Frankreich: Neue Volksunion ein Fortschritt für die Arbeiter:innenklasse?

Marc Lassalle, Infomail 1191, 10. Juni 2022

„Französisches Volk, wenn du es willst, kannst du mit deinen Stimmen viele wichtige Forderungen erfüllen“. „Am 12. und 19. Juni, wenn Sie sich dafür entscheiden, indem Sie die Abgeordneten der NUPES wählen, wird an diesem Tag der Frühling des Volkes erblühen und den Frühling der Natur widerspiegeln.“

Die Botschaft der Neuen Populären, Ökologischen und Sozialen Union (NUPES = Nouvelle Union Populaire écologique et sociale) ist einfach und klar: Wählt bei den kommenden Parlamentswahlen diese neu gegründete Koalition linker Parteien, und die von dem selbsternannten Premierminister Jean-Luc Mélenchon geführte Regierung wird alle eure Probleme lösen, von Lohnerhöhungen über ökologische Planung bis hin zur Sechsten Republik.

Die von Mélenchon nach seinem beachtlichen Ergebnis (22 %) bei den Präsidentschaftswahlen im April ins Leben gerufene NUPES ist eine Wahlfront, die von La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich, LFI, Mélenchons Partei), den Grünen, der Kommunistischen Partei, der Sozialistischen Partei und anderen kleineren Organisationen gebildet wird. Auf der Wahlliste stehen für die LFI 357 Kandidat:innen, für die PS 70 und für die PCF 50.

Seit dem Start der NUPES hat sich der Vorsprung des Präsidenten in den Meinungsumfragen auf 26 – 27 % der Wahlpräferenzen im ersten Wahlgang verringert, gegenüber 25 % für die NUPES und 21 % für Marine Le Pens Rassemblement National (RN) (Ipsos, französisches Markt- und Sozialforschungsinstitut). Eine neuere Umfrage (französisches Meinungsforschungsinstitut Ifop-Fiducial, 31. Mai) deutet darauf hin, dass Macron die absolute Mehrheit verfehlen könnte, so dass seine Premierministerin Élisabeth Borne auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen wäre.

Mélenchon rühmt sich, dass die bloße Tatsache, all diese Kräfte zu vereinen, eine historische Errungenschaft sei, und vergleicht dies mit der Volksfrontregierung von 1936. Es stimmt, dass die beiden großen linken Parteien, die PS und die PCF, seit 1997 nicht mehr auf einer gemeinsamen Liste (Die Plurale Linke) zu den Wahlen angetreten sind. Der Erfolg des Unternehmens zeigt jedoch nicht die Stärke der Führung von Mélenchon, sondern unterstreicht vielmehr den erbärmlichen Zustand der französischen Linken.

Mit dem demütigenden Ergebnis von 1,7 % für die Kandidatin der Sozialistischen Partei, Anne Hidalgo, und nur 2,2 % für den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Fabien Roussel, befinden sich die beiden traditionellen Parteien der französischen Linken auf einem historischen Tiefstand, und es stellt sich die Frage nach ihrem Überleben. Während der Niedergang der PCF seit Jahrzehnten anhält, war die PS 2017 noch an der Macht, verfügte über eine Mehrheit im Parlament und regierte in wichtigen Regionen und Städten wie Paris und Lyon. Die Kandidatur von Emmanuel Macron im Jahr 2017 bedeutete eine große Abspaltung von der PS nach rechts, wobei viele führende Persönlichkeiten der Partei ihm folgten, um gewählt zu werden und Positionen in der Regierung zu erhalten. Die NUPES erscheint daher heute den jüngeren Kadern der PS als Rettungsboot, auch wenn sie unter der Führung der LFI die Rolle der Juniorpartnerin spielen muss.

CPF und PS

Trotz ihrer Schwächen sind PS und die PCF nach wie vor mit der französischen Arbeiter:innenklasse verbunden. Am deutlichsten ist dies bei der PCF mit ihrer starken Basis von Aktivist:innen, einem dichten Netz von Verbänden, die in den Arbeiter:innenbezirken tätig sind, und insbesondere durch ihre Verzahnung mit der CGT, der führenden Gewerkschaft. Die Verbindungen der PS zur Arbeiterklasse waren schon immer schwächer ausgeprägt. Der Vorläufer der PS, die SFIO, erlebte in den 1960er Jahren beinahe einen Tod, bis sie von François Mitterrand als Wahlkampfinstrument zur Erlangung der Macht wiederbelebt wurde. Dies führte zum gemeinsamen Programm von 1972, worin ein Übergang weg vom Kapitalismus versprochen wurde, und Mitterands Sieg 1981 mit einem Programm umfangreicher Verstaatlichungen, das er jedoch nach zwei Jahren wieder aufgab.

In Frankreich wurden die Beziehungen zu den „sozialistischen“ Parteien schon vor langer Zeit in der „Charta von Amiens“ der Gewerkschaften kodifiziert, die eine strikte Trennung zwischen ihnen und den politischen Parteien vorschreibt. Die Parteien kümmern sich um die Wahlen und die lokale und nationale Regierung, während die Gewerkschaften für den Arbeitskampf in der Wirtschaft zuständig sind, einschließlich der Organisierung in den Betrieben und der Verhandlungen mit Unternehmer:innen und Regierungen. Natürlich ist diese Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik eine reine Fiktion, deren einziger Zweck es ist, sowohl die Bürokratie der Gewerkschaften als auch die Führer:innen der linken Parteien aus der Verantwortung zu entlassen, wenn Fragen des Klassenkampfes ein gemeinsames Vorgehen erfordern.

Dies erklärt zum Teil, warum die Verbindungen zwischen der PS und den Gewerkschaften immer im Verborgenen geblieben sind. Dennoch stand die CFDT, eine der größten Gewerkschaften, der PS immer nahe, sowohl in Bezug auf ihre Führungskräfte und ihre Bürokratie als auch auf ihre Ideologie – und das tut sie auch heute noch. Außerdem orientiert sich ein großer Teil der französischen Arbeiter:innenklasse immer noch an der PS und betrachtet sie als Schutzschild gegen die schlimmsten Aspekte des Neoliberalismus. Der Sieg von François Hollande bei den Präsidentschaftswahlen 2012 war vor allem darauf zurückzuführen: Die Arbeiter:innenklasse hatte genug von den brutalen Angriffen unter den Präsidentschaften von Chirac und Sarkozy und nutzte die Wahl von Hollande, um dem einen Riegel vorzuschieben.

Die derzeitige Verwirrung in den Reihen der Linken rührt von dem wiederholten Verrat der reformistischen Führer:innen und der Tatsache her, dass sie in der Regierung eine neoliberale Politik betrieben haben, die der der Rechten ähnelt, was sie nicht von der britischen Labour Party oder der deutschen Sozialdemokratie unterscheidet. Die Tatsache, dass Macron ein wichtiger Minister Hollandes war und er als Präsident eine ähnliche Linie der Angriffe gegen die Arbeiter:innenklasse fortsetzt, hat die PS in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. Wer braucht die PS, wenn Macron und seine Gefolgsleute sich um die Regierungsseite kümmern und Mélenchon die Opposition hegemonisiert?

Die derzeitige „linke“ Hinwendung der PS zur NUPES, die über das kurzfristige Ziel der Rettung der Fraktion und des vom Staat bezahlten Parteiapparats hinausgeht, könnte zeigen, dass sich eine jüngere Generation von Parteikadern der Arbeiter:innenklasse zuwendet, um ihr reformistisches Bekenntnis zu erneuern und möglicherweise engere Verbindungen zu ihr herzustellen. In den kommenden Jahren wird die Ausrichtung der PS und der Gewerkschaftsverbände im Klassenkampf darüber entscheiden, ob dieser Versuch erfolgreich ist. Es ist auch möglich, dass die PS ihren gesamten Einfluss verliert, sich mit anderen Kräften zusammenschließt oder ganz verschwindet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl PCF als auch PS immer noch Parteien der Arbeiter:innenklasse sind, auch wenn sie ihre Versprechen wiederholt verraten haben und obwohl sich ihre Politik, sobald sie an der Macht waren, als kompatibel und oft als Instrument für die Erhaltung des bürgerlichen Staates erwiesen hat: Sie sind, wie Lenin sie nannte, bürgerliche Arbeiter:innenparteien, die sich auf die Stimmen des Proletariats stützen, aber der Kapitalist:innenklasse dienen.

Wesen

Trotz ihres radikalen Anspruchs ist das Wesen von La France Insoumise ein anderes. Mélenchon will eindeutig mit der Tradition der Arbeiter:innenbewegung brechen. Inspiriert vom „linken“ Populismus, vor allem von den Theorien der „radikalen Demokratie“ von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, will er das gesamte französische Volk vereinen. Besonders deutlich wurde dies, auch auf symbolischer Ebene, in seinem Wahlkampf 2017, als er die rote Flagge und das Singen der Internationale durch die Trikolore und die Marseillaise ersetzte.

Auch wenn diese populistisch-nationalistische Ideologie während Mélenchons Präsidentschaftswahlkampf 2022 nicht so unverhohlen betont wurde, bildet sie doch eindeutig noch immer die Grundlage von LFI und NUPES. Von der Arbeiter:innenklasse oder der Arbeiter:innenbewegung ist nach wie vor keine Rede, stattdessen ist es „der Frühling des Volkes“. Die Botschaft ist einfach: Wählt Mélenchon und sobald er an der Regierung ist, wird er 650 Reformen umsetzen. Punkt. Für autonome Aktionen der Arbeiter:innenklasse, Kämpfe, Bewegungen, geschweige denn einen Bruch mit dem Kapitalismus bleibt kein Raum, nicht einmal auf rhetorischer Ebene.

Für Mélenchon beschränkt sich die gesamte politische Szene auf die Nationalversammlung. Die letzten fünf Jahre legen Zeugnis davon ab. Die LFI war im Parlament recht aktiv, wenn auch auf symbolischer Ebene, da Macron eine große Mehrheit besaß. Auf der Straße oder in den Bewegungen war die LFI jedoch nicht sehr sichtbar oder gar nicht vertreten. Die LFI, deren Aktivist:innenbasis wahrscheinlich kleiner ist als die der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) und sicherlich vernachlässigbar im Vergleich zur PCF, ist als Struktur von oben nach unten aufgebaut, die auf Wahlen und wenig anderes ausgerichtet ist.

Trotz der vielen linken Reformen, die im Programm der NUPES enthalten sind, darunter die Anhebung des Mindestlohns, die Festsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre und massive Investitionen in den öffentlichen Sektor, wird nie erwähnt, was das Bündnis tun wird, wenn es keine parlamentarische Mehrheit erlangt. Von der Notwendigkeit des Widerstands und der Kämpfe in den Betrieben, einer sozialen Bewegung, ist nie die Rede. Richtigerweise fügt die PCF, aber nicht Mélenchon, diese Zeilen ihrer Unterstützungserklärung für die NUPES hinzu:

„Wir wissen natürlich, dass es nicht ausreicht, eine Wahl zu gewinnen, um die sozialen Siege zu erringen, die wir wollen. Um diese Veränderungen zu erreichen, bedarf es einer starken sozialen und populären Bewegung, die jetzt und überall in Frankreich aufgebaut werden muss. Unser Engagement in diesen Kämpfen ist daher entscheidend.“

Mélenchons Projekt ist sowohl falsch – da keine radikalen Veränderungen allein durch eine reformistische Regierung herbeigeführt werden können, geschweige denn durch eine Regierung, die mit Macron zusammenarbeitet – als auch gefährlich: Es zielt darauf ab, die Arbeiter:innenklasse in einem losen klassenübergreifenden Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum zu zerstreuen und sie ihrer wesentlichen Stärken zu berauben, was das Bewusstsein und die Organisation angeht. Das ist ein gewaltiger Schritt zurück, sogar gegenüber den Zeiten, in denen die SFIO und die PCF gegründet wurden. Es ist ein Rückzug aus der Klassenidentifikation und der Klassenunabhängigkeit, selbst in der trügerischen Form, wie sie von reformistischen Arbeiter:innenparteien aufrechterhalten wird.

NPA

Die NPA, ein Zusammenschluss von Tendenzen, die sich selbst als revolutionär betrachten und größtenteils der trotzkistischen Tradition entstammen, war in intensive Verhandlungen mit der NUPES verwickelt und stand kurz vor dem Eintritt in die Koalition. Die Hauptgründe für das letztendliche Scheitern lagen nicht in der politischen Charakterisierung der NUPES durch die NPA, sondern waren vor allem das Ergebnis eines Zusammenstoßes zwischen den opportunistischen Bestrebungen von LFI und NPA. Der LFI gelang es, die PS ins Boot zu holen, von der sie (richtigerweise) annahm, dass sie angesichts deren anhaltender Stärke sowohl im Parlament als auch in der Kommunalverwaltung mehr Unterstützung erhalten würde als durch die NPA. Daher boten sie den NPA-Kandidat:innen nur eine Handvoll weniger gewinnbarer Wahlkreise an. Die NPA verkündete prompt, dass sie die NUPES nicht unterstützen könne, da in ihr eine Partei vertreten sei, die keinen „Bruch“ mit dem Neoliberalismus vollzogen habe.

Trotz des Scheiterns dieser Vereinbarung ist die NPA in der Tat stark an der Unterstützung und dem Aufbau der NUPES-Kampagne im ganzen Land beteiligt, außer in den wenigen Gebieten, in denen sie ihre eigenen NPA-Kandidat:innen aufstellt. Der Opportunismus der NPA und das Fehlen einer ernsthaften Kritik an dem, was die NUPES wirklich repräsentiert, ist ein Zeichen für ihre beschämende politische Degeneration und könnte zu ihrem Zerfall führen.

Aus Sorge vor weiteren Angriffen der Macron-Regierung (insbesondere auf die Renten) werden viele Arbeiter:innen für die NUPES stimmen und sie als – wenn auch schwache und zweifelhafte – Waffe einsetzen, um Macron zu stoppen oder zumindest zu schwächen. Macron, der sicherlich von einer hohen Wahlenthaltung profitieren wird, da dies vor allem die Wähler:innen von RN (Le Pens Nationale Sammlung) und NUPES betreffen wird, spielt den Wahlkampf mit einem sehr langsamen Tempo und hält die Linie seiner Regierung bewusst im Unklaren. Die RN versucht lediglich, aus dem guten Abschneiden von Marine Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen Kapital zu schlagen, in der Hoffnung, dies auf eine große Gruppe von Abgeordneten in der Versammlung zu übertragen. Die aktivste Kraft im Wahlkampf ist daher die NUPES, die in den Arbeiter:innenvierteln systematisch Wahlwerbung betreibt. Kein Wunder also, dass die Umfragen für die NUPES etwa 30 % und eine beträchtliche Anzahl von Abgeordneten voraussagen, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sie eine Mehrheit im Parlament erringen wird.

In dieser sehr verworrenen politischen Situation ist es wichtig, ein fortschrittliches Element im Klasseninstinkt vieler Arbeiter:innen und Immigrant:innen zu erkennen, die für die NUPES stimmen werden. Ja, die Arbeiter:innenklasse muss sich neu formieren, um bei den Wahlen und im Klassenkampf mit ihren eigenen Organisationen zu bestehen. Ihr Wille, sich gegen Macron und Le Pen zu stellen, ist legitim. Aber natürlich ist die daraus gezogene Schlussfolgerung falsch, denn die Unterstützung für reformistische Führer:innen wie die von PS und PCF kann nur zu Verrat und Entmutigung führen. Sie ist doppelt falsch, wenn sie die NUPES als Block unter der irreführenden Leitung von Mélenchon unterstützt.

Wir kritisieren daher die falsche Methode im Programm der NUPES scharf. Nein, es reicht bei weitem nicht aus, für die NUPES zu stimmen, damit die Reformen umgesetzt werden können. Im Gegenteil, die Arbeiter:innenklasse muss sich auf einen Gegenschlag einstellen, egal ob Macron oder NUPES die Oberhand gewinnen. Sie muss sich auf eine ernsthafte Konfrontation mit der französischen Bourgeoisie vorbereiten, wenn sie diese Klassenfeindin für die wirtschaftliche und ökologische Krise, die das kapitalistische System verursacht hat, bezahlen lassen will. Dies gilt umso mehr, als sich ein neuer globaler imperialistischer Krieg abzeichnet.

Wir kritisieren nachdrücklich die Unzulänglichkeiten des NUPES-Programms, insbesondere im Kampf gegen Rassismus und gegen die Stigmatisierung von Muslim:innen. Werden die NUPES-Abgeordneten das Verbot des Kopftuchs an Schulen aufheben? Wird NUPES die Grenzen für Migran:tinnen öffnen? Kein Wort davon in den 650 Erklärungen dieses Programms! Stattdessen liest man dubiose Versprechen wie „die Schaffung legaler und gesicherter Migrationsrouten“ oder sogar das, „die Polizei neu zu gründen, um das Recht auf Sicherheit zu garantieren“ und „dem Kauf französischer Militärausrüstung für die Armee Vorrang zu geben“.

Bei den kommenden Wahlen plädieren wir im ersten Wahlgang dafür, die NPA-Kandidat:innen dort zu wählen, wo sie aufgestellt worden sind, und die PCF-Kandidat:innen oder LO-Kandidat:innen anderswo kritisch zu unterstützen, da sie die aktivsten und klassenbewusstesten Sektoren der französischen Arbeiter:innenklasse vertreten. Im zweiten Wahlgang, in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Arbeiter:innenklasse mobilisieren wird, um Macron zu besiegen, unterstützen wir kritisch die Kandidat:innen der PCF und der PS im NUPES-Block.

Wir plädieren jedoch nachdrücklich dafür, dass die Arbeiter:innen dem Beispiel der Streikenden von 1936 folgen. Anstatt auf eine Regierung zu warten, die die Reformen des sozialistischen Führers Leon Blum umsetzt, streikten die Arbeiter:innen und besetzten die Fabriken. Das war es, was seiner Regierung wichtige soziale Reformen abtrotzte. Es folgten Wahlsiege und günstige Gesetze, was zeigt, dass schon die Androhung einer Revolution die stärkste Lokomotive für Reformen darstellt.




Frankreich nach Macrons Sieg: Kein Grund zur Klassenkollaboration!

Dave Stockton, Infomail 1190, 31. Mai 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen ist Emmanuel Macron für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurückgekehrt. Er besiegte Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 % und damit mit einem größeren Vorsprung als von vielen erwartet. Dennoch erzielte Le Pen mit mehr als 13 Millionen Stimmen ein Rekordergebnis für die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung), die frühere Front National (FN; Nationale Front).

Macrons Sieg wurde von den Regierungen in der gesamten Europäischen Union und darüber hinaus mit Erleichterung aufgenommen. Bis zu ihrer Imagekampagne sprach sich Le Pen für den „Frexit“, den Austritt Frankreichs aus der EU, aus, versprach aber dennoch, im Namen der französischen Souveränität einen unerbittlichen Kampf gegen die Brüsseler Behörden zu führen. Bis kurz vor dem Wahlkampf war sie, wie der ungarische Präsident Viktor Orbán, eine Bewunderin von Wladimir Putin. Doch der Einmarsch ihres Freundes in der Ukraine führte dazu, dass sie ein Wahlkampfflugblatt einstampfen musste, das sie lächelnd neben ihm zeigte. Sie an der Spitze der zweitgrößten Volkswirtschaft und stärksten Militärmacht der EU zu haben, hätte die EU massiv destabilisiert, vor allem in einer Zeit des Krieges in Europa.

Der Sieg von Emmanuel Macron war jedoch kein großer Triumph, obwohl Doppelamtszeiten in Frankreich eine Seltenheit sind. Dies spiegelte nicht nur einfach die Tatsache wider, dass Macron sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken als arroganter „Präsident der Reichen“ weithin verhasst ist, sondern auch die, dass zum zweiten Mal in Folge kein/e Kandidat:in der reformistischen Linken oder der gaullistischen Rechten in der zweiten Runde antrat – der Sozialistischen Partei und der Republikaner, Parteien, die die französische Politik seit den 1970er Jahren dominierten.

Entfremdung und Macrons Sieg

Ein Ausdruck der weit verbreiteten Entfremdung war eine ganze Reihe von Demonstrationen, die nach der ersten Runde in ganz Frankreich ausbrachen. Schüler:innen, Student:innen sowie Bahnarbeiter:innen im Norden von Paris prangerten „eine Wahl zwischen Pest und Cholera“ an. Außerdem hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidaten ihre/seine Stimme gegeben, und die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 %, dem niedrigsten Wert in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel ungültig gemacht oder leer abgegeben.

Le Pen konnte ihren Zuwachs im  Vergleich zu 2017 darauf zurückführen, dass sie sich auf soziale Themen konzentrierte, insbesondere auf die steigenden Lebenshaltungskosten für Erwerbstätige, und dass sie Themen mit sinkender Popularität wie Abtreibungsgegner:innenschaft, „Homo-Ehe“ und einen „Frexit“ aus der EU aufgab. Sie hat sogar ihre heftige Islamophobie etwas abgeschwächt, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen tatsächlich Franzosen und Französinnen sein können, aber an ihrer Forderung nach einem Verbot des Tragens des Hidschabs (Verschleierung) in der Öffentlichkeit und einem Referendum über härtere Einwanderungskontrollen festhielt.

Obwohl Le Pen und die RN nach keiner ernsthaften Definition des Begriffs Faschist:innen sind, wäre ein rassistische Populistin an der Spitze der ohnehin schon rassistischen französischen Polizei in der Tat eine Bedrohung für die 6,5 Millionen Einwander:innen oder Bürger:innen mit Migrationshintergrund in Frankreich (9,7 % der 67 Millionen Einwohner:innen) gewesen.

Der größte Erfolg Macrons besteht darin, dass er die traditionellen Parteien, sowohl die linken als auch die rechten, an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So erreichte Anne Hidalgo von der Sozialistischen Partei (PS) in der ersten Runde lächerliche 1,7 %, weniger als Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei (PCF) mit 2,28 %, während selbst die Vertreterin der gaullistischen Les Républicains (Die Republikaner:innen), Valerie Pécresse, nur 4,7 % erzielen konnte.

Dennoch hat sich Macrons eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Marsch), kaum eine solide Basis in der Bevölkerung geschaffen. Vielmehr handelt es sich um eine wurzellose Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen, die sowohl von rechten als auch von linken Parteien angezogen werden, um eine Präsidentschaft der Fünften Republik zu unterstützen, die unter Macron noch bonapartistischer wurde. Und da dies seine letzte Amtszeit ist, ist es fraglich, ob die Partei ihn überleben wird. Die französische Wahlpolitik ist, offen gesagt, von Grund auf instabil. Im Moment ist die Wirtschaft relativ solide verglichen mit vielen anderen in der EU, aber ein ernsthafter Absturz in die Rezession, ausgelöst durch Stagflation und Krieg, könnte, wie es in Frankreich immer möglich ist, zu großen Protesten führen, wie wir es bei den Nuit debout – Protesten gegen die „Reform“ des Arbeitsrechts im Jahr 2016 und den Gilets jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018 – 2019 gesehen haben.

Mélenchon und die Parlamentswahl

Der einzige verbliebene Verfechter der Linken in der Mainstream-Politik ist nun Jean-Luc Mélenchon, der mit 21,95 % der Stimmen im ersten Wahlgang nur um 420.000 Stimmen von Le Pen (mit 23 %) geschlagen wurde. Er hat sofort eine Kampagne für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni gestartet, mit dem Ziel, die Partei des Präsidenten zu überflügeln und Macron zu einer Cohabitation (Zusammengehen) mit ihm als Premierminister zu zwingen.

Viele derjenigen, die sich im zweiten Wahlgang der Stimme enthalten haben, schließen sich nun bei den Parlamentswahlen dem Block von Mélenchon an.

Dessen „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (NUPES) hat sich Anfang Mai nach dreiwöchigen Verhandlungen gegründet. Sie behauptet, die gesamte „Linke“ zu vereinen, zum ersten Mal seit der Wahl der „Gauche Plurielle“ (plurale Linke)-Regierung von Lionel Jospin (1997 – 2002). Ihr gehören nun die Grünen, die PCF und die SP an. Sogar die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) wurde eingeladen, ihr beizutreten, hat dies aber letztendlich abgelehnt.

Mélenchon versprach in seiner einstündigen Rede auf der Gründungsveranstaltung der NUPES einen „Bruch“ mit dem neoliberalen System, das „seit 40 Jahren den Planeten beherrscht, die Gesellschaften plündert, die Natur ausbeutet und die Menschen vernichtet“ – was er „Finanzkapitalismus“ nennt.  Aber natürlich geht es bei diesem „Bruch“ nicht um den Kapitalismus selbst, auch wenn er von einer Sechsten Republik spricht. Einige Linke haben behauptet, eine Regierung Mélenchons könne Reformen bringen, wie sie unter Léon Blum 1936 – 1938 durchgeführt wurden. Das ist jedoch nicht zu erwarten. Denn erstens handelt es sich bei den heute beteiligten Parteien um langjährige reformistische Arbeiterparteien (PCF, SP) oder kleinbürgerlich-populistische Formationen wie LFI (Unbeugsames Frankreich) oder EELV (Europäische Ökologie – die Grünen) und zweitens waren Blums Reformen vor allem aus der Angst vor einer Welle von Fabrikbesetzungen und Streiks heraus durchgeführt worden.

NPA

Die Einladung an die NPA, der NUPES beizutreten, war auf den ersten Blick ungewöhnlich, und ihre Führung nahm die Einladung Mélenchons zu Gesprächen gerne an. Der Gewinn von Sitzen in der Nationalversammlung war für eine Partei, die nur 0,77 % der Stimmen erhielt, verlockend. Doch der Einstieg in die NUPES erwies sich als zu großer Sprung. Die NPA hat sich zurückgezogen, weil sie die Anwesenheit der PS als Hauptproblem ansieht, die in ihrer Regierungszeit eine neoliberale Politik verfolgt hat. Ein Grund dafür ist, dass die LFI es versäumt hat, der NPA eine beträchtliche Anzahl von Sitzen anzubieten, auch für ihren Präsidentschaftskandidaten Philippe Poutou, obwohl er bereits bei den Wahlen in Bordeaux auf einer gemeinsamen Plattform mit der LFI kandidierte. Der entscheidende Grund war jedoch wahrscheinlich, dass fast die Hälfte des NPA-Nationalrats eine Kandidatur auf der NUPES-Liste strikt ablehnte. Der Beitritt zur NUPES hätte die NPA spalten können, die sich bereits in einer prekären Lage befindet, nachdem sie die großen Hoffnungen von vor etwa zehn Jahren, die antikapitalistischen Straßenbewegungen des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts zu repräsentieren, verschwendet hat.

Ob eine/r der Kandidat:innen der NUPES-Parteien ein kritisches Votum der Arbeiter:innenschaft verdient, wird sich bald zeigen. Mélenchon, der schon immer ein politisches Chamäleon war, wenn es um Parteien und Programme ging, könnte sich nach links wenden, um die Stimmen der Gewerkschaften zu gewinnen, wie er es bereits mit den Umweltschützer:innen und Feministinnen getan hat.

Aber die Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, die CFDT und die CGT, die selbst dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, einschließlich natürlich seiner „Reformen“, verheißt nichts Gutes für den Klassenkampf.

Sollte Mélenchon eine Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnen und sich Macron „aufdrängen“ können, würde die Kohabitation eine Art Koalition darstellen, gegen die Le Pen und andere rechte Kräfte dann die Rolle der eigentlichen Opposition spielen könnten. Macron würde mit dem Argument „nach mir die Sintflut“ bald die Oberhand gewinnen.

In der Tat steht die französische Arbeiter:innenklasse vor der Qual der Wahl: Klassenkampf oder Klassenkollaboration unter „republikanischem“ und „linkspopulistischem“ Deckmantel. Die Bürokratien der wichtigsten Gewerkschaftsverbände (CFDT und CGT) haben derweil ihre Entscheidung  getroffen. Sie haben bereits zugestimmt, mit dem „Präsidenten der Reichen“ politisch zu verhandeln. Zweifellos sehen sie es als großen Fortschritt an, dass ein vermeintlich „gedemütigter“ Macron im Gegensatz zu 2017 nun mit ihnen über seine neoliberalen Reformen verhandeln muss. So billig sind diese Damen und  Herren zu kaufen!

Die einzige Möglichkeit, die Wahl zwischen Le Pens Pest oder Macrons Cholera zu bekämpfen, besteht darin, den Weg der Massenmobilisierung auf den Straßen, der Massenstreiks in den Betrieben und der Besetzungen in den Bildungseinrichtungen, des Widerstands gegen die Polizei in den Vororten zu eröffnen. Schließlich ist Frankreich eines der wenigen Länder in Europa, in dem soziale Bewegungen keine Seltenheit darstellen.

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten RN aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antikriegerischen und antirassistischen Kämpfer:innen gestellt haben. Sie haben die Nationale Front und die faschistischen Schläger:innen in der Vergangenheit abgewehrt und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über Le Pens Wahlversagen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung aus dem Kleinbürger:innentum, das durch die verschärfende Wirtschaftskrise ruiniert ist, hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken von den ersten Tagen der neuen Präsidentschaft an an die Spitze des Widerstands gegen Macrons Reformen stellen, unabhängig davon, ob Jean-Luc Mélenchon sein Premierminister wird oder nicht.




Peru: Ein neues Muster für einen Putschversuch von rechts?

Markus Lehner, Neue Internationale 2021, Juli/August 2021

Offiziell waren die Präsidentschaftswahlen in Peru am 6. Juni gelaufen. Beim ersten Wahlgang Anfang April waren überraschenderweise der „linke“ Außenseiter Pedro Castillo (18,9 %) und die durch Korruptionsvorwürfe stark angeschlagene Establishment-Kandidatin Keiko Fujimori (13,4 %) vor allen anderen noch schwächer abgeschnitten habenden KandidatInnen gelegen. In der Stichwahl zwischen den beiden lag schließlich Castillo knappe 40.000 Stimmen (bei über 18 Millionen WählerInnen) vor Fujimori. Dieser enge Abstand führte zu einer Überprüfung durch die Wahlbehörden (in Peru das Jurado Nacional de Elecciones,, JNE; Nationales Wahlgericht). Das mag noch nachvollziehbar sein. Allerdings deutet die Dauer der „Überprüfung“ von über einem Monat samt der Mobilisierungen der Rechten darauf hin, dass hier etwas Tiefgehenderes vor sich geht.

Die Lage vor der Präsidentschaftswahl

Die Präsidentschaftswahl fand in einer äußerst zugespitzten Krisensituation statt. Erstens führten geringer werdendes Wirtschaftswachstum, das Sinken der Exporte und wachsende Schulden schon an sich in eine Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie zum Desaster wurde. Zweitens mündete dies in einer enormen sozialen Krise. Der informelle Sektor stieg von ohnedies schon für Lateinamerika hohen 75 % der Bevölkerung auf an die 90 %. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter extremen Armutsbedingungen. Insbesondere in den ländlichen, von indigenen Menschen bewohnten Gebieten, aber auch in den Armutsvierteln der Hauptstadt Lima herrscht eine prekäre Versorgungslage für so gut wie alles. Drittens ist in der Pandemie das Gesundheitssystem praktisch zusammengebrochen. Peru hat mit fast 200.000 Toten bei 32 Millionen EinwohnerInnen die größte Corona-Opferzahl pro Kopf auf der Welt. Viele flüchteten aus den Städten, womit sich die Situation auf dem Land noch weiter verschlechterte.

Viertens befindet sich Peru seit mehreren Jahren in einer schweren politischen Krise. Die letzten 5 Jahre sahen 4 verschiedene Präsidenten und zwei Kongresswahlen. Die politischen Institutionen blockieren sich gegenseitig. Massenproteste gegen korrupte und unfähige Regierungen lösten sich mit Amtsenthebungsverfahren und Parlamentsauflösungen teilweise im Wochenrhythmus ab. Praktisch alle traditionellen Parteien sind diskreditiert oder befinden sich in Neuformierungsprozessen.

Die Linke

Schon 2011 war ein sogenannter Linker gegen Keiko Fujimori zum Präsidenten gewählt worden: der Ex-Offizier Ollanta Humala. Dieser hatte bei seinem Wahlantritt 2006 noch die „bolivarischen Revolutionen“ als Vorbild genannt, 2011 dann nur noch Brasiliens sozialdemokratischen Staatspräsidenten Lula da Silva. Den Versprechungen zur Verstaatlichung des Bergbaus und zum Ausbau des Sozialsystems folgte dann jedoch nichts – außer dass Humala seit Ende seiner in einen schwerwiegenden Korruptionsprozess rund um den brasilianischen Odebrecht-Konzern verstrickt ist. Die linksnationalistische UPP (Unión por el Perú; Union für Peru) genauso wie die traditionelle peruanische Partei des Linksnationalismus, die APRA (Alianza Popular Revolucionario Americana; Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), sind seither diskreditiert und an den Rand des politischen Geschehens gedrängt.

Seit 2013 wurde damit die „Frente Amplio“ (Breite Front) zur stärksten parlamentarischen Kraft der Linken. Sie war ein Bündnis der kommunistischen Partei, mehrerer sozialdemokratischer und grüner Parteien sowie linksbürgerlicher Gruppierungen. Bei den Parlamentswahlen 2016 erhielt sie 20 von 130 Sitzen im Kongress. Ihre bekanntesten Führungsfiguren sind einerseits die Sozialistin Verónika Mendoza und der Priester und Umweltaktivist Marco Arana. Aufgrund des Versuchs von Arana, die Front mehr oder weniger in eine von ihm geführte grüne Partei umwandeln zu wollen, spaltete sich der Wahlblock. Die sozialistisch orientierten Parteien formten neue Wahlallianzen, die 2021 als „Gemeinsam für Peru“ (Juntos por el Perú, JPP) antraten, mit 7,8 % für Mendoza als deren Spitzenkandidatin (bei der Wahl 2016 hatte sie noch über 18 % erhalten).

Überraschenderweise etablierte sich 2021 jedoch die bis dahin eher unbekannte Partei Perú Libre (Freies Peru) als stärkste „linke“ Kraft. Diese Partei war ursprünglich das Produkt eines Provinzgouverneurs, Vladimir Cerrón, der damit über seine randständige Provinz Junin (im zentralen Hochland von Peru) ein nationales Standbein aufbauen wollte. Auch wenn er seiner Partei nach außen ein „marxistisches“ und „leninistisches“ Profil gab, war er zu eigentümlichen Wahlbündnissen z. B. mit der libertären Partei bereit (seine Präsidentschaftskandidatur 2016 blieb aber jenseits der Wahrnehmungsschwelle). Aufgrund schwerwiegender Korruptionsvorwürfe in Zusammenhang mit seiner Gouverneurstätigkeit war aber klar, dass er selbst nicht für die Partei zur Wahl 2021 antreten konnte.

Zunächst wurde mit der JPP über eine gemeinsame Kandidatur verhandelt, die aber in dieser wegen des „kriminellen“ Rufes von Cerrón auf große Vorbehalte stieß. Daher entschloss man sich schließlich, getrennt anzutreten und für die Perú Libre Pedro Castillo aufzustellen – der kein Berufspolitiker ist, sondern Grundschullehrer. Landesweite Bekanntheit erlangte er 2017 als kompromissloser und der Basis verpflichteter Anführer des Lehrerstreiks. Damals schon verband er die gewerkschaftlichen Forderungen der LehrerInnen mit einer Anprangerung des Elends der SchülerInnen selbst, mit dem die Schulen vollkommen überfordert sind. Seine Glaubwürdigkeit als unbestechlicher Anwalt der sozial Schwachen katapultierte Castillo in der Situation der aktuellen Krise sofort an die Spitze der Umfragen zur Präsidentschaftswahl.

Auch wenn die Rechte bis zur Stichwahl eine Unmenge an antikommunistischer Polemik gegen Castillo lostrat, konnte dies offensichtlich seine Popularität insbesondere in den sozial benachteiligten Regionen von Peru, aber auch in den Armenvierteln von Lima nicht entscheidend schwächen. Dabei sind weder seine Partei Perú Libre noch Castillo selbst eine gefestigte linke Kraft. Seine Wahlversprechen drehten sich um eine „neue Verfassung“, die die neoliberalen Reformen der Fujimori-Zeit zurückdrehen sollte, und um die Verstaatlichung des Bergbausektors – nichts anderes als das, was zuvor auch die LinksnationalistInnen wie Humala versprochen hatten. Dazu kommt, dass Castillo abseits der sozialen Forderungen ein äußerst konservatives Programm vertritt: gegen eine Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechtes, gegen die Homo-Ehe, gegen eine Beschränkung der Vorrechte der katholischen Kirche etc. Skandalös war auch ein Interview, in dem er die fürchterlichen Ausmaße der Femizide in Peru herunterspielte und diese als Auswuchs von Langeweile wegen der hohen Arbeitslosigkeit verharmloste.

Hinzu kommt, dass Perú Libre zwar jetzt auch stärkste Partei im Kongress ist (mit 37 von 130 Abgeordneten), aber stark auf Koalitionspartnerinnen, auch jenseits der JPP, angewiesen ist. Letztere stellt zudem gegenüber der Newcomerpartei PL auch sehr viel mehr „ExpertInnen“ für die Regierungsarbeit. Daher stammen auch bereits die wichtigsten WirtschaftsberaterInnen von Castillo aus diesem Teil des politischen Establishments. Und natürlich haben sie Castillo bereits Erklärungen zu Themen Verstaatlichung der Bergbauindustrie diktiert, die die globalen Märkte beruhigt haben. Man muss nur ins Nachbarland Chile blicken, um zu sehen, wie auch der Prozess der Bildung einer verfassunggebenden Versammlung in vom Kapital kontrollierte Bahnen gelenkt werden kann.

Die Rechte

Die entscheidende politische und ökonomische Wende in Peru, die mit den verschiedenen Experimenten des Linksnationalismus gebrochen hat, vollzog sich in den 1990er Jahren unter Keiko Fujimoris Vater Alberto. Wie in ganz Lateinamerika kam es mit dem „verlorenen Jahrzehnt“ in den 1980er Jahren zu einem völligen Buch mit dem Modell der sog. importsubstituierenden Industrialisierung. In Peru speziell bedeutete dies die völlige Abkehr von staatlicher Industrialisierung und den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Landes an internationale Konzerne. Marktliberalisierung und Neoextraktivismus gingen einher mit Abbau von Gewerkschaftsrechten, von sozialen Sicherungssystemen und einer extrem brutalen militärischen Bekämpfung jeglichen Widerstands, nicht nur der atavistischen maoistischen Guerilla des „Leuchtenden Pfades“. Bei Letzterem entwickelte das Fujimori-Regime auch einen extremen Rassismus gegen indigene Menschen, der bis zu Zwangssterilisierungsprogrammen führte. Fujimori ist überhaupt ein Beweis dafür, wie eng Rassismus und Liberalismus in Wirklichkeit immer noch verbunden sind.

Auch wenn er später bei Teilen des Establishments in Ungnade fiel (er wurde 2009 aufgrund seiner offensichtlichen humanitären Verbrechen zu 25 Jahren Haft verurteilt), so wurde von keiner der folgenden Regierungen grundlegend etwas am neoliberalen Zuschnitt seiner Reformen verändert. Auch Castillos Versprechen, eine Verfassung zu begründen, die das „System Fujimori“ beendet, wird nicht umzusetzen sein, wenn es nicht eine grundlegende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse samt Zerschlagung des bestehenden (bewaffneten) Staatsapparates geben sollte.

Allerdings ist offensichtlich, dass selbst die sehr vagen Ankündigungen von Castillo für die Herrschenden in Peru einen Grund zur Nervosität liefern. Dies war schon sichtbar an der krassen antikommunistischen Rhetorik während des Wahlkampfes, mit der die Gefahr eines neuen Venezuela beschworen wurde. Nach dem knappen Wahlerfolg von Castillo am 6. Juni setzte dann eine beispiellose Kampagne gegen die drohende Amtsübernahme durch den „Kommunisten“ ein.

Die „Betrugs“-Kampagne

Schon Donald Trump hat gezeigt, wie heutzutage die extreme Rechte mit Wahlen umgeht. Ein nicht passendes Wahlergebnis wird einfach als Betrug deklariert und alle entgegenstehenden Beweise werden als Fälschungen abgewiesen. Der Wahrheitsgehalt ist dabei nicht entscheidend, sondern die Massivität der Mobilisierung für den Wahlfälschungsvorwurf, der eine genügend umstürzlerische Wirkung entfalten muss. Dabei spielen Rassismus und Klassenhass eine wesentliche Rolle. Das Zentrum des Wahlbetrugsvorwurfs ist eigentlich, dass bestimmte „minderwertige“ Menschen gar nicht wählen können dürften bzw. sich das Wahlrecht irgendwie „unrechtmäßig“ erschwindelt hätten. Dazu kommen natürlich große „globalistische“ Verschwörungen, die die Wahlmaschinen oder die Wahlbeobachtung manipuliert hätten (der antisemitische Unterton mag dabei einmal offener, einmal wenig zum Vorschein kommen).

Auch in Peru sind die Beweise für Wahlbetrug praktisch nicht vorhanden. Alle WahlbeobachterInnen haben dem Verfahren ein mustergültiges Zeugnis ausgestellt. Selbst die sonst bei linken Erfolgen eher „kritischen“ BeobachterInnen der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) oder der USA haben nichts von Betrug wahrgenommen. Trotz alledem hat Fujimori eine wahre Armada der besten AnwältInnen des Landes aufstellen können, die das Wahlgericht mit Klagen im Umfang von 200.000 Stimmen überrollt hat. Auch wenn dieses bisher nichts gefunden hat, das größere Unregelmäßigkeiten erkennen lässt, wurde damit genug Sand ins Getriebe geworfen, um parallel mit rechten Massenprotesten starten zu können. Ein immer größer werdender rechter Mob droht mit immer aggressiveren Ausschreitungen – bei den Kundgebungen werden die Konquistadorenkreuze zusammen mit dem Hitlergruß gezeigt, um zu betonen, dass Peru „europäisch“ ist und nicht in die Hände „kommunistischer Indios“ kommen dürfe. Dazu kommen Aufrufe tausender Ex-Militärs, die ihre aktiven KameradInnen dazu auffordern, „Peru vor dem Kommunismus“ zu retten. Auch Nobelpreisträger wie der Dichter Vargas Llosa erklären sich inzwischen für den Eingriff des Militärs zur „Rettung des Vaterlands“. Tatsächlich ist bei einer weiteren Verzögerung der Verkündung des endgültigen Wahlresultats und gleichzeitiger Paralyse des Kongresses ein Eingreifen des Militärs womöglich nicht mehr in weiter Ferne.

Die Antwort der ArbeiterInnenklasse

Die rechte, antidemokratische Mobilisierung muss mit aller Macht in die Schranken gewiesen werden. Bei aller Kritik an Castillo und den linksreformistischen und populistischen Parteien, die er vertritt, müssen die demokratischen Rechte samt der Anerkennung von Wahlergebnissen verteidigt werden. Dies bedeutet auch, dass gegen die gewaltsamen Proteste der Rechten auch entsprechende Massenmobilisierungen und Selbstverteidigungsauschüsse von ArbeiterInnen, Indigenen, der ländlichen Armut sowie aller anderen unterdrückten Sichten der Gesellschaft organisiert werden müssen. Gegen jegliche Versuche, die demokratischen Rechte auf autoritäre Weise – sei es durch einen Militärputsch oder durch eine Aberkennung des Wahlsiegs durch die Wahlkommission – zu unterdrücken, muss der Generalstreik auf Grundlage der Basisorgane des Gegenprotestes und der Gewerkschaften organisiert werden. Diese Mobilisierung der ArbeiterInnen, Indigenen und armen Bauern/Bäuerinnen muss auch genutzt werden, um die von Castillo versprochene verfassunggebende Versammlung in ein Organ zu verwandeln, deren Wahl und Einberufung von ebendiesen Organen kontrolliert und überwacht wird.

In einer solchen verfassunggebenden Versammlung müssten RevolutionärInnen einen offenen Kampf für eine sozialistische Umwandlung, für die Enteignung des peruanischen und ausländischen Großkapitals unter ArbeiterInnenkontrolle, für die Streichung der Auslandschulden und die Enteignung des Großgrundbesitzes führen. Sie müssten für einen Sofortplan zur Bekämpfung von Armut und Pandemie eintreten.

Um dies zu sichern, wird der Kampf selbst den Rahmen einer solchen Versammlung sprengen müssen. Für eine sozialistische Umwälzung muss der bestehende bürgerliche Staats- und Repressionsapparat zerschlagen werden und die einfachen SoldatInnen müssen auf die Seite der Massen gezogen werden, indem sie sich weigern, den putschistischen Gelüsten der Rechten zu folgen und SoldatInnenkomitees und -räte bilden, die unabhängig vom militärischen Kommando agieren. Vor allem aber müssen die Strukturen des Kampfes gegen einen möglichen Putsch und für entschiedene Reformen in Räte und bewaffnete Organe zur Verteidigung dieser Umwälzung weiterentwickelt werden. Angesichts des Zustandes der Linken in Peru wird diese Zielsetzung letztlich nur erreicht werden können, wenn sich im Kampf um proletarische Unabhängigkeit in dieser Linken eine tatsächliche revolutionäre ArbeiterInnenpartei herausbildet, um diesen zum Sieg zu führen!




Sahra Wagenknecht: Selbstgerechtigkeit des Linkspopulismus

Stefan Katzer, Neue Internationale 256, Juni 2021

Nachdem es um Sahra Wagenknecht einige Zeit relativ still geworden war, ist sie nun wieder zurückgekehrt in die Talkshows und Radiosendungen der Republik. Dort präsentiert sie selbstbewusst ihr neues Buch mit dem Titel „Die Selbstgerechten – Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“.

Noch bevor sie zahlreiche Gelegenheiten dazu bekam, ihr neues „Programm“ der breiteren Öffentlichkeit zu erklären und ihre Thesen ausgiebig darzulegen, phantasierte sie sich bereits als Opfer einer „cancel-culture“, die unliebsame Meinungen unterdrücke. Die Kritik an einem vermeintlich elitär-kosmopolitischen Linksliberalismus, der durch das Verfolgen der Sonderinteressen ohnehin privilegierter Minderheiten dem Neoliberalismus in die Hände spiele und die Öffentlichkeit fest in seiner Hand hätte, nimmt in Wagenknechts neuem Buch entsprechend breiten Raum ein.

Zielsetzung

Die in Teilen der Bevölkerung vorhandenen Vorurteile gegenüber einer oft nur verzerrt dargestellten Identitätspolitik aufgreifend, unternimmt Wagenknecht darin den Versuch, ihr populistisches Projekt eines „linken Konservatismus“ zu begründen. Hierfür will sie WählerInnen aus allen Klassen und gesellschaftlichen Schichten gewinnen.

Strategisch geht es Wagenknecht darum, ehemalige LINKE-WählerInnen von der AfD zurückzuholen sowie die gesellschaftliche Linke und bisherige NichtwählerInnen für ihr Programm zu mobilisieren. Die Linke solle dadurch endlich (wieder) politik- und regierungsfähig werden, eigene Mehrheiten erringen und die Politik umsetzen, die von einer Mehrheit der Bevölkerung ohnehin befürwortet werde (Einführung einer Vermögenssteuer, höherer Mindestlohn etc.). Wagenknecht bemüht sich dabei auch um jenen Teil der SPD, den sie der „traditionellen Linken“ zurechnet. Ihr politisches Versprechen lautet, sich um die Belange der „normalen“, hart arbeitenden Teile der Bevölkerung zu kümmern.

Der Kampf für die Interessen dieser Teile der Klasse ist für RevolutionärInnen selbstverständlicher, integraler Bestandteil des Klassenkampfes. Der Kampf für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse usw. muss Bestandteil eines jeden (revolutionären) linken Programms sein. Angesichts der bereits stattfindenden und noch zu erwartenden Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der gesamten ArbeiterInnenklasse ist es daher in der Tat wichtig, dass sich die Linke auf einen Abwehrkampf gegen Massenentlassungen, Sozialabbau und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen vorbereitet.

Ähnlich wie Teile der SPD (z. B. Wolfgang Thierse) suggeriert Wagenknecht allerdings, dass es der Linken in den letzten Jahren vor allem deshalb nicht gelungen sei, konsequent für die Interessen der arbeitenden, erwerbslosen und verrenteten Bevölkerung zu kämpfen, weil sie sich im Kampf um die Interessen „elitärer Minderheiten“ vollkommen aufgerieben habe. Daher Wagenknechts scharfe Ablehnung der „Identitätspolitik“ und der akademischen Mittelschichten, die sie als Trägerinnen derselben identifiziert.

Falscher Gegensatz

Tatsächlich gibt es an den Grünen, die Wagenknecht als Hauptvertreterin des Linksliberalismus und der Identitätspolitik ausmacht, aus linker Sicht viel zu kritisieren – etwa dass sie eine durch und durch bürgerliche Partei sind, allzeit bereit, Kriege zu führen, Menschen abzuschieben, Autobahnen zu bauen, soziale Errungenschaften einzustampfen, den deutschen Imperialismus zu verteidigen und dergleichen mehr. Gleichzeitig pflegen die Grünen wie kaum eine andere Partei ein Image als antirassistische, LGBTQIA-unterstützende „Friedenspartei“ und damit auch als konsequente bürgerliche Alternative zur AfD. Wagenknecht tut nun in ihrer Abrechnung mit den Grünen allerdings so, als seien die Grünen v. a. deshalb nicht in der Lage, Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu machen, weil sie sich „zu viel“ um identitätspolitische Fragen kümmerten.

Die zugrundeliegende Botschaft ihrer Abrechnung mit Linksliberalismus und Identitätspolitik lautet letztlich: Wer sich zu viel um die Belange gesellschaftlicher Minderheiten bzw. unterdrückter Schichten der Bevölkerung kümmert, kann keine Politik im Interesse der „normalen“ Leute mehr machen – ganz so, als schlössen sich die Kämpfe für gleiche Rechte, körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, offene Grenzen einerseits und jene für höhere Löhne, sichere Renten und Arbeitsplätze andererseits gegenseitig aus.

Wagenknecht spricht dabei nicht nur für sich, ist nicht nur eine grandiose und selbstgerechte Selbstdarstellerin, sondern vertritt auch einen bestimmten Flügel innerhalb ihrer Partei. In Nordrhein-Westfalen, immerhin dem mitgliederstärksten Landesverband, wurde sie nicht nur mit deutlicher Mehrheit zur Spitzenkandidatin zu den Bundestagswahlen gekürt, ihre AnhängerInnen konnten auch die meisten aussichtsreichen Listenplätze gewinnen.

Sozialchauvinismus und Nationalismus

Für diesen offen sozialchauvinistischen Flügel innerhalb des Reformismus bedeutet, „links“ zu sein, im Wesentlichen, sich schützend vor die einheimische Bevölkerung zu stellen, insbesondere vor jenen Teil, dem es ökonomisch schlechtgeht, der prekär beschäftigt und dabei von den Flexibilitätsanforderungen des Kapitalismus permanent überfordert ist. Andere Fragen des Klassenkampfes, wie sie auch von identitätspolitischen Gruppierungen (leider in falscher Weise) adressiert werden, bleiben in dieser ökonomistisch verkürzten Perspektive zwangsläufig außen vor.

So betont Wagenknecht zwar, gegen wirklichen Rassismus einzustehen – nationale Abschottung und die massenhafte Abschiebung von Geflüchteten erscheinen in ihrer Gedankenwelt aber gar nicht als rassistisch, sondern in gewisser Weise als normale Vollzughandlungen eines gut funktionierenden, souveränen Nationalstaates, den sie auch ansonsten gegen jegliche Kritik verteidigt und gar zum einzigen Garanten sozialer Sicherheit stilisiert.

„Die Nationalstaaten sind allerdings auch die einzige Instanz, die gegenwärtig in nennenswertem Umfang Marktergebnisse korrigiert, Einkommen umverteilt und soziale Absicherungen bereitstellt. […] Es sieht also ganz danach aus, dass die Nationalstaaten genau da handlungsfähig sind, wo ihnen schlagkräftige Interessengruppen im Nacken sitzen. Wer weniger Einfluss hat, hat Pech gehabt. An mangelnder Handlungsfähigkeit hapert es also nicht. Problematisch ist eher, wie die Nationalstaaten handeln. […]. Aber dieses Problem wird nicht durch die Unterordnung der Nationalstaaten unter supranationale Institutionen gelöst, sondern durch die Wiederherstellung der Demokratie innerhalb der Nationalstaaten.“ (S. 230 f.)

Vom Klassencharakter des Staates des Kapitals will Wagenknecht schon lange nichts mehr wissen. Außerdem springt ins Auge, dass Wagenknechts Analyse, trotz drängender werdender globaler Probleme (Klimawandel, imperialistische Konflikte, erzwungene Massenmigration etc.), sich weitgehend auf den nationalen Rahmen beschränkt. Ihr Ausgangspunkt ist nicht der globale Kapitalismus und die Frage, wie dieser überwunden werden kann, sondern die nach möglichen Regierungskoalitionen unter Beteiligung der LINKEN. Die globale Ebene erscheint bei ihr einzig als Tummelplatz skrupelloser Kapitalmächte, „transnationaler ‚Multi-Stakeholder-Gruppen’“ (S. 228), gegen die einzig auf nationaler Ebene anzukommen sei.

Die Möglichkeit und Notwendigkeit eines konsequent proletarischen Internationalismus, der grenzüberschreitende Solidarität zwischen ArbeiterInnen weltweit organisiert und die Kapitalmächte auf globaler Ebene stellt, kommt bei Wagenknecht nicht vor. Im Gegenteil: In ihrer national zentrierten Welt erscheint der Internationalismus der ArbeiterInnenklasse nur als besondere Spielart des Kosmopolitismus. Ihre Kritik richtet sich daher letztlich wie jeder Linkspopulismus auch, ja vor allem gegen den revolutionären Marxismus.

Anpassung an SPD und DGB

Weitaus nachsichtiger hingegen verfährt sie mit Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie. Schließlich knüpft sie ja auch an deren nationaler Klassenzusammenarbeit an. Die für die Klasse der Lohnabhängigen verheerende Standortpolitik von SPD und DGB dabei konsequent weiterdenkend, wird von ihr letztlich alles, was den sozialen Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft gefährdet, als problematisch erachtet. Zu jenen Faktoren, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt angeblich bedrohen, zählt Wagenknecht dabei nicht nur „Flexibilisierung, Wirtschaftsliberalismus und Globalisierung“ (S. 221), sondern auch hohe Zuwanderung (ebd.). Sie stellt sich damit und mit ihrer offenen Ablehnung der Forderung nach offenen Grenzen gegen einen Teil der ArbeiterInnenklasse und reproduziert die nationalistische und rassistische Spaltung durch die Herrschenden. Zugleich predigt sie den Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft, von AusbeuterInnen und Ausgebeuteten, und zeigt sich nicht daran interessiert, das Bewusstsein der Klasse zu heben. Vielmehr geht es ihr darum, auch die borniertesten Teile der Klasse vor „Angriffen“ auf ihr bürgerlich-chauvinistisches Weltbild zu schützen.

Ihr Zurückweisen der Forderung nach offenen Grenzen rechtfertigt Wagenknecht zwar mit dem angeblich linken Ziel der Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und sieht sich damit gar in der Tradition der ArbeiterInnenbewegung ebenso wie konservativer DenkerInnen. Dass es der revolutionären ArbeiterInnenbewegung aber niemals um den „sozialen Zusammenhalt“ des nationalen Kollektivs, also von Kapital und Arbeit, sondern um die Solidarität unter den ArbeiterInnen und Unterdrückten zwecks Überwindung des Klassengegensatzes ging, fällt bei Wagenknecht unter den Tisch. Für diejenigen, die an der Grenze zurückgewiesen oder gegen ihren Willen in ihr „Heimatland“ abgeschoben werden, macht es aber keinen Unterschied, aus welchen vorgeschobenen Gründen dies geschieht. Zu Recht werden sie eine solche Politik als rassistisch erachten.

An der Debatte um die Forderung nach offenen Grenzen innerhalb der Linkspartei zeigt sich zugleich die ganze Misere des Reformismus. Während nur wenige linke GenossInnen innerhalb der Partei die Forderung nach offenen Grenzen auch gegenüber dem Ministerpräsidenten aus den eigenen Reihen (Ramelow) vorbringen und dessen Abschiebepolitik anprangern, hat man sich im Rest der Partei offensichtlich damit arrangiert, dass auch unter Beihilfe von MinisterInnen der LINKEN abgeschoben wird.

Das, was Wagenknecht offen fordert, nämlich Zuwanderung zu begrenzen, wird von den Regierungslinken ganz real längst umgesetzt – ohne, dass dies in der Breite der Partei auf ähnlichen Widerspruch stoßen würde. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass diejenigen, die den offenen Chauvinismus von Sahra Wagenknecht kritisieren, letztlich selbst kein antirassistisches Programm verfolgen, sondern oft nur eine verlogenere Abschiebepolitik decken. Dem Linkspopulismus und offenen Sozialchauvinismus aus den eigenen Reihen kann die Partei somit, abgesehen von moralischer Empörung, nichts Substanzielles entgegensetzen. Die Forderung nach offenen Grenzen wirkt dadurch, dass sie nicht mit anderen Forderungen zu einem einheitlichen revolutionären Programm vermittelt wird, daher eher wie ein leeres Versprechen und ein Bekenntnis, das man ablegt, um das eigene linke Gewissen zu beruhigen. Dementsprechend leicht haben es die GegnerInnen dieser Forderung, die den VertreterInnen derselben vorwerfen, weltfremden Vorstellungen anzuhängen.

„Kleiner Mann“ oder revolutionäres Subjekt?

Letztlich ist in den Augen Wagenknechts jede/r, der/die die Vorurteile des „kleinen Mannes“ kritisch hinterfragt und auf die problematischen Seiten seiner politischen Einstellung hinweist, ein „Lifestyle-Linker“. Nach der Definition Wagenknechts müsste man wohl auch Marx, Engels, Luxemburg, Lenin, Trotzki und Co. als solche bezeichnen, gehe es den Lifestyle-Linken doch wesentlich darum, „[…] nicht nur das Leben der Arbeiter und anderer Benachteiligter [zu] verbessern, sondern ihnen zugleich ihre wahren Interessen [zu] erklären und ihnen ihre Provinzialität, ihre Ressentiments und Vorurteile [auszutreiben].“ (S. 29 f.)

Wagenknecht aber behandelt den „kleinen Mann“ lieber wie ein zur kritischen Einsicht prinzipiell unfähiges Kind, das es vor allen möglichen Gefahren zu schützen gelte. Die schlecht bezahlten Arbeiterinnen, prekär Beschäftigten, Erwerbslosen werden von ihr überhaupt nicht als politische Subjekte wahrgenommen, die dazu in der Lage wären, ihr Bewusstsein zu heben und für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Sie beschreibt sie vielmehr ausschließlich als Opfer, die es zu schützen gelte – sei es vor den Angriffen der Herrschenden auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen, sei es aber auch vor einer Kritik an ihren politischen Einstellungen. Das Subjekt der Veränderung ist der „kleine Mann“ bei Wagenknecht nur insofern, als seine Rückständigkeit nicht kritisiert werden darf. Das soll verständnisvoll erscheinen, in Wirklichkeit ist es jedoch paternalistisch. Wenn die rückständigen Vorstellung der zum „kleinen Mann“ verkommenen Lohnabhängigen als unveränderliche Züge der Klasse betrachtet werden, können sie sich letztlich vom Einfluss bürgerlicher Ideologie nie befreien, es allenfalls zu einer reformistisch oder linkspopulistisch geprägten Klasse bringen. Die eigentlichen AkteurInnen, die deren angemessenen Platz in der Gesellschaft sichern sollen, sind ironischerweise nicht die „kleinen Leute“, sondern ist die Bürokratie in linken Parteien und Gewerkschaften, professionelle StellvertreterInnen dieser Menschen, die, ganz wie die Linksliberalen vorzugsweise aus der akademisch gebildeten Mittelschicht stammen.

Revolutionäre Alternative

Eine revolutionäre Strategie hingegen muss auf der Einsicht aufbauen, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur das Werk der ArbeiterInnen selbst sein kann. Die ArbeiterInnen und Unterdrückten brauchen keine gutbezahlten, privilegierten BürokratInnen und Abgeordneten, die längst ihrer demokratischen Kontrolle entzogen sind und weit mehr verdienen als das durchschnittliche Einkommen ihrer WählerInnen und AnhängerInnen. Dass diese bürokratische Schicht ihre Interessen verrät, ist nicht Ergebnis der Identitätspolitik, sondern folgt aus der Logik jeder bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik, der es um die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit geht statt um die Überwindung des Ausbeutungsverhältnisses selbst.

Was es braucht, ist eine Partei, die fähig ist, den Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten hierzulande und international zu organisieren, ihn anzuführen und ihm eine Richtung zu geben, die auf die Überwindung aller Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zielt. Es besteht dabei kein Gegensatz zwischen den Interessen derjenigen, die in ein patriarchales System gepresst werden, aus dem sie berechtigterweise ausbrechen wollen, und den Interessen jener, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Wer einen solchen Gegensatz behauptet, trägt zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse bei, die niemals nur aus weißen IndustriearbeiterInnen bestand, sondern vom Kapital immer schon global geformt, umgebildet und neu zusammengesetzt wurde. Die ArbeiterInnenklasse hat somit keine fixe Identität, sondern setzt sich ständig neu zusammen, wird ständig neu formiert und entsprechend den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals rekrutiert.

Wie wir bereits in anderen Artikeln gezeigt haben, gibt es aus marxistischer Perspektive berechtigte Kritik an der Identitätspolitik. Wir haben dort ebenfalls die Notwendigkeit betont, dass sich RevolutionärInnen am Kampf für die Befreiung aller gesellschaftlich Unterdrückten beteiligen, ihn als integralen Bestandteil des Klassenkampfes begreifen und entsprechend führen. Wagenknecht hingegen geht es nicht um eine Kritik an der Identitätspolitik in revolutionärer Absicht. Wagenknechts Programm ist das eines chauvinistischen, klassenübergreifenden Linkspopulismus. Ihre Kritik an der Identitätspolitik bedeutet somit keinen Schritt nach vorne, sondern eher zwei Schritte zurück.




Die Wahlen in Bolivien: Niederlage des Putsches von 2019

Liga Socialista, Brasilien, Neue Internationale 251, November 2020

Ein Jahr, nachdem sie den bolivianischen Präsidenten Evo Morales gestürzt hatten, haben die rechten und rechtsextremen Parteien, die den Putsch mit Unterstützung und Ermutigung des Weißen Hauses und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) organisiert und angeführt hatten, eine verheerende Wahlniederlage erlitten. Ihre usurpierende Präsidentin, Jeanine Áñez, die Mitte September als Kandidatin zurücktrat, musste nachgeben. Sie muss sich nun wegen der Tötung von 30 Menschen während des Putsches im vergangenen Jahr, insbesondere der Massaker in Senkata, Sacaba und Yapacaní, verantworten.

Wahlergebnis

Nach Wahlschluss am Donnerstag, dem 22. Oktober, wurden Luis Arce und David Choquehuanca Céspedes von der Movimiento al Socialismo (MAS; Bewegung zum Sozialismus) im ersten Wahlgang mit 55,1 Prozent der Stimmen für gewählt erklärt. Carlos Mesa von der konservativen Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft) lag mit 28,83 Prozent auf dem zweiten und Luis Fernando Camacho, Kandidat der ultrarechten Creemos (Wir glauben) mit 14 Prozent auf dem dritten Platz. (TSE – https://computo.oep.org.bo/)

Die MAS hat nun den Vorsitz und eine klare Mehrheit sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus. Dieser Sieg der Linken wird von den Volkskräften in ganz Lateinamerika begrüßt werden, wo die Rechte in den letzten Jahren in der Offensive war.

Die Spaltungen zwischen der rechtskonservativen Comunidad Ciudadana und der rechtsextremen Creemos trugen zum Ausmaß der Niederlage bei. Letzteres ist ein klerikales, rechtsextremes Bündnis mit Sitz im südlichen Departamento Santa Cruz, das von der Unión Juvenil Cruceñista (UJC; Jugendunion von Santa Cruz) unterstützt wird, einer faschistischen Bewegung, die in Terroranschläge auf VolksaktivistInnen verwickelt ist.

Weitere wichtige Faktoren waren der chaotische Umgang von Áñez und ihrer Regierung mit der Coronavirus-Pandemie und der Wirtschaftskrise, ihre Sparpolitik, die Privatisierung von Gesundheit, Bildung und natürlichen Ressourcen sowie ihre Angriffe auf die Rechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung Boliviens. Nicht zuletzt war es der seit einem Jahr anhaltende Volkswiderstand, der erneut zum Sieg der linkspopulistischen MAS führte.

Für alle?

Bei folgender Erklärung des designierten MAS-Präsidenten Luis Arce sollten die Alarmglocken läuten: „Wir werden für alle BolivianerInnen regieren und eine Regierung der nationalen Einheit errichten.“ Dies ist die typische reformistische Sehnsucht nach Klassenzusammenarbeit, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Rechte positiv darauf reagiert. Auf internationaler Ebene fühlten sich jedoch alle Kräfte, die den Staatsstreich unterstützten, einschließlich der OAS, des Weißen Hauses und der Europäischen Union, verpflichtet, Arce zu gratulieren. Sogar Trump antwortete mit den Worten: „Wir hoffen, in unserem gemeinsamen Interesse arbeiten zu können.“

Laut G1-Globo versuchte der Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, sich mit dem Argument zu rechtfertigen, dass es keine Ähnlichkeiten zwischen diesen und den 2019 annullierten Wahlen gebe. „Es gibt keine Parallele, es ist nicht sehr klug, diese Parallele zu ziehen.“ (https://g1.globo.com/mundo/noticia/2020/10/23/bolsonaro-e-o-unico-lider-de-um-pais-vizinho-da-bolivia-que-nao-cumprimentou-luis-arce-pela-vitoria.ghtml)

Noch weniger schlau ist es, das Offensichtliche zu leugnen, nämlich dass der Putsch auf einem zynischen Betrug beruhte und zu Dutzenden von Toten sowie zur Festnahme und Inhaftierung von AktivistInnen der Volksbewegungen führte.

Niemand sollte jedoch vergessen, dass die Figuren, die den Putsch im Oktober 2019 durchgeführt haben, nach wie vor die Armee, die Polizei, die Justiz und die Geheimdienste kontrollieren und ihre Verbindungen zum US-Militär und zum Weißen Haus intakt und wirksam sind.

Darüber hinaus ist die MAS als Verteidigung gegen die Kräfte des internationalen Kapitals und des Imperialismus nicht zuverlässiger als vor 2019. Letztere scheinen gar zu hoffen, dass die Regierung angesichts der Pandemie und der Wirtschaftskrise die sie unterstützenden Massen rasch enttäuscht und den Weg für eine weitere Machtübernahme durch die Rechte öffnet.

Die sozialen Kräfte, die ArbeiterInnen, armen Bauern und Bäuerinnen und indigenen Gemeinschaften, die den „Wasserkrieg“ von 2000 und den „Gaskrieg“ von 2003 geführt und mobilisiert haben, um den Staatsstreich vom vergangenen Oktober zu stoppen, werden erneut mobilisieren müssen, wenn die Kräfte der Reaktion entwaffnet und die Kompromisskräfte, die MAS-FührerInnen, daran gehindert werden sollen, die reichhaltigen natürlichen Ressourcen des Landes, wie die riesigen Lithiumvorkommen, an die multinationalen Konzerne zu verkaufen, die das Land geplündert haben.

Der Putsch von 2019

Am 20. Oktober 2019 wurde bekannt gegeben, dass Evo Morales (MAS) für eine vierte Amtszeit als Präsident von Bolivien wiedergewählt wurde. Mit 47 Prozent der Stimmen und einem Vorsprung von mehr als 10 Prozent gegenüber dem zweitplatzierten Kandidaten Carlos Mesa, der 36,51 Prozent der Stimmen auf sich vereinte, wurde Morales als direkt gewählt erklärt, da es nach dem bolivianischen Wahlgesetz keinen zweiten Wahlgang geben muss, wenn ein/e KandidatIn mehr als 40 Prozent der Stimmen erhält und einen Vorsprung von 10 Prozentpunkten oder mehr gegenüber dem/r nächsthöheren KandidatIn einnimmt.

Verwirrung entstand auf Grund der Methode der Stimmenauszählung in Bolivien, die eine schnelle vorläufige Auszählung (TREP) auf der Grundlage von Auszählungslisten der einzelnen Departamentos vorsieht, auf die dann die offizielle Auszählung jeder Stimme (cómputo) folgt. Nur letztere gilt als entscheidend. Obwohl auf Diskrepanzen hingewiesen und die vorläufige Auszählung gestoppt worden war, wurde Morales schließlich mit einem Vorsprung von 10 Prozent zum Sieger erklärt, wodurch die Notwendigkeit einer zweiten Runde vermieden werden konnte.

Sobald die rechte Opposition erkannte, dass ihre Niederlage unvermeidlich war, begann sie, den Vorwurf des Wahlbetrugs zu erheben. Aus Protest mobilisierte sie tumultartige Demonstrationen und riefen ihre AnhängerInnen auf, auf der Straße zu bleiben, bis ein zweiter Wahlgang zugestanden würde. Bald füllten riesige Gegendemonstrationen von MAS-AnhängerInnen die Straßen von La Paz und ein unbefristeter Generalstreik wurde ausgerufen. Angesichts der umstrittenen Auszählung und der kollidierenden Mobilisierungen gab die MAS-Regierung dem Druck nach und forderte eine externe Überprüfung der Wahl.

Die OAS erklärte am 23. Oktober, dass die beste Option die Durchführung der zweiten Runde sei. Auch die Europäische Union rief zu einer zweiten Runde auf. Am selben Tag erklärte Carlos Mesa, dass er die vom Obersten Wahlgericht (TSE) bekannt gegebenen Ergebnisse nicht anerkenne und kündigte die Bildung einer „Koordination zur Verteidigung der Demokratie“ an, um auf die Durchführung des zweiten Wahlgangs zu drängen.

Zuspitzung

Auf Grundlage der von der TSE veröffentlichten Ergebnisse versuchte Morales, die immer radikaler werdenden Bewegungen der Straße zu überstehen. Doch die Polizei, aber auch Teile der Streitkräfte sowie rassistische und rechte, fundamentalistische Kräfte schlossen sich den PutschistInnen an. Ihre Straßenaktionen wurden immer gewalttätiger, wobei auch PolitikerInnen und ihre Angehörigen, die mit Evo in Verbindung standen, entführt wurden. Dutzende von Menschen wurden in diesen Tagen getötet und verwundet.

Wir kommen nicht umhin, auch auf die skandalöse Tatsache hinzuweisen, dass der Central Obrera Boliviana (COB; Dachverband der bolivianischen Gewerkschaften) den Putsch zunächst unterstützte. Am 10. November „trat“ Morales angesichts der Konfrontationen auf den Straßen und einer Meuterei von Polizei und Streitkräften von der Präsidentschaft zurück und floh mit seinem Vizepräsidenten Álvaro García Linera außer Landes. Morales prangerte den Putsch aus seinem politischen Asyl in Mexiko, Kuba und schließlich Argentinien an.

Am 12. November erklärte sich Jeanine Añes auf einer Sitzung des Kongresses, der verfassungsgemäß nicht beschlussfähig war, zur Interimspräsidentin und versprach, den Frieden im Land wiederherzustellen und so bald wie möglich Neuwahlen auszurufen. Der Staatsstreich war vollendet.

Linera, ein ehemaliger Führer der Guerillabewegung Túpaq Katari in den 1990er Jahren, war auch Theoretiker der Regierung Morales und Autor von „Soziologie sozialer Bewegungen in Bolivien“ (2005). In verschiedenen Artikeln hat er Gramscis „Stellungskrieg“, d. h. institutionelle Reformen, im Gegensatz zu einem „Manöverkrieg“, d. h. einer Revolution, benutzt, um zu argumentieren, dass der Aufbau eines „Andenkapitalismus“ eine notwendige Vorstufe sei, die Jahrzehnte dauern könne, bevor der Sozialismus eingeführt werden könne.

Wichtig waren die Kultur-, Bildungs- und Wohlfahrtsreformen der MAS, die Erklärung Boliviens als plurinationale Republik, die Gleichstellung der Wiphala mit der bolivianischen Trikolore, die Anerkennung der Aymara, Quechua und anderer indigener Sprachen und Kulturen des Landes. Das Versäumnis, das Land der Gemeinden vor Öl- und Gasunternehmen und Agrobusiness zu schützen, zerbrach jedoch das Bündnis, durch das die MAS an die Macht gekommen war. Gleichzeitig führte die Integration der indigenen Organisationen in die Regierungsinstitutionen zu ihrer Bürokratisierung und zur Entwicklung einer Elite, die Evo im entscheidenden Moment verließ.

Widerstand der Basis

Schließlich beschränkten sich die bolivianische Elite und ihre US-BeraterInnen nicht auf einen „Stellungskrieg“, sondern „manövrierten“ Morales und Linera erfolgreich ins Exil. Diese wiederum überließen ihre AnhängerInnen der zärtlichen Gnade der Generäle, PolizeichefInnen und FaschistInnen.

Während die einfachen Mitglieder der MAS und die Volksversammlungen in vielen Städten, insbesondere in El Alto, heldenhaft Widerstand leisteten und schwere Verluste erlitten, ließen die Flucht der MAS-Führer und der Rückzug der MAS-ParlamentarierInnen die Bewegung ohne zentrale Führung zurück. Dies war wirklich eine Schande. Von ihren heutigen NachfolgerInnen in einer künftigen Krise etwas Besseres zu erwarten, wäre der Gipfel der Torheit. Während der Wahl distanzierte sich Luis Arce wiederholt von Morales nach rechts und verfolgte als Wirtschaftsminister in dessen Regierung eine offen prokapitalistische Politik. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er seine Haltung geändert hat.

Der Widerstand hörte jedoch nicht auf, trotz der Repression durch rechtsextreme Banden, der Coronavirus-Pandemie und der wirtschaftlichen Verwerfungen des Landes. Im August, als der Oberste Gerichtshof die am 8. September fälligen Wahlen verzögerte, zeigte eine Welle von Streiks, Straßenblockaden und Demonstrationen der herrschenden Klasse, dass die ArbeiterInnen und die indigenen Massen die wiederholten Verschiebungen nicht tolerieren würden. Dieser Druck sowie die internen Konflikte der Regierung machten Wahlen im Oktober unvermeidlich. Es war also der Klassenkampf, der die Wiederherstellung der formalen Demokratie sicherte. Um sie Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es mehr demokratisch organisierter Massenmobilisierungen, für die Bolivien zu Recht berühmt ist.

Wohin treibt Bolivien?

Dieser Sieg stellt weit mehr als einen Wahlsieg für die PolitikerInnen der MAS dar. Vielmehr ist er das Ergebnis des Widerstands der ArbeiterInnenklasse und der indigenen Bevölkerung, der die fortschrittlichen Kräfte in ganz Lateinamerika ermutigen und stärken kann. Aber wir müssen uns immer daran erinnern, dass dies erst der Anfang dieser Bewegung ist und wir Sorge tragen müssen, damit sie nicht in einer Klassenversöhnung endet.

Nachdem der US-Imperialismus seine Vorherrschaft in Lateinamerika nach etwa einem Jahrzehnt des „Bolivarismus“ und „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ durch die Staatsstreiche in Paraguay, Ecuador, Brasilien und Bolivien wieder behauptet hat, wird der Sieg der MAS einen Widerstandskampf in diesen anderen Ländern fördern. Die bolivianischen Werktätigen zeigten, wie man gewinnen kann: durch Generalstreiks und andere Massenaktionen. Der Weg nach vorn führt über die Organisation und Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse, um revolutionäre Stürme auf dem gesamten amerikanischen Kontinent zu entfesseln.

Es ist jedoch klar, dass die Realität des Kapitalismus in der unterdrückten und ausgebeuteten halbkolonialen Welt nicht durch bürgerliche Wahlen geändert werden kann. Wir müssen eine andere Strategie für die ArbeiterInnenklasse finden, die über Reformismus und Wahlkampf populistischer Parteien wie der MAS hinausgeht. Während sie sich auf die ArbeiterInnen und die verarmten indigenen Gemeinschaften der Landlosen und Bauern/Bäuerinnen (Campesinos) verlassen, um Wahlen zu gewinnen, fallen sie, sobald sie an der Macht sind, in den Orbit des Imperialismus und versuchen, als lokale AgentInnen für den nordamerikanischen, europäischen oder, in jüngster Zeit, chinesischen Imperialismus zu agieren.

Es stimmt, Morales und Linera haben den streitenden externen Mächten Zugeständnisse abgerungen und waren in der Lage, bedeutende, wenn auch vorübergehende Reformen durchzuführen. Wie jedoch der Putsch von 2019 gezeigt hat, wird dieses Taktieren um einen größeren Anteil an den Gewinnen aus Lithium, Kohlenwasserstoffen usw. Putsche und Wirtschaftsblockaden, wie sie Venezuela und Kuba auferlegt wurden, nicht verhindern. Die Verbindung zwischen den arroganten MilliardärInnen, die versuchen, sich Boliviens wertvollsten Bodenschatz Lithium anzueignen, wurde deutlich, als Elon Musk, Milliardär und Eigentümer des Elektroautoherstellers Tesla, per Twitter auf Spekulationen über die Beteiligung der USA an dem Staatsstreich reagierte: „Wir werden putschen, wo wir wollen! Findet euch damit ab!“

Solidarität und Programm

Die ArbeiterInnenbewegung weltweit muss solche Eingriffe von außen anprangern und mit der Forderung kontern, dass die Souveränität Boliviens respektiert werden muss. In Bolivien müssen die politischen FührerInnen des Staatsstreichs von 2019 sowie die KommandeurInnen von Polizei und Streitkräften, die Menschen verhaftet, gefoltert und getötet haben, bestraft werden. Dies ist keine Rache, es ist Gerechtigkeit!

Auch hier wird die Intervention der Massen erforderlich sein, nicht bloße Dekrete von MinisterInnen oder Gesetze, die von Abgeordneten verabschiedet werden. Es wird Disziplinbrüche mit den „Gorillas“, die die einfachen SoldatInnen kommandieren, erfordern, mit demokratischen Rechten für letztere und bewaffneten Milizen für die Volksmassen. Kurz gesagt, das Land für Demokratie und für sozialistische Maßnahmen zur Befriedigung der Bedürfnisse der Massen bereit zu machen, bedeutet, den Repressionsapparat, den Staat der GrundbesitzerInnen und der kapitalistischen Elite zu zerschlagen.

Bolivien muss auch das Recht haben, alle internationalen, für seine Bevölkerung schädlichen Vereinbarungen zu überprüfen, die während der Putschregierung getroffen wurden, welche keine Legitimität hatte, sie abzuschließen. Der Ausverkauf seines Reichtums, insbesondere von Gas und Lithium, muss rückgängig gemacht werden. Die indigenen Völker müssen auch für die Verluste, die ihnen während des Staatsstreichs von Präsidentin Jeanine Áñez entstanden sind, entschädigt werden.

Schließlich muss die bolivianische Bevölkerung weiterhin mobilisiert und organisiert bleiben, um möglichen Reaktionen der rechten PutschistInnen, unterstützt vom Imperialismus, und sogar möglichen Rückzügen der MAS-Regierung entgegenzutreten, die zu der bekannten Klassenversöhnung führen könnten.

Boliviens ArbeiterInnen und arme Bauern/Bäuerinnen müssen eine internationalistische revolutionäre Partei mit einem Programm zum Sturz des Kapitalismus aufbauen. Eine Partei, die die ArbeiterInnenklasse organisiert und den revolutionären Prozess befördert, der sie von der kapitalistischen Sklaverei befreit und sie zur Macht eines neuen Staates, eines sozialistischen Staates, führt.

Die ArbeiterInnenklasse in ganz Lateinamerika spürt die stärkenden Winde, die aus Bolivien und Chile wehen. Dies zeigt auch die dringende Notwendigkeit einer internationalen Organisation, die sie mit den ArbeiterInnen Nordamerikas, Europas und auch Chinas verbindet. Gemeinsam können wir uns von den imperialistischen Mächten und ihren AgentInnen, den korrupten und diktatorischen lokalen Eliten befreien. Deshalb müssen wir den Aufbau einer Fünften Internationale und revolutionärer Parteien in jedem Land auf die Tagesordnung setzen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Programme muss die Schaffung der Vereinigten Sozialistischen Republiken Lateinamerikas sein.




Joe Biden 2020 – Der Anti-Populist

Marcus Otono, Infomail 1099, 11. April 2020

Es ist eine ziemlich einfache Analyse. In Zeiten populistischen Eifers, der durch eine Krise des Kapitalismus hervorgerufen wurde, zeigt die Geschichte, dass PopulistInnen bei Wahlen besser abschneiden als die KandidatInnen des Establishments. Kürzlich zeigte sich dies an der Niederlage Clintons gegen Trump im Jahr 2016 und noch eher durch die anhaltende Popularität von Bernie Sanders und sogar Michael Bloomberg sowie durch die anhaltend solide Basis der Unterstützung für Trump. Die Gemeinsamkeit zwischen den dreien besteht darin, dass keiner von ihnen eng mit dem „Washingtoner Konsens“ von DemokratInnen und RepublikanerInnen verbunden ist, der von Reagan bis zur Großen Rezession unangefochten über die Wirtschaft herrschte.

In den Vereinigten Staaten haben die Große Rezession, die anhaltende jahrzehntelange Stagnation und das geringe Wachstum der langen Depression die Rahmenbedingungen für die Wahlen verändert und alternativen Ansichten über Politik und Wirtschaft mehr Gehör verschafft. Und da die Ansicht des Establishments seit der Großen Rezession absolut keine Anzeichen für eine Verbesserung des Zustands der Massen gezeigt hatte, ist es kein Wunder, dass diese bei den Massen an Unterstützung verloren hat. In Zeiten wie diesen wird das politische „Zentrum“ ausgehöhlt und die Pole wachsen.

Kurz, man wird wahrscheinlich keinen populistischen Kandidaten wie Trump mit einem des Establishments wie Joe Biden, Jr. schlagen.

Die DemokratInnen intensivieren das Establishment

Aber diese Tatsache der Geschichte scheint im Denken des Establishments der Demokratischen Partei im Jahr 2020 keine große Spur hinterlassen zu haben. Selbst nach der Niederlage von Hillary Clinton gegen Trump – einen rechtspopulistischen, aufständischen Kandidaten und Clintons bevorzugten Gegner, möchte man Berichten glauben – haben die Spitzen der Partei alles, vom Rassismus bis hin zu Russland, für Clintons Niederlage verantwortlich gemacht. Alles, bis auf den Bankrott ihrer Politik, die sich auf die „Normalität“ einer neoliberalen Agenda der Unterstützung von Banken und Finanzkapital und Großunternehmen stützte, aber Kürzungen für den Rest von uns vorsah. Trotz eines sehr marktschreierischen Versprechens nach den Wahlen 2016, alles zu überprüfen, was zu ihrer Niederlage beigetragen hat, hat die Parteiführung alles überprüft, nur nicht ihre Politik – und die Kandidatin selbst. Trotz ihres berühmten Kontrasts zu „Make America Great Again“ ist „America is Already Great“ nicht etwas, was ein bedeutender Teil der wahlberechtigten Bevölkerung tatsächlich glaubte.

Was uns zu Joe Biden bringt. Biden ging in die Vorwahlsaison für die Präsidentschaftswahlen 2020, als er als die sichere Wahl auf der Plattform der DemokratInnen galt. Er hatte alles, was sich das Establishment der DemokratInnen nur wünschen konnte. Er war 30 Jahre lang Insider in Washington und kam aus dem Bundesstaat Delaware, der Heimat leicht regulierter Banken. Er hatte Zugang zu wohlhabenden SpenderInnen, die entweder gegen die Politik oder gegen die Optik von Donald Trump waren. Er hatte den Bekanntheitsgrad, der sich aus seiner 30-jährigen politischen Karriere als US-Vertreter und Senator ergab. Und als Vizepräsident unter Barack Obama, dem letzten Demokraten, der im Weißen Haus saß, hatte er in jüngster Zeit großen Einfluss innerhalb der Partei. Ähnlich wie auf Hillary Rodham Clinton (HRC) im Jahr 2016 bot jedeR auf Biden, um die Konkurrenz bei der Nominierung in Milwaukee im Juli 2020 zu überbieten.

Natürlich stand er auch für die gleiche Politik wie Obama und Clinton ein, eine Politik, die die Banken und Großunternehmen aus den Tiefen der Rezession in ungehemmte Höhen des Wohlstands geführt hatte, die aber für den Rest von uns zu Stagnation oder Schlimmerem geführt hatte. Und im Gegensatz zu Clinton erfuhr er ernsthaftere Konkurrenz von Bernie Sanders und Elizabeth Warren zu seiner Linken, zusammen mit einer Menge anderer unbedeutenderer Namen, die nach der Zentrumsnische der Demokratischen Partei strebten.

Biden hatte zuvor schon für das Präsidentenamt kandidiert, zuletzt gegen Obama 2008. Er blickte auch auf eine Geschichte von Fauxpas während der Wahlkampagne und seiner Amtszeit zurück, zusammen mit dem Ruf, nicht nur ein neoliberaler Zentrumsanhänger, sondern auch ein rechter oder „Blue Dog“-Demokrat wie in Gestalt von Bill Clinton zu sein. Kurz gesagt, sein Ruf war der eines „gemäßigten“ Republikaners, der sich in der Reagan-Regierung bestens zu Hause gefühlt hätte. Und mit 77 Jahren gab es einige Bedenken hinsichtlich seines Alters und seiner geistigen Fähigkeiten. In den meisten Fällen war es jedoch die Optik seiner Kampagne, die die anderen ZentrumsdemokratInnen im Rennen hielt, und nicht irgendeine Meinungsverschiedenheit über seine Politik. Biden sah aus, als würde er ins Wanken geraten, und dieser Anschein von Schwäche schien die Tür dafür zu öffnen, dass jemand anderes den Mantel eines/r VerfechterIn des demokratischen Establishments aus der Mitte anziehen konnte.

2020 und Biden – South Carolina und der Superdienstag

Die große Neuigkeit in der Anfangsphase der demokratischen Vorwahlen war die Führung, die Bernie Sanders in den Nachbarschaftsversammlungen in Iowa und Nevada (dortige Formen der Vorwahlen) und in der Vorwahl in New Hampshire errungen hatte. Genauso klar schien es, dass Biden es nicht geschafft hat, die Vorstellungskraft der WählerInnen in der Anfangsphase der Vorwahlen einzufangen wie es klar schien, dass Sanders dies geschafft hat.

Dann kam South Carolina hinzu. Biden gewann den Bundesstaat mühelos, da er sich auf die Unterstützung einer konservativeren WählerInnenschaft im Süden und afroamerikanische WählerInnen verließ, die auch landesweit als konservativer angesehen wurden als ihresgleichen auf Bundesebene. Der Sieg, obwohl von den meisten erwartet, gab der schwächelnden Kampagne etwas von ihrem Glanz zurück und führte dazu, dass zwei seiner HauptkonkurrentInnen für die Nominierung aus der Mitte der Partei aus dem Rennen ausschieden. Pete Buttigieg und Amy Klobuchar unterstützten beide Biden kurz nach ihrem Rücktritt, zusammen mit einem anderen ehemaligen Kandidaten der Mitte, Beto O’Rourke aus Texas. Diese Befürwortungen und die daraus resultierende Presse, die diese Nachricht um sich scharte, hatten den gewünschten Effekt für den etablierten Flügel der Partei und sorgten für einen Schwung, zu einem späten Anstieg der Unterstützung für Biden, der zu den Vorwahlen am Superdienstag führte. Von 14 Vorwahlen, die am 3. März stattfanden, gewann Biden 10, Sanders 3, und Bloomberg gewann knapp  in Amerikanisch-Samoa.

Der größte Teil der Umfragen am Vorabend der Vorwahlen deutete auf diese späte Verschiebung der Dynamik hin. Die WählerInnen entschieden sich erst spät im Prozess, und diese späten EntscheiderInnen votierten mit überwältigender Mehrheit für Biden, vor allem in den Südstaaten. Biden gewann auch die Frage der „Wählbarkeit“ gegen Trump, wobei die Hälfte der befragten befragten WählerInnen sagte, dass er der beste Kandidat sei, um Trump zu schlagen. Nur 20 % sagten dies über Sanders. Für die DemokratInnen gibt es jedoch noch nörgelnde Fragen zu Bidens Sieg. Die Mehrheit der gewonnenen Delegierten kam aus den Südstaaten, von denen erwartet wird, dass sie bei den allgemeinen Präsidentschaftswahlen mit überwältigender Mehrheit für Trump stimmen werden. Sanders gewann zwar in Utah und Kalifornien, wobei in Kalifornien fast doppelt so viele Delegierte auf dem Spiel standen wie in jedem anderen Bundesstaat, sowie in seinem Heimatstaat Vermont. Das Negative für Sanders ist, dass Biden zwei Bundesstaaten, in denen man hätte erwarten können, dass ersterer konkurrenzfähig ist – Minnesota und Massachusetts – ebenfalls klar gewann.

Und schließlich schied später in der Woche nach den Vorwahlen am Dienstag auch die einzige andere „linke“ Kandidatin der Demokratischen Partei, Elizabeth Warren, aus dem Rennen aus. Im Gegensatz zu Buttigieg und Klobuchar unterstützte Warren jedoch niemanden. Für einige mag dies angesichts ihrer vermeintlichen ideologischen Verwandtschaft mit Bernie Sanders eine Überraschung gewesen sein, aber in Wirklichkeit ist Warren eine zuverlässige liberale, kapitalistische und etablierte Demokratin. Es ist nicht so, dass Bernie sich so sehr von Warren unterscheidet, aber er steht in den meisten Fragen links von ihr, und soweit die herrschende Elite glaubt, spielt er bei seiner und der populistischen Botschaft seiner AnhängerInnen mit dem Feuer. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, ob sie ihre Unterstützung in der Hoffnung auf weiteren Einfluss sowohl innerhalb der Parteihierarchie als auch in einer möglichen neuen demokratischen Regierung zurückhält. Vielleicht war der Klang von „Vizepräsidentin Warren“ nach ihrem gescheiterten Präsidentschaftswahlkampf in ihren Ohren erfreulich.

So hat sich das lange demokratische Vorwahlkampfrennen innerhalb einer Woche auf zwei KandidatInnen reduziert, wobei alle anderen AnwärterInnen ausgeschieden sind. Bis vor kurzem, bis zu Sanders‘ Niederlage in Wisconsin am 8. April hieß es noch: Bernie gegen Joe, der Populist gegen das Establishment. Das bedeutete schon vor Sanders‘ Aufgabe, dass Joe Biden der wahrscheinliche Kandidat war. Wenn kein Wunder oder ein Fauxpas von Joe Biden geschehen wäre, wäre er wieder der Kandidat mit den besten Chancen für die Nominierung. Und er wäre mit Sicherheit die Wahl der Superdelegierten, wenn keiner von beiden die Mehrheit der Delegierten in den kommenden Vorwahlen gewonnen hätte. Aber er ist schließlich Joe Biden, ein mit Fehlern behafteter Kandidat, der bereits einmal den Status des Spitzenreiters verloren hat und ihn leicht hätte wieder verlieren könnte. Und das noch bevor er gegen Trump kandidiert, mit allem, was das mit sich bringt. Erwarten Sie, dass „Ukraine“ im November ein Schlagwort sein wird, wenn es bei den Parlamentswahlen Trump gegen Biden heißt.

Populist gegen Anti-Populist

Die jüngsten Umfragen zeigen, dass Joe Biden Trump schlagen kann. Natürlich sind es noch neun Monate bis zur Wahl, und frühere Umfragen zeigten auch, dass Sanders Trump hätte schlagen können. Sogar Warren und Bloomberg haben in dieser frühen Phase gute Umfrageergebnisse gegen Trump erzielt. Und nicht zu vergessen, dass Clinton in den Umfragen vor der Wahl 2016 ebenfalls vorne lag. Schließlich ist bemerkenswert, wie wir in den letzten 20 Jahren zweimal gesehen haben, dass es, sofern es sich nicht um einen Erdrutsch handelt, nicht so sehr darauf ankommt, wer bei den eigentlich abgegebenen Stimmen vorne liegt, als vielmehr darauf, wer bei der Anzahl der „Wahlmänner/-frauen“ vorne liegt.

Die Zunahme des Populismus auf der rechten und linken Seite hat die etablierten DemokratInnen in eine Zwickmühle gebracht. Die DemokratInnen füllen ihre Rolle in der bürgerlichen Politik als eine „Kompromisspartei“ in der Mitte  aus, die mit dem Rechtspopulismus einen Kompromiss schließt und den Linkspopulismus kooptiert. Aber der Aufstieg von Trump und seine rassistischen und frauenfeindlichen Einstellungen, die für seine weiße Basis eine Rolle spielen, haben ihn auf das Gebiet des bonapartistischen Autoritarismus und sogar des Proto-Faschismus bugsiert. Die DemokratInnen könnten und würden leicht mit vielen von Trumps wirtschaftlichen Positionen Kompromisse eingehen, aber das würde ihre Basis verraten und Probleme mit ihr verursachen, besonders in den afroamerikanischen Gemeinden. Trump hat den Kompass in sozialen, rassischen und geschlechtsspezifischen Fragen so weit nach rechts gerückt, dass jeder Kompromiss mit ihm in irgendeiner Hinsicht für die meisten Mitglieder der demokratischen Basis problematisch ist. Die Führung sucht verzweifelt nach einer Rückkehr zur „Normalität“, die vor der Großen Rezession mehr als drei Jahrzehnte lang herrschte, und hofft darauf. Aber es ist eine Normalität, die keine Anzeichen für eine baldige Rückkehr erkennen lässt. Und es gibt keine Chance, dass der Anstieg des Populismus, der eine Folge der kapitalistischen Krise ist, abklingt, solange die wirtschaftliche Stagnation für den Rest von uns anhält.

Die Wahlen im Jahr 2020, sowohl die Vorwahlen als auch die Präsidentschaftswahlen, werden wie immer auf die Wahl zwischen aggressiven bürgerlichen Populismus und „etablierte“ bürgerliche Politik hinauslaufen. Das demokratische Establishment wettet darauf, dass die althergebrachte Politik Trump bei den Parlamentswahlen schlagen kann, wobei aber die Niederlage von Hillary Clinton im Jahr 2016 gezeigt hat, dass dies keine sichere Sache ist. Sie wetteten auch darauf, dass eine entsprechende Parteikonventregie mit einer Mehrheit der Superdelegierten, die selbst das Establishment sind und über die Kandidatur entscheiden, nicht dazu geführt hätte, dass die LinkspopulistInnen, die Bernie Sanders unterstützten, die Hauptwahl in den Teich setzten, was ebenfalls zur Wiederwahl von Trump geführt hätte. Aber es war schon vor dem 8. April offensichtlich, dass ihnen die Wiederwahl von Trump schmackhafter war als die Nominierung eines Linkspopulisten wie Sanders.

Die Wahrheit ist, dass niemand, der in den USA ins Amt gewählt wird, viel dazu beitragen kann, die dem Kapitalismus in der Krise zugrunde liegende Dynamik zu verändern. Die Stagnationskrise und der gesunkene Lebensstandard für den Großteil der US-BürgerInnen bleiben auf absehbare Zeit ein Merkmal und kein Fehler des Systems. Wahlpolitik in Zeiten wie diesen ist wie ein Mullverband auf einer offenen Brustwunde. Jegliche Reformen, auch die Vorstellungen von Sanders, werden schwer durchzusetzen und unzulänglich sein, wenn sie in Kraft treten. Die einzige wirkliche Hoffnung liegt in einer bewussten und militanten ArbeiterInnenklasse, die mit allen Mitteln für das kämpft, was nötig ist.

Joe Biden, Donald Trump, Elizabeth Warren, Mike Bloomberg und, ja, sogar Bernie Sanders, werden nicht annähernd in der Lage sein, die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Das wird an uns liegen. Wir können nur hoffen, dass wir den Willen haben, dies zu tun.




Spanien: Hält die Verbindung der SozialistInnen mit den PopulistInnen?

Dave Stockton, Infomail 1078, 25. November 2019

Die
Parlamentswahlen vom 10. November, die zweiten in diesem Jahr und die vierten
seit 2015, haben wieder einmal ein instabiles Parlament ohne absolute Mehrheit
für eine Partei hervorgebracht. Sie markierten auch einen Rechtsruck, so wie
bei den Wahlen im April ein Linksruck stattgefunden hatte. Dies ist
unvermeidlich, wenn die reformistischen Parteien der Linken ein Ergebnis
verplempern und ihre opportunistische Linie, sowohl politisch als auch
wirtschaftlich, fortsetzen.

Katalonien und
die Forderung der EU nach anhaltender Sparpolitik werden über einem neuen
Ministerium wie ein Damoklesschwert hängen. Unterdessen sollte der Aufstieg der
extremen Rechten, in Form von Santiago Abascals Vox, die immer noch mächtigen
linken Kräfte im spanischen Staat anspornen, aufzustehen und zu erkennen, dass
direkte Massenaktionen, der Klassenkampf auf den Straßen und an den
Arbeitsplätzen, der einzige Weg sind, eine Katastrophe zu vermeiden.

Pedro Sánchez‘
Sozialistische Partei PSOE ist mit 120 Sitzen immer noch die größte Partei im
Kongress und hat beschlossen, eine Koalition mit Pablo Iglesias‘ Unidas
Podemos, UP, zu bilden, obwohl Sánchez dies seit den Wahlen im April vermieden
hatte. Jetzt, da die PSOE jedoch 3 Sitze und UP 7 verloren und Vox ihre Sitze
mehr als verdoppelt hat, von 24 auf 52, sieht Sánchez keine Alternative.

Aber auch
gemeinsam wissen die beiden Parteien nur 155 Mitglieder des Kongresses hinter
sich, und 176 Sitze werden für eine absolute Mehrheit benötigt. Darüber hinaus
verfügt die PSOE über einen bedeutenden rechten Flügel, der die Idee einer
Verbindung mit Podemos verabscheut und sich ein Bündnis mit Parteien der
Rechten oder rechten Mitte wie Ciudadanos (BürgerInnen) gewünscht hätte. Diese
Option verflüchtigte sich mit dem Zusammenbruch von Ciudadanos von 57 auf nur
10 Sitze. Ihr Führer und Gründer, Albert Rivera, legte nicht nur seine Parteimitgliedschaft,
sondern auch seinen Sitz im Parlament nieder, um ins Privatleben
zurückzukehren.

Eine Ehe im
Himmel … oder in der Hölle?

Die
theatralische Umarmung, mit der Sánchez und Iglesias ihren Regierungspakt feierten,
war offensichtlich von Iglesias’ Seite her herzlicher. Gegen den Widerstand
sowohl von Sánchez als auch von der antikapitalistischen Linken in Podemos
hatte er sich für einen Vorwahlpakt mit der PSOE eingesetzt. Jetzt ist klar,
dass er bereit ist, mit der PSOE den ganzen Weg zu gehen.

„Sánchez weiß,
dass er auf unsere absolute Loyalität zählen kann. Es ist an der Zeit, alle Kritikpunkte
hinter sich zu lassen … und Seite an Seite an der historischen und spannenden
Aufgabe zu arbeiten, die vor uns liegt.“ Seine Ausrede für das Abstreifen der
früheren ätzenden Kritik von Podemos war, dass eine von PSOE und Podemos
geführte Regierung „der beste Impfstoff gegen die extreme Rechte“ sein würde.

Der hohe Preis,
der gezahlt werden müsste, um Vizepremier zu werden, war im September klar.
Damals sagte Iglesias, wenn der Oberste Gerichtshof eine schwere Strafe gegen
die katalanischen UnabhängigkeitsführerInnen verhängen würde: „Offensichtlich
haben wir bereits gesagt, dass wir, obwohl wir eine Position des Dialogs
bezogen, das Gesetz und die Führungsposition der PSOE akzeptieren werden“.

Kein Wunder,
dass Sánchez nach ihrer Umarmung sagte: „Danke für die Großzügigkeit.“

Beide Führer
läuteten die Bedeutungsveränderungen für das Wort „progressiv“ ein. Sánchez
betonte: „Es wird in jedem Fall eine progressive Regierung sein. Eine
progressive Regierung, die aus fortschrittlichen Kräften besteht, die sich für
den Fortschritt einsetzen werden.“

Iglesias
seinerseits schwärmte: „Ich freue mich, heute zusammen mit Pedro Sánchez
bekanntzugeben, dass wir eine vorläufige Einigung über die Bildung einer
fortschrittlichen Koalitionsregierung erzielt haben, die die Erfahrung der PSOE
mit dem Mut von Unidas Podemos verbindet“.

Doch selbst dann
wird diese Koalition im 350-sitzigen Kongress, der unteren Kammer der Cortes,
des spanischen Zweikammernsystems, keine Mehrheit finden.

Sowohl die
SozialistInnen als auch Podemos wurden durch die Wahl tatsächlich geschwächt.
Die Partei von Iglesias litt unter der Konkurrenz durch ihren Mitbegründer und
Hauptideologen Íñigo Errejón. Seine Partei Más País, (Mehr Land), die
Podemos-IU bereits bei den Madrider Stadtwahlen im Mai niedergedrückt hatte,
gewann im November drei Sitze. Errejón begrüßte auch den Koalitionsvertrag und
sagte, seine drei Abgeordneten würden für die Amtseinsetzung von Pedro Sánchez
im Kongress stimmen.

Tatsächlich war
die Seifenblase der linken PopulistInnen, die Idee, dass sie sowohl die PSOE
als auch die rechte Partido Popular, PP, die Parteien von la Casta, die Kaste,
wie sie das korrupte politische Establishment nannten, hinwegfegen könnten,
längst zerplatzt. In den vergangenen sechs Monaten hatte Sánchez Iglesias‘
Aufruf zur Bildung einer Koalition abgelehnt und gesagt, dass ihm der bloße
Gedanke Alpträume bescherte. Alptraum für den einen – ist ein Traum für den
anderen wahr geworden? Wir werden es in den kommenden Monaten sehen.

Katalonien, das
größte Hindernis

In ihrer Koalitionsvereinbarung
erklären die beiden linken Parteien: „Die spanische Regierung wird der
Gewährleistung des sozialen Friedens in Katalonien und der Normalisierung des
politischen Lebens Priorität einräumen. Zu diesem Zweck wird sie den Dialog in
Katalonien organisieren und nach Formulierungen suchen, die zu einem
gemeinsamen Verständnis und zur Versöhnung führen, immer im Rahmen der
Verfassung.“

Die gemeinsamen
Versprechen von Dialog und Gehorsam gegenüber der Verfassung stehen im
Mittelpunkt der widersprüchlichen Lage, der sich die RegierungspartnerInnen
gegenübersehen.

Um seine
Amtseinführung sicherzustellen und eine Regierung zu bilden, braucht Sánchez
die Unterstützung der regionalen nationalistischen Parteien. Die Baskische
Nationalpartei hat 6 Sitze und die EH Bildu, Baskenland versammelt, fünf.
Selbst mit ihrer Unterstützung reicht dies nicht aus, um eine stabile Regierung
zu bilden. Sánchez braucht die KatalanInnen oder zumindest die größten ihrer
Gruppen. Hier stellt reaktionäre Tradition der PSOE, die Partido Popular und
die Verfolgung und Unterdrückung der Unabhängigkeitsparteien, die nun 23 Sitze
im Kongress einnehmen, durch den Obersten Gerichtshof zu unterstützen, die
Partei vor ein Dilemma.

In Katalonien
gibt es die beiden wichtigsten nationalistischen Parteien, die Esquerra
Republicana, Republikanische Linke von Katalonien-Souveränität, ERC-S, mit 13
Sitzen und Junts pro Katalonien, Gemeinsam für Katalonien, JxCat, mit 8. Die
Esquerra möchte eindeutig eine PSOE-U-Podemos-Regierung unterstützen, hat aber
unter dem Druck von JxCat die Bedingung gestellt, dass die Koalition eine
moderierte Diskussion mit den katalanischen Parteien auf die Tagesordnung
setzt. Sánchez hat es oft abgelehnt, dass die Selbstbestimmung auf der
Tagesordnung steht. Darüber hinaus führt Esquerra eine Abstimmung ihrer
Mitglieder zu diesem Thema durch, und die linke CUP mit zwei Sitzen will eine
einheitliche Front, um jegliche Verhandlungen mit Sánchez abzulehnen.

Zur Zeit sind
weder die PSOE noch die U-Podemos bereit, den Zorn des Obersten Gerichtshofs
oder ihres eigenen rechten Flügel zu riskieren, indem sie den KatalanInnen
etwas Wesentliches anbieten. Selbst wenn sie es täten, würde die reaktionäre Justiz
des spanischen Staates schnell eingreifen und dies für verfassungswidrig
erklären.

Carles
Puigdemont, ehemaliger Präsident der Katalanischen Generalitat (Gesamtheit der
politischen Selbstverwaltungsinstitutionen), bleibt im Exil, weil die Madrider
Gerichte versuchen, ihn nach Spanien ausliefern zu lassen. Am 14. Oktober
verurteilte der Oberste Gerichtshof von Madrid neun der für das Unabhängigkeitsreferendum
verantwortlichen AnführerInnen und von Madrid im Oktober 2017 abgesetzten
MinisterInnen zu Gefängnisstrafen von 9 bis 13 Jahren.

Dazu gehören der
Vizepräsident Oriol Junqueras, Außenminister Raül Romeva und Innenminister
Joaquim Forn. Zu ähnlichen Strafsätzen verurteilt wurden auch Carme Forcadell,
Präsidentin des katalanischen Parlaments und die „zwei Jordis“, Jordi Sànchez
von der katalanischen Nationalversammlung und Jordi Cuixart von Òmnium
Cultural, deren Organisationen für die Massendemonstrationen und Streiks um das
Referendum verantwortlich gemacht wurden.

Die Verkündigung
dieser Urteile führte zu dreiwöchigen Massenprotesten mit gewalttätigen
Zusammenstößen zwischen Polizei und jungen DemonstrantInnen, die in den größten
Städten Kataloniens Barrikaden errichteten. Ein Generalstreik brachte eine
halbe Million Menschen auf die Straßen von Barcelona. Die Polizei feuerte
Gummigeschosse ab und setzte Gaskanister und Wasserwerfer ein. Dutzende wurden
verhaftet und verletzt.

Der derzeitige
Präsident der Generalitat, Quim Torra, verurteilte die Gewalt der
DemonstrantInnen und forderte deren Einstellung. Pedro Sánchez weigerte sich
jedoch, mit Torra zu sprechen, und behauptete, dessen Verurteilung sei nicht
eindeutig genug. Damit setzte die PSOE ihre Linie fort, die polizeiliche
Repression zu unterstützen und sich zu weigern, mit den katalanischen AnführerInnen
zu verhandeln, wenn sie nicht auf die Hauptforderungen ihrer AnhängerInnen
verzichteten.

Der Oberste
Gerichtshof erhöhte den Druck und rief Torra auf, am 18. November wegen
„Ungehorsams“ vor ihm zu erscheinen, nämlich wegen seiner Langsamkeit, gelbe
Bänder von öffentlichen Gebäuden zu entfernen, die Symbole der Solidarität mit
den inhaftierten AnführerInnen der Unabhängigkeitsbewegung sind. Die
RichterInnen konnten ihn verurteilen, damit er entlassen und vom Amt
ausgeschlossen wird.

Auch wenn die
bürgerlichen katalanischen NationalistInnen es verabscheuen würden, den Weg zu
einer rechten Koalition zu öffnen oder eine große Koalition aus PSOE und PPS zu
sehen, könnten sie die Regierung kaum lange unterstützen, da ihre AnführerInnen
im Gefängnis schmachten und die von Diktator Franco geschaffene Militärpolizei
Guardia Civil regelmäßig auf DemonstrantInnen auf den Straßen von Barcelona,
Girona, Lleida (Lérida) und Tarragona losging.

Andererseits ist
es sicher, dass der mächtige rechte Flügel der PSOE, wenn Sánchez versucht, sie
zu begnadigen, geschweige denn dem Antrag auf ein legales Referendum über die
Selbstbestimmung stattzugeben, sich auflehnen würde, um es zu verhindern. Ganz
zu schweigen von den Eingriffen des Obersten Gerichtshofs und von König Felipe
VI., der in der Verfassung die „unauflösliche Einheit und Beständigkeit“ des
spanischen Staates verkörpert. Es gäbe auch die „Kleinigkeit“ der
Massenmobilisierungen durch Vox und die extreme Rechte.

Die
Vox-Mitglieder sind offene BewunderInnen von Franco und seiner blutigen
Unterdrückung, beschuldigen muslimische Migranten, hinter einer Welle von
Bandenvergewaltigungen in Südspanien zu stecken, wollen alle sezessionistischen
Parteien ächten, die Autonomieregierung für Katalonien beenden und die
Todesstrafe für Verrat, einschließlich des Strebens nach Unabhängigkeit,
wiederherstellen. Der Aufstieg von Vox ist die spanische Version der
rechtspopulistischen Welle in Polen, Italien, Frankreich, Ungarn, Deutschland
und natürlich in Brexit-Großbritannien.

Kampf gegen die
Sparpolitik

Seit der Großen
Rezession 2008 und der Staatsschuldenkrise ist Spanien wie andere
Mittelmeerstaaten der Europäischen Union zu massiven Einschnitten bei den
Sozialausgaben gezwungen und litt unter einer strafenden Arbeitslosigkeit, die
2013 auf einen Höchstwert von 26,95 Prozent stieg und bei der die
Jugendarbeitslosigkeit 50 Prozent erreichte. Eine große Zahl junger
SpanierInnen ist auf der Suche nach Arbeit in andere EU-Länder gegangen. Erst
2017 erreichte das spanische Bruttoinlandsprodukt das Niveau vor 2008, jedoch
scheint sich das Wachstum nun wieder zu verlangsamen.

Die Vereinbarung
zwischen der PSOE und U-Podemos verpflichtet eine neue Regierung, an einer
„ausgeglichenen Haushaltspolitik“ festzuhalten, bei der neue Sozialprogramme
aus höheren Einnahmen bezahlt werden müssen. Das Wahlmanifest von Podemos hatte
umfangreiche Regierungshaushalte zugesagt, um ein Jahrzehnt wilder Sparpolitik
umzukehren. Da Brüssel eine strenge Finanzpolitik forderte und Spanien nach
fünf Jahren der Erholung eine wirtschaftliche Verlangsamung erfuhr, bestand
Sánchez darauf, in Gestalt der stellvertretenden Wirtschaftsministerin Nadia
Calviño, einer ehemaligen hochrangigen Beamtin der Europäischen Kommission, die
Geschicke in „sichere Hände“ zu übergeben, wie es die EU wünschte.

Ein weiteres
Dilemma ist die Forderung der beiden größten spanischen Gewerkschaftsverbände,
der Comisiones Obreras, CCOO, ArbeiterInnenkommissionen, und der Unión General
de Trabajadores, UGT, der Allgemeinen ArbeiterInnenunion, nach der Aufhebung
der Arbeitsreform 2012 von PP-Premier Mariano Rajoy, die den Weg zu einem
weiteren Rückgang der Reallöhne und unsicheren Teilzeit- und
Zeitarbeitsverträgen für ArbeiterInnen, insbesondere für Jugendliche, ebnete.
Vor allem auf dieser Basis ist die Arbeitslosigkeit auf rund 15 Prozent
gesunken.

Es bedarf einer
massiven Mobilisierung der ArbeiterInnen, um eine Koalitionsregierung zu
zwingen, den Forderungen der ArbeiterInnenschaft nachzukommen.

Für das Recht
auf Selbstbestimmung

Das derzeit
brennendste demokratische Recht ist das Recht der KatalanInnen auf
Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf ein Referendum, das die
Möglichkeit beinhaltet, sich vom spanischen Staat zu trennen. Bisher zeigen
Meinungsumfragen, dass die Mehrheit der katalanischen BürgerInnen trotz oder
wegen der Repressionen aus Madrid dies nicht wünscht. Nur eine freie
Abstimmung, bei der beide Seiten ohne Unterdrückung ihre Sache verfechten
können, könnte dies entscheiden. Zu diesem Zweck sollten die Guardia Civil und
alle „spanischen“ Polizeikräfte zurückgezogen und ein gleichberechtigter Zugang
zu den Medien gewährleistet werden.

Es ist ein
Skandal, dass die PSOE den Obersten Gerichtshof und das bestehende verfassungsmäßige
Verbot der katalanischen Selbstbestimmung unterstützt, und offenbart, wie weit
von der Demokratie, geschweige denn vom Sozialismus entfernt die Partei ist und
wie wenig sie das Vertrauen der ArbeiterInnen verdient, dass die Partei sie gegen
die sozialen und wirtschaftlichen Angriffe des Großkapitals verteidigen wird.
Obwohl Podemos die Definition Spaniens als plurinationalen Staat, die
verfassungsmäßige Definition Kataloniens als Nation und das Recht auf ein
Unabhängigkeitsreferendum unterstützt, behaupten die PopulistInnen ausweichend,
dass dies nur beratend der Fall sein sollte.

Dennoch sollten
RevolutionärInnen sich nicht für die Abspaltung der autonomen Region einsetzen,
es sei denn, eine Mehrheit hat ihren Willen dazu bekundet. Katalonien, als der
am weitesten entwickelte Teil des spanischen Staates, ist keine wirtschaftlich
ausgebeutete Kolonie oder Halbkolonie. Die NationalistInnen, die sich darüber
beklagen, dass die Steuern der Region den unterentwickelten Teilen des
spanischen Staates zugutekommen, zeigen lediglich ihren Appetit, ihre eigene
Kapitalakkumulation zu maximieren.

Der Hauptgrund
für die Ablehnung der Unabhängigkeit besteht darin, dass sie die Einheit der
ArbeiterInnenklasse auf der gesamten Halbinsel und sogar in Katalonien selbst
schwächen würde, wo eine Mehrheit in soliden ArbeiterInnenklassengebieten gegen
eine Trennung ist. Nicht zuletzt wird es den Kampf gegen die Überreste des
Francoismus und des spanischen Imperialismus schwächen.

Neben der
nationalen Frage beinhaltet der Kampf für Demokratie die Notwendigkeit, das
gesamte schmutzige Erbe der Franco-Diktatur zu beseitigen, das 1978 von den
reformistischen Parteien im Moncloa-Pakt akzeptiert und in die Verfassung
eingebettet wurde, einschließlich der Monarchie, des Senats und des Obersten
Gerichtshofs. Die Kommunistische Partei Spaniens (PCE) und die PSOE haben
dieses Verfassungssystem mitverantwortet, und letztere hat es unter den
Ministerpräsidenten Felipe González (1982-1996) und José Luis Zapatero
(2004-2011) erhalten.

Dieser gesamte
reaktionäre Schrott muss weggefegt werden, aber dazu bedarf es revolutionärer
Massenaktionen, nicht nur Wahlen. Es sollten Wahlen zu einer souveränen
verfassunggebenden Versammlung abgehalten werden, die auf einem
Verhältniswahlsystem ohne Mindestschwelle und mit Stimmen für alle Personen
über 16 Jahre basieren. Die Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien sollten
solche Wahlen überwachen und Kampagnen führen für eine ArbeiterInnenregierung
auf der Grundlage der ArbeiterInnenorganisationen, die ihnen gegenüber
rechenschaftspflichtig ist.

Nicht zuletzt
mit dem Aufstieg von Vox besteht eindeutig die Notwendigkeit, andere
demokratische Rechte zu verteidigen und zu erweitern, darunter das Recht der
Frauen auf Schwangerschaftsabbruch, Gleichstellung von LGBTQ+ und der
Geschlechter auf staatlicher und regionaler Ebene. Es muss eine
antifaschistische Einheitsfront der ArbeiterInnenklasse, einschließlich
Verteidigungsgruppen, gebildet werden, um ArbeiterInnen im Kampf oder MigrantInnen
unter Beschuss zu schützen.




Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 6, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Der Aufstieg der Rechten wäre ohne die
Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung und der antirassistischen und sozialen
Kräfte unmöglich gewesen. Diese Niederlagen sind selbst eindeutig das Ergebnis
der verräterischen Politik der FührerInnen und des Apparats der
ArbeiterInnenbewegungen in Europa.

Die Sozialdemokratie hat längst eine
Rechtskurve hinter sich. Unter Tony Blair und Gerhard Schröder gab sie
„traditionelle“ keynesianische soziale Reformen und Verbesserungen auf und
akzeptierte die Parameter der neoliberalen Agenden. Diese Politik verlangte von
ihnen, die reformistischen, sozialdemokratischen und Labour-Parteien
unabhängiger von den Gewerkschaften und ihrer ArbeiterInnenbasis, von ihren
sozialen und historischen Verbindungen zur ArbeiterInnenbewegung zu machen.
Obwohl die reformistischen FührerInnen in Parlamenten und Apparaten einen
langen Weg gegangen sind, um diese Verbindung zu lösen und zu brechen, ist es
den meisten von ihnen letztendlich nicht gelungen, dies zu tun.

Eine wichtige Ausnahme ist die ehemals
größte kommunistische Massenpartei Europas, die italienische, die, immer schon
eine der reformistischsten, sich „erfolgreich“ in eine linke, offen bürgerliche
Partei verwandelt hat und mit einem Teil der Christdemokratie verschmolzen ist.
Sie führte den italienischen Kapitalismus so sehr im Interesse der Bourgeoisie
und der EU, dass sie damit die Voraussetzungen für den Aufstieg der
Fünf-Sterne-Bewegung und der neuen rechten Regierung schuf.

In den meisten Teilen Europas haben die
sozialdemokratischen Parteien jedoch ihre Verbindungen zur
ArbeiterInnenbewegung aufrechterhalten, was auch die gelegentlichen
demagogischen und letztlich leeren sozialen Versprechungen eines Hollande und
der französischen PS oder in jüngster Zeit der spanischen PSOE ermöglicht hat.
Der Aufstieg von Jeremy Corbyn in der britischen Labour-Partei und ihre
Massenrekrutierung von Hunderttausenden hat jedoch auch gezeigt, dass sich die
traditionellen reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien unter
bestimmten Bedingungen sogar nach links entwickeln und zu einer Attraktion für
ArbeiterInnen und Jugendliche werden können.

Die meisten der traditionellen
reformistischen Parteien bleiben jedoch der bürgerlichen Mainstreampolitik verbunden.
Bestenfalls befürworten sie ein „soziales“ und „reformiertes“ Europa, das eine
Wirtschaftspolitik zur Förderung von Investitionen, Wachstum und Beschäftigung
einführen und Investitionen in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Umwelt
finanzieren soll. Kurz gesagt, sie schlagen einen „New Deal“ für Europa vor,
der die kapitalistische Vereinigung auf der Grundlage einer staatlichen
Intervention zur Schaffung von Formen des „europäischen Kapitals“ verstärken
und gleichzeitig einige Mindestrechte für ArbeiterInnen, Jugendliche, Frauen
und unterdrückte Minderheiten einführen soll.

Außen- und internationalpolitisch sind sie
für ein starkes vereintes Europa, eine europäische „Verteidigung“ und eine noch
„aktivere“ Außenpolitik, um „Demokratie“ und eine „Weltwirtschaft“ zu sichern.
Ihr Europa, auch wenn es einige Verbesserungen für die europäischen
ArbeiterInnen zugestehen sollte, ist eigentlich ein sozialchauvinistisches und
imperialistisches Europa, das die Migration „regelt“, seine Grenzen verteidigt,
seine bestehenden Militär- und Polizeikräfte aufbaut oder verteidigt oder sogar
ihre „Modernisierung“ fordert, um Europa gegen Trump und/oder Putin zu
verteidigen.

Trotz ihres vermeintlichen „Europäismus“
bleiben die FührerInnen der Sozialdemokratie jedoch ebenso wie „ihre“
herrschenden Klassen auf das nationale Terrain orientiert. Während der großen
Krise, als die EU und der Internationale Währungsfonds die griechischen und
südeuropäischen ArbeiterInnen auf Rationierung setzten, unterstützten sie ihre
Bourgeoisie und die EU-Kommission. Sie haben zwar den deutschen Finanzminister
Wolfgang Schäuble als etwas zu hart kritisiert, aber jede Opposition gegen ihn
abgelehnt und schließlich für die der Regierung Syrizas auferlegten EU-Verträge
gestimmt.

Wie die Corbyn-Bewegung aber beweist,
können solche Parteien unter bestimmten Bedingungen nach links gehen und ein
linkes reformistisches Programm verabschieden, das sogar eine Verstaatlichung
und eine ganze Reihe von sozialen Reformen verspricht. Aber, wie selbst die Labour
Party und Corbyns linke AnhängerInnen zeigen, sind sie nicht bereit oder
vorbereitet für einen entscheidenden Bruch mit den Rechten in ihren eigenen
Parteien, selbst wenn diese massive Sabotage betreiben. Was sie in der
Regierung tun würden, kann man sich leicht vorstellen.

Dies ist eine Folge ihrer politischen
Strategie, nicht des Charakters ihrer FührerInnen. Ihr Programm erfordert eine
parlamentarische Mehrheit, und um diese zu erreichen oder aufrechtzuerhalten,
müssen sie nicht nur den rechten Flügel „an Bord“ halten, sondern auch den
GewerkschaftsführerInnen und der Bourgeoisie selbst versichern, dass sogar eine
von den linken ReformistInnen geführte Regierung nicht „zu weit“ gehen und zu
Kompromissen bereit sein würde. Sie versichert der ArbeiterInnenbürokratie und
der Bourgeoisie, dass die Bewegung unter ihrer Führung nicht mit revolutionären
Mitteln mit dem bürgerlichen Staat und der herrschenden Klasse brechen würde.
Deshalb hat die Corbyn-Führung in der Frage der Kontrolle der Parteimitglieder über
die Abgeordneten den Rechten zugestimmt, hat eine demokratische Entscheidung
über die Brexit-Politik behindert und gleichzeitig die Unterstützung der
Freizügigkeit (Niederlassungsrecht für Beschäftigte in allen EU-Staaten)
aufgegeben. Sie hat es zeitweilig sogar der Premierministerin Theresa May
ermöglicht, die Initiative wiederzuerlangen.

Angesichts des Rechtsrucks in Europa und
der sich verschärfenden Krise müssen sich die RevolutionärInnen auf die
Mitglieder und AnhängerInnen dieser Parteien beziehen, da sie immer noch die
Masse der organisierten ArbeiterInnenklasse des Kontinents repräsentieren und
immer noch die Mehrheit der Gewerkschaften anführen und dominieren. Kein
erfolgreicher Kampf gegen die aktuellen und kommenden Angriffe wird möglich sein,
ohne diese ArbeiterInnen zum Handeln zu bewegen.

Daher müssen RevolutionärInnen eine
unerbittliche Kritik an der Politik, den Programmen und den Anpassungen dieser
Parteien an die Bourgeoisie mit der Aufforderung an sie verbinden, gegen die
nationalen und europäischen KapitalistInnen zu mobilisieren. Das bedeutet, zu
verlangen, dass sie mit der Bourgeoisie brechen, wenn sie an der Regierung
sind, und jede Koalition mit den Parteien der herrschenden Klasse ablehnen. Sie
sollten die Linke in diesen Parteien in ihrem Kampf gegen die Rechte
unterstützen und von ihr entschlossenes Handeln verlangen, aber, wie das
Beispiel von Labour oder anderen Parteien zeigt, dürfen sie dies nicht mit der
Anpassung an das Programm und die Strategie der linken ReformistInnen verwechseln.
Jede Unterstützung muss sehr kritisch und darauf ausgerichtet sein, das Gehör
des ArbeiterInnenanhangs dieser Parteien zu finden, um ihn davon zu überzeugen,
mit dem Reformismus als solchem zu brechen und für ein revolutionäres Programm
zu gewinnen.

In vielen Ländern hat die Krise der
Sozialdemokratie oder der alten „kommunistischen“, d. h. stalinistischen
Partei, zur Gründung von „linken Parteien“ geführt, Parteien mit einem linken
reformistischen Programm. Wie das Beispiel von Syriza in der Regierung gezeigt
hat, unterscheiden sich diese Parteien qualitativ nicht von den etablierten
reformistischen Parteien. Sie sind weder willens noch bereit, mit der
Bourgeoisie und dem europäischen Kapital zu brechen, wenn ein revolutionärer
Bruch erforderlich ist.

Trotz der Krise der europäischen
Sozialdemokratie waren diese linken Parteien jedoch selbst nicht in der Lage,
die Masse der ArbeiterInnenklasse in den meisten Ländern außerhalb
Griechenlands zu gewinnen. Ein Grund dafür ist, dass sie letztendlich keine
strategische, programmatische Alternative zum Programm der Hauptspielart des
Reformismus bieten. Wenn die größere reformistische Partei „plötzlich“ nach
links geht, sind die linken ReformistInnen schwer zu unterscheiden. Zweitens
haben sich solche Parteien immer wieder geweigert, die Führung und Hegemonie
der Sozialdemokratie in den Gewerkschaften und ArbeiterInnenorganisationen in
Frage zu stellen und haben dadurch oft sogar schwächere organische Verbindungen
zur Klasse.

Während sich die sozialdemokratischen
Parteien selbst bisher generell an die „proeuropäischen“ Teile ihrer
herrschenden Klassen angepasst haben, sind die europäischen Linksparteien in
dieser Hinsicht gespalten. Ein wichtiger Teil imitiert die Politik der
Sozialdemokratie, wenn auch in einer eher linken Version. Er fordert die
„Umwandlung“ der EU in eine soziale, demokratische Einheit mit Wohlfahrt,
Verstaatlichung wichtiger Wirtschaftssektoren und einer „humanitären“ oder
„friedlichen“ Globalpolitik. Er lehnt die NATO ab und ruft auch zur „Abrüstung“
auf, d. h. zu einer sozialpazifistischen und nicht zu einer offen
sozial-chauvinistischen Politik.

Als ReformistInnen ist ihre Strategie für
den Wandel jedoch letztendlich eine parlamentarische, die versucht, Europa über
die bestehenden, wenn auch demokratisierten Institutionen der bürgerlichen
Staaten zu verändern.

Während dieser Flügel des europäischen
linken Reformismus eindeutig sozial mit der ArbeiterInnenklasse verbunden und
organisch damit vernetzt ist, sind auch Formen eines europäischen linken
Populismus entstanden, sowohl in den Formen „Pro-EU“ als auch „Anti-EU“.

Einerseits gibt es die kleine „Demokratie
in Europa“-Bewegung 2025, kurz DiEM25, um den ehemaligen griechischen
Finanzminister Yanis Varoufakis. Mit 60.000 Mitgliedern aus der gesamten
Europäischen Union sieht diese den Feind im „finanzialisiertes“ globalen
Kapital. In ihrem Manifest wird über den demokratischen Wiederaufbau der EU von
unten durch eine „radikale“ Demokratisierung und „die Neuaufstellung
bestehender Institutionen durch eine kreative Neuinterpretation bestehender
Verträge und Charten“ gesprochen, die in den Wahlen zu einer
„verfassunggebenden Versammlung“ gipfeln sollen. Es stellt eine eklektische
Mischung aus utopischen und reformistischen Forderungen wie einem universellen
Grundeinkommen und Beteiligungshaushalten dar. Als Agentur, die dies erreicht,
sieht DiEM25 nicht die ArbeiterInnenbewegung, sondern „das Volk“. In der Tat
erweist sich dieses „Volk“ als der akademische Mittelstand.

Andererseits hat eine Spaltung in der
Europäischen Linkspartei zur Bildung einer linkspopulistischen europäischen
Allianz geführt, die „Maintenant le Peuple“ (Jetzt das Volk) um La France
Insoumise (Unbeugsames Frankreich) herum, mit dem Parti de Gauche
(Linkspartei), dem spanische Podemos, dem portugiesischen Bloco de Esquerda
(Linksblock), der schwedische Vänsterpartiet (Linkspartei) und der dänische
Enhedslisten (Einheitsliste Rot-Grün). Im Gegensatz zur Europäischen
Linkspartei kämpfen sie für eine offene Ablehnung der EU von Seiten der
„Linken“ und für den Austritt aus der EU. Sie sind der Ansicht, dass ein
Reformprogramm nur außerhalb der EU und mit der Rückkehr zur „nationalen
Souveränität“ durchgeführt werden kann.

Die Allianz „Jetzt das Volk“ versucht die
Rechten in ihrer Ablehnung der EU zu übertreffen, auch wenn die Alternative,
zurück zum Nationalstaat, die gleiche ist. Hier wird die Illusion verbreitet,
dass es im Nationalstaat bessere Kampfperspektiven gebe, dass die
ArbeiterInnenbewegung und der Mittelstand da „mehr“ herausholen könnten als aus
dem bürokratischen Monster EU. In diesem Sinne gibt es gewisse Überschneidungen
dieser linken PopulistInnen mit ihren GegnerInnen, den rechten PopulistInnen.
Diese Anpassung an den populistischen Trend der bürgerlichen Klasse ist nicht
verwunderlich, da sowohl Mélenchon als auch die Europäische Linke bürgerliche
Politik innerhalb der ArbeiterInnenbewegung vertreten und sich als
„vernünftige“ Alternative für das jeweilige nationale Kapital verstehen.




Wagenknechts Rückzug – Linkspopulismus am Ende?

Tobi Hansen, Neue Internationale 236, April 2019

Offiziell begründete Fraktionschefin Wagenknecht ihren
Rückzug aus dem „Aufstehen“-Vorstand gesundheitlich. Eine zwei Monate
andauernde Krankheit hätte ihr Grenzen aufgezeigt, an die sie nicht mehr stoßen
wolle. Ein politischer Mensch wolle sie bleiben und weiter für ihre
Überzeugungen eintreten – natürlich unter Beibehaltung ihres Mandats.

Der Rückzug

Darüber sprach sie wenige Tage später bei „Anne Will“ mit
dem Fokus auf jene Beschäftigten, die sich eben wegen Überlastung, Stress und
Burnout nicht einfach von einem Job zurückziehen können. Schließlich haben
diese weder Mandat noch Vermögen, so dass sie sich einen „Rückzug“ einfach
nicht leisten können. Seitdem war Frau Wagenknecht recht präsent in den
bürgerlichen Medien. Bei der „Welt“ oder beim „Stern“ teilte sie vor allem
gegen den aktuellen Vorstand aus, setzte de facto ihren Kampf medial fort.
Hauptpunkt von Wagenknechts Angriff auf den Vorstand war der vorgebliche
Unterschied in der Zielgruppe der Linkspartei:

„Es gibt zwei Konzepte linker Politik. Entweder man
konzentriert sich auf die akademisch geprägten großstädtischen Milieus – den
Weg ist die Parteiführung in den letzten Jahren gegangen. Oder man bemüht sich
um die abstiegsbedrohte Mittelschicht und die Ärmeren.“

Wagenknecht weiter: „Eine Linke, die von den Menschen, denen der Raubtierkapitalismus am übelsten mitspielt, nicht mehr gewählt wird, hat ihre Seele verloren.“ (https://www.stern.de/politik/ deutschland/sahra-wagenknecht-im-stern—politik-ist-eine-schlangengrube–8628780.html)

Bislang folgte nur Sevim Dagdelen ihrer Verlautbarung, für
führende Funktionen der Fraktion nicht mehr zu kandidieren. Ansonsten bleiben
Rücktrittsankündigungen auch aus dem Wagenknecht-Lager aus. Der Parteivorstand
hält sich bislang eher zurück. Während Riexinger noch auf Wahlkampfauftritte
von Wagenknecht 2019 hofft, wird inhaltlich nicht weiter geantwortet.
Offenkundig setzt man darauf, dass sich der Streit um die von Wagenknecht und
Co. forcierte linkspopulistische Neuausrichtung mit ihrem Rückzug von selbst
erledigt.

Eine wirkliche inhaltliche Debatte will schließlich auch die
derzeitige Führung nicht. Sie käme nur zu leicht in Bedrängnis angesichts der
Tatsache, dass man sich die „offenen Grenzen“ auf die Fahne schreibt, während
die Landesregierungen in Berlin, Brandenburg und Thüringen weiter fleißig
abschieben und den staatlichen Rassismus umsetzen. Ähnliche Doppelbödigkeit
gilt bekanntlich für die Frage des Braunkohleausstiegs oder verschärfter Polizeigesetze
wie jüngst in Brandenburg.

Bei der Frage der „Milieus“ ist bezeichnend, dass die
Lohnabhängigen im Konflikt zwischen Wagenknecht und dem Vorstand kaum erwähnt
werden. Er erscheint eher als Stadt-Land-Konflikt nach dem Motto: hier die
„Hipster-Linke“ Kipping und dort Wagenknecht, die sich um die Rentnerin vom
Dorf kümmert.

Ungelöst

Das wesentliche Problem der Linkspartei wird von beiden
reformistischen Führungscliquen nicht gelöst – sie hat keine Alternative zum
Kapitalismus und zum „Mitregieren“. Dabei haben von Letzterem weder die
„großstädtischen Milieus“ noch die „abstiegsbedrohte Mittelschicht und die
Armen“ Nutzen ziehen können. Im Gegenteil, die Mitverwaltung des Kapitalismus
durch die Linkspartei unterscheidet sich praktisch nicht von jener der SPD oder
der Grünen.

Als „Lösung“ wollte Wagenknecht mit der Sammlungsbewegung
„Aufstehen“ die gesellschaftlichen Mehrheiten kippen. Die Bewegung sollte Druck
auf die Linkspartei machen und zugleich eine rot-rot-grüne Bundesregierung
vorbereiten, indem „Stimmung“ für eine andere Politik mit Wagenknecht als
Galionsfigur gemacht würde. Viele derjenigen, die ihr per Mail und „sozialen
Medien“ folgten, sahen in Wagenknecht immer noch die „linke“ Alternative zum
Vorstand, diejenige, die wirklich SPD und Grüne angreife, die anstelle von
Agenda 2010 und Hartz IV eine „wirklich soziale“ Politik setzen würde.

Mit „Aufstehen“ sollten nicht nur die Ausrichtung und
Kräfteverhältnisse in der Linkspartei verändert werden, auch die gescheiterte
Politik der Sozialdemokratie, den Kapitalismus zu zügeln, die Marktwirtschaft
sozial auszugestalten, wurde wieder aufgelegt.

„Aufstehen“ vor der Implosion

Mit ihrer „Sammlungsbewegung“, dem 170.000 Personen umfassenden Mailverteiler und einem „professionellen“ Trägerverein von „Aufstehen“ wollte Wagenknecht sich eben um die abstiegsbedrohten Mittelschichten und die Ärmeren kümmern.Aber auch dort trat sie aus dem politischen Vorstand zurück. Als Reaktion darauf sind jetzt erst mal alle Führungsmitglieder, die nicht in der Linkspartei waren, ausgetreten. Der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Bülow versucht sich mit einer „Aktionsplattform“, während der Grüne Volmer zum Hintergrund des permanenten Konflikts zwischen dem Vorstand und dem Trägerverein kundtat, dass es eine Kontroverse gegeben habe, „ob Aufstehen eine sich von unten frei entfaltende, parteiunabhängige Bewegung mit offener strategischer Zielsetzung oder eine politische Vorfeldorganisation einer bestimmten Strömung der Partei Die Linke sein sollte.“  (www.taz.de/!5582420/)

Den Trägerverein leitet weiterhin Dramaturg Bernd Stegemann.
Hier sammelt sich Geld und Einfluss und hier sollte wohl beschlossen werden,
was man in der Linkspartei nicht durchsetzen konnte, nämlich die Forderung nach
„offenen Grenzen“ zu streichen. Dementsprechend handelte der Trägerverein auch
als politische Führung. Die Benennung eines politischen Vorstands Anfang des
Jahres entsprach eher dem Versuch, überhaupt eine vom Verein formal unabhängige
Spitze der Bewegung nach außen präsentieren zu können, die nicht nur aus
„PrätorianerInnen“ und „Fans“ der Wagenknecht bestanden.

Verein wie Sammlungsbewegung dienten beide auch und vor
allem als Fußtruppen für Wagenknecht und Lafontaine. Dass dies besonders
parteipolitisch motiviert ist in Bezug auf die Linkspartei, wurde spätestens
klar, als Wagenknecht offiziell die #unteilbar-Demonstration im Herbst 2018
ablehnte. Während mit Volmer und SPDlerInnen wie Hudson Berlin zumindest als
„Aufstehen“ repräsentiert war, wollte die Galionsfigur der „Sammlungsbewegung“
nichts mit den 240.000 auf der Straße zu tun haben. Offiziell wurde dies damit
begründet, dass sich die Demonstration faktisch für „offene Grenzen“
ausgesprochen hätte, was leider im #unteilbar-Aufruf gar nicht gefordert worden
war. Garniert wurde das mit kruden nationalistischen Theorien über offene
Grenzen, das Finanzkapital, und dass Soros die ganze Geflüchtetenbewegung über
NGOs anheize oder gar steuere.

Ob Wagenknecht solche Theorien teilt, ist nicht bekannt. Bei
Herrn Stegemann besteht in jedem Fall ein Nahverhältnis zu solchen reaktionären
Positionen. In seinem aktuellen Buch „Die Moralfalle – für eine Befreiung
linker Politik“ bekennt er sich nicht nur zur „guten, alten“
sozialdemokratischen Wohlfahrtspolitik, sondern auch dazu, dass ein Teil der
ArbeiterInnenklasse, nämlich MigrantInnen und Geflüchtete, von ihr ausgegrenzt
wird. Offene Grenzen und mangelnde Integration der Geflüchteten gefährdeten
diesen „hochdifferenzierten Wohlfahrtsstaat“, ja machten ihn de facto
unmöglich.

Klassenbegriff?

Gleichzeitig wird beklagt, dass der „Klassenbegriff“
beschädigt worden sei und niemand mehr eine „soziale Idee“ hätte – außer
vielleicht Frau Wagenknecht, für die die ArbeiterInnenklasse in erster Linie
eine nationale Klasse darstellt. Es mutet schon obskur an, wenn eine Strömung
wie „Aufstehen“, die sich von der Klassenpolitik Richtung Populismus
verabschiedet, die „Beschädigung“ eines Klassenbegriffes beklagt, den sie
längst an der Garderobe zur Populismusbühne abgelegt hat.

Natürlich ist „Aufstehen“ nicht wegen Wagenknecht und nicht
wegen des Dualismus von Verein und Vorstand zerbrochen. Das Projekt scheiterte
sicherlich auch an einer guten Dosis Dilettantismus, wie sich an den kläglichen
Mobilisierungen ablesen ließ.

„Aufstehen“ hat keine einzige Initiative gestartet, kaum
eine Mobilisierung zu Stande gebracht, die nur annähernd an die Größe ihrer
Maillisten herangekommen wäre. Außerhalb von Talkshows und Saalveranstaltungen
fand die „Bewegung“ nicht statt. Ein Aktionstag der Friedensbewegung wurde zwar
gekapert, nicht zuletzt, weil viele „Friedensbewegte“ der Linkspartei bei
„Aufstehen“ waren. Bei einer zentralen Kundgebung mit Sahra Wagenknecht
versammelten sich gerade 1.000 Menschen vor dem Brandenburger Tor und der
„Buntwesten“-Aktionstag riss bundesweit keine 5.000 vom Hocker.

Währenddessen gingen Hunderttausende bei „Friday for Future“
oder den Warnstreiks im öffentlichen Dienst auf die Straße – hier spielte
„Aufstehen“ keine Rolle. In Karlsruhe entscheiden RichterInnen über die Frage
der Hartz-IV-Sanktionen, die Millionen in Armut getrieben haben, und wo ist
„Aufstehen“? Aktuell gibt es eine Online-Fragestunde mit der Tante Sahra, wie
auch das „Team Sahra“ wieder verstärkt in den virtuellen Vordergrund rückt.

Im Hintergrund sprach Lafontaine vor einiger Zeit noch über
die möglichen wahltechnischen Ambitionen von „Aufstehen“ z. B. zur EU-Wahl,
diese seien aber erst mal ad acta gelegt. Schließlich wolle man keine „Spaltung
der Linken“.

In Wirklichkeit wollten Lafontaine und Wagenknecht mit
„Aufstehen“ ein Mittel an die Hand bekommen, das sowohl als Pressure-Group für
die Linkspartei dient wie als mögliches „unabhängiges“ Projekt für den Fall
einer Spaltung. Funktionieren konnte diese natürlich nie als „Bewegung“ oder
„von unten“, sondern es bedurfte immer einer bürokratischen Lenkung von oben
und der Verkörperung der Bewegung in einer unumstrittenen Führungsfigur, eben
in Sahra Wagenknecht. Ohne Star ist daher wohl auch die Luft raus aus dem
Fan-Club. Sicherlich kann „Aufstehen“ weiter vor sich hindümpeln, Karteien verwalten
und so tun, als würde man sich jetzt um die „Basisarbeit“ kümmern. Raus kommt
dabei – unabhängig von den Intentionen etlicher Mitglieder – allenfalls ein
Fanclub, der auf die Rückkehr des Stars wartet, sollte sich Wagenknecht zu
einem Rückzug vom Rückzug entscheiden.

Zukunft?

Ob es dazu kommt oder nicht, hängt in erster Linie von der
Entwicklung der Linkspartei, genauer von deren Abschneiden bei den nächsten
Wahlen ab. Sollten die Europa- und anstehenden Landtagswahlen verloren gehen,
so wird der Vorstand massiv unter Beschuss geraten. Das könnte den Boden für
ein Comeback von Sahra Wagenknecht bereiten – sei es in Form einer
Führungsrolle in der Linkspartei samt politischer Neuausrichtung oder eines
wiederbelebten linkspopulistischen Konkurrenzprojektes.

Die „Realpolitik“ der Linkspartei wird in jedem Fall weiter
Unglaubwürdigkeit, Halbherzigkeit hervorbringen. Die links-reformistischen
Versprechungen von Vorstand und Fraktion werden ihre Grenzen an der
Regierungspolitik in den Bundesländern und dem biederen Parlamentarismus der
Partei finden. Solcherart werden ihre inneren Widersprüche immer wieder den
Boden bereiten, in dem der Linkspopulismus einer Wagenknecht Wurzeln schlagen
konnte.

Die Linke in der Linkspartei müsste dem eigentlich eine
entschieden revolutionäre Politik des Bruchs mit dem Reformismus
entgegenstellen. Genau das tut sie aber seit Jahren nicht. Vielmehr suchte und
sucht sie Allianzen, Kompromisse, Zusammenarbeit mit dem linken Flügel des
Vorstandes und ordnet sich diesem unter, so wie der „linke“ Vorstand die
Realpolitik der Landesregierungen in Berlin, Brandenburg und Thüringen
toleriert oder verteidigt.

Solange die Linke in der Linken selbst keinen Kurs auf einen
revolutionären Bruch mit allen Schattierungen des Reformismus verfolgt, spielt
sie letztlich nur die Rolle einer integrierenden Schein-Opposition. Sie deckt
damit nicht nur den Vorstand politisch, sie erleichtert, ja ermöglicht es erst
einem Linkspopulismus, sich als „echte Opposition“ zum Realo-Kurs des
Parteivorstandes zu inszenieren. Auch mit dem absehbaren Scheitern von
„Aufstehen“ ist daher die Gefahr des Linkspopulismus keineswegs gebannt.




Der Westen und Venezuela: „Demokratische“ Heuchelei

Susanne Kühn, Neue Internationale 235, Februar 2019

Bundesregierung und EU schlossen sich rasch der
Unterstützung der pro-imperialistischen, rechten Opposition in Venezuela an.
Die USA und ihre engsten Verbündeten erkannten den selbsternannten
„Interimspräsidenten“ Guaidó innerhalb kürzester Zeit an und machten deutlich,
dass sie sich mit nichts weniger als dem Sturz von Maduro und seinem Regime
zufriedengeben wollen. In Washington und bei der „demokratischen“ Opposition
wird offen ein militärisches Eingreifen erwogen.

Das Kabinett Merkel und die EU schlugen – wie so oft – einen
scheinbar mehr vermittelnden Weg ein. Maduro wurde ursprünglich eine „Frist“
von einer Woche eingeräumt. Sollte er bis dahin unter dem Druck von Diplomatie,
Sanktionen und kriegerischen Drohungen keine „freien Wahlen“ ausgerufen haben,
so würden auch sie den „Demokraten“ Guaidó anerkennen.

Der Unterschied zwischen den beiden Mächten besteht in den
Mitteln. Während die einen auf die sofortige Kapitulation und den Rücktritt
Maduros setzen, schlagen die anderen „schrittweise“ durch Neuwahlen vor. Nachdem
sich Venezuela weigerte, der Erpressung durch die EU folge zu leisten, erkannte
sie auch Guaidó an.

Beide imperialistische Mächte eint schließlich das Ziel:
Aufräumen mit den „Roten“, mag sich ihr „Sozialismus“, ihre Wirtschaftspolitik,
ihr Regime auch noch so weit von einer realen sozialen Umwälzung entfernt
haben. Die USA erhoffen sich von einer Zuspitzung und direkten Konfrontation,
ihre traditionelle Dominanz wiederherzustellen zu können. Deutschland und die
EU setzen auf „Verhandlungen“, um so bei der Neuaufteilung des Landes auch ein
bisschen mitzureden.

Die Sorgen um „Demokratie“, „Menschenrechte“ und die
Zivilbevölkerung sind nicht nur vorgeschoben, sie sind auch unglaubwürdig wie
selten: kaum ein/e rechte/r, populistische/r PolitikerIn aus der „westlichen
Wertegemeinschaft“, der/die Guaidó nicht als Vertreter seiner/ihrer
„Demokratie“ auszumachen weiß. Die SachwalterInnen der „Demokratie“ – ob nun
rechts-populistisch, liberal, grün oder sozialdemokratisch – verschließen ihre
Augen vor der Gefolgschaft eines Guaidó, vor seinen Zielen, vor den
Klasseninteressen, die er vertritt. Sie verkommen zu mehr oder weniger enthusiastischen
Gefolgsleuten von Trump, Pence und Pompeo, zu nützlichen IdiotInnen des
US-Imperialismus oder zynischen Gefolgsleuten der schwächelnden EU.

Wie rasch sich die Lage weiter zuspitzt, ob es den
westlichen Mächten gelingt, bedeutende Teile des Militärs auf ihre Seite zu
ziehen, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen. Die Linke, die
Gewerkschaften, alle ArbeiterInnenorganisationen müssen sich in dieser
entscheidenden Phase ohne Zögern gegen jede imperialistische Einmischung und
Intervention, ob durch Diplomatie, Sanktionen oder Waffengewalt, stellen. Sie
dürfen zugleich dem Regime Maduro keinen politischen Blankoscheck ausstellen
oder Kritik an seiner Politik verheimlichen. Aber ein Sieg der Rechten und der
imperialistischen Mächte würde für die ArbeiterInnenklasse und die Masse der
Bevölkerung eine Niederlage mit enorm reaktionären Auswirkungen auf ganz
Lateinamerika bedeuten. Daher: Nein zur „demokratischen“ Heuchelei! Hände weg
von Venezuela!