1848 und die Linke

Martin Suchanek, Infomail 1237, 15. November 2023

Der folgende Text ist ein Redemanuskript, das dem Beitrag bei der von Platypus Leipzig am 2. Oktober durchgeführten Veranstaltung zu „1848 und die Linke“.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (Marx, 18. Brumaire des Louis Bonaparte)

Betrachten wir die Revolution von 1848, so brachten wir sie als Revolutionär:innen vom Standpunkt der Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts, ihre Verwerfungen, Aufgaben – nicht und nie bloß in einer geschichtlichen Rückschau.

Diese Bemerkung erklärt aber, warum ein großer Teil der sog. Linken – inklusive derer, die sich selbst radikal nennen, so wenig Interesse an der Revolution von 1848 und auch anderen Revolutionen der Vergangenheit haben. Nehmen wir nur den Oktober 1923, dessen Niederlage einen weltgeschichtlichen Wendepunkt darstellte.

Die Revolution von 1848 stellt auch einen solchen weltgeschichtlichen Wendepunkt dar, weil sie die Parameter der Klassenverhältnisse und revolutionärer Politik damals und bis heute mitprägt. Worin besteht das, dazu thesenhaft.

1. Die REVOLUTION von 1848 war eine internationale Revolution

Auch wenn sie – wie viele Revolutionen – unvorhergesehen, wenn sie, in Marx Worten, in Frankreich mit einer „Überrumpelung“ beginnt, so breitet sie sich über ganz Europa aus.

Sie ist kein nationales Ereignis, sondern ein internationales, auch wenn es Deutschland und Osteuropa um den die Nachvollziehung der bürgerlichen Revolution geht.

2. Die Revolution von 1848 ist zwar eine gescheiterte bürgerliche Revolution, zugleich aber geht sie schon über diese hinaus und zwar in mehrfacher Hinsicht.

– Erstens verbindet die Entwicklung in England und jene auf dem Kontinent die Frage der sozialistischen mit der bürgerlichen Revolution.

  • Zweitens zeigen alle Revolution und Erhebungen in Europa, dass das Bürger:innentum nicht mehr zu einer entschlossenen, konsequenten Revolution gegen die Dynastien und das alte Regime fähig ist. Die bürgerliche und kleinbürgerlichen Parteien Deutschland, Frankreich, Österreich usw. ziehen letztlich die Niederlage einer zu weit gehenden Revolution vor.

  • – Dies hängt drittens untrennbar mit der Entwicklung des Klassenkampfes und dem Hervortreten der Arbeiter:innenklasse als eigenständiger, unabhängiger revolutionärer Kraft zusammen, vor allem und zuerst in Frankreich. Die Klasse der Lohnabhängigen trägt auch gemeinsam mit den unteren Schichten des städtischen Kleinbürger:innentums die Hauptlast der Revolution.

  • Daher enthalten viertens das Programm der Arbeiter:innenklasse – wie im Kommunistischen Manifest, aber sehr viel genauer in den Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland im März 1848 dargelegt – sehr radikale Eigentumsforderungen und Übergangsforderungen.

  • Die Revolution enthält also fünftens schon wichtige Aspekte der permanenten Revolution, der Revolution in Permanenz, der Verbindung von demokratischen Aufgaben – nationale Einheit, Demokratie und Republik, Landfrage, Abschaffung aller feudalen Überreste – mit Fragen der proletarischen Revolution. Schon im Kampf treten letztlich Proletariat und Bürger:innentum als Kräfte auf, die um die Führung der Revolution im Streit liegen.

  • Die Revolution zeigt die Notwendigkeit der Organisierung der Arbeiter:innenklasse als eigenständige politische Kraft, als Partei, im Gegensatz zu anderen Klassen – auch als Voraussetzung für Taktik und Bündnispolitik gegen die Reaktion.

3. Das Scheitern der Revolution führt Marx und Engels zu einer schonungslosen und nüchternen Neubestimmung der Aufgaben von Revolutionär:innen.

Das schließt natürlich auch ein, dass wir heute in der Politik und Analyse von Marx und Engels auch wichtige Schwächen und Fehler kritisch benennen müssen. Das bezieht sich z. B. auf die falsche Konzeption von historischen und geschichtslosen Völkern, die sie, wie Rosdolsky in „Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen’ Völker“ zeigt, von Hegel letztlich unkritisch übernehmen. Es bezieht sich aber auch auf die Frage der eigenständigen Arbeiter:innenorganisation, deren Wichtigkeit erst mit dem Niedergang der Revolution deutlicher hervorgehoben wird.

Jetzt aber zu den positiven Lehren:

  • Anerkennung der Niederlage der Revolution. Ablehnung der Vorstellung, dass diese künstlich wiederbelebt werden könne.

  • Hinwendung zur tieferen, ökonomischen Analyse der Verhältnisse. Die Niederlage wird nicht einfach aus politischen Fehlern und Verrat erklärt, sondern auch aus einer Unreife der Arbeiter:innenklasse, die ihrerseits durch die Unreife der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in Deutschland, tw. in Frankreich verursacht ist.

  • Zugleich tritt das Proletariat schon so sehr in Erscheinung, dass das Bürger:innentum als revolutionäre Klasse ausfällt, vor dem Kampf zurückschreckt, weil das Proletariat zu weit gehen könnte, den bürgerlich Rahmen der Verhältnisse in Frage stellen könnte. Umgekehrt betrachten Marx und Engels die bürgerliche Revolution nur als Übergangsstadium.

  • Die Konterrevolution kann sich auf die Erschöpfung der revolutionären Klassen stützen – unreifes Proletariat, zögerliche bürgerlich/kleinbürgerliche demokratische Kräfte – aber auch auf „Mittelklassen“ und die Bäuer:innenschaft auf dem Land. Der Sieg der Konterrevolution nimmt eine spezifische Form an, führt zur Etablierung eines bonapartistischen Staatsapparates oder Regimes. Am klarsten in Frankreich, aber auch in Preußen.

  • Die gescheiterte Revolution macht auch deutlich, dass die Arbeiter:innenklasse die bürgerliche, bürokratische Staatsmaschinerie, die mehr und mehr perfektioniert wird, nicht einfach in Besitz nehmen kann für ihre Zwecke. Der bürgerliche Staat muss vielmehr zerschlagen werden, damit eine wirkliche Volksrevolution mit dem Proletariat an der Spitze siegen kann.

4. Warum kräht 2023 kaum jemand nach der Revolution 1848?

Das hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass 175 Jahre ein etwas sperriger Jahrestag sind. Auch die Revolution von 1923 interessiert wenig, ob wir den 100. Jahrestag erleben.

Der Grund ist eine andere. Für Marxist:innen ist die Betrachtung vergangener Revolution untrennbar mit der Betrachtung zukünftiger verbunden. Oder wie Marx formuliert: die soziale Revolution schöpft ihre Poesie auf der Zukunft.

Für eine Linke jedoch, für deren große Mehrheit die Revolution ein toter Hund, eine Utopie, eine bloße Erinnerung an die Vergangenheit geworden ist, gibt es auch keine Lehren aus der Revolution.

Die heutige Linke steht in ihrem Verhältnis zur Revolution von 1848 allenfalls auf dem Standpunkt des radikalen Kleinbürger:innentums von 1848, das die Revolution irgendwie wollte, aber auch nicht zu viel und zu radikal. Heute will man eine entschlossene, transformatorische Reformpolitik, Sozialismus, aber im Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staatsgebäudes.

Nur wenn die sozialistische Umwälzung, nur wenn die Revolution als reale Möglichkeit und Aufgabe unserer historischen Periode begriffen wird – als einzige wirkliche Antwort auf die Krise des Kapitalismus, auf den Krieg, auf die ökologische Zerstörung, auf Rassismus und zunehmende Reaktion in allen Formen – nur dann können überhaupt die Lehren vergangener Revolutionen fruchtbar gemacht werden.




Friedrich Engels zum 200. Geburtstag

Gerald Falke, Neue Internationale 251, November 2020

Anlässlich des Geburtstagsjubiläums von Friedrich Engels bietet sich die Gelegenheit, im Rückblick die Bedeutung seiner Leistungen zu resümieren. In den üblichen Einschätzungen erscheint er oft lediglich als eine Art Schattenexistenz von Karl Marx. Sofern die Unterschiedlichkeit der beiden betont wird, gilt Engels oft als der Empiriker gegenüber dem Theoretiker Marx, als passiver Poet gegenüber dem aktiven Philosophen oder gar als der Reformer gegenüber dem Revolutionär. Manche werfen Engels sogar vor, er habe die Marx’sche Theorie naturalisiert und eine Grundlage für verschiedene Probleme und Fehlentwicklungen geschaffen.

Ein Leben gegen Ausbeutung und Unterdrückung

Am 28.11.1820 wurde Engels in der preußischen Stadt Barmen als Sohn einer Unternehmerfamilie geboren. Diese galt als pietistisch fromm. In seinem Umfeld waren durch den Einfluss der bürgerlichen Revolution in Frankreich und Napoleons Eroberungen die feudalen Lebensbedingungen vorübergehend bereits den bürgerlichen Verhältnissen mit einer sich entfaltenden Industrie gewichen. Nach dem Besuch eines Gymnasiums begann er im Betrieb seines Vaters eine kaufmännische Lehre, die er bei einem Großhandelskaufmann in Bremen fortsetzte. Seine eindrucksvolle Korrektheit und Zuverlässigkeit wurden hierbei besonders ausgeprägt.

In seiner Jugend entwickelte er bereits ein Interesse an sozialen Verhältnissen seiner Umgebung, in denen schwierige und unsichere Bedingungen vorherrschten und beispielsweise beinahe die Hälfte aller Kinder im Schulalter bereits zur Arbeit in den Fabriken gezwungen war. Im Zuge der internationalen Geschäftsreisen seines Vaters bekam er dann frühzeitig eine weltoffene Sichtweise. Er erlernte mit geringem Aufwand verschiedene Sprachen, fertigte gerne Zeichnungen und Karikaturen vom Leben und Treiben der Menschen an und begeisterte sich für die Geschichte, besonders verschiedene Freiheitskämpfe. Er schrieb auch leidenschaftliche Gedichte und wollte – angeregt durch die musikalischen Vorlieben seiner Herkunftsfamilie – als Komponist von Chorälen und Sänger der Freiheit bekannt werden. Anonym oder auch unter einem Pseudonym veröffentlichte er „Briefe aus dem Wuppertal“.

Weg zum Kommunismus

Im Zuge seines Militärdienstes in Berlin besuchte er Vorlesungen an der Universität und im jung-/linkshegelianischen „Doktorclub“, dem Marx, Bauer, Köppen, Stirner und andere angehörten. Aufgewühlt von seiner Befassung mit Hegel, Feuerbach und Strauß, den hier diskutierten fortschrittlichen Ideen und der darin bemerkten Unversöhnlichkeit von Religion und Philosophie zweifelte er zunehmend an der Richtigkeit seiner Religiosität und entschied sich letztlich für die vorwärtsweisende Vernunft. Dem war bereits seine Empörung über den Zwiespalt zwischen dem religiösen Mystizismus in seiner Heimat und der praktischen Menschenverachtung im sozialen Leben vorausgegangen. Mit der Veröffentlichung einer Kritik an der Philosophie Schellings machte er sich in Berlin schon in jungen Jahren einen Namen. Er konzentrierte sich bereits in dieser Zeit auf das Zusammenwirken von Politik und Philosophie, die Einheit von revolutionärer Theorie und praktischem Handeln. Dadurch distanzierte er sich von der junghegelianischen Vorstellung, die das Wort bereits für die eigentliche Tat hielt.

Gerne schrieb er aber zunächst weiterhin Gedichte und Prosastücke, unter denen sich auch eine Komödie und eine Liebesgeschichte finden. Dabei nutzte er die Literatur zunehmend als ideologische Waffe für den Fortschritt der Menschheit. Explizit politische Texte veröffentlichte er in dieser Zeit noch weiter anonym oder als Friedrich Oswald. Anschließend hielt er sich zum Abschluss seiner kaufmännischen Ausbildung in England auf, wo er die irische Arbeiterin Mary Burns kennenlernte, mit der er eine Lebensgemeinschaft begann. Diese Beziehung trug wesentlich zur Ausbildung und Festigung seines Klassenstandpunktes bei.

Auf einer Durchreise traf er 1842 in Köln erstmals mit Marx zusammen, der ihn aber zunächst für einen Verbündeten der Junghegelianer hielt und deshalb etwas distanziert blieb. Immerhin verfasste Engels einige Korrespondenzen für die  „Rheinische Zeitung“, deren Chefredakteur Marx wurde, und begann mit diesem einen Briefwechsel. In der Folge kooperierten beide nach Möglichkeit in direktem Austausch, begannen eine lebenslange feste Freundschaft und unternahmen auch gemeinsame Reisen. Als erstes Gemeinschaftsprojekt verfassten sie eine Kritik an spekulativ idealistischen Vorstellungen in ihrer Kritik der kritischen Kritik, die damit als die „Heilige Familie“ in die Geschichte einging.

Marx und Engels

In England fand Engels einen sehr weitgehend entwickelten Kapitalismus mit ausgeprägten Klassenkämpfen vor. Die englische Bourgeoisie konnte bereits 1688 dem Feudalismus die Vorherrschaft abringen und das Proletariat konnte schon 1824 die Anerkennung der Trade Unions durchsetzen. Manchester war nicht nur der langjährige Arbeitsort von Engels, sondern auch das Zentrum der Textilindustrie und der Bewegung der ChartistInnen für politische und soziale Reformen. Vor diesem Hintergrund setzte sich Engels eingehend und systematisch mit den sozialen und politischen Verhältnissen auseinander, sah sich in den englischen Städten um, nahm an öffentlichen Versammlungen teil, arbeitete an verschiedenen Zeitungen mit und publizierte auch in den in Frankreich erschienenen „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“.

Als die „Rheinische Zeitung“ verboten wurde, ging Marx nach Paris und gründete dort mit Arnold Ruge die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“. Nachdem Marx jedoch 1845 ausgewiesen wurde, gründete Engels im Folgejahr in Brüssel ein Kommunistisches Korrespondenzkomitee. Mit 27 Jahren trat er dem von deutschen Handwerksgesellen in Paris gegründeten „Bund der Gerechten“ bei und erhielt auf dessen 2. Kongress mit Marx das Mandat zur Abfassung eines Parteiprogramms, das als „Kommunistisches Manifest“ in die Geschichte eingehen sollte.

Zur Bedeutung des proletarischen Klassenstandpunktes fand Engels vor allem durch seine Analysen der bürgerlichen Ökonomie, Marx wiederum durch seine Auseinandersetzung mit der Hegel’schen Philosophie, was dieser kurz so ausdrückte: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, …“ (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 391).

Zu Kommunisten wurden Marx und Engels im Zuge ihrer internationalen Erfahrungen. Engels durch seine Mitarbeit in der englischen sozialistischen Presse, Marx durch den Einfluss der französischen SozialistInnen.

Nach der Rückkehr in seine Heimat 1848 und einem Engagement für eine „rote Republik“ musste Engels in die Schweiz fliehen, konnte aber nach einigen Monaten wieder nach Köln zurückkehren. Infolge seiner Beteiligung am bergischen Aufstand wurde er vorübergehend verhaftet und musste abermals fliehen.

Mit 30 Jahren begann er schließlich eine unternehmerische Tätigkeit in der väterlichen Firma in Manchester, die er über zwei Jahrzehnte beibehielt. Inzwischen hatte sich Marx in London niedergelassen, was den Kontakt erleichterte, der mithilfe eines beinahe täglichen Briefwechsels ergänzt wurde.

Danach konnte er sich mit einer Abfindung aus dem Geschäft zurückziehen und sich propagandistischen und organisatorischen Tätigkeiten widmen. Durch seine Sprachkenntnisse führte er auch zahlreiche internationale Korrespondenzen. Er übersiedelte nach London und wurde Mitglied des Generalrats der 1864 von Marx gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation, an deren Kongress 1872 in Den Haag er mit Marx teilnahm.

In dieser Ersten Internationale gab es intensive Auseinandersetzungen mit anarchistischen und blanquistischen Vertretungen. Vor diesem Hintergrund und den Erfahrungen der Pariser Kommune vertraten Marx und Engels die Bildung einer politischen Partei, um dem Proletariat ein Handeln als Klasse zu ermöglichen. Nach kurzer Zeit existierte aber diese Internationale nicht mehr, was die Gründung einer neuen erforderte.

Ein wesentlicher Impuls dazu ging von der deutschen ArbeiterInnenbewegung aus. Der 1863 von Lassalle gründete Allgemeine Deutschen Arbeiterverein und die von Wilhelm Liebknecht und Bebel gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei kamen 1875 zu einem gemeinsamen Kongress in Gotha zusammen und beschlossen dabei ein gemeinsames Programm. Nach einem folgenden Kongress in Erfurt entstand aus der in Gotha gegründeten Sozialistischen ArbeiterInnenpartei in der Folge die Sozialdemokratische Partei.

Marx und Engels betrachteten die Bildung einer gemeinsamen ArbeiterInnenpartei als enormen Fortschritt, sahen sich aber genötigt, deren theoretische und programmatische Fehler einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Mit Marx formulierte Engels eine deutliche Kritik daran, besonders an den Illusionen in die mögliche Rolle von Produktionsgenossenschaften, den „Volksstaat“ und die demokratische Republik. Immerhin galt ihnen als einzig mögliche Übergangsperiode von der kapitalistischen in eine kommunistische Gesellschaft die zwischenzeitliche revolutionäre Diktatur des Proletariats.

Nach dem Tod von Marx engagierte sich Engels weiter für einen Fortschritt in der internationalen Organisierung der ArbeiterInnenklasse und trug nach anfänglichen Vorbehalten maßgeblich zur Bildung der Zweiten Internationale bei. Letztlich wurde er 1893 auf dem Internationalen Sozialistischen ArbeiterInnenkongress in Zürich noch Alterspräsident. Nach einem Kuraufenthalt starb er schließlich 1895 in London.

Ein Werk für den Sozialismus

Engels‘ theoretisches Werk war stets darauf ausgerichtet, die Erkenntnisse von den Natur- bis zu den Sozialwissenschaften, von den allgemeinsten Problemstellungen der Philosophie  bis zu besonderen Fragestellungen der Militärgeschichte einzubeziehen, und erreichte in der Folge einen paradigmatischen Einfluss auf vielfältige Wissenschaftsgebiete.

Mit seinem Werk „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ zeichnete er die ersten materialistischen Ansätze in der deutschen Philosophiegeschichte nach, verwies zugleich auf deren innere Schranken und deren Überwindung durch den wissenschaftlichen Sozialismus.

Nachdem für Dühring die Lehren von Marx lediglich rückständige und wüste Konzeptionen mit logischer Fantasterei waren und sein Einfluss erheblich angewachsen war, entschied sich Engels zu einer Erwiderung, daran anknüpfend einer grundlegenden Darlegung seiner mit Marx entwickelten dialektischen Methode und sozialistischen Weltanschauung, in der Fragen der Philosophie, Ökonomie, Geschichte und vielfältiger anderer Wissenschaften behandelt wurden. Mit „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring)“ schuf er aber ein Werk, das sich für die Gewinnung  der ArbeiterInnenklasse für den Marxismus als hervorragend geeignet erwies. Bis heute stellt es eine Pflichtlektüre für jede/n kommunistische/n RevolutionärIn dar.

Seine „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, in der er die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und besonders die Auswirkung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln für elementare Entfremdungen, gesellschaftliche Spaltungen und zwischenmenschliche Feinseligkeiten nachzeichnete, inspirierten Marx zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie.

In „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ klagte er die englische Bourgeoisie des Raubes, des Mordes und anderer Verbrechen an, entwickelte die Theorie für die erforderliche Selbstbefreiung des Proletariats und schuf auch eine wesentliche Grundlage für die wissenschaftliche Soziologie.

In „Der deutsche Bauernkrieg“ und seiner „Einleitung zu Marx’ ‚Der Bürgerkrieg in Frankreich’“ zeigte sich Engels‘ ausgeprägtes Interesse für militärische Aspekte und deren gesellschaftlichen Zusammenhänge. Wegen seiner vielfältigen militärwissenschaftlichen Studien erhielt er im Freundeskreis den Spitznamen „General“. Auch praktisch verteidigte er 1849 aktiv die Aufständischen in Elberfeld und beteiligte sich wenige Wochen später am Bürgerkrieg in Baden und in der Pfalz. Dabei plante er die militärischen Aktionen mit und nahm auch an mehreren Gefechten teil.

„Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ wurde ein Standardwerk, das zeigt, wie die jeweils neuen Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sich in eine systematische Konzeption zusammenfügen lassen. Neue und verbesserte Erkenntnisse zu einzelnen Abschnitten widerlegen nicht die darin entwickelte Methode, sondern verweisen auf die ständig notwendige Weiterentwicklung solcher Werke.

Seine „Dialektik der Natur“ war von ihm nicht in der erschienenen Publikationsform gedacht. Vielmehr sind darin einzelne Fragmente mit vielfältigen anschaulichen Beispielen zur objektiven Dialektik in der Natur zusammengefasst, was in der stalinisierten Sowjetunion dann zur Naturalisierung der Geschichtsschreibung missbraucht wurde.

Weit über seinen ursprünglichen Anlass bekannt wurde seine „Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891“. Dort polemisierte er vor allem gegen den Forderungsteil des sog. Erfurter Programms, das entscheidenden Fragen ausweiche und damit die Möglichkeit eines Hineinwachsens in den Sozialismus selbst in der deutschen Monarchie suggeriere.

In seinem „Grundsätze des Kommunismus“ entwickelte er bereits eine wesentliche  Grundlage des von Marx verfassten „Kommunistischen Manifests“.

Nachträglicher Missbrauchsversuch

Bernstein, der 1899 eine klar reformistische Grundlegung vorlegte und damit eine grundlegende Diskussion zur Ausrichtung der Sozialdemokratie eröffnete, kritisierte nicht nur den revolutionären Marxismus, den er in einer zerstörerischen blanquistischen Tradition stehend sah, sondern berief sich auch auf Engels, der am Ende seines Lebens der parlamentarischen Tätigkeit und den gesetzlichen Mitteln zur gesellschaftlichen Demokratisierung mit dem Stimmzettel den Vorzug gegeben und die Zeit ungesetzlicher Umstürze für überwunden erklärt habe.

Damit wollte er Engels in Opposition zu Marx bringen, der in der Frage der möglichen Herrschaftsform der ArbeiterInnenklassse unmissverständlich auf die Erfahrungen der Pariser Kommune hinwies.

In Wirklichkeit kann von diesem Gegensatz keine Rede sein. Bereits in jungen Jahren entwickelte Engels die Überzeugung, dass eine Verbesserung der materiellen Lage des Proletariats eine gewaltsame Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert. 1842 verkündete er die Notwendigkeit einer sozialen Revolution, in der „nur eine gewaltsame Umwälzung der bestehenden unnatürlichen Verhältnisse, ein radikaler Sturz der adligen und industriellen Aristokratie die materielle Lage der Proletarier verbessern kann.“ (Engels, Innere Krisen, in: MEW 1, Dietz, Berlin/Ost, 1956, S. 460)

Engels brandmarkte zeitlebens die bürgerliche Rechtsstaatlichkeit als bloß scheinbare Gerechtigkeit, die politische Freiheit als Scheinfreiheit der übelsten Knechtschaft und die politische Gleichheit der bürgerlichen Demokratie als Heuchelei zur Verhüllung der despotischen Herrschaft des Kapitals. Wenn soziale Übel mit demokratischen Mitteln überwunden werden sollen, muss die Demokratie eine soziale werden – geleitet vom Prinzip des Sozialismus. Echte Freiheit und Gleichheit bedeuten Kommunismus.

Der sozialdemokratische Reformismus bezieht sich nun freilich nicht auf solche Aussagen, sondern auf einige Kommentare von Engels angesichts der Entwicklungen in Amerika, England und Frankreich sowie der Wahlerfolge der deutschen Sozialdemokratie. Hieran knüpfte sich nämlich der Eindruck einer neuen proletarischen Kampfweise am Ende des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt einer parlamentarischen Form eines friedlichen Übergangs der bürgerlichen in eine sozialistische Gesellschaft. Für einen solchen Fall beschrieb Engels die demokratische Republik als besondere Form der Diktatur des Proletariats.

Er ergänzte allerdings die parlamentarische Ausrichtung ausdrücklich mit der Forderung, dass alle politische Macht tatsächlich in der Volksvertretung konzentriert sein müsste und betonte angesichts des Verbots eines offen republikanischen Parteiprogramms in Deutschland, „wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft.“ (Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: MEW 22, Dietz, Berlin/Ost, 1977, S. 235)

Engels sah im Wahlrecht nicht einfach ein „Werkzeug zur Befreiung“, sondern auch ein mögliches „Instrument der Regierungsprellerei“. Speziell in den nordamerikanischen Verhältnissen stellte er fest, wie aus der Politik ein Geschäft werden kann, in dem „zwei große Banden politischer Spekulanten“ mit den korruptesten Mitteln für sich ausbeuten lassen.

Anstelle der Vorstellung einer Machtergreifung durch eine parlamentarische Mehrheit warnte er, „daß die Herrschenden noch lange vor diesem Zeitpunkt gegen uns Gewalt anwenden werden; das aber würde uns vom Boden der Stimmenmehrheiten auf den Boden der Revolution führen.“ (Engels, Antwort an den ehrenwerten Giovanni Bovio, in: MEW 22, Dietz, Berlin/Ost, 1977, S. 280)

Und zur speziellen Frage, ob künftig der Straßenkampf unbedeutend werden würde, erklärte er noch in seinem Todesjahr: „Durchaus nicht. Es heißt nur, daß die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. Ein künftiger Straßenkampf kann also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente aufgewogen wird. Er wird daher seltener im Anfang einer großen Revolution vorkommen als im weiteren Verlauf einer solchen und wird mit größeren Kräften unternommen werden müssen.“ (Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, in: MEW 22, Dietz, Berlin/Ost, 1977, S. 522)

Der Freund Engels

Engels unterstützte Marx mit regelmäßigen finanziellen Zuwendungen, überarbeitete dessen englische Zeitungsartikel und sorgte beispielsweise dafür, dass dessen schwer entzifferbare Nachlassfragmente des 2. und 3. Bandes des „Das Kapital“ zeitnah nach dessen Tod veröffentlicht werden konnten. Einen geplanten 4. Band konnte er nicht mehr fertigstellen.

Die lebenslängliche Freundschaft mit Marx wurde lediglich einmal eingetrübt, nämlich infolge dessen teilnahmsloser Reaktion auf den Tod seiner Gefährtin Mary Burns.

Im Unterschied zum bürgerlichen Standardbild eines Gelehrten, der aus seiner individuellen geistigen Entfaltung schöpft, dabei wenn möglich gleich den ganzen Weltgeist zu Bewusstsein kommen lässt, zeigen Marx und Engels das Potential einer Kooperation. Beide hätten für sich niemals das schaffen können, was sie gemeinsam vollbringen konnten. Während sie in monologischen Bemühungen bereits jeder für sich zu wegweisenden Einsichten fanden, entfaltete eigentlich erst ihr dialogisches Schaffen, ihr Werk als gemeinsames seinen welthistorischen Rang. Beide ergänzten, unterstützten und inspirierten  sich. Ohne Engels hätte Marx sicher nicht die erforderlichen Ressourcen für seine theoretischen Arbeiten gehabt und auch nur schwerlich zu seiner Berühmtheit gefunden. Ohne Marx hätten Engels vielfältige Inspirationen gefehlt und er hätte auch kaum seine erreichte Bedeutung erlangt.

Lenin würdigt dieses Zusammenwirken in einem Nachruf auf Engels vortrefflich mit einem geschichtlichen Vergleich: „Antike Sagen berichten von manchen rührenden Beispielen der Freundschaft. Das europäische Proletariat kann sagen, daß seine Wissenschaft von zwei Gelehrten und Kämpfern geschaffen worden ist, deren Verhältnis die rührendsten Sagen der Alten über menschliche Freundschaft in den Schatten stellt.“ (Lenin, W. I.: Friedrich Engels, in: ders.: Werke Bd. 2, Übers. d. 4. russ. Ausg., Dietz, Berlin/Ost, 1961, S. 12)




200 Jahre Marx: Kein toter Hund

Martin Suchanek, Neue Internationale 228, Mai 2018

Jahrestage dienen nie einer bloßen Rückbesinnung auf das geschichtliche Werk einer Person. Handelt es sich um einen epochemachenden Theoretiker wie Marx, der gemeinsam mit seinem Freund und Kampfgefährten Engels den „wissenschaftlichen Sozialismus“ begründete, so gibt es für die herrschende Klasse oder auch den linken Flügel des Bürgertums, die reformistischen Organisationen, nur zwei Möglichkeiten: zu Tode schweigen oder zu Tode gedenken.

Ein Toter, der ständig wiederkehrt

Im Jahr 2018, besonders im Mai, häufen sich Feierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen. Marx‘ Geburtsstadt Trier nimmt den Jahrestag ihres bekanntesten Sohnes nicht zum Anlass von „Würdigungen“ und Veranstaltungen, sondern will aus dem Kapitalkritiker auch Kapital schlagen. Selbst die CDU stimmte im Stadtrat für den Bau einer überlebensgroßen Statue und die Massenproduktion von Devotionalien, vor allem für den chinesischen Markt.

Kaum ein großer Verlag lässt sich finden, der nicht eine „neue“ Marx-Biographie veröffentlicht, kaum eine renommierte wissenschaftliche Institution, die nicht zumindest eine Vortragsreihe oder ein Symposium veranstaltet, keine bürgerliche Zeitung, die ohne Nachruf auskommen dürfte.

Tote leben eben länger. Auch wenn die offizielle Gedenkkultur eher der Leichenschändung als einer Würdigung gleichkommt, so liegt selbst in der bürgerlichen Vereinnahmung und Entstellung von Marx etwas unfreiwillig Entlarvendes.

Kaum ein Theoretiker, kaum ein wissenschaftliches Werk wurde so oft für „tot“, „überholt“ und „widerlegt“ erklärt. Sogar etliche neu auf den Mark gekommene Marx-Biografien wie jene von Stedman Jones aus dem Jahr 2016 werden nicht müde, seine Arbeit und Politik als „illusionär“ zu entlarven. Es fragt sich jedoch, warum ausgerechnet ein schon tausend Mal für tot Erklärter noch einmal auf tausenden Seiten in hunderten Büchern und Artikeln „widerlegt“ werden muss.

Der Tote ist eben nicht tot. Die Marx-„Kritik“ nach dem Zweiten Weltkrieg, wie z. B. in Karl Poppers „Elend des Historizismus“ dargelegt, war sicherlich nicht viel dümmer oder klüger als die heutigen „Widerlegungen“. Aber vor dem Hintergrund der ökonomischen Expansion der 1950er und 1960er Jahre konnte sie auf eine ständige Verbesserung der Lebensbedingungen aller verweisen, wie es auf der gesellschaftlichen Oberfläche erschien. Die Krisentheorie und die bei Marx entwickelte relative Verelendungstheorie schienen widerlegt, das Proletariat „verschwunden“, integriert und zur „Mittelklasse“ aufgestiegen.

Außerdem war die revolutionäre Theorie unter Stalin und Mao zum „Marxismus-Leninismus“ kanonisiert worden und zur Legitimationsideologie einer herrschenden Kaste verkommen, die Theorie, Programm und Politik von Marx und Lenin in ihr Gegenteil verkehrte. Im Westen wiederum brachen die Frankfurter Schule und andere Spielarten des „Neo-Marxismus“ mit dem revolutionären Kern der Theorie. Der „organisierte Kapitalismus“ wäre fähig zur erfolgreichen staatlichen Krisenabfederung, das Proletariat unfähig, sich als revolutionäres Subjekt zu konstituieren. So konnte man besonders „kritisch“ und zugleich im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb erfolgreich sein.

Marx is back

Die gegenwärtige globale Krisenperiode und die mit ihr einhergehende verschärfte inner-imperialistische Konkurrenz entziehen natürlich jeder Theorie einer allmählichen Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse, des sozialen Aufstiegs und der Abschwächung des Klassenwiderspruchs den Boden.

Im ersten Band des „Kapital” legt Marx bekanntlich eine Theorie der relativen Verelendung der ArbeiterInnenklasse dar. Dieser begegnen wir selbst in Phasen der Expansion und der Erhöhung des Arbeitslohns, denn ihr entspricht auch dann, dass der neu geschaffene Reichtum in Form des Mehrwerts beständig auf Seiten des Kapitals angehäuft wird. „Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, ob hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß.“ (Das Kapital, Band 1, S. 674/675) Es wächst also auch in der Periode der kapitalistischen Expansion die ökonomische Abhängigkeit der ArbeiterInnenklasse, die Dominanz des Kapitals.

Die bürgerliche Wissenschaft, aber auch der Reformismus sind für die Theorie der relativen Verelendung blind, weil sie die immer stärkere Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit aus dem Auge lassen, die immer umfassendere Unterordnung, Vereinseitigung und Entfremdung. Im sozialdemokratischen Modell des Sozialstaats, aber auch im Stalinismus verkommt die „Befreiung“ der Klasse zu einer staatlichen Wohlfahrtsleistung, die die Entfremdung nicht aufheben kann, sondern nur schöner ausgestalten will. Für Marx hingegen bleibt auch die etwas besser bezahlte Lohnsklaverei – Lohnsklaverei.

Heute leben wir in einer Periode, wo auch immer größere Teile der Klasse mit sinkenden Einkommen zu kämpfen haben, wo selbst in den tradierten imperialistischen Zentren wie Deutschland Millionen zu prekär Beschäftigten wurden, zu einem Heer von „working poor“ samt Kindern und RentnerInnen in Armut. In Ländern wie China und Indien, wo sich die industrielle Produktion fieberhaft ausdehnt, wächst auch die Zahl der überausgebeuteten Armen.

Unabhängig von akademischen Debatten lesen sich Marx‘ Theorie und Beschreibungen der allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Akkumulation im ersten Band des Kapitals über weite Strecken wie eine Darstellung „neuester“ Ausbeutungsformen. Die Krisentheorie scheint heute wieder plausibel. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – zu Recht von Marx als eine seiner zentralen Entdeckungen hervorgehoben – erweist sich als weitaus realitätstauglicher, als eine ganze Reihe revisionistischer KritikerInnen behauptet.

Entwicklung und Kampf

Die heutige bürgerliche Marx-Kritik und ihre (links)reformistische Spielart vermögen es daher nicht, Marx zur Gänze abzulehnen. Sie akzeptieren bestimmte Momente seiner Theorie oder Begriffe. Aber sie lehnen umso entschiedener die Totalität und den revolutionären Kern des Marx’schen Werkes ab.

So wird der ökonomische Theoretiker, der Autor von „Das Kapital“, als scharfsinniger Kritiker anerkannt, von dem auch IdeologInnen der herrschenden Klasse lernen können. Aber seine revolutionären Schlussfolgerungen, die Zuspitzung der Krise zur revolutionären Überwindung, die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution werden als „widerlegt“, „einseitig“ oder reine „Wunschvorstellungen“ abgetan. Auf dem Gebiete einzelner Erscheinungen mochte Marx sogar recht behalten haben, aber seine Schlussfolgerungen bezüglich der Bewegungsgesetze des Kapitalismus, seiner inneren Entwicklungslogik hätten keinen wissenschaftlichen Charakter, wären allenfalls literarisch interessante Spekulationen. Auf dem Gebiet der Politik hätte Marx einen fatalen und längst überholten „übertriebenen“ Anspruch gehegt – nämlich der Programmatik und Taktik einer revolutionären Partei eine wissenschaftliche Fundierung zu geben. In Wirklichkeit hätte auch er – wie jeder bürgerliche Politikaster – nur im Trüben gefischt.

Diese Methode, Aspekte des Marx’schen Werkes als wissenschaftlich zu akzeptieren, aber die Verbindung zum Gesamtzusammenhang abzulehnen, ist nicht neu. Sie findet sich keineswegs nur bei bürgerlichen oder akademischen KritikerInnen, sondern vor allem im Revisionismus alter wie neuer Spielart. Nachdem sich der Marxismus schon zu Lebzeiten von Marx und Engels gegen ideologisch kleinbürgerliche Strömungen wie den Proudhonismus und Anarchismus im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, wurden die revolutionären Schlussfolgerungen in der ArbeiterInnenbewegung selbst relativiert. Der entstehende Revisionismus und Reformismus traten zwar teilweise offen gegen Marx auf, oft genug aber auch verdeckt, indem sie nur „Teilaspekte“ zu aktualisieren vorgaben. Später wurde ein mehr oder minder entstellter Marx selbst noch zur Kritik des revolutionären Kommunismus herangezogen – eine Methode, die heute z. B. auch bei der Linkspartei und der Luxemburg-Stiftung im Gebrauch ist. Der Vorteil liegt dabei auf der Hand: Man hofft so, die eigene reformistische Politik im Rekurs auf Marx (oder Engels oder Luxemburg) auch noch als „revolutionär“ und besonders „kritisch“ hinzustellen. Doch bevor wir uns damit beschäftigen, wollen wir uns noch einmal dem Erbe von Marx zuwenden.

Entstehung des Marx’schen Werkes

Die wissenschaftliche Methode von Marx und Engels und ihre Politik bilden sich in der Auseinandersetzung mit drei großen Strömungen ihrer Zeit heraus: dem Hegelianismus, der politischen Ökonomie und dem Frühsozialismus.

Diese Theorien bedeuteten einen enormen Fortschritt im Verständnis der modernen, entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, aber sie waren schon in den Jugendjahren von Marx und Engels an ihre inneren Grenzen gestoßen.

Hegels dialektische Methode ermöglichte eine Revolutionierung des Geschichtsverständnisses. Die Veränderung, das Werden, die Entstehung des Neuen und des Fortschritts aus den inneren Widersprüchen öffnete nicht nur einen veränderten Blick auf den historischen Prozess, sondern auch auf die entstehende bürgerliche Gesellschaft. Aber der Hegelianismus blieb – wie auch seine linken Schüler – dem Idealismus verhaftet, die geschichtliche Entwicklung letztlich eine Form der Selbsterkenntnis des absoluten Geistes. Die dialektische Methode Hegels betont das Moment der Entwicklung, des Historischen und damit auch des unvermeidlichen Untergehens bestimmter gesellschaftlicher oder politischer Formen. Aber Hegels idealistisches System erforderte auch einen Endpunkt dieser Entwicklung, die mit einer Form der „absoluten Wahrheit“ abschließen musste. Diese konservative, affirmative Seite der Hegel’schen Philosophie führte aus den geistigen Höhen des Systems zu „zahmen politischen Schlussfolgerungen“ (Engels), in die profanen Niederungen des preußischen Absolutismus.

Adam Smith und David Ricardo versuchten, die Gesetzmäßigkeiten der politischen Ökonomie auszuarbeiten, ihnen auf den Grund zu gehen. Sie entwickelten wichtige Aspekte der Werttheorie. Aber sie waren nicht in der Lage, die Klassenschranken ihrer Theorie zu überwinden und somit vorhandene innere Widersprüchlichkeiten ihrer Arbeiten. Insbesondere vermochten sie nicht, den historischen, vergänglichen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise selbst zu verstehen. Vielmehr teilen sie mit der aktuellen akademischen Wirtschaftswissenschaft, wenn auch vom theoretischen Anspruch her weit über dieser stehend, die Vorstellung, dass der Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte sei.

Der Frühsozialismus griff die universellen Freiheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft auf, wandte sie als Maßstab gegen die zur Macht gekommene Bourgeoisie. Die herrschende Klasse erfüllte die eigenen Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechten nicht. Damit verwies der Frühsozialismus zwar auf den antagonistischen Charakter der Gesellschaft, doch seine Vorstellung einer besseren, sozialistischen war selbst noch im bürgerlichen Rechtshorizont befangen, daher wesentlich moralisch. Eine wissenschaftliche Fundierung fehlte. Den bestehenden, kapitalistischen Verhältnissen wurden einfach „bessere“, herrschaftsfreie entgegengestellt – teils in genialen, inspirierenden Betrachtungen, teils indem der verallgemeinerten Warenproduktion wie z. B. im Proudhonismus eine vermeintlich gerechtere Form ebendieser entgegengestellt wurde.

Der Marxismus entstand im Bruch mit diesen Ideen. Auf der Basis der Kritik und der Polemik gegen die zeitgenössischen, letztlich immer reaktionärer werdenden ParteigängerInnen dieser Theorien entsteht die Marx’sche, wird seine Politik wissenschaftlich fundiert.

Historische Rolle des Proletariats

Im Zentrum steht für Marx und Engels dabei von Beginn an das Verständnis der historischen Rolle des Proletariats. Das ist der Springpunkt, um den sich die Marx’sche theoretische Arbeit, sein politisches Wirken, sein Gesamtwerk drehen.

Für Marx stellt die ArbeiterInnenklasse keine bloß sozial-statistische Kategorie dar, die sich beispielsweise durch geringes Einkommen, eingeschränkten Zugang zu kulturellen Ressourcen, strukturelle Benachteiligung usw. auszeichnet. Vielmehr kann die ArbeiterInnenklasse nur im Verhältnis zum Kapital, ja zur Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Totalität verstanden werden. Das Proletariat ist keine Ansammlung von Individuen mit gleichen Eigenschaften – es muss vielmehr im Verhältnis zur KapitalistInnenklasse verstanden werden, im Rahmen eines Widerspruchsverhältnisses.

Daher muss die ArbeiterInnenklasse selbst auch immer in ihrem Werden, ihrer Veränderung verstanden werden – nicht nur in dem Sinne, dass sich ihre Zusammensetzung, ihre Struktur usw. infolge der Kapitalzusammensetzung ständig ändern, umwälzen, sondern vor allem auch darin, dass das Proletariat nur im Kampf, in seiner Organisierung, und indem diese mit der marxistischen Theorie verbunden wird, zu einer Klasse für sich werden kann. Gewerkschaften stellen dabei elementare Organisationsformen dar. Entscheidend ist aber für Marx die Konstituierung der Klasse zur politischen Partei, zu einem Zusammenschluss der bewusstesten Teile der Klasse, ihrer Avantgarde auf Grundlage eines gemeinsamen Programms zum Sturz des Kapitalismus.

Schon in den Frühschriften und im Kommunistischen Manifest arbeiten Marx und Engels heraus: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr ureigenstes Produkt.“ (Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 472)

Anders ausgedrückt: Die kapitalistische Produktionsweise bringt ihren eigenen „Totengräber“ hervor, jene Klasse, die sowohl die Fähigkeit besitzt, diese Verhältnisse umzustürzen, wie sie sich – im Unterschied zu früheren unterdrückten Klassen – nur befreien kann, indem sie als kollektiv produktionsmittellose Klasse die Produktivkräfte unter gesellschaftliche, planmäßige Leitung stellt. Dazu müssen die „Enteigner“, also das „Kapital“, enteignet werden.

Die theoretische Arbeit von Marx z. B. im „Kapital“ dient zur Fundierung, zum Verständlichmachen und zur Begründung der revolutionären Rolle des Proletariats. Die Abschnitte, die sich z. B. auf den Kampf um den 10-Stunden-Tag beziehen und erst recht jene, die die Notwendigkeit der politischen Machtübernahme des Proletariats hervorheben, sind keine „unwissenschaftlichen“ Zusätze zum „Kapital“, sondern vielmehr die entscheidenden Schlussfolgerungen aus der Kritik der politischen Ökonomie. So legt Marx im „Kapital” z. B. den Sinn wie auch die Schranken ökonomischer Kämpfe dar, indem er nach der Entwicklung der Wertform, der Verwandlung von Geld in Kapital zeigt, dass im Kapitalbegriff auch der Klassenantagonismus, der Kampf um die Verteilung des Mehrwerts schon eingeschlossen ist. Er erklärt, warum der Wert der Ware Arbeitskraft als Arbeitslohn erscheinen und im Lohnfetisch das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise verschleiert werden muss.

Auch wenn „Das Kapital“ selbst unvollendet blieb, so entwickelt es doch die inneren Gesetzmäßigkeiten der Produktionsweise, die Zuspitzung ihres inneren Widerspruchs und die Lösung, zu der er drängt:

„Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums hat geschlagen. Die Expropriateure werden expropriiert.“ (Das Kapital, Band 1, S. 791)

Die umfassende wissenschaftliche Analyse, die Marx im „Kapital“ vorlegt, wäre ohne Kritik der bürgerlichen Ökonomen, ohne die Analyse und Verallgemeinerung der entstehenden ArbeiterInnenbewegung und ihrer Kämpfe und ohne die dialektische Methode unmöglich gewesen. Marx mixt diese jedoch nicht wie die „moderne“ bürgerliche Universität eklektisch, sondern schafft eine neue Methode. Deren entscheidendes Wahrheitskriterium liegt nicht im akademischen „Diskurs“, sondern in der Praxis, genauer in der revolutionären Praxis der ArbeiterInnenklasse.

Staat und Revolution

Was vom „Kapital“ gesagt werden kann, trifft auch auf alle anderen Aspekte des marxschen Werkes zu. Es geht nicht darum, nur einen Teil der Gesellschaft zu erklären, sondern die Gesamtheit ihrer Verhältnisse. Auch wenn etliches nur bruchstückhaft bleibt, so ist Marx wie Engels (und allen großen MarxistInnen) gemein, sämtliche wichtigen gesellschaftlichen Probleme und Auseinandersetzungen als Teil des Klassenkampfes zu verstehen. Das zeigt sich unter anderem bei der Behandlung der nationalen Frage, der Frauenunterdrückung, des Mensch-Natur-Verhältnisses, der Kriegsfrage und des Verhältnisses von Reform und Revolution.

Für Marx muss die ArbeiterInnenklasse die politische Macht ergreifen, um überhaupt die Gesellschaft bewusst umgestalten zu können. Aus seiner Kapitalanalyse ergibt sich zwingend, dass das Proletariat im Rahmen der bestehenden Gesellschaft keine neue Produktionsweise aufbauen kann, weil es gerade durch sein Nicht-Eigentum an Produktionsmitteln charakterisiert ist. Es muss schon deshalb die KapitalistInnenklasse enteignen und die wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen in einer Hand, dem Staat zentralisieren.

In der Analyse der Revolution von 1848 (z. B. in Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ oder Engels, „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“) wird deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse den bestehenden bürgerlichen Staatsapparat nicht einfach übernehmen kann, sondern dass dieser vielmehr im Zuge des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat als Herrschaftsinstrument perfektioniert wird:

„Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampfe wider die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten diese Maschine statt sie zu brechen.“ (Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, S. 197)

Marx dazu in einem Brief an Kugelmann am 17. April 1871:

„Wenn Du das letzte Kapitel meines ‚Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wirst Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent.“ (MEW 33, S. 205)

Die politische Form dieser Herrschaft, der Diktatur des Proletariats, ist schließlich in der Kommune, in den Räten gefunden.

„Das ist also die Kommune – die politische Form der sozialen Emanzipation, der Befreiung der Arbeit von der Usurpation (der Sklaverei) der Monopolisten der Arbeitsmittel, die von den Arbeitern selbst geschaffen oder Gaben der Natur sind. So wie die Staatsmaschine und der Parlamentarismus nicht das wirkliche Leben der herrschenden Klassen, sondern nur die organisierten allgemeinen Organe ihrer Herrschaft, die politischen Garantien, Formen und Ausdrucksweisen der alten Ordnung der Dinge sind, so ist die Kommune nicht die soziale Bewegung der Arbeiterklasse und folglich nicht die Bewegung einer allgemeinen Erneuerung der Menschheit, sondern ihr organisiertes Mittel der Aktion. Die Kommune beseitigt nicht den Klassenkampf, durch den die arbeitenden Klassen die Abschaffung aller Klassen und folglich aller [Klassenherrschaft] erreichen wollen (…), aber sie schafft das rationelle Zwischenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiedenen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“ (Marx, Erster Entwurf zum ‚Bürgerkrieg in Frankreich‘, MEW 17, S. 545 f.)

Die Kommune war also wesentlich eine „Regierung der Arbeiterklasse“ (Marx). Diese erfüllt aber nur ihre eigentliche geschichtliche Funktion, wenn sie auch wirklich im historischen Interesse der Klasse agiert – ansonsten verkommt auch diese Form zum „Betrug“ (ähnlich wie es die Räte in Russland gewesen wären, wenn die Bolschewiki nicht die Mehrheit erobert und sie zum Aufstand im Oktober geführt hätten).

Marx entdeckte daher nicht nur die historische Bedeutung der Kommune – seine Einschätzung stand auch im krassen politischen Gegensatz zur Einschätzung der AnarchistInnen. Er solidarisierte sich nicht nur mit den RevolutionärInnen der Kommune, er unterzog auch deren Schwächen und Halbheiten einer scharfen Kritik.

Es ist kein Zufall, dass diese Aspekte des Marx’schen Werkes, die revolutionäre Kulmination seines Denkens und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen, nicht nur in der offen bürgerlichen Kritik bekämpft werden, sondern auch immer schon Kritikpunkte des Revisionismus waren.

Revolutionsstrategie

Marx‘ und Engels‘ Kampf für eine proletarische Partei und Internationale durchzieht ihr gesamtes Lebenswerk. Dabei stand für sie – ohne sektiererisch zu werden – immer programmatische Klarheit in Verbindung mit prinzipienfester Vereinigung.

Im „Bund der Kommunisten“ hatten Marx und Engels die voluntaristischen und utopischen Positionen der AnhängerInnen Weitlings und andere entschieden bekämpft und dem Bund in Form des „Kommunistischen Manifests“ eine wissenschaftliche programmatische Grundlage verschafft.

Das Eingreifen von Marx und Engels bei der Entstehung der Ersten Internationale kann – wie Dawid B. Rjazanow richtig herausarbeitet – als eine frühe Form der ArbeiterInnenparteitaktik betrachtet werden. Marx und Engels war – wie die Inauguraladresse von 1864 zeigt – durchaus bewusst, dass sich nicht nur „marxistische“ Elemente in der Internationale versammeln würden, sondern auch die VertreterInnen von Massengewerkschaften oder die AnhängerInnen Proudhons als stärkstem ideologischen Gegengewicht.

Aber Marx und Engel betrachteten eine solche gemeinsame Partei nicht als Ziel, sondern als Übergang zu einer fortschreitenden Klärung, die sie auch in Schriften, Polemiken wie „Lohn, Preis, Profit“, den Entschließungen der Kongresse der Internationale usw. forcierten. Die Einschätzung und die Folgen der Kommune markierten einen Wendepunkt, der zugleich auch einen Fortschritt darstellt hinsichtlich des Bruchs mit den AnarchistInnen. Die Polemiken aus dieser Zeit – insbesondere zum Londoner Kongress 1871 und zum Haager Kongress 1872 – stellen bis heute einen enormen Fundus der Kritik an schein-revolutionärem Linksradikalismus sowie des eigentlich kleinbürgerlich-doktrinären Charakters dieser Politik dar.

Bis heute kritisiert eine ganze Reihe ReformistInnen und VersöhnlerInnen Marx dafür, gegenüber den AnarchistInnen und SyndikalistInnen zu „dogmatisch“ und hart gewesen zu sein. Sie unterstellen, dass die Spaltung der Internationale, der Bruch mit den AnarchistInnen so hätte vermieden werden können.

In Wirklichkeit ging es um Grundfragen revolutionärer Politik. Marx‘ Einschätzung der Kommune als Kampfinstrument der Klasse bedeutet auch, dass er von ihr entschiedene Maßnahmen gegen die Konterrevolution erwartete.

In diesem Kontext muss auch Marx‘ Kritik an den KommunardInnen verstanden werden, die es versäumt hätten, die Bank von Frankreich zu enteignen und gegen die in Versailles konzentrierte Konterrevolution zu marschieren.

Marx wirft dem Zentralkomitee der Nationalgardisten aber auch vor, zu früh der gewählten Kommune die Führung überlassen zu haben und diese somit in die Hände „zufälliger“ und politisch verwirrter Elemente zu legen, statt der eigenen politischen Verantwortung nachzukommen.

Kautsky, der schon die Unterstützung des „Terrors“ gegen die Konterrevolution in der Rheinischen Zeitung als eine „Jugendsünde“ von Marx hinstellte, fand das in seiner, eigentlich gegen die Bolschewiki gerichteten Polemik „Terrorismus und Kommunismus“ „unverständlich“.

In Wirklichkeit ist das nur unverständlich für Menschen, die abstrakte „demokratische“ Verfahren, Dogmen über die Erfordernisse einer Revolution, also des revolutionären Sieges und seiner Verteidigung stellen. Es illustriert sehr gut den Unterschied zwischen einem konsequenten Revolutionär wie Marx und einem Zentristen, der zwischen Reform und Revolution schwankt. Dieser mag zwar auch die „Revolution“ wollen und die „Diktatur des Proletariats“ – aber nur solange sie nicht „schmutzig“ wird, nicht gezwungen ist, diktatorische Schritte umzusetzen, die demokratischen oder anderen „Prinzipien“ widersprechen, weil solcherart die Gefahr entstünde, dass die Revolution selbst zur autoritären Herrschaft über das Proletariat verkomme. Diese Gefahr als solche kann natürlich niemand leugnen. Aber umgekehrt gehen Revolutionen unvermeidlich mit solchen Gefahren einher, wo die Erringung oder Verteidigung der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse despotische, diktatorische Maßnahmen gegen die (ehemals herrschenden) UnterdrückerInnen und ihre ParteigängerInnen erfordern.

Der Ausweg aus diesem Problem liegt nicht darin, es durch Prinzipien oder Dogmen „wegzudenken“, sondern sich diesem zu stellen. Die mit solchen Maßnahmen zweifellos verbundenen Gefahren können nur durch entschlossenes revolutionäres Handeln und eine korrekte Strategie der Ausweitung der Revolution, deren Internationalisierung überwunden werden.

Die Grundfrage, die nach der Niederlage der Pariser Kommune letztlich zum Scheitern der Ersten Internationale führte, war nicht, ob die Internationale „offener“ oder „enger“, mehr oder minder „autoritär“ sein sollte. Marx und Engels zogen aus der Kommune nicht nur bezüglich der Staatsfrage zentrale Schlussfolgerungen, sondern betonten auch die zentrale Bedeutung der Schaffung einer politischen ArbeiterInnenpartei, die alle Aspekte des Klassenkampfes systematisch führen könne.

Hier stießen sie aber sowohl auf den Widerstand von Gewerkschaften und SyndikalistInnen, die im ökonomischen Kampf den eigentlichen Klassenkampf erblickten, wie auch der AnarchistInnen, die sich gegen politische Aktionen, den Kampf um politische Teilforderungen aussprachen. Beide wollten von der Eroberung der politischen Macht und der Errichtung der Diktatur des Proletariats nichts wissen – die einen, weil sie die blutige Repression und den Bürgerkrieg fürchteten, die anderen, weil sie von der sofortigen Abschaffung des Staates und aller Autorität träumten.

„Aber die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre politische Staat mit einem Schlag abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partie muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen.“ (Engels, Von der Autorität, MEW 18, S. 308)

Zweifellos wurde der Bruch mit AnarchistInnen und SyndikalistInnen auch dadurch forciert, dass Marx und Engels eine weitere, mit der Revolutionsstrategie untrennbar verbundene Frage in den Vordergrund rückten – die Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären ArbeiterInnenpartei. So beschloss der Londoner Kongress der Ersten Internationale auf ihren Antrag mehrheitlich, „daß die Konstituierung der Arbeiterklasse als politische Partei unerlässlich ist für den Triumph der sozialen Revolution und ihres Endziels – Abschaffung der Klassen“ (Marx/Engels, Beschlüsse der Londoner Delegiertenkonferenz der IAA, MEW 17, S. 422)

Dem Auseinanderbrechen der Ersten Internationale lagen also grundlegende politische Differenzen zugrunde. Der Bruch war nicht nur unvermeidlich, sondern auch ein historischer Fortschritt zur Klärung proletarischer Strategie und Taktik.

Von Kautsky zur Luxemburg-Stiftung

Genau diese Tatsache versuchen seit Jahrzehnten „linke“ KritikerInnen des revolutionären Marxismus zu verschleiern. Die ReformistInnen der Luxemburg-Stiftung treten in die Fußstapfen von Kautsky und anderen, wenn es um die Frage der revolutionären Politik und Strategie geht.

In einem Sonderheft mit dem Titel „Marxte noch mal?!“ (LuXemburg 2-3/2017) soll nicht nur Marx gewürdigt werden, sondern auch die Politik der Linkspartei. Das ist freilich ohne eine Kritik an angeblichen Fehlern von Marx und „des Marxismus“ natürlich nicht möglich. Schließlich ist ihre „Transformationsstrategie“ parlamentarisch, friedlich und auf eine lange Phase von „Verschiebungen“ der gesellschaftlichen Hegemonie ausgelegt. Der Begriff der „Räte“ ist, sofern er vorkommt, jedes revolutionären Gehalts beraubt.

Marx wird daher einerseits zum Gebrauchtwarenladen, aus dem sich einzelne TheoretikerInnen der Partei bedienen, um letztlich die Realpolitik der Linkspartei theoretisch zu unterfüttern und ihr obendrein einen „marxistischen“ Anspruch zu geben. Schließlich will auch sie den Toten ausschlachten, der sich nicht mehr wehren kann.

Zum anderen werden z. B. von Bini Adamczak angebliche Schwächen beim „traditionellen Marxismus“ beklagt: „Der Umsturz erhielt ein großes Gewicht gegenüber der Umwälzung, die Insurrektion gegenüber der Transformation.“ (S. 133) Statt dessen will sie die Entwicklung des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen „in dem Sinne von Produktions- und Verkehrsverhältnissen“ verstanden wissen, „die sich parallel zu den dominanten entwickeln.“ (S. 131) Vorwärts also zum Frühsozialismus!

Autoren wie Michael Brie wiederum versuchen, Marx und seine Taktik beim Aufbau der Ersten Internationale als „Modell“ für den Aufbau einer „vermittelnden Partei“, also einer Partei verschiedenster ideologischer Schattierungen, zu präsentieren. Der Bruch der Internationale erscheint als Betriebsunfall der Geschichte, den nicht zuletzt Marx wegen seiner Unnachgiebigkeit zu verantworten hätte. Klar: Wer eine Partei wie DIE LINKE zusammenhalten will, die Opposition spielt und Koalitionspartnerin in einer bürgerlichen Regierung sein will, kann Unnachgiebigkeit und Prinzipienfestigkeit nicht gebrauchen. Marx‘ und Engels‘ Rolle in der Ersten Internationale wird deshalb zu der von Moderatoren zwischen AnarchistInnen, GewerkschafterInnen und KommunistInnen umgedeutet, zurechtgestutzt.

Diese „Anerkennung“ – und Entstellung – von Marx stellt einen gefährlichen theoretischen Angriff auf den revolutionären Gehalt seines Werkes dar. Die bürgerliche und akademische „Würdigung“ verfolgt den Zweck, seinem Werk die Kanten abzuschleifen und so den Klassenstandpunkt des Proletariats mit dem der Bourgeoisie zu versöhnen. Der Zweck der Marx-Interpretation der Luxemburg-Stiftung besteht letztlich in der Rechtfertigung reformistischer Politik, also einer Politik des Ausgleichs zwischen Klassen, nicht der Aufhebung des Klassengegensatzes.

Für RevolutionärInnen besteht die Aktualität des Marx’schen Werkes in seiner Zwecksetzung, die Bewegungsgesetze des Kapitalismus und die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution darzulegen, die ArbeiterInnenklasse theoretisch und programmatisch für ihre historische Aufgabe zu rüsten, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes und ein verächtliches Wesen ist.” (Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843-44 MEW 1, S. 385)