Berliner Polizei attackiert LL-Demonstration 2024

Martin Suchanek, 16. Januar 2024

Mindestens 16 Personen mussten nach Angaben von Demo-Sanis infolge brutaler Angriffe der Polizei mit Knüppeln und Pfefferspray am 14. Januar mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Besonders schwer hatte es einen 65-jährigen Mann getroffen, der ohnmächtig, aus Mund und Nase blutend am Boden lag.

Ursache – oder genauer Vorwand – für den Einsatz mehrerer Hundertschaften war die Solidarisierung mit Palästina durch die Demonstration. Angeblich, so die Polizei-Erzählung wäre die verbotene Losung „From the river to the sea, Palestine will be free“ von einem Redner und Demonstrationsteilnehmer gerufen worden. Infolgedessen wurden eine Reihe Personen festgenommen.

Nachdem weiter vorne laufende Demonstrant:innen und ganze Blöcke zurückliefen, um sich zu solidarisieren, schlug die Polizei richtig los. Zweifellos wird die Polizeiführung, deren Einsatzkräfte nicht zum ersten Mal provokativ die Demonstration angriffen, einen Grund zurechtzimmern, warum auch dieser Einsatz „verhältnismäßig“ gewesen wäre und eigentlich die behelmten Knüppeleinheiten Opfer und nicht Täter:innen gewesen wären.

Klar wird auch das Abgeordnetenhaus über die Provokation, über den Angriff auf das Demonstrationsrecht beraten – mit vorhersehbarem Ausgang: Schuld sind die Demonstrant:innen. Schließlich wird die Solidarität mit Palästina, die immer schon öffentlich denunziert wurde, seit Monaten von Regierungen und Parlamenten kriminalisiert. Auch der „Zivilgesellschaft“, also der bürgerlichen Öffentlichkeit, kann es davon nicht genug geben. So setzt eben die Polizei den politischen Marschbefehl – natürlich nicht nur am 14. Januar – um.

Während antiimperialistische Solidarität kriminalisiert und verprügelt wird, sorgen sich Zehntausende nach den jüngsten Enthüllungen über die rassistischen Deportationspläne von Vertreter:innen der AfD, der Identitären und der Werteunion bei einem „privaten“ Treffen in Potsdam um die deutsche Demokratie. Zweifellos ist die Sorge und Angst um die Errichtung eines rassistischen Abschiebe- und Ausweisungsregimes berechtigt. Die AfD und diverse faschistische Gruppierungen bilden dabei die extreme Speerspitze einer Politik, die den stetigen Forderungen nach einer immer rigideren Migrations- und Flüchtlingspolitik und der geplanten faktischen Abschaffung des Asylrechts durch die EU Vorschub leistet. Vorschub leistet dem Rechtsruck dabei aber auch die Diffamierung der Palästina-Solidarität, von Palästinenser:innen, Araber:innen, Muslim:innen als undemokratisch und antisemitisch sowie die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antirassismus. Wer den immer stärker werdenden antimuslimischen Rassismus und die Kriminalisierung und Diffamierung der Palästina-Solidarität nicht bekämpft, der wird letztlich auch den Rechtsruck nicht stoppen können.

Die LL-Demonstration hat sich hier vollkommen richtig verhalten. Sie ließ sich nicht einschüchtern, sondern vielmehr haben sich ihre Teilnehmer:innen gegen die Polizeigewalt gestellt.




Zur “Revolutionären Realpolitik” der Linkspartei: Revolution oder Transformation?

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024 ursprünglich veröffentlich im Dezember 2016

Die Berliner LINKE koaliert mit dem Segen der Parteispitze, Bodo Ramelow führt eine Rot-Rot-Grüne Koalition in Thüringen an.

In der Luxemburgstiftung, dem hauseigenen Think Tank, wollen sich deren Vordenker:innen mit der platten Rechtfertigung dieser Politik oder gar den unvermeidlichen Verrätereien durch Teilnahme an den Regierungen allein nicht zufriedengeben. An etlichen Stellen kritisieren sie sogar die allzu euphorischen Anhänger:innen rot-roter oder rot-rot-grüner Koalitionen offen, zu viele Zugeständnisse an die „Partner:innen“ zu machen.

Das ist nicht nur selbstgefälliger, entschuldigender Gestus linker Theoretiker:innen angesichts der unvermeidlichen Niederungen reformistischer Regierungspolitik. Es geht ihnen auch darum, der Partei eine höhere strategische Ausrichtung zu verleihen. Dazu prägen sie seit Jahren Begriffe wie „Transformationsstrategie“, „revolutionäre“ oder „radikale Realpolitik“, um die Programmatik der Linkspartei als eine moderne Version einer „sozialistischen Partei“ zu präsentieren.

Es ist immerhin ein Verdienst dieser politisch-ideologischen Richtung, dass sie in den Veröffentlichungen der Stiftung ihre Anschauungen darlegt; so z. B. in der Broschüre „Klasse verbinden“, herausgegeben im April 2016 vom US-amerikanischen Magazin Jacobin und der Luxemburg-Stiftung, oder im Aufsatz „Rückkehr der Hoffnung. Für eine offensive Betrachtungsweise“ von Michael Brie und Mario Candeias.

Revolutionäre „Realpolitik“

Seit Jahren wird neben Antonio Gramsci ausgerechnet Rosa Luxemburg als Patin für die „Transformationsstrategie“ der Linkspartei ins Feld geführt.

Sie selbst verwendet den Begriff „revolutionäre Realpolitik“ unter anderem in der Schrift „Karl Marx“, die anlässlich seines 20. Todestags verfasst wurde:

„Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst mit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass bürgerliche Politik vom Standpunkt der materiellen Tageserfolge real ist, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.“ (Luxemburg, Werke, Band 1/2, S. 375)

Und weiter: „Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewusst nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sie zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.“ (Ebenda, S. 376)

Luxemburg betont zwar, dass Reform und Revolution nicht als ausschließende Momente einander entgegengestellt werden dürfen, hält aber zugleich fest, dass die Revolution das entscheidende Moment dieses Verhältnisses darstellt. Nur in Bezug auf diesen Zweck kann eine revolutionäre (Real-)Politik bestimmt werden.

Sie grenzt sich daher gegen zwei politische Fehler innerhalb der Arbeiter:innenbewegung ab: einerseits den utopischen Sozialismus, andererseits die bürgerliche Realpolitik. Der Revisionismus oder Reformismus des 20. und 21. Jahrhunderts stellen letztlich Spielarten dieser bürgerlichen Realpolitik dar.

Das Revolutionäre an Luxemburgs „Realpolitik“ besteht genau darin, dass sie den Kampf für Reformen als Moment des Kampfes um die revolutionäre Machtergreifung des Proletariats bestimmt.

„Real“politik ist revolutionäre Politik in dem Sinne und Maß, wie eine Partei ihre Taktik auf einem wissenschaftlichen Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und deren Entwicklungslogik aufbaut. Daraus ergibt sich, dass die Revolution nicht „jederzeit“ als reiner Willensakt „gemacht“ werden kann, sondern eine tiefe Krise des Gesamtsystems voraussetzt, eine Zuspitzung der inneren Widersprüche, die zu ihrer Auflösung drängen.

Innere Widersprüche

Für Luxemburg (und generell für den Marxismus) zeigt die Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus zweitens, dass die Arbeiter:innenklasse in der bürgerlichen Gesellschaft noch keine neue, eigene Produktionsweise vorfindet, die sie mehr und mehr ausbauen könnte, sondern dass vielmehr die gegenteilige Entwicklung prägend ist. Der innere Widerspruch zwischen zunehmend gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung spitzt sich zu in der Konzentration des Reichtums in den Händen einer immer kleineren Schicht von Kapitalbesitzer:innen.

Genau deshalb greift Luxemburg auch Bernsteins Idee an, dass Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe und der zunehmende Kampf der Gewerkschaften für soziale Verbesserungen Schritt für Schritt zum Sozialismus führen könnten. Allenfalls stellen sie begrenzte Hilfsmittel zur Verbesserung der Lage der Klasse dar und können, im Fall der Gewerkschaften, Mittel zur Selbstorganisation und für die Entstehung von Klassenbewusstsein werden. Für sich genommen sprengt der gewerkschaftliche Kampf jedoch nicht den Rahmen des bestehenden Systems der Lohnarbeit (und erst recht nicht tun dies selbstverwaltete Betriebe).

Schließlich greift sie die darauf aufbauende, korrespondierende Vorstellung des Revisionismus an, dass der Parlamentarismus, die Sammlung einer numerischen Mehrheit bei Wahlen, Mittel zur erfolgreichen „Transformation“ der Gesellschaft sein könnten. Im Gegenteil: Luxemburg erblickt in der Integrationskraft des bürgerlichen Parlamentarismus auch eine Basis für das Vordringen der bürgerlichen „Realpolitik“ in der Arbeiter:innenbewegung, über „sozialistische“ Regierungen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr den „Sozialismus“ einführen zu können.

Für sie hingegen zielt „revolutionäre Realpolitik“ wesentlich auf den Übergang der politischen Macht von einer Klasse auf die andere, durch das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie, den Übergang der Macht an die Arbeiter:innenräte, auf die Diktatur des Proletariats.

Was die Luxemburg-Stiftung aus Luxemburg macht

Die Theoretiker:innen der Linkspartei rekurrieren zwar gern auf Luxemburgs Begrifflichkeit und präsentieren ihre Strategie so, als würde sie ihr Verständnis von Reform und Revolution aufgreifen.

Dieser Schein wird nicht nur durch Entstellungen ermöglicht, sondern auch durch einen anderen Ausgangspunkt der Theorie Bernsteins und der aktuellen Theoretiker:innen der Luxemburg-Stiftung untermauert. Bernstein behauptete, dass sich Marx und Engels in ihrer Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus geirrt hätten, dass diese nicht nur ihr Tempo überschätzt, sondern auch ihre grundlegende Entwicklungsrichtung verkannt hätten. Demgegenüber hält Luxemburg mit Marx und Engels an der grundlegenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems und der ihm innewohnenden Tendenz zum Zusammenbruch fest.

Zu Recht weist sie darauf hin, dass die Leugnung dieser Schlussfolgerungen aus der Marxschen Analyse des Kapitals einer Preisgabe des wissenschaftlichen Sozialismus gleichkommt. Die Überwindung des Kapitalismus stellt dann keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr dar, sondern kann nur moralisch begründet werden.

Anders als Bernstein geht die Luxemburg-Stiftung von einer Systemkrise des Kapitalismus aus.

„Die strukturelle Krise ist nicht gelöst und sie lässt sich im alten Rahmen auch nicht lösen. Die Versuche, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu stabilisieren, verlängern nur die Agonie und zerreißen die Europäische Union und unsere Gesellschaften. Die Situation ist jedoch nicht durch Aufbruch gekennzeichnet, vielmehr gilt ein altes Zitat von Gramsci: ‚Das Alte stirbt, das neue kann nicht zur Welt kommen. Es ist die Zeit der Monster.’“ (Brie/Candeias)

Das obige Zitat zeigt aber auch eine Differenz zur marxistischen Analyse. Aus den Fugen geraten ist nicht der Kapitalismus als System, sondern nur der „Finanzmarktkapitalismus“. Bei aller verbalen Radikalität wird so ein theoretisches „Hintertürchen“ für eine reformistisch gewendete „revolutionäre Realpolitik“ geöffnet.

Hinzu kommt, dass der Kapitalismus zwar in einer historischen Krise stecken mag, eine sozialistische Revolution jedoch der Partei auch ausgeschlossen erscheint. Was bleibt also? Eine „Transformationsstrategie“. Was steckt aber hinter diesem unschuldigen Wort? Sind  nicht auch revolutionäre Marxist:innen dafür, erkennen sie nicht auch an, dass der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus eine ganze Periode des Übergangs einschließt, dass nicht alle überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem nicht die tradierte grundlegende Arbeitsteilung der alten Gesellschaft mit einem Schlag „abgeschafft“ werden können? Standen nicht die frühe Kommunistische Internationale und der Trotzkismus auf dem Boden eines Programms von Übergangsforderungen, das den Kampf für Reformen in eine Strategie zur Machtergreifung einbettet?

Genau diese Ausrichtung ist bei der Luxemburg-Stiftung nicht gemeint.

Da die sozialistische Revolution, die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse als unmöglich, fragwürdig erscheint, bezieht sich das Ziel der Transformation nicht auf das der „revolutionären Realpolitik“ einer Rosa-Luxemburg,  sondern darauf, dass die „Linke“ sich auf einen „Macht“wechsel auf dem Boden des Parlamentarismus vorbereiten müsse.

In einer offenen Krisensituation entsteht eine radikal neue Situation, in der sich die Eliten spalten, ein Richtungswechsel möglich wird – hin zu einem autoritären Festungskapitalismus wie aber auch hin zu einer solidarischen Umgestaltung. Die Linke muss sich jetzt vorbereiten, daran arbeiten, dass sie fähig wird, in eine solche Situation überzeugend einzugreifen. Darauf ist sie nicht eingestellt.“ (Brie/Candeias)

Wir möchten nicht widersprechen, dass die Linke auf diese Situation nicht vorbereitet ist. Entscheidend ist jedoch, dass die TheoretikerInnen der Linkspartei die eigentliche Alternative, die in einer solchen Phase aufgeworfen wird, verkennen – es geht um Revolution oder Konterrevolution, um Sozialismus oder Barbarei.

Für die Ideolog:nnen der Linkspartei stellt sie sich jedoch anders dar – „autoritärer Festungskapitalismus“ (womit Regierungen wie jene von Trump gemeint sind) oder „solidarische Umgestaltung“.

Hier wird die sozialistische Revolution aus der „revolutionären Realpolitik“ verabschiedet.

Regierung als Ziel

Daher ist es kein Wunder, dass die Strategie in eine Regierungsbeteiligung münden muss. Natürlich ist auch das Zeil einer jeden kommunistischen Strategie, eine revolutionäre Arbeiter:innenregierung zu schaffen. Diese ist aber letztlich nur als Mittel zum Übergang zur Herrschaft der Arbeiter:innenklasse oder, in ihrer eigentlichen Form, als „Diktatur des Proletariats“, möglich. Die „Realpolitik“ der Arbeiter:innenklasse kann nämlich nur vom Standpunkt ihrer zukünftigen Herrschaft und deren Vorbereitung richtig verstanden werden.

Diese grundlegende Schlussfolgerung Rosa Luxemburgs verschwindet bei der Luxemburg-Stiftung gänzlich, wird sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Zur strategischen Zielsetzung wird die „realistische“, „grundlegende“ Reform, die „solidarische Umgestaltung“.

Den Vordenker:innen der Linkspartei ist jedoch klar, dass eine solche „Umgestaltung“ keine Chance hat, wenn sie sich nur auf parlamentarische Mehrheiten stützt. Daher beurteilen sie das Regierungshandeln in Thüringen durchaus skeptisch, weil dieses keinem nennenswerten Druck von außen oder aus der Partei ausgesetzt ist. Sie halten eine Regierung auf Bundesebene erst recht für „verfrüht“ und erkennen, dass eine „Reformregierung“, die den Kurs der Großen Koalition fortsetzt, letztlich einer weiteren Stärkung der Rechten, v. a. der AfD, den Weg bereitet. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

„Und schließlich muss die Linke an einer politischen Machtperspektive arbeiten. Dies darf nicht auf Wahlen verengt werden… Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn die Mobilisierung nicht mit einer nachhaltigen Verankerung und Organisierung verbunden wird. Eine politische Linke in den Vertretungsorganen ohne eine starke, eigenständige, kritische gesellschaftliche Linke, die in den Nachbarschaften, in Betrieben, in Initiativen und Bewegungen verankert ist, muss scheitern.“ (Brie/Candeias)

Die Linkspartei müsse einen „Spagat“ vollziehen zwischen „Bewegungspartei“ („Netzwerkpartei“) und „strategischer Partei“, die die verschiedenen Bewegungen, zusammenführt, Klassenfragen und Fragen der sozialen Unterdrückung vereint und ihnen eine Ausrichtung gibt.

Solcherart könne eine Umgestaltung vollzogen werden, die parlamentarische und institutionelle Mittel des Staates nutzt, den Kampf gewissermaßen „um den Staat und im Staat“ führt und gleichzeitig auch Gesamtstratege der heterogenen Widerstandsmilieus wäre.

Im Gegensatz zu naiven Bewegungslinken sehen sie ein, dass sich aus der Addition der spontanen Initiativen „von unten“, von Bewegungen, sozialen Kämpfen, Platzbesetzungen, Streiks, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung oder „Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle“, wie manche Projekte übertrieben genannt werden, keine gemeinsame Strategie ergibt. Eine „verbindende“ Partei reicht dazu nicht aus, es braucht eine strategische.

Es erhebt sich aber die Frage, warum Parteien wie Syriza diesen Spagat nicht durchzuhalten vermochten. In der Broschüre „Klasse verbinden“ wird lediglich festgehalten, dass sie die „Bewegungswurzeln“ nicht beibehalten konnte, dass eine  solche Entwicklung auch dem Linksblock in Portugal drohe oder auch die Bilanz der „linken“ Stadtverwaltung in Barcelona diskussionswürdig sei.

Strategische Partei und Staat

Die Lösung liege in einer „strategischen Partei“, die Elemente der „verbindenden Partei“ (Partei der Bewegungen) aufnimmt. Das sei notwendig, damit sie im Zuge der gesellschaftlichen Transformation eine doppelte Aufgabe erfüllen könne. Als Partei müsse sie den Staatsapparat transformieren, in dessen Institutionen eindringen. Dies könne aber nur gelingen, wenn sich ihr Handeln nicht auf den Staatsapparat, Parlament und Regierung konzentriert, wenn sie sich zugleich auf Massenbewegungen außerhalb stützt bzw. von diesen unter Druck gesetzt werden kann.

„Als Linke in die Institutionen zu gehen, ob in Athen, Barcelona oder Madrid, führt in einen politischen Limbo, sofern es nicht gelingt, diese Institutionen zu öffnen für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen und Solidaritätsstrukturen aus der Zivilgesellschaft und damit eine weiterreichende Partizipation aller populären Klassen zu verankern.“ (Candeias, Gedanken zu Porcaros „strategischer Partei“, in: Klasse verbinden, S. 20)

Dazu bedürfe es „eigener ‚stabiler Institutionen‘ jenseits des Staates, die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden können.“ (Ebenda, S. 20)

Reformismus reloaded

Diese „Institutionen“ sind einerseits politische und gesellschaftliche Bewegungen, andererseits wären es aber auch „Institutionen“, die „schon heute eine ‚materielle Macht‘ ausbilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktive Ressourcen einer solidarischen Ökonomie entwickelt, um den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten – der oft zitierte Plan C.“ (Ebenda, S. 20). Dieser Plan ist nur eine Reformulierung des alten Revisionismus und der Sozialstaatspläne der Nachkriegssozialdemokratie auf niedrigem Niveau.

Die aktuelle Periode engt den „Spielraum“ für solche Pläne ein, verurteilt sie rasch dazu, zum reinen Reparaturbetrieb zu werden. Daran ändert auch die Verklärung von  selbstverwalteten Betrieben, besetzten Häusern, Nachbarschaftshilfe oder Beteiligungshaushalten zu Institutionen gesellschaftlicher „Gegenmacht“ nichts.

Die Strateg:innen der Linkspartei kommen hier bei Bernstein an – allerdings in einer widersprüchlicheren Form. Der „alte“ Revisionismus oder auch die Politik der Sozialdemokratie der 60er und frühen 70er Jahre versuchten ihre Politik durch angebliche Wandlungen des Kapitalismus zu begründen, die den Boden für eine schrittweise Verbesserung der Lage der Arbeiter:innenklasse und eine immer größere Demokratisierung des Systems abgeben würden.

Die mit Entstellungen der Arbeiten von Luxemburg oder Gramsci getränkte strategische Ausrichtung der Luxemburg-Stiftung akzeptiert hingegen, dass wir in einer Krisenperiode leben. Sie will aber nichts davon wissen, dass diese eine Strategie der revolutionären Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse erfordert.

Syriza ist in Griechenland nicht daran gescheitert, dass der Spagat zwischen „Regierung“ und „Bewegung“ nicht funktionierte. Sie ist vielmehr an den inneren Widersprüchen einer reformistischen Realpolitik gescheitert – einerseits die Lage der Massen verbessern zu wollen und andererseits die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Verelendung, also den Kapitalismus selbst, nicht anzugreifen, sondern „mitzuverwalten“.

Klassencharakter des Staates

Die „Transformation“ des griechischen Staates ist nicht an einzelnen Fehlern von Syriza-Politiker:innen und am mangelnden Druck der Bewegung gescheitert. Sie wurde vielmehr unvermeidliches Opfer dieser Institutionen, weil der bürgerliche Staat selbst nicht zu einem Mittel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft „transformiert“ werden kann. Genau das vertreten aber der „alte“ wie moderne Revisionismus, indem sie den Klassencharakter des bürgerlichen Staates negieren. Mit Luxemburg werden so auch gleich Marx‘ Lehren aus der Pariser Commune oder Lenins „Staat und Revolution“ entsorgt.

Die „revolutionäre Realpolitik“ entpuppt sich letztlich als bürgerliche, die bei allem Beschwören von „Bewegungen“ und „Gegenmacht“ letztlich auf einen friedlichen, graduellen, parlamentarischen Übergang zum Sozialismus, also auf den Sankt-Nimmerleinstag orientiert.

Für die Strateg:innen der Linkspartei ist der bestehende, wenn auch zu transformierende Staat, das entscheidende politische Instrument. Abgestützt werden müsse dieses durch Eroberung ideologischer Positionen und Vorherrschaft („Hegemonie“) in der Zivilgesellschaft und den Aufbau von „Gegenmacht“. Solcherart wäre eine schrittweise Transformation möglich. Dabei wird die Revolution zu einer Reihe von Reformen. Auch hier befindet sich die Linkspartei in Gesellschaft von Bernstein, nicht von Luxemburg:

„Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die kondensierte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlagen der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, Werke, Band 1, S. 428)




Luxemburg/Liebknecht-Ehrung: in wessen Spuren?

Martin Suchanek, Infomail 1210, 14. Januar 2023

Die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration ist – wie jedes Jahr – eine verschiedener Strömungen, von Linken verschiedener Spektren gegen Kapitalismus, Imperialismus und Ausbeutung. Aber sie ist auch mehr und mehr zu einem leblosen Ritual verkommen, zu einer Mischung aus Gedenken und Gedankenlosigkeit. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Die Demonstration steht nicht wirklich in Bezug zu den aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Damit ist nicht diese oder jene teilnehmende Gruppierung gemeint, sondern vielmehr ihr immer gleicher Ablauf. Der Aufruf zur LL-Demonstration ist – zu Recht – nicht weiter bekannt und im Grunde immer derselbe.

Die Demonstration ist somit für die Klassenkämpfe, Mobilisierungen, Aktionen über den 2. Sonntag im Januar hinaus folgenlos. Einen Versuch, die Lohnabhängigen über die schon organisierte Linke hinaus zu erreichen oder direkt an Mobilisierungen wie dem Kampf um Lützerath anzuknüpfen, gibt es nicht.

Politisch-ideologisch ist die Demonstration v. a. von Gruppierungen geprägt, die aus einer stalinistischen Tradition stammen. Das fängt bei den eigentlichen Organisator:innen an und zeigt sich auch auf der Marschroute selbst. Schon das verleiht dem Gedenken an Liebknecht, Luxemburg und Lenin einen fragwürdigen Charakter. Hier sollen kommunistische Theoretiker:innen und Politiker:innen für eine letztlich dem Kommunismus fremde Tradition, die untrennbar mit der Verteidigung bürokratischer Herrschaft über das Proletariat verbunden ist, missbraucht werden.

Nicht minder abstoßend wirkt, wenn Reformpolitiker:innen der Linkspartei oder gar SPD-Apparatschiks aus der zweiten, vorgeblich linken Jusoriege Karl und Rosa ihre Aufwartung machen und – wie die Stalinist:innen – deren Erbe nur für die eigenen, alles andere als revolutionären und emanzipatorischen Zwecke missbrauchen.

Es gibt also viel zu kritisieren an der LL-Demonstration wie auch an den Feierlichkeiten von Linkspartei und Sozialdemokratie. Und es bedarf auch keiner großen Kenntnis des politischen Werks der beiden Revolutionär:innen, um zu wissen, dass ihnen eine solche „Gedenkform“ zuwider gewesen wäre.

Der beklagenswerte, ritualisierte Charakter des „Gedenkens“ wirft jedoch auch die Frage auf, was eine echte Würdigung Luxemburgs und Liebknechts bedeutet. Es geht hier nicht einfach um die „Verehrung“ zweier heroischer Kämpfer:innen, die, wie auch Hunderttausende, ja Millionen Namenlose Opfer der herrschenden Klasse waren. Es geht v. a. darum, an welche ihrer Positionen revolutionäre, kommunistische Politik heute anknüpfen kann und muss, welche für die gegenwärtigen und zukünftigen Klassenkämpfe fruchtbar zu machen sind.

Im Folgenden wollen wir thesenartig darlegen, an welchen Positionen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht es auch heute anzuknüpfen gilt.

1. Massenstreik als revolutionäres Kampfmittel

Rosa Luxemburg hebt zu Recht die Bedeutung des POLITISCHEN Massenstreiks als eines revolutionären Kampfmittels hervor – zur Vereinheitlichung der Klasse der Lohnabhängigen, gerade, weil der rein gewerkschaftliche Kampf, der Teilkampf der schon Organisierten seine Grenzen hat.

Sie sieht ihn als Mittel der Zuspitzung und Einbeziehung der Massen, zu deren praktischem selbstständig Werden.

Daher richtet sich ihre Kritik nicht nur an die Gewerkschaftsbürokratie und die Parteirechte in der Sozialdemokratie, sondern auch gegen Kautskys Demonstrations-Streikkonzeption und seine „Ermattungsstrategie“.

2. Antimilitarismus und Internationalismus

Liebknechts und Luxemburgs Politik ist untrennbar mit dem Kampf gegen militärische Intervention, gegen die Militarisierung v. a. der Jugend verbunden.

Die imperialistische Politik der „eigenen herrschenden“ Klasse, des Hauptfeinds, der im eigenen Land steht, muss ihnen zufolge mit den Mitteln des Klassenkampfes bekämpft werden. Dazu gehört ihr Eintreten für gemeinsame Aktion der Arbeiter:innenklasse, die Agitation im Krieg, die selbst half, die politischen Grundlagen für Streikaktionen wie jene in der Rüstungsindustrie Anfang 1918 zu legen.

Antimilitarismus war für sie keine auf ein Land beschränkte Sache, sondern untrennbar mit der internationalen Aktion der Klasse verbunden – und damit auch mit dem Kampf für den Aufbau einer neuen Internationale, nachdem die Zweite degeneriert war.

3. Charakterisierung der Epoche als imperialistisch

Luxemburg erkennt wie eine Reihe anderer Theoretiker:innen, dass an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Epochenwechsel stattfindet, dass der Kapitalismus zu einem Hindernis für die gesellschaftliche Entwicklung geworden ist.

Entgegen den Vorstellungen der revisionistischen Theoretiker:innen in der Sozialdemokratie hebt sie hervor, dass wir in eine Epoche der engeren Verschmelzung von Staat und Kapital, der Aushöhlung der Demokratie eingetreten sind. Daher kommt für sie auch die Entwicklung zum Krieg um eine Neuaufteilung der Welt nicht überraschend, sondern wird vorhergesehen. Prägnant wird das in der Formulierung der historischen Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ ausgedrückt.

4. Kritik am Reformismus

Luxemburg erkennt als eine der ersten, dass das reine Gewerkschafter:innentum und der Revisionismus als frühe Formen des Reformismus unbedingt bekämpft werden müssen. Sie erkennt früher als viele andere, dass es sich hier nicht um einen anderen Weg zum gleichen Ergebnis, sondern letztlich auch um ein anderes Ziel handelt – und damit um die Aufgabe des Klassenstandpunktes des Proletariats überhaupt.

Der Sozialismus ergibt sich für Luxemburg „aus den immer mehr sich zuspitzenden Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft und aus der Erkenntnis der Arbeiterklasse von der Unerläßlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung.”

Und weiter schreibt sie: „Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es der Revisionismus tut, dann reduziert sich die Arbeiterbewegung zunächst auf simple Gewerkvereinlerei und Sozialreformerei und führt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen des Klassenstandpunktes.” (Luxemburg: Sozialreform oder Revolution)

5. Kritik am Versöhnler:innentum

Für Luxemburg ist Reformismus – selbst wenn er den Sozialismus als „Endziel“ einer fernen Zukunft proklamiert – bürgerliche Politik, der „linke“ Flügel der bürgerlichen Ordnung. Sie wendet sich aber nicht nur gegen die Berufsverräter:innen der Bürokratie, welche die Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien bis heute beherrschen. Sie richtet sich auch gegen alle, die den grundlegenden Unterschied zwischen Kommunismus und Reformismus unter den Teppich kehren wollen.

Luxemburg wendet sich daher mit großer polemischer und analytischer Schärfe auch gegen das Versöhnler:innentum, gegen den Zentrismus. So kritisiert sie schon sehr viel früher als andere auch die Politik Kautskys in der Sozialdemokratie.

6. Notwendigkeit der proletarischen Diktatur

Alle Kampfmittel, Teilkämpfe, jede Taktik werden von Luxemburg letztlich als Mittel zum Erreichen des eigentlichen Ziels der Arbeiter:innenklasse, der geschichtlichen Bewegung, des revolutionären Sturzes des Kapitalismus begriffen. Das heißt, dass der Kampf um die politische Machtergreifung, die Errichtung der Diktatur des Proletariats geführt werden muss.

Für Luxemburg entspricht die soziale Revolution einem weltgeschichtlichen Bürgerkrieg, einem zwischen Klassen. Daher muss sich die revolutionäre Klasse auch rüsten, um diesen Krieg zu gewinnen. Prägnant formuliert sie das in „Was will der Spartakusbund?“: „Eine solche Ausrüstung der kompakten arbeitenden Volksmasse mit dem ganzen politischen Arsenal für die Aufgaben der Revolution, das ist die Diktatur des Proletariats und deshalb die wahre Demokratie.“

Zweifellos hatte Luxemburg nichts mit der bürokratischen Diktatur des Stalinismus am Hut. Für sie war Sozialismus die breiteste Demokratie der arbeitenden Massen. Aber sie war auch keine Dutzenddemokratin, die sich davor gescheut hätte, offen die Notwendigkeit auszusprechen, dass die Arbeiter:innenklasse zu ihrer Befreiung die politische Macht nicht nur erobern, sondern auch verteidigen muss.

7. Notwendigkeit der revolutionären Partei

Für Luxemburg steht die Notwendigkeit der Organisierung der Avantgarde, der bewusstesten Teile der Arbeiter:innenklasse zur politischen Partei nie in Frage.

Luxemburg besteht vielmehr – und zwar zu Recht – darauf, dass diese auch die Aktion der Gewerkschaften resp. der Parteimitglieder in Gewerkschaften und Bewegungen bestimmen muss.

Das zeigt sich natürlich auch darin, dass einen zentralen Teil ihres Lebenswerkes der Kampf für den Aufbau einer revolutionären Partei ausmachte: der Sozialdemokratie in Polen und Litauen, der Kampf auf dem linken, revolutionären Flügel der SPD und die Gründung der KPD.

Ihr Verständnis davon kommt deutlich zum Ausdruck in „Was will der Spartakusbund?“: „Der Spartakusbund ist nur der zielbewußteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtliche Aufgabe hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt.“

Zweifellos zeigte Luxemburgs Werk auch etliche Schwächen: so ihre Akkumulations- und Krisentheorie; ihr falsches Verständnis der nationalen Frage; ihr Zögern im Kampf um die Gründung der Kommunistischen Internationale (siehe dazu den Beitrag „Luxemburgs Beitrag zum Marxismus“ ).

Zweifellos hat sie in etlichen Abschnitten ihres Werkes und Wirkens die Rolle der Spontaneität im Klassenkampf zu hoch bewertet. Selbst ihren Überspitzungen lag jedoch ein richtiges Element zugrunde, wo es sich gegen die bürokratische, passive und antirevolutionäre Behäbigkeit der Sozialdemokratie und Gewerkschaften wandte.

Die Vorstellung, dass Luxemburg eine grundlegende Alternative zum Leninismus darstelle oder herausgearbeitet habe, ist jedoch eine nachträgliche Konstruktion, die ihr Werk selbst entstellt. Es ist eine Mythologisierung, die Stalinismus und Sozialdemokratie teilen, um die jeweils eigene, nichtrevolutionäre Politik zu legitimieren.




Angriff auf LL-Demo – eine geplante Provokation

Janosch Janglo, Infomail 1134, 11. Januar 2021

Auch in diesem Jahr fand trotz Corona oder gerade wegen des 150. Geburtstags von Rosa Luxemburg die alljährliche LL-Demo zum Gedenken an die Ermordung von Karl und Rosa am 15. Januar 1919 statt. Aufgrund der Corona-Pandemie kamen diesmal weitaus weniger TeilnehmerInnen. Sicher trug dazu auch die Absage der Partei DIE LINKE bei, an der Demo teilzunehmen, um ihr Gedenken auf den 14. März zu verlegen. Trotzdem folgten ca. 2.500 Menschen dem Aufruf des Bündnisses und wollten sich es nicht nehmen lassen.

Bevor sich der Demozug aber vom Frankfurter Tor zur Gedenkstätte nach Friedrichsfelde aufmachen konnte, hatte sich die Berliner Bullerei ein ganz besonderes Jubiläumsgeschenk ausgedacht. So fiel der Polizeiführung – ob mit Wissen oder stillschweigender Duldung des rot-rot-grünen Senats – nach 30 Jahren plötzlich auf, dass die FDJ wie in jedem Jahr bei dieser Demo mitläuft und dies durch Fahnen auch offen zeigt. Nach Meinung der bürgerlichen OrdnungshüterInnen sei dies das Zeigen von Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation gewesen. So bastelte man sich wieder einmal die Rechtfertigung für einen brutalen Angriff auf eine linke Demonstration. Dafür gab es als Willkommensgeschenk ordentlich Pfeffer und Schlagstöcke von der Bullerei, bis alle Fahnen der FDJ von der Demo gewaltsam entfernt, viele DemonstrantInnen verletzt oder festgenommen waren. Das stellt ganz klar ein illegales Vorgehen der Bullerei dar und kann getrost als im Vorfeld geplante Eskalation bezeichnet werden. 30 Jahre nach der Wende ist eigentlich jedem/r bekannt, dass die FDJ in Ostdeutschland per Einigungsvertrag legal ist. Zu diesem Gebiet zählt auch Ostberlin. So konnte die FDJ noch im Oktober gegen die Einheitsfeier ganz legal durch die Hauptstadt marschieren und im Juni in Zwickau eine Demo anmelden und auch durchführen.

Klar muss man die stalinistische DDR-Lobhudelei der FDJ kritisieren, aber richtigerweise solidarisierte sich die Demonstration mit dieser Organisation. Viele TeilnehmerInnen bildeten Ketten, um den Aufmarsch vor den Angriffen der Bullen zu schützen. Da konnte man natürlich auch keine Rücksicht mehr auf Abstandsauflagen einhalten, auch wenn das die Bullerei zynischerweise forderte. Insgesamt wurden rund 35 Personen festgenommen, gegen 56 wurden lt. Polizei Strafanzeigen gestellt, mindestens zehn DemonstrantInnen wurden zum Teil schwer verletzt. Bezeichnend, wenn auch nicht überraschend, war auch der Kontrast des brutalen Einsatzes zum Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte gegenüber den Aktionen der Corona-LeugnerInnen. Mit einer Stunde Verspätung konnte der Demozug endlich loslaufen, auch wenn es auf dem Weg zur Gedenkstätte immer wieder zu einzelnen Festnahmen kam.

Beim Angriff am 10. Januar handelte es sich um eine gezielte Provokation. Freilich sollten wir unseren Blick dabei nicht nur auf das skandalöse Vorgehen der Polizei richten.

Dieses, das einen provokanten Bruch mit der bisherigen Rechtslage und Praxis darstellt, begründete die Polizei lt. Berliner Morgenpost damit, dass die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages nunmehr zur Einschätzung gekommen wären, dass das Verwenden von FDJ-Abzeichnen nach Paragraph 86a des Strafgesetzbuches zu ahnden sei. Dass sich die Polizei diese strittige, antidemokratische Rechtsauslegung ausgerechnet zur LL-Demo zu eigen gemacht hat, stellt eine gezielte Provokation dar.

Es wirft aber auch die Frage nach der Rolle des SPD-geführten Innensenats und der rot-rot-grünen Koalitionsregierung auf. Dass sie „ihre“ Polizei nicht im Griff hat, wenn sie das Demonstrationsrecht angreift, wollen wir nicht gänzlich ausschließen. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Innensenator Geisel betätigt sich seit Jahren als politischer und polizeilicher Scharfmacher gegen besetzte Häuser wie überhaupt gegen die Berliner Linke. Während der SPD-Innensenat den Takt vorgibt und Geisel den Mini-Noske spielt, schweigt der „Rest“ des Senats, wäscht seine Hände in Unschuld und setzt ansonsten weiter auf die bewährte „Zusammenarbeit“ und Arbeitsteilung, wenn es um Angriffe auf besetzte Häuser, linke Organisationen und demokratische Rechte geht.

  • Weg mit allen Verboten linker Organisationen!
  • Einstellung aller Ermittlungen und Verfahren!
  • Öffentliche Untersuchung der Machenschaften der Berliner Polizei, der Rolle des Innensenats und der rot-rot-grünen Koalition!



Luxemburgs Beitrag zum Marxismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

In der Nacht vom 15. zum 16. Januar 1919 wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – heroische VorkämpferInnen und führende Köpfe der Revolution – bestialisch ermordet. Der deutsche Imperialismus zeigte einmal mehr, dass er zum Erhalt seiner Macht vor keinem Verbrechen zurückschreckt. Auch die deutsche Sozialdemokratie offenbarte wie schon im Ersten Weltkrieg oder später bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik ihre Bereitschaft, für die Verteidigung des Kapitalismus durch ein Meer von Blut zu waten.

Politische Leichenschändung

Wie viele andere revolutionäre KämpferInnen des 20. Jahrhunderts mussten Liebknecht und Luxemburg nicht nur zu ihren Lebzeiten Verleumdung und pogromartige Hetze ertragen. Auch posthum wurde ihr Andenken geschändet – und zwar nicht nur von der offen bürgerlichen, imperialistischen Reaktion.

Die Sozialdemokratie, die Luxemburg und Liebknecht bis aufs Blut bekämpft hat, und deren Parteispitze an ihrer Ermordung tätig mitwirkte, beruft sich bei Bedarf auch auf das „Erbe“ jener, die sich gegen solche obszön-zynische Eingemeindung nicht mehr wehren können.

In ähnlicher Weise „gedachte“ jahrzehntelang die stalinistische Bürokratie, die schon Lenins revolutionäres Erbe pervertiert hatte und den Strategen und Führer der Oktoberrevolution unfreiwillig symbolträchtig im Mausoleum entsorgte, jener Rosa Luxemburg, gegen deren revolutionären Internationalismus sie im Zuge der bürokratischen Degeneration zu Felde zog.

Ihrem politischen und theoretischen Beitrag zum Marxismus, der sie zur größten Revolutionärin des 20. Jahrhunderts machte, wollen wir uns in diesem Artikel widmen. Angesichts seiner Kürze kann die Darstellung nur einen Überblick über ihre zentralen theoretischen Positionen liefern. Eine intensivere Beschäftigung mit dem Werk Rosa Luxemburgs will sie nicht ersetzen, sondern vielmehr anregen.

Das trifft umso mehr zu, als die 1871 im polnischen Zamosc in einem liberalen jüdischen Elternhaus geborene Luxemburg in ihrem kurzen Leben auf verschiedenen Feldern für den revolutionären Marxismus focht.

Sie gründete zwei revolutionäre Parteien: die „Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauen“ (SDKPL) und die KPD bzw. deren Vorläufer Spartakusbund und leitete sie. Sie stand jahrelang auf dem linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie und der Zweiten Internationale – gegen den aufkommenden Reformismus, aber auch als eine der ersten gegen den Zentrismus der KautskyanerInnen.

Ihr Name ist untrennbar mit dem Kampf gegen den Revisionismus, mit der Analyse der Tendenzen der kapitalistischen Weltwirtschaft, mit der programmatischen Entwicklung der revolutionären Linken vor dem Ersten Weltkrieg und mit der Gründung der KPD verbunden.

Revisionismusstreit

Ende des 19. Jahrhunderts, am Übergang zur imperialistischen Epoche, entbrannte in der ArbeiterInnenbewegung eine grundlegende theoretische und programmatische Debatte um die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und die Taktik der sozialistischen Parteien.

Der wohl bekannteste Theoretiker der sozialdemokratischen Rechten, Eduard Bernstein, versuchte in der 1899 erstmals veröffentlichten Arbeit „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, die Marx’sche Theorie und die darauf fußende revolutionäre Taktik einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen. Er wollte damit zugleich der mehr und mehr reformerisch gewordenen, auf Wahlkämpfe und Wahlen konzentrierten Alltagspraxis der Sozialdemokratie wie dem rein auf ökonomische Verbesserungen beschränkten Wirken der Gewerkschaften eine theoretische Grundlage verschaffen.

Bernstein argumentierte, dass die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts Marx‘ Konzeption des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise widerlegt hätte. Auch die Tendenz zur immer größeren Konzentration und Zentralisation des Kapitals hätte sich nicht verwirklicht. Vielmehr wären die Mittelklassen angewachsen. Schließlich ginge die Entwicklung des Kapitalismus mit einer immer größeren Ausdehnung der bürgerlichen Demokratie einher und würde so der ArbeiterInnenbewegung im Bündnis mit DemokratInnen die schrittweise Verbesserung, die „Hebung der Lage der ArbeiterInnenklasse“ und die schrittweise, reformerische Umgestaltung der Gesellschaft ermöglichen.

Luxemburg antwortet in „Sozialreform oder Revolution“ mit einer vernichtenden Kritik an Bernstein und am gesamten Revisionismus.

Auf über 100 Seiten widerlegt sie die Bernstein’schen Thesen präzise. Sie nimmt damit auch die Entgegnung auf die wichtigsten Argumentationsketten ganzer Generationen später geborener ReformistInnen und SozialreformerInnen, der Lafontaines und Gysis, der Corbyns und Tsipras‘, der verschiedenen „demokratischen SozialistInnen“ und anderer Mini-Bernsteins des 20. und 21. Jahrhunderts vorweg. So fasst sie die Konsequenzen dieser Theorie u. a. in folgenden Worten zusammen:

„Am nächsten und wahrscheinlichsten erfolgt dann eine Verschiebung in der Taktik nach der Richtung, um durch alle Mittel die praktischen Resultate des Kampfes, die Sozialreformen zu ermöglichen. Der unversöhnliche, schroffe Klassenstandpunkt, der nur im Hinblick auf eine angestrebte politische Machteroberung Sinn hat, wird immer mehr zu einem bloßen Hindernis, sobald unmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden. Der nächste Schritt ist also eine „Kompensationspolitik“ – auf gut deutsch: eine Kuhhandelspolitik – und eine versöhnliche, staatsmännisch kluge Haltung. Die Bewegung kann aber auch dabei nicht lange stehen bleiben. Denn da die Sozialreform einmal in der kapitalistischen Welt eine hohle Nuß ist und allezeit bleibt, mag man eine Taktik anwenden, welche man will, so ist der nächste logische Schritt die Enttäuschung auch in der Sozialreform, d. h. der ruhige Hafen, wo nun die Professoren Schmoller und Co. vor Anker gegangen sind, die ja auch auf sozialreformerischen Gewässern durchstudierten die groß‘ und kleine Welt, um schließlich alles gehn zu lassen, wie’s Gott gefällt. Der Sozialismus erfolgt also aus dem alltäglichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nicht von selbst und unter allen Umständen. Er ergibt sich nur aus den immer mehr sich zuspitzenden Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft und aus der Erkenntnis der Arbeiterklasse von der Unerläßlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung. Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es der Revisionismus tut, dann reduziert sich die Arbeiterbewegung zunächst auf simple Gewerkvereinlerei und Sozialreformerei und führt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen des Klassenstandpunktes.“ (Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, in: Gesammelte Werke [LGW] 1/1, S. 402 ff.)

Notwendigkeit der revolutionären Machteroberung

Luxemburg verdeutlicht hier den unüberbrückbaren Gegensatz von revolutionärer, marxistischer Strategie und Taktik einerseits und reformistischer andererseits. In „Sozialreform oder Revolution“ zeigt sie, dass, anders als von Bernstein und Co. behauptet, der imperialistische Kapitalismus nicht mehr und mehr zur Demokratie führt.

So weist sie Bernstein und Co. nach, dass sie die Ablösung einer halbfeudalen oder feudalen Staatsmaschinerie im 19. Jahrhundert und ihre Ersetzung durch einen kapitalistischen und bürokratischen Mechanismus oberflächlich mit einem „mehr an Demokratie“ verwechseln. Vielmehr geht die allgemeine Tendenz der Entwicklung Richtung verschärfter und verallgemeinerter Konkurrenz auf dem Weltmarkt, Militarismus, also Reaktion nach außen. Dieser entspricht, so Luxemburg, zunehmende Reaktion, Einschränkung der bürgerlichen Demokratie im Innern.

Aus alldem ergibt sich für Luxemburg die unbedingte Notwendigkeit des Festhaltens an der revolutionären Machtergreifung, der Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat.

„In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft diente die gesetzliche Reform zur allmählichen Erstarkung der aufstrebenden Klasse, bis sie sich reif genug fühlte, die politische Macht zu erobern und das ganze bestehende Rechtssystem umzuwerfen, um ein neues aufzubauen. Bernstein, der gegen die Eroberung der politischen Macht als eine blanquistische Gewalttheorie wettert, passiert das Malheur, daß er das, was seit Jahrhunderten der Angelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, für einen blanquistischen Rechenfehler hält. Seit die Klassengesellschaften existieren und der Klassenkampf den wesentlichen Inhalt ihrer Geschichte bildet, war nämlich die Eroberung der politischen Macht stets ebenso das Ziel aller aufstrebenden Klassen, wie der Ausgangs- und der Endpunkt jeder geschichtlichen Periode. Dies sehen wir in den langen Kämpfen des Bauerntums mit den Geldkapitalisten und dem Adel im alten Rom, in den Kämpfen des Patriziertums mit den Bischöfen und des Handwerkertums mit den Patriziern in den mittelalterlichen Städten, in den Kämpfen der Bourgeoisie mit dem Feudalismus in der Neuzeit.

Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbuffet nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z. B. Südpol und  Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.“ (ebenda, S. 427 f.)

Generalstreikdebatte

Die Frage des Verhältnisses von Reform und Revolution warf in der Sozialdemokratie natürlich auch praktische Fragen auf. Hier nur einige, wichtige:

  • Auseinandersetzung um den Eintritt in bürgerliche Reformregierungen durch die französische Sozialdemokratie;
  • Haltung zum Generalstreik;
  • Kampf um das Frauenwahlrecht;
  • Kolonialpolitik;
  • Kampf gegen den Militarismus und den herannahenden Krieg.

Wie schon aus den obigen Fragen erkennbar, betrafen die Auseinandersetzungen zwischen rechtem und linkem Parteiflügel bis zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale alle grundlegenden Fragen der nationalen und internationalen Politik. Die zunehmenden Gegensätze, deren Unvereinbarkeit Luxemburg früher als alle anderen prominenten AnführerInnen des linken Flügels, also auch eher als Lenin und Trotzki, erkannte, wurden immer deutlicher. Immer mühsamer wurde sie, v. a. nach der Niederlage der Russischen Revolution 1905, vom „Zentrum“ um Bebel und Kautsky zusammengehalten. Ihre Lösung für die Konflikte zwischen Linken und Rechten bestand zunehmend in Formelkompromissen, Zurückweisung von Revisionismus und Reformismus in der Theorie und deren Akzeptanz in der Praxis.

Luxemburg wurde hingegen mehr und mehr zum Hassobjekt nicht nur der Reaktion, von Feudalen und Bürgerlichen, sondern auch der Parteirechten und der GewerkschaftsführerInnen in Deutschland.

Gerade in den Spitzen der Gewerkschaften fand sich um die Jahrhundertwende der organisierte Kern der Rechten in der Partei, des Revisionismus. Was Bernstein „wissenschaftlich“ zu begründen suchte, setzten die „PraktikerInnen“ längst um. Sie wollten keine „Revolutionsspielchen“, sie wollten keine „Generalstreikabenteuer“ oder „Generalunsinn“, sie wollten sich nicht von Sozialistischer Internationale und Partei zu militanten Formen des Klassenkampfes gegen den heraufziehenden imperialistischen Krieg oder gar gegen die Kanonenbootpolitik des Wilhelminismus verpflichten lassen. Wie Luxemburg gut erkannt hatte, war der „schroffe Klassenstandpunkt“ des Marxismus für sie ein Hindernis bei ihrer gewerkschaftlichen „Kompensationspolitik“.

Verhältnis von Partei und Gewerkschaft

Daher auch das permanente Streben der Gewerkschaftsführungen in Deutschland, sich von Beschlüssen der Sozialdemokratie oder internationalen Kongressen „unabhängig“ zu machen. Luxemburg wetterte scharf gegen diese Absichten und zerpflückte die ganze Politik der Apparate in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“:

„Diese Theorie von der parallelen Aktion der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften und von ihrer ,Gleichberechtigung‘ ist jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern hat ihre geschichtlichen Wurzeln. Sie beruht nämlich auf einer Illusion der ruhigen, ,normalen‘ Periode der bürgerlichen Gesellschaft, in der der politische Kampf der Sozialdemokratie in dem parlamentarischen Kampf aufzugehen scheint. Der parlamentarische Kampf aber, das ergänzende Gegenstück zum Gewerkschaftskampf, ist ebenso wie dieser ein Kampf ausschließlich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Er ist seiner Natur nach politische Reformarbeit, wie die Gewerkschaften ökonomische Reformarbeit sind. Er stellt politische Gegenwartsarbeit dar, wie die Gewerkschaften ökonomische Gegenwartsarbeit darstellen. Er ist, wie sie, auch bloß eine Phase, eine Entwicklungsstufe im Ganzen des proletarischen Klassenkampfes, dessen Endziele über den parlamentarischen Kampf wie über den gewerkschaftlichen Kampf in gleichem Maße hinausgehen. Der parlamentarische Kampf verhält sich zur sozialdemokratischen Politik denn auch wie ein Teil zum Ganzen, genauso wie die gewerkschaftliche Arbeit. Die Sozialdemokratie [an sich] ist eben heute die Zusammenfassung sowohl des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes in einem auf die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gerichteten Klassenkampf.

Die Theorie von der ‚Gleichberechtigung‘ der Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie ist also kein bloßes theoretisches Mißverständnis, keine bloße Verwechslung, sondern sie ist ein Ausdruck der bekannten Tendenz jenes opportunistischen Flügels der Sozialdemokratie, der den politischen Kampf der Arbeiterklasse auch tatsächlich auf den parlamentarischen Kampf reduzieren und die Sozialdemokratie aus einer revolutionären proletarischen in eine kleinbürgerliche Reformpartei umwandeln will. Wollte die Sozialdemokratie die Theorie von der ,Gleichberechtigung‘ der Gewerkschaften akzeptieren, so würde sie damit in indirekter Weise und stillschweigend jene Verwandlung akzeptieren, die von den Vertretern der opportunistischen Richtung längst angestrebt wird.“ (LGW 2, S. 156 f.)

Obiges Zitat verdeutlicht übrigens auch, dass Luxemburg keineswegs eine „reine“ „Spontaneitätstheorie“ der Entwicklung von Klassenbewusstsein oder des Verhältnisses von Partei und Bewegung vertrat. Das kommt auch dort zum Vorschein, wo sie immer wieder die Notwendigkeit der Sammlung, Formierung und Schulung der fortgeschrittensten ArbeiterInnen, der Avantgarde, in einer revolutionären Klassenpartei betont, einer Partei, die Führerin des Kampfes sein muss.

Kritik an Kautsky

Ein bleibendes Verdienst Luxemburgs ist es, nicht nur gegen die Rechte zu polemisieren, sondern auch – früher als andere – den zunehmend kompromisslerischen und hohlen Charakter der Politik Kautskys zu erkennen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere in den Jahren 1910 – 1914, verschärfte sie ihre Angriffe gegen das „Zentrum“ der Partei, weil dieses mehr und mehr von revolutionärer Klassenpolitik gegen den Imperialismus abgerückt war. So brandmarkte Luxemburg die reformistische und pazifistische Programmatik Kautskys (Rüstungsbeschränkung, internationales Schiedsgerichte usw.).

Es ist kein Wunder, dass diese Arbeiten Rosa Luxemburgs heute kaum bekannt sind und rezipiert werden, bilden sie doch nicht nur eine vernichtende Kritik an Reformismus und Zentrismus, sondern auch den UN-Huldigungen der heutigen „Friedensbewegung“, der LINKEN, der DKP oder der Gewerkschaftsbürokratie.

Der zunehmende Gegensatz von Luxemburg zu Kautsky war zweifellos kein gewollter, von ihr forcierter. Er ergab sich vielmehr daraus, dass Luxemburg für einen aktiven, tätigen Marxismus eintrat, der mit den Grenzen der sozialdemokratischen Politik und programmatischen Methode immer wieder in Widerspruch geriet.

Diese wesentlich von Kautsky entwickelte Methode trennte schematisch zwischen dem Minimalteil, also den anstehenden „Tagesforderungen“ (gewerkschaftliche Rechte, Löhne, gesetzliche Reformen) und dem Maximalteil (Sozialismus, Machtergreifung des Proletariats). Da zwischen diesen beiden keine Vermittlung stattfand, konnte die Vorkriegssozialdemokratie jahrzehntelang eine reformistische Praxis betreiben und zugleich eine formell marxistische Theorie pflegen. Da die Revolution in weiter Ferne zu liegen schien, konnte der innere Gegensatz übertüncht werden.

Aber die aufkommende imperialistische Reaktion, der Militarismus, die Aufrüstung wie auch grundlegende demokratische Fragen und der Kampf gegen die soziale Unterdrückung der Frauen bedeuteten, dass sich die Grenzen des Minimal-Maximal-Programms auch in praktischen Fragen immer wieder zeigten.

Die Parteirechte und die revisionistischen TheoretikerInnen wollten keine „radikalen“ Aktionen wie den Generalstreik – weder im Kampf gegen den Militarismus noch für das allgemeine (Frauen-)Wahlrecht. Sie fürchteten, dass solche Kampfmethoden ihrer gradualistischen Politik, stetig mit friedlichen Mitteln neue Reformen zu erreichen, einen Strich durch die Rechnung machen, die Mittelklasse abschrecken und die Reaktion radikalisieren würden.

Für Luxemburg hingegen stellte die Zuspitzung der Klassengegensätze eine unvermeidliche Folge der Kapitalbewegung selbst dar. Daher betrachtet sie den Revisionismus nicht nur als eine Aufgabe des Klassenstandpunktes, sondern auch als reaktionäre Utopie.

Das hatte für sie Implikationen nicht nur für die direkte revolutionäre Zuspitzung des Kampfes, sondern auch für den um Reformen. Luxemburg war sich darüber klar, dass das allgemeine (Frauen-)Wahlrecht eine bürgerlich-demokratische Reform darstellt. Sie lehnte es aber nicht nur entschieden ab, dieses als untergeordnete Frage zu verstehen oder den Kampf hintanzustellen. Vielmehr schlug sie angesichts des extremen Widerstandes der bürgerlichen und auch monarchischen Reaktion vor, zu revolutionären Kampfmethoden wie z. B. dem politischen Massenstreik zu greifen, um solche Reformen durchzusetzen.

Allein diese Vorstellung beunruhigte die Parteirechte und brachte praktisch den Gegensatz des sich formierenden linken Flügels zum Revisionismus zum Ausdruck. Luxemburgs Versuch, die Parteitaktik zu radikalisieren, stellte also den „Frieden“ in der Sozialdemokratie in Frage, den das Zentrum Kautskys unbedingt bewahren wollte. Daher die zunehmende Schärfe dieses Gegensatzes schon lange vor dem Ersten Weltkrieg. Die Formierung einer subjektiv revolutionären Linken in der deutschen Sozialdemokratie und der zunehmende Bruch mit dem Zentrum Kauskys stellten zweifellos ein Verdienst Luxemburgs und anderer Parteilinker dar – aber, anders als die Formierung des Bolschewismus in der russischen Sozialdemokratie – nahm er keine systematisierte programmatische und organisatorische Form an. Die Stärke und Schwäche prägte schließlich auch die Herausbildung des Spartakusbundes, sein Verhältnis zur USPD und die verspätete Gründung der KPD.

Imperialismusbegriff und Krisentheorie

Luxemburg war bekanntlich auch eine Theoretikerin, die versuchte, die Entwicklung des Kapitalismus, seine inneren Krisentendenzen zu fassen. In „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ sowie in „Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik“ (beide in LGW, Band 5) stellt sie selbst den Anspruch, „daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muß“ (Antikritik, LGW 5, S. 431).

So groß Luxemburgs Verdienste in der Verteidigung der marxistischen Theorie und Positionen in vielen Fragen – nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie, wo sie zeigt, dass Marx sehr wohl eine „Zusammenbruchstheorie“ kennt – sind, so muss auch festgehalten werden, dass ihre Imperialismustheorie grundlegende methodische Schwächen aufweist und ihrer eigenen Zielsetzung, die „ökonomischen Wurzel (…) aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation“ herzuleiten, gerade nicht nachkommt.

Darauf haben u. a. Roman Rosdolsky in „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ und Henryk Grossmann in „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ hingewiesen. Dort fasst Grossmann seine Kritik wie folgt zusammen:

„Nicht aus den immanenten Gesetzen der Kapitalakkumulation, aus einer bestimmten Höhe derselben, leitet sie die Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus ab, sondern aus der transzendenten Tatsache des Fehlens nichtkapitalistischer Länder. War für Marx die Problematik des Kapitalismus mit dem Produktionsprozeß verknüpft, so verlegt Rosa Luxemburg die für die Existenz des Kapitalismus entscheidenden Probleme aus der Produktionssphäre in die Zirkulationssphäre.“ (Grossmann, S. 21)

Fehler Luxemburgs

Wie alle großen RevolutionärInnen hat Luxemburg auch wichtige Fehler gemacht. Sicher gehört zu den bekanntesten ihr mangelndes Verständnis der nationalen Frage und damit des Befreiungskampfes unterdrückter Nationen, wie Lenin in seiner Kritik an der Junius-Broschüre richtig festhält. Ebenso gehört zu den theoretischen Schwächen ihre, wenn auch von grundsätzlicher Solidarität getragene, Kritik an etlichen politischen und ökonomischen Maßnahmen der Oktoberrevolution unter Lenin und Trotzki dazu. Doch ihre Begeisterung für die Revolution war unbestreitbar groß. Sie erblickte im Oktoberaufstand immerhin die „Ehrenrettung des internationalen Sozialismus“.

Aber Luxemburg mochte sich mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen des ehemals zaristischen Russlands ebensowenig anfreunden wie mit dem Agrarprogramm der Oktoberrevolution.

Ihre vielleicht tiefstgehende Meinungsverschiedenheit zeigte sich an ihrer Kritik an der Auflösung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki im Jahr 1918. Darin plädierte Luxemburg noch für eine parallele Einrichtung von Sowjetorganen und Konstituante und dafür, dass die Bolschewiki eine Neuwahl zur konstituierenden Versammlung hätten durchführen sollen.

Luxemburg war hier nicht klar, dass unter der Diktatur des Proletariats, wie überhaupt in der proletarischen Revolution ein dauerhafter Dualismus von Organen der revolutionären Demokratie, von Räten, also Organen der Klassenherrschaft des Proletariats einerseits und von bürgerlich-parlamentarischen Organen, also Herrschaftsformen der Bourgeoisie, nicht möglich ist. Dieser Dualismus würde eine Permanenz der Doppelmacht bedeuten; er würde bedeuten, dass sich nach erfolgter Machteroberung der ArbeiterInnenklasse die Reaktion automatisch um die bürgerlichen Organe formiert. Es bedeutet, dass dieser Dualismus in der einen oder anderen Weise zugunsten der einen oder anderen Seite, von Revolution oder Konterrevolution, beendet werden muss.

Wie Paul Frölich in seiner lesenswerten Luxemburg-Biografie schreibt, weist einiges darauf hin, dass Luxemburg anhand der Erfahrungen der deutschen Revolution und der konterrevolutionären Rolle, die darin die verfassunggebende Versammlung spielte, die Schwächen ihrer Position zu erkennen begann. Wie sehr diese Einschätzung stimmt, ist unklar. In jedem Fall wiesen wichtige VertreterInnen des Spartakusbundes (u. a. Zetkin, Meyer, Leviné) Luxemburgs Position von Beginn an zurück.

Haltung zum Leninismus

Doch selbst in ihren Fehlern und Schwächen war und bleibt Luxemburg revolutionäres Vorbild, denn selbst diese speisten sich immer aus dem Willen, den Klassenkampf des Proletariats theoretisch und praktisch voranzubringen.

Auch wenn sie keine „Spontaneitätstheorie“ der Entwicklung des Klassenbewusstseins vertrat und der „Luxemburgismus“ über weite Strecken eine posthume Konstruktion darstellt; auch wenn sie unbedingt an der Notwendigkeit einer revolutionären Partei festhielt, so wäre es falsch, ihre Unterschiede zu Lenin zu negieren.

Erstmals traten diese schroff in der russischen Sozialdemokratie nach dem Parteitag 1903 zutage, nach dem Luxemburg heftig gegen Lenins Kampf für eine straff zentralisierte und disziplinierte Partei von BerufsrevolutionärInnen polemisierte. Zweifellos gehören diese Artikel – im Inhalt durchaus Trotzkis antibolschewistischen Broschüren und Aufsätzen dieser Periode ähnlich – zu den schwächsten und oberflächlichsten Arbeiten Luxemburgs.

In „Rosa Luxemburg und die IV. Internationale“ bietet Trotzki eine sehr klare und ausgewogene Einschätzung von Luxemburgs Parteiverständnis im Unterschied zu Lenin:

„Rosa selbst blieb nie bei der reinen Spontaneitätstheorie stehen wie etwa Parvus, der später seinen sozialreformerischen Fatalismus mit ekelhaftestem Opportunismus vertauscht hat. Im Gegensatz zu Parvus war Rosa Luxemburg bestrebt, den revolutionären Flügel des Proletariats im voraus zu erziehen und – sowie möglich – organisatorisch zu erfassen. In Polen hat sie eine sehr straffe selbständige Organisation aufgebaut. Man könnte höchstens sagen, daß bei Rosa in ihrer geschichtsphilosophischen Einschätzung der Arbeiterbewegung die vorbereitende Auslese der Avantgarde im Vergleich zu den zu erwartenden Massenaktionen zu kurz gekommen ist, während Lenin – ohne sich mit den künftigen Aktionswundern zu trösten – stets und unermüdlich die fortgeschrittenen Arbeiter illegal oder legal, in den Massenorganisationen oder im Versteck, vermittels eines scharf umrissenen Programms zu festen Zellen zusammenschweißte.

Die Sponaneitätstheorie Rosas war eine heilsame Waffe gegen den verknöcherten Apparat des Reformismus. Indem sie sich manchmal gegen die Leninsche Arbeit des Aufbaus eines revolutionären Apparats richtete, offenbarte die Theorie – allerdings nur im Keime – ihre reaktionären Züge. Bei Rosa selbst geschah es nur episodisch. Sie war viel zu realistisch im revolutionären Sinne, um aus den Elementen der Spontaneitätstheorie eine vollendete Metaphysik zu konstruieren. Praktisch untergrub sie selbst – wie gesagt – diese Theorie auf Schritt und Tritt. Nach der Novemberrevolution von 1918 begann sie die leidenschaftliche Arbeit der Zusammenfassung der proletarischen Avantgarde.“ (Trotzki, Rosa Luxemburg und die IV. Internationale, in: ders., Schriften über Deutschland III, S. 687 f.)

Die große Revolutionärin konnte diese Arbeit nur beginnen. Im Januar 1919 wurde sie von der Konterrevolution ermordet. Doch ihr Vermächtnis und auch die Aufgaben, für die sie unermüdlich arbeitete, leben weiter: die proletarische Weltrevolution, der Aufbau einer neuen, kommunistischen Partei und Internationale.




100 Jahre KPD-Gründung: Schwere Geburt

Bruno Tesch, Neue Internationale 234, Dezember 2018/Januar 2019

Im November 1918 brach in Deutschland die Revolution aus. Nicht nur das morsche monarchistische System hatte sich überlebt. Der Kapitalismus selbst stand zur Disposition.

Die traditionelle ArbeiterInnenführung, die SPD, hatte 1914 Klassenverrat
begangen und den imperialistischen Krieg unterstützt. Im Verlauf des Krieges
spaltete sie sich in Mehrheitspartei und Unabhängige SozialistInnen (USPD).

Revolutionäre Krise

Die ArbeiterInnenmassen waren ausgehungert und aufrührerisch. Die
politischen und gesellschaftlichen Strukturen befanden sich in Auflösung. Am
Ende des Ersten Weltkrieges steckte Deutschland in einer revolutionären Krise.

Spontan bildeten sich in vielen Orten Räte aus ArbeiterInnen und
heimkehrenden Frontsoldaten, die den Machtfreiraum – die Bourgeoisie war wie
gelähmt – zunächst ausfüllten. RevolutionärInnen waren in ihnen jedoch klar in
der Minderheit.

Anders als die Bolschewiki, die in Russland vor der Revolution 1917 schon
einen jahrzehntelangen unerbittlichen Fraktionskampf gegen den reformistischen
Menschewismus geführt hatten, setzte sich die deutsche revolutionäre Linke aus
einer Vielzahl von Strömungen und Gruppen zusammen, deren kleinster gemeinsamer
Nenner in der Absetzung von der Sozialdemokratie bestand. Einige von ihnen wie
z. B. der Lichtstrahlen-Kreis aus Berlin entstand außerhalb der
Sozialdemokratie, während die bedeutendste Formation, der Spartakusbund um
Luxemburg und Liebknecht, sich erst 1918 von der zentristischen USPD abgespalten
hatte.

Diese Gruppen standen in mehr oder minder engem Zusammenhang und stimmten auf dem Rätekongress Mitte Dezember 1918, der über das weitere Schicksal der Räteorgane und der politischen Zukunft des Landes befinden sollte, oft gemeinsam ab, vor allem in der Frage der Macht im künftigen Staatswesen. Sie traten für eine Räterepublik ein. Es gelang ihnen jedoch nicht, die Mehrheit der Delegierten dafür zu gewinnen. Hier setzte sich klar die Linie des Gewerkschaftsbundes ADGB durch, der die Macht dem Regierungsprovisorium unter Ebert (SPD) übertragen wollte.

Ebert war der letzte Trumpf, den die Bourgeoisie ausspielen konnte, um ihre
Herrschaft abzusichern, denn sie selbst war damals nicht in der Lage, die
Revolution zu bremsen. Ebert hatte einen klaren Fahrplan für die demokratische
Konterrevolution im Visier. Er orientierte auf die Durchsetzung demokratischer
Rechte, parlamentarische Wahlen und eine neue bürgerlich-demokratische
verfassunggebende Versammlung. Dies vertrug sich natürlich nicht mit der Aufrechterhaltung
der Doppelmachtsituation zwischen Regierung und Räten.

Obleute

Ein entscheidender Faktor für die weitere Weichenstellung waren die
revolutionären Obleute, die während des Krieges FührerInnen von Massenstreiks
waren und eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Räte spielten. Sie waren
größtenteils in der USPD organisiert und hatten in wichtigen Fragen mit der
alten SPD-Politik gebrochen. Doch in der entscheidenden Frage der Errichtung
einer Räterepublik, d. h. der Übernahme der ganzen Staatsmacht und der
Zerschlagung des bürgerlichen Staates, nahmen sie eine zögerliche Haltung ein.

Statt den provisorischen Rat der Volksbeauftragten unter Ebert zu
kontrollieren und ihm klare Weisungen zu erteilen, ließen sich die Angeordneten
der Räte oft vor vollendete Tatsachen stellen. Ebert und seine
HelfershelferInnen nutzten derweil ihre alten Verbindungen mit dem
Herrschaftsapparat in Verwaltung und Militär aus, bauten die angeschlagene alte
Machtmaschinerie wieder auf und ermöglichten und ermunterten schließlich die
Offensive der Konterrevolution und den Terror der reaktionären Freikorps, dem
bald auch Luxemburg und Liebknecht zum Opfer fallen sollten.

Der Rätekongress entmachtete sich durch sein mehrheitliches Votum für den
Kurs auf eine Nationalversammlung praktisch selbst. Damit war die einmalige
Chance vertan, die ArbeiterInnenrevolution in Deutschland in einem Zug zum Sieg
zu führen.

Kinderkrankheiten

Erst nach diesem herben Rückschlag für die Revolution, dem Scheitern der
Rätebewegung, erfolgte zur Jahreswende 1918/1919 die Gründung einer Partei, die
sich die sozialistische Revolution auf die Fahnen geschrieben hatte: der KPD.
Der Schärfe des Klassenkampfes entsprach die, mit der die unterschiedlichen
Strömungen, die an der Parteigründung beteiligt waren, aufeinanderprallten und
an der die junge Partei fast schon gescheitert wäre, noch ehe sie gegründet
war.

Die KPD kam mit einigen Geburtsfehlern zur Welt. Die Notwendigkeit der
Revolution zwang die RevolutionärInnen zum Hissen einer revolutionären Parteifahne,
aber diese war ein Flickenteppich. Der Diskussions- und Klärungsprozess vor der
Parteigründung war oft unzureichend. Vor allem gelang es nicht, die
revolutionären Obleute dabei einzubeziehen und für die KPD zu gewinnen.

Das Parteiprogramm, vor allem aber die politische Praxis ließen
Einheitlichkeit und klare Linie vermissen. Selbst der Spartakusbund war
keineswegs homogen. Dies schlug sich in Form der Parteistrukturen nieder. Die
KPD blieb zunächst eher föderalistisch organisiert, wirklichen demokratischen
Zentralismus gab es nicht.

Die widerstrebenden Interessen brachten es mit sich, dass sich in der
Organisation eher Strömungen durchsetzten, die eine antibolschewistische
Ausrichtung verfolgten und einen nationalen Sonderweg bevorzugten. Auch in der
Frage, ob in den Gewerkschaften oder nur bei den revolutionäre Obleuten
interveniert werden sollte, wurde keine Einigkeit erzielt. Das taktische
Eingehen auf eine Nationalversammlung, wie Rosa Luxemburg es vertrat, lehnte
die Mehrheit ab. Stattdessen ließ sie sich unter Führung von Liebknecht im
Januar 1919 in ein militärisches Abenteuer ziehen, den sog. Spartakus-Aufstand
in Berlin.

Die Konterrevolution ermordete noch vor den Wahlen zudem mit Luxemburg und
Liebknecht sowie im März mit Jogiches die wichtigsten FührerInnen der jungen
KPD. Von diesem Schlag erholte sich die Partei erst allmählich.

Trotz aller Unreife war ihre Gründung ein historisch notwendiger und
bedeutender Schritt, um eine eigenständige politische Entwicklung und
Organisierung von revolutionären MarxistInnen zu ermöglichen. Nur eine solche
eigenständige Partei konnte überhaupt einen politischen und organisatorischen
Attraktionspol für die ArbeiterInnenklasse verkörpern. Trotz vieler Fehler und
Schwankungen der KPD in den Jahren bis 1933 erwies sich, dass sie für die
Vorhut der Klasse, für die kämpferischsten Teile durchaus eine Alternative zu
Reformismus und Zentrismus darstellte.

Möglichkeiten

Nach 1918 gab es mehrere revolutionäre Situationen, zunächst der
Kapp-Putsch 1920, der darauf folgende Generalstreik und die Kämpfe der Roten
Ruhrarmee. Auch der von der jungen Sowjetunion gewonnene Bürgerkrieg und die
Festigung der Sowjetmacht hatten international große Anziehungskraft auf die
ArbeiterInnenmassen. In vielen Ländern entstanden danach revolutionäre
Parteien.

Der Durchbruch der KPD zur ArbeiterInnenmassenpartei erfolgte aber erst,
als die zentristische USPD zerfiel und sich Ende 1920 immerhin 300.000
USPDlerInnen mit der KPD vereinigten (VKPD). Die KPD verfügte bis dahin
höchstens über ein Fünftel dieser Mitgliedschaft – auch als Folge zahlreicher
innerparteilicher Konflikte, Ausschlüsse und Austritte.

Der politische, aber auch zahlenmäßige Niedergang begann nach den
politischen Fehlern von 1923, als die KPD (und die Komintern) die tiefe
revolutionäre Krise im Sommer viel zu spät erkannt hatten und dann einen
inkonsequenten Kurs auf den Aufstand verfolgten.

Die blutige Festigung der bürgerlichen Herrschaft nach 1923 in Deutschland
– Sturz der „ArbeiterInnenregierungen“ in Sachsen und Thüringen durch die
Armee, Niederschlagung des Hamburger Aufstandes – sowie der Aufstieg Stalins,
die Machtübernahme durch die Bürokratie und die Beseitigung der
innerparteilichen ArbeiterInnendemokratie in der Sowjetunion waren dabei
weitere wesentliche Faktoren. Selbst 1932 zählte die KPD immer noch nicht mehr
als 320.000 Mitglieder!

Doch noch viel stärker wirkte sich aus, dass sie unter Thälmann endgültig
eine stalinistische Organisation geworden war: zunächst zentristisch, ab 1935 –
mit der Annahme der Volksfrontstrategie – sogar reformistisch.

Sie war aufgrund ihrer von Moskau aufgezwungenen Doktrin außerstande, eine
ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Faschismus zu schaffen und unterlag ihm
schließlich – kampflos. Bei aller Kritik dürfen wir allerdings nicht den
revolutionären Opfermut, den Willen und die Tatkraft der KPD-GenossInnen
vergessen – aus ihren, oft bitteren, Erfahrungen müssen wir lernen!

Lehren

Momentan gibt es in Deutschland keine revolutionäre Situation. Aber der
Kapitalismus ist weltweit in einer tiefen strukturellen Krise. Deshalb werden
die Klassenkämpfe zunehmen.

Die Geschichte zeigt, dass sich gerade in zugespitzten Situationen die
Sozialdemokratie als völlig unbrauchbar erwiesen hat – nicht nur für die
Überwindung des Kapitalismus, sondern auch bei der Verteidigung grundlegender
Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse. Doch auch der linke Reformismus oder
der Zentrismus stellten keine Alternative zur SPD dar, wie das Schicksal der
USPD und gegenwärtig die Linkspartei zeigen.

Die KPD war insofern ein notwendiges, ein logisches Resultat des Versagens
von SPD und USPD. Doch zugleich zeigte sich, dass die KPD im Unterschied zu den
Bolschewiki in Russland angesichts großer historischer Chancen und deutlich
besserer objektiver Bedingungen zum Aufbau des Sozialismus nicht in der Lage
war, die Führung der Klasse im Kampf zu erringen und den Kapitalismus zu
stürzen.

Was waren die entscheidenden Unterschiede zwischen der Entstehung der KPD
und jener der Bolschewiki?

Die MarxistInnen um Lenin führten schon frühzeitig einen kompromisslosen
politischen Kampf innerhalb der russischen Sozialdemokratie um Fragen der
Perspektive der Revolution und des Parteiaufbaus. Was damals viele, darunter
auch Trotzki, als überspitzte, sektiererische Manöver ansahen, erwies sich 1917
als entscheidend. Lenins bolschewistische Partei erwarb in diesen fraktionellen
Kämpfen gerade jene Eigenschaften, die den Bolschewiki in der Revolution den
Erfolg brachten: eine Beharrlichkeit in programmatischen Grundfragen, die
zugleich mit der Flexibilität verbunden war, die eigene Politik an der Praxis
zu messen und, wenn nötig, zu verändern, und einen geschulten, gestählten
Kaderkern, der im Feuer der Revolution standhielt.

Anders als Lenin versäumte es Rosa Luxemburg aber viel zu lange, ihren
politischen Kampf gegen den aufkommenden Reformismus in der SPD – den sie viel
eher und klarer sah als Lenin – mit entsprechenden organisatorischen Schritten
zu verbinden. Indem sie einen Fraktionskampf ablehnte, erschwerte sie nicht nur
die politische und organisatorische Polarisierung in der SPD, sie verzögerte
damit auch entscheidend die politisch-programmatische Klärung innerhalb der
revolutionären Kräfte. Als die Revolution dann auf der Tagesordnung stand, gab
es keine dieser Aufgabe gewachsene kommunistische Partei.

Luxemburgs Fehler und Schwächen – so tragisch sie vielfach waren – tun dem
revolutionären Charakter ihrer Politik aber keinen Abbruch. Sie gehört ganz
ohne Zweifel zu den wichtigsten kommunistischen TheorikerInnen und
PolitikerInnen.

Die Geburtsschwächen der KPD müssen uns jedoch heute eine politische Lehre
sein. Der Kampf für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und die Entwicklung
einer kommunistischen Programmatik dürfen nicht leichtfertig auf die Zukunft
verschoben werden. Er muss hier und jetzt geführt werden.




Die KPD, ihre Vorläufer und die Novemberrevolution

Revoutionärer Marxismus 26, Theoretisches Journal der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (heute: Liga für die Fünfte Internationale), Winter 1998/99

I. Loslösung von der SPD

Zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands am 30.12.1918 fanden sich 83 Mitglieder aus 46 Orten ein. Zahlenangaben über die Gesamtmitgliedschaft zur Gründerzeit schwanken zwischen einigen Hundert und Tausend. Den Kern der Partei bildeten die frisch aus der USPD ausgetretene Spartakusgruppe, die Gruppierungen der Linksradikalen aus Berlin (ISD um Julian Borchert und die Zeitung “Lichtstrahlen”) und Bremen (um Johann Knief und die “Arbeiterpolitik”) sowie eine sich ebenfalls als linksradikal verstehende Tendenz aus Hamburg. Diese Formationen verkörperten unterschiedliche Strömungen der oppositionellen Arbeiterbewegung.

Die Opposition in der SPD entstand im wesentlichen in den Kriegsjahren ab 1914 und hatte zum Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt die offizielle positive Haltung der Partei zum imperialistischen Krieg. Die Spanne dieser Abdrift reichte aber vom Pazifismus ohne gesellschaftlich durchgreifende Perspektive bis zur revolutionären Bürgerkriegserklärung. Organisatorisch kanalisierte sie jedoch keine zwei klar abgesteckten Lager, sondern führte dazu, daß sich einige Splitter außerhalb der Sozialdemokratie verfestigten und als solche auch selbst voneinander isolierten, weil sie neben der Kriegsfrage die Ablehnung der Parteidisziplin zur Generalfrage erhoben, während sich der Großteil der innerparteilichen Opposition erst nach dem Maulkorb im Parteiorgan «Vorwärts« aus der SPD verabschiedete und Ostern 1917 zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) zusammenschloß. Dieser Zusammenschluß war nicht Frucht einer inhaltsbestimmten Debatte, geschweige denn eines gemeinsamen stringenten Fraktionskampfes, vielmehr ein Sammelbecken sozialdemokratischer Elemente verschiedener Couleur.

Ihre linkeste Strömung, der Spartakusbund, um die über die Landesgrenzen hinaus bekannte R. Luxemburg und den Reichstagsabgeordneten K. Liebknecht, der als erster «Nein« zu den imperialistischen Kriegskrediten gesagt hatte, war nach kurzer Eigenständigkeit in die USPD gegangen. Die Entrismus-Taktik ging aber von keiner klaren Einschätzung der USPD aus, wurde zu lange aufrecht erhalten und war insgesamt auch nicht sonderlich erfolgreich (95% des Arbeiteranhangs verblieb bei der Mutterpartei, als Spartakus sie im Dezember 1918 wieder verließ).

Sie wurde durchgeführt, um den Massen nahe zu sein und die besten Kämpfer aus der USPD herauszuholen. So konnte erreicht werden, daß Spartakisten bei den Zusammentreffen der Revolutionären Obleuten in Berlin zu Gast waren. Bei den Revolutionären Obleuten handelte es sich um jene Aktivisten, die die Arbeiter, namentlich aus Berliner Metallgroßbetrieben aus ihrer Mitte zu Streikführern gewählt hatten, und die sich sehr um den Aufschwung der Arbeiterbewegung in Deutschland seit 1915 verdient gemacht hatten. Sie stellten den linken Flügel in der zentristischen USPD dar.

Der scheinbare Vorteil der föderalen und liberalen Strukturen der USPD, die ein Arbeiten in ihr ermöglichten, verkehrte sich in das Gegenteil, da in der dezentralisierten Partei der Versuch eines fraktionellen Kampfes leerlief. Eugen Leviné, der nach der niedergeschlagenen Räterepublik in München hingerichtet wurde, schilderte den Reichsrätekongreß so:

“Dieser Kongreß setzte sich … aus schlauen Parteisekretären und Gewerkschaftsfunktionären zusammen, die sich ihrer Aufgabe bewußt waren. Niemand von uns hatte vermutet, daß so etwas möglich sei. Jedermann fragte sich: ‚Wo bleibt die Spartakusgruppe, wo bleiben ihre prinzipiellen Stellungnahmen?’”

Spartakus war gezwungen, sich auf die internen Debatten der USPD, der er noch angehörte, zu konzentrieren, wobei die USPD-Führung ständig davor zitterte, ihr linker Flügel könne “zu weit gehen”. Dadurch sei, meint Leviné, die gesamte von Spartakus aufgeworfene Debatte im Innern der USPD erstickt worden. Die Spartakusgruppe konnte ihre Argumente auf dem Kongreß nicht vorbringen. Erst am Ende des Kongresses legt die Gruppe sich Rechenschaft darüber ab, daß sie über zwölf Delegierte verfügte und durchaus weitere acht unter den Soldaten hätte finden können, um eine Fraktion zu bilden und Rederecht zu erhalten.

“In der Fraktion der Unabhängigen Partei”, schrieb Leviné, “war es uns unmöglich, eine Klärung herbeizuführen. Eines ist eine Massenversammlung von Unabhängigen … dort können wir, wenn wir von innen heraus agitieren, die Massen nach links treiben … aber die Herren, die sich in der Fraktion befinden, haben eine so dicke Haut, die sich in langen Jahren parlamentarischer Gleichgültigkeit herausgebildet hat, daß unsere Peitschenschläge sie nicht in Bewegung setzen können.”

Natürlich hätte Spartakus seine Positionen nicht durchsetzen können. Doch eine Polarisierung des Kongresses und damit ein Mehr an Klarheit wären möglich gewesen. Der Vorschlag, daß sich der Reichsrätekongreß selbst zur gesetzgebenden Versammlung erklärt, von den USPD-Sprechern nur halbherzig vorgetragen, wurde abgelehnt.

Die Spartakus-Führung nahm die Weigerung der USPD-Spitze, einen Parteitag einzuberufen, auf dem die konterrevolutionäre Politik des Rates der Volksbeauftragten, in dem die USPD ja Mitverantwortung trug, zur Sprache kommen sollte, endlich zum Anlaß für den Ausstieg; darüber war es allerdings schon Dezember 1918 geworden und die revolutionären Ereignisse längst in vollem Gange. Der Spartakusbund hatte organisatorisch nichts in der Hand, um die Arbeitervorhut in Gestalt der Revolutionären Obleute an sich zu binden, da diese sich von den betrieblichen Massen nicht isolieren wollten. Selbst die “Linksradikalen” um Radek hatten eine größere Massenbasis als Spartakus und standen der Doktrin des Bolschewismus näher. Zwar gab es Verhandlungen über eine Verschmelzung, doch stellten die revolutionären Obleute fünf Vorbedingungen – 1. Rücknahme des Wahlabstinenzbeschlusses 2. Paritätische Programmkommission 3. Aufgabe der Putsch-Taktik 4. Einflußnahme auf Presse und Flugblätter 5. Streichung der Bezeichnung Spartakusbund – was vom Spartakusbund nicht akzeptiert wurde.

So mußten die Spartakus-Leute für die Parteiformierung auf ein Milieu zurückgreifen, das sich außerhalb der sozialdemokratischen Massenorganisationen angesiedelt hatte, durchsetzt mit allerlei politisch vagabundierenden Geistern, die von der Revolutionswoge hochgespült worden waren und sich magisch von dem jeweils radikalsten Projekt angezogen fühlten. Kontakte zu den verschiedenen organisatorisch faßbaren Oppositionszellen bestanden bereits vor Kriegsausbruch, die sich während des Krieges dann konsolidierten und auch annäherten. Zu nennen wären die 1916 aus der SPD ausgestoßenen Bremer Linksradikalen, die aus Protest gegen die Kriegsbejahung der Parteiführung eine Beitragsperre empfohlen hatten. In ihren Reihen wirkte neben P. Frölich auch K. Radek, der vielfältige Beziehungen zu den russischen Bolschewiki unterhielt. Sie waren federführend in dem lockeren Verband, der als Internationale Sozialisten Deutschlands (ISD) firmierte.

Im Mittelpunkt ihrer propagandistischen Arbeit stand neben der Verurteilung des imperialistischen Krieges die Bürokratisierungskritik an der Sozialdemokratie. Daraus folgte die Abgrenzung gegen alle sozialdemokratisch geführten Teile der Arbeiterbewegung und der Anspruch auf ein gänzlich anderes Organisationsmodell, bis hin zur Beseitigung jeglichen Führertums in der Arbeiterbewegung. Hier wurden gern Anleihen bei der Theorie der revolutionären Selbsttätigkeit der Arbeitermassen von R. Luxemburg gemacht, die gerade diesen Organisationskurs nicht mitgemacht hatte.

Das war im dialektischen Wechselspiel mit der fehlenden klaren positiven Programmatik der Grund, warum eine Vereinheitlichung innerhalb der ISD unterblieb. Die Hamburger Linksradikalen um H. Laufenberg, einem ehemaligen Redakteur und Schulungsleiter der SPD, standen bei der Bildung der ISD abseits, weil sie die nationale Selbständigkeit wahren wollten. Aus einer ganz anderen, linksbürgerlich-anarchistischen Tradition kam der Kreis um die Kulturzeitschrift «Die Aktion« mit ihrem Schriftleiter Pfemfert und komplettierte die Rekrutierungsriege für die spätere KPD. So fehlte der Revolution just bei Ausbruch der organisatorische revolutionäre Pol.

Auch der Spartakusbund war nicht von der Einmütigkeit und Hellsicht geprägt, die ihn unter den Revolutionsumständen zur Führungskraft prädestiniert hätte. Über den Parteiaufbau und die Einschätzung der SPD herrschten keine einheitlichen Sichtweisen selbst zwischen den erfahrensten Führern. Luxemburg betrieb am dezidiertesten den Entrismus und Verbleib in der USPD – im übrigen war sie auch später in der Frage der Neugründung der Internationale das retardierende Moment – während Liebknecht auf eine schnellere organisatorische Eigenständigkeit drängte. Die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit war Orientierungspunkt für Luxemburg; Liebknecht hingegen sah die größere revolutionäre Potenz bei der Masse der ungelernten, nicht an die alten Apparate gefesselten Arbeiterschaft. In der SPD-Kritik akzentuierte Luxemburg den historischen Zusammenbruch des Reformismus auf Weltebene, Liebknecht indes strich die subjektive Seite, den Verrat der Instanzen und damit den Gegensatz Führerschaft-Masse heraus.

Die spätere KPD wurde von keinem ihrer Gründungsbestandteile organisatorisch und politisch früh und klar genug vorbereitet. Schon in der Vorkriegs-SPD hätten sie eine gegen Revisionisten und Zentristen gerichtete Fraktion bilden müssen, die am 4. August, dem historischen Verrat der Partei, aus dieser hätte austreten müssen. Ein vorzeitiger Ausschluß durch den Vorstand hätte in Kauf genommen werden müssen, zumal in den Augen der Mitgliedschaft die Führung als Spalter dagestanden wäre; nach der Bewilligung der Kriegskredite war eine Spaltung unvermeidlich. So fehlten im Krieg (im Untergrund operierende) Zellen an der Front, in den Betrieben und Gewerkschaften einer revolutionären Partei, die den russischen Bolschewiki vergleichbar war.

II.Die Politik der Linken in den Revolutionsmonaten

Linken als Vorbereiter und Lenker der Revolution, so heißt das nicht, daß sie es an heldenhaftem Einsatz hätten fehlen lassen oder daß sie das Gebot der Stunde völlig verkannt hätten. So waren die Linken im Vorfeld des Umsturzes durch Waffenbeschaffung, die Mitorganisierung von Kurierdiensten als Verbindungsnetz zwischen Betrieben und Kasernen beteiligt. Wo sich Räte bildeten, gingen sie hinein oder versuchten, selber welche zu initiieren. In Berlin wurde ein bürgerlicher Zeitungsverlag besetzt und die «Rote Fahne« als tägliches Revolutionsorgan herausgegeben. Unermüdlich wurden Flugblätter gedruckt und eine Reihe von Demonstrationen durchgeführt. Auf der berühmten Kundgebung vor dem Schloßplatz rief Liebknecht die sozialistische Republik aus. Nein – für heutige Begriffe war die damalige deutsche Linke in Anbetracht ihres geringen Kräftereservoirs tadelsfrei und musterhaft organisiert.

Rosa Luxemburg analysierte die Oktoberreformen scharfsinnig als Pakt der Scheidemann und Bauer mit der Monarchie, um sich der kommenden Revolution in den Weg zu stellen. Die proletarische Revolution würde über die Leiche des Kapitalismus hinwegfegen. “Ihr erster Ruf, ihre erste Etappe muß sein: Deutschland – Republik.” (Spartacus 12, Oktober 1918; in Brandt: 1918-19, S. 32)

Diese Formel war algebraisch: war die bürgerlich-demokratische Republik des Erfurter Programms oder eine sozialistische Republik der Arbeiterräte gemeint? Der Ausdruck “erste Etappe” suggeriert eher, daß die Krönung des demokratischen Minimalprogramms gemeint ist.

In einem Aufruf vom 10. November verkündete die Spartakusgruppe ihr Programm:

„1. Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere sowie der Soldaten, die nicht auf dem Boden der neuen Ordnung stehen; Volksbewaffnung; alle Soldaten und Proletarier, die bewaffnet sind, behalten ihre Waffen.

2. Übernahme sämtlicher militärischer und ziviler Behörden und Kommandostellen durch Vertrauensmänner des Arbeiter- und Soldatenrates.

3. Übergabe aller Waffen- und Munitionsbestände sowie aller Rüstungsbetriebe an den Arbeiter- und Soldatenrat.

4. Kontrolle über alle Verkehrsmittel durch den Arbeiter- und Soldatenrat.

5. Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit; Ersetzung des militärischen Kadavergehorsams durch freiwillige Disziplin der Soldaten unter Kontrolle des Arbeiter- und Soldatenrates.

6. Beseitigung des Reichstages und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung; Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bis zur Errichtung eines Reichs-Arbeiter- und Soldatenrates.

7. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten in ganz Deutschland, in deren Hand ausschließlich Gesetzgebung und Verwaltung liegen. Zur Wahl der Arbeiter- und Soldatenräte schreitet das gesamte erwachsene werktätige Volk in Stadt und Land und ohne Unterschied der Geschlechter.

8. Abschaffung aller Dynastien und Einzelstaaten; unsere Parole lautet: einheitliche sozialistische Republik Deutschland.

9. Sofortige Aufnahme der Verbindung mit allen in Deutschland bestehenden Arbeiter- und Soldatenräten und den sozialistischen Bruderparteien des Auslandes.

10. Sofortige Rückberufung der russischen Botschaft nach Berlin.” (Die Rote Fahne 2, 10.11.198; in: Brandt, 1918-19, S.50)

Ein unzweifelhaft revolutionäres Programm für die Rätemacht! Man vermißt allerdings wirtschaftliche Forderungen gegen Hunger und Not, demokratische Forderungen wie das Selbstbestimmungsrecht, eine Stellungnahme zu Friedensschluß und Reparationen, zur Enteignung der Kapitalisten und zum Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft. Eine “Taktik” gegenüber der reformistischen Führung und ihres zentristischen Flankenschutzes fehlt ebenso (Brecht mit der Koalition mit dem kapitalistischen Militär- und Verwaltungsapparat!). Die Forderung nach Beseitigung der Reichsregierung – seit dem Tage des Erscheinens dieses Aufrufs eine Koalition aus SPD und USPD – kann nach ihrer Bestätigung durch die Versammlung im Zirkus Busch als Aufforderung zum Aufstand gegen die von den Arbeiter- und Soldatenräten gewählte Exekutive ausgelegt werden. Zunächst besteht aber die Aufgabe für Kommunisten, die Basis dieser Parteien politisch für sich zu gewinnen!

In ihrem Artikel “Der Anfang” (Die Rote Fahne [Berlin] Nr. 3, 18.11.1918; in Brandt: 1918-19, S. 74 – 76) zieht Luxemburg eine Zwischenbilanz: der Feind ist nicht niedergeworfen, nur die Monarchie, die wie jede bürgerliche Regierung Geschäftsführerin der herrschenden Klassen war. Um die ganze Macht in die Hände der Räte der arbeitenden Masse zu legen, das Revolutionswerk vor seinen lauernden Feinden zu sichern, fordert sie: Ausbau und Wiederwahl der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte; ständige Tagung dieser Vertretungen und Übergabe der eigentlichen politischen Macht aus dem kleinen Komitee des Vollzugsrates in die breitere Basis; schleunigste Einberufung des Reichsparlaments der Arbeiter und Soldaten; unverzügliche Organisierung nicht der Bauern, sondern der ländlichen Proletarier und Kleinbauern, die als Schicht bisher noch außerhalb der Revolution stehen; Bildung einer proletarischen Roten Garde als Schutz der Revolution und Heranbildung der Arbeitermiliz, um das gesamte Proletariat jederzeit wachsam zu halten; Verdrängung der übernommenen Organe des alten Staates von der Verwaltung, Justiz und Armee; sofortige Konfiskation der dynastischen Vermögen und Besitzungen sowie des Großgrundbesitzes als erste Maßnahme zur Sicherung der Verpflegung des Volkes; sofortige Einberufung des Arbeiterweltkongresses nach Deutschland.

Was macht aber die “revolutionäre” Regierung? Sie beruft die Konstituierende Nationalversammlung als bürgerliches Gegengewicht zur Arbeiter- und Soldatenvertretung ein; tut nichts, um die weiter bestehende Macht der kapitalistischen Klassenherrschaft zu zertrümmern; sie tut alles, um die Bourgeoisie zu beruhigen, die Unantastbarkeit des Kapitalverhältnisses zu versprechen; sie läßt die sich auf Schritt und Tritt regende Gegenrevolution ruhig gewähren. Dieses Aktionsprogramm stellte jetzt auch organisierende und wirtschaftliche Maßregeln, die in die Eigentumsverhältnisse eingriffen und die Hungersnot lindern sollten, auf. Wie sollte die Revolution über die sozialdemokratische Führung hinweg vorangetrieben werden, wie sollten die Arbeiter, die SPD und USPD folgten, gewonnen werden? Welche Forderungen stellte man an diese Führer, um sie vor ihrem Anhang zu kompromittieren und den Widerspruch zwischen ihren Absichten und den Bedürfnissen der Basis zu entwickeln und beschleunigen? Antwort:

“Das Bild der deutschen Revolution entspricht der inneren Reife der deutschen Verhältnisse. Scheidemann-Ebert sind die berufene Regierung der deutschen Revolution in ihrem heutigen Stadium. Und die Unabhängigen, die mit Scheidemann-Ebert Sozialismus machen zu können glauben, … qualifizieren sich damit selbst als die berufenen Mitträger der Firma in diesem ersten provisorischen Stadium. Aber die Revolutionen stehen nicht still. Ihr Lebensgesetz ist rasches Vorwärtsschreiten … Die Lage ist als Anfang begreiflich, als Zustand auf die Dauer unhaltbar. Soll die Gegenrevolution nicht auf der ganzen Linie Oberhand gewinnen, müssen die Massen auf der Hut sein.”

Hier spricht die Objektivistin! Jede Revolution bekommt die Führung, die sie verdient. Als quasi naturgesetzlicher Evolutionsprozeß entwickelt sie sich aber weiter unter der einzigen Voraussetzung – die “Massen” schlafen nicht ein dabei! Wozu sich da noch Gedanken um die Aufgaben einer revolutionären Führung machen? Die Spontaneität der Massen wird’s dem Spartakus schon richten!

Die Lohnstreikwelle in Oberschlesien, bei Daimler usw. kommentiert Rosa so:

“Die beginnende Streikbewegung ist ein Beweis, daß die politische Revolution in das soziale Fundament der Gesellschaft eingeschlagen hat. Die Revolution besinnt sich auf ihren eigentlichen Urgrund … Die Bourgeoisie fühlt wohl, daß hier ihre sterblichste Stelle berührt wird, daß hier der Spaß der Regierungsharmlosigkeit aufhört und der furchtbare Ernst der Auseinandersetzung zweier Todfeinde … beginnt … Die kleinen Fesseln der gewerkschaftlichen Diplomatie im Dienste der Kapitalsherrschaft haben sich in der Periode der politischen Stagnation, die dem Weltkrieg voraufgegangen ist, trefflich bewährt. In der Periode der Revolution werden sie elend versagen … erste(r) Anfang einer Generalauseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in Deutschland … Beginn des gewaltigen direkten Klassenkampfes … dessen Ausgang kein anderer als die Beseitigung des Lohnverhältnisses und die Einführung der sozialistischen Wirtschaft sein kann … Die proletarische Masse ist durch ihr bloßes Erscheinen auf der Bildfläche des sozialen Klassenkampfes über alle bisherigen Unzuänglichkeiten, Halbheiten und Feigheiten der Revolution zur Tagesordnung übergegangen. Der Acheron ist in Bewegung geraten, und die Knirpse, die an der Spitze der Revolution ihr kleines Spiel treiben, werden purzeln, oder sie werden endlich das Kolossalformat des weltgeschichtlichen Dramas, an dem sie mitspielen, verstehen lernen.” (“Der Acheron in Bewegung”, Die Rote Fahne [Berlin] Nr. 12, 27.11.1918; in: Brandt, 1918-19, S. 78 ff.)

Die Ökonomistin dichtet dem Lohnkampf magische Fähigkeiten aus sich heraus an getreu dem Motto: “Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts!” Transformiert er sich spontan in einen Kampf um gerade die Aufhebung des Lohnverhältnisses, für die wirtschaftliche und politische Macht des Proletariats oder bedarf es dazu der energischen Intervention der kommunistischen Avantgarde und des Weitertreibens über die ursprünglichen Ziele? Verschwinden die “kleinen Fesseln der gewerkschaftlichen Diplomatie im Dienste der Kapitalsherrschaft” wie z.B. die reformistische Gewerkschaftsbürokratie, ohne daß Kommunisten die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder hinter sich geschart und einen hartnäckigen Kampf in der Elementarorganisation geführt haben? Purzeln die Ebert-Scheidemänner, die Haases und Co. auch so geräuschlos, wenn das Proletariat auf der Bildfläche bloß erscheint? Ist das Proletariat in den Arbeiter- und Soldatenräten nicht auch auf der Bildfläche erschienen, sogar ziemlich geräuschvoll unter Waffen? Oder ist der politische Kampf “eigentlich” eine Ablenkung vom “Urgrund” des Klassenkampfes überhaupt? Vielleicht kann der “eigentliche” elementare Klassenkampf die in Politik, in Debatten und Regieren verstrickten Führer zur Besinnung bringen, sie das “weltgeschichtliche Drama, an dem sie mitspielen, verstehen lernen”? Die Fragen stellen heißt sie beantworten. Luxemburgs Spontaneismus erlebt hier ein schlimmeres Waterloo als jemals zuvor!

Die revolutionäre Linke beging gravierende politische Fehler. Mit Blick auf die zu Anfang scheinbar widerstandslose und gewaltige Ausbreitung der Revolution erlag die Linke der Gefahr, die revolutionäre Schubkraft für so mächtig zu halten, daß ihr selbst der Verrat der MSPD-Führung nichts anhaben könnte, wenn die Massen nur beizeiten darüber aufgeklärt würden. Hier verschätzte die ansonsten besonnene Luxemburg sich gleich zweifach. Zum einen an jenem «Blutnikolaus«, als in der «Roten Fahne« der Aufruf zu einer unbewaffneten Demonstration am 6. 12. in Berlin mit dem Hinweis erschien, daß sich die Revolutionäre auch durch lautere friedliche Mittel von der alten Obrigkeit zu unterscheiden hätten. Die Folge war, daß dieser Demonstrationszug in einen konterrevolutionären Hinterhalt geriet und mehrere Tote auf der Strecke blieben. Die Gefahr durch heimkehrende Truppen glaubte Luxemburg gebannt, indem sie den Soldatenrock gegen einen Arbeitskittel eintauschen würden; die proletarische Umgebung würde sie dann wieder revolutionär konditionieren.

Das Versäumnis, in der Wehrpflichtigenarmee klassenorganisierend gewirkt zu haben, schlug sich in dem klassenunspezifischen Sonderrang der Soldatenräte nieder. Es hätten Mannschaftsräte und die Entwaffnung der Offiziere und gegenrevolutionären Unteroffiziere gefordert werden müssen, um antirevolutionäre Einflüsse besser neutralisieren zu können und eine Ausgangsposition zur Zerschlagung und Transformation des stehenden Heeres in eine den Arbeiterräten verantwortliche demokratische, proletarische Miliz zu schaffen. Zwar wurde korrekt propagiert, das Netzwerk der Räte zu einem System als Grundlage und Sicherung von Arbeitermacht auszubauen, doch die Verankerung ihrer Strukturen blieb besonders auf Betriebsebene unklar.

Überhaupt muß festgestellt werden, daß das Programm der Linken, namentlich des Spartakusbundes, als maximalistisch mit einigen demokratischen Einsprengseln (Wahl der Offiziere) zu bezeichnen war, also keinen wirklichen Übergangscharakter besaß. Da verhielt sich die MSPD mit der nach innen geleiteten Friedenssehnsucht der Massen geschickter, allerdings in umgekehrter Richtung! Der wichtigen demokratischen Losung der Konstituante wurde die Rätelosung praktisch nur gegenübergestellt.

Die Abstimmungsniederlage auf dem reichsweiten Arbeiter- und Soldatenräte-Kongreß Mitte Dezember 1918, auf dem Spartakus (als USPDler) 6 und die Laufenberg-Leute («Vereinigte Revolutionäre Arbeiter und Soldaten«) 10 Abgesandte stellten, war bitter (98:344) und signalisierte einen herben Rückschlag für die Sache der sozialistischen Revolution. Auch dies wurde auf Seiten der Linken nicht konsequent genug registriert. All diese Fehldiagnosen trugen zum Auftrieb von politischen Abenteurern in den eigenen Reihen bei.

Spartakus und Linksradikalen ging ein Verständnis für Differenzierungsprozesse zwischen Mitgliedschaft und Führung in Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien ab. Die Räte waren anfangs loyal gegenüber dem RVB in der Erwartung, die Initiative zu grundlegenden politischen Veränderungen müsse von oben kommen. Als sich zeigte, daß die SPD-Führer sich in jedem Konflikt zwischen der alten Bürokratie und den Arbeiter- und Soldatenräten gegen letztere stellten und keinerlei Anstalten machten, die Ziele der “sozialdemokratischen” Rätebewegung in Angriff zu nehmen (“sozialistische” Republik), sondern vielmehr dagegen arbeiteten, setzte die Kritik an der Regierung ein.

Die revolutionäre Linke beschränkte sich auf rein agitatorische Entlarvung der “Regierungssozialisten” und endlose Demonstrationen (“revolutionäre Gymnastik”). Erst in späteren Jahren wurde eine systematische Einheitsfrontpolitik und Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit verfolgt.

III. Kontroversen der Gründungsphase

Mit dem quasi selbstliquidatorischen Schritt des Rätekongresses kippte die Waage der Doppelmacht nun eindeutig zugunsten der bürgerlich-demokratischen Konterrevolution. Erst in dieser Lage, knapp zwei Wochen später, gründete sich die Partei mit revolutionär-proletarischem Anspruch, die Kommunistische Partei Deutschlands (29. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919). Zu spät, wenn die äußere politische Konstellation berücksichtigt wird; zu früh, wenn man es aus der Warte der Reife der Organisation betrachten will. Nachdem der Versuch zur Anbordnahme der revolutoinären Obleute gescheitert war und es erst 1920 gelingen sollte, die USPD entlang der Klassenlinie zu spalten, zeigte das Kräftebarometer der KPD auf ultralinks.

Unstimmigkeiten traten bereits auf dem Gründungsparteitag in aller Deutlichkeit hervor. Sie fingen schon bei der Namensgebung an. Luxemburg plädierte aus taktischer Rücksichtnahme auf die reformistisch beeinflußten Arbeitermassen für «sozialistisch«, Leo Jogiches – das “Organisationsgenie” von Spartakus – hielt die Gründung überhaupt und die Trennung von der USPD für immer noch verfrüht; doch die Mehrheit entschied korrekterweise anders. Zur zentralen Kontroverse kam es über das Problem der Konstituante. Luxemburg versuchte, den Unterschied zwischen einer allgemeinen Klassifizierung und der Notwendigkeit des taktischen Reagierens herauszuarbeiten und empfahl die Beteiligung an den Nationalratswahlen in Form einer Eigenkandidatur, die Nationalversammlung und den Wahlkampf als Tribüne des Klassenkampfs auszunutzen.

Die Gegner dieses Herangehens sahen dies in der spezifischen Doppelmachtsituation als nicht mehr erfüllbare demokratische Losung an, sondern nur, daß die Nationalversammlung die Konterrevolution besiegeln könnte, und hielten es deshalb für geboten, der bisherigen Propagierung des Rätewesens folgend der Konstituante mit Abstinenz zu begegnen und stattdessen die Kräfte für wichtigere Aufgaben, den Aufstand, zu präparieren. Das Leitungsgremium schloß sich Luxemburgs Argumentation an und legte dies dem Parteitag zur Beschlußfassung vor, erlitt aber eine kapitale Niederlage mit dreiviertel Gegenstimmen, was die Autorität der frischgebackenen Führung natürlich empfindlich unterhöhlen mußte. Hier rächte sich im übrigen, daß das 12-köpfige Paneel berlin- und spartakuszentriert besetzt war. Die neue Partei legte also mit ihrem ersten Beschluß von Tragweite einen klassischen Fehlstart hin. Obgleich die Position der Zentrale nicht ganz korrekt war, weil sie einige taktische Implikate außer Acht ließ, hätten wir damals gegen die ultralinken Sektierer assistieren müssen.

Das gilt auch in der Aufstandsproblematik, wo sich ebenfalls das radikale Argument durchsetzte, diesmal allerdings mit knapperer Mehrheit und anderer Frontstellung. Luxemburg gehörte abermals zu denjenigen, denen die Geschichte nachträglich mehr recht gab, aber wieder zu den Verlierern der aktuellen Abstimmung. Jogiches und Luxemburg waren wie die Revolutionären Obleute gegen jeden vorzeitigen Versuch der Machtübernahme, sahen den endgültigen Sieg der proletarischen Revolution erst am Ende harter Klassenkämpfe. Liebknecht war hier weniger vorsichtig. Er war wie die Masse der Spartakisten eher Anhänger der “revolutionären Initiative”, des Drucks der Straße, des Ersatzes “falscher” Führungen durch “handelnde Minderheiten”. Hatte die «Rote Fahne« am 14. 12. 1918 noch die Errichtung einer Räterepublik erst nach Gewinnung der Mehrheit der werktätigen Bevölkerung verkündet, schwand das luxemburgistische Vertrauen in die Dynamik der Massenkämpfe und die der Partei zugedachte eher passive Rolle als Sekundant im revolutionären Prozeß nunmehr.

Die voluntaristischen Aufstandsbefürworter, darunter auch Liebknecht, erkannten zwar richtig, daß die Zeit gegen die Revolution arbeitete, zogen aber den Kurzschluß, daß die Partei selber nun durch die Tat ein Revolutionsfanal setzen und in einem militärischen Handstreich – daher der Vorwurf putschistischer Tendenzen seitens der Revolutionären Obleute – die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeiterklasse entscheidend beeinflussen könnte, und tappten damit in eine vorbereitete Falle der Konterrevolution, die auf eine Kraftprobe in der ersten Januarhälfte 1919 im Berliner Zeitungsviertel eingerichtet war, die Linke der Berliner USPD und die Kritiker der revolutionären Obleute allerdings gleich mit.

Das ZK der KPD war über diese Frage gespalten: Liebknecht wurde laut Broué (S. 49) erlaubt, seine Aktivitäten – auch mit dem weiteren Ziel der unmittelbaren und bedingungslosen (!?) Vereinigung der revolutionären Organisationen Berlins – auf “eigene Verantwortung” (!) fortzusetzen, obwohl es dagegen wandte, die Verteidigung Eichhorns unter der Hand, ohne ausreichende Vorbereitung und ohne Gewinnung der Massen zum Kampf für den Sturz Eberts zu verwandeln.

Zwar brach sich sehr bald die Erkenntnis von der Aussichtslosigkeit des verlustreichen Unternehmens Bahn, und der Abbruch der Aktion sowie der Rückzug aus dem Revolutionsausschuß zum Sturz der Regierung, in dem auch Liebknecht saß, wurden von der KPD beschlossen. Liebknecht wurde am 12. von Luxemburg und der Mehrheit des ZK heftig verurteilt. Auch Radek als quasi bolschewistischer Delegierter in Deutschland sprach sich gegen den Januaraufstand aus. Dieser Akt von Hybris lieferte jedoch der sozialdemokratisch geführten Konterrevolution den willkommenen Vorwand, jegliche revolutionäre Bestrebung als Mißachtung des Mehrheitswillens selbst der anerkannten Revolutionsorgane (Vollzugsrat, Rätekongreß) zu brandmarken und eine beispiellose Hetze speziell gegen die «spartakistischen Brandstifter« zu entfachen. Die junge KPD büßte mit dem bitteren Verlust ihrer beiden bedeutendsten Führer, die am 15. 1. 1919, also noch vor dem Termin der Nationalratswahlen, ermordet wurden.

Über die Auffassung der Anfangs-KPD zu den Gewerkschaften finden sich widersprüchliche Angaben in der einschlägigen Literatur. Bei Flechtheim wird die Urheberschaft der Formel «Heraus aus den Gewerkschaften« dem Zentralkomiteemitglied Frölich von den Bremer Linksradikalen zugeschrieben; selbst Luxemburg soll geäußert haben, sie seien wert zu verschwinden. Bock u.a. lasten diese sektiererische Parole syndikalistischen Kreisen außerhalb der Leitung an. Dort kursierte die Idee von der wirtschaftlich-politischen Einheitsorganisation, die Partei und Gewerkschaften ersetzen sollte, eine Räteform als Partei neuen Typs.

Gleichzeitig gab der Gründungskongreß der Partei eine sehr verschwommene organisatorische Form mit völliger Autonomie der örtlichen Gruppen. Die Führung sollte nur die Aufgabe haben, aufzugreifen und zusammenzutragen, was in der Organisation geschah. Der fehlende demokratische Zentralismus erklärte sich großenteils aus den angestammten föderalistisch-antiautoritären Strukturen und der Isolation der einzelnen Mitgliedskomponenten der KPD und erwies sich als Störfaktor bei Beschlußfassungen und deren Umsetzung und im weiteren Verlauf als eine schwere Hypothek für den Aufbau einer wahrhaft revolutionären Partei. Man darf also abschließend sagen, daß die Gründung der KPD unter einem Unstern stand, nichtsdestotrotz war sie überfällig, obwohl die ROL und 95% der USPD-Arbeiter in den entscheidenden Städten nicht gewonnen werden konnten. Die KPD konnte nur ein paar tausend gewinnen.

Ein Wort noch zum Verhalten der Bolschewiki zur deutschen Revolution und zum Prozeß des Parteiaufbaus. Kraft ihrer überlegenen Erfahrung und politischen Klarsicht hätten sie in diesem Zusammenhang mehr Verantwortung übernehmen müssen, insbesondere bei der Schmiedung einer revolutionären Partei, obwohl die III. Internationale zu dem Zeitpunkt noch nicht ins Leben gerufen war. Die Entsendung eines Radek, die Ermunterung durch Briefe und die Ermahnung durch eine bolschewistische Besuchsabordnung im Oktober 1918 an die deutschen Genossen, die Revolution müsse in einem Monat geschafft sein, reichten nicht aus. Eine internationale Diskussion über die Probleme der KPD erfolgte erst im Vorfeld ihres 2. Parteitages im Oktober 1919. Hier revidierte sie auch ihre Position zu bürgerlichen Wahlen und zu den Gewerkschaften.




Kautsky versus Luxemburg – Die Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie 1910

Max Laszer, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

Einleitung

Die Generalstreikdebatte in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gilt nicht von ungefähr als zentraler Streitpunkt, an dem sich zunehmend die Differenzen zwischen dem revisionistisch/reformistischen Flügel und der revolutionären Linken manifestierten. Bekannt ist v.a. die erste Zuspitzung der Debatte anlässlich der ersten russischen Revolution und der daraus zu ziehenden Lehren.

Wie der Revisionismus-Streit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, endet die Generalstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie am Parteitag von Jena 1905 wie auch am internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 mit einer Niederlage der Rechten. Die massiven Vorstöße v.a. der deutschen Gewerkschaftsführungen, für die der Generalstreik als „Generalunsinn“ und „undiskutabel“ galt, wurden zurückgewiesen.

Aber sie wurden, wie wir sehen werden, auf inkonsequente Art und Weise – meist über die Vermittlung des Parteivorstandes um Bebel – zurückgewiesen. So wurden die revisionistischen Vorstöße Bernsteins abgewehrt und die Zustimmung der süddeutschen Gliederungen der SPD zu den Staatshaushalten Bayerns oder Württembergs zwar regelmäßig verurteilt, aber die auf Wahlkämpfe und Propaganda und Agitation für den Sozialismus ausgerichtete Parteipraxis blieb davon ebenso unberührt wie die nur auf Verbesserungen der sozialen Lage angelegte Tätigkeit der Gewerkschaften.

Letztere erlebten aufgrund ihres Wachstums, ihrer Erfolge in Lohnkämpfen und gut kalkulierten Teilstreiks einen massiven Aufschwung und überflügelten die Partei an Größe und Finanzkraft und entwickelten noch vor der SPD einen bürokratischen Apparat. Ihre reformistische Tagespraxis, die von einer politischen Zuspitzung des Klassenkampfes nichts wissen wollte, ging auch einher mit einer materiellen Stütze dieser Praxis in der Facharbeiteraristokratie, auf die sich die Gewerkschaften stützten.

Die Generalstreikdebatte war daher ein erstes Kraftmessen mit der Gewerkschaftsbürokratie. Während der Parteitag von Jena 1905 diese Kampfmethode anerkannte, so markierte bereits der Kongress von Mannheim 1906 eine Niederlage der Linken und ein zugunsten der Gewerkschaften verschobenes Kräfteverhältnis. Der Mannheim Kongress revidierte zwar nicht den Beschluss von Jena, aber er sanktionierte praktisch die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von den Beschlüssen der Partei. Er verdeutlichte, dass die Partei zunehmend abhängig wurde von der inzwischen gewachsenen und gefestigten Gewerkschaftsbürokratie, deren Erfüllungsgehilfe der SPD-Parteivorstand zunehmend wurde.

Bevor wir uns näher dem Schwerpunkt des Artikels – der Generalstreikdebatte um 1910, die anlässlich des Kampfes um das Wahlrecht erneut ausbrach – widmen, wollen wir einen kurzen Abriss der vorausgegangenen Debatten bringen.

Historischer Abriss vor 1905

Die Losung des Massenstreiks war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht neu. Ihr gingen jahrzehntelange Diskussionen um seine Anwendung und dessen politischen Inhalt voraus.

In den 1840er Jahren wurde der Massenstreik von der Chartistenbewegung Englands erstmals eingesetzt. Die Chartisten wollten das allgemeine und gleiche Wahlrecht erstreiken, blieben aber unmittelbar erfolglos.

1868 wurde der Generalstreik vom Brüsseler Kongress der I. Internationale als Mittel, künftige Kriege zu verhindern, beschlossen. Eine breitere Diskussion um das Kampfmittel des Generalstreiks erfolgte dadurch jedoch nicht.

Erstmals mit größerem Gewicht behandelt wurde die Generalstreiklosung nach dem Beschluss des Gründungskongresses der II. Internationale, den 1. Mai 1890 zu einem internationalen Demonstrationstag für den 8-Stunden-Tag zu machen. In Spanien, Österreich und Frankreich wurde gestreikt. Die SPD lehnte den Streik mit der Begründung ab, Bourgeoisie, Militär und Staatsapparat könnten den Generalstreik als Vorwand für einen Staatsstreich und eine Neuauflage der Sozialistengesetze nehmen. Außerdem fürchtete die SPD, man könne die Zustimmung zu diesem Generalstreik als Zustimmung zum syndikalistischen Streikkonzept interpretieren.

Die Sozialdemokraten lehnten die Forderung nach Generalstreiks über Jahre strikt ab. Unter dem Druck praktischer Erfahrungen mit Massenstreiks änderte sie aber ihre Position: Zumindest theoretisch wurden organisierte Massenstreiks erwogen. Im Unterschied zu den Syndikalisten betrachteten sie, v.a. die SPD, Massenstreiks jedoch wesentlich als Abwehrmittel, um bestehende Rechte zu verteidigen oder die eigene Zerschlagung zu verhindern, während die Syndikalisten damit noch nicht erreichte Rechte durchsetzen oder die bürgerliche Republik verteidigen wollten.

Die Schwächen der syndikalistischen Konzeption spielten freilich auch der Ablehnung, die Generalstreikfrage überhaupt zu diskutieren, in die Hände. So wurde 1893 der syndikalistische Antrag auf einen “Weltstreik“ zu Recht abgelehnt. Aber die Veränderung der Klassenkämpfe und die Entwicklung größerer Streikbewegungen bis zum Massenstreik erforderten ein Umdenken. 1896 wurde eine differenziertere Stellungnahme verabschiedet: “Der Kongress hält Streiks und Boykotts für notwendige Mittel zur Erreichung der Aufgaben der Arbeiterklasse, sieht aber die Möglichkeit für einen internationalen Generalstreik nicht gegeben. Das nächste Erfordernis ist die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitermassen, weil von dem Umfange der Organisation die Frage der Ausdehnung der Streiks auf ganze Industrien oder Länder abhängt.” (1)

Während die Frage der Generalstreiks für die Internationale auf Resolutionen beschränkt blieb, fanden in Europa Streiks bis hin zu Massen- bzw. Generalstreiks statt.

In Spanien gab es eine Streikwelle für höhere Löhne, darunter 1901 branchenübergreifende Streiks in Barcelona, die sich auf andere Landesteile ausweiteten, und Streiks der Metallarbeiter Barcelonas 1902. Aus diesen – wirtschaftlich erfolglosen – Kämpfen entstand eine allgemeine Gewerkschaft, die “Solidaridad Obrera”, was ein politischer Erfolg war.

In Belgien streikten 1902 zehntausende ArbeiterInnen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Der Streik wurde schließlich abgebrochen, führte jedoch nicht – wie von der Internationale befürchtet – zur Zerschlagung der belgischen Arbeiterbewegung. Auch in Schweden wurde für das Wahlrecht gestreikt. Das Wahlrecht wurde damit zwar nicht gewonnen, die Demonstration des Kampfeswillens und der Solidarität der ArbeiterInnen war jedoch ein politischer Erfolg – was deutsche Gewerkschafts- und Parteiführer nicht daran hinderte, den schwedischen Kampf als erfolglos zu bezeichnen.

Auch in Holland wurde gestreikt. Grund war die parlamentarische Debatte eines Streikverbotsgesetzes. Die dortige Sozialdemokratie wurde in Folge der Zerschlagung des Streiks durch Polizei und Armee zu einem scharfen Gegner von Generalstreiks.

Der Amsterdamer Kongress 1904 konnte von all dem nicht unberührt bleiben. Der “Massenstreik“ wurde als mögliches Mittel zur Abwehr, ja als das äußerste Mittel, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen, anerkannt (Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Amsterdam 1904, Berlin 1904, S. 24). Hierin ist bereits enthalten, was sich in der späteren Diskussion noch deutlicher zeigen wird: Die Aktion der Massen, der Massenstreik, ist vor allem für die SPD nur das äußerste Mittel, das man einsetzt, wenn es um Sein oder Nichtsein der Arbeiterbewegung geht.

Kurz nach Ende des Kongresses brach in Italien ein heftiger Massenstreik aus – ohne Zutun von Parteien oder Gewerkschaften. Auslöser waren zwei Blutbäder der Polizei unter streikenden Bauern und Bergarbeitern in Sizilien. Solidaritätsstreiks breiteten sich über ganz Italien aus. Dieser Generalstreik blieb jedoch, allen Befürchtungen oder Lobpreisungen zum Trotz, beschränkt und führte weder zur sozialen Revolution noch zur Zerschlagung der italienischen Arbeiterbewegung. Er wurde nach Versprechungen der Regierung, die Polizei bei Streiks nicht mehr einzusetzen, abgebrochen.

Die russische Revolution 1905

Die wichtigsten Erfahrungen mit Streiks brachte 1905 die Revolution in Russland. Seit der Jahrhundertwende nahm in Russland die Zahl der Streiks stark zu. Ein Massenstreik brachte auch das Zarenregime ins Wanken. Am 22. 1. 1905 zogen 200.000 ArbeiterInnen vor das St. Petersburger Schloss. Das von Soldaten unter den friedlichen DemonstrantInnen angerichtete Gemetzel ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein. Binnen weniger Tage wälzte sich eine Serie von Massenstreiks durch ganz Russland.

Bedeutender Faktor für die Diskussion der westeuropäischen Sozialdemokratie waren diese Ereignisse deswegen, weil diese Streiks nicht das Machwerk von Anarchisten oder Anarchosyndikalisten war, sondern völlig spontan entstanden waren und von der russischen Sozialdemokratie unterstützt wurden. Rosa Luxemburg führte trefflich ins Feld, dass die russischen Erfahrung eine “gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus” erforderlich macht, nach der “es wieder nur der Marxismus (sein werde), dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen.” (2)

Die russische Revolution vereinte wirtschaftliche wie politische Forderungen – zwei Aspekte, die in der Diskussion der Sozialdemokratie bislang getrennt waren. Russland bewies, welche Kraft und welchen organisatorischen Nutzen Massenstreiks haben konnten. Sie offenbart den Massenstreik als Kampfform. Die Sozialdemokratie Westeuropas hatte sich im Gegensatz dazu auf Machtvergrößerung im parlamentarischen Spielraum und stetige gewerkschaftliche Aktivität beschränkt.

Sie nahm die russische Revolution von 1905 aber nicht als Anlass, ihre Fehler zu korrigieren. Die Generalstreikdebatte kam vielmehr mit der Niederlage der russischen Revolution zum Ende. Jedoch bekam die Frage nach Massenstreiks im Rahmen einer anderen Debatte erneut Relevanz: Diese Frage war, wie am besten gegen den Militarismus gekämpft werden könne. Im Rahmen dieser Antimilitarismus-Diskussion war es erneut die deutsche Sozialdemokratie, die im Gegensatz zur französischen Massenaktionen ablehnte. Nur aus Furcht vor einer erneuten Illegalisierung, wollte man zu Massenstreiks greifen. Auf dem Internationalen Sozialistenkongress 1907 wurde schließlich beschlossen:

“Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Mitteln dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.” (3)

Dieser Beschluss tauchte in der Folgezeit jedoch weder propagandistisch noch praktisch auf. Die Bedeutung dieses Beschlusses lag jedoch darin, dass die Linken im Ersten Weltkrieg und die entstehenden kommunistischen Partei daran anknüpfen konnten.

Die Debatte 1910

1905/06 hatten in der deutschen Sozialdemokratie Rosa Luxemburg und Karl Kautsky, trotz mitunter unterschiedlicher Schärfe in der Argumentation, an einem Strang gezogen. Sie waren Teil des linken, marxistischen Flügels in der Partei und Internationale, der viel zur Heranbildung einer klassenbewussten, revolutionären Arbeiterschaft beitrug. Wir wollen damit keineswegs die Fehler Kautsky’s vor 1910 abstreiten (wie auch jene Luxemburgs keineswegs „irrelevant“ sind). Wir bestehen aber darauf, dass sie ein Beitrag zur Formierung eines revolutionären Flügels der Sozialdemokratie vor dem Hintergrund eines Epochenwechsels – vom Übergang der Epoche des klassischen Kapitalismus hin zur Epoche des niedergehenden, imperialistischen Monopolkapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts – waren. So nahm Kautsky bis 1907 zweifellos an der Formierung des Linken aktiv teil und seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ ist wohl auch der Text, wo Kautsky am weitesten nach links ging und einen der ersten Texte überhaupt vorlegte, die versuchten, die Frage der Machtergreifung im Kontext einer neuen Periode zu beantworten.

Der Beginn der Niedergangsepoche des Kapitalismus, der imperialistischen Ära, machte jedoch die „alte“ Programmatik und Methodik des Erfurter Programms – die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm – zunehmend obsolet. Ein Festhalten an dieser Methode führte mehr und mehr dazu, dass das Maximalprogramm zu einer vorgeblich „marxistischen“, aber leeren Rechtfertigung der reformistischen Praxis und Anpassung an den imperialistischen Staat verkam.

Natürlich besaß die gesamte Linke in der internationalen Sozialdemokratie keineswegs eine fertige Alternative zum Minimal-Maximal-Programm. Aber ihr revolutionärer Flügel versuchte – insbesondere im Angesicht der russischen Revolution, die die Frage der politischen Machtergreifung als Tagesfrage aufwarf – das Korsett des Minimal-Maximal-Programm zu sprengen, wenn auch z.T. ohne sich selbst der politischen Konsequenzen völlig klar zu sein.

Die Diskussion um den Generalstreik 1910 markiert hier einen Wendepunkt. Angestoßen wurde die Debatte durch eine massenhafte Wahlrechtsbewegung in Deutschland, von Massendemonstrationen in zahlreichen Großstädten bis hin zur illegalen Demonstration im Berliner Tiergarten mit 150.000 TeilnehmerInnen am 6. März 1910. Rosa Luxemburg und der gesamt radikale Flügel der Partei hatte großen Anteil daran, dass diese Bewegung zustande kam und sich weiter entwickelte.

Zugleich konnte sich auch der Parteivorstand, dem die Sache über den Kopf zu wachsen drohte, der Bewegung und der Massenagitation nicht direkt entgegenstellen. Die Parteiführung – und noch mehr die Gewerkschaften – wollten auf keinen Fall, dass sich die Bewegung radikalisierte und zum Mittel des politischen Massenstreiks griff, wie Luxemburg, aber auch sehr viele Grundorganisationen und die linken Ortsverbände in Preußen forderten.

Der Parteivorstand versuchte offen, die beginnende Debatte zu unterdrücken. Artikel und Stellungnahmen, die sich für den Massenstreik aussprachen, durften im Zentralorgan nicht veröffentlicht werden.

Das hinderte Luxemburg nicht, sich an die politische und theoretische Spitze der Unterstützer des Massenstreiks zu stellen und dafür zu agitieren. Sie versuchte, durch Agitation und Aufklärung bei den Massen die Versäumnisse der Parteiführung wettzumachen. Dies war der Zündfunke für eine öffentliche Debatte zwischen Luxemburg und Kautsky in der „Neuen Zeit“. Karl Kautsky, ein „Linker“, wurde zum wichtigsten Kontrahenten Luxemburgs in der Debatte.

Die Generalstreikdebatte 1910 markiert also auch einen offenen Bruch innerhalb der Linken zwischen einem opportunistischen, rechts-zentristischen Flügel um Kautsky, Hilferding u.a., dem „Zentrum“ sowie der revolutionären, radikalen Linken um Luxemburg, Zetkin und Mehring. Es ist daher kein Zufall, dass die Debatte rasch über das Thema Generalstreik hinausging und auch Grundfragen der Strategie und Taktik der Partei umfasste.

Soll man das Thema Massenstreik öffentlich diskutieren?

Nach mehreren – bürokratisch unterbundenen -Versuchen Luxemburgs, in der „Neuen Zeit“ für den Massenstreik zu werben, veröffentlichte Kautsky darin den Artikel “Was nun?“ (28. Jahrgang, 2. Band 1910), mit dem er einem “Angriff” Luxemburgs auf Mehring beantworten wollte, mit dem er “in dieser Frage vollkommen übereinstimme”. Ob eine Diskussion des Massenstreiks zweckmäßig sei, hänge davon ab, in welchem Sinne diese geführt werde. Der Massenstreik käme natürlich allgemein in Frage, dies sei ja bereits am Jenaer Parteitag beschlossen worden. Die Diskussion, ob er in der gegenwärtigen Situation angebracht ist oder nicht, solle man jedoch nicht in der Öffentlichkeit führen, da man dadurch dem Feind seine Schwachstellen offenbare. “Die ganze Diskussion wäre ebenso zweckmäßig, als wollte man einen Kriegsrat darüber, ob man dem Gegner eine Schlacht liefern soll, in Hörweite des Feindes abhalten” (4), schreibt er.

Diskutiere man die Frage des Massenstreiks “unter sich” sei es etwas anderes. Kautsky hoffte, Luxemburgs Artikel habe nicht den Erfolg, in der Parteipresse eine Diskussion zu der Frage zu entfachen, in welcher “die eine Seite ihre Gründe für die augenblickliche Aussichtslosigkeit des Massenstreiks auseinandersetzte”. Ob sie Recht hätten oder nicht – eine derartige Diskussion wirke keinesfalls anfeuernd für die Aktion der Massen. Anstelle dieser Frage will Kautsky sich vielmehr damit auseinandersetzen, ob es für die Sozialdemokratie nun notwendig ist, den Massenstreik “mit allen Mitteln schon für die nächste Zeit anzustreben”. (5)

Luxemburg antwortet Kautsky darauf (Ermattung oder Kampf? Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band 1910), das Thema Massenstreik sei nicht von ihr erfunden, es wurde davor bereits diskutiert und dazu publiziert. So wurde in Halle in formellen Anträgen dem Parteivorstand die Befassung mit der Frage des Generalstreiks nahegelegt. In Königsberg, Essen, Breslau und Bremen wurde beschlossen, Vorträge mit Diskussionen über den Massenstreik abzuhalten. In einer öffentlichen Versammlung hatte Genosse Pokorny vom Bergarbeiterverband in Essen den Massenstreik in Aussicht gestellt und die Hoffnung ausgesprochen, dass in den kommenden Aktionen den Bergarbeitern eine führende Rolle zufalle. Auch bei den Versammlungen, wo Luxemburg selbst gesprochen hatte, fand die Losung des Massenstreiks stürmischste Zustimmung unter den ArbeiterInnen. Kampfesstimmung und der Wille zum Kampf sind also unter den ArbeiterInnen gegeben, nur ignoriert dies das Parteizentralorgan.

Es wurden für die „Neue Zeit“ sogar Sätze aus Berichten gestrichen, die mit dem Massenstreik zu tun hatten. Es besteht, so Luxemburg, “ein so gespanntes Interesse für die Idee des Massenstreiks, wie noch nie bis jetzt in Deutschland”. (6) Eine Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden – was nicht zum ersten Mal versucht werde – sei unmöglich. Aus dem einfachen Umstand, dass die Sozialdemokratie keine Sekte ist, sind alle vergangenen Versuche gescheitert, die Diskussion des Massenstreiks zu verbieten (Kölner Gewerkschaftskongress 1905, Salzburger Parteitag 1904). Betrüblicher als der Versuch, die Diskussion zu unterbinden, sei – so Luxemburg – die allgemeine Auffassung, die vom Massenstreik herrscht.

Die Erfahrungen der Russischen Revolution werden ignoriert und v.a. das ganze Konzept, das sich der Parteivorstand offenbar unter einem Massenstreik vorstellt, ist ernüchternd. Dieser sei kein Werkzeug, das man zur Hand nehmen und wieder zusammenklappen könne, er entstehe nicht durch einen geheimen Vorstandsentschluss. Kraft und Schwäche hingen von den politischen und sozialen Verhältnissen ab. Kautskys Formulierung eines “Kriegsrats in Hörweite des Feindes” zeige dieses Verständnis auf, nach dem der Massenstreik “demnach ein schlau ersonnener Coup” (7) wäre.

Im Gegensatz dazu muss die Sozialdemokratie aber ihre Taktik mit den Massen, also öffentlich diskutieren. Dann wendet sie sich Kautsky’s nächstem Argument zu: Eine Debatte über den Massenstreik wirke nicht anfeuernd zur Aktion. Luxemburg erwidert, dass eine öffentliche Diskussion auf jeden Fall sinnvoll ist, da es gut und billig ist, wenn entweder vor den Augen der Massen die Richtigkeit oder die Unrichtigkeit des Anstrebens eines Massenstreiks aufgezeigt wird. Sofern Kautsky verhindern wollte, dass die Gewerkschaftsführer ihre „Kanonen“ gegen den Massenstreik richten, unterliegt diesem Punkt wieder eine falsche Grundlage: ein technisches Verständnis der Macht der Gewerkschaften, wo abermals die Führer geheime Pläne aushecken. Treten in einer solchen Situation der bereitwilligen Kampfesstimmung die Gewerkschaftsführer gegen die Massen auf, so sind es nicht die Massenstreikpläne, sondern die Autorität der Gewerkschaftsführer, um die gefürchtet werden muss. Es könnte – vor dem Hintergrund der großen Kampfesstimmung – gar nichts wünschenswerter sein, als ein öffentliches Auftreten der Gewerkschaftsführer gegen den Massenstreik. Luxemburg betont den Aspekt, dass ein Massenstreik nicht von oben gemacht wird und dass die Arbeiterklasse sich nur selbst befreien kann, was konkret auch bedeutet, dass ein Massenstreik aus der massenhaften Stimmung dafür entsteht. Deswegen befürwortet sie es, dass der Massenstreik möglichst breit diskutiert wird. „Ob ein Massenstreik möglich, notwendig oder angebracht ist, würde sich dann aus der weiteren Situation und aus der Haltung der Masse ergeben“. (8)

Luxemburg beleuchtet, wie merkwürdig es ist, dass Kautsky für mehrere mögliche Szenarien vermerkt, es sei dann notwendig, den Massenstreik anzuwenden. Wenn dem so ist, so Luxemburg, dann „ergibt es sich von selbst, dass es unsere Pflicht ist, auch den Massen alle diese Eventualitäten vor Augen zu stellen, jetzt schon in möglichst breiten Kreisen des Proletariats Sympathie für diese Aktion zu wecken“ (9), damit die Arbeiterklasse nicht überrumpelt wird, nicht blindlings, nicht unter Affekt, sondern vollends bewusst mit sicherem Gefühl der eigenen Kraft und möglichst massenhaft den Kampf beginnt. Die marxistische Auffassung besteht gerade in der Beachtung des Klassenbewusstseins. In diesem Sinne sei ein Massenstreik – wie der Kampf um das Wahlrecht – nur Mittel zur Klassenaufklärung und Organisation dieser. Deswegen sei es unerklärbar, wie man der Masse die Befassung mit dieser Frage vorenthalten kann.

Streikarten

Nach den Überlegungen zur Frage, ob und in welcher Form es überhaupt Sinn mache, das Thema zu diskutieren, stellt Kautsky folgende Bedingung auf: Er hält es für unerlässlich, hinsichtlich des Massenstreiks zwischen Demonstrations- und Zwangsstreik zu unterscheiden und möchte gern von Genossin Luxemburg Klarheit darüber, welche Form der von ihr skizzierte Massenstreik haben solle. Die beiden müssten “streng auseinandergehalten” werden, da sie andere Bedingungen voraussetzten und eine andere Taktik erforderten. Ein Zwangsstreik versuche, Regierung oder Parlament zu etwas zu zwingen – gelingt dies nicht, sei er gescheitert. Ein Demonstrationsstreik hingegen sei von begrenzter Dauer und nicht an Resultate gebunden. Letzterer kann lokal beschränkt bleiben, ein Zwangsstreik müsse dagegen allgemeiner Natur sein. Propagiere man den Massenstreik ungeachtet dieser, laut Kautsky notwendigen, Trennung, laufe man Gefahr, “bei lebhafteren Naturen wider unseren Willen den Gedanken des Zwangsstreiks großzuziehen und Aktionen hervorzurufen, die wir nicht beabsichtigen, die weder der Situation noch den Kräfteverhältnissen entsprechen und zu Niederlagen führen. Vergessen wir nicht, dass der Massenstreik als Zwangsstreik unsere letzte (Hervorhebung Kautskys) Waffe ist, die wir einzusetzen haben.” (10)

Sollte Genossin Luxemburg ihn auf Russland 1905 verweisen wollen, falle die dortige Situation unter die Kategorie “Revolution”, was in Preußen nicht der Fall sei. Aus westeuropäischen Ländern ist Kautsky keine Vereinigung von Wahlrechtskampf mit ökonomischen Forderungen bekannt. Dass es dazu nicht kam, ergibt sich für Kautsky daraus, dass die “Verquickung des allen Arbeitern gemeinsamen politischen Kampfesziels mit besonderen, für verschiedene Arbeitszweige verschiedenen gewerkschaftlichen Zielen” ein Mittel böte, “die einzelnen Arbeiterschichten voneinander zu isolieren. Wie dadurch der Massenstreik als Mittel des Wahlrechtskampfes gestärkt werden soll, ist mir nicht ganz klar.” (11)

Illustriert bedeutet diese These: Kombiniert man z.B. die Kämpfe von Grubenarbeitern um ökonomische Forderungen mit der Wahlrechtslosung, würden die Grubenbesitzer den ökonomischen Forderungen nur nachgeben, um die Bestreikung des Betriebes aufzuheben. Dies würden sie jedoch nicht tun, wenn die Werktätigen aufgrund der Wahlrechtsforderungen dann weiterstreiken würden. Somit wären dann die Grubenarbeiter von der Wahlrechtsbewegung isoliert. Der Blick ins Ausland nütze nichts, geht Kautsky erneut auf Russland ein, da die Bedingungen dort andere sind. Auch wenn Luxemburg sich auf die Kämpfe, die in Belgien stattgefunden haben, bezieht, merkt er an, dass diese das gleiche Wahlrecht nicht erfolgreich erstritten haben. “Mit diesem Beispiel kommen wir also auch nicht weit.” (12)

Luxemburg antwortet Kautsky, sein Trennen der Streikarten hätte vielleicht auf dem Papier Bestand, aber auf der Straße, wo das Leben alles durcheinander werfe, nicht. Luxemburg lehnt Kautskys Position ab, dass die russischen Lehren keine Gültigkeit für Deutschland hätten, bloß weil er sie als „Revolution“ etikettiere. Als Beispiel für den fließenden Wechsel zwischen ökonomischen und politischen Forderungen bringt sie die belgische Wahlrechtsbewegung.

Dort kam es 1886 zu einem “Sturm wirtschaftlicher Kämpfe”. (13) Erst fand ein Streik der Bergarbeiter statt, dem in fast allen Städten und Branchen des Landes Streiks folgten, in denen Lohnforderungen im Vordergrund standen. Aus diesen ökonomischen Kämpfen entwickelte sich die Wahlrechtsbewegung Belgiens. Zu den Lohnforderungen gesellte sich die Forderung des allgemeinen Wahlrechts. Am 15. August 1886 veranstaltete die belgische Sozialdemokratie, die durch den wirtschaftlichen Kampf erregte Stimmung nutzend, eine Massendemonstration für das allgemeine Wahlrecht in Brüssel.

Ähnlich war es 1891. Ein großer politischer Massenstreik erzwang die Durchsetzung einer Wahlrechtsvorlage. Dieser fand zusammenhängend mit dem Kampf um den Achtstundentag statt, als Produkt einer Reihe gewerkschaftlicher Aktionen und direkt angestoßen durch die vorhergegangene Maifeier. Dieser erste Wahlrechtsmassenstreik vereinte die vorhergehenden Branchenstreiks von Bergarbeitern, Eisen- und Stahlwerken, Tischlern, Zimmerern, Hafenarbeitern u.a., die im Kampf um den Achtstundentag entstanden waren.

Auch nach Beendigung des Massenstreiks – angesichts von Zugeständnissen der Regierung – setzten die Bergarbeiter in Charleroi ihren Streik fort, um eine Verkürzung der Arbeitszeit und Lohnerhöhungen zu erringen. Auch im Folgejahr 1892 fanden vor dem Hintergrund einer latenten Wirtschaftskrise mehrere Streiks zur Abwehr von Lohnkürzungen statt, schließlich am 8. November 1892 ein Demonstrationsmassenstreik und im Dezember 1892 einige Arbeitslosendemonstrationen. Die Bewegung entwickelte sich also, wie Luxemburg betont, “in beständiger Wechselwirkung der Demonstrations- und der ‚Zwangsstreiks’” (14), welche den großen Wahlrechtsmassenstreik im Jahre 1893 vorbereitete.

Auch Beispiele aus Deutschland kann sie anbieten, so Baugewerbekämpfe und die Sympathie zwischen diesen und der Wahlrechtsbewegung. Desgleichen die Mai-Feier, wo der Kampf um den Acht-Stunden-Tag mit Wahlrechtsforderungen verbunden wurde, was nach Kautskys Konzept ein Fehler sei. Was Kautsky vorschlägt, also das Trennen der Kampfformen, macht, so Luxemburg, nur Sinn, wenn man den Kampf rein “im Sinne des bürgerlichen Liberalismus (…) nur als politischen Verfassungskampf“ (15) führen wolle, während dies im Sinne einer proletarischen Taktik, als “Teilerscheinung unseres allgemeinen sozialistischen Klassenkampfes“ (16) als zweckwidrig und unmöglich erscheint. Es hieße, “die Kraft und den Schwung der Wahlrechtsbewegung künstlich lähmen, ihren Inhalt ärmer machen, wollten wir nicht alles in ihr aufnehmen, sie nicht von allem tragen lassen, was die Lebensinteressen der Arbeitermassen berührt, was in den Herzen dieser Massen lebt.” (17)

Dieses „pedantisch-engherzige“ Agieren schadete der deutschen Sozialdemokratie bereits 1908 und 1909, als der “erste Demonstrationssturm der preußischen Wahlrechtsbewegung losbrach und gleichzeitig die Arbeiterklasse eben die Schrecken der wirtschaftlichen Krise zu spüren bekam.“ (18) Die zahlreichen, durch die Krise auf die Straße geworfenen, Arbeitslosen veranstalteten Versammlungen und Demonstrationen. Doch die Führung der SPD trennte diese Kämpfe, anstatt die eine Bewegung durch die andere zu stärken. Nach Kautskys Schema “ein weises Stück Ermattungsstrategie”, wie Luxemburg satirisch anmerkt. Kautsky macht also nichts anderes, als die praktischen Fehler der Partei theoretisch zu untermauern. Jene, die – so Luxemburg – nichts lieber täten, als öffentliche Veranstaltungen nur im kleinen Kreis bereits Organisierter abzuhalten und “die ganze Wahlrechtsbewegung als ein unter strengem Kommando der oberen Instanzen nach genauem Plane und Vorschrift ausgeführtes Manöver” auffassen, “statt in ihr eine große historische Massenbewegung, ein Stück des großen Klassenkampfes zu sehen, der aus allem seine Nahrung schöpft, was den heutigen Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem herrschenden Klassenstaat ausmacht.” (19)

Kautsky antwortet Luxemburg, indem er die eigene Position abschwächt: „Aber wann habe ich je geleugnet, dass ökonomische und politische Aktion einander stützen, wann habe ich gesagt, zur Zeit eines Wahlrechtskampfes seien wirtschaftliche Kämpfe als schädlich zu meiden? Gerade in meiner Erwiderung an die Genossin Luxemburg habe ich betont, daß der Wahlrechtskampf aus ökonomischen Gegensätzen und Kämpfen seine stärkste Kraft ziehe“. (20) Genossin Luxemburg renne also offene Türen bei ihm ein. Es handle sich nicht darum, „ob während der Jahre eines Wahlrechtskampfes nicht ökonomische Kämpfe vorkommen und auf jenen zurückwirken können, sondern darum, welcher Art der bestimmte nächste Massenstreik sein soll, den die Genossin Luxemburg erwartet. (…) Will sie behaupten, dass in Westeuropa irgendwo ein bestimmter Streik vorkam, der gleichzeitig mit politischen Forderungen der Gesamtheit des Proletariats an Regierung und Parlament auch ökonomische Sonderforderungen einzelner Arbeiterschichten an einzelne Kapitalistengruppen durchzusetzen suchte?“ (21)

Die Erkenntnis, dass Demonstrations- und Zwangsstreiks einander mitunter folgen, sei unleugbar richtig, biete aber wenig Aufschluss darüber, welcher Art die Parole des Massenstreiks sein solle. Luxemburgs Bild des Massenstreiks sei nicht klar. Wie Faust mit dem Hexentrank im Leibe in jeder Frau Helena sieht, so sehe sie in jedem Streik ein Muster des kommenden Massenstreiks. Seine mechanische Denkweise zeigt sich sehr klar in folgendem Absatz:

“Den Anstoß zur Massenaktion können nicht die Leitungen der proletarischen Organisationen geben, sondern nur die Massen selbst: (…) Diese selbe Massenaktion soll aber nach der Genossin Luxemburg ganz davon abhängen, dass dazu der Masse von der Partei die Parole ausgegeben wird, die einzig den durch sie begonnen Kampf weiter vorwärts treiben kann.

Wird im ‚gegebenen Moment‘ diese Parole nicht gegeben, dann bemächtigt sich der Masse eine Enttäuschung, die Aktion bricht in sich zusammen. Auf der einen Seite kann also der Massenstreik nicht gemacht werden; er entsteht von selbst. Auf der anderen Seite wird er durch eine Parole der Partei gemacht. Zuerst ist die Masse der Ursprung und Träger der ganzen Aktion. Dann wieder vermag die Masse gar nichts, wenn ihr nicht die Parole zugerufen wird.” (22)

Hier offenbart sich sehr deutlich das Unverständnis Kautskys für die Beziehung zwischen Partei und Masse. Wo er nur Widersprüche sieht, existiert ein organisches Verhältnis. Einerseits kann die Partei einen Kampf nicht erfinden oder künstlich beschwören, andererseits kann ein Kampf der Masse in sich zusammenfallen, wird er nicht durch die Partei vorangetrieben, koordiniert und geführt. Lassen wir Luxemburg antworten:

Sie stellt hierzu in “Die Theorie und die Praxis“ (Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band, 1910), mit unmissverständlicher Klarheit fest, dass weder das “geheimnisvolle Aushecken von großen Plänen” noch das “Warten auf Elementarereignisse” die Aufgabe der Sozialdemokratie sei, sondern Massenstreiks nicht auf Kommando gemacht werden, “sie müssen aus der Masse und ihrer fortschreitenden Aktion” sich ergeben. Aufgabe der Sozialdemokratie sei es dann eben, diese Aktion “politisch (Hervorhebung Luxemburgs) im Sinne einer energischen Taktik, einer kräftigen Offensive so vorwärts zu führen, dass die Masse sich ihrer Aufgaben immer mehr bewusst wird”. Zwar vermag es die Sozialdemokratie nicht, künstlich eine revolutionäre Massenbewegung zu schaffen, “sie kann aber wohl unter Umständen durch ihre schwankende, schwächliche Taktik die schönste Massenaktion lähmen.“ (23) Als Beispiel nennt sie die 1902 “abkommandierte” Wahlrechtsbewegung in Belgien.

Dieser Gedanke wird auch von Leo Trotzki im Vorwort zu “Geschichte der russischen Revolution” beschrieben:

“Nur auf Grund des Studiums der politischen Prozesse in den Massen selbst kann man die Rolle der Parteien und Führer begreifen, die zu ignorieren wir am allerwenigsten geneigt sind. Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf.” (24)

Niederwerfungs- vs. Ermattungsstrategie

Den Kernpunkt in Kautsky’s erster Argumentation – wir werden noch sehen, dass er diesen Kernpunkt später zu anderen Argumenten verlagert – bildet die “Ermattungsstrategie”. Kautsky definiert diese mit Anleihen militärischen Vokabulars folgendermaßen: “Bei der Ermattungsstrategie dagegen weicht der Feldherr zunächst jeder entscheidenden Schlacht aus; er sucht die gegnerische Armee durch Manöver alle Art stets in Atem zu erhalten, ohne ihr Gelegenheit zu geben, ihre Truppen durch Siege anzufeuern; er strebt danach, sie durch ewige Ermüdung und Bedrohung allmählich aufzureiben und ihre Widerstandskraft immer mehr herabzudrücken und zu lähmen”. Und: “Zur Ermattungsstrategie wird sich ein Feldherr nur dann verstehen, wenn er keine Aussicht hat, durch die Niederwerfungsstrategie zu seinem Ziele zu kommen.” (25)

Die Zeiten der Niederwerfungsstrategie seien vorbei, so Kautsky. Sie passten bei einem politischem Zustand, wo eine Großstadt dominiert, bei schlechteren Transportmöglichkeiten, “die es unmöglich machten, rasch große Truppenmassen aus dem Lande zusammenzuziehen” sowie bei Straßenbau und Militärtechnik, die Chancen für den Straßenkampf boten. Durch allgemeines Wahlrecht, Koalitionsrecht, Pressefreiheit und Vereinsfreiheit sei nun aber die Grundlage gelegt, für “die neue Strategie der revolutionären Klasse”, wobei sich Kautsky vor allem auf Engels´ Vorwort zu den “Klassenkämpfen in Frankreich” von Karl Marx beruft. Natürlich räumt Kautsky ein, dass eine unbestimmte letzte Schlacht notwendig sein werde. “Die Ermattungsstrategie unterscheidet sich von der Niederwerfungsstrategie nur dadurch, dass sie nicht, wie diese, direkt auf den Entscheidungskampf losgeht, sondern ihn lange vorbereitet und sich ihm erst dann stellt, wenn sie den Gegner genügend geschwächt weiß.” (26) Kampfaktionen wie den Massenstreik hält Kautsky für angebracht, wenn “unsere Gegner, durch das unaufhaltsame Wirken unserer Ermattungsstrategie zur Verzweiflung gebracht, eines schönen Tages einen Gewaltstreich versuchen.” (27) Dadurch könne der Massenstreik ein Mittel werden, um von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstrategie überzugehen.

Die Frage, ob man auf den Ausbruch eines Massenstreiks hinarbeiten solle, sei daher die Frage, ob es angebracht ist, von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstra-tegie überzugehen. In Kautskys Worten: “ob die Fortführung der bisherigen Ermattungsstragie unserer Partei jetzt schon unmöglich geworden ist oder unsere Partei schwer bedroht ist.” (28)

Um diese Frage zu beantworten, stellt Kautsky Bedingungen für den sinnvollen Übergang von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstrategie auf. Wenn der Feind “uns von unserer Basis abzuschneiden oder diese selbst wegzunehmen” droht, “wenn sie die eigenen Truppen demoralisiert und entmutigt, wenn wir in eine Sackgasse geraten sind, in der wir nur die Wahl haben zwischen Niederwerfung des Feindes und schimpflicher Kapitulation.” (29)

Den Beschluss des Parteitages von Jena legt er so aus, dass der Massenstreik dann ins Auge gefasst werden solle, wenn die erste dieser Bedingungen erfüllt ist. Auch werde der Massenstreik nicht notwendig, weil nur durch stete und rasche Steigerung der Aktionsmittel “die Massen an unsere Fahne geheftet werden könnten.“ (30)

Als Beispiel einer „glänzenden Massenbewegung“ ohne Zuspitzung nennt Kautsky Österreich, wo von 1894 bis 1905 eine solche in Gang gehalten worden wäre, „und doch verschwand nicht ihr Elan, brach ihre Aktion nicht zusammen.“ (31)

“Wenn die Sozialdemokratie von ihren Anfängen an die Ermattungsstrategie akzeptierte und zur Vollkommenheit entwickelte, so geschah es nicht bloß deshalb, weil die damals gegebenen politischen Rechte ihr eine Basis dazu boten, sondern auch deshalb, weil die Marxsche Theorie des Klassenkampfes ihr die Gewähr gab, dass sie auf das klassenbewusste Proletariat stets rechnen kann, solange sie seine Klasseninteressen energisch verficht, mag sie die Massen durch Erfolge oder neue Sensationen begeistern oder nicht.” (31) Die Gefahr, dass die Massen enttäuscht werden, dass „Erschlaffung und Mutlosigkeit” eintritt, sei dann gegeben, wenn die Sozialdemokratie “mehr verspricht, als sie zu leisten vermag”. Würde die Partei, wie Kautsky es Luxemburg unterstellt, Propaganda für den Massenstreik entfalten und erklären, Straßendemonstrationen genügen nicht, eine rasche stete Steigerung der Mittel der Massenaktion sei erforderlich, dann werde man in kürzester Zeit vor dem Dilemma stehen, “entweder die Massen aufs tiefste zu enttäuschen oder mit einem gewaltigen Satze dem Junkerregime an die Gurgel zu fahren, um es niederzuwerfen oder von ihm niedergeworfen zu werden.” (32) Diese Situation sei aber nicht gegeben, man sei noch frei in der Wahl seiner Mittel.

Ein Dilemma, dass die Massen sich von der Partei abwenden, greift sie nicht zu schärferen Mittel, besteht also laut Kautsky so lange nicht, wenn die Partei nicht selbst Erwartungen schaffe, die über ihr Vermögen hinausgingen. Nur eine Situation sieht Kautsky, in der er es für sinnvoll hält, zur Niederwerfungsstrategie überzugehen: Wenn die Regierung in einer “Klemme sich befände, die es gelte, aufs rascheste auszunutzen”. Von dieser, für ihn “entscheidenden Frage” (33), hänge ab, ob eine Durchführung des Massenstreiks im gegebenen Moment zweckmäßig sei.

Erst nachdem die Partei eine Massenpartei geworden war und diese Massen in größte Erregung geraten waren, so Kautsky, sei es möglich, dass die Straßendemonstration “ihren gewaltigen Umfang und ihre tiefe Wirkung erreicht”, “Begeisterung und Ermutigung in den Massen, Verwirrung und Kopflosigkeit bei der Regierung und den Regierungsparteien hervorgerufen” (34) haben. Ursachen für diese Erregung sind z.B. die Teuerung der Lebensmittel, das Wettrüsten und Wachstum des Steuerdrucks. Aus all dem bleibe der Bourgeoisie nur der Krieg als Weg. Diese Verhältnisse führen international zu wachsender Erregung der Massen und zu “wachsenden Gegensätzen der herrschenden Klassen untereinander”, wobei er konkret “Kleinbürger, Intellektuelle, Händler und kleinere Kapitalisten” nennt, die in Widerspruch zu “Grundbesitz, hohe Finanz und große industrielle Monopolisten” (35) geraten würden. Das preußische Junkertum verdanke mehr der brutalen Gewalt als jede andere Klasse Europas und kehre diese gegenüber dem Proletariat und seiner Klassenpartei besonders heraus. Aber auch “die bürgerlichen Massen und Parteien” bekommen diese in “immer höherem Grade” zu spüren, wobei er sich auf ökonomische Momente bezieht. Das Junkerregime treibe v.a. die arbeitenden Schichten in den Schoß des Wahlmandats der Sozialdemokratie. “Das sind die Gründe, (…) die die allgemeinen Reichtagswahlen im nächsten Jahre zu einem furchtbaren Tage des Gerichts für die Regierung der preußischen Junker und deren ganze oder auch nur halbe Bundesgenossen zu machen droht. Gegnerische Wahlstatistiker rechnen bereits mit der Möglichkeit, dass wir bei den kommenden Wahlen 125 Mandate erobern.” (36)

Es sei auch kein Grund zur Annahme vorhanden, die wirkenden Ursachen für die Empörung der Massen und ihrer Begeisterung für die Sozialdemokratie würden bis zu den nächsten Jahren verrauchen. Es sei genauso falsch zu behaupten, mit dem Schwinden der Arbeitslosigkeit werde auch der Kampfeswillen der Arbeiter schwinden, da diese auch bei wirtschaftlichem Aufschwung nur Teuerung zu spüren bekämen, wie zu behaupten, in Zeiten der Krise seien die Arbeiter zaghaft und kampfunfähig, da sie dann froh sein müssten, eine Arbeit zu haben. Richtig sei, dass “jede Aktion des Proletariats Hindernisse findet, sowohl zur Zeit der Krise wie zur Zeit der Prosperität, die sie beeinträchtigen.” (37) Darauf müsse ein proletarischer Politiker Rücksicht nehmen bei der Wahl seiner Kampfmittel. Kautskys Rezept lautet: “In der Zeit der Krise werden große Straßendemonstrationen leichter durchzuführen sein als Massenstreiks. In der Zeit der Prosperität dürfte der Arbeiter sich für einen Massenstreik leichter begeistern als während der Krise.” (38)

Natürliche gäbe es nicht nur das eine oder das andere, es gibt auch einen Wechsel dazwischen. Und gerade in dieser Periode des Überganges scheinen die Arbeiter am kampfeslustigsten zu sein. Kautsky ist sich sicher, dass die Partei bei den nächsten Wahlen einen großen Sprung vorwärts machen werde, “der die Erreichung der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu einer Frage weniger Jahre macht.” Ein solcher Sieg bedeutet “nichts geringeres als eine Katastrophe des ganzen herrschenden Regierungssystems. Es unterliegt für mich gar keinem Zweifel, dass die nächsten Wahlen dieses System in seinen Grundfesten erschüttern werden.” (39) Dies lasse dem Junkerregime drei Möglichkeiten: Entweder “westliche Methoden zur Abwehr der steigenden Flut des Sozialismus”, womit er “erhebliche Konzessionen” meint, namentlich das Reichstagswahlrecht für Preußen. Oder, was er für wahrscheinlicher hält, brutale Gewaltstreiche. Oder drittens ein kopfloses Schwanken zwischen A und B, wodurch die “Flamme nur angeblasen” werde, die sie ersticken wollten. Wie auch immer, die nächsten Wahlen “müssen eine Situation schaffen, die für unsere Kämpfe eine neue und breitere Basis erzeugt; eine Situation, die, wenn eine der beiden letzterwähnten Alternativen eintritt, allerdings durch ihre innere Logik rasch sich immer mehr zuspitzt zu großen Entscheidungskämpfen, die wir aber auf der neuen, breiten Basis ganz anders auszukämpfen imstande sein werden als heute.” (40)

Und weiter: “Den Schlüssel zu dieser gewaltigen historischen Situation, den überwältigenden Sieg bei den nächsten Reichtagswahlen, haben wir bei der ganzen Konstellation der Dinge heute bereits in der Tasche. Nur eines könnte bewirken, dass wir ihn verlieren und die glänzende Situation für uns verpfuschen: eine Unklugheit von unserer Seite. Eine solche wäre es, wenn wir uns durch Ungeduld verleiten ließen, die Früchte pflücken zu wollen, ehe sie reif geworden sind; wenn wir eine Kraftprobe vorher provozieren wollten auf einem Terrain, auf dem uns der Sieg keineswegs sicher ist.” (41) Gewiss könne ein Feldherr kaum große Triumphe feiern, wage er nichts. Jedoch: “wenn man durch die Gunst der Verhältnisse und ihre geschickte Ausnutzung dahin gelangt ist, einen unzweifelhaften großen Sieg vor sich zu sehen, wenn dieser Sieg durch nichts gefährdet werden kann als durch den Übergang zu einer neuen Strategie, die eine Schlacht auf einem unübersichtlichen und zweifelhaften Kampfterrain provoziert, dann ist es eine gewaltige Torheit, eine der artige Schlacht vor dem sicheren Siege heraufzubeschwören und dadurch diesen selbst zu gefährden.” (42)

Ein Kampf, so Kautsky, kann ein moralischer Sieg sein, trotz einer materiellen Niederlage. “Wenn der Kampf von unserer Seite so glänzend geführt wurde, dass wir selbst dem Gegner Achtung abnötigen, und wenn er unvermeidlich war, uns von den Gegnern aufgenötigt wurde.” (43) Von den Gewerkschaftskämpfen dieses Jahres erwartet er sich eine Steigerung der Verbitterung und eine Verstärkung des Wahlrechtskampfes, auch wenn diese nicht materiell so erfolgreich werden sollten wie gewünscht. Jedoch würde diese Verstärkung in ihr Gegenteil verkehrt, brächte man sich selbstverschuldete Niederlagen bei. “Niederlagen, dadurch hervorgerufen, dass wir aus freien Stücken das Proletariat in schwere Kämpfe mit höchst zweifelhaftem Ausgang verwickelt hätten, ohne es zu müssen, ohne uns darum zu kümmern, ob es ihnen gewachsen sei oder nicht (…).

Die schlimmste Niederlage aber wäre es – und auch diese Möglichkeit ist in Betracht zu ziehen -, wenn wir das Proletariat zum politischen Massenstreik aufriefen und es nicht in überwältigender Überzahl dem Appell folgte.” (44)

Luxemburg erwidert diesem Konstrukt, dass, wenn man Kautskys Argumentation folge, Straßendemonstrationen sogar vehementer als Massenstreiks abgelehnt werden müssten und zeigt, wie bereits seit Jahren auf Parteitagen Anträge zum Streik vorliegen und auch angenommen wurden.

Luxemburg zeigt auf, dass Kautsky im Prinzip will, dass Demonstrationen nicht vorwärts und nicht rückwärts gehen. Er will Massenaktionen, die sich weder zuspitzen, noch abschwächen. Dabei sind Demonstrationen selbst nicht die Lösung eines politischen Problems, sie sind der Anfang, nicht das Ende einer Massenbewegung. Sie werfen automatisch die Frage auf: „Wie weiter?“, sie schaffen eine Zuspitzung. Luxemburg widerlegt – gespickt mit Zitaten aus Österreich – das Beispiel Kautskys, nach dem in Österreich über 12 Jahre eine Massenbewegung ohne Zuspitzung stattgefunden haben soll. In Wirklichkeit gab es in dieser Bewegung 7 Jahre Stillstand, zu Beginn und Ende (inspiriert durch die Kämpfe erst in Belgien und dann in Russland) wahrhafte Massenaktionen, die den Massenstreik ernsthaft und vollends vorbereiteten – und Siege brachten.

Zudem sei man nicht – wie in Österreich über die erwähnten Zwischen-Jahre – in der Situation, eine Kampfeslust in den Massen schaffen oder erfinden zu müssen, diese ist vorhanden. Man müsse sie nur ausnutzen, in politische Losungen fassen und umprägen. Die Massenstreiklosung sei damit ein Mittel, um aufzurütteln, um neue Horizonte zu zeigen und proletarische Anhänger bürgerlicher Schichten herüberzuziehen, die Massen für alle Eventualitäten bereit zu machen und endlich in wirksamster Weise auch für die Reichtagswahlen vorzuarbeiten.

Kautsky will also die bereits auf neuen Bahnen vorgeschrittene Parteibewegung in die alten ausgetreten Geleise des reinen Parlamentarismus zurückpferchen. Luxemburg skizziert, dass die Partei ohnehin großes Gewicht auf Wahlen legt. Kautsky hat nur einen ideologischen Schirm für Zögerer und Nur-Parlamentarier geschaffen. Weitere Aussichten der Wahlrechtsbewegung fordern gerade eine Fortsetzung und machtvollere Entfaltung der Massenaktion. Die Aktion der Gegner ist mit ihrem Latein am Ende, die Aktion des Proletariats muss umso nachdrücklicher erfolgen. Nicht tröstliche Erwartungen und Revanche in 1,5 Jahren sondern jetzt, Schlag um Schlag, müsse man handeln.

Kautsky antwortet Luxemburg darauf, in dem er ihre Argumentation dort rezitiert, wo sie anführt, dass sich die Kämpfe zuspitzen müssen, um Erfolge zu bringen, und neben anderen Staaten auch Österreich nennt. Gerade Österreich sei aber, meint Kautsky, kein Beispiel hierfür, da es einerseits nicht zum Massenstreik gekommen sei und andererseits die Bewegung sich auch nicht zugespitzt habe. Nun verwundert es Kautsky, wie es sein könne, dass Luxemburg Österreich erst als eines der Beispiele nennt, wo der Massenstreik bzw. das Zuspitzen zum Erfolg geführt habe, um dann Österreich als ein Beispiel zu nennen, wo die Massenaktion zusammengebrochen ist, weil sich die Kämpfe nicht zuspitzten. Beides sei aber ohnehin gleich falsch. Wahr ist laut Kautsky, dass die Wahlrechtsbewegung Österreichs aufgrund eines Sieges eine Zeit lang ruhte. Nach Konzessionen im Wahlsystem war es „ganz natürlich“, dass die Massen sich erstmal auf die Wahlen konzentrieren und nicht direkt in Folge für den Kampf um das allgemeine, gleiche Wahlrecht zu gewinnen waren.

Zur Frage von Ermattungs- versus Niederwerfungsstrategie will sich Kautsky nur noch kurz auslassen. Als Ermattungsstrategie bezeichne er jene Taktik, die seit den 1860er Jahren verfolgt werde, die zu einer beständigen Stärkung der Kräfte der Sozialdemokratie und einer beständigen Schwächung jener der Reaktion führte, „ohne sich dabei zu einer Entscheidungsschlacht provozieren zu lassen, solange wir die Schwächeren sind.“ (45) Dazu gehörre nicht nur Parlamentarismus, sondern auch „glücklich ausgefochtene Lohnbewegungen und Straßendemonstrationen.“ Davon, „Nurpalamentarismus“ zu predigen, sei er weit entfernt. Es gäbe jedoch kaum ein Mittel „außer einem siegreichen Massenstreik, das so große moralische Wirkung böte wie ein großer Wahlsieg.“ Nichts sei so erfolgreich wie Erfolg. Je größer die Partei, desto größer ihr Zustrom. „Es gibt aber wenige Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere steigende Kraft dokumentieren, wie Wahlsiege, wie die Eroberung neuer Mandate.“ Die gegenwärtige Situation sei eine solche, die es nun ermögliche, „einen Wahlsieg von einer Wucht zu erkämpfen, die ihn zu einer Katastrophe für das herrschende Regierungssystem gestaltet.“ (46)

Kautsky resümiert: Das Maß der Erregung habe „noch nicht jene Höhe erreicht, die allein unter deutschen Verhältnissen einen siegreichen Massenstreik erwarten lasse”. Sei ein solcher aber unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten, dann gebe es nur ein Mittel, die Aktion über das erreichte Stadium hinauszutreiben: „die nächsten Reichstagswahlen.“ Vor dem Hintergrund eines großen Wahlsieges könne eher eine Massenaktion entspringen, die in einem Massenstreik ende, „für dessen siegreichen Ausgang dann die Vorbedingungen weit günstiger lägen als heute.“ Den Massenstreik habe er nicht für jetzt abbestellt, um ihn für die Zeit nach den Wahlen anzukündigen, er sei ein Elementar-ereignis, „dessen Eintreten nicht nach Belieben herbeizuführen ist, das man erwarten, nicht aber festsetzen kann.“ Luxemburg spreche auch selbst nicht mehr von der Notwendigkeit des Massenstreiks, sondern nur von dessen Erörterung. Für ihn bleibt nur „ein Bündel Fragezeichen“, da er sich nicht erklären kann, ob Luxemburg nun der Meinung ist, der Zeitpunkt zur Anwendung des Jenaer Beschlusses sei gekommen, oder nicht, oder ob sie behaupten möchte, er wäre Anfang März gekommen gewesen, „und nur der Redakteur der ‚Neuen Zeit‘ habe die Revolution im Keim erstickt, indem er sich weigerte, seine ‚Schuldigkeit zu tun‘ und den Artikel der Genossin Luxemburg abzudrucken?“ (47)

Unterschiedliche Bedingungen

Kautsky argumentiert die Ablehnung der praktischen Anwendung nun v.a. mit angeblich ganz unterschiedlichen Bedingungen in Russland und Westeuropa bzw. Deutschland. Lernen hieße nicht einfach nachahmen. Nichts sei verkehrter, als die Auffassung, dass die bloße Betrachtung der geschichtlichen Erfolge und Misserfolge die Wege zeige, die zum Erfolg führen. Da sich aber die Bedingungen der ökonomischen und politischen Kämpfe „nie völlig“ wiederholen, haben „zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Ländern daher sehr verschiedene Methoden Erfolge gehabt“. Es sei kaum eine Methode des politischen Kampfes denkbar, „für die sich nicht Belege ihrer Vorzüglichkeit in der Geschichte finden ließen, für jakobinischen Terrorismus und christliche Ergebung“ so wie natürlich für „die aufs ganze gehende Revolution und die schrittweise vordringende Reformation, für Republik und Monarchie, Föderalismus und Zentralismus usw.“

Gerade bei großen Ereignissen wie Revolutionen sei Vorsicht geboten. „So erscheint gerade eine Revolution immer höchst fruchtbar an ‚Lehren‘, die zeigen sollen, wie weitere Revolutionen zum Siege zu führen sind und vor welchen Fehlern man sich dabei zu hüten hat.“ (48) Aber eine große Revolution ändere auch die Bedingungen, die sie vorfand, von Grund auf. Auch wenn sie nicht erreicht, was man sich erhofft, gestalte sie die politischen und sozialen Verhältnisse um und schaffe neue, die neue Methoden des Kampfes und der Propaganda notwendig machen, „so dass wir ganz irregeführt werden, wenn wir nach der Revolution die Lehren ihrer Erfolge und Misserfolge ohne weiteres auf unsere Praxis anwenden wollen.“ (49) Natürlich könne man dennoch daraus lernen, aber man müsse kausale Zusammenhänge erkennen. Nicht durch das Nachahmen von Methoden, „sondern dadurch, dass es (das Land) seine Erfahrungen mit denen anderer Länder vergleicht, deren Erfolge und Misserfolge auf ihre Ursachen zurückführt und untersucht, inwieweit die gleichen Ursachen bei uns bestehen, bestanden oder im Kommen begriffen sind“. (50)

So untersuchte er die Umstände der russischen Revolution von 1905:

• Die russische Regierung sei die schwächste der Welt gewesen. Keine Klasse stand hinter ihr, Korruption, Verschwendung, Desorganisation … all das sei klar hervorgetreten.

• Die Armee erlitt eine furchtbare Niederlage nach der anderen, gegen einen Gegner, den man verlacht und verspottet hatte, was diese von einem Stützpfeiler der Regierung zu einem Mittel der Rebellion gestaltete.

• Eine andere wichtige Stütze, die Bauernschaft, war seit 1905 in Aufständen begriffen.

• Dem zahlreichem gedrückten und erbitterten Proletariat fehlten jegliche Möglichkeiten legaler Betätigung. Ihnen blieb, so Kautsky, nur ein Mittel, um ihre Forderungen kundzugeben und gegen ihr Elend zu protestieren: Der Streik.

Dieser Streik brachte den russischen Arbeiter erst in Fühlung zu anderen, sie gewannen durch ihn das Kraftgefühl der Masse, schöpften daraus Begeisterung, „so wurde der Streik für den russischen Arbeiter eine Lebensnotwendigkeit; es war schon die bloße Tatsache des Streiks, die ihn belebte, ohne Rücksicht darauf, ob er ein Demonstrationsstreik war oder ein Kampfstreik“. (51) Allein die Tatsache des Streiks war dort ein Sieg und wurde zu einer revolutionären Aktion, ungeachtet seines „sonstigen Charakters“. Dies bereits vor 1905, Krieg, Zusammenbruch der Regierung und ökonomische Krise verstärkten dies noch. Der Streik gewann immer mehr einen Charakter des politischen Protests gegen die Regierung und gewann auch immer mehr Sympathien in den Kreisen der bürgerlichen Opposition. Kautsky sieht auch in den Eigenheiten Russlands verstärkende Faktoren hierfür. Diese benennt er wie folgt:

• ungeheure Ausdehnung des Reichs;

• Mangel an Kommunikationsweisen, Eisenbahnen, Postverbindungen, Zeitungen;

• keine ökonomische Einheit; in zahlreiche ökonomisch eigenständige Gebiete zerfallend, deren Proletariermassen ohne Fühlung miteinander seien.

Auch war die Streikbewegung uneinheitlich. Sie brach nicht überall zur gleichen Zeit los, was aber nicht schädigend wirkte, sondern dafür sorgte, dass sie nicht zur Ruhe kam. Die Regierung wiederum konnte sich dadurch nirgends sicher fühlen und ihre Kräfte nicht konzentrieren. Trotz alledem könne er nicht einfach den deutschen Arbeitern zurufen „Gehet hin und tuet desgleichen. Schon Cervantes wusste, dass, was Heldentum unter bestimmten Verhältnissen ist, unter geänderten Verhältnissen zur Donquichotterie wird.“ (52)

Dem stellt Kautsky dann die – wie er meint – Bedingungen in Preußen gegenüber:

• hier habe man es mit „der stärksten Regierung der Gegenwart“ zu tun;

• nirgends seien „Armee und Bürokratie so straff diszipliniert, vielleicht nirgends ist die Zahl der Staatsarbeiter größer“;

• nirgends stehen sie „in solcher ‚gottgewollten Abhängigkeit“, nirgends sei der „Kadavergehorsam“ schlimmer;

• Ausbeuter mit einer „Kraft und Brutalität, die ihresgleichen suchen“ – und alle geschlossen hinter der Regierung;

• Unterstützung für diese von großen Massen Bauern und Kleinbürgern. (53)

In Russland sei die Regierung isoliert gewesen – in Preußen sei das Proletariat bei jeder Aktion isoliert, die „energisch den bestehenden Zuständen an den Leib rücken will“. Während Russland in einem „leichtfertigen Kriege gegen eine kleinen Macht schmählich zusammengebrochen“ sei, werde Preußen „seit bald einem Jahrhundert von dem Glanze beständiger Siege getragen, Siege über die stärksten Großmächte der Welt.“ (54)

Auch seien die Lebensbedingungen des preußischen Proletariats keine so „verzweifelten“. Der Streik böte nicht die einzige Möglichkeit der Betätigung als Klasse, sich „zu seinen Kameraden zu gesellen, mit ihnen vereint zu protestieren, Forderungen zu erheben, Kraft zu entfalten. Vereine, Versammlungen, Presse, Wahlen aller Art beschäftigen ihn vollauf.“ Der Streik erhalte also eine ganz andere Bedeutung. Es sei keinesfalls wie in Russland der Fall, dass der Streik Mittel und Zweck sei, unabhängig seines Ausgangs. „Wir haben andere Mittel, das zu erreichen. Zum Streik greift der Arbeiter in Deutschland – und in Westeuropa überhaupt – nur als Kampfesmittel, wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen. Bleiben diese Erfolge aus, dann hat der Streik seinen Zweck verfehlt.

Von der Gestaltung der Forderungen durch die Streikleitung hänge daher eine Menge ab, da sich der Streik sonst durch einen Misserfolg in sein Gegenteil verkehren und niederdrückend auf die Arbeiter wirken könne. „Was vom Standpunkt des amorphen, primitiven Streiks des revolutionären Russland eine überflüssige, pedantisch-engherzige Unterscheidung sein mochte, ist in Westeuropa eine wesentliche Bedingung jeder rationellen Streikführung.“ Auch wenn die Streikarten in einander übergehen können oder wenn ein politischer Massenstreik ökonomische Ausläufer nach sich ziehen kann: „Unter unseren Verhältnissen (müssen) jedes mal bei Beginn eines Streiks dessen Wesen und Art, sowie die Ziele und Zwecke, die man ihm setzen will, genau erwogen sein“. Da ja die Bedingungen in Russland sehr unterschiedlich zu denen in Westeuropa und speziell Deutschland seien, brauche deshalb „eine Streiktaktik, die sich dort bewährt hat, noch lange nicht hier am Platze zu sein.“ (55)

Beim „bloßen Demonstrationsstreik“ sieht Kautsky folgende Unterschiede: „Nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistische Bewegung, sozialdemokratischer Organisation und politischer Freiheit“ (56) werden Demonstrationsstreiks wie in Russland nicht so leicht kommen. Infolge des halben Jahrhunderts proletarischen Klassenkampfes seien nicht nur die proletarischen Organisationen, sondern auch die kapitalistischen zur Unterdrückung des Proletariats weit stärker entwickelt und „treten auch bei einem bloßen Demonstrationsstreik viel eher und kraftvoller in Aktion.“ Andererseits „haben dank der politischen Freiheit die Arbeiter so reichliche Gelegenheit, ohne Risiko ihre Anschauungen kundzutun, daß selbst bei außerordentlichen Anlässen nur die kraftvollsten und vorgeschrittensten unter ihnen das Risiko eines Streiks auf sich nehmen werden, wenn dieser eine bloße Demonstration bleiben soll. (…) Ist doch der Streik für sie nicht die einzige mögliche Form politischer Betätigung und politischen Protestes, ja ein bloßer Demonstrationsstreik nicht einmal die eindrucksvollste. Eine siegreiche Reichstagswahl macht weit größeren Eindruck.“ (57) Einen Massen-Demonstrationsstreik für das ganze Reich kann sich Kautsky schwer vorstellen, eher für denkbar halt er kleine, lokale Demonstrationsstreiks, die spontanen Ursprungs seien aber sich deswegen auch nicht vorher diskutieren ließen. „Eine weitertragende politische Wirkung“ spricht er diesen nicht zu, doch müssten sie „belebend wirken“. Auch ein wie von Luxemburg gewünschter Massenstreik, der ganz Deutschland umfasse, „stieße auf große Schwierigkeiten, könnte nur bei einem Zusammentreffen höchst günstiger Momente gelingen und würde doch kaum mehr bewirken als etwa eine Reichstagswahl.“ (58)

Kautsky ist auch anderer Ansicht als der holländische Marxist Pannekoek, wenn dieser meint, der Unterschied zwischen Deutschland und Russland bestehe v.a. in der „gewaltigen Organisationsmacht des Proletariats“ und könne nur dazu führen, die Wucht des Kampfes zu vermehren. Die gewaltige Organisation des Proletariats sei – so Kautsky – eine Folge der „gewaltigen Konzentration des Kapitals und der nicht minder gewaltigen Entwicklung des Verkehrs, die alle Gebiete des Reiches immer mehr in die engste ökonomische und geistige Verbindung miteinander bringt, aber auch nicht bloß die Organisationen der Proletarier, sondern ebenso die der Unternehmer und der staatlichen Gewalt immer mehr zentralisiert und einheitlicher gestaltet.“ (59)

Damit, und das ist ein wesentlicher Punkt der Kautskyschen Argumentation, „werden die Kämpfe zwischen diesen Organisationen ebenfalls immer mehr zentralisiert und konzentriert.“ Sicherlich gewännen sie an Wucht aber „sie werden damit auch – immer seltener.“ Lange überlege man es sich da, ob man sich auf einen Kampf einlässt. Sei er dann einmal entbrannt, gewinne er „sofort die weiteste Ausdehnung“ und müsse mit allen Machtmitteln „durchgefochten werden“, „entweder bis zum Siege oder völliger Erschöpfung der Kräfte auf ganzer Linie.“ (60) Die Vorstellung von einer Periode der Massenstreiks, zunächst ohne praktischen Erfolg, aber sich immer wieder erneuernd, bis der Gegner zur Strecke gebracht, fände Halt „in der russischen ökonomischen Rückständigkeit“, widerspreche aber völlig den Kampfbedingungen eines hoch entwickelten Industrielandes, da sich ein solcher Kampf in selbigen auch nicht so ohne weiteres wiederholen ließe. Auch dass man eine Periode von Streiks aller Art als Periode des Massenstreiks ansehen konnte, entsprach der „politischen Rückständigkeit Russlands“, da nur durch diese „jeder Streik, auch ein rein ökonomischer, zu einem Akte revolutionärer Politik wurde.“ (61)

Klar sei, dass diese russischen Streiks nicht die Streiks der Zukunft Deutschlands seien. Streiks in Deutschland seien legal, könnten frei besprochen werden und haben für sich noch keine Spitze gegen die Regierung. Vor ihrem Ausbruch werden sie genau erwogen, fallen nicht von selbst zusammen und es würde auch niemand einfallen, Zeiten, in denen sich Streiks häufen, als Massenstreikperiode zu bezeichnen. Solle eine Aktion als politischer Massenstreik wirken, dürfe sie nicht „lokal, ohne Absicht und Ziel sein, dann muss sie von vornherein nach Plan und Absicht als ein politischer Streik auflodern, und dieser muss es bis zu seinem Ende bleiben.“ (62) Staatsweit müsse er sein, nicht partiell oder lokal und er würde zu einer „empfindlichen Niederlage“ führen, wenn er sich „ohne politisches Resultat in einen ökonomischen Kampf verwandelt, in Straßenkampf, oder von selbst zusammenfällt'“. Nur unter der völligen Unfreiheit Russlands konnte eine jahrelange Periode aufeinander folgender Streiks meist lokaler und ökonomischer Natur einen derart revolutionären Charakter annehmen, dass man sie als „den Massenstreik bezeichnen durfte“. Selbst unter den russischen Verhältnisse habe es nur eine Zeit lang gegolten, dass der Streik organisiert, aufklärt, stärkt ohne Rücksicht darauf, ob er in sich zusammenfällt oder niedergeworfen wird. „Je mehr die russische Streikperiode den Charakter eines wirklichen politischen Massenstreiks annahm, desto mehr näherte sie sich dem Moment, in dem es hieß: Siegen oder untergehen.“ (63)

Natürlich sieht Kautsky die Aufgabe der Sozialdemokratie, sich an die Spitze jeder Massenaktion des Proletariats zu stellen, was auch das Resultat sein möge. Und sie war in Russland auch nicht umsonst, sie habe ein anderes Russland geschaffen. Doch, so mutmaßt Kautsky, vielleicht hat sie damit sogar für Russland selbst die Verhältnisse beseitigt, „die es ermöglichten, daß man eine jahrelange Streikperiode als ‚den Massenstreik‘ bezeichnen konnte. Sobald in Russland wieder eine Arbeiterbewegung kraftvoll einsetzt, und das wird hoffentlich der Fall sein, kann sie Bedingungen vorfinden, die den ‚Streik ohne Plan und Absicht‘, den Streik, der ein Gewinn ist, ob er ‚im Straßenkampf endet‘ oder ‚in sich zusammenfällt‘, als einen Rückfall in veraltete Methoden erscheinen lassen. Dann wird wohl auch in Russland die ‚pedantische‘ Scheidung der Streiks nach Plan und Absicht notwendig sein und wird ein politischer Massenstreik ebenso wie in Westeuropa ein einmaliger Akt werden, dessen Bedingungen von denen des ökonomischen Streiks streng geschieden sind.“ (64) Wie dem auch sei, für deutsche Verhältnisse passe das russische Schema nicht.

Kautsky fasst zusammen: „Hier, in dieser Auffassung, liegt der tiefste Grund der Differenzen über den Massenstreik, die zwischen meinen Freunden und mir bestehen. Sie erwarten eine Periode der Massenstreiks, ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einen politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen, in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod (…) Natürlich stelle ich mir dies einmalige Ereignis nicht als einen ‚aus der Pistole geschossenen‘ isolierten Akt vor. Auch ich erwarte eine Ära erbitterter Massenkämpfe und Massenaktionen, aber den Massenstreik als die letzte Waffe, die dabei ins Gefecht geführt (…) Ich halte es für unmöglich, unter deutschen Verhältnissen den Kampf von Anfang an mit dieser Waffe zu führen und diese immer und immer wieder in Anwendung zu bringen, deren Wucht unsere eigenen Arme zu rasch erlahmen ließe. Man führt nicht Vorpostengefechte mit schwerer Artillerie.“ (65)

Luxemburg antwortet darauf, Kautsky hatte, um seine Stellungnahme gegen Massenstreiks in der Wahlrechtskampagne zu rechtfertigen, eine ganze Theorie von Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie geschaffen. Jetzt geht er noch weiter und baut ad hoc eine neue Theorie, eine über die Bedingungen des politischen Massenstreiks in Russland und Deutschland. Sie fasst Kautskys Wiedergabe der angeblichen Unterschiede Russland / Deutschland wie folgt zusammen: Er meine, die lange revolutionäre Periode von Massenstreiks, in denen „die ökonomische und politische Aktion, die Demonstrations- und die Kampfstreiks beständig einander ablösten und in einander spielten“, stelle „ein spezifisches Produkt der russischen Rückständigkeit“ (66) dar. Selbst ein Demonstrationsmassenstreik nach russischer Art sei nach Kautsky in Westeuropa schwierig bis unmöglich, nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Betätigung, wie dieser schreibt. Der politische Massenstreik könne nur noch als ein einmaliger letzter Kampf auf Leben und Tod eingesetzt werden. Kautskys Schilderung ist jedoch in den wichtigsten Punkten verkehrt.

Die russischen Bauernaufstände begannen nicht plötzlich 1905, sondern ziehen sich mit Unterbrechung von 1885-95, seit 1861 durch die russische Geschichte. Neu war 1905, dass die chronische Rebellion der Bauernmasse erstmals politische und revolutionäre Bedeutung erlangte.

Kautsky’s Streikbild über Russland ist blühende Fantasie. Die russischen Streiks erreichten beträchtliche Erhöhungen der Löhne, Verkürzung des 10- auf den 9-Stunden-Tag, in Petersburg in zähestem Kampf über mehrere Woche wurde der 8-Stunden-Tag erreicht, das Koalitionsrecht der Arbeiter sowie Staatsangestellter bei Eisenbahnen und Post erkämpft und bis zum Sieg der Konterrevolution verteidigt, in vielen Unternehmen Arbeiterausschüsse zur Regelung aller Arbeitsbedingungen geschaffen, Abschaffung de Akkordarbeit, Heimarbeit, Nachtarbeit, der Fabrikstrafen, es wurde die strikte Durchführung der Sonntagsruhe zur Aufgabe gestellt, es keimten Gewerkschaftsorganisationen in fast allen Gewerben auf, der Petersburger Rat der Arbeiterdelegierten wurde aus den Streiks geboren, kurz gesagt, die Streikbewegung ist weit von amorph und primitiv (wie Kautsky schrieb) entfernt.

Vergleicht man, was die russische Bewegung in kurzer Zeit erreicht hat mit dem Errungenschaften z.B. der deutschen Sozialdemokratie, will man ihren fortschrittlichen Charakter also am unmittelbaren Erfolg messen, wie Kautsky es will, so hat die russische Bewegung in den wenigen Jahren verhältnismäßig mehr durchgesetzt als die deutsche Gewerkschaftsbewegung in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz. Dies ist einfach den Vorteilen des Sturmschritts einer revolutionären Periode im Vergleich mit dem langsamen Gang der ruhigen Entwicklung im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus zu verdanken. Kautsky selbst schrieb früher in seiner „Sozialen Revolution“ bezogen auf den Vergleich der Verhältnisse Russlands mit denen Westeuropas: „Die Verschiedenheit der Verhältnisse ist mir natürlich nicht unbekannt, wenn man sie auch nicht übertreiben darf. Die jüngste Broschüre unserer Genossin Luxemburg beweist klar, dass die russische Arbeiterklasse nicht so tief steht und so wenig erreicht hat, als man gewöhnlich annimmt. Wie die englischen Arbeiter es sich abgewöhnen müssen, auf das deutsche Proletariat als ein rückständiges Geschlecht herabzusehen, so müssen wir in Deutschland uns das gleiche gegenüber dem russischen abgewöhnen.“ Und: „Die englischen Arbeiter stehen als politischer Faktor heute noch tiefer als die Arbeiter des ökonomisch rückständigsten, politisch unfreiesten europäischen Staates: Russland. Es ist ihr lebendiges, revolutionäres Bewusstsein, was diesen ihre große praktische Kraft gibt; es war der Verzicht auf die Revolution, die Beschränkung auf die Interessen des Augenblicks, die sogenannte Realpolitik, was jene zu einer Null in der wirklichen Politik machte.“ (67) So also auch Kautsky – in der Theorie. Als es jedoch um die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis in Deutschland ging, sprach Kautsky eine andere Sprache.

Dann wendet sich Luxemburg Kautskys Schilderung der deutschen Verhältnisse zu. Sie widerlegt ihn durch folgende Ausführungen:

Eine materialistische Geschichtsauffassung kann die Stärke einer Regierung nicht aus ihrer Rückständigkeit, Kulturfeindlichkeit, dem Kadavergehorsam und dem Polizeigeist ableiten. Kautsky selbst charakterisierte Deutschland im Dezember 1906 in „Die Situation des Reiches“: „(…) niemals seit seinem Bestand war des Deutschen Reiches Stellung in der Welt schwächer und nie hat eine deutsche Regierung gedankenloser und launenhafter mit dem Feuer gespielt wie in der jüngsten Zeit“. (68)

Kautskys Schilderung westeuropäischer Streiks ist eine gewaltige Phantasie. Statistiken über die Streiks in Westeuropa zeichnen ein Kautskys Schilderungen konträres Bild. Von 1890 bis 1908 fanden 19.766 Streiks und Aussperrungen statt, von denen 25,2 Prozent völlig erfolglos, 22,5 Prozent teilweise erfolgreich und 49,5 Prozent erfolgreich waren. Nach Kautskys Definition haben also ein Viertel dieser Streiks „seinen Zweck“ ganz und ein weiteres Viertel diesen großteils verfehlt. Kautsky jedoch versicherte, der Arbeiter greife nur zum Streik „wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen. Bleiben diese Erfolge aus, dann hat der Streik seinen Zweck verfehlt.“ (69)

Auch widerlegen diese Statistiken Kautskys These, dass die Entwicklung von Arbeiter- und Unternehmerorganisationen deren Kämpfe immer seltener und machtvoller werden lässt. So waren es 1890-99 insgesamt 3.772 Streiks und Aussperrrungen, 1900-08 jedoch 15.994. Nicht nur an Zahl der Streiks und Aussperrungen selbst, auch die beteiligten ArbeiterInnen stiegen im selben Verhältnis: 1890-99 425.142, 1900-08 1.709.415. Kautsky leugnet mit seinen Ausführungen völlig die Wirkung des Streiks als Mittel gewerkschaftlicher Organisation. Solche „erfolglosen Streiks“ haben nicht bloß „ihren Zweck“ nicht verfehlt, sie dienen der „Verteidigung der Lebenshaltung der Arbeiter, zur Aufrechterhaltung der Kampfenergie in der Arbeiterschaft, zur Erschwerung künftiger neuer Angriffe des Unternehmertums“. (70)

Mit der Strategie Kautskys, bemerkt Luxemburg trefflich, „lässt sich nicht bloß keine große politische Massenaktion führen, sondern nicht einmal eine gewöhnliche Gewerkschaftsbewegung“. (71)

Zudem schließt Kautskys Schema die Tatsache aus, dass all diese immer häufiger werdenden und oft ohne „bestimmte Erfolge“ verlaufenden Streiks, „Explosionen eines tieferen inneren Gegensatzes“ sind, der direkt auf das politische Gebiet hinüberspielt. Als Beispiele hierfür zählt Luxemburg „die periodischen Riesenstreiks der Bergarbeiter“ (Deutschland, England, Frankreich, Amerika), „die spontanen Massenstreiks der Landarbeiter“ (Italien, Galizien) sowie „Massenstreiks der Eisenbahnarbeiter“. (72) Auch hierzu kann Luxemburg Kautsky selbst ins Feld führen, schrieb dieser doch noch 1905 in „Die Lehren des Bergarbeiterstreiks im Ruhrrevier“: „Diese neue gewerkschaftliche Taktik, die des politischen Streiks, der Verbindung von gewerkschaftlicher und politischer Aktion, ist die einzige, die den Bergarbeitern noch möglich bleibt, sie ist überhaupt diejenige, die bestimmt ist, die gewerkschaftliche wie die parlamentarische Aktion neu zu beleben und der einen wie der anderen erhöhte Aggressivkraft zu geben.“ (73) Kautsky weiter: „Die großen, entscheidenden Aktionen des kämpfenden Proletariats werden immer mehr durch die verschiedenen Arten des politischen Streiks auszufechten sein. Und die Praxis schreitet da schneller vorwärts wie die Theorie. Denn während wir über den politischen Streik diskutieren und nach seiner theoretischen Formulierung und Begründung suchen, entbrennt spontan, durch Selbstentzündung der Massen, ein gewaltiger politischer Massenstreik nach dem anderen – oder wird jeder Massenstreik zu einer politischen Aktion, gipfelt jede große politische Kraftprobe in einem Massenstreik, sei es bei den Bergarbeitern, sei es unter den Proletariern Russlands, den Landarbeitern und Eisenbahnern Italiens usw.“ (74)

Luxemburg merkt zusammenfassend an, dass „‚die Theorie‘ nicht bloß langsamer ‚vorwärts schreitet‘ als die Praxis, sie macht leider zuweilen auch noch Purzelbäume nach rückwärts“. (75)

Insgesamt bringt Kautskys neue Theorie seine alte Ermattungsstrategie um. Mittelpunkt der Ermattungsstrategie war der Hinweis auf die kommenden Wahlen, während Luxemburg jetzt bereits die Strategie des Massenstreiks anwenden wollten. Kautsky jedoch pochte auf die neue Lage nach den Wahlen. Nun aber belegt Kautsky, dass für eine Periode der Massenstreiks in Deutschland bzw. Westeuropa allgemein die Bedingungen fehlen würden. Sogar einfache Demonstrationsstreiks mit der Wucht der russischen seien fast unmöglich, so Kautsky. Dies dann jedoch natürlich auch nach den Wahlen. All die Gründe, die Kautsky nannte, werden nach den Wahlen nicht einfach verschwinden. Kautsky bestätigt damit Luxemburgs Vorwurf des Nichts-als-Parlamentarismus, denn von den Verheißungen auf das Jahr nach den Wahlen und dem Pochen auf das Vorbereiten der Wahlen bleibt nichts als letzteres. Zudem weist sie auf den Widerspruch zwischen Kautskys ersterer Aussage, aufgrund der gespannten Situation könnten Massenaktionen wie ein Massenstreik jederzeit durch die Regierung notwendig gemacht werden und den neueren, die soziale- und politische Entwicklung verunmögliche derartige Massenaktionen, hin. Könnte eine brutale Aktion der Polizei zwar die Erregung der Massen steigern, wäre sie dennoch nicht imstande, die wirtschaftliche und soziale Struktur Deutschlands umzustülpen.

Zudem stellen Kautskys jüngste Erkenntnisse den Jenaer Beschluss in Frage. Der Jenaer Parteitag, der ja gerade von den russischen Erfahrungen die Massenstreiktaktik entlehnte, wird dadurch von Kautsky einer gründlichen Revision unterzogen, wenn dieser gravierende Unterschiede zwischen den russischen und den westeuropäischen Verhältnissen konstruiert, unter denen die Anwendung dieser nicht möglich sei.

Die Massenstreikaktion des russischen Proletariats aus ihrer sozialen Rückständigkeit zu erklären, heißt die führende Rolle des städtischen großindustriellen Proletariats in der russischen Revolution durch die Rückständigkeit Russlands erklären, also die Dinge auf den Kopf zu stellen. Nicht die Rückständigkeit, sondern gerade die hohe Entwicklung des Kapitalismus, der Industrie, des Verkehrs in den städtischen Zentren Russlands ermögliche und bedingte diese Art Massenstreikaktion. Die Zentralisierung des Proletariats, das starke Klassenbewusstsein, der fortgeschrittene kapitalistische Gegensatz – nur deswegen konnte der Kampf um politische Freiheit in entschlossener Weise von diesem Proletariat geführt werden und zwar nicht als reiner Verfassungs-kampf, sondern als echter moderner Klassenkampf in seiner ganzen Breite und Tiefe, in dem sowohl um ökonomische wie um politische Interessen gestritten wurde, gegen Kapital wie Zarismus, um Achtstundentag und demokratische Verfassung. Nur weil die Industrie und damit verbundene Verkehrsmittel bereits Existenzbedingung des wirtschaftlichen Lebens des Staates geworden, konnten die Massenstreiks in Russland eine so erschütternde, ausschlaggebende Wirkung erzielen, dass die Revolution mit ihnen ihre Siege feierte und mit ihnen unterlag und verstummte.

Überhaupt war die russische Revolution kein Produkt spezifisch russischer Umstände, sondern wesentlich Ausdruck einer neuen Epoche der internationalen Entwicklung der Produktivkräfte. All die vielen Gründe, die Kautsky als Argumente gegen die Möglichkeit entsprechender Kämpfe für Deutschland auflistet, führt Luxemburg als verschärfende Faktoren für eben diese Kämpfe in Deutschland an.

Alle Argumente, die Kautsky gegen den Massenstreik ins Feld führt, sind nach Prüfung Momente, die diesen immer notwendiger machen.

Die Macht der Unternehmerverbände und der Kadavergehorsam machen eine ruhige Gewerkschaftsarbeit immer unmöglicher, drängen und zwingen zu Explosionen und Machtproben. Gerade die politische Isolierung des Proletariats und die Tatsache, dass die gesamte Bourgeoisie bis ins Kleinbürgertum hinter der Regierung steht, machen jeden großen Kampf gegen die Regierung zugleich zum Kampf gegen die Bourgeoisie. Diese Umstände bürgen dafür, dass jede energische revolutionäre Massenaktion in Deutschland nicht die parlamentarische Form des Liberalismus oder die ehemaligen Kampfformen des revolutionären Kleinbürgertums, die Barrikadenschlacht annehmen wird, sondern die klassisch-proletarische, die des Massenstreiks. Und gerade wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Aufklärung und politischer Freiheit muss sich zu den politischen Kämpfen ein wirtschaftliches Element gesellen.

Noch 1907 schrieb Kautsky „Wir haben nicht den mindesten Grund anzunehmen, dass der Grad der Ausbeutung des deutschen Proletariers ein geringerer ist als in Russland.“ (76) Auch vergisst Kautsky bei seinen Schilderungen der Vereine, der Wahlen und der Versammlungen wohl auf die Staatsarbeiter, die Eisenbahner, Postangestellten und die Landarbeiter, denen das Koalitionsrecht rechtlich oder faktisch fehlt. Er vergisst, so Luxemburg, dass diese „russisch“ leben. Diese werden bei politischen Erschütterungen unmöglich den Kadavergehorsam bewahren und ihre Sonderrechnung in Form von Massenstreiks präsentieren.

Um die These vom Sonderfall Russland weiter zu entkräften, befasst sie sich mit den Massenstreiks der jüngsten Jahre in Westeuropa. Während die großen belgischen Massenstreiks der 1890er Jahre noch isoliert standen, folgten ihnen eine Fülle anderer: „1900 Massenstreik der Bergarbeiter in Pennsylvanien, der nach dem Zeugnis der amerikanischen Genossen mehr für die Ausbreitung der sozialistischen Ideen getan hat als zehn Jahre Agitation“ (77), ebenso 1900 Bergarbeitermassenstreik in Österreich, 1902 Bergarbeiter-massenstreik in Frankreich, Generalstreik der gesamten Produktion Barcelonas, Demonstrationsmassenstreik in Schweden, Massenstreik in Belgien, Massenstreik der Landarbeiter in Ostgalizien, 1903 zwei Massenstreiks der Eisenbahner in Holland, Massenstreik der Eisenbahner in Ungarn, Demonstrationsmassenstreik in Italien, 1905 Massenstreik der Bergarbeiter im Ruhrrevier, Demonstrationsmassenstreik in Prag und Umgebung, Demonstrationsmassenstreik in Lemberg, Demonstrationsmassenstreik in ganz Österreich, Massenstreik der Landarbeiter und später der Eisenbahner in Italien, Demonstrationsmassenstreik in Triest „der die Reform auch siegreich erzwungen hat“, 1906 Massenstreik der Hüttenarbeiter in Mähren, 1909 Massenstreik in Schweden, Massenstreik der Postangestellten in Frankreich, Massenstreik in Trient und Rovereto, 1910 Massenstreik in Philadelphia.

Soviel zur Unmöglichkeit von Massenstreiks in Westeuropa! Kautskys Theorie von der Unmöglichkeit einer Massenstreikperiode in Deutschland beruht demnach wohl weniger auf Unterschieden Deutschlands – Russlands wie vielmehr auf Unterschieden gesamt Westeuropas zu Deutschland. Preußen müsste demzufolge eine „Ausnahme unter allen kapitalistischen Ländern sein“. In Preußen wäre demnach unmöglich, was in den restlichen europäischen Ländern möglich ist. Die seltsame Folge wäre, dass je stärker die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften, je besser die Organisation und die Disziplin, je aufgeklärter das Proletariat und je größer der Einfluss des Marxismus, um so ohnmächtiger die Arbeiterklasse. Dies hieße, so Luxemburg, „Ein Armutszeugnis ausstellen, das es (das deutsche Proletariat, d.A.) noch durch nichts verdient hat.“ (78)

Resümierend kommt Luxemburg zu dem Schluss, dass von Kautskys Massenstreiktheorie nur der „letzte rein politische“ Massenstreik übrig bleibt, der ein einziges Mal, wie ein deus ex machina „losgelöst von ökonomischen Streiks“, „wie ein Donner aus heiterem Himmel einschlägt“. (79) Zu diesem Bild eines Streiks passt jedoch kein reales Vorbild, weder die russischen noch die westeuropäischen Streiks.

Oda Olberg schrieb, wie Luxemburg anmerkt, dazu treffend in der Neuen Zeit: „Die Errungenschaften des politischen Streiks sind nicht einzuschätzen: je nach dem Grade des proletarischen Klassenbewusstseins wechselt ihr Wert. Ein mit Kraft und Solidarität durchgeführter politischer Streik ist immer unverloren, weil das ist, was bezweckt, eine Machtentfaltung des Proletariats, bei der die Kämpfenden ihre Kraft und ihr Verantwortungsgefühl stählen und die herrschenden Klassen der Stärke der Gegner bewußt werden.“ (80) Auch ist es unmöglich, dass ein derartiger „letzter Streik“ ohne eine Periode der Vorbereitung, der Aufrüttelung der Massen und der praktischen Schulung? Wie soll „die ganze große Masse des deutschen Proletariats, die bis jetzt weder unserer gewerkschaftlichen Organisation noch der sozialdemokratischen Agitation zugänglich war, mit einem Sprunge für einen ‚letzten‘ Massenstreik ‚auf Leben und Tod‘ reif sein, wenn sie nicht durch eine vorhergehende Periode stürmischer Massenkämpfe, Demonstrationsstreiks, partieller Massenstreiks, wirtschaftlicher Riesenkämpfe usw., nach und nach aus ihrer Starrheit, ihrem Kadavergehorsam, ihrer Zersplitterung losgelöst und der Gefolgschaft der Sozialdemokratie angegliedert wird?“ (81)

Auch wenn Kautsky zugesteht, dass er sich „dies einmalige Ereignis“ nicht als isolierten Akt vorstellt: Welche „Massenkämpfe und Massenaktionen“ sollen es denn sein, die dem „letzten“ Streik vorausgehen, wenn nicht Massenstreiks selbst? Reine Straßendemonstrationen kann man nicht jahrzehntelang durchführen und allgemeine, eindrucksvolle Demonstrationsstreiks sind laut Kautsky Streiktheorie für Deutschland ausgeschlossen. Reichstagsresolutionen oder Versammlungen mit Protestresolutionen werden einen solchen Streik nicht vorbereiten. So bleibt Kautskys „letzter“ Streik aus der Pistole geschossen.

Während in Kautskys erster Theorie Massenstreiks durch die Ermattungstheorie auf eine unbestimmte Zeit nach den Reichstagswahlen verschoben wurde, entschwinden sie nun in weite Ferne, als „letzter“ und einziger Massenstreik.

Zusammenfassend lässt sich beobachten, wie Kautsky, der in früheren Jahren selbst sehr gute Schlüsse aus den praktischen Entwicklungen der Arbeitskämpfe zog, im Verlauf der Diskussion gezwungen war, eine Theorie nach der anderen gegen den Massenstreik ins Feld zu führen, um letztlich dessen Rolle auf ein Paukenschlag-ereignis, durch das der Kapitalismus ad hoc überwunden wird, zu reduzieren.

Dem gegenüber stellte Luxemburg die Idee des Massenstreiks als revolutionäre Praxis. Streik nicht bloß als Zweck, bestimmte konkrete Ziele zu erreichen, sondern als praktische Schule für die Arbeitermassen. Nicht ein isolierter, am grünen Tisch entworfener und hundert Prozent der Arbeiterklasse umfassender Massenstreik, sondern eine Welle von Streiks, eine Streikbewegung, über längeren Zeitraum, mit Teilsiegen oder Rückschritten, doch wo möglich den Kampf zuspitzend und mit dem Zweck, das Bewusstsein der ArbeiterInnen dahingehend zu entwickeln, dass eine friedliche Koexistenz mit den Kapitalisten nicht möglich ist, sondern der Kapitalismus im Kampf überwunden werden muss und auch praktische Erfahrungen, wie derartige Streiks zu bewerkstelligen sind, zu sammeln.

Schluss

Kautskys Position markiert den Übergang eines Teils der ehemaligen Linken der Sozialdemokratie zur Verteidigung der Position des Parteivorstandes, einer Politik des Abwartens, die die ganze sozialdemokratische Tätigkeit in der Trias aus begrenzten, gewerkschaftlichen, tariflichen Aktionen, Sammlung proletarischer Mitglieder im Vereinsleben der Partei und Wahlkampagnen samt Parlamentstätigkeit erblickt.

Anders als von den Gewerkschaftsbürokraten wird der Massenstreik oder Generalsstreik nicht grundsätzlich und offen bekämpft und abgelehnt, sondern „nur“ für die jeweilige, politische Situation. Für die Zukunft oder „an und für sich“, sei er, so Kausky und alle anderen Kautskyaner berechtigt, heute jedoch nicht. Immer sei es noch zu früh oder, wenn die Chance vertan, zu spät. Das Motto der Kautskyaner lautet also „Für den Massenstreik – am St. Nimmerleinstag!“

Eng damit verbunden ist auch ein vollkommen passives Konzept der „Machtergreifung“, die ebenfalls als nichts begriffen wird, das aktiv politisch und organisatorisch vorbereitet werden müsse, sondern die kommt, wenn es soweit ist. So wie für den Generalstreik sind dann auch die Bedingungen nie so weit.

Eine solche Theorie, die für den Kautskyanismus ab 1910 typisch ist, kommt auch den Revisionisten und Gewerkschaftsführern gelegen, läuft sie doch auf eine Rechtfertigung ihrer aktuellen Tagespolitik hinaus.

Schließlich zeigt die Debatte, wie sträflich die Kautskyaner die Verschärfung der Gegensätze im imperialistischen Kapitalismus „übersahen“.  Er tat dies durchaus wieder besseres, eigenes Wissen, arbeitete er doch in „Der Weg zu Macht“ 1907 in polemischer Abgrenzung noch die These von der Verschärfung der Klassengegensätze aus. Doch die Verteidigung einer revisionistischen Position und einer reformistischen Praxis hat immer ihre eigene Logik, die dazu zwingt, die eigenen Erkenntnisse von gestern über Bord zu werfen.

Es mutet geradezu tragisch-komisch an, wenn man Kautskys Beiträge liest und sich vor Augen hält, daß diese nur wenige Jahre vor dem Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkrieges 1914 geschrieben wurden. Der „realistische“ Kautsky warnt die „utopische“ Luxemburg davor, die herrschende Klasse Deutschlands doch nicht mit Massenstreiks zu provozieren, da man doch eh auf friedlichem, parlamentarischem Weg die absolute Mehrheit bei den Wahlen erobern könne. Kautsky redete den deutschen ArbeiterInnen ein, die herrschende Klasse ließe sich durch eine Ermattungsstrategie ermatten. In Wirklichkeit ermattete die deutsche Arbeiterklasse an der Mattheit ihrer Führung. Die herrschende Klasse jedoch bereitete sich zu ihrer bürgerlichen „Niederwerfungsstrategie“ vor und überrumpelte die Arbeiterbewegung mit dem 1. Weltkrieg. Es war Luxemburg und ihre Strategie der „Niederwerfung“, die weitaus realistischer war als Kautsky und seine matte Ermattungsstrategie.

Damit wollen wir keineswegs die Unzulänglichkeiten Luxemburgs leugnen. So überlegen ihre Massenstreikstrategie gegenüber den Kautskyanern auch war, so war doch ihre Konzeption noch zu wenig „russisch“. Und zwar in der Hinsicht, als diese Strategie noch nicht eingebettet war in ein klares Konzept der Machteroberung durch einen bewaffneten Aufstand und der entsprechenden politischen Vorbereitung, so wie das Lenin und die Bolschewiki in den Jahren vor der russischen Revolution 1905 in den Seiten der Iskra und der Wperjod taten.

Dies hing mit ihrer Schwächen in Bezug auf das Verständnis der Entwicklung des revolutionären Klassenbewusstseins zusammen. Zu sehr vertraute sie auf die spontane Entstehung und Entwicklung eines solchen Klassenbewusstseins, zu wenig erkannte sie die Notwendigkeit, dieses Bewusstsein durch eine revolutionäre Partei in die ArbeiterInnenklasse hineinzutragen und auf dieser Grundlage die Vorhut der Klasse in der Partei zu organisieren. Dies war letztlich der wesentliche Grund, warum Lenin und die Bolschewiki auf die russische Revolution 1917 politisch vorbereitet waren und die deutsche Linke um Luxemburg und Liebknecht nicht entsprechend in die deutsche Revolution 1918 eingreifen konnten.

Es wäre falsch, den Kautskyianismus und das „Zentrum“, das sich ab 1910 eigenständig zu formieren beginnt, mit den Revisionisten und Gewerkschaftsführern als identisch zu betrachten. Die Aufgabe, der Kautsky in der Generalstreikdebatte 1910 und später im Krieg und selbst in der USPD nachkommt, besteht vielmehr darin, eine „Mittelströmung“, ein „Zentrum“ zu formieren zwischen Reformismus und revolutionären Marxismus, das diese Positionen miteinander aussöhnt.

Da zwei gegensätzliche Klassenstandpunkte jedoch nicht versöhnt werden können, läuft der Kautskyanismus – wie Lenin u.a. später treffend herausarbeiten – auf eine besonders gefährliche Art des Opportunismus hinaus, eines Opportunismus, der den Reformismus, Sozialchauvinismus oder imperialistische Vaterlandsverteidi-gung letztlich verharmlost und einem Bruch mit ihm entgegenarbeitet.

Die Massenstreikdebatte war ein historischer Prüfstein für die Sozialdemokratie. In ihr zeichneten sich ihre grundlegenden politischen Schwachpunkte, aber auch die Entwicklung einer konsequent revolutionären Strömung ab.

Anstatt die Arbeiterklasse als Subjekt der Revolution zu fördern, wurde diese als ein die Arbeit der Partei unterstützendes Objekt gesehen. Zur Aufgabe der Partei wurde nicht gemacht, Klassenbewusstsein und eine revolutionäre Strategie in der Klasse zu verbreiten, sondern die ArbeiterInnen nur noch als WählerInnen und passive Mitgliedermasse zu erfassen. Wenn nötig, wird die Arbeiterklasse dann für diese oder jene Kundgebung oder Streik mobilisiert – oder wieder abbestellt, wenn es den Plänen der Parteispitzen entspricht.

Im Gegensatz zu der klassischen und aktuellen Auffassung der Sozialdemokratie bezüglich Streiks und Kampfmaßnahmen gilt es heute wie damals, ganz im Sinne Luxemburgs, Kampfmaßnahmen zu fordern, zu fördern und vorzubereiten. Nur durch die praktische Erfahrung in konkreten Kämpfen wird die Arbeiterklasse die notwendigen Lehren ziehen können und sich eine neue, konsequente Vertretung ihrer Interessen schaffen können.

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Zürich 1896, zit. nach Antonia Grunenberg, Einleitung, Grunenberg (Herausgeberin), Die Massenstreikdebatte. Beiträge von Parvus, Luxemburg, Kautsky, Pannekoek, Frankfurt/Main 1970, S. 12

(2) Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Frankfurt 1966, zweite Auflage, S. 147

(3) Protokolle des Internationalen Sozialistenkongresses Stuttgart 1907, zit. nach Grunenberg, a.a.O., S. 18

(4) Kautsky, Was Nun?, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S. 96

(5) Ebenda, S. 97

(6) Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in: Luxemburg, Gesammelte Werk, Band 2, S. 346

(7) Ebenda, S. 347

(8) Ebenda, S. 351

(9) Ebenda, S. 352

(10) Kautsky, Was Nun?, S. 98

(11) Ebenda, S. 100

(12) Ebenda, S. 101

(13) Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in: Luxemburg, Gesammelte Werk, Band 2, S. 353

(14) Ebenda, S. 354

(15) Ebenda, S. 355

(16) Ebenda, S. 356

(17) Ebenda, S. 356

(18) Ebenda, S. 356

(19) Ebenda, S. 357

(20) Kautsky, Die neue Strategie, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S 161

(21) Ebenda, S. 162

(22) Ebenda, S. 164

(23) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 418

(24) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1960, S. 13/14

(25) Kautsky, Was Nun?, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S. 101

(26) Ebenda, S. 103

(27) Ebenda, S. 105

(28) Ebenda, S. 105

(29) Ebenda, S. 106

(30) Ebenda, S. 106

(31) Ebenda, S. 108

(32) Ebenda, S. 110

(33) Ebenda, S 111

(34) Ebenda, S. 111

(35) Ebenda, S. 112

(36) Ebenda, S. 114

(37) Ebenda, S. 116

(38) Ebenda, S. 116

(39) Ebenda, S. 117

(40) Ebenda, S. 118

(41) Ebenda, S. 118

(42) Ebenda, S. 118

(43) Ebenda, S. 119

(44) Ebenda, S. 119

(45) Kautsky, Die neue Strategie, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte S. 186

(46) Ebenda, S. 187

(47) Ebenda, S. 189

(48) Ebenda, S. 165

(49) Ebenda, S. 166

(50) Ebenda, S. 166

(51) Ebenda, S. 168

(52) Ebenda, S. 169

(53) Ebenda, S. 169

(54) Ebenda, S. 168

(55) Ebenda, S. 169f

(56) Ebenda, S. 170

(57) Ebenda, S. 171

(58) Ebenda, S. 172/173

(59) Ebenda, S. 174

(60) Ebenda, S. 174

(61) Ebenda, S. 174

(62) Ebenda, S. 176

(63) Ebenda, S. 176

(64) Ebenda, S. 176f

(65) Ebenda, S. 177

(66) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 388

(67) Kautsky, „Soziale Revolution“, Zitiert von Luxemburg in: Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 390

(68) Ebenda, S. 392

(69) Ebenda, S. 392

(70) Ebenda, S. 393

(71) Ebenda, S. 394

(72) Ebenda, S. 394

(73) Ebenda, S. 394

(74) Neue Zeit, XXIII, I, S. 780

(75) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 395

(76) Kautsky, Zitiert von Luxemburg in: Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 403

(77) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 404

(78) Ebenda, S. 407

(79) Ebenda, S. 407

(80) Ebenda, S. 408

(81) Ebenda, S. 409