 Menschen starben in Almaty und einigen Städten im Süden Kasachstans. Tatsächlich gab es jedoch viel mehr Tote, da es richtige Kämpfe gegen das aufständische Volk gab. Außerdem kam es zu Erschießungen in Qysyl-Orda, Aktyubinsk, Atyrau und anderen Städten, in denen es überhaupt keine Pogrome gegeben hatte. Der Präsident nannte die Demonstrant:innen Terroristen und behauptete, dass 20.000 Bewaffnete von außen auf das Territorium Kasachstans vorgedrungen seien. Aber das ist nicht wahr!

Um ein Blutvergießen zu verhindern, haben die Ölarbeiter:innen Westkasachstans sowie Metallarbeiter:innen, Kupferschmelzer:innen und Bergleute der Minen des Bezirks Karaganda am Samstag, dem 8. Januar, organisiert ihre Kundgebungen und Streiks beendet. Aber seit dem 2. Januar gelang es den Arbeiter:innen in den Industrieregionen, wo die Arbeiter:innenklasse den Kern der Proteste ausmachte, den Protestcharakter der Aktionen sicherzustellen.

Über eine angebliche Beeinflussung der Ereignisse von außen

In den Medien und sozialen Netzwerken sowie von vielen linken und kommunistischen Parteien wurden Verschwörungstheorien über eine Einmischung der Vereinigten Staaten, der Ukraine, Großbritanniens, der Türkei und anderer Staaten verbreitet. Diese würden angeblich versuchen, eine „Farbenrevolution“ in Kasachstan zu organisieren. Tatsächlich hat sich das US-Außenministerium bereits am 6. Januar für das bestehende Regime in Kasachstan ausgesprochen, ebenso wie die Europäische Union sowie die Führungen Russlands und Chinas. Das heißt, es gab eine echte Manifestation der bürgerlichen Klassensolidarität im Kampf gegen die Massenbewegung der Arbeiter:innen und breiter Volksschichten.

Es gibt auch keine 20.000 islamistischen Terroristen, die Präsident Tokajew in seiner Erklärung erwähnt hat. Ihm zufolge sind sie angeblich aus arabischen Ländern nach Kasachstan eingedrungen. Bis heute hat man jedoch unter den Toten, Verletzten und Festgenommenen keinen einzigen Araber gefunden. Dieser Mythos einer externen Invasion wurde benötigt, um den Einsatz von Panzern und schweren Waffen gegen Demonstrant:innen und Streikende zu rechtfertigen und andererseits die Notwendigkeit zu erklären, Truppen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ nach Kasachstan zu verlegen. Außerdem wird auf diese Weise versucht, in den Augen der Werktätigen anderer ehemaliger Sowjetrepubliken das Bild von Arbeiteraufständen und Massenprotesten der Bevölkerung zu verteufeln.

Bisher spielen in dieser Protestbewegung oder bei Arbeiteraufständen keinerlei politische Kräfte eine Rolle, da das politische Feld im Moment vollständig gesäubert ist, alle Oppositionsparteien und -bewegungen, einschließlich der Kommunistischen Partei, wurden verboten. Alle unabhängigen Gewerkschaften wurden aufgelöst. Alleine nach der Verabschiedung des arbeiterfeindlichen Gewerkschaftsgesetzes im Jahr 2014 wurden mehr als 600 Gewerkschaften im Land per Gerichtsbeschluss aufgelöst. Zuletzt wurde der „Verband Unabhängiger Gewerkschaften Kasachstans“ 2017 durch ein Gerichtsurteil verboten, vier seiner Vorsitzenden wurden zu unterschiedlich langen Haftstrafen verurteilt.

Natürlich wird es in Zukunft Versuche der bürgerlichen Kräfte geben, die Protestbewegung anzuführen, aber bisher ist dies nicht geschehen, und es gibt keinerlei Anführer:innen oder politische Vereinigungen, die im Namen dieser Massen sprechen könnten. Dies beweist einmal mehr, dass das, was passiert ist, eine soziale Explosion und eine Massenbewegung an der Basis war, die eine Reihe gerechter wirtschaftlicher, sozialer und politischer Forderungen vorbrachte bis hin zur Abschaffung des derzeitigen Regimes.

Bisher gelang es Präsident Tokajew, die Lage durch die Einführung eines Militärregimes vorübergehend zu stabilisieren. Aber das ist vorübergehend, denn trotz des nationalen Populismus seiner jüngsten Reden bleiben alle Klassengegensätze und das politische System selbst sowie die Dominanz transnationaler Konzerne unverändert bestehen. Bemerkenswerterweise wandten sich US-amerikanische und europäische Unternehmen als erste an den Präsidenten mit der Bitte, die Ordnung wiederherzustellen, und am 5. Januar gab er eine Erklärung ab, dass das Eigentum und die Investitionen ausländischer Unternehmen durch die Staatsmacht geschützt würden. Und tatsächlich sind jetzt Truppen zum Tengiz-Ölfeld geschickt worden, wo zuvor streikende Ölarbeiter:innen die Eisenbahnstrecke und die Autobahn blockierten, um das Eigentum der US-Konzerne Chevron und ExxonMobil zu schützen.

Wir glauben nicht, dass dies eine endgültige Niederlage der Arbeiter:innenbewegung ist. Im Gegenteil, Ölarbeiter:innen, Bergleute und Metallarbeiter:innen haben unschätzbare Erfahrungen in Klassenkämpfen gesammelt und zum ersten Mal gab es einen Generalstreik in der Bergbauindustrie. Die Behörden haben es nicht geschafft, die Proteste und Streiks der Arbeiter:innen im Westen und im Zentrum Kasachstans niederzuschlagen, wo die Arbeiter:innen die Proteste organisiert beendeten. Das bedeutet, dass der Generalstreik erneut begonnen werden kann, allerdings mit bereits konkreteren Forderungen und einer entwickelten Kampftaktik.

Unsere Aufgabe ist es, den Aufbau von klassenkämpferischen Gewerkschaften zu unterstützen, die Aufhebung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 2015 zum Verbot der Kommunistischen Partei und die Legalisierung der Sozialistischen Bewegung zu erreichen und der Arbeiter:innenklasse zu zeigen, dass der Sozialismus die einzige Alternative ist, die ihre Interessen zum Ausdruck bringt.

Sozialistische Bewegung Kasachstans

Der Text wurde zuerst am 24.01.2022 auf Russisch auf der Website www.socialismkz.info veröffentlicht (http://socialismkz.info/?p=26989) und von Christoph Wälz übersetzt.




Solidarität mit den ArbeiterInnen und Jugendlichen in Kasachstan!

Martin Suchanek, Infomail 1175, 7. Januar 2022

Seit Jahresbeginn erschüttern Massenproteste das Land. Sie begannen am Sonntag, den 2. Januar, in Schangaösen inmitten der westlichen Region Mangghystau, das das Zentrum der für die Wirtschaft des Lands entscheidenden Öl- und Gasindustrie bildet. Getragen wurden die Aktionen und die Bewegung von den Beschäftigten (und zehntausenden Arbeitslosen) dieser Industrie.

Bereits am 3. Januar wurde die gesamte Region Mangghystau von einem Generalstreik erfasst, der auch auf die Nachbarregion Atyrau übergriff. Innerhalb weniger Stunden und Tage inspirierten und entfachten sie Massenproteste in anderen städtischen Zentren  wie Almaty (ehemals Werny, danach Alma-Ata), der größten Stadt des Landes, und selbst in der neuen Hauptstadt Nur-Sultan (vormals Astana). Diese nahmen die Form lokaler spontaner Aufstände an.

Unmittelbar entzündet hat sich die Massenbewegung, die sich, ähnlich wie die Arabischen Revolutionen, rasch zu einem beginnenden Volksaufstand entwickelten, an der Erhöhung der Gaspreise zum Jahreswechsel, da deren bis dahin geltende Deckelung aufgehoben wurde. Die Ausgaben für Gas, das von der Mehrheit der Bevölkerung für Autos, Heizung und Kochen verwendet wird, verdoppelten sich praktisch über Nacht.

Die Bewegung entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit von Streiks und Protesten gegen die drastischen Erhöhungen der Preise zu einer gegen die autoritäre kapitalistische Regierung. Von Beginn an spielten die Lohnabhängigen der zentralen Industrien eine Schlüsselrolle im Kampf, letztlich das soziale und ökonomische Rückgrat der Bewegung. So berichtet die Sozialistische Bewegung Kasachstans nicht nur sehr detailliert über die Ausweitung der Streikbewegung in einer Erklärung zur Lage im Lande (http://socialismkz.info/?p=26802; englische Übersetzung auf: https://anticapitalistresistance.org/russian-hands-off-kazakhstan/), sondern auch über eine Massenversammlung der ArbeiterInnen, wo erstmals die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten erhoben wurde:

„In Schangaösen selbst formulierten die ArbeiterInnen auf ihrer unbefristeten Kundgebung neue Forderungen – den Rücktritt des derzeitigen Präsidenten und aller Nasarbajew-Beamten, die Wiederherstellung der Verfassung von 1993 und der damit verbundenen Freiheit, Parteien und Gewerkschaften zu gründen, die Freilassung der politischen Gefangenen und die Beendigung der Unterdrückung. Der Rat der Aksakals wurde als informelles Machtorgan eingerichtet.“ (ebda.)

Zuckerbrot und Peitsche

Die Staatsführung unter dem seit zwei Jahren amtierenden Präsidenten Tokajew reagierte auf die Protestbewegung mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Zugeständnissen und brutaler Repression.

Um die Bevölkerung zu beschwichtigen, wurden die Erhöhungen der Gaspreise schon zurückgenommen. Außerdem traten die Regierung und bald danach auch der Vorsitzende des Sicherheitsrates, der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew zurück. Diese Veränderungen sind jedoch rein kosmetischer Art. Nachdem der Regierungschef Askar Mamin abgedankt hat, werden die Amtsgeschäfte von dessen ehemaligem Stellvertreter  Alichan Smailow weitergeführt. Nasarbajew, der das Land rund 30 Jahre autokratisch regiert hat und weiter Vorsitzender der regierenden Partei Nur Otan (Licht des Vaterlandes) ist, die über eine Dreiviertelmehrheit im Parlament verfügt (76 von 98 Sitzen), trat zwar vom Amt des Vorsitzenden des Sicherheitsrates, einer Art Nebenpräsident, zurück. Diese Funktion übernahm nun jedoch auch sein Nachfolger Tokajew.

Vor allem aber reagierte der Präsident auf die anhaltenden Massenproteste, auf die Besetzung öffentlicher Gebäude und die drohende Entwicklung eines Aufstands zum Sturz der herrschenden Elite auch mit massiver Repression.

Die Proteste in Städten wie Almaty, die von Beginn an viel mehr den Charakter von Emeuten hatten, wurden brutal unterdrückt. Mehrere Dutzend Menschen wurden getötet. Die Regierung selbst spricht davon, dass bis zum 6. Januar 26 „bewaffnete Kriminelle“ liquidiert worden seien. Mehr als 3 000 wurden festgenommen, Tausende verletzt.

Damit gibt das Regime nicht nur selbst zu, dass es über Leichen geht, um seine Macht, seine „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Es tut auch, was alle kapitalistischen Regierungen, alle repressiven Regime anstellen, wenn ihre Macht gefährdet ist: Diffamierung der Massenbewegung als „Kriminelle“, „TerroristInnen“ und legitimiert damit die Verhängung des Ausnahmestandes (vorerst bis 19. Januar), den Einsatz von Schusswaffen gegen Protestierende, die Abschaltung von Messengerdiensten wie Signal und WhatsApp und von Internetseiten. Die sog. Antiterroreinsätze sollen laut Präsident Tokajew bis zur „kompletten Auslöschung der Kämpfer“ dauern. Um diese Operation auch mit aller Brutalität durchziehen zu können, ruft er die große imperialistische Schutzmacht Russland zu Hilfe. Und die kommt prompt mit 3000 SoldatInnen, die im Rahmen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) helfen sollen, die „verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen. Sie sollen Regierungsgebäude und kritische Infrastruktur schützen und haben auch das Recht, ihre Schusswaffen einzusetzen.

Ursachen der politischen Krise

Angesichts dieser Zusammenballung der Kräfte des Regimes, seines Staatsapparates und seiner Verbündeten droht eine brutale Unterdrückung der Massenbewegung. Dies wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Landes. Über Jahrzehnte regierte Nasarbajew mit eiserner Hand. Die politische Macht wurde faktisch bei einer kleinen Oligarchie konzentriert, die das Wirtschaftsleben des Landes kontrolliert, darunter die reichen Öl- und Gasfelder, große strategische, wichtige weitere Rohstoffvorkommen wie auch den Finanzsektor.

Seine Macht stützt das Regime auf die Kontrolle des Staatsapparates, die Staatspartei Nur Otan, die faktische Ausschaltung unabhängiger Medien und jeder nennenswerten Opposition. Selbst die sog. Kommunistische Partei wurde 2015 gerichtlich verboten.

Neben der Repression stützte sich die kasachische Pseudodemokratie aber auch jahrelang auf ein Wachstum der Wirtschaft. Der Öl- und Gasexport bildet bis heute ihr Rückgrat. Hinzu gesellt sich der Bergbau. Kasachstan ist mittlerweile der größte Uranproduzent der Welt und verfügt über weitere wichtige Rohstoffvorkommen (Mangan, Eisen, Chrom und Kohle).

Über Jahre expandierte die kasachische Ökonomie und galt als wenn auch autoritäres Wirtschaftswunderland unter den ehemaligen Sowjetrepubliken, was nicht nur den Ausbau wirtschaftlicher, politischer und militärischer Beziehungen zu Russland und China zur Folge hatte, sondern auch große westliche InvestorInnen gerade in der Öl- und Gasindustrie anzog (z. B. Exxon, ENI). Letztlich stellt das Land jedoch einen wichtigen halbkolonialen Verbündeten Russlands dar, das keinesfalls einen Sturz dieses Regimes zulassen kann.

Doch die globale Finanzkrise traf das Land schon recht hart, weil Kasachstan auch ein im Vergleich zu anderen halbkolonialen Ländern gewichtiges Finanzzentrum in Almaty hervorbrachte. 2014/15 machten sich jedoch vor allem die sinkenden Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt bemerkbar. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts brachen ein. Das Land macht im Grunde eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation seit Mitte der 2010er Jahre durch, während der Pandemie und Krise schrumpfte das BIP.

Wie in vielen Ländern, deren Staatseinnahmen wesentlich aus Rohstoffexporten und der Grundrente stammen, ging die Entwicklung des kasachischen Kapitalismus mit einer extremen Form der sozialen Ungleichheit einher. Die aus der ehemaligen Staatsbürokratie stammende, neue Schicht von KapitalistInnen monopolisierte faktisch den Reichtum des Landes. Jahrelang ging diese Bereicherung jedoch auch mit Investitionen in andere Sektoren (z. B. Ausbau der Infrastruktur, von Verkehrswegen) einher und einer Alimentierung der Massen, deren Lebenshaltungskosten z. B. über die Deckelung der Gaspreise relativ gering gehalten wurden.

Doch seit Jahren wird dies für den kasachischen Kapitalismus immer schwieriger aufrechtzuerhalten. Die Herrschenden wollen keinen Cent an die Armen abgeben. Im Gegenteil, sie drängen im Chor mit westlichen WirtschaftsexpertInnen darauf, deren „Privilegien“ (!) zu streichen und die Wirtschaft weiter zu liberalisieren. Dafür versprechen sie Investitionen in der Öl- und Gasindustrie oder im Bergbau, um veraltete Anlagen zu erneuern oder neue Abbaustätten zu erschließen.

Besonders drastisch stellt sich daher die soziale Ungleichheit im Land gerade dort dar, wo der Reichtum geschaffen, produziert wird. Während sich die ChefInnen der kasachischen Energie- und Bergbauunternehmen und die Staatsführung regelrechte Paläste bauen lassen, schuften die Beschäftigten auf den Öl- und Gasfeldern – und das oft unter lebensgefährlichen Bedingungen. Viele warten oft monatelang auf ihre Löhne, zehntausende ArbeiterInnen in der Öl- und Gasindustrie sind mittlerweile arbeitslos.

Dass die Bewegung in den Regionen Westkasachstans ihren Ausgang in Form einer gigantischen Streikwelle nahm, ist kein Zufall. Schon 2011 kam es zu einer riesigen Streikwelle der ÖlarbeiterInnen, die blutig niedergeschlagen wurde. Dabei kamen Menschenrechtsorganisationen zufolge 70 Streikende ums Leben, 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Doch trotz dieser extremen Repression hielten sich unabhängige, illegale oder halblegale Strukturen der ArbeiterInnenklasse in diesen Regionen. Aufgrund drohender Entlassungen, der Nichtauszahlung von Löhnen nahmen auch in den letzten Monaten des Jahres 2021 Streiks und Arbeitskämpfe in der Öl- und Gasindustrie zu.

Daraus erklären sich auch die Unterschiede zwischen der Bewegung in den industriellen Zentren in Westkasachstan, die von den Lohnabhängigen getragen werden und die sich des Streiks – und damit kollektiven Aktionen der ArbeiterInnenklasse – als Hauptkampfmittel bedienen, und an anderen Orten. Von größter Bedeutung ist jedoch, dass deren Forderungen mittlerweile längst über betriebliche und gewerkschaftliche Fragen hinausgegangen sind und auch einen politischen Charakter – Rücktritt des Präsidenten, Freilassung der politischen Gefangenen – angenommen haben.

Zum Teil schwappen diese auch in andere Regionen über. In anderen städtischen Zentren entwickelte sich die Bewegung viel stärker als eine Art Straßenaufstand, als Aufruhr  verarmter Schichten, von Jugendlichen, aber auch Lohnabhängigen, die aus ländlichen Regionen in die Zentren migrierten. Diese Wut und Empörung nimmt gerade, weil diese Schichten weniger organisiert sind, auch einen politisch unklareren, diffusen Charakter an. Dennoch ist diese Bewegung auch ein genuiner Ausdruck der Massenempörung gegen ein despotisches, autoritäres kapitalistisches Regime. Dass solche Emeuten auch mit Formen des Vanadalismus einhergehen, dass sich auch deklassierte, unpolitische Elemente oder gar staatliche ProvokateurInnen „anschließen“, ist nichts Ungewöhnliches für solche scheinbar spontanen, in Wirklichkeit jedoch sich schon lange vorbereitenden Eruptionen des Volkszorns. Entscheidend ist hier, ob diese Wut zu einer organisierten Kraft werden kann – und das hängt vor allem davon ab, ob die ArbeiterInnenklasse, allen voran die Öl- und GasarbeiterInnen, dieser eine politische Führung geben können.

Blutige Abrechnung droht

Die wirklichen „Kriminellen“ sind jedoch nicht auf den Straßen von Nur-Sultan oder anderen städtischen Zentren zu finden, sondern in Palästen der Reichen und BürokratInnen, in den Generalstäben der Armee und Repressionskräften, die eine blutige Abrechnung mit den Aufständischen und vor allem auch mit den streikenden und kämpfenden ArbeiterInnen vorbereiten.

Leute wie Nasarbajew und Tokajew haben sich längst entschieden, wie sie die Krise zu lösen gedenken. Der Präsident spricht von 20.000 „Banditen“, die auszumerzen gelte, Armee und Polizei wurde der Schießbefehl erteilt. Die Herrschenden wollen die Bewegung in Blut ertränken – und zwar nicht nur den Aufruhr in den Städten, sondern auch, ja vor allem die Streiks und Strukturen der ArbeiterInnenklasse in den Industrieregionen. Schließlich wissen sie nur zu gut, dass sich hier eine soziale Kraft, eine Klassenbewegung formiert, die ihnen wirklich gefährlich werden kann.

Die ArbeiterInnen der großen Industrieregionen und andere Schichten der Lohnabhängigen (z. B. TransportarbeiterInnen) können das Land lahmlegen. Sie können so auch die Repressionsmaschinerie zum Stoppen bringen – und möglicherweise auch untere Teile des Repressionsapparates, einfache SoldatInnen zum Wechsel der Seiten verlassen oder paralysieren. Auch diese Gefahr drängt das Regime zum Handeln und erklärt auch, warum es russische Truppen angefordert hat, deren bloße Anwesenheit auch die Disziplin potentiell „unsicherer“ kasachischer Repressionskräfte, von PolizistInnen oder SoldatInnen, sicherstellen soll.

Daher werden die nächsten Tage auch für die Bewegung von größter Bedeutung sein. Um die Repressionsmaschinerie zu stoppen, braucht es einen landesweiten Generalstreik. Dazu müssen wie in den Regionen der Öl- und Gasindustrie Vollversammlungen der Beschäftigten, aber auch in den Wohnvierteln organisiert und ArbeiterInnenkomitees gewählt werden, die den Kampf organisieren und zu einem Aktionsrat auf kommunaler, regionaler und landesweiter Ebene verbunden werden.

Angesichts der Repression müssen sie Selbstverteidigungsstrukturen bilden, die diesen Räten untergeordnet und in der Lage sind, die bisher unorganisierten Emeuten in Städten wie Nur-Sultan durch organisierte, in den Betrieben und Wohnvierteln verankerte Strukturen zu lenken.

Zugleich braucht es unter den einfachen SoldatInnen, den unteren Rängen der Polizei eine Agitation, sich dem Einsatz gegen die Bevölkerung zu verweigern, eigene Ausschüsse zu wählen und dem mörderischen Regime die Gefolgschaft aufzukünden. Die kasachischen und russischen Repressionskräfte müssen aus den Städten und ArbeiterInnenbezirken zurückgezogen werden. Die OVKS-Truppen sollen das Land verlassen, die Gefangenen der letzten Tage müssen auf freien Fuß gesetzt werden.

Ein solcher Generalstreik und eine Bewegung, die ihn stützt, würde zugleich unwillkürlich die Machtfrage in Kasachstan aufwerfen.

Das bedeutet auch, dass die Streik- und Massenbewegung und deren Koordinierungsorgane selbst zu einem alternativen Machtzentrum werden müssen, das das oligarchische Regime stürzen und durch eine ArbeiterInnenregierung ersetzen kann – eine Regierung, die nicht nur die despotische Pseudodemokratie abschafft, sondern auch die kapitalistische Klasse enteignet, in deren Interesse dieses Regime regiert. Dazu bedarf es der Enteignung der großen Industrie, der Öl- und Gasfelder, der Bergwerke, der Finanzinstitutionen unter ArbeiterInnenkontrolle und der Errichtung eines demokratischen Notplans zur Reorganisation der Wirtschaft und zur Sicherung der Grundbedürfnisse der Massen.

Nein zu jeder imperialistischen Einmischung! Internationale Solidarität jetzt!

Die Massenbewegung rückte Kasachstan auch ins Zentrum einer Weltöffentlichkeit, die die Verbrechen des Regimes Nasarbajew und seines Nachfolgers Tokajew über Jahrzehnte faktisch totgeschwiegen hatte. Was bedeutet schon die Unterdrückung und Ermordung von Streikenden, wenn dafür Profite reichlich in die Taschen, kasachischer, russischer, chinesischer, aber auch US-amerikanischer, italienischer, deutscher und britischer Konzerne fließen?

Das kasachische Regime mag demokratische Rechte verletzt, JournalistInnen und die Opposition unterdrückt haben – das wichtigste „Menschen“recht, das auf freien Handel und Wirtschafts„reformen“ brachte das Regime sehr zum Wohlgefallen aller ausländischen Mächte voran.

Natürlich war und ist Kasachstan vor allem eine Halbkolonie Russlands – zumal eine, die über Jahrzehnte nicht nur politisch eng verbunden war, sondern von deren Markt und Ressourcen der wirtschaftlich schwache russische Imperialismus sogar ökonomisch profitieren konnte. Hinzu kommen die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der OVKS und die Bedeutung Baikonurs (in Südkasachstan) für die russische Raumfahrt. Darüber hinaus macht die geostrategische Lage des Landes es zu einem wichtigen Schild Russlands vor einer weiteren Destabilisierung in Zentralasien. Kein Wunder also, dass dieses voll in den Chor der „Terrorbekämpfung“ einstimmt und seinem Verbündeten beispringt.

Ironischerweise verfolgten und verfolgen aber nicht nur China, sondern auch die meisten westlichen imperialistischen Länder ein Interesse an der Stabilität Kasachstans – sei es zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen, ihrer Investitionen, aber auch zur Stabilisierung des Landes gegen „islamistischen Terror“. Der ehemalige britischer Regierungschef Blair fungierte gar über Jahre als Berater Nasarbajews im Umgang mit westlichen Medien, insbesondere für den Fall von Aufstandsbekämpfung. Außerdem kooperierte Kasachstan jahrelang bei der US/NATO-Besatzung Afghanistans.

Daher fallen die westlichen Stellungnahmen zur Lage in Kasachstan bisher vergleichsweise verhalten aus. So erklärte der US-Außenminister Antony Blinken in einem Gespräch mit dem kasachischen Amtskollegen Mukhtar Tleuberdi „die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten für die verfassungsmäßigen Institutionen Kasachstans und die Medienfreiheit“. Aus der EU kommt wie oft der unverbindliche Aufruf zur „Mäßigung“ auf allen Seiten. Klarer ist hier schon der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und dessen Vorsitzender Oliver Hermes, der gegenüber der Presse erklärte: „Eine schnelle Beruhigung der Lage ist unabdingbar, um weiteres Blutvergießen, eine Destabilisierung des Landes und damit auch eine Beschädigung des Wirtschafts- und Investitionsstandorts Kasachstan abzuwenden.“ (https://www.fr.de/politik/kasachstan-unruhen-tote-demonstration-gas-preise-proteste-flughafen-putin-russland-news-aktuell-zr-91219297.html) Über deutsche Waffenexporte im Wert von rund 60 Millionen, die im letzten Jahrzehnt an das Regime geliefert wurden und jetzt auch gegen die Massen eingesetzt werden, hüllen sich die Regierung und UnternehmerInnen in Schweigen.

Die relative Zurückhaltung des Westens lässt sich freilich nicht nur ökonomisch erklären. Sicherlich spielt dabei auch ein geostrategisches Tauschkalkül eine Rolle. Russland kann in Kasachstan die blutige Niederschlagung der Aufständischen unterstützen (und damit auch westliche InvestorInnen absichern). Zugleich verlangt man dafür ein „Entgegenkommen“ in der Ukraine oder wenigstens Stillschweigen zu deren weiterer Aufrüstung und Zurückhaltung bei einem möglichen NATO-unterstützten Angriffe der Ukraine auf die Donbass-Republiken.

Umso dringender ist es, dass die internationale ArbeiterInnenklasse und die Linke ihre Solidarität mit der Massenbewegung in Kasachstan auf die Straße tragen.

  • Nein zur Niederschlagung gegen die Massenbewegung! Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller Einschränkungen demokratischer Rechte! Freilassung aller politischen Gefangenen!
  • Nein zur russischen Intervention! Sofortiger Abzug aller OVKS-Truppen! Stopp aller Waffenliegerungen!
  • Internationale Solidarität mit der ArbeiterInnenklasse und Protestbewegung!



Indien: Marsch der Bauern und Bäuerinnen entfacht neue Massenbewegung gegen Modi

Imran Javlad, Infomail 1132, 22. Dezember

Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen aus ganz Indien starteten am 25. November auf Initiative des allindischen Sangharsh-Kisan-Koordinationskomitees, das aus 300 bäuerlichen Organisationen besteht, den Delhi-Chalo-(Lasst uns nach Delhi gehen)-Marsch. Der Marsch wurde von LandarbeiterInnen, TransportarbeiterInnen und wichtigen Sektoren der ArbeiterInnenklasse unterstützt.

Hunderttausende haben sich ihm angeschlossen, mit dem Ziel, Delhi zu einer Massenkundgebung zu erreichen und die Aufhebung der neuen Gesetze zu fordern, die Kleinbauern und -bäuerinnen, LandarbeiterInnen und die Masse der Landbevölkerung zugunsten der GroßkapitalistInnen weiter verarmen lassen werden. Polizei und paramilitärische Kräfte griffen die DemonstrantInnen wiederholt mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern an und verletzten mehrere von ihnen.

Dies hat ihre Entschlossenheit nicht gebrochen. Zwischen dem 28. November und dem 3. Dezember blockierten schätzungsweise 150 bis 300 Tausend Bauern und Bäuerinnen Delhi im Rahmen des Delhi Chalo. Sie riefen für den 8. Dezember zu einem Stillstand in Indien auf. Elf Oppositionsparteien, darunter die Kongresspartei und die Kommunistische Partei, schlossen sich diesem Aufruf an.

Der bäuerliche Streik wird von ArbeiterInnenorganisationen, Studierenden und Frauen aus dem ganzen Land unterstützt, und es wurden Proteste in Solidarität mit dem Sitzstreik der Landbevölkerung organisiert. Bei vielen Gelegenheiten wurde die Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, mit Slogans für Freiheit und Revolution den Kampf fortzusetzen, bis die Forderungen angenommen sind. Auch TransportarbeiterInnen haben sich dem Sitzstreik angeschlossen, so dass weitere Straßen in Richtung Delhi gesperrt werden.

Die Modi-Regierung hat nicht nur versagt, diesen Marsch zu stoppen, sondern ihre gesamte Verteilungs- und Regierungspolitik ist gescheitert und entlarvt worden. Die Gespräche von Landwirtschaftsminister Narendra Singh Tomar mit den Bauern/Bäuerinnen waren bisher erfolglos, trotz der ständigen Regierungspropaganda in den Medien, die behauptet, die neuen Gesetze würden die Entwicklung und das Wohlergehen der Gesellschaft fördern.

Ziele

Der Delhi-Chalo-Marsch und der Sitzstreik der Bauern und Bäuerinnen richten sich gegen die Einführung neoliberaler Gesetze durch die indische Regierung im Namen von Reformen, die sie der Gnade der Agrar- und FinanzkapitalistInnen ausliefern werden. Die Bauern und Bäuerinnen fordern die Abschaffung von drei umstrittenen Gesetzesvorlagen, die den Mindeststützungspreis abschaffen würden. Dieser Preis, der von der Regierung festgelegt wird, sichert einen Mindestpreis für die heimischen Agrarprodukte. Nach dem neuen Gesetz wird der Verkauf und die Preisgestaltung von landwirtschaftlichen Produkten den Marktkräften unterliegen und den Preisen, die das Privatkapital und der Unternehmenssektor zu zahlen bereit sind. Dies wird wahrscheinlich zu einem wirtschaftlichen Massaker an kleinen LandwirtInnen durch Horten von Produktion und andere Mittel führen.

In ähnlicher Weise fordern die Bauern und Bäuerinnen die Rücknahme der Änderungen des Gesetzes über die Stromversorgung. Diese sollen die Versorgung der Bauern mit kostenlosem Strom stoppen. Die dritte Forderung der LandwirtInnen ist die Aufhebung der Gesetzgebung, die eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe von 10 Millionen Rupien für diejenigen vorsieht, die ihre Felder flämmen.

LandwirtInnen in Pandschab (Punjab), Haryana, Rajasthan, Uttar Pradesh und anderen Bundessstaaten wehren sich seit Monaten gegen die Gesetze. Neben den Streiks in Pandschab dagegen wurde auch der Bahnverkehr im Rahmen der Bahnstopp-Strategie ausgesetzt.

Obwohl die bauernfeindlichen Gesetze vorgeblich im Namen der Abschaffung der feudaler Verhältnisse eingeführt werden, stärken sie in Wirklichkeit die Rolle der Großkonzerne, die in der Lage sein werden, die Preise zu manipulieren, indem sie Vorräte anlegen und Lieferungen zwischen verschiedenen Bundesstaaten transferieren. Sie haben GroßkapitalistInnen wie Mukesh Ambani, Besitzer des Petrochemieriesen Reliance Industries, und Gautam Adani, Chef der Adani-Gruppe, die die Regierungspartei BJP finanziert haben, die Möglichkeit gegeben, von diesen Reformen in der Landwirtschaft zu profitieren. Diese Umstrukturierungen haben bereits zu steigenden Lebensmittelpreisen für die ArbeiterInnen geführt und die Notlage der Armen verschlimmert, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.

Inflation

Der VerbraucherInnenpreisindex für Lebensmittel stieg im Oktober um 11,07 Prozent, während die Einzelhandelsinflation mit 7,61 Prozent den höchsten Stand der letzten sechs Jahre erreichte. Beides verdeutlicht die steigende Belastung für LandwirtInnen und ArbeiterInnen im ganzen Land. Gleichzeitig bot dies den großen KapitaleignerInnen und HändlerInnen die Möglichkeit, künstliche Engpässe auf dem Markt zu schaffen, was die Lebensmittelpreise und damit ihre Gewinnspannen vervielfachte. Da die Modi-Regierung das öffentliche Verteilungssystem zerstört hat, um die Menschen daran zu hindern, Getreidenahrungsmittel zu vergünstigten Preisen zu kaufen, ist die Mehrheit der Bevölkerung auf den offenen Markt für Getreide und Gemüse angewiesen.

All dies muss vor dem Hintergrund einer dramatischen Rezession in Indien gesehen werden. Im ersten Quartal des Finanzjahres (April – Juni) sank das Bruttoinlandsprodukt um 23,9 Prozent. Am 27. November veröffentlichte das Nationale Statistikamt seinen BIP-Bericht für das zweite Vierteljahr des laufenden Fiskaljahres (Juli – September), der einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 7,5 Prozent ausweist. Dies ist eine Schrumpfung von historischem Ausmaß. Damit hat sich gleichzeitig die soziale Spaltung der Gesellschaft verschärft. Es gibt einen starken Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite enorme Investitionen. Laut Internationalem Währungsfonds sind die Profite Indiens aufgrund von Regierungspaketen und einer arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Politik gestiegen.

Der eintägige Generalstreik am 26. November, der nach Angaben der Gewerkschaften eine historische Zahl von 250 Millionen ArbeiterInnen, Bauern, Bäuerinnen und Armen zusammenbrachte, und der Delhi-Chalo-Marsch haben die Wut der ArbeiterInnenklasse und die Einheit der Kleinbauern und -bäuerinnen, ArbeiterInnen und StudentInnen gezeigt. Der indische Streik vom 8. Dezember reichte jedoch nicht aus, um die Forderungen der ArbeiterInnen und kleinen LandwirtInnen durchzusetzen. Die Verhandlungen am 9. Dezember brachten keine Ergebnisse, und die Massenprotestwelle setzt sich mit weiteren Sitzstreiks und Straßenblockaden fort, an denen sich Hunderttausende, wenn nicht Millionen, bis zum 14. Dezember beteiligten.

Die beeindruckenden Streiks der ArbeiterInnenklasse in Indien in den letzten Jahren sind auch ein deutlicher Beweis dafür, dass die Krise und Massenmobilisierungen die Modi-Regierung und ihre kapitalistische Agenda erschüttern können. Privatisierungen, arbeiterInnen- und bauernfeindliche Gesetze, die Steigerung der Profite und die Senkung der Löhne, Aufweichung des gesetzlichen Schutzes und Einschränkungen der Bedingungen der ArbeiterInnenklasse sind allesamt Teil eines größeren kapitalistischen Angriffs.

Regierung

Der Generalstreik vom 26. November sowie die wachsende Bewegung von LandwirtInnen, KleinerzeugerInnen und LandarbeiterInnen und die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und bäuerlichen Organisationen deuten auf die Entwicklung einer Kraft hin, die nicht nur ihre Gesetze, sondern auch die hindu-chauvinistische Modi-Regierung und ihre Agenda aus den Angeln heben könnte.

Um eine solche Bewegung zustande zu bringen, müssen die Gewerkschaften über eintägige Streiks und Solidaritätsbekundungen mit den Bauern und Bäuerinnen hinausgehen. Es bedarf eines permanenten Widerstands gegen die arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Gesetze und unbefristeter Streiks in Städten und Dörfern für Mindestlöhne und -gehälter sowie eines Massenaufstands der Bauern und Bäuerinnen gegen das Agrarkapital.

Gewerkschaften und bäuerliche Organisationen kämpfen mit Mut gegen Modis Angriffswelle. Sie sollten zur Bildung von Kampfkomitees am Arbeitsplatz, auf Bezirksebene, in der Nachbarschaft und in den Dörfern aufrufen, die ArbeiterInnen, kleine und mittlere LandwirtInnen und landlose Bauern und Bäuerinnen einschließen. Sie müssen sich zugleich gegen jede Diskriminierung auf Grundlage von Religion, Nationalität, Kaste und Geschlecht wenden. Es müssen Selbstverteidigungseinheiten gebildet werden, um die Bewegung gegen staatliche Repression und Angriffe reaktionärer Hindu-ExtremistInnen zu verteidigen.

Ein politischer Generalstreik und ein bäuerlicher Aufstand, die das Land dauerhaft lähmen, würden unweigerlich die Machtfrage aufwerfen und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit entstehen lassen, von einem defensiven Kampf zu einem offensiven überzugehen. Das erfordert allerdings, über den gewerkschaftlichen Kampf hinauszugehen.

Die Verbindung dieses Kampfes mit dem Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung, der Gegenwehr gegen die BJP-Regierung mit dem Kampf gegen den Kapitalismus weist auf die Notwendigkeit einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse hin, deren Programm auf Übergangsforderungen beruht. Eine solche Partei wird in der Lage sein, die Landbevölkerung zu gewinnen, wenn sie die Forderungen der Bauern und Bäuerinnen aufgreift und für die Kontrolle des Landes durch diejenigen kämpft, die es bearbeiten, die Bauern, Bäuerinnen und die LandarbeiterInnen. Ein solcher gemeinsamer Kampf würde den Weg für eine permanente Revolution in Indien öffnen, die in dem Ringen um eine ArbeiterInnen- und BäuerInnen-Regierung gipfelt, die die Herrschaft der Räte errichtet, das ausländische und indische Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt. Nur das würde es ermöglichen, den Austausch zwischen Stadt und Land zum Nutzen sowohl der bäuerlichen wie auch der städtischen Bevölkerung zu organisieren.

Zurzeit gibt es in Indien keine politische Kraft, die ein solches Programm auf nationaler Ebene vertritt. Die Kongresspartei ist, obwohl sie momentan behauptet, die Bauern, Bäuerinnen und Gewerkschaften zu unterstützen, selbst eine kapitalistische Partei, die viele der neoliberalen Angriffe, die Premierminister Modi derzeit versucht, zu ihrem logischen Ende zu bringen, begonnen hat. Die kommunistischen Parteien, die aus der stalinistischen stammen, haben in der Tat den Kampf für die revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus schon lange aufgegeben, und auch die radikale Linke ist verwirrt und zersplittert. Wir müssen die Notwendigkeit einer Partei in den Mittelpunkt des Kampfes stellen, die eine revolutionäre Regierungslösung für die aktuelle politische Krise präsentieren kann.




Kündigungswelle überrollt Österreich: Branchenübergreifender Widerstand ist nötig!

Alex Zora, Infomail 1122, 22. Oktober 2020

Es kam, wie es kommen musste. Nach 6 Monaten staatlich subventionierter Kurzarbeit werden Beschäftigte, die in der Krise unter erschwerten Bedingungen gearbeitet haben oder auf einen Teil ihres Einkommens verzichten mussten, massenweise aufgekündigt. Die Kurzarbeit wurde zwar erst kürzlich bis Ende März 2021 verlängert, aber offenbar reicht das den UnternehmerInnen nicht und das, obwohl allzu oft gleichzeitig Boni für ManagerInnen und Gewinne an AktionärInnen ausgeschüttet werden. Die Frage für die ArbeiterInnenklasse ist deshalb, wie sie die direkten und indirekten Gefahren der Massenarbeitslosigkeit abwenden kann.

Entlassungen über Entlassungen

Die meisten Jobs stehen bei MAN auf dem Spiel. Der Konzern plant, den Standort Steyr, wo vor allem LKWs produziert werden, zu schließen. Damit wären auf einen Schlag 2.300 Arbeitsplätze weg. Kaum auszudenken, was das nicht nur für die Beschäftigten und ihre Familien, sondern auch für die gesamte Stadt bedeuten würde. Und das Ganze, obwohl von der Konzernmutter Traton (mehrheitlich im Besitz der Volkswagen AG) dieses Jahr 500 Millionen Euro an Dividenden ausgeschüttet werden!

Beim Flugzeugteilehersteller FACC werden schon ab November 630 Beschäftigte ihre Jobs los. Damit verliert dort fast jede/r Fünfte den Job.

Schon länger ist auch klar, dass ATB Morley (Spezialist für elektrische Großmotoren) sein Werk in der Steiermark schließen wird, wenn die ArbeiterInnen nicht doch noch ausreichend Druck aufbauen können und dazu die nötige Solidarität erhalten (dem Arbeitskampf dort haben wir einen eigenen Artikel gewidmet. 360 ArbeiterInnen verlieren dort ihre Jobs.

DOKA, ein Unternehmen für Schalungstechnik, streicht fast jede sechste der 2.000 Stellen in der Produktion – 600 Jobs werden hier abgebaut. Auch hier ist der Vorwand die fehlende internationale Nachfrage.

Ein weiteres wichtiges Unternehmen, bei dem 1.800 Beschäftigte ihre Arbeitsplätze verlieren, ist der Kristallglashersteller Swarovski. Im Produktionsstandort Wattens in Tirol verliert mehr als jede/r Dritte verliert den Job und das, obwohl Swarovski in den letzten Monaten viele Millionen Euro an Zuschuss aus der staatlichen Kurzarbeitsregelung bezogen hatte. Der letzte große Betrieb, in dem Massenentlassungen anstehen  – ohne Zweifel werden in den kommenden Wochen viele folgen –, ist das Hotel Sacher. 140 Beschäftigte werden hier bald den Job los sein und auch das, obwohl viel Geld über die Kurzarbeitsregelung bezogen wurde. Was hier jedoch die größte Sauerei darstellt, ist die Tatsache, dass eigentlich so schnell nach Ende der Kurzarbeit keine Entlassungen stattfinden dürften – solange die Gewerkschaft nicht zustimmt. Wie die Tageszeitung „Der Standard“ berichtet, ist aber genau das passiert.

Wirtschaftliche Aussichten

Die Gründe für die Massenentlassungen sind von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Bei der Mehrheit wird auf die „internationale Auftragslage“ oder die „schwere wirtschaftliche Situation“ verwiesen. Und das ist auch angesichts der wirtschaftlichen Ausgangssituation kaum verwunderlich. Das österreichische Bruttoinlandsprodukt ist im 2. Quartal um mehr als 10 % gegenüber dem 2. Quartal 2019 eingebrochen. Auch schon das 1. Quartal hatte ein Minus verzeichnet. Wie stark die Wirtschaft dieses Jahr einbrechen wird, hängt nicht nur vom Verlauf einer etwaigen 2. Welle von COVID-19 ab, sondern auch davon, wie sich die europäische und Weltwirtschaft entwickeln wird. Die Lage sieht alles andere als rosig aus.

Doch wir können uns nicht einfach den „objektiven“ Mächten des Marktes unterwerfen. Wir brauchen stattdessen eine Politik für unsere Klasse. Denn nur zu oft ist es so, dass in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Beschäftigten als Erstes geopfert werden und in wirtschaftlich guten Zeiten nur die AktionärInnen und das Management profitieren. Wir müssen dieses Wirtschaftssystem, das grundlegend darauf aufgebaut ist, dass die arbeitenden Menschen, die den Reichtum in unserer Gesellschaft produzieren, die letzten sind, die auch einen relevanten Teil davon abbekommen, beenden. Stattdessen bekommen den Reichtum durch Gewinne oder Dividenden diejenigen, die nichts andere leisten, als Eigentum zu besitzen und andere Leute für sich arbeiten zu lassen. Falls sie überhaupt arbeiten, steht ihr Einkommen in keinem Verhältnis zur Leistung.

Branchenübergreifender Widerstand notwendig!

Was die Entlassungen aktuell so besonders macht, ist, dass sie in vielen Branchen und weit verteilt übers Land stattfinden. Das macht den Widerstand dagegen nicht unbedingt einfacher. Wenn zum Beispiel ein ganzes Werk abwandern soll oder geschlossen wird, dann ist ein Arbeitskampf, der sich auf die Beschäftigten im Betrieb beschränkt, nicht so einfach in der Lage, ausreichenden Druck aufzubauen, solange nicht zu sehr radikalen Maßnahmen wie Werksbesetzungen oder Ähnlichem gegriffen wird.

Von Seiten der Gewerkschaft braucht es deshalb eine branchenübergreifende Kampagne, verbunden mit Demonstrationen und Streiks, für ein generelles Kündigungsverbot aus „wirtschaftlichen Gründen“. Wenn ein Betrieb sich genötigt sieht, Entlassungen deshalb vorzunehmen, weil zu wenige Geld da ist, dann sollte die Konsequenz sein, dass der Betrieb unter Kontrolle der Beschäftigten entschädigungslos verstaatlicht wird.




Wir zahlen nicht für Corona und Krise! Volle Mobilisierung in den Tarifrunden!

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinto der Gruppe ArbeiterInnenmacht, September 2020

Corona wurde zum Anlass genommen, alle Tarifrunden zu verschieben. Dringend nötige Lohnerhöhungen wurden vertagt.

Die große Mehrheit von uns hat Einkommensverluste hinnehmen müssen: Durch Kurzarbeit, Verlust von Jobs oder auch durch Stundenkürzungen und Lohnsenkungen. Zugleich sind Preise und Mieten weiter gestiegen. Wir brauchen also mehr Geld und das ziemlich dringend!

Wie immer erklären die Unternehmen und die öffentlichen Arbeit„geber“Innen, dass jede Forderung unsererseits unangebracht und überzogen ist. Alle schönen Worte von den „HeldInnen“, von Aufopferung und Arbeit unter erschwerten und gefährlichen Bedingungen verfliegen, sobald es ums Geld geht. Sehr deutlich wird das im Gesundheitswesen, wo z. B. den Beschäftigten von CFM an der Charité ein Tarifvertrag verweigert und ihr Streik mit Kündigungsdrohungen und Streikbruch beantwortet wird. Und diese Belegschaft ist nicht die einzige.

Drei Dinge folgen daraus für alle Tarifrunden, die jetzt anstehen:

  • Wir werden kämpfen müssen! Streiks und Urabstimmungen müssen schon jetzt vorbereitet werden. Weil wir überall mit der gleichen Propaganda und der gleichen Politik konfrontiert werden, müssen alle Mobilisierungen von allen Gewerkschaften und Branchen koordiniert und die Kraft gebündelt werden! Aktionen, Demonstrationen und Streiks müssen koordiniert werden! Dafür müssen wir in unseren Gewerkschaften kämpfen. Mit den üblichen Ritualen können wir nichts reißen und verlieren alle!
  • Wir brauchen eine Antwort auf die Krise. Denn auch, wenn die Unternehmen, die Politik und die Medien immer die gleiche Melodie in der Tarifrunde singen, es gibt eine Krise. Viele Firmen haben entlassen oder haben das vor, viele stehen vor der Insolvenz. Wir müssen also sagen, wo das Geld herkommen soll. Aber vor allem müssen wir sagen, wie Entlassungen, Personalabbau und Arbeitslosigkeit bekämpft werden können. Wir brauchen eine Bewegung von allen, die nicht wollen, dass wieder die Beschäftigten und darüber hinaus die ganze arbeitende Bevölkerung und die sozial Schwachen für die Krise bezahlen, während das Kapital und die Reichen noch mehr an sich reißen. Wir zahlen nicht für eure Krise!
  • Wir brauchen eine Bewegung in unseren Gewerkschaften, die Schluss macht mit dem Kuschelkurs mit der Regierung und dem Betteln bei den Unternehmensleitungen. Wir müssen uns auf unsere eigene Kraft besinnen! Wir brauchen Initiativen von unten, wir müssen selbst aktiv werden!

Wir brauchen also ein gemeinsames Aktionsprogramm, das alle notwendigen Forderungen vereint und aufeinander abstimmt und das Vorschläge macht, wie die Kraft der Gewerkschaften und darüber hinaus aller Beschäftigten mobilisiert werden kann. Dabei dürfen wir uns auf den Apparat nicht verlassen. Wir müssen selbst den Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, einer organisierten Opposition und politischen Alternative zum Apparat in Betrieb und Gewerkschaft angehen.




Belarus: Von der Wahlfälschung zur Revolte

Urte March, Infomail 1114, 19. August 2020

Der Aufstand in Belarus ist an einem entscheidenden Punkt angelangt, wie Präsident Alexander Lukaschenko (Weißrussisch: Aljaksandr Lukaschenka) gegenüber ArbeiterInnen, die seinen Rücktritt und demokratische Wahlen forderten, erklärte: „Solange ihr mich nicht umbringt, wird es keine weiteren Wahlen geben“.

Eine Welle von Protesten und Streiks der Bevölkerung hat das Land erfasst, seit Lukaschenko am 9. August in einer dreist manipulierten Wahl einen erdrutschartigen Sieg für sich reklamiert hat. Friedliche Proteste, die zu freien und fairen Wahlen aufriefen, trafen zunächst auf brutale Unterdrückung durch die Polizei, wobei Tausende verhaftet und mindestens zwei Menschen getötet wurden. Berichte über Schläge und Folter in staatlichen Gefängnissen sind weit verbreitet. Fotos von erlittenen Verletzungen verbreiteten sich und entflammten noch mehr Menschen zu aktivem Widerstand.

Dazu gehörten ArbeiterInnen, die das staatliche Minsker Automobilwerk (MAZ), das Minsker Traktorenwerk (MTZ; auch: MTW) sowie das riesige BElaz-Automobilwerk in Zhodino in der Nähe der Hauptstadt verließen. In den folgenden Tagen organisierten die Beschäftigten in fast allen großen Industriezweigen Streiks aus Solidarität mit den DemonstrantInnen und forderten Neuwahlen und Freiheit für alle inhaftierten Protestierenden und Oppositionellen. Am Sonntag beteiligten sich über einhunderttausend Menschen an der bisher größten Demonstration in der Geschichte des Landes.

Die Scheinwahl war der Funke, der ein Pulverfass sozialer Unzufriedenheit in Belarus entzündete, dessen Regierung durch immer härtere arbeiterInnenfeindliche Maßnahmen in den letzten Jahren eine krisengeschüttelte Wirtschaft gestützt hat, und wo der Staat sich geweigert hat, irgendeine Verantwortung für den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie zu übernehmen, die Lukaschenko im Gefolge anderer „starker Männer“ wie Trump und Bolsonaro als „Psychose“ abtat.

Ursprünge

Die Ursprünge der gegenwärtigen Krise lassen sich auf den Zerfall der UdSSR und die Unabhängigkeit im Jahr 1991 zurückführen. Als einziger Staat unter denen der ehemaligen UdSSR und des Ostblocks hat sich Belarus bisher der neo-liberalen Schocktherapie entzogen, die die bürokratischen Planwirtschaften zerstörte und zig Millionen Menschen in bittere Armut stürzte.

Stattdessen hat sich die Kaste der ehemaligen sowjetischen BürokratInnen – Lukaschenko selbst ist ehemaliger Leiter einer Kolchose – in nationale VerwalterInnen staatlicher kapitalistischer Unternehmen verwandelt und erfolgreich die Macht an der Spitze einer immer zu einem großen Teil staatseigenen Wirtschaft konsolidiert. Die Strategie der herrschenden Elite zur Aufrechterhaltung von Macht und sozialer Stabilität bestand darin, einen vorsichtigen Balanceakt zwischen den expansionistischen Ambitionen des westlichen und des russischen Imperialismus zu vollziehen, die Vorteile ausländischer Kredite und Subventionen zu nutzen und gleichzeitig ihrem Volk grundlegende demokratische Freiheiten zu verweigern, um die interne Opposition zu unterdrücken.

Die staatseigene und bürokratisch geführte Wirtschaft, die innerhalb der Grenzen eines internationalen kapitalistischen Marktes existiert, war nicht in der Lage, genügend ausländische Investitionen anzuziehen oder die Produktivität seiner Schwerindustrie zu entwickeln. Außerdem ist sie extrem stark von russischen Ölsubventionen und Exportmärkten abhängig.

Noch immer ist der staatliche Sektor für etwas mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich. Belarus unterscheidet sich stark vom oligarchischen Kapitalismus der Ukraine oder Russlands, ist aber weit entfernt von einer Planwirtschaft: Seine staatliche Industrie ist in Holdings organisiert, die auf den Weltmärkten operieren, in deren Zentrum die 3 großen Staatsbanken stehen. Da die Kredite weit über das realen Wachstum stiegen und es an inländischen Kapitalquellen mangelte, ist die Auslandsverschuldung unweigerlich angestiegen und lag schon vor der Corona-Krise bei 80 Prozent des BIP. Seit mehr als einem Jahrzehnt befindet sich Belarus in einem Teufelskreis aus Schuldenrefinanzierung, Stagnation, Währungskrise und Preisstabilitätsproblemen. Es ist daher in Bezug auf Subventionen, insbesondere in Form von billigem Öl, und Exportmärkte immer mehr von Russland abhängig.

Um das Öl am Fließen zu halten, hat Lukaschenko den aufeinander folgenden russischen Versuchen einer stärkeren Integration zwischen den beiden Staaten schrittweise nachgegeben, aber alle entscheidenden Privatisierungsschritte, die die Enteignung der einheimischen Eliten zugunsten der russischen OligarchInnen gefährden würden, verzögert oder sich ihnen widersetzt. Ebenso würden, wenn er seine Flirts mit der EU durchzöge, Darlehen und private Investitionen zweifellos von einer „Reform“, d. h. einer vollständigen Öffnung für die Marktkräfte, abhängig gemacht.

Trotz schleichender wirtschaftlicher Stagnation war Lukaschenko jahrzehntelang in der Lage, die Gewinne aus dem Verkauf russischen Öls umzuverteilen, um der Bevölkerung des Landes einen zumindest angemessenen Lebensstandard zu sichern, einschließlich einer universellen Gesundheitsversorgung, kostenloser Bildung, subventionierter Mieten, hoher staatlicher Renten und anderer staatlicher Wohlfahrtsprogramme. Infolgedessen war seine Regierung in der Lage, trotz ihres eisernen Griffs um die weißrussische Zivilgesellschaft ein gewisses Maß an Legitimität unter den ArbeiterInnen auf dem Land und in den Städten aufrechtzuerhalten. Regelmäßige Äußerungen pro-demokratischer Gefühle haben keine breitere Unterstützung gefunden und wurden leicht unterdrückt.

Stagnation

Doch Lukaschenkos hartnäckige Weigerung, seine designierte Rolle als Putins Handlanger zu akzeptieren, hat zu wachsenden Spannungen zwischen den beiden Ländern geführt, was Kürzungen der russischen Ölsubventionen und Vertragsstreitigkeiten zur Folge hatte, durch die die Öllieferungen häufig unterbrochen wurden. Die immer dringendere Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Diversifizierung und der Wunsch, sich in der Ukraine-Krise nicht mit Russland zu verbünden, haben Lukaschenko dazu veranlasst, der Europäischen Union Angebote zu unterbreiten und einen „Dialog“ über die wirtschaftliche Liberalisierung im Gegenzug für mehr europäische Hilfe aufzunehmen. Der Prozess verlief langsam, doch ein vollwertiges Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wurde durch den Widerstand Litauens blockiert und wird letztlich durch die Notwendigkeit des Regimes eingeschränkt, seine Interessen zwischen Ost und West zu sichern, um seine eigene Position zu wahren.

In den letzten Jahren ist dieser Balanceakt an seine Grenzen gestoßen. Während der tiefen Rezession von 2015 bis 2017 konnte der hoch verschuldete Staat nicht antizyklisch agieren, und die Realeinkommen sanken infolge von Währungsabwertung und Preissteigerungen um 13 Prozent. Angesichts des rückläufigen Wachstums und der zunehmenden Unfähigkeit oder des Unwillens, auf Moskaus Schirmherrschaft zurückzugreifen, hat sich Lukaschenko einem Angriff auf seine eigene ArbeiterInnenklasse zugewandt, um Verluste wieder hereinzuholen und eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden.

2015 wurde das so genannte „Parasitengesetz“ eingeführt, das jede/n, der/die keine staatlich anerkannte Beschäftigung hat, zwingt, eine Sondersteuer zu zahlen oder zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt zu werden. Der Erlass wurde 2018 zurückgezogen, aber stattdessen werden Arbeitslose gezwungen, für alle staatlichen Dienstleistungen zu zahlen. Durch eine Reihe von Änderungen des Arbeitsgesetzes im Jahr 2017 wurden 90 Prozent der Beschäftigten einseitig von unbefristeten auf befristete Verträge umgestellt.

Im Gesundheits- und Bildungswesen wurden weit reichende Kürzungen vorgenommen und das Renteneintrittsalter wurde erhöht. All dies hat in Verbindung mit dem stetig fallenden Wert des belarussischen Rubels zu einer ernsthaften Verschlechterung des Lebensstandards der belarussischen ArbeiterInnenschaft geführt. Mit der Corona-Krise, den wirtschaftlichen Problemen seines wichtigsten Handelspartners (Russland) und der Höhe der aufgelaufenen Schulden steht Belarus nun am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Angesichts des bisherigen „Krisenmanagements“ von Lukaschenko während der Pandemie haben die ArbeiterInnenklasse und Teile der herrschenden Klasse das Vertrauen in die Fähigkeit des bestehenden Regimes verloren, die herannahende Katastrophe zu verhindern. Gleichzeitig veranlasst die anhaltende Abschaltung der Weltwirtschaft sowohl Russland als auch die EU, ihre Haushaltsprioritäten neu zu bewerten.

Protest

So hat sich die wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit in eine Massenbewegung des Volkes verwandelt, die riesige Teile der ArbeiterInnenklasse anzieht und durch Arbeitskampfmaßnahmen in allen Sektoren und in allen Teilen des Landes unterstützt wird. Das Ausmaß und die Breite der Aktionen offenbaren die Tiefe der politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes und den authentischen Charakter des Aufstands; eine von den USA orchestrierte „farbige Revolution“ ist dies nicht.

In den ersten Tagen der Proteste beschränkten sich die offiziellen Forderungen der Bewegung auf Aufrufe zu Neuwahlen, die von internationalen BeobachterInnen überwacht werden sollen, und auf die Freilassung inhaftierter AktivistInnen, doch am Sonntag forderten Massenproteste den sofortigen Rücktritt Lukaschenkos. Die Bewegung hat eine Eigendynamik entwickelt, die die Legitimität des Regimes rasch untergräbt.

Wenn die Proteste anhalten und, was entscheidend ist, wenn die Streikbewegung wächst, um größere Teile der Wirtschaft zu lähmen, steht Lukaschenko vor der Wahl zwischen einem blutigen Durchgreifen und dem Verzicht auf die Macht. Vorerst kontrolliert das Regime immer noch Polizei und Militär, obwohl es Berichte gibt, dass sich einige Angehörige von Polizei und Armee an Demonstrationen beteiligen und DemonstrantInnen gefilmt wurden, die an SoldatInnen appellieren, sich dem Aufstand anzuschließen.

Die Demokratiebewegung ist entschlossen und genießt die Unterstützung der Massen. Ihre Unterdrückung würde wahrscheinlich anhaltende Gewalt mit sich bringen und ein Überlaufen aus dem Militär riskieren. Putin hat Lukaschenko gemäß dem Militärpakt der beiden Länder militärische Unterstützung versprochen, hat es aber bis jetzt nicht wahrgemacht, jenen zu unterstützen, den er als einen völlig unzuverlässigen Verbündeten betrachtet. Auf jeden Fall wäre die russische Hilfeleistung mit einem hohen Preis verbunden. Lukaschenko wäre sicherlich gezwungen, seine Politik der konstruktiven Zweideutigkeit gegenüber Russland aufzugeben und eine Zukunft als Treuhänder eines russischen Protektorats zu akzeptieren.

Eine Art „gelenkter Übergang“ könnte eine bevorzugte Alternative für Teile der Bürokratie werden, die hoffen, die Demokratiebewegung zu besänftigen, aber Teile des Regierungsapparates zu erhalten und die Profite aus den bevorstehenden Privatisierungen von Staatsbetrieben zu ernten. Die Demokratiebewegung verfügt bisher nur über eine wenig organisierte politische Führung, die die Form eines spontanen Aufflammens der Unzufriedenheit der Bevölkerung annimmt. Viele FührerInnen der liberalen Opposition, die für die wirtschaftliche Liberalisierung und die volle Integration in die Weltmärkte eintreten, befinden sich im Gefängnis oder im Ausland. Die Bewegung steht an einer kritischen Schwelle. Was als Nächstes kommt, wird davon abhängen, welche Art von politischer Führung sich herausbildet, um die Unzufriedenheit zu kanalisieren.

Swetlana Tichanowskaja (Weißrussisch: Swjatlana Zichanouskaja), die Kandidatin der Opposition bei den Wahlen in der vergangenen Woche, hat erklärt, dass sie bereit sei, die Präsidentschaft zu übernehmen, und die Schaffung eines nationalen „Koordinierungsrates“ aus ihrem selbstgewählten Exil in Litauen angekündigt. Sie erklärte:

„Ich bitte Sie, sich im Koordinationsrat zu vereinen. Wir brauchen dringend Ihre Hilfe und Erfahrung. Wir brauchen Ihre Verbindungen, Kontakte, Ihren fachlichen Rat und Ihre Unterstützung. Diesem Koordinierungsrat sollten alle beitreten, die an Dialog und friedlicher Machtübergabe interessiert sind – Arbeitsgruppen, Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen der Zivilgesellschaft.“

Viele fordern nun die internationale Anerkennung von Tichanowskajas Anspruch auf die Präsidentschaft und die EU auf, Verhandlungen zwischen den FührerInnen der Zivilgesellschaft im Exil und der amtierenden Regierung zu vermitteln. Aber es wäre ein katastrophaler Fehler, wenn die Bewegung ihr Vertrauen in die durch und durch kapitalistischen selbsternannten FührerInnen der Opposition oder ihre „FreundInnen“ in der EU setzte. Ebenso wenig sollte sie einen „Koordinierungsrat“ selbst  mit bürokratischen GewerkschaftsvertreterInnen anerkennen. Es sind die Massenkräfte der ArbeiterInnenklasse, die die Bewegung so weit gebracht haben, und sie sollten nicht zulassen, dass die VertreterInnen des liberalen BürgerInnentums die Früchte ihrer Aktionen ernten.

Auch „freie Wahlen“ allein werden das durch die Widersprüche der weißrussischen Wirtschaft verursachte Leid nicht lindern. Wenn es der Massenbewegung nicht gelingt, sich um ein alternatives politisches Programm zu organisieren und sich darauf vorzubereiten, den Übergang selbst zu verwalten, wird Lukaschenkos Weggang höchstwahrscheinlich ein neoliberales Privatisierungsprogramm einläuten, das die Wirtschaft weiter destabilisieren und Belarus in eine von der EU und Deutschland abhängige Halbkolonie verwandeln wird.

Die Erfahrungen Polens und der baltischen Staaten in den 1990er Jahren zeigen, dass dies zu noch größeren Angriffen auf die ArbeiterInnen, zu Arbeitslosigkeit, Sparmaßnahmen und Inflation führen wird, die den verbleibenden Schutz der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen rasch untergraben werden. Jede/r ArbeiterIn sollte es wissen: Eine neue „Schocktherapie“ unter den Bedingungen der angehäuften Schulden und unter den Umständen der globalen Pandemie wäre eine soziale Katastrophe in Belarus. Um ein solches „Experiment“ der liberalen Opposition und ihrer „WirtschaftsexpertInnen“ zu vermeiden, muss die ArbeiterInnenklasse über ihre eigene Organisation und ihr eigenes Programm verfügen, um diese Krise zu überleben.

Programm

Dies bedeutet für die Bewegung jedoch keinesfalls, ihre Risiken abzustecken und auf einen „weniger riskanten“ Moment zu warten, um ihre Forderungen gegenüber der Regierung durchzusetzen. Vielmehr  muss sie, müssen insbesondere die ArbeiterInnen in den Fabriken, die  absolut unerlässliche Perspektive eines umfassenden Generalstreik entfalten, um den Tyrannen auszuschalten. Nur wenn Lukaschenko zweifelsfrei erkennt, dass seine SoldatInnen seine Diktatur nicht wiederherstellen werden, wenn er verhaftet wird oder aus dem Land flieht, wird die Revolution sicher sein.

Die erste Aufgabe besteht darin, eine Führung der ArbeiterInnenklasse zu schaffen, die in der Lage ist, den Streik auszuweiten und die Kontrolle über die Revolution von den liberalen ExilantInnen und ihren UnterstützerInnen des Großkapitals an sich zu reißen. Um wirklich demokratisch zu sein und auf die Bedürfnisse der Bewegung einzugehen, sollte sich diese Führung aus gewählten und abrufbaren DelegiertInnen in ArbeiterInnenräten zusammensetzen, die auf den großen Fabriken, Kolchosen und Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse fußen und regional und national vernetzt sind. Um diese Führung zu verteidigen, ist es von entscheidender Bedeutung, die einfachen SoldatInnen zu gewinnen und die Polizei zu entwaffnen und sie durch eine ArbeiterInnenmiliz zu ersetzen, die auf den Fabriken und großen landwirtschaftlichen Betrieben basiert.

Die WeißrussInnen brauchen freie Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung, die unter der Aufsicht der ArbeiterInnenräte durchgeführt wird. Alle Institutionen der herrschenden Klasse und des bürokratischen Staates sollten aufgelöst und durch gewählte Organe ersetzt werden, und diese sollten die Grundlage einer ArbeiterInnenregierung bilden.

Diese Regierung sollte die Tatsache, dass die Wirtschaft immer noch stark konzentriert ist, nutzen, um sie zu übernehmen, indem sie die ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion in den Großunternehmen einführt, die Schulden streicht und die Kontrolle der staatlichen Banken durch einen demokratischen Notfallplan ersetzt.

Ebenso müssen alle sozialen Dienste gegen Privatisierung oder die Einführung von Marktkräften verteidigt und von den ArbeiterInnen, die sie betreiben, umgestaltet werden. Kurz gesagt, die Antwort liegt weder in dem neoliberalen Alptraum der EU noch in Putins oligarchischen KapitalistInnen, sondern in einem Programm des Übergangs zum Sozialismus.

Natürlich kann der Sozialismus nicht isoliert aufgebaut werden, vor allem nicht in einem kleinen Land wie Belarus, aber das Beispiel der weißrussischen ArbeiterInnen und Jugendlichen würde die ArbeiterInnen Osteuropas, in den baltischen Staaten, Polen, Russland und der Ukraine, inspirieren, insbesondere da die Welt in eine weitere riesige kapitalistische Rezession stürzt.

Diese ganze Strategie, von der heutigen brennenden Aufgabe, Lukaschenko zu stürzen, bis zur Verhinderung der Unterordnung und Ausbeutung des Landes durch westliche oder russische ImperialistInnen, erfordert eine Partei der ArbeiterInnenklasse, die in der Lage ist, der Massenbewegung eine Führung zu geben.

Die SozialistInnen auf der ganzen Welt müssen sich aktiv solidarisch mit der Revolution in Belarus zeigen und sich einer Intervention Russlands oder der EU und der USA widersetzen.




Solidarität mit den Beschäftigten von Galeria Karstadt-Kauhof!

Nein zu allen Entlassungen und Schließungen! Benko muss für die Krise zahlen!

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1109, 4. Juli 2020

Nachdem schon seit Jahren beide Kaufhäuser in der Krise stecken und die Beschäftigten mit Sanierungstarifverträgen und Lohnverzicht dafür bezahlt haben, wurde am 15. Mai die nächste Schweinerei bekannt. Nach Willen der Konzernleitung sollen bis zu 80 Filialen der Galeria Karstadt-Kaufhof (GKK)-Warenhäuser geschlossen werden.

Nach Verhandlungen mit ver.di wurde die Zahl auf 62 Filialen in 47 Städten mit bis zu 6.000 MitarbeiterInnen „reduziert“. Die großen Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Bayern, aber auch Städte wie Berlin sind davon stark betroffen. Aber vor allem wird es für die ohnedies schon strukturschwachen Flächenländer im Osten einen weiteren großen sozialen Einbruch bedeuten.

Am 3. Juli wurde nun bekannt, dass die Konzernleitung für weitere 6 Filialen mit insgesamt 750 Beschäftigten durch Verhandlungen mit den VermieterInnen eine Zukunft sieht. Sicherlich ist das auch eine Auswirkung diverser Proteste der Beschäftigten und ver.dis und durchaus auch eines gewissen Drucks aus der Politik.

Aber niemand sollte sich Illusionen machen, dass die sporadischen und kleinen Proteste ausreichen werden, um den Inhaber der Kaufhäuser, den österreichischen Milliardär und Immobilienmakler René Benko von seinem Vorhaben abzuhalten, tausende von Arbeitsplätzen abzubauen. Schon die Ansage der Konzernleitung vom 3. Juli, dass dieser bis Ende 2022 mit Umsatzeinbußen von bis zu 1,4 Mrd. Euro aufgrund des Konjunkturabschwungs wegen der Corona-Pandemie rechnet, zeigt, dass der Eigner gewillt ist, weiter die Beschäftigten für die Krise zahlen zu lassen.

Wie reagiert ver.di?

Heute wird klarer denn je, dass die Verlängerung des Sanierungstarifvertrags und damit des Lohnverzichts um weitere 5 Jahre nach der Fusion von Karstadt-Kaufhof Ende 2019 nichts gebracht hat. Der von Seiten ver.dis als auch des neuen Inhabers Benko verkündete „gemeinsame Wille“, der dem Handelskonzern wieder auf die Beine helfen sollte, entpuppte sich rasch als Lippenbekenntnis, um die Beschäftigen ruhigzustellen und ihnen eine Perspektive vorzugaukeln. Nun soll die Belegschaft für die weiterhin unklare Zukunft mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze zahlen!

Am 19. Juni hat ver.di den Tarifvertrag „Gute und gesunde Arbeit/Beteiligung Zukunftskonzept“ abgeschlossen. In diesen Verhandlungen wurde erreicht, dass statt 80 nun 62 Filialen geschlossen werden und der geplante Personalabbau von zehn Prozent in den dann noch verbliebenen Filialen verhindert werden konnte. Die Verhandlungsführung von ver.di verkauft dies als großen Erfolg.

Aber: An dem geplanten Personalabbau von jetzt ca. 5.000 Beschäftigten haben dieser Tarifvertrag und die damit verbundenen Verhandlungen nichts geändert. Nach wir vor befinden sich viele KollegInnen in Kurzarbeit, ganz zu schweigen von dem Weiterlaufen des Lohnverzichts.

Darüber hinaus sind mit diesem neuen Tarifvertrag mehrere Probleme auf anderer Ebene verbunden:

a) Für die KollegInnen, die entlassen werden, gelten für jeden Betrieb einzelne Sozialpläne mit entsprechenden Abfindungen. Zum einen stellen diese Sozialpläne nichts anderes dar als ein sozial abgefedertes, kampfloses Akzeptieren der Entlassungen, zum anderen werden diese Sozialpläne je nach Stärke und politischem Willen der einzelnen Betriebsräte, auch die Interessen der Beschäftigten durchsetzen zu wollen, sehr unterschiedlich aussehen. Bekannt ist ja auch, dass viele Betriebsräte auf Kuschelkurs mit der Konzernleitung liegen – entsprechend werden dann auch die Abfindungen und anderen Bedingungen aussehen.

b) Dieser Tarifvertrag zielt darauf ab, die Betriebsräte, ver.di und die Beschäftigten bei der Zukunftsgestaltung der Warenhäuser mit einzubeziehen. Das hört sich wie ein Zugeständnis an, ist aber keines. Vielmehr sollen Betriebsräte und ver.di mit der Konzernleitung unter Zuzug von ExpertInnen in paritätisch besetzten Kommissionen und Arbeitskreisen u. a. in Prozessoptimierungen und die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens eingebunden werden. Auch die Beschäftigten sollen über Umfragen an der Verbesserung beteiligt sein.

Letzteres ist eine explizite Forderung von ver.di, um damit zu verhindern, dass der neue Besitzer den Handelskonzern noch weiter in den Abgrund führt. Dieser hat zugegebenermaßen mehr Interesse an lukrativen Immobiliengeschäften – wie der Umbau des Karstadt-Gebäudes am Hermannplatz in Berlin beweist –, als den Handelsbereich des Konzerns auszubauen.

Aber das ändert nichts daran, dass die Forderung nach stärkerer Einbindung in die Konzernleitung zu einem Fallstrick für Beschäftige werden wird. Wir halten diese Maßnahme für mehr als eine Illusion. Unabhängig von der Corona-Pandemie, die die wirtschaftliche Krise nur beschleunigt hat,  stehen wir kurz vor einer tiefgehenden Rezession, die natürlich auch an einem Konzern wie GKK nicht vorbeigehen wird. Daran wird auch eine pseudo-demokratische Beteiligung der KollegInnen, die natürlich ein Interesse am Erhalt ihrer Arbeitsplätze haben, nichts ändern. Diese werden auch ausgehend von den Umsatz- und Gewinnerwartungen des Eigners unter schlechteren gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen über Einsparungen bis hin zu Entlassungen entscheiden müssen. Damit werden die Belegschaft, die Betriebsräte und ver.di in die Mitverantwortung gezogen. Was Besseres kann einem so harten Eigentümer wie Benko nicht passieren – die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen sollen selbst die Einsicht in die Notwendigkeit von Einsparungen erlangen, über weiteren Lohnverzicht, Flexibilisierung und schlechtere Arbeitsbedingungen „mitbestimmen“!

Kampf statt Mitbestimmungsschwindel!

Für die Verhinderung der Entlassungen und Schließungen ist ein grundlegend anderer Kurs notwendig. Es darf nicht sein, dass sich Benko auf Kosten der Beschäftigten saniert und damit die Möglichkeit erhält, auf deren Rücken noch mehr Profite zu machen! Wenn Profitinteressen und Konkurrenz die Existenz Tausender bedrohen, so dürfen wir Privateigentum und Kapitalinteresse nicht als unhinterfragbare Gegebenheiten betrachten. Das muss der Ausgangspunkt für alle Überlegungen sein.

Der Kampf um den Erhalt aller Arbeitsplätze ist möglich, das haben auch die vielen ver.di-Eintritte im Jahr 2019 – in der Phase vor der Verlängerung des Sanierungstarifvertrages – gezeigt. Auch jetzt, da tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen und die Zukunft vollkommen unsicher ist, bleibt den KollegInnen nichts anderes übrig, als zu kämpfen. Aber unter welchen Bedingungen?

Wir meinen: Als erstes ist nötig, dass die Beschäftigten selbst zu Wort kommen und über ihre Forderungen und Kampfmaßnahmen beschließen können auf ver.di-Mitglieder- und Betriebsversammlungen.

Darüber hinaus brauchen sie auch Strukturen, in denen sie den Kampf zudem kontrollieren und selbst bestimmen können. Wir meinen: Dafür sind demokratisch gewählte Streikkomitees, die nur den Streikenden gegenüber verantwortlich und auch rechenschaftspflichtig sind, das beste Mittel.

Klassenkampf statt SozialpartnerInnenschaft

Benko soll zur Kasse gebeten werden. Dafür müssen alle Geschäftsbücher, Kontobewegungen des Konzerns und seine Immobiliengeschäfte offengelegt werden. Sein Vermögen muss zur Sicherung aller Arbeitsplätze herangezogen werden.

Solange Warenhäuser in den Händen von EigentümerInnen sind, die nur damit Profit machen wollen – auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten –, solange wird der Angriff auf Lohn, auf Rechte der Beschäftigten oder Entlassungen kein Ende nehmen.

Benko und all den anderen AnteilseignerInnen müssen GKK, alle Warenhäuser und Immobilien entzogen werden. Sie müssen entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft verstaatlicht werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass Konjunkturbewegungen, Krisen, Veränderungen der Branche nicht zu Verschlechterungen für die Beschäftigten führen. Erst dann können diese tatsächlich einen sinnvollen Plan aufstellen, wie die Arbeitsplätze erhalten bleiben können.

Darüber hinaus ist der Kampf für eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich – die Arbeit muss auf alle verteilt werden – notwendig – nicht nur bei GKK, sondern in allen Branchen.

Dieser Kampf kann nur ermöglicht werden, wenn zum einen der Kampf bis hin zu Massenstreiks konsequent geführt wird – durch die Entscheidungen der KollegInnen selber. Zum anderen müssen auch die Beschäftigten der anderen Fachbereiche von ver.di – im September steht die Tarifrunde im öffentlichen Dienst an – und die der anderen Gewerkschaften in Solidaritätsaktionen wie Demos, aber auch Solistreiks einbezogen werden. Auch die praktische Solidarität aller anderen Organisationen der ArbeiterInnenwegung – wie von Linkspartei und SPD – muss eingefordert werden. Schließlich könnte die Auseinandersetzung auch zu einem wichtigen, ersten Schwerpunkt für eine Anti-Krisenbewegung werden.

Natürlich sind die KollegInnen von GKK nicht die einzigen, die von Massenentlassungen oder Lohnverzicht betroffen sind. Im öffentlichen Dienst haben die kommunalen Arbeit„geber“Innen bereits angekündigt, dass sie eine lange Laufzeit fordern und höchstens einen Inflationsausgleich zugestehen wollen. In der Automobil- und Zulieferindustrie stehen tausende von Arbeitsplätzen auf dem Spiel.

In dieser Situation sollte es selbstverständlich sein, den Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze, um die Löhne, gegen Auslagerungen und Privatisierung gemeinsam zu führen. Nach wie vor aber halten die Gewerkschaftsführungen – auch die von ver.di – an ihrer alten Sozialpartnerschaftsideologie und -praxis fest, die nicht nur bei GKK in die Sackgasse geführt hat.  Von daher wird es für die KollegInnen, die einen ernsthaften Kampf für die Verteidigung ihrer Interessen führen wollen, nötig, sich zusammenzutun im Kampf für eine kämpferische Ausrichtung in den Gewerkschaften. Dazu brauchen wir eine klassenkämpferische Basisbewegung. Darum rufen wir  alle KollegInnen auf, sich am Aufbau der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG; www.vernetzung.org) zu beteiligen.




Sozialismus oder Planet B! Die Umweltbewegung antikapitalistisch machen!

Markus Lehner, Neue Internationale 242, November 2019

Wir befinden uns
in einer globalen Notfallsituation – so verkündet es Greta Thunberg
unermüdlich. Und sie hat Recht! Dabei hätte es nicht der unzähligen jungen
Menschen bedurft, um dies zu erkennen. Seit Jahren verdichten sich die
wissenschaftlichen Belege für die Anhäufung globaler ökologischer Probleme, von
denen der menschenbewirkte Klimawandel nur das gravierendste ist. Es hätte
gereicht, die ausführlichen Berichte des UN-Weltklimarates IPCC und seiner
tausenden WissenschaftlerInnen zu lesen, um die Dramatik der Situation zu
verstehen.

Inzwischen ist
der Zusammenhang des Anstiegs menschenverursachter Treibhausgaskonzentrationen
in der Atmosphäre (CO2,
CH4, N2O,…) mit der kontinuierlichen Erhöhung
der globalen Durchschnittstemperatur theoretisch verstanden, experimentell
überprüft und durch langjährige Beobachtung bestätigt. Eine Leugnung dieses
Zusammenhangs hat wissenschaftlich gesehen das Niveau der Hohlwelttheorie oder
ähnlicher Hirngespinste. Damit gibt es auch sehr gut belegte Modelle über die
langfristige Entwicklung der globalen Durchschnittstemperatur je nach weiterem
Anstieg der Treibhausgasemissionen. Gegenüber dem Beginn der Industrialisierung
hat sich diese mittlere Temperatur bereits um mehr als ein Grad erhöht,
allerdings mit einer Tempozunahme in den letzten Jahrzehnten (jetzt bei 0,2
Grad pro Jahrzehnt).

Zunehmende
Dramatik

Da der Abbau der
Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre nur sehr langsam vor sich geht,
erfordert ein Gegensteuern gegen den Erwärmungstrend immer entschiedenere
Maßnahmen zur Einsparung von Nettoneuemissionen (ein Teil der Neuemissionen
wird ja durch natürliche oder technische Systeme absorbiert). Wurden 2010
weltweit etwa 40 Gigatonnen CO2
netto emittiert, so erfordert die Begrenzung der mittleren Temperaturerhöhung
bis 2100 auf 1,5 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit (das „Pariser
Klimaziel“), dass dieser Nettobetrag bis 2030 auf unter 20 Gigatonnen und bis
2050 auf die Nettonull reduziert wird – dies allerdings immer noch mit dem
Risiko von 50 %, dass der Temperaturanstieg höher liegen kann, also immer
noch z. B. die 2-Grad-Grenze übersteigt.

Diese
Temperaturdurchschnittswerte, ihre langfristigen Tendenzen und die so
definierten Grenzwertüberlegungen sind deswegen so wichtig, da sie unmittelbar
mit schwerwiegenden klimatischen Veränderungen zusammenhängen. Aufgrund der
ungleichen Verteilung dieser Temperaturerhöhungen weltweit sind bestimmte
Regionen härter betroffen als andere. So ist insbesondere die Veränderung der
polaren Regionen dramatisch. Inzwischen schmilzt z. B. die Eisdecke im
Nordpolarmeer im Monat Februar jede Dekade um 2,7 % mit zunehmender
Tendenz, wobei die Durchschnittstemperatur am Nordpol mit doppelt so hoher Geschwindigkeit
wie global steigt. Die Auswirkungen auf Klima, Meeresströmungen und -spiegel
sind dramatisch. Die polare Erwärmung führt in subpolaren Gebieten zum Auftauen
des Permafrostbodens, wodurch große Massen an zusätzlichen Treibhausgasen (z. B.Methan)
freigesetzt werden. Gleichzeitig nehmen in (sub-)tropischen Regionen
Dürrephänomene zu. So bewirkt die Klimaveränderung inzwischen z. B. ein
periodisches Zusammenbrechen der Luftströmungen, die bisher die Dürreperioden
für tropische Regenwälder abgemildert haben. Dies führt z. B. im
Amazonasbecken zu einer extremen Zunahme von Waldbränden, die noch durch Agro-
und Bergbauindustrie verstärkt werden. Gerade die tropischen Regenwälder,
bisher einer der wichtigsten globalen CO2-Speicher, geraten immer näher an
Kipppunkte, wo tendenziell große Teile davon zu versteppen drohen. Besonders
was diese zentralen Ökosysteme (Polargebiete, tropische Regenwälder) anbetrifft,
macht die Frage der 1,5-Grad-Grenze einen entscheidenden Unterschied aus. Bei 2
Grad wird das Risiko, die besagten Kipppunkte zu überschreiten, enorm groß.

Natürlich wird
auch ein Planet mit höherem Meeresspiegel, ausgedehnten Wüsten in den
tropischen Regionen, Zusammenbruch bisher für landwirtschaftliche Nutzung
wichtiger Flächen usw. irgendwie weiter für Menschen bewohnbar sein. Er wird
aber kaum mehr für die heutige Zahl an Menschen eine nachhaltige ökologische
Basis für mehr als Subsistenz bieten. Die Klimafolgen werden Unbewohnbarkeit
bestimmter Regionen, Zusammenbruch der Versorgungsbasis vieler Länder und damit
Massenflucht und noch mehr „failed states“ bedeuten, samt Hungerkatastrophen
und Verelendungsphänomenen. Mit anderen Worten: für einen großen Teil der
Menschheit einen Rückfall in die Barbarei.

Die bis hier
dargelegte Analyse werden so oder ähnlich die meisten AkteurInnen der
Klimakonferenzen, auch der diesjährigen COP25 in Santiago de Chile im November,
teilen (natürlich mit wichtigen Ausnahmen wie der US-Regierung, im Unterschied
zum Großteil der US-KlimaforscherInnen). Doch selbst wenn sie die Begründungen
und Folgeschätzungen nachvollziehen, wie die Annahme der Klimaziele auf der
COP21 in Paris zeigt, so heißt dies noch lange nicht, dass die
Unterzeichnerstaaten auch danach handeln. Das globale 1,5-Grad-Ziel und die auf
die verschiedenen Länder heruntergebrochenen Nettoemissionsziele (z. B.
hätte Deutschland bis zur Nulllinie 2050 noch ein Budget von 6,6 Gigatonnen CO2) müssten ja zu einem entsprechenden Plan
für die schrittweise Reduktion je Jahrzehnt und Wirtschaftsbereich führen. Tatsächlich
werden schon die Klimaziele für 2020 von fast allen Ländern krachend verfehlt
und für die entscheidenden Jahre bis 2030 liegen Pläne vor, die ebensolche
Lachnummern sind wie das „Klimapaket“ der deutschen Bundesregierung (bei den
derzeitigen 0,8 GT jährlichen Netto-CO2-Emissionen wird man mit einer fraglichen
Verteuerung der Tonne CO2-Verbrauch
um 10 Euro kaum das 6,6 GT-Ziel erreichen).

Widerspruch
zwischen Wissen und Inaktivität

Es fragt sich
also, warum trotz besserer Einsicht ein globales Handeln für den Erhalt eines
lebensgerechten Planeten nicht möglich zu sein scheint. Dieser eklatante
Widerspruch hat in den letzten Jahren immer wieder zu ökologischen
Protestbewegungen geführt. Auch „Fridays for Future (FFF)“ oder „Extinction
Rebellion (XR)“, die sich in eine lange Kette dieser Bewegungen einreihen,
gehen davon aus, dass die „Einsicht“ noch nicht genug verbreitet sei und es nur
am fehlenden politischen Willen der Regierungen liegen würde, dass nicht
entsprechend gehandelt wird. Es wird davon ausgegangen, dass „die Bevölkerung“
noch zu wenig aufgeklärt sei und mehr Bewegung dazu führe, dass der politische
Druck auch zu entsprechenden Maßnahmen der Regierenden führen werde. Dazu
kommt, dass die verbreitete grüne Ideologie (insbesondere im globalen Norden)
davon ausgeht, dass die Lösungsmöglichkeiten für die ökologischen Probleme
schon „technisch“ vorliegen würden und durch entsprechende „Marktanreize“ eine
Verschiebung zu einem „grünen Kapitalismus“ möglich sei. Voraussetzung wäre
dann nur ein globaler Konsens, eine Einsicht der wirtschaftlich Mächtigen, dass
ein ökologischer Umbau der Ökonomie doch auch im Interesse ihrer langfristigen
Profite liegen würde, es also so wie den „Sozialstaat“ auch einen „Green New
Deal“ geben könnte.

Alle diese Ansätze verkennen, dass es nicht um eine Frage der „Einsicht“ oder des politischen Willens geht, sondern um grundlegende Zwangsgesetze des globalen Kapitalismus. Dieses System ist weder einfach „Marktwirtschaft“, noch basiert es auf „demokratischem Interessensausgleich“ oder den Entscheidungen einzelner „freier“ Individuen – und seien sie selbst mächtige KonzernführerInnen. Kapitalismus basiert auf der Aneignung fremder Arbeit in Wertform und damit darauf, dass die Verwertung von Kapital in Form der stets wachsenden Kapitalakkumulation sich als abstraktes und alles bestimmendes Gesetz der Gesellschaft aufzwingt (was immer die AkteurInnen des Kapitals als „Einzelne“ sich dabei wünschen oder denken). Die Umwelt kommt für das Kapital hierbei als externe (durch Arbeit auszubeutende) Rohstofflieferantin und als ebenfalls externe Senke für die Abfallprodukte des Verwertungsprozesses ins Spiel.

Das Verhältnis des Kapitals zur Umwelt ist daher externalisierend. Wie auch bei der privaten Hausarbeit werden die Kosten für die Beanspruchung auf die Gesamtgesellschaft (bzw. den Planeten) abgeschoben. Auf die natürlichen Regenerationsprozesse, die zwischen Rohstoffnutzung, Verbrauchsresultaten und der Wiederherstellung der Ausgangsstoffe liegen, kann das Tempo der Kapitalakkumulation nicht Rücksicht nehmen. Statt zu nachhaltiger Rohstoffnutzung tendiert das Kapital bei Verknappung von Rohstoffen oder eskalierenden Entsorgungsproblemen daher zu technischen Lösungen, die das Problem aber nur auf eine höhere Ebene heben. So in der kapitalistischen Landwirtschaft, die auf die Auslaugung der Böden durch extensive Nutzung mit dem Einsatz mineralischer Dünger vor allem aus Phosphaten und Stickstoff reagierte. Diese Intensivierung war zwar ein riesiger Fortschritt für die Ernährungssicherheit einer wachsenden Bevölkerung, andererseits aber mit bekannten ökologischen Folgen. Letztlich sind Stickstoffdünger (neben der Viehzucht) durch die resultierende Freisetzung von N2O einer der großen VerursacherInnen des Anstiegs von Treibhausgasen in der Atmosphäre.

Unmöglichkeit
des „grünen“ Kapitalismus

Die Möglichkeit eines „grünen Kapitalismus“ ist daher angesichts des extraktivistischen Wesens der Kapitalakkumulation eine vollständige Irreführung. Im besten Fall sind die „Erfolge“ grüner Politik hierzulande das Resultat des Drucks von Massenbewegungen und der Verlagerung der Umweltprobleme in den globalen Süden. Die massive Verschiebung industrieller Prozesse aus den vormaligen „Industrieländern“ an billigere Standorte (mit weniger sozialen Rechten und ökologischen Auflagen) hat natürlich zu einer scheinbaren Abnahme von Umweltbelastungen im globalen Norden geführt – aber zur enormen Verschärfung von Vermüllung und Naturzerstörung in der halb-kolonialen Welt. Dazu kommt die Zunahme von Umweltbelastungen durch das enorm gestiegene Transportvolumen im „globalisierten“ Kapitalismus.

Daher ist es durchaus richtig, dass die Frage von Individualverkehr hierzulande ein verschwindender Beitrag zur Klimaveränderung ist gegenüber dem „ökologischen Fußabdruck“, den die Metropolen des Nordens insgesamt (vor allem durch die von ihnen beherrschten Konzerne) hinterlassen. Angesichts der Tatsache, dass heute in wesentlichen Bereichen wie Agro-Industrie, Rohstoffgewinnung, Chemie- und Pharmaindustrie, Stahl, Baustoffen etc. der globale Markt unter jeweils 4–5 Großkonzernen aufgeteilt ist, wundert es nicht, dass laut einer Studie des Journals „Climate Change“ (https://link.springer.com/article/10.1007/s10584-013-0986-y) nur 90 Konzerne für zwei Drittel der Treibhausemissionen weltweit verantwortlich sind.

„Climate Justice“-Bewegung

Diese
systemkritischen Analysen wurden von einem anderen, schon länger bestehenden
Teil der internationalen Umweltbewegung, der sich unter dem Motto „Climate
Justice“ (CJ = Klimagerechtigkeit) zusammenfindet, sehr im Gegensatz zu FFF
oder XR zentral thematisiert. Gegründet im Zusammenhang mit den Protesten rund
um die Klimagipfel zu Beginn dieses Jahrtausends und im Zusammenwirken mit den
globalen Sozialforen nahm dieses Netzwerk die Verantwortung der Konzerne und
die auch ökologisch ungerechte Weltwirtschaftsordnung zentral ins Visier seiner
Proteste. Insbesondere rund um die COP15 in Kopenhagen 2009 gründete sich das CJ-Netzwerk,
das zu radikalen Aktionsformen gegenüber Konzernen und den Alibiverhandlungen
der Regierungen in der Klimapolitik aufrief. In Deutschland sind letztlich
„Ende Gelände (EG)“ bzw. die Netzwerke um die „Klimacamps“ das Resultat dieser
Strömung des Klimaprotests.

Sicher ist EG
mit dem Hauptslogan „System Change not Climate Change“ auf einer sehr viel richtigeren
politischen Spur als FFF und XR zusammen. Auch wenn international bei CJ nicht
selbstverständlich, ist die deutsche Strömung deutlich im Lager des
„Antikapitalismus“ verankert. Anders als FFF und XR gibt es bei EG einen
konkreten Angriffspunkt: die Energiewirtschaft und die von ihr forcierte
Braunkohleverstromung als eine Hauptverursacherin von Treibhausgasemissionen
hierzulande. Im Gegensatz zu XR gibt es bei EG keine Illusionen in den
bürgerlichen Staat und seine Sicherheitsorgane, die im Wesentlichen
Konzerninteressen schützen. Die scheinbare Radikalität von XR-Aktionen kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Aktionen „zivilen Ungehorsams“ vor
allem PR-Aktionen sind  („Gewinnung
der Öffentlichkeit“) unter Gefährdung der eigenen AktivistInnen („Aufopferung“)
und bei gleichzeitiger Zusammenarbeit mit dem Staat („PolizistInnen sind auch
vom Klimawandel betroffen“, „keine die Öffentlichkeit verstörende
Gewaltbilder“). Dagegen setzt EG deutlich die Tradition der notwendigen
Konfrontation mit den Systemkräften und der aktiven Mobilisierung zum
Widerstand fort, wie ihn die Sozialforenbewegung zu Beginn des Jahrtausends
begann (so erinnern die Aktionsformen deutlich an die „Tutti Bianchi“, die
Demonstrierenden in weißen Overalls, von Genua und Co.). Während sich FFF und
XR vor allem in Mittelstandsmilieus des globalen Nordens „international“
organisieren, ist CJ auch im globalen Süden oder in Osteuropa in aktivistischen
Milieus vernetzt. So gibt es auch von EG eine wichtige Verbindung zu den
Protesten in den für den europäischen Energiesektor so wesentlichen polnischen
Kohlerevieren.

Beschränkungen

So sehr EG daher
gegenüber XR und FFF politisch weiter links steht, so sind auch dessen
Beschränkungen zu sehen. Einerseits ist EG noch sehr viel stärker auf
studentisches und linkes Milieu konzentriert und findet nur über die Vernetzung
mit einigen lokalen BürgerInneninitiativen eine beschränkte Verankerung darüber
hinaus. Bei FFF gibt es durch das SchülerInnenmilieu wohl die größte
gesellschaftliche Breite. Außerdem haben sie eine wesentliche und für den
Kapitalismus die wohl gefährlichste Kampfform „entdeckt“: den Streik. Auch wenn
dies „nur“ die sehr indirekte Form des „Schulstreiks“ betrifft, so wirkt die
Idee offensichtlich ansteckend. Der Vorstoß, die „globalen Klimastreiks“ (der
nächste Ende November zum COP25) zu einem (wenn auch nur symbolischen)
Generalstreik auch in Produktionsbereichen zu machen, geht in eine richtige
Richtung. Der Druck ist offenbar groß genug, dass sich Gewerkschaftsverbände
„formal“ dem Aufruf anschließen. Wie bekannt, passiert aber in Deutschland
wenig, wenn nicht wirklich in den Betrieben dafür mobilisiert wird. Wie nicht verwunderlich,
wird in Wirklichkeit trotz formeller Bekenntnisse („Beteiligung ja, aber nur
wenn Zeitausgleich möglich“) von den Betriebsräten in den zentralen Industrien
massiv gegen jeden wirklichen Streik gearbeitet. Gerade diese
Auseinandersetzung in den Betrieben um die Frage des Klimastreiks und der damit
verbundenen der klimaneutralen Transformation der eigenen Industrie ist aber in
Wirklichkeit eine entscheidende für eine wirkliche massenhaft erzwingbare
Änderung der Klimapolitik.

Anders als viele Teile der Umweltbewegung verbreiten, sind die Konzepte für eine ökologische Alternative zum gegenwärtigen extraktivistischen Kapitalismus nicht „schon alle da“ und „brauchen nur umgesetzt zu werden“. So überschlagen sich manche Umweltseminare in Schwärmereien von „konkrete Alternativen entwickeln“ jenseits jeglicher Produktionsprozesse und realer Machtverhältnisse. Tatsächlich müssen diese Alternativen in der Energiewirtschaft (z. B. Speichertechnologien), der Bauwirtschaft (z. B. klimaneutrale Baustoffe), Stahlindustrie, Landwirtschaft, Mobilitätsindustrien etc. erst im technischen Detail und der produktionsmäßigen Umsetzung mit viel Arbeitszeit und Kosten ausgearbeitet und umgesetzt werden.

Gesellschaftliche Frage

Der ökologische Umbau ist lange nicht nur eine Frage von „Entscheidungen“, sondern vor allem ein arbeitsaufwändiger Transformationsprozess, der nur gegen den schärfsten Widerstand von Kapitalinteressen und auch nur international durchgesetzt werden kann. Zu glauben, dieser könne durch „Marktanreize“ (siehe die Farce des Zertifikatehandels) oder politische Verhandlungen (siehe „Kohlekompromiss“) erzielt werden, verkennt die Dimension und die Dringlichkeit einer raschen Einleitung dieses Prozesses.

Radikaler als
alle Grün-Parteien und viele Teile der Umweltbewegung zusammen hat die
britische Labour Party auf ihrem letzten Parteikongress ein Programm für die
Klimawende gemäß dem 1,5-Grad-Ziel beschlossen: Kernelement ist dabei, dass der
darin enthaltene Transformationsplan wesentlich die Verstaatlichung von
Schlüsselindustrien beinhaltet, besonders des Energiesektors. Die Frage der
Entwicklung von Alternativplänen zum ökologischen Umbau muss natürlich die
Eigentumsfrage stellen. Wie für eine reformistische Partei wie Corbyns Labour
nicht anders zu erwarten, scheitert auch dieser Ansatz an seiner nationalen
Beschränktheit und der Frage des gesamtwirtschaftlichen Zusammenhangs. Dabei
ist die Vergesellschaftung als internationale Aufgabe heute nicht mehr so
abstrakt, wie es früher einmal schien: Wenn es nur 90 Konzerne sind, die einen
Großteil des Problems international darstellen, dann ist dies, wie auch die
Entwicklung eines internationalen Transformationsplans keine Utopie mehr.
Zentral ist aber natürlich, dass auch verstaatlichte Großkonzerne weiterhin den
Zwängen des globalen Kapitalverwertungsprozesses unterworfen sind und schnell
selbst wieder gemäß der Kapitallogik funktionieren (so ist ja auch Vattenfall
im Besitz des schwedischen Staates, agiert aber weltweit wie jeder andere
Konzern).

Strategische
Alternative

Es ist daher zentral,
dass die soziale Kraft, die der Logik des Kapitals eine tatsächliche
gesellschaftliche Alternative entgegenstellen kann, auch zur zentralen Akteurin
in diesem ökologischen Transformationsprozess wird: die internationale
ArbeiterInnenklasse. So zersplittert, politisch fragmentiert und sozial
differenziert sie auch heute sein mag, so ist sie als Trägerin des
gesellschaftlichen Produktionsprozesses doch die einzige soziale Kraft, die
eine Umwälzung der Ökonomie weg von der Logik der Kapitalverwertung auch real
vollziehen kann. Durch Produktionskontrolle und gesellschaftliche Planung kann
ein Gesamtkonzept des sozialen und ökologischen Umbaus erarbeitet werden, das
auch tatsächlich die ökologischen und ökonomischen Kreisläufe in Einklang
bringt, bei globalem und sozialem Ausgleich der Lasten des Umbaus. Die
ArbeiterInnenklasse war auch diejenige Kraft, die bisher als einzige eine schlagkräftige
internationale politische Organisationen gegen die globale Macht des Kapitals
hervorgebracht hat. Deswegen braucht es auch in der ökologischen Frage ein
Wiederentstehen einer revolutionären Internationale.

Angesichts der
tatsächlichen Situation der weltweiten ArbeiterInnenbewegung, die weit davon
entfernt ist, heute für eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus
revolutionär zu kämpfen (was auch angesichts der ökologischen Krise notwendig
wäre), müssen wir heute versuchen, die bestehenden Kämpfe der Umweltbewegung
und die aufkeimenden Proteste der ArbeiterInnenbewegung rund um den anstehenden
Transformationsprozess mit der weitergehenden sozialistischen Perspektive zu
verbinden. Wie wenig das der Umweltbewegung rund um den Kohleausstieg gelingt,
zeigt die Hilflosigkeit von EG gegenüber der politischen und ökonomischen
Entwicklung in der Lausitz deutlich (siehe dazu den Artikel in dieser Ausgabe).

Es muss klar sein, dass weder das Kapital noch seine Regierung für die vom Kohleausstieg betroffenen ArbeiterInnen irgendeine Glaubwürdigkeit in Bezug auf ihre Zukunftsperspektiven haben – ganz so wie in allen anderen betroffenen Branchen (z. B. Automobilindustrie). Notwendig ist daher ein Programm der ArbeiterInnenkontrolle über den Umbauprozess der Industrie, das die Entwicklung von Alternativen und ökologisch sinnvollen Technologien in den Betrieben im Verbund mit der sozialen Absicherung der Beschäftigten vorantreibt. Was wir brauchen, sind keine „BürgerInnenversammlungen“, die ausgelost werden und ohne Macht über den Produktionsprozess sind (wie XR es vorhat), sondern Kontrollausschüsse und sich in der Auseinandersetzung entwickelnde ArbeiterInnenräte, die den Umbauprozess konkret durch ihre Verankerung im eigentlichen Produktionsprozess auch umsetzen können. Gerade auf Grundlage dieser Produktionskontrolle durch die Beschäftigten kann auch die Struktur in den Konzernen geschaffen werden, die eine internationale Vergesellschaftung der HauptverursacherInnen der Treibhausgasemissionen realisiert.

Eigentumsfrage

Es ist klar,
dass diese Machtfrage in den Konzernen nicht ohne schweren politischen Kampf
vor sich gehen kann – schon das dagegen geringe Problem der Teilnahme am
globalen Klimastreik stellt ja in Deutschland die berühmte Frage des
„politischen Streiks“ auf die Tagesordnung. Nur die Vorstellung davon stürzt schon
sämtliche Gewerkschaftsführungen hierzulande in kollektives Entsetzen. Dieser
Kampf kann nur im Kampf um eine neue Führung der ArbeiterInnenbewegung gewonnen
werden wie auch in der Durchsetzung entschlossener Kampfformen gegen das
Kapital. Dies wird unweigerlich auch den Kampf um die politische Macht
beinhalten. Speziell auch deswegen, da eine wirkliche Klimawende auch einen
demokratischen Gesamtplan des Umbaus benötigt. Es wird immer klarer, dass die
Alternative entweder die Durchsetzung einer wirklich sozialistischen und
ökologischen Planwirtschaft ist – oder wir müssen langsam nach einem Planet B
suchen!




Kampf gegen Pflegenotstand: Perspektive Massenstreik!

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Oktober 2018

Vom 19. – 21. Oktober findet in Stuttgart ein Kongress auf Einladung des Bündnisses „Krankenhaus statt Fabrik“ zum Thema „Was kommt nach den Fallpauschalen?“ statt. Das Bündnis besteht derzeit aus den ver.di-Landesfachbereichen 03 Baden-Württemberg, Berlin-Brandenburg und Nordrhein-Westfalen, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, der Soltauer Initiative sowie Einzelpersonen und wendet sich gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und insbes. das deutsche System der Krankenhausfinanzierung durch sog. Fallpauschalen (DRGs). Schließlich lädt das Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus zu einem bundesweiten Treffen aller Bündnisse gegen den Pflegenotstand am 9./10. November in Hamburg ein.

Dieses Flugblatt soll allen KollegInnen und Interessierten, die es nicht bei Diskussionen belassen, sondern den Kampf gegen den Pflegenotstand aufnehmen wollen, unsere Ziele und Vorschläge, wie dieser effektiv geführt werden kann, unterbreiten. Nutzen wir die Konferenzen gemeinsam zu einem Startsignal für aktives Handeln statt ergebnisloser Debattenrunden!

Aktionen und Initiativen

Grob gesagt gibt es 3 Stoßrichtungen: Lobbypolitik gegenüber den Regierenden, Tarifkämpfe und eine Ausrichtung auf Volksentscheide. Ver.di als potenziell mächtigste Kraft reitet mittlerweile auf allen drei Pferden. In Berlin gelang es dem Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus, in der 1. Stufe des Volksentscheids für ein Volksbegehren, dem Senat mehr als doppelt so viele Unterschriften wie nötig (über 40.000) zu präsentieren. Der Senat prüft die Zulässigkeit des Antrags juristisch. Das kann eine Ewigkeit dauern. Wir unterstützen Volksentscheidsinitiativen kritisch und beteiligen uns nach Kräften an ihnen. Wir weisen aber darauf hin, dass selbst bei einem positiven Ausgang die Regierung(en) nicht daran gebunden ist/sind.

Streiken – aber richtig!

Wäre mit der gleichen Begeisterung, mit der zahlreiche Aktive sich jetzt für Volksentscheide ins Zeug legen, gestreikt worden, sähen die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal bedeutend besser aus. Der Arbeitskampf an der Berliner Charité spielte eine Vorreiterrolle. Neuartige Streikformen (Bettenstreik, TarifberaterInnen) führten 2016 dort zu einem Tarifvertrag (TV) Entlastung. Die Achillesferse neben einer nur für Teilbereiche geltenden Personalregelung stellte jedoch die schwerfällige sog. Interventionskaskade dar.

Das Personal besaß keine Kontrolle über seine Arbeitsbedingungen, durfte z. B. keine Betten sperren. Nach einjährigem Testlauf kündigte ver.di den TV. Doch 2 Streiktage im September 2017 führten zu keiner besseren Regelung. Das Beispiel ihres ins Stocken geratenen Paradepferds veranlasste darum mutmaßlich die ver.di-Bürokratie, die Gäule zu wechseln und das Terrain des ökonomischen Klassenkampfs zu verlassen – zugunsten bürgerlich-demokratischer „Kampf“formen. Doch das sind selbstgemachte Leiden!

Auseinandersetzungen und beachtliche Teilerfolge

Nach der Gesundheitsministerkonferenz am 20. Juni 2018 gab es Warnstreiks an den Unikliniken Homburg/Saar und im Klinikum Niederlausitz. Die Vollstreiks an den Unikliniken Essen und Düsseldorf kamen ebenso zu einem Abschluss wie ein 51-tägiger Ausstand der Vivantes Service GmbH (VSG Berlin). Am 22. September demonstrierten 1.500 in Hamburg und forderten, die Vorschläge der Volksinitiative gegen den Pflegenotstand im Krankenhaus sofort umzusetzen.

Seit Mai gibt es für 27.000 Beschäftigte an den 4 Universitätskliniken Baden-Württembergs eine Einigung über 120 neue „SpringerInnen“, wenn der Personalschlüssel unterschritten wird. In Düsseldorf und Essen währte die Tarifauseinandersetzung seit Juni. In beiden Regionen führten Streiks zu beachtlichen Resultaten!

Eine PatientInneninitiative sammelte in Düsseldorf 5.000 Euro und Unterschriften für die Unterstützung des Streiks. Während die VSG-Berlin-Beschäftigten auf sich allein gestellt kämpften, war das hier anders. Es traten nahezu alle Berufsgruppen in den Ausstand, was erheblich dazu beitrug, alle Widrigkeiten zu überwinden (lange Streikdauer, anfänglich verweigerte Verhandlungsbereitschaft der Klinikdirektionen – zuständig sei die Tarifgemeinschaft der Länder, diese drohte mit Abbruch der Verhandlungen der Gehaltstarifrunde im gesamten öffentlichen Dienst der Länderbeschäftigten NRWs).

Das führte zu einem Schlichtungsergebnis, das mit über 70 % in der Urabstimmung angenommen wurde: bis Oktober 2019 je 180 Stellen mehr pro Haus, Auszubildende werden nicht auf den Schichtplan angerechnet, müssen unter Aufsicht einer Fachkraft arbeiten, 10 % ihrer Ausbildung besteht aus Praxisanleitung. Der Pferdefuß ähnlich wie an der Charité Berlin: Besetzungsregelung und Interventionsregime liegen in der Hand des Managements!

Fazit

  1. Relativ isolierte Einzelstreiks des Pflegepersonals haben bisher mehr gebracht als alle Volksentscheidsinitiativen und jedes Katzbuckeln mit Unterschriftenlisten bei „der Politik“!
  2. Nicht Streiks sind das Problem, sondern ihre Beschränktheit auf einzelne Haustarifverträge!
  3. Nicht die politische Bedeutung des Kampfs gegen Pflegenotstand ist falsch, sondern zahnlose Lobbypolitik, die Orientierung auf dessen VerursacherInnen als Erlösung davon! Wir brauchen unsere eigenen politischen Kampfmethoden mit politischen Massenausständen, – besetzungen und -solidaritätsaktionen bis hin zum Generalstreik!
  4. Plan- statt Marktwirtschaft von unten (nicht nur) im Krankenhaus!