Strategiepapier der Linkspartei: Nicht einmal alter Wein in neuen Schläuchen

Susanne Kühn, Neue Internationale 262, Februar 2022

DIE LINKE beschwört einmal mehr den Aufbruch. Das tun schließlich alle Parteien, die gerade eine vernichtende Niederlage erlitten haben und eine solche hat sie bekanntlich bei den Bundestagswahlen 2021 eingefahren. Auch für die kommende Landtagswahl im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein sieht es nicht gerade rosig aus.

So soll der Jahresauftakt am 16. Januar wenigstens Mut machen. „Die Linke wird gebraucht“, versichert sich die Parteiführung selbst – und verdeutlicht mit dieser Beschwörungsformel ungewollt, dass sie selbst ihrer eigenen Existenzberechtigung nicht sicher ist. Gefordert wird vor allem das, was der Partei fehlt: Einigkeit, Geschlossenheit, Zusammenhalt, Solidarität, Vision, Strategie.

Die Parteispitze will daher Abhilfe schaffen. Die beiden Vorsitzenden, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, präsentieren ein sog. Strategiepapier: „Für eine LINKE Transformation. Sozial UND klimagerecht“.

Transformationsstrategie?

Alter Wein in neuen Schläuchen ist noch eine höfliche Beschreibung für einen Text, der an saueren Essig erinnert. Im Grunde unterscheidet das „Transformationskonzept“ von älteren Papieren aus den Reihen der Grünen, der SPD, diverser NGOs oder Umweltverbände nur, dass DIE LINKE diesen Parteien eine Abkehr von ihren Versprechungen einer sozial gerechten und ökologisch wirkungsvollen Transformation vorhält. Trotzig wiederholt das Papier, was auch diese Parteien jahrelang in Wahlprogrammen oder Sonntagsreden beschworen haben: Klimaneutralität bis 2035, Kohleausstieg bis 2030, Klimacheck für alle Gebäude bis 2025, gerechter Lastenausgleich, ehrgeiziger und rascher Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, Ausbau des öffentlichen Verkehrs.

Das Papier spricht sich für staatliche Eingriffe und Regularien aus, weil es der Markt allein nicht richten wird. Marktwirtschaft und Privatkapitalismus werden an keiner Stelle in Frage gestellt. Allerdings sollen nur noch solche Unternehmen gefördert und subventioniert werden, die soziale Standards einhalten, nach Tarifverträgen zahlen, Arbeitsplätze erhalten, den Betrieb demokratisieren und ökologischen Umbau vornehmen. Für diese winken Gelder aus einem staatlichen Transformationsfonds. So sollen AktionärInnen, InvestorInnen und private Konzerne „in die Pflicht genommen“ werden. Außerdem wollen Wissler/Hennig-Wellsow auch die Übernahme von krisengeschüttelten Unternehmen durch die Belegschaften fördern. Diese müssten ein Vorkaufsrecht beim Verkauf von Unternehmen genießen.

Schließlich sollen auch die öffentliche Daseinsvorsorge gefördert und die Armut durch Transferleistungen oberhalb der Armutsgrenze abgeschafft werden. Am Schluss schlägt DIE LINKE auch noch eine „echte“ Agrarwende vor.

Das war es dann auch. Diese Kernpunkte der „Transformationsstrategie“ sind selbst für ein reformistisches Programm überaus handzahm. In besseren Zeiten hatten nicht nur Grüne und SPD, sondern auch die Linkspartei Weitergehendes und Umfassenderes zu bieten.

An manchen Stellen – z. B. beim Vorschlag, krisengeschüttelte Betriebe in Belegschaftseigentum umzuwandeln – geht das Transformationspapier sogar in eine direkt falsche Richtung und würde sich nur als Fallstrick für die Beschäftigten erweisen, die zu Verantwortlichen für die Sanierung ihres eigenen Betriebes mutieren würden.

Was erst gar nicht erwähnt wird

Bemerkenswert am Papier ist freilich weniger die dünne politische Bettelsuppe, die darin zusammengebraut wurde, sondern was erst gar nicht erwähnt wird. Wohlgemerkt, das Strategiepapier soll nach Aussage von Janine Wissler „Konturen eines inhaltlichen Aufbruchs“ darstellen. Zu diesem gehören folgende Themen und Fragen (Aufzählung unvollständig) offenkundig nicht:

Internationale Fragen

Am Beginn des Textes wird zwar festgehalten, dass die vom Kapitalismus verursachte Ungleichheit und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen den Fortbestand unseres Planten bedrohen würde. Das war es dann aber auch. Im Papier finden Weltmarkt, Imperialismus, Kriegsgefahr, Militarismus, Aufrüstung, rassistische Abschottung oder die globale Dimension der ökologischen Katastrophe erst gar keine Erwähnung. Die Transformationsstrategie endet an der Landesgrenze.

Bei früheren Strategiepapieren oder inszenierten Auftaktveranstaltungen hatte sich die Linkspartei gern als Friedenspartei, als Anti-NATO-Partei, als Kritikerin von Auslandseinsätzen, Rüstungsexporten und Interventionen präsentiert. Manche beschworen sie gar als „Bewegungspartei“, konsequente antirassistische Kraft oder wollten sie als Partei für eine „neue Klassenpolitik“ fit machen. Natürlich stand das auch damals im Gegensatz zur Regierungspraxis in verschiedenen Bundesländern und/oder zur mangelnden Mobilisierung. Beim diesjährigen Jahresauftakt verzichtet die Führung der „linken“ Opposition im Bundestag gleich von vornherein darauf.

Streitpunkte

Das hängt sicher auch damit zusammen, dass mittlerweile jede wichtige politische Frage in der Linkspartei eine Streitfrage ist. Das betrifft Auslandseinsätze, die Haltung zur EU, Migration, Regierungsbeteiligung, Pandemiepolitik, Eigentumsfrage, Identitätspolitik und vieles mehr. Das Strategiepapier umschifft möglichst alles, was in der Partei strittig ist. So beschränkt sich die ökologische Transformation für Leute wie Klaus Ernst, der etwa zur Zeit der Jahreswende zum Vorsitzenden des Umweltausschusses ernannt wurde, bekanntlich auf die Umrüstung der PKWs von Verbrennungs- auf Elektromotoren. Das empört zu Recht Tausende GenossInnen der Linkspartei, die den offenen Brief „Nicht Euer Ernst“ an die Bundestagsfraktion der Partei unterzeichneten.

Zwischen solchen, letztlich unvereinbaren Richtungen versucht das Strategiepapier zu vermitteln, indem es den kleinsten gemeinsamen Nenner der Partei als Zukunftsvision schönredet. Dieser Etikettenschwindel, der den Autorinnen bewusst sein mag oder auch nicht, kann jedoch die Krise der Linkspartei allenfalls fortschreiben. Wo die Partei auseinanderdriftet, helfen Beschwörungsformeln nichts, zumal wenn sie diese von den Regierungsparteien SPD und Grüne, die man zu bekämpfen vorgibt, nur schwer unterscheidbar machen.

Die Regierungsfrage

Kein Wunder also, dass die Regierungsfrage im Strategiepapier nicht vorkommt. Wie die bescheidenen Vorschläge der Partei gegen die herrschende Klasse durchgesetzt werden sollen, ob auf der Straße, in Klassenkämpfen oder durch imaginierte parlamentarische Kombinationen – dazu hüllt sich die Parteispitze vornehm in Schweigen.

Derweil werkelt Ramelow unverdrossen als Ministerpräsident in Thüringen, kaum unterscheidbar von anderen LänderchefInnen, munter weiter. Die Bourgeoisie hat sich mit dem „Roten“ längst abgefunden. Auch in Berlin, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern führt sich DIE LINKE als handzahme Partnerin an der Regierung auf. Unter SPD-Führung trabt sie brav weiter Richtung Untergang, verrät Massenkampagnen, die sie unterstützt hat oder zu unterstützen vorgibt, wie Deutsche Wohnen und Co. enteignen, und rechnet sich womöglich noch hoch an, dass sie sich selbst aufgibt, um zu verhindern, dass die SPD in Berlin zur FDP oder in Mecklenburg-Vorpommern zur CDU wechselt.

Klassenkampf

Bei der Transformationsstrategie von Wissler und Hennig-Wellsow findet die Welt außerhalb Deutschlands praktisch nicht statt. Doch auch Ausbeutung, Klassenverhältnisse, Klassenkampf werden erst gar nicht erwähnt. Die Lohnabhängigen treten bloß als Objekte staatlicher und tarifrechtlicher Reformen auf. An der Ausbeutung selbst wird gleich gar nichts grundsätzlich kritisiert, solange sie zu tariflichen Vereinbarungen und oberhalb der Armutsgrenze stattfindet.

In den letzten Jahren präsentierte ein Bernd Riexinger als Parteivorsitzender noch eine linksreformistische Konzeption von Transformation und versuchte, eine neue Klassenpolitik als strategische Grundlage der Partei zu präsentieren, was ihn zum Teil in offenen, zum Teil in verdeckten Gegensatz zum regierungssozialistischen wie auch zum populistischen Flügel um Wagenknecht brachte.

Eigentum

Ein wichtiger Bestandteil dieser linksreformistischen Konzeption war auch das Aufgreifen der Eigentumsfrage, wie sie auch von Kampagnen wie DWe populär gemacht wurde oder in der ökologischen Bewegung vermehrt diskutiert wird. Selbst Kevin Kühnert, damals noch Kritiker der SPD-Spitze und der Großen Koalition, brachte ehedem die Enteignung von BMW in Spiel. Selbst dazu reicht es bei der neuen Führung der Linkspartei nicht. Im krampfhaften Bemühen, alle Unterschiede zwischen den Flügeln der Partei und wohl auch zwischen den beiden Vorsitzenden, jeden als zerstörerisch empfunden Streit zumindest im Strategiepapier aus der Welt zu schaffen, wird es so ausgehöhlt, so schal, belanglos und erbärmlich, dass selbst eine reformistische Sonntagsrede noch als klassenkämpferische Offenbarung erscheinen würde. Unmittelbar werden von solchen Formelkompromissen nur die RegierungssozialistInnen, mag vielleicht auch der populistische Flügel der Partei profitieren.

Ein Teil der Parteispitze DER LINKEN mag es für eine kluge Taktik halten, Differenzen und Richtungsstreit unter den Tisch zu kehren. Der Verzicht auf eine offene Konfrontation zwischen letztlich miteinander unvereinbaren Positionen in der Linkspartei wird den Laden jedoch nicht retten, sondern nur die Krise verschärfen. Er wird Unvereinbares nicht vereinbar machen und schon gar nicht zur Formierung einer linken Opposition beitragen, die den längst überfälligen politischen und organisatorischen Bruch mit dem Reformismus in die Weg leiten könnte. Der Schritt ist längst überfällig, wenn im neuen Schlauch nicht einmal mehr alter Wein aufgetischt wird, sondern nur sauerer Essig.




Europäische Linke: Lässt sich der Kapitalismus transformieren?

Alex Zora, Infomail 1174, 28. Dezember 2021

„Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ Dieses bekannte Marxzitat ist wohl den meisten Linken ein Begriff. Schon früh galt der Anspruch der ArbeiterInnenbewegung, sich auch international zu organisieren. Heute ist der größte Zusammenschluss der Linken links von Sozialdemokratie und Grünen in Europa die Europäische Linke (EL). Wir wollen uns im Folgenden ansehen, wie sie ihrem Anspruch „Transformierung von Gesellschaften und die Überwindung des heutigen Kapitalismus“ gerecht wird.

Wer ist die Europäische Linke?

Die Europäische Linke wurde 2004 in Rom gegründet. Sie ist der organisierte Zusammenschluss von 28 europäischen linken Parteien – großteils aus EU-Staaten, aber nicht ausschließlich. Die wichtigsten und größten Parteien bilden die deutsche Linkspartei, die französische Bewegung von Mélenchon (La France Insoumise) – die jedoch nur Beobachterstatus hat –, die spanische Izquierda Unida sowie Griechenlands Syriza. In Österreich ist die KPÖ Mitglied in der Europäischen Linken und Der Wandel – Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt ist Partnerorganisation.

Im Europäischen Parlament steht ihr die Fraktion der Linken GUE/NGL nahe, in der Abgeordnete von 19 linken Parteien sitzen. Hiervon kommt der Großteil, aber wiederum nicht alle, der Abgeordneten aus Mitgliedsparteien der Europäischen Linken. Insgesamt zählen die Parteien der Europäische Linken ungefähr eine halbe Million Mitglieder.

Die Grundsätze

Auf dem Gründungskongress 2004 in Rom wurde auch ein Manifest angenommen. Der Name sollte dabei nicht täuschen, handelt es sich doch eher um sehr kurz gefasste Grundsätze, die grob die politische Richtung vorgeben. Es sieht sich in der Tradition und den Werten von Sozialismus, Kommunismus, ArbeiterInnenbewegung, Feminismus, internationaler Solidarität, aber auch von Humanismus und liberalem Denken. Es stellt die Zentralität der Europäischen Union als Raum der politischen Auseinandersetzung fest, bei gleichzeitig grundlegender Kritik an der Richtung der Entwicklung sowie den Ausformungen des modernen Kapitalismus in Europa. Man möchte „der EU einen anderen Inhalt geben: selbstständig von der US Hegemonie, offen gegenüber dem globalen Süden, alternativ zum Kapitalismus in seinem sozialen und politischen Modell [ … ]“. Dafür wird die „Notwendigkeit einer tiefgreifenden sozialen und demokratischen Transformation“ gesehen.

Grundsätzlich stammt die Europäische Linke in erster Linie aus der Tradition des Eurokommunismus und vertritt eine offene Kritik am „Kommunismus“ sowjetischer Prägung. Diese Kritik kommt aber nicht aus einer linken, revolutionären, sondern eigentlich aus einer rechten parlamentarisch-reformistischen Richtung. Die Tatsache, aber dass eine Kritik am „real existierenden Sozialismus“ geübt wird, führte in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten, in erster Linie mit den traditionalistisch ausgerichteten, stalinistischen Parteien (wie der KKE aus Griechenland, der PCP aus Portugal oder der ArbeiterInnenpartei Ungarns), die entweder nie Teil der Europäischen Linken wurden oder wieder austraten.

Transformationstheorie vs. Populismus

Die vorherrschende Ausrichtung der Europäischen Linken wird zumeist aus der Transformationstheorie abgeleitet bzw. mit ihr begründet. Kurz zusammengefasst geht es bei der Transformationstheorie (wahlweise auch als „radikaler Reformismus“, „radikale Realpolitik“ oder „revolutionäre Realpolitik“ bezeichnet) darum, den Widerspruch zwischen revolutionärer Politik (die fälschlicherweise zumeist mit den stalinistischen Parteien identifiziert wird) und Reformismus (also Sozialdemokratie) zu überwinden. An beiden wird Kritik geübt und – gestützt auf TheoretikerInnen wie Antonio Gramsci, Karl Polanyi oder Nicos Poulantzas – wird versucht, diesen Widerspruch zu überwinden. Hierbei wird mit zentralen Erkenntnissen der marxistischen Theorie gebrochen wie der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution, der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seiner Ersetzung durch die direkten Machtorgane der Arbeitenden und Unterdrückten. Kurz zusammengefasst lässt sich das beispielhaft an der Analyse von Nicos Poulantzas zeigen: „[D]as innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung effektiver Brüche, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig so ein Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt.” (Poulantzas, Staatstheorie) Was diese Theorie in der Praxis bedeutet, werden wir weiter unten noch genauer beschreiben. Für jene, die an einer ausführlicheren Kritik der Transformationstheorie interessiert sind, verweisen wir auf „Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption“, zu finden in unserem Theoriejournal Revolutionärer Marxismus Nr. 47 oder auf unserer Homepage.

In den letzten Jahren hat sich aber innerhalb des europäischen Linksreformismus noch eine weitere Strömung dazugesellt. Mit Podemos in Spanien, La France Insoumise von Mélenchon in Frankreich oder dem Flügel von Sahra Wagenknecht in der deutschen Linkspartei kam noch eine dezidiert populistische Ausprägung hinzu. Teilweise gestützt auf TheoretikerInnen wie Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, teilweise auch einfach beeinflusst durch die chauvinistischen Tendenzen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, kam es zu einer bewussten Ablehnung einer marxistischen Klassenanalyse und zu einer stärkeren Orientierung auf den Konflikt zwischen „dem Volk“ und „der Elite“. Zumeist geht das einher mit stärkeren Bezügen auf das Volk und die Nation und einer misstrauischen Haltung gegenüber Kämpfen gegen soziale Unterdrückungsformen wie Sexismus oder Rassismus (was hierbei gerne pauschal als Identitätspolitik bezeichnet wird).

Die Praxis der Europäischen Linken

Entscheidend für eine politische Partei ist natürlich nicht nur das politische Programm. Oft zeigt sich erst in der Praxis, aus welchem Holz vorgeblich fortschrittliche Kräfte wirklich geschnitzt sind. Das sieht man nur allzu oft, wenn sozialdemokratische oder grüne Kräfte an der Regierung beteiligt sind. Die nationalen Parteien der Europäischen Linken stehen natürlich im Vergleich zu diesen Kräften deutlich seltener in der Situation der Regierungsverantwortung, was die praktischen Beispiele stark einschränkt. Es gibt sie aber trotzdem.

Aktuell sind Kräfte der Europäischen Linken zum Beispiel in Spanien an der Regierung beteiligt. Gemeinsam mit der sozialdemokratischen PSOE, die den Regierungschef stellt, ist Unidas/Unidos Podemos – die Wahlallianz aus Podemos und dem EL-Mitglied Izquierda Unida – an der Regierung beteiligt. An den kapitalistischen Verhältnissen in Spanien hat sich dadurch aber überhaupt nichts geändert. Der Teil der Bevölkerung, der armutsgefährdet ist, hat sich seit ihrem Antritt nicht relevant verändert (21,5 % 2018; 21 % 2020), die Durchschnittslöhne setzten ihr kontinuierliches Sinken seit 2015 auch unter der Regierung mit Beteiligung der Europäischen Linken fort. Dass Spanien unter der „linken“ Regierung auch weiterhin eine Monarchie unterhält, Katalonien und dem Baskenland das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt und das europäische Grenzregime mitträgt, muss dazu kaum noch extra erwähnt werden. Das Schlimmste aus Sicht der Europäischen Linkspartei ist aber, dass sie als Juniorpartnerin überhaupt nicht von einem möglicherweise seriöseren Image als Regierungspartei profitiert. Kam Unidos/Unidas Podemos bei den Wahlen 2016 noch auf über 20 %, hält sie sich aktuell in Umfragen bei ungefähr 10 %. Profitiert haben hiervon auf der einen Seite die regierenden SozialdemokratInnen, auf der anderen die radikale Rechte von Vox.

Doch aus Sicht der Europäischen Linken könnte man natürlich argumentieren, dass man als Juniorpartnerin in einer Regierung oft nicht wirklich das eigene Programm durchsetzen kann (Warum geht man dann aber überhaupt in solche Regierungen?). Aber als Beispiel, wo Parteien der Europäischen Linken dominant an der Regierung beteiligt sind, kann man sich beispielsweise regionale Regierungen wie in Thüringen ansehen. Dort wird im Wesentlichen der kapitalistische Status quo mitverwaltet: Abschiebungen und Zwangsräumungen sind weiterhin normal, die Situation für die ArbeiterInnenklasse ist nicht substantiell besser als in den umliegenden Bundesländern etc. Wie wenig sich die Parteien der Europäischen Linken an der Regierung von der Sozialdemokratie unterscheiden, zeigt sich auch darin, wie wenig sie in offene Konflikte mit den Zentralregierungen kommen. Sogar das sozialdemokratische Rote Wien war hier deutlich fortschrittlicher positioniert.

Doch das wichtigste Beispiel ist gleichzeitig das tragischste: Griechenland. Hier wurde Syriza Anfang 2015 getragen durch eine Welle der Proteste der ArbeiterInnenklasse zur stärksten Kraft. Die griechische ArbeiterInnenklasse setzte große Hoffnungen in sie und ihr teilweise radikales Programm. Doch Syriza verriet ihre Basis und eigenen Grundsätze auf ganzer Linie. Nach dem von Alexis Tsipras einberufenen Referendum über die Schuldenrückzahlung, bei dem sich mehr als 60 % der GriechInnen gegen die Schuldenrückzahlungspläne von EU, EZB und IWF aussprachen, verriet Syriza einfach diese überwältigende Mehrheit und führte ein hartes Sparprogramm durch, das teilweise sogar schlimmer ausfiel als das der davor regierenden Konservativen. Gleichzeitig wurden in den Wochen nach dem Referendum die linken Kräfte in Syriza aus den wichtigen Positionen der Partei gedrängt. Dabei war Griechenland 2015 das zentrale Land des europäischen Klassenkampfes, wo die Zukunft der Sparpolitik entschieden wurde. Anstatt die griechische ArbeiterInnenklasse, die klassenkämpferischer und geschulter in Streiks und Besetzungen als jede andere in Europa war, zum Kampf und auf europäischer Ebene die Linke für eine Kampagne der internationalen Solidarität zu mobilisieren, wurde lieber dem Kapital klein beigegeben. Das ist die praktische Konsequenz der Transformationstheorie, die sich in der Praxis in nichts vom klassischen Reformismus sozialdemokratischer Prägung unterscheidet!

Mit dem Kapitalismus brechen, statt ihn zu verwalten!

Was Beispiele wie Griechenland oder Spanien zeigen, ist, dass die grundlegende strategische Ausrichtung nicht einmal im Eigeninteresse der Parteien der Europäischen Linken funktioniert. Vielmehr profitieren andere politische Kräfte (in Spanien die Sozialdemokratie und radikale Rechte, in Griechenland die Konservativen) von den hohlen Versprechungen der Parteien der EL. Doch international gibt es auch Beispiele wie die „trotzkistisch“ geprägte Front der Linken und ArbeiterInnen (FIT) in Argentinien, die bei den Wahlen im November diesen Jahres mit fast 1,4 Millionen Stimmen und 5,9 % zur drittgrößten Kraft aufgestiegen ist und eine Beteiligung am kapitalistischen Status quo ablehnt.

Wer ernsthaft den Kapitalismus überwinden möchte, kann sich nicht zu seinem/r HandlangerIn machen. Wo sich eine Partei zur Regierungsverantwortung im bürgerlichen Staat aufschwingt – egal ob führend oder als Juniorpartnerin, national oder regional – gerät sie letztlich immer zur Verwalterin des kapitalistischen Elends und der entsprechenden Verhältnisse.




[’solid] Berlin: Was tun mit dem ersten Schritt nach Links?

Lukas Resch, REVOLUTION, Infomail 1174, 21. Dezember 2021

Ein Beschluss gegen den RGR-Koalitionsvertrag, ein Antizionist im LandessprecherInnenrat (LSPR) und ein „Nein zur EU der Banken und Konzerne“, ein klares Bekenntnis zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“: Diese und weitere Entwicklungen in [’solid] Berlin sorgen seit der letzten Wahl für Aufsehen, bis in die bürgerlichsten Teile der Presse hinein. Einige Reaktionen aus der eigenen Organisation und der Mutterpartei lassen es scheinen, als hätte man das rote Berlin ausgerufen. Von ewig gestrigen StalinistInnen ist die Rede, öffentliche Hetzkampagnen gegen eigene Mitglieder lassen nicht lang auf sich warten. Was ist los in [’solid] Berlin?

The way so far …

Spricht man mit Mitgliedern, zeigt sich ein positiv gestimmtes Bild: Bei der Wahl zum LSPR schafften es die linkeren Basisorganisationen, diesen gemeinsam mit einigen neuen und vielversprechenden Gesichtern zu besetzen. Auch auf der letzten Landesvollversammlung zeichnete sich ein deutlich linkeres Bild ab als in der Vergangenheit. Unter anderem wurde beschlossen:

Eine Aufforderung an die Linkspartei Berlin, die Koalitionsverhandlungen abzubrechen, und an die Mitglieder, gegen den Vertrag und die Koalition mit den Grünen und der SPD zu stimmen; ein Beschluss gegen die alleinige Zusammenarbeit mit Jusos und grüner Jugend, um nicht als RGR-Jugend zu erscheinen. Eine Zusammenarbeit in größeren Bündnissen wird damit nicht ausgeschlossen.

Dies stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar, auch wenn es weiter notwendig sein wird, die Jusos als die Massenjugendorganisation einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei (1) zu gemeinsamen Mobilisierungen aufzufordern. Diese Notwendigkeit stellt sich auch bezüglich der Grünen Jugend, die trotz ihrer ökobürgerlichen Mutterpartei über eine Verankerung in der Umweltbewegung verfügt.

Eine Einschätzung der „EU der Banken und Konzerne“, die ersetzt werden soll durch „die Vereinigung europäischer Staaten“ (auch wenn unklar ist, wie diese  erreicht werden und wie sie aussehen soll), suggeriert immerhin einen „Bruch mit der EU“ (wobei aufgepasst werden muss, dass nicht einfach für einen „linken“ Austritt Deutschlands aus der EU eingetreten wird, sondern für eine sozialistische Vereinigung Europas).

Trotz allem: eine willkommene Entwicklung, die einige Mitglieder von [’solid] bereits von einem Linksrutsch sprechen lässt. Diese Entwicklungen sind, immerhin, ein frischer Wind, erst recht nach der zerschmetternden Wahlniederlage der Linkspartei bei der Bundestagswahl.

Grenzen

Deswegen wollen wir die Situation nutzen, um uns zu positionieren und zur Diskussion über das weitere Vorgehen etwas beizutragen.

Die neue Zusammenstellung des LSPR ist sicher ein Schritt nach vorne, auch wenn dieser noch in der kommenden Zeit beweisen muss, ob der radikale Ruf der ihm vorauseilt, auch entsprechende Taten mit sich bringt.

Die Ergebnisse der Landesvollversammlung sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Man stellt sich entschieden gegen die Ausrichtung der Berliner Linkspartei und erhebt den Anspruch, eine eigene, sozialistische Perspektive dagegenzuhalten.

Der erste Dämpfer ist da natürlich, die Abstimmung gegen die RGR-Koalition verloren zu haben. Von den 50 % der teilnehmenden Linksparteimitglieder haben 75 % für diese gestimmt.

Wie geht es jetzt also weiter für alle, die sich eine linkere, antikapitalistische Politik und Linkspartei wünschen und dafür im Jugendverband kämpfen?

Wir wollen uns auf zwei Punkte konzentrieren: die Grenzen, an die revolutionäre Jugendliche in der Linkspartei und [’solid] stoßen, und die Taktik, mit der sie kämpfen können.

Zunächst das Ernüchternde: Das, was in [’solid] Berlin passiert – ebenso die gewisse Bewegung in der Basis der Linkspartei –, stehen einer bundesweit gegenläufigen Tendenz gegenüber. Real sind die Linkspartei und ihr Jugendverband in den letzten Jahren nach rechts gegangen. Auch wenn sich in den letzten Wochen eine linke Opposition in Berlin gebildet hat und im Landesverband Nordrhein-Westfalen nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahlen ein linker Landesvorsitzender gewählt wurde, so ändert das noch nicht das Gesamtbild. Ramelows Regierungspolitik stellt keine Ausnahme dar. Für alle Landesregierungen mit LINKE-Beteiligung gilt: Mitgehangen, mitgefangen – mit kapitalistischer Realpolitik. Und das gilt auch für Berlin.

Das ist auch kein Zufall oder einfach eine Schwäche gegenüber der größeren SPD, sondern das Interesse der Linksparteiführung . Sie betreibt reformistische Politik, die immer nur den Kompromiss mit dem Kapitalismus sucht, mit dem Leute wie Klaus Lederer an sich ganz gut leben können. Daher ist es für ihn auch kein Problem gewesen, DWe fallen zu lassen.

An die Grenzen dieses Führungsapparates werden alle RevolutionärInnen, die gern eine andere Linkspartei und ein antikapitalistisches [’solid] hätten, irgendwann stoßen, solange dieser Apparat die Partei und ihre Strukturen kontrolliert – so, dass der Apparat die Kontrolle gut behalten kann. Das muss sich auch in [’solid] niederschlagen, und wenn es der Geldhahn ist, an dem die Mutter vielleicht mal dreht.

 … and the way ahead

Ohne über diese Grenzen Gedanken anzustellen, wird jeder Versuch, [’solid] revolutionär umzugestalten, in blindem Aktivismus und Selbstverbrauch oder aber Anpassung an den erwähnten Apparat enden. Unserer Meinung nach sollte sich daher jede//r klar machen, dass es bei der Konfrontation mit der reformistischen Mehrheit und dem Apparat um eine grundsätzliche Auseinandersetzung geht. Letztlich vertritt der Reformismus nicht den Klassenstandpunkt der Lohnabhängigen, sondern ordnet vielmehr deren Interessen jenen der herrschenden Klasse unter.

Trotzdem kann sich das Ringen mit dem Apparat lohnen und unzufriedene Jugendliche in (und außerhalb von) [‚solid] um revolutionäre oder wenigstens eine alternative Politik zu RGR sammeln. Dazu sollten die vorhandenen Ansätze der letzten Wochen vertieft werden. Konkret sollten sich alle Jugendlichen zu einer Opposition organisieren – einer Fraktion.

Die angepeilte Taktik, um die eigene Mutterorganisation mittels einer digitalen Kampagne wieder auf die eigenen Werte zu besinnen, begleitet von Veranstaltungen, kann das nur begrenzt leisten, ist sie doch dazu verurteilt, vor allem einen Nachhall im eigenen Kreis hervorzurufen.

Darüber hinaus braucht es ein Sammeln um Aktionen wie Demonstrationen bis hin zu Streiks in Schule und Betrieb und mehr – wenigstens braucht es jetzt die Debatte darum. Und für sich alleine bringen solche Aktionen auch noch nichts. Es sollte sich auf einige Forderungen verständigt werden, die für Jugendliche gerade akut sind, um die mobilisiert werden kann und mit denen auch andere – Jusos, Grüne Jugend, Gewerkschaftsjugendliche, DWe usw. angesprochen werden können. Beispiele?

  • Sofortige Umsetzung des DWe-Volksentscheids! Gerade Jugendliche können sich das Wohnen ohne (reiche) Eltern nicht leisten! Dazu braucht es eine Massenbewegung und die Unterstützung der Gewerkschaften und MieterInnenverbände, um die Vergesellschaftung durch politische Streiks und Mietboykotts durchzusetzen!
  • Für eine echte Verkehrswende in Berlin – keine S-Bahn-Zerschlagung, dafür massive Einschränkung des Straßenverkehrs, Ausbau von S-Bahn und Tram, kostenloser ÖPNV!
  • Für die Kontrolle über coronabedingte Schulöffnungen und -schließungen durch demokratische Komitees der SchülerInnen und LehrerInnen selbst!

Das sind nur mal drei Beispiele. Der Kampf um solche Forderungen ist einer gegen die RGR-Regierung, und damit gegen Lederer und Co! Völlig richtig ist deshalb, dass [’solid] am kommenden Dienstag zu Protesten gegen RGR aufruft.

Aber es sind die nächsten Monate, die durchscheinen lassen werden, ob die gewisse Dynamik in [’solid] (und Linkspartei) nach links weitergetrieben werden kann oder im Treibsand reformistischer Realpolitik ausgebremst wird. Denn trotz aller positiven Berliner Entwicklungen der letzten Monate im Windschatten der Wahlen – DWe, Krankenhausstreik oder eben auch ein gewisser Linksdrall in DIE LINKE – gegen die Regierung zu kämpfen wird eine andere Nummer, in der das Überwinden der defensiven Position mit davon abhängen wird, ob sich revolutionäre, antikapitalistische Kräfte sammeln können und in [’solid], Jusos usw. reinwirken können.

Daher sollten sich AntikapitalistInnen ernsthaft überlegen, inwieweit sie in ihrem Kampf auf die LINKE setzen wollen, die die nächsten fünf Jahre Verrat schon ab Tag 1 beginnt, oder ob ein revolutionärer Bruch mit der Partei sinnvoller ist. Früher oder später wird dieser unserer Meinung nach unausweichlich. So oder so sind wir für die Debatte mit Euch offen.

Übrigens: Vor sieben Jahren hat die Jugendorganisation REVOLUTION eine umfassende Broschüre rausgebracht, die [’solid] kritisch beleuchtete und RevolutionärInnen im Jugendverband einen Handlungsvorschlag zur Sammlung ihrer Kräfte machte … immer noch aktuell: http://onesolutionrevolution.de/wp-content/uploads/2011/04/Solid-Polemik_Lukas_Müller_2014.pdf

Endnote

(1) Unter einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei verstehen wir eine bürgerliche Partei, die sich jedoch über historische Verbindungen, über Gewerkschaften, proletarische Mitgliedschaft und WählerInnen auf die Klasse der Lohnabhängigen stützt, mit dieser organisch verbunden ist.




Berliner Linkspartei-Spitze in Feierlaune

Martin Suchanek, Infomail 1173, 19. Dezember 2021

Nach dem deutlichen Ja der LINKEN-Mitglieder zum Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen präsentierte sich die Parteispitze am vergangenen Freitag, den 17. Dezember, in seltener Feierlaune. Sie darf weitermachen – im Berliner Senat. Die Wahl der rechten Sozialdemokratin Franziska Giffey zur neuen Regierenden Bürgermeisterin der Hauptstadt gilt als sicher, die rot-grün-rote Landesregierung kann fortgesetzt werden.

Insgesamt beteiligten sich 4220 (53,64 %) der 8016 Mitglieder der Berliner Linkspartei am Entscheid über den Koalitionsvertrag, davon waren 3926 Stimmen gültig. 2941, also 74,91 %, votierten für Rot-Grün-Rot, 880 oder 22,4 % stimmten mit Nein, 105 (2,67 %) enthielten sich.

Die Landesparteivorsitzende Katina Schubert – und mit ihr die gesamte Senatsriege um den alten und zukünftigen Kultursenator Klaus Lederer – konnten ihre Freude kaum verbergen. „Das ist ein klarer Auftrag für uns. Das gute Ergebnis ist Rückenwind für die aktuellen und kommenden Herausforderungen,“ erklärt sie und lässt weiter verlauten:

„Wir haben angekündigt, den Berlinerinnen und Berlinern die Stadt zurückzugeben. Daran werden wir entschlossen und mit voller Kraft weiterarbeiten.

Am 20. Dezember 2021 werden unsere Senator:innen offiziell nominiert und sie werden ihre Ressorts mit progressivem Gestaltungswillen entschlossen ausfüllen. Wir haben uns viel vorgenommen, wie wir unsere Stadt in den nächsten Jahren weiter sozial und ökologisch verändern wollen.“ (https://dielinke.berlin/start/presse/detail/news/klares-ja-der-linken-mitglieder-zum-koalitionsvertrag-1/)

Kröten

Angesichts der miesen Bilanz der letzten fünf Jahre und des ausgehandelten Koalitionsvertrages fragt man sich: Lebt die Spitze der Berliner Linkspartei bloß in ihrer eigenen Welt, fernab jeder Realität? Ist sie einfach nur zynisch oder beides? Oder bewirbt sich da jemand für ein (Real-)Satiremagazin?

Faktisch begräbt der Koalitionsvertrag den Volksentscheid für die Enteignung der großen Wohnungsbaukonzerne, die Privatisierung schwebt weiter über der Berliner S-Bahn, die outgesourcten Töchter von Vivantes und Charité sollen auch in der nächsten Legislaturperiode nicht zurückgeholt werden. An den Schulen soll das reaktionäre BerufsbeamtInnentum wieder gestärkt werden. Freuen kann sich dafür die Berliner Polizei, deren Befugnisse ausgeweitet, deren Personal aufgestockt und für die auch neues (Repressions-)Gerät angeschafft werden soll. Die rassistische Abschiebepraxis soll, wie schon unter dem letzten Senat, fortgesetzt werden.

So viel zum „progressiven Gestaltungswillen“ der kommenden Jahre, so viel zur Rückgabe der Stadt an die Berlinerinnen und Berliner.

Für die ArbeiterInnenklasse und die Berliner Linke gibt es an der Fortsetzung der Koalition nichts schönzureden, nichts zu verteidigen. Im Gegenteil: DIE LINKE Berlin gerät nur zur noch jämmerlicheren Juniorpartnerin von SPD und Grünen. Deren SenatsheldInnen und die Mehrheit ihrer Abgeordneten werden wohl, da sollte sich niemand Illusionen machen, so ziemlich jede Kröte schlucken, so ziemlich jeden Scheiß mitmachen.

Da hilft es auch nichts, wenn die KoalitionsbefürworterInnen darauf verweisen, dass sie einige drittrangige „progressive“ Projekte fortführen und ansonsten einige Luftschlösser in den Senatskanzleien in Auftrag geben dürfen. Neben diesen „Gestaltungsspielräumen“ rechnen sich die UnterstützerInnen von Rot-Grün-Rot außerdem an, dass sie so die von Giffey eigentlich bevorzugte  Ampel in Berlin verhindert hätten. Damit die rechte Sozialdemokratin erst gar keine Chance hat, die Koalition zu brechen, gibt sich DIE LINKE nicht nur im Koalitionsvertrag so willfährig, wie es die FPD wohl nicht gewesen wäre.

Nun sollte niemand den Mitgliedern, die mit Ja gestimmt haben, unterstellen, dass sie damit auch jeden faulen Kompromiss, jedes Zugeständnis der Senatsriege und der Parteispitze gleich mit befürwortet hätten. Aber unabhängig von den politischen Illusionen, Wünschen oder vom Opportunismus der Mehrheit der Mitglieder wird die Führung deren Votum zur Rechtfertigung ihrer opportunistischen, bürgerlichen Politik im Senat und im Abgeordnetenhaus heranziehen. Schließlich würde sie nur den Willen der Basis umsetzen – und diesem mögen sich die parteiinternen KritikerInnen endlich beugen. Sie mögen schweigen oder am besten die Arbeit des Senats konstruktiv und „solidarisch“ begleiten.

Opposition

In der Tat wirft der Ausgang der Abstimmung ein Licht auf das Kräfteverhältnis in der Berliner Linkspartie und den Zustand der Organisation. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Mitglieder an der Abstimmung teilgenommen haben. Rund 4000 beteiligten sich erst gar nicht an der Entscheidungsfindung – und das bei einem für die Berliner Linkspartei zentralen politischen Thema. Dies illustriert ein für reformistische Parteien typisches Phänomen – nämlich, dass sich die Parteiführung nicht nur auf einen bürokratischen Apparat, sondern auch auf eine passive Mitgliedschaft stützt. Gerade weil die Arbeit in den verschiedenen Körperschaften des bürgerlich-parlamentarischen Systems die zentrale politische Aktivität der Partei ausmacht, bilden auch diese „AktivistInnen“, deren Masse nicht im Abgeordnetenhaus, sondern in Bezirksämtern, Beiräten, Bezirksverordnetenversammlungen sitzt, das eigentliche Rückgrat der Partei.

Dies erklärt auch, warum der Anteil der Nein-Stimmen in der Mitgliedschaft, also an der Basis, eher geringer ausfiel als unter den Parteitagsdelegierten, wo er über ein Viertel ausmachte. Leider liegen noch keine Zahlen vor, wie sich die 880 GegnerInnen der rot-grün-roten Koalition auf die Bezirke verteilen. Es dürften aber Neukölln und Mitte Zentren der Ablehnung bilden (jedenfalls was die öffentliche Wahrnehmung betrifft).

Schließlich erklärt die Mehrheit auch, dass die Berliner Linkspartei (und davor die PDS) schon seit Jahrzehnten von den RegierungssozialistInnen dominiert werden. Insofern bedeuten selbst 22,4 % Nein-Stimmen, dass diese Dominanz geschwächt wurde –, und das Agieren der rot-grün-roten Regierung könnte dieses Kräfteverhältnis weiter zugunsten der Opposition verschieben.

Es hängt von der Opposition ab, welche Perspektive sie selbst einnimmt, wie sie sich zur neuen Landesregierung, zur Parteimehrheit und zu den sozialen Bewegungen und den Lohnabhängigen verhält, die unweigerlich mit Rot-Grün-Rot in Konflikt geraten werden.

Sollten die GegnerInnen der Regierung darauf verzichten, den Kampf gegen die neue Regierung auf der Straße und parteiintern organisiert fortzuführen, so wäre die ganze Abstimmung wenig mehr gewesen als ein Sturm im Wasserglas. Die Opposition würde sich dann als politische Episode, als parteiinterne Begleitmusik zu den Niederungen der Regierungspolitik erweisen. Eine solche Opposition würde sich als politischer Wurmfortsatz der Parteiführung entpuppen, die ihrerseits wenig mehr als einen Wurmfortsatz von SPD und Grünen darstellt.

Die Opposition in der Linkspartei kann aber auch den Kampf aufnehmen und ihre Chance nutzen, die 880 Nein-Stimmen zu einer organisierten Kraft gegen die kommenden Angriffe der Regierung und gegen die RegierungssozialistInnen zu gestalten.

Dazu muss sie sowohl das Bündnis mit der Linken außerhalb und links der Linkspartei, mit den sozialen Bewegungen wie DWe enteignen, antirassistischen Kräften, der Krankenhausbewegung und vielen anderen vertiefen und suchen. Wir schlagen daher vor, rasch ein Aktionbündnis gegen die Angriffe des kommenden Senates zu gründen, um dagegen auf der Straße und in den Betrieben zu mobilisieren.

Das erfordert aber auch eine politische Klärung in der Opposition, die Schaffung einer politisch-programmatischen Plattform, die sich nicht nur gegen den Koalitionsvertrag, sondern auch gegen die reformistischen Grundlagen der Linkspartei richtet und für eine revolutionäre Alternative eintritt. Auch dazu sollte, ja müsste sich diese Opposition auch für die Linke außerhalb der Linkspartei öffnen, um so einen strategischen und programmatischen Diskussionsprozess zur sozialistischen Neuformierung voranzubringen.




Mitgliederentscheid Berliner Linkspartei: Nein zu Rot-Grün-Rot!

Martin Suchanek, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Bis zum 17. Dezember sollen die Mitglieder der Berliner Linkspartei in einer Urabstimmung entscheiden, ob ihre Koalition mit SPD und Grünen fortgesetzt werden soll oder nicht.

Für alle, die den Koalitionsvertrag einigermaßen nüchtern lesen, ist die Sache klar. Das Papier trägt die Handschrift des rechten Flügels der SPD, garniert mit allerlei bürgerlich-grünen Elementen. Giffey und Jarasch, SPD und Grüne, stehen politisch eng zusammen. Die Linkspartei sorgt für etwas Sozialschaum, Bewegungsberuhigung und eine Flankendeckung nach links, mit denen die FDP natürlich nicht dienen kann. Außerdem stellt die DIE LINKE allein schon durch das Mitmachen die linken Flügel von SPD und Grünen ruhig. Dafür werden diesmal giftige Kröten geschluckt, die selbst für sie, über Jahre im parlamentarischen Opportunismus erprobt, schwer verdaulich werden dürften.

Die Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne soll trotz klarer Mehrheit in eine sog. „Expertenkommission“ politisch entsorgt, der Wille von einer Million WählerInnen ignoriert werden. Das Bauressort geht, durchaus folgerichtig, an die SPD. Die Räumung besetzter Häuser wird ebenso fortgesetzt wie die von MieterInnen, die ihre Mieten nicht mehr zahlen können.

Auch wenn viel von einem Rückkauf der S-Bahn durch die Stadt erzählt wird, bleibt es weiter bei Ausschreibungen an private AnbieterInnen. Dass die rassistische Abschiebepraxis und „racial profiling“ nicht nur in sog. Problemgebieten weiter fortgesetzt werden, dafür steht nicht nur SPD-Innensenator Geisel. Die Befugnisse der Polizei werden ausgeweitet, ihre Kräfte aufgestockt und aufgerüstet.

Die Beschäftigten in den Krankenhäuser, in den Bezirken und bei den Ländern können weiter auf die Erfüllung sozialer Versprechungen warten. Im Bildungsbereich soll das reaktionäre Berufsbeamtentum wieder gestärkt werden.

Man muss schon zu den SchönrednerInnen aus der Spitze der Berliner Linkspartei gehören, um bei so viel Schatten auch noch Licht ausmachen zu können und unverdrossen an der Koalition festzuhalten.

Opposition

Doch erstmals seit die PDS und später die Linkspartei in Regierungen mit SPD bzw. SPD und Grünen eintraten, hat sich eine größere innerparteiliche Opposition gebildet, die sich gegen die weitere Regierungsbeteiligung wendet. So erzwang eine Gruppe von 47 Delegierten die Einberufung eines Landesparteitages zur Diskussion des Koalitionsvertrags für den 4. Dezember, ein erstes öffentliches Kräftemessen zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen der Fortsetzung des alten Senats als Rot-Grün-Rot (unter geänderten Kräfteverhältnissen).

Die GegnerInnen der Parteispitze reichen von grundsätzlichen KritikerInnen einer solchen Regierung bis hin zu deren ehemaligen UnterstützerInnen, für die jedoch eine Fortsetzung der Senatsbeteiligung auf Basis des Koalitionsvertrags einem politischen Selbstmord gleichkommt (und die damit einen gewissen Realismus an den Tag legen).

Erstere Parteilinkeströmung ist vor allem in der Plattform Zusammen für eine linke Opposition vertreten, die sich vor allem auf die linken Bezirksverbände Neukölln und Mitte stützt. Etliche ihrer bekannteren AnhängerInnen sind bei marx21 sowie AKL, SoL und SAV organisiert. Darüber hinaus unterstützen Linksjugend [’solid] und SDS Berlin die Plattform.

Ehemalige SenatsbefürworterInnen sind um linke Abgeordnete wie Katalin Gennburg gruppiert. Gennburg und andere Delegierte repräsentieren eine breitere Schicht von Mitgliedern und FunktionärInnen der Linkspartei, die zwar die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen nicht grundsätzlich ablehnen, den bestehenden Koalitionsvertrag aber schlichtweg für eine politische Zumutung und einen Ausverkauf aller linksreformistischen Versprechungen der Partei halten.

Insgesamt umfassen die beiden Strömungen rund ein Drittel der Delegierten zum Berliner Parteitag. Dass sich diese offene, bis hinein in Teile des Funktionärskörpers reichende Opposition bildet, hat wohl mehrere, miteinander verbundene Gründe:

a) Die desaströse Wahlniederlage der Linkspartei bei den Bundestags- und die Verluste bei den Berliner Wahlen. Diese haben den bestehenden Apparat geschwächt und damit auch den Kredit des Berliner Parteivorstandes und seiner KoalitionsmacherInnen.

b) Der Druck, den Bewegungen wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die Krankenhausbewegung und antirassistische Mobilisierungen auf die Partei ausüben.

Gerade weil die Berliner Linkspartei mit diesen zumindest teilweise verbunden ist, zeichnet sich deutlich ab, dass sie mit ihnen in Konflikt geraten wird, sollte sie die Beschlüsse des Senats umzusetzen müssen.

c) Die Wahlniederlage hat auch das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Strömungen durcheinandergebracht, die sich seit dem 26. September faktisch paralysieren.

Das Wagenknecht-Lager bewegt sich weiter nach rechts und arbeitet an seiner Selbstentsorgung, die RegierungssozialistInnen verfügen außer über die Zusammenarbeit mit SPD und Grünen über kein Konzept. Eine starke Opposition gegen eine neuerliche Senatsbeteiligung und erst recht die Verhinderung der Koalition würden ebenso wie die Wahl von Jules El-Khatib zum neuen Landessprecher in Nordrhein-Westfalen die Bewegungslinke stärken.

Berliner Landesparteitag und die Taktik der Spitze

Der Landesparteitag vom 4. Dezember stellte ein erstes Kräftemessen zwischen der Berliner Parteiführung und der Opposition dar. Vorweg: Wer die rund sechsstündige Übertrag miterlebte, konnte unschwer feststellen, dass zwischen den beiden Flügeln keine wirkliche Waffengleichheit besteht. Wie in reformistischen Parteien üblich, führte die Parteispitze auch gleich Parteitagsregie.

Das erste Drittel der Versammlung wurde von SprecherInnen der Führung, SenatorInnen, VerhandlerInnen und VertreterInnen der Bundespartei bestimmt, die sich fast ausschließlich für eine Fortsetzung der Koalition aussprachen.

Katina Schubert und Klaus Lederer präsentierten mit ihren Reden gewissermaßen das Skript für alle anderen UnterstützerInnen einer Koalitionsregierung.

Es gebe viel Schatten, vor allem den bitteren Verlust des Stadtentwicklungs- und Wohnungsressorts, aber eben auch viel Licht, das nicht übersehen werden dürfe. Außerdem existiere auch viel Gestaltungsspielraum in den Ressorts der Linkspartei.

Vor allem aber: Opposition führe zu Isolation und nicht zur Verankerung in außerparlamentarischer Opposition, die dann ja keine Ansprechpartnerin in der Regierung mehr hätte und für die es dann noch schlimmer käme. Die Partei dürfe nicht an Befindlichkeiten hängen und in die „Wohlfühlzone“ Opposition zurückziehen, sondern müsse für die Menschen da sein. Elke Breitenbach, die scheidende Sozialsenatorin, bemühte gar Bertolt Brecht. Wer im Senat kämpfe, könne verlieren, wer nicht kämpfe, also in die Opposition gehe, habe schon verloren. Wo DIE LINKE eigentlich in Jahren ihrer Regierungsbeteiligung wirklich gesiegt hat, verschwieg Breitenbach geflissentlich.

Schließlich wurde von der Parteispitze auch noch die FDP als mögliche alternative Regierungspartnerin von SPD und Grünen ins Spiel gebracht. Wer die Koalition ablehne, würde objektiv nur Giffey helfen, doch noch die Ampel durchzusetzen. Da macht die Linkspartei die Ampelpolitik, natürlich mit einigen nebensächlichen Verbesserungen, gleich selbst und verhindert so die FDP.

Auch während der weiteren Stunden sprach sich eine Mehrheit der Delegierten für die Fortsetzung der Koalition aus. Zusätzlich gestützt wurde dies durch etliche, wenn nicht alle VertreterInnen von Gewerkschaften, Bündnissen wie DWe und der sog. Stadtgesellschaft. Die meisten waren für eine rot-grün-rote Koalition trotz ihrer Schattenseiten. Einige warnten jedoch auch recht deutlich davor. So enthielt sich Rouzbeh Taheri von DWe zwar einer direkten Empfehlung zum Nein, stellte aber die Frage in den Raum, wie die Linksparteispitze eigentlich auf die Idee komme, dass sie politisch geschwächt all das im Senat durchsetzen könne, was ihr vier Jahre nicht gelang.

Interessant war auch, dass sich Tom Erdmann von der GEW trotz Vorbehalten für einen rot-grün-roten Senat aussprach, weil sonst die FDP drohe. Die ver.di-Vertreterin Jana Seppelt erklärte hingegen, dass die Aktiven der Krankenhausbewegung enttäuscht und sauer auf die Koalitionsregierung seien und ihr Fachbereich keine eindeutige Position zu deren Fortsetzung einnähme.

GegnerInnen

Die GegnerInnen der Koalition waren unter den SprecherInnen eindeutig in der Minderheit, was aber auch der Parteitagsregie selbst geschuldet war. Dies machte Lucia Schnell in ihren Beiträgen und einem Geschäftsordnungsantrag deutlich, als sie aufzeigte, dass sich unter den RednerInnen relativ wenige Personen befanden, die „nur“ Delegierte zum Landespartei waren und keine BerichterstatterInnen von Verhandlungsgruppen, SenatorInnen oder Gäste.

GegnerInnen der Weiterführung der Koalition wie Katalin Gennburg verwiesen darauf, dass das Gerade von Licht und Schatten banal sei und von der eigentlichen Frage nur ablenke, nämlich war am Schalter einer rot-grün-roten-Regierung säße – und das wären alle anderen, nur nicht die Linkspartei.

Ferat Koçak, einer der bekanntesten GegnerInnen der Fortsetzung der Koalition, kritisierte, dass die Linkspartei nicht nur ein paar Kröten, sondern einen Elefanten schlucken müsse, wenn sie in die neoliberale Regierung mit „racial profiling“, Abschiebungen und Wohnungsräumungen eintrete. Er machte auch deutlich, dass er in jedem Fall bei der Wahl des neuen Senats im Abgeordnetenhaus mit Nein stimmen werde.

Keine Abstimmung

All das wird die Spitze der Linkspartei, deren Opportunismus nur durch schier endlosen Selbstbetrug übertroffen wird, nicht weiter jucken. Sie wird vielmehr alle Mittel, die dem Apparat zur Verfügung stehen, dafür einsetzen, dass bei der Urabstimmung ein Ja rauskommt. Dies hätte für die Parteiführung den zusätzlichen Wert, die politische Verantwortung für die Senatsbeteiligung im Krisenfall der Basis zuzuschieben, die ihr ja in dieser Form von plebiszitärer Demokratie den „Auftrag“ erteilt hätte.

Auf welche Kniffe die Parteiführung dabei zurückgreift, zeigt schon der Parteitag. Nach sechs Stunden Debatte stand ein Antrag von Katalin Gennburg und anderen Delegierten zur Abstimmung, der folgende Empfehlung enthielt: „Der Landesparteitag von DIE LINKE Berlin empfiehlt den Mitgliedern des Landesverbands, beim Mitgliederentscheid den Koalitionsvertrag abzulehnen und entsprechend mit ‚Nein’ zu stimmen.“

Zur Abstimmung gelangte dieser jedoch nicht. Die Parteivorsitzende brachte einen Antrag auf Nichtbefassung ein, der mit 82 Für- bei 57 Gegenstimmen und drei Enthaltungen angenommen wurde.

Schubert begründete ihren Antrag auf Nichtbefassung damit, dass die Mitglieder das Recht haben müssten, eigenständig zu entscheiden. Eine Empfehlung würde den Mitgliederentscheid konterkarieren. Klingt demokratisch, ist es aber nicht. Schließlich gibt es eine faktische Empfehlung, für eine Fortsetzung der Koalition zu stimmen – durch das Verhandlungsteam und die Parteiführung. Dass der Parteitag über eine Empfehlung erst gar nicht abstimmen durfte, heißt nur, dass er kein Votum darüber abzugeben ermächtigt wurde, ob er die Position der Spitze und der Verhandlungsführung annimmt.

Nein zu Rot-Grün-Rot!

Die Bedeutung der Urabstimmung der Berliner Linkspartei sollte in den kommenden Wochen nicht unterschätzt werden. Schließlich bildet ihr Ausgang, selbst wenn sich die Parteiführung durchsetzen sollte, einen Gradmesser für das Kräfteverhältnis. Nicht minder wichtig ist jedoch, wie die Opposition oder, genauer, die verschiedenen Oppositionskräfte handeln werden, um sich als organisierte politische Kraft in der Linkspartei zu formieren. Gelingt ihnen das nicht, stellt die ganze Ablehnung der Giffey-Regierung wenig mehr als Schall und Rauch –  einen Theaterdonner, ein reformistisches Trauerspiel dar. Entscheidend ist daher, mit welcher Perspektive, mit welchen Initiativen sich eine solche Opposition nicht nur innerparteilich, sondern auch in den Mobilisierungen gegen den nächsten Senat formiert. Dazu braucht die Opposition in der Linkspartei freilich mehr als warme Worte für Initiativen wie DWe, die Krankenhausbewegung oder antirassistische Mobilisierungen. Sie muss gemeinsam mit anderen eine Aktionskonferenz organisieren zum Kampf für die Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne, gegen den Pflegenotstand, Abschiebungen und „racial profiling“, die Pseudoumweltpolitik des Senats, für die Rekommunalisierung der S-Bahn und im Widerstand gegen die anderen rot-grün-roten Schweinereien.




Linkspartei und Rot-Grün-Rot – Mitregieren um jeden Preis

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 260, November 2021

In Berlin haben die Koalitionsverhandlungen am 22. Oktober begonnen. SPD, Grüne und DIE LINKE tagen über den Rahmen kommender Landespolitik. Am 15. Oktober hatten die drei Parteien ihre Sondierungsergebnisse vorlegt. Am 5. Dezember hat die Berliner SPD angekündigt, auf einem Landesparteitag über den Vertrag und somit die Regierungsbildung abzustimmen.

Der Autor selbst ging vor der Wahl davon aus, dass die Orientierung Giffeys (SPD) und ihrer VerhandlungsführerInnen auf eine Deutschland- und nach der Wahl auf eine Ampelkoalition gerichtet ist. Jedoch ließ sich dies innerhalb der Berliner SPD angesichts des Wahlergebnisses und des Drucks der Grünen für eine Fortsetzung der bisherigen Koalition (R2G), unter geänderten Mehrheitsverhältnissen als Rot-Grün-Rot (RGR), nicht durchsetzen.

Doch nicht die Form, sondern der Inhalt ist entscheidend. Hier konnte Giffey durch ihre Drohgebärde, DIE LINKE jederzeit durch die FDP ersetzen zu können und zu wollen, punkten. Dieses Vorgehen reichte aus, um DIE LINKE zu prinzipienlosen Zugeständnissen zu bewegen. In den Sondierungsergebnissen steht beispielsweise zum Volksentscheid Folgendes: „Die neue Landesregierung respektiert das Ergebnis des Volksentscheides und wird verantwortungsvoll damit umgehen. Sie setzt eine Expertenkommission zur Prüfung der Möglichkeiten, Wege und Voraussetzungen der Umsetzung des Volksbegehrens ein.“ (Sondierungspapier Berlin, S. 2). Es wird deutlich, dass viele hohle Phrasen und nicht die Frage des „Wie“, sondern des „Ob“ der Enteignung hier formuliert wurden. Dafür soll eine ExpertInnenkommission eingesetzt werden, die ein Jahr prüfen soll, um dann dem Abgeordnetenhaus einen Vorschlag vorzulegen. Wie das Abgeordnetenhaus im Allgemeinen und RGR im Speziellen damit beabsichtigen umzugehen, wird nicht erwähnt. Diese Durchsetzung trägt Franziska Giffeys Handschrift – in „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ deshalb auch Dolores Umbridge genannt. Dies gleicht einer Verschleppungstaktik, die darauf wettet, dass die MieterInnenbewegung bis dahin aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden und unfähig ist, der Blockade etwas entgegenzusetzen.

Anstelle dessen spricht das Sondierungspapier von Baubündnissen und von „Kooperation statt Konfrontation“ (ebd.) – was angesichts bestehenden Leerstandes, drohender Inflation, auslaufender Sozialbindung von Wohnraum, explodierenden Bodenpreisen, Luxussanierungen und -neubau nichts weiter als eine Nebelkerze ist. Deutsche Wohnen hatte schon vor dem Volksentscheid niedrigpreisige Bauprojekte versprochen. Diese werden nun verspätet fertiggestellt und „müssen“ doch hochpreisig vermietet werden. Von öffentlichen Bauvorhaben wird nicht gesprochen, sondern von Aufstockung im urbanen Bauen, also teuren Dachgeschosswohnungen in den Innenstädten durch zumeist Private.

DIE LINKE – regieren um jeden Preis?

DIE LINKE wurde also durch die Sondierungstaktik von SPD und in gewisser Form den Berliner Grünen weichgeklopft, sodass sie ihre roten Haltelinien zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ aufgab – hier nur als ein Beispiel. Der außerordentliche Delegiertenparteitag der Berliner Linken am 19.10. stimmte zuerst über die grundsätzliche Frage der Bereitschaft zur Teilnahme an einer Koalition mit SPD und Grünen ab, bevor die inhaltlichen Linien der Koalitionsverhandlungen festgelegt wurden. So erschien der Antrag, dass die Integration eines Vergesellschaftungsgesetzes in einen Koalitionsvertrag Vorbedingung zur Beteiligung der Linken an einer Koalition sei, als reine Makulatur. Darüber hinaus wurde der Antrag durch den geschäftsführenden Landesvorstand so abgeändert, dass eine Ablehnung eines Vergesellschaftungsgesetzes durch SPD und Grüne kein Grund zum Bruch der Koalition sei. Über den Originalantrag wurde nicht mehr abgestimmt.

Dies zeigt mindestens zweierlei. Einerseits versucht die Führung der Linken, um jeden Preis Teil der Regierung zu werden, anstatt sich auf den konsequenten Kampf zur Umsetzung der Interessen ihrer sozialen Basis zu orientieren (Krankenhausbewegung, Mietenvolksentscheid, S-Bahn). Andererseits ist die Opposition innerhalb der Berliner Linken zwar vertreten und sichtbar, stellt jedoch keinen organisierten Pol dar. Die Möglichkeiten dazu sind jedoch gegeben.

Enteignung oder Opposition!

Am 20. Oktober legten Teile der Linkspartei-Basisorganisation (BO) Wedding ein Statement gegen den Ausverkauf des Volksentscheids durch ihre Partei vor. Darin steht unter anderem: „Für uns ist klar: Die ins Abgeordnetenhaus gewählten Parteien sind mehrheitlich gegen eine Umsetzung von DWe. Das muss für uns als LINKE bedeuten: Wir müssen aus der Opposition im Schulterschluss mit der Bewegung, für eine Umsetzung der Vergesellschaftung kämpfen“. Auch die Landesvollversammlung der Linksjugend [’solid!] hat sich mehrheitlich gegen eine Fortsetzung dieser Dreierkoalition ausgesprochen.

In der Berliner Linkspartei heißt es derweilen seitens des Vorstands, dass man den Koalitionsvorschlag abwarten solle, da dieser erneut durch einen Landesparteitag bestätigt werden müsse. Die perfiden bürokratischen Manöver auf dem Kleinen Parteitag am 19.10 zeigen, dass das eine Finte ist. Die Linkspartei ist strategisch auf die Regierungspolitik orientiert. Linke in DER LINKEN müssen bereits jetzt gegen eine Regierungsbeteiligung ohne das Ziel der Enteignung großer privater Immobilienkonzerne mobilmachen und sich in der Partei und öffentlich darum organisieren.

Neue Regierung – alte, aber verschärfte Probleme

Doch nicht nur auf dem Wohnungsmarkt brennt es. Dämmern doch angesichts des Fortbestands der Schäuble’schen schwarzen Null mitten in der dreifachen Krise aus drohendem wirtschaftlichen Kollaps, ökologischer Katastrophe und weltweiter Pandemie andere Problemfelder. Die fiskalpolitischen Spielräume werden immer kleiner. Doch DIE LINKE hält sehenden Auges auf diese Probleme zu, anstatt sich auf die Seite des Widerstandes gegen drohende soziale Kahlschläge zu stellen. An der Landesregierung befände sie sich hier notwendig in einem Widerspruch, einerseits von kapitalistischen Sachzwängen geleitet, das Elend der Krise mitzuverwalten, und andererseits, dem sozialen Widerstand dagegen dadurch das Wasser abzugraben. Und das fortan unter verschärften Bedingungen.

Bereits in der vergangenen Legislatur wurde dieses Problem sichtbar. So „erkämpfte“ DIE LINKE im letzten Koalitionsvertrag, dass die Situation in den kommunalen Krankenhäusern verbessert werden solle, was nur durch eine Streikbewegung in Teilen erkämpft werden konnte. Andererseits setzte sie im Jahr 2020 3.111 Zwangsräumungen mit durch, schob 968 Menschen ab, räumte linke Hausprojekte und Jugendzentren wie u. a. die Liebig34, den Köpi-Wagenplatz, den Drugstore, brachte die Teilprivatisierung der Berliner S-Bahn und Schulen voran. Die Liste ist unvollständig, zeichnet aber ein beachtliches Bild an bereits erfolgreichen sozialen Angriffen von R2G.

Auch für die Umweltbewegung bleibt nicht viel Hoffnung in die neue Regierung, baut diese doch weiter an der A100 oder überlässt die Einhaltung von Klimazielen Förderpaketen für energetische Sanierungen, während die landeseigenen Unternehmen künftig als CO2-neutrale Vorbilder gegenüber der Wirtschaft agieren sollen.

Die Linken in DIE LINKE werden sich fragen müssen, wie weit sie noch den Niedergang ihrer Partei „kritisch“ begleiten wollen. Den Widerspruch, die Parlamentspartei zu verkörpern, die sich am meisten auf solche sozialen Bewegungen stützt, und letztere stets durch die Politik des vermeintlich kleineren Übels vor den Kopf zu stoßen, können sie nur positiv lösen, indem sie nicht weiter immer giftigere Kröten im Interesse der Parteieinheit schlucken. Sie müssen vielmehr einen offenen Kampf gegen die RegierungssozialistInnen führen und dürfen dabei auch vor einem politischen und organisatorischen Bruch nicht weiter zurückschrecken.




Landesparteitag DIE LINKE Berlin: mit gebührender Begleitmusik

Jürgen Roth, Infomail 1167, 21. Oktober 2021

Wenig überraschend hat DIE LINKE Berlin auf ihrem außerordentlichen Landesparteitag am 19.10.2021 mit deutlicher Mehrheit der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen zugestimmt. Das 6-seitige Sondierungspapier, das eine Kommission aus den 3 Parteien vorgelegt hat, stellt damit kein Hindernis für die Fortführung der alten Senatskoalition (R2G) – unter geänderten Kräfteverhältnissen aufgrund des Wahlergebnisses als RGR – mehr dar.

Umstrittene Sondierungsergebnisse

Es blieben im Wesentlichen zwei: die von der scheidenden grünen Verkehrssenatorin forcierte Ausschreibung der S-Bahn und damit ihre Zerschlagung und forcierte Privatisierung sowie der Umgang mit dem Volksentscheid für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne mit mehr als 3.000 Wohneinheiten. Innensenator Geisel (SPD) darf es beruhigen, dass das von ihm verlangte neue Landespolizeigesetz von keiner der 3 Parteien mehr infrage gestellt wird.

In der Wohnungsfrage setzte sich im Sondierungspapier die Handschrift der designierten Regierenden Bürgermeisterin, Franziska Giffey, durch. Der Schwerpunkt liegt demnach auf dem Neubau von angestrebten 20.000 Wohnungen pro Jahr. Ein Bündnis für bezahlbaren Neubau mit der renditehungrigen privaten Immobilienlobby soll es also richten. Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, hält das Ziel von 200.000 bezahlbaren Wohnungen bis 2030 für unrealistisch. Für ihn bleibt unklar, wer die denn bauen soll. Dem schließt sich auch der Berliner BUND-Landesgeschäftsführer, Tilmann Heuser, an: „Es ist relativ klar, dass zu den aktuellen Baukosten kein bezahlbarer Wohnraum entstehen kann.“ (NEUES DEUTSCHLAND, 19.10.2021, S. 9)

Wild hält zudem die Einstellung, dass man über den Markt, über die Neubaumenge die Preise im Bestand beeinflussen könne, für problematisch. Linksfraktionsmitglied Katalin Gennburg bemängelt, dass das Verhältnis von einem Prüfauftrag für den klaren Volksentscheid zur reinen Orientierung auf ein Neubaubündnis der Realität und der eingeleiteten stadtpolitischen Wende nicht standhalte.

Gedämpfte Begleitmusik im Saal …

Spitzenkandidat der Linkspartei, Klaus Lederer, hatte im Vorfeld des Parteitags die Einsetzung einer ExpertInnenkommission zur Ausarbeitung eines Enteignungsgesetzes empfohlen. Von der Kontrolle der Umsetzung durch die von der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWe) mobilisierte Volksentscheidsmehrheit und MieterInnenbasis insbes. in der Frage der Entschädigungshöhe und Betriebsführung der verstaatlichten Wohnungen redet dieser auf den parlamentarischen Kuhhandel fixierte Reformist also erst gar nicht.

Das tut auch die innerparteiliche Opposition um Landesvorstand Moritz Warnke und die 3 Abgeordneten Elif Eralp, Katalin Gennburg und Niklas Schenker leider nicht. Doch immerhin formulierte sie einen Antrag an den Landesparteitag, dass die Verpflichtung zur Vorlage eines vom zukünftigen Senat erstellten Enteignungsgesetzes im Abgeordnetenhaus im Koalitionsvertrag verankert und dies zur zwingenden Voraussetzung gemacht werden soll, um in eine Koalition mit SPD und Grünen einzutreten. Damit steht sie deutlich links von Lederer. Es versprach also, ein lebhafter Parteitag zu werden, auch wenn die AntragstellerInnen grundsätzlich eine Koalition mit einer offen bürgerlichen Partei wie den Grünen für möglich halten.

Natürlich wurde auch diese Opposition im Vorfeld unter Druck gesetzt und die Abstimmung über den Antrag von Warnke und anderen wurde erst abgehandelt, nachdem über die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen entschieden worden war. Dies geschah mit einer deutlichen Mehrheit, eine Auszählung der Gegenstimmen und Enthaltungen gab es nicht.

Schließlich wurde der Antrag abgestimmt, die Erstellung eines Enteignungsgesetzes zur Bedingung für eine Koalition zu machen. Er selbst kam jedoch nie zur Abstimmung, weil unter diesem Punkt zuerst ein Ergänzungsantrag der Mehrheit des Landesvorstandes behandelt wurde, der zwar das Ziel eines Enteignungsgesetzes bekräftigte, aber dies nicht zur Bedingung für eine Koalition macht.

Diese Ergänzung, die den Antrag praktisch in sein Gegenteil verkehrte, wurde mit 86 Ja- bei 53 Nein-Stimmen und einer Enthaltung angenommen. Damit war die Opposition geschlagen.

Katina Schubert, die für den Antrag des Parteivorstandes eintrat, stellte die Sache so dar, als ginge es nur um eine taktische Frage, wie das gemeinsame Ziel – die Fortsetzung der Koalition und die Verhinderung einer Ampel – erreicht werden könne.

Hier handelt es sich jedoch keineswegs bloß um ein untergeordnetes Manöver. Vielmehr wird darin deutlich, dass die Linkspartei und besonders deren Führung eine Koalition mit SPD und Grünen, also die Bildung eines linksbürgerlichen Senats, zum Credo „linker“ Politik macht, dem alles andere – auch die Reformsprechen der Linkspartei, auch die Umsetzung einer klaren demokratischen Entscheidung von über einer Million BerlinerInnen – untergeordnet wird.

Der ansonsten gern beschworene Dialog mit den sozialen Bewegungen, als deren parlamentarische Vertretung sich die Linkspartei gern darstellt, fand auf dem außerordentlichen Parteitag daher erst gar nicht statt. Die VertreterInnen von DWe, Gemeingut in BürgerInnenhand (GIB) und die Streikenden der Vivantes-Töchter durften unter dem fadenscheinigen Vorwand des Hygieneschutzes keine Delegation auf den Parteitag entsenden.

… lautstarkes Open-Air-Konzert davor

Das sahen gut 100 AktivistInnen vor dem ND-Gebäude am Franz-Mehring-Platz, in dem die Linksparteidelegierten tagten, anders. Sie rekrutierten sich überwiegend aus DWe, GIB, das u. a. gegen die Zerschlagung der S-Bahn und Schließungen von Krankenhäusern eintritt, und zahlreichen Streikenden aus den Tochterunternehmen des kommunalen Krankenhauskonzerns Vivantes, die sich weiterhin im Ausstand befinden. Letztere nehmen es dem Senat übel, dass er in der abgelaufenen Legislaturperiode sein Versprechen, die Töchter wieder unterst Dach der Landesunternehmensmütter zurückzuführen, nicht wahrmachte, sondern auch als quasi Eigentümervertretung für ihren Kampf um eine demgegenüber bescheidene Forderung nach Angleichung an den TVöD bisher keinen Finger krummgemacht hat.

„TvöD – für alle an der Spree!“, „S-Bahn für alle – jetzt!“ und „Vonovia & Co. enteignen – jetzt!“ waren denn folgerichtig auch die am meisten und lautesten gebrüllten Parolen. Welch herzerfrischender Kontrast zur üblichen Konzentration aufs parlamentarische Gerangel!

Die Mehrheit der Delegierten scheint das kaltgelassen zu haben.

Doch es ist dieses Potenzial, auf dem sich ein zukünftiges Antikrisenbündnis gegen die zu erwartenden Angriffe der nächsten Bundesregierung aufbauen lässt. Die Linken in DIE LINKE werden sich fragen müssen, wie weit sie noch den Niedergang ihrer Partei „kritisch“ begleiten wollen. Den Widerspruch, die Parlamentspartei zu verkörpern, die sich am meisten auf solche sozialen Bewegungen stützt, und letztere stets durch die Politik des vermeintlich kleineren Übels vor den Kopf zu stoßen, können sie nur positiv lösen, indem sie nicht weiter immer giftigere Kröten im Interesse der Parteieinheit schlucken. Sie müssen vielmehr eine einen offenen Kampf gegen die RegierungssozialistInnen führen und dürfen dabei auch vor einem politischen und organisatorischen Bruch nicht weiter zurückschrecken.




Berlin: Giffey bereitet die Ampel vor

Martin Suchanek, Infomail 1166, 11. Oktober 2021

Bis Mitte Oktober soll die Berliner SPD entscheiden, mit wem über einen neuen Senat verhandelt werden soll. Die Signale stehen auf Ampel, daran lässt die SPD-Spitzenkandidatin und nächste Bürgermeisterin, Giffey, keinen Zweifel.

Nachdem sich die Berliner SPD im Wahlkampf noch offiziell bedeckt gehalten hatte, verkündet sie, dass die Partei eine Koalition mit Grünen und FDP gegenüber der Fortsetzung von Rot-Grün-Rot favorisieren würde.

Bemerkenswert daran: Ob eine Mehrheit der Berliner SPD hinter diesem Kurs steht, ist zumindest zweifelhaft. Warum aber die Mitglieder oder einen Parteitag fragen, wenn es mit einer Mehrheit im Vorstand auch geht und mit der von Giffey und dem rechten Parteiflügel geleiteten Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen schon mal Fakten geschaffen werden können?

Mit einem geschickten Manöver gelang es Giffey, die Grünen nicht nur als sicheren Koalitionspartner, sondern auch für parallele Sondierungen mit der FDP zu gewinnen, obwohl die Grünen die rot-grün-rote Regierung fortsetzen wollen. Die Linkspartei würde dabei wohl auch keine Probleme machen. Jedenfalls nach außen hin erklärt sie beständig, dass sie für eine „Reformkoalition“, also eine linke Flankendeckung eines von Giffey geführten Senats bereit wäre.

Doch die SPD-Rechte will offenbar nicht. Wie im Bund setzt sie auf eine Ampel-Koalition. Dass sich die Grünen darauf einließen, zeigt vor allem eines. Auch die angeblich linkere Berliner Partei ist nichts weiter als der lokale Ableger einer offen bürgerlichen Kraft, die für alle Koalitionen mit den sog. demokratischen Parteien offensteht und auf ihre Posten im Senat nicht verzichten will. Sicherlich spielte bei deren Zustimmung zur Sondierung mit der FDP auch mit, dass die SPD rein rechnerisch auch mit CDU und FPD eine Koalition bilden könnte. Letztlich zeigen die letzten Wochen, dass die Grünen auch in Berlin der Linkspartei keineswegs näher stehen als den Liberalen.

Ampel als Garant gegen Enteignung

Dass die SPD-Rechte nie glücklich über eine Koalition mit der Linkspartei war, stellt kein großes Geheimnis dar. Aber Giffey, Saleh, Geisel und Co. fürchten diesmal, dass sie in einer rot-grün-roten Koalition unter den Druck der Mitglieder und WählerInnenbasis aller Senatsparteien geraten könnten, den Volksentscheid zur Enteignung der großen privaten Immobilienhaie durchzusetzen.

Eine Bürgermeisterin Giffey würde dessen Umsetzung auch in einem rot-grün-roten Senat hinauszögern, verschleppen und verwässern. Die Grünen würden das Spiel auch mitspielen und versuchen, mit den Wohnungskonzernen eine freiwillige Begrenzung der Mieten zu verhandeln. Angesichts des Geschäftsmodells der Unternehmen würden sich alle diese Maßnahmen jedoch früher oder später als politische Placebos entpuppen und der Enteignungsforderung neue UnterstützerInnen zutreiben.

Auch wenn die Linkspartei die Enteignung wahrscheinlich nicht zur Koalitionsbedingung machen würde, so wäre es selbst für die Leute um Lederer schwer, ganze fünf Jahre alles für den Frieden mit der SPD-Rechten und den Konzernen zu verschleppen.

Bedenkt man außerdem, dass selbst in der Berliner SPD die Mehrheit auf einem Parteitag zugunsten einer Enteignung und der Umsetzung des Volksentscheides kippen könnte, dem die Mehrheit ihrer WählerInnen und Mitglieder zugestimmt hat, so wäre eine rot-grün-rote Koalition eine, bei der sie ständig erklären müsste, warum sie dem Willen der BerlinerInnen und auch der UnterstützerInnen der Koalitionsparteien nicht folgt.

In dieser „Not“ kommt die FDP gerade recht. Die Verteidigung des Privateigentums bildet schließlich den Kern ihres Kampfes um sog. Freiheitsrechte.

Für SPD und Grüne bildet eine FDP in der Koalition zugleich eine willkommene Ausrede dafür, warum eine Enteignung der Wohnungskonzerne nicht möglich ist. Zum Trost präsentiert eine solcher Senat womöglich einige Selbstverpflichtungserklärungen der Unternehmen, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen. Sie bringen den MieterInnen zwar nichts, aber sie machten sich gut im Koalitionsvertrag. Ein solcher würde wahrscheinlich mit allerlei Bekenntnissen zum Wohnungsbau garniert werden, samt Subventionen für private BauträgerInnen und ökologischer Sanierung dieses potemkinschen Dorfes.

Giffey und Jarasch kennen außerdem ihre Parteilinken. Diese stehen zwar einer Ampel skeptisch bis ablehnend gegenüber, einen wirklichen Kampf um die Koalitionsfrage würden sie jedoch nicht riskieren. Letztlich werden sie wohl die Kröte FDP schlucken, denn diese Parteilinken verfügen zwar über wenig Rückgrat, dafür aber über einen kräftigen Magen.

Linkspartei

Daher wird der Linkspartei ihre ganze Anbiederung an SPD und Grüne wahrscheinlich nichts nützen. Der Koalitionszug fährt wohl ohne sie ab – und das obwohl sie freiwillig von der wichtigsten konkreten Forderung an einen neuen Senat absieht, der nach sofortiger Umsetzung des Volksentscheids. Die Linkspartei verzichtet aus gutem Grund darauf, dies zur Vorbedingung für eine Senatsbildung zu machen, denn ihrer Führung ist bewusst, dass SPD und Grüne auf diese nicht eingehen werden und zur Zeit der gesellschaftliche Druck noch viel zu gering ist, als dass sie sich dazu gezwungen sähen.

Dieser Sachverhalt offenbart zugleich den zweifelhaften Wert einer Neuauflage der rot-grün-roten Koalition für die MietenaktivistInnen und alle anderen gesellschaftlichen Bewegungen. Schließlich hatten SPD, Grüne und Linkspartei ganze fünf Jahre Zeit, beispielsweise die Lage im Gesundheitsbereich und an den Krankenhäusern zu verbessern.

Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage, angesichts steigender Preise und des Diktats der Schuldenbremse wird der Spielraum für soziale Maßnahmen in Berlin und anderswo deutlich schrumpfen. Jede größere, substantielle Reform erfordert unter diesen Bedingungen, sich mit (Teilen) der KapitalistInnenklasse  anzulegen und in den Betrieben und auf der Straße zu mobilisieren. Doch genau das wollen SPD und Grüne nicht. Eine FPD als Senatspartei kann hier noch als zusätzliche Ausrede dafür herhalten, dass keine großen Sprünge für die Massen möglich sind.

Die Linkspartei hält in dieser Lage wider besseres Wissen am Säen ihrer Illusionen von einer sozialen, ökologischen, linken und progressiven Koalitionsregierung fest. Die Ampel verhindern wird das wahrscheinlich nicht, ja ein Teil der Linkspartei und sogar ihrer Führung mag sogar klammheimlich hoffen, dass ihr eine weitere Regierungsbeteiligung erspart bleibt. Das hätte immerhin den Vorteil, dass sie in den kommenden fünf Jahren keine Verantwortung für soziale Angriffe und Sparmaßnahmen übernehmen müsste und sich in der Opposition „regenerieren“ könnte.

Die Beschäftigten der Charité und bei Vivantes, die sich zur Zeit im Arbeitskampf befinden, sollten jedenfalls keine Hoffnungen in irgendwelche automatischen Verbesserungen durch diesen oder jenen zukünftigen Senat setzen. Ebenso wenig sollten es die AktivistInnen der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen tun. Die BesetzerInnen der Köpi, die noch unter dem scheidenden Senat am 15. Oktober geräumt werden sollen, wissen ohnedies, dass sie von einem rot-grün-roten Senat nichts zu erwarten haben.

Dennoch sollten wir die aktuelle Lage nutzen, um zentrale Forderungen dieser Bewegungen auf die Straße zu tragen und vom Senat einzufordern:

  • Stopp aller Räumungen besetzter Häuser und Wagenplätze! Keine Räumung von MieterInnen!
  • Sofortige Umsetzung des Volksentscheides. Wohnungskonzerne enteignen – sofort!
  • Umsetzung der Forderungen der Krankenhausbewegung bei Charité und Vivantes!



Wahldebakel der Linkspartei: Verdiente Katastrophe mit Ansage

Martin Suchanek, Infomail 1164, 27. September 2021

Dass die Linkspartei bei diesen Wahlen Stimmen und Mandate verlieren würde, stand im Grunde schon vor dem 26. September fest. Seit Monaten dümpelte sie in den Umfragen um die 6 % – mit sinkender Tendenz. Am Ende kam es schlimmer.

Magere 4,9 % waren es da, 2.269.797 WählerInnen kreuzten DIE LINKE an, über 2 Millionen weniger als 2017, als die Partei 4.297.492 Stimmen erhielt. Der Verlust gegenüber den letzten Bundestagswahlen betrug 47,2 %, also fast die Hälfe der WählerInnen (bei einer etwa gleich großen Wahlbeteiligung).

Früh gingen am Wahlabend bei der Linkspartei die Lichter aus. Nur drei Direktmandate sicherten den erneuten Einzug in den Bundestag. Auf den Traum von einem rot-grün-roten Politikwechsel folgte das Erwachen wie nach einer durchzechten Nacht.

So manche StrategInnen aus den Führungsetagen der Linkspartei, von Vorstand und Fraktion mögen den Verlust von über vier Prozentpunkten bei den Bundestagswahlen mit Hochprozentigem zu verdrängen versucht haben. Umso ernüchternder weckt die Realität. Die Vorsitzenden von Linkspartei und der verkleinerten Fraktion versprechen, aus dem größten Wahldebakel seit Bestehen von PDS und DIE LINKE die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Schließlich stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Politik.

Das Ergebnis

Eine Wahlanalyse von Horst Kahrs für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt, dass DIE LINKE im Vergleich zu den letzten Bundestagswahlen praktisch in allen Wahlbezirken, vor allem aber in den fünf ostdeutschen Flächenländern (zwischen 5,4 % in Thüringen und 8,7 % in Brandenburg) und in den Stadtstaaten (zwischen 5,5 % in Hamburg und 7,3 % in Berlin verlor). Mit Ausnahme des Saarlands (5,7 %) verlor sie in den westlichen Flächenländern „nur“ zwischen 3,0 und 3,8 %).

Natürlich hängt das auch damit zusammen, dass sie in ersteren auch mehr zu verlieren hatte. Jedenfalls erhielt sie in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten im Durchschnitt nur noch 9,8 &, in den Stadtstaaten 9,6 % und in den Westländern 3,5 %.

Auch wenn DIE LINKE im Westen besser abschnitt als die PDS vor 2005, stellt das Ergebnis in diesen Bundesländern das schlechteste in der Geschichte der Partei dar.

Betrachten wir die 4,9 % nach Alter und sozialer Herkunft, so fällt auf, dass sich DIE LINKE unter jüngeren WählerInnen noch einigermaßen behaupten konnte (8 % bei den 18 – 24-Jährigen, 7 % bei den 25 –34-Jährigen), bei den über 45-Jährigen aber bei nur 4 % liegt.

Katastrophal ist jedoch auch das Ergebnis unter ArbeiterInnen, Angestellen mit jeweils 5 % und bei RentnerInnen (4 %). Unter den Arbeitslosen gaben zwar 11 % an, die Linkspartei gewählt zu haben, aber auch das liegt weit unter früheren Ergebnissen.

Unter GewerkschafterInnen schnitt sie zwar besser als im Durchschnitt ab, aber ein Anteil von 6,6 % stellt auch hier ein katastrophales Ergebnis dar und entspricht einem Verlust von 5,2 % gegenüber 2017.

Betrachten wir die WählerInnenwanderung seit der letzten Bundestagswahl, so ergibt sich ein sehr deutliches Bild, an wen DIE LINKE vor allem verlor: an die SPD (590.000) und die Grünen (470.000). Darauf folgen die NichtwählerInnen (370.000), verschiedene kleinere Parteien (250.000) sowie jeweils rund 100.000 an AfD und FDP. Selbst an die CDU gab sie 40.000 Stimmen ab.

Ursachen der Niederlage

Für das katastrophale Ergebnis ist natürlich die Linkspartei zuerst selbst politisch verantwortlich.

Dies liegt erstens darin, dass DIE LINKE selbst seit Jahren einen politischen Schlingerkurs fährt und sich faktisch drei Fraktionen in der Partei gegenseitig paralysieren. Die sog. RegierungssozialistInnen bilden jenen Teil des Apparates und der Spitze, der fast um jeden Preis mitregieren will. Die LinkspopulistInnen um Wagenknecht setzen auf eine angebliche Rückkehr zur Politik der „kleinen Leute“, beklagen den Vormarsch der Identitätspolitik, passen sich selbst aber an rassistische und nationalistische Stimmungen an. Die Bewegungslinke schließlich will eine transformatorische Regierungspolitik mit Engagement in Bewegungen verknüpfen.

In den realen politischen Auseinandersetzungen stehen diese Flügel – damit auch die Linkspartei – immer wieder auf verschiedenen Seiten. Während sich die Bewegungslinke betont antirassistisch gibt und an wichtigen Mobilisierungen in Solidarität mit Geflüchteten teilnimmt, erklärt Sahra Wagenknecht, dass nicht allen ein „Gastrecht“ gewährt werden könnte, und die Landesregierungen in Thüringen, Berlin oder Bremen schieben derweil ab.

Besonders deutlich trat das bei der Abstimmung um den letzten Afghanistaneinsatz zutage. Nachdem die Partei jahrelang den Rückzug der Bundeswehr gefordert hatte, wollt der rechte Flügel der sog. Rettungsmission doch zustimmen. Linke Abgeordnete lehnten das ab. Der Parteivorstand versuchte in der Not, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen – und sprach sich für eine Enthaltung bei der Abstimmung aus. Im Bundestag selbst folgte  eine Mehrheit der Abgeordneten der Empfehlung, fünf stimmen jedoch für den Einsatz, sieben dagegen. Mit dieser Politik machte sich DIE LINKE nicht nur unglaubwürdig, sie geriet auch in die Defensive.

Diese Schwankungen lassen sich faktisch auf allen wichtigen Politikfeldern verfolgen. So tritt die Partei für einen rascheren Ausstieg aus der Braunkohleverstromung ein – nicht jedoch in Brandenburg. In Berlin unterstützt sie die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen und die Krankenhausbewegung. Im SPD/PDS-Senat hatte sie freilich maßgeblich Anfang des Jahrtausends zur Privatisierung des Wohnraums und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und zum Outscourcing beigetragen.

Mit anderen Worten: Was die Linkspartei an Prestige und Anerkennung in einzelnen Kämpfen und Bewegungen erringt, konterkariert sie durch Opportunismus und Regierungspolitik auf der anderen.

Das ist natürlich für eine reformistische, bürgerliche ArbeiterInnenpartei nichts Ungewöhnliches, sondern ein recht typischer, immer wiederkehrender Widerspruch. Nachdem die Partei eine revolutionäre Umgestaltung kategorisch ablehnt, muss sie logischerweise auf eine Regierungsbeteiligung abzielen, um ihre Ziele überhaupt umsetzen zu können. So weit besteht zwischen verschiedenen Fraktionen in der Partei und auch unter ihren Mitgliedern durchaus weitgehende Übereinstimmung. Differenzen gibt es, von Teilen der AKL abgesehen, freilich dazu, wann und zu welchem Preis sich die Partei dafür hergeben soll oder darf.

Veränderung der Mitgliedschaft

Verschärft wird der innere Konflikt in der Linkspartei durch eine Veränderung ihrer Mitgliedschaft und WählerInnenbasis. Die Zahl der AnhängerInnen im Osten schwindet seit Jahren. Das hat natürlich auch demographische Gründe. Jahrelang konnten PDS und später Linkspartei auf eine breite Unterstützung ehemaliger DDR-BürgerInnen zählen. Deren Klassenzusammensetzung war heterogen, schloss also auch Teile des alten Staatsapparates und der Eliten der DDR ein, die es schafften, in der BRD zu UnternehmerInnen, Selbstständigen oder höhergestellten Lohnabhängigen zu werden.

Diese soziale Struktur lässt sich für eine linke Oppositionspartei nicht dauerhaft reproduzieren und das ist auch gut so.

Aber DIE LINKE vermochte es im Osten nicht, stattdessen Erwerbslose und prekär Beschäftigte dauerhaft zu halten und neue Schichten der Lohnabhängigen für sich zu gewinnen. Dafür trägt sie selbst maßgeblich Verantwortung, weil sie nicht als entschlossene Opposition zu den herrschenden Verhältnissen agierte und agieren wollte, sondern als bessere sozialdemokratische Mitgestalterin ebendieser fungierte.

Wer den Kapitalismus nicht bekämpfen, sondern zähmen will, wird dabei letztlich nur selbst gezähmt und unterminiert seine eigene Basis.

DIE LINKE hat zwar auch neue Mitglieder gewonnen, vor allem im Westen und auch unter Jugendlichen und Lohnabhängigen, einschließlich betrieblich und gewerkschaftlich Aktiver. Aber sie gewann weniger, als sie anderer Stelle verlor.

Politisches Luftschloss Rot-Grün-Rot

Darüber hinaus gewann die DIE LINKE nach den Hartz- und Agendagesetzen jahrelang vor allem enttäuschte SPD-AnhängerInnen. Diese WählerInnenbewegung kam jedoch in den letzten Jahren immer mehr zum Erliegen.

Im Gegenteil. Sobald die SPD sich verbal etwas nach links bewegte und als eine machtpolitische Option erschien, gelang es ihr, WählerInnen von der Linkspartei zurückzugewinnen. Ein ähnlicher Prozess lässt sich auch gegenüber den Grünen beobachten und im Osten gegenüber der AfD. Letztere dürften aber in der Regel dauerhaft an ein neues rechtspopulistisches Milieu verloren sein.

Die Verluste an die SPD (und auch die Grünen) machen aber ein grundlegendes Problem der Linkspartei deutlich. Sie gewann von der SPD vor allem dadurch, dass sie sich ihren AnhängerInnen als die bessere, „echte“ sozialdemokratische Partei präsentierte. Die Agendapolitik unter Schröder und Steinbrück trieb ihr gewissermaßen automatisch Leute zu. Die Aussicht auf eine SPD-geführte Regierung und einige soziale Versprechen reichten aus, um die Sozialdemokratie unter diesen WählerInnen attraktiver zu machen. Sobald sich abzeichnete, dass diese die Wahlen gewinnen könnte, überlegten Hunderttausende, die zwischen SPD, Grünen und Linkspartei schwankten, ob sie nicht lieber die Sozialdemokratie wählen sollten, um eine CDU-geführte Regierung zu verhindern.

Diese Sogwirkung kostete der Linkspartei wahrscheinlich 1 – 2 Prozent, also über eine Million WählerInnen.

Ironischer Weise verstärkte die Linkspartei selbst diese Sogwirkung. Einigen Umfragen zufolge schien eine rot-grün-rote Regierung arithmetisch möglich. SPD und Grüne machten zwar deutlich genug, dass sie eine solche Koalition zu keinem Zeitpunkt anstrebten und allenfalls als Drohkulisse gegenüber der FPD verwenden würden, aber die SpitzenkandidatInnen, die Parteivorsitzenden und die Fraktionsführung beschworen dieses politische Luftschloss umso eifriger. Sie zogen faktisch das eigene linksreformistische Wahl-zugunsten eines vagen Sofortprogramms zurück, in dem alle wesentlichen Unterschiede zu SPD und Grünen entweder weggelassen oder auf ein Minimum reduziert wurden. Damit stellte die Linkspartei faktisch den eigenen Wahlkampf zugunsten einer Werbetour für eine Koalition ein, die außer ihr niemand wollte.

Den umkämpften WählerInnenschichten signalisierte sie damit, dass es eigentlich egal war, ob sie die Linkspartei wählten oder nicht. Schließlich sollte doch alles in einer gemeinsamen Regierung enden. Und diese zogen den Schluss, dass sie doch lieber gleich für das sozialdemokratische (oder grüne) Original stimmen sollten statt für die linke Möchtegern-Steigbügelhalterin.

Diese Katastrophe hat ausnahmsweise einmal nicht Sahra Wagenknecht zu verantworten, sondern vor allem jene, die das „Sofortprogramm“ auf den Weg gebracht haben: Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch und die Parteilinke Janine Wissler.

Deren „Taktik“ offenbart nicht nur den tief sitzenden Opportunismus, sich faktisch um jeden Preis einer rot-grün-roten Koalition anzubiedern. Nicht minder dramatisch ist die Realitätsferne der Führung der Linkspartei.

Für sie stellte sich der Wahlkampf als eine Konfrontation zwischen einem neoliberalen und einem „Reformlager“ dar. SPD und Grünen fehlte es demzufolge nur an Mut für eine soziale, ökologische Koalition für echte Verbesserungen.

Diese oberflächliche Sichtweise verkennt völlig, dass Grüne und SPD seit Jahrzehnten eng mit dem bestehenden politischen Herrschaftssystem verbunden sind. Über diese Kanäle vermitteln sich auch die Interessen des deutschen Kapitals oder bestimmter Kapitalfraktionen in diese Parteien hinein.

Das Problem der Linkspartei besteht darin, dass sie als unsichere Kantonistin gilt, wenn wichtige strategische Interessen des Gesamtkapitals auf dem Spiel stehen, selbst wenn sich deren Spitzen noch so sehr bemühen, als  zuverlässig, also harmlos zu erscheinen. Die herrschende Klasse sieht keinen Grund, dieses zusätzlich Risiko angesichts einer schier unendlichen Fülle außen- und europapolitischer Probleme, angesichts von Pandemie und wirtschaftlichen Krisenprozessen einzugehen.

Die Auflösung des traditionellen Parteiensystems verursacht schon genug Kopfzerbrechen, es bedarf keiner weiteren Ungewissheiten. Die Spitzen von SPD und Grüne wissen, dass von ihnen in dieser Lage erwartet wird, dass sie eine möglichst stabile Regierung herbeiführen – und das heißt, mit FPD und/oder CDU/CSU koalieren.

Diese realen Klassenbeziehungen spielen in den Kalkulationen der Führung der Linkspartei ebenso wenig eine Rolle wie der Klassencharakter des Programms von SPD und Grünen. Wäre dem anders, hätten sie wissen müssen, dass Rot-Grün-Rot immer nur ein politisches Hirngespinst war, was immer man sonst davon halten möchte.

Die Führung der Linkspartei sitzt stattdessen den Oberflächenerscheinungen des bürgerlich-parlamentarischen Betriebs auf und nimmt sie für bare Münze. Obwohl sich Grüne und SPD im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus präsentierten, tat sie so, als wollten SPD, Grüne und DIE LINKE im Grunde dasselbe.

In dem sie die realen Verhältnisse verschleierte, statt sie deutlich zu machen, schuf sich die Linksparteiführung ein Wolkenkuckucksheim. Sie täuschte damit vor allem sich selbst – und machte die Partei im Wahlkampf überflüssig. Am 26. September erhielt sie dafür die Quittung.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielte die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde und auch nie eingeladen worden wäre. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen.

Klarheit

Dies bedeutet aber nicht nur, sich innerparteilich zu positionieren. Es erfordert auch, sich selbst über den reformistischen Charakter der Linkspartei selbst klar zu werden. Die Orientierung auf Regierungsbeteiligungen ist keine Warze am Gesicht einer Partei, die selbst fest auf dem Boden der bürgerlich-demokratischen Ordnung steht. Vielmehr liegt es in der Logik einer Politik, die den Kapitalismus nicht stürzen will, dass sie zur Umsetzung ihrer Ziele eine Regierungsbeteiligung anstreben muss.

Solange die Kritik an der Anbiederung an Rot-Grün-Rot nur auf der Ebene verbleibt, dass sie heute zu viele Zugeständnisse beinhalte, ist sie letztlich oberflächlich und moralisch. Sie kritisiert nur die Resultate, nicht die Grundlagen des Reformismus.

Genau diese Kritik muss die Linke in wie außerhalb der Linkspartei leisten, um eine politische Alternative zu entwickeln, die über deren Rahmen programmatisch, strategisch wie taktisch hinausgehen kann. Diese grundlegende Debatte um ein revolutionäres Programm ist jedoch unerlässlich, damit die Katastrophe vom 26. September nicht zur nächsten führt.




Das Sofortprogramm der Linkspartei: Anbiederung aus Verzweiflung

Martin Suchanek, Infomail 1161, 9. September 2021

Das Unvorhergesehene ist eingetreten. Die SPD und ihr Spitzenkandidat führen in den Umfragen. Liegt das an den Fettnäpfen, in die Laschet und Baerbock abwechselnd hüpfen? Liegt es daran, dass MerkelanhängerInnen deren Erbe bei Scholz besser aufgehoben sehen?

Beides macht eigentlich klar, dass eine mögliche rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün, die der SPD-Höhenflug mit sich bringt, nicht das Szenario einer „Linkswende“ der WählerInnen abbildet. Trotzdem wittert die Führung der LINKE, die aus der Krise der SPD fast nichts nach links gewinnen konnte, ausgerechnet jetzt die Chance, die Partei aus ihrer Krise herauszuwinden. Mit heißer Nadel wurde ein „Sofortprogramm“ gestrickt, das einer politischen Kapitulationserklärung der Vorsitzenden von Partei und Fraktion der Linken gegenüber SPD und Grünen gleichkommt.

In einem achtseitigen Papier, das am 6. September veröffentlicht wurde, schlagen Janine Wissler, Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch Eckpunkte eines Regierungsprogramms vor, das so ziemlich jeden strittigen Punkt gegenüber SPD und Grünen beiseitelässt. Austritt aus der NATO? Rückzug aller Bundeswehreinheiten aus dem Ausland? Fehlanzeige. Zur Pandemie und deren Bekämpfung findet sich gleich gar kein Wort im Text. Enteignung von Deutsche Wohnen und Co.? Nicht im Sofortprogramm!

Klarheit und Verlässlichkeit – für wen?

Gleich zu Beginn des Textes versprechen die AutorInnen „Klarheit und Verlässlichkeit, wenn es um die Zukunft unseres Landes“ geht. Verlässlich wollen sie offenbar für Scholz, Baerbock und Co. sein. Dass das Fallenlassen der meisten strittigen Punkte mit den anvisierten KoalitionspartnerInnen zu einer wirklichen Koalition führt, darf getrost bezweifelt werden.

Grüne und SPD ziehen allemal eine Koalition mit der FPD einer mit der Linkspartei vor – und zwar nicht wegen einer größeren Schnittmenge im Forderungsabgleich, sondern weil sie eine stabile, für das deutsche Kapital verlässliche Regierung anstreben. So viele Punkte kann die Linkspartei gar nicht fallenlassen, dass Grüne und SPD, die beide eine Regierung im Einvernehmen mit den Spitzen des deutschen Großkapitals und der EU-Kommission anstreben, nicht lieber auf FDP oder selbst auf eine Kombination mit CDU/CSU (z. B. Schwarz-Grün-Gelb) setzen.

Doch der Spitze der Linkspartei gilt offenkundig politische Harmlosigkeit gegenüber SPD und Grünen als Beweis für Verlässlichkeit. Wen kümmert da schon, dass das  Wahlprogramm, mit dem die Linkspartei antritt und das von einem Parteitag beschlossen wurde, ohne jede demokratische Debatte, ohne Konsultation und Diskussion des Parteivorstands faktisch fallen gelassen wurde?

Wenn das Lancieren des Sofortprogramms politisch einen Sinn machen soll, so doch nur den, SPD und Grünen wie der gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit zu signalisieren, dass es der Linkspartei mit ihrem Wahlprogramm nicht weiter ernst ist. Das mag im bürgerlichen Politikbetrieb nicht weiter verwundern. Es zeigt aber, wie rasch und wie viele Abstriche die Spitzen der Linkspartei zu machen bereit sind, selbst wenn sie dafür nichts erhalten.

Gedeckt wird dies, indem Stimmung in der Bevölkerung beschworen wird, die die Politik für die Millionen und nicht für die MillionärInnen herbeisehnt. Als ob die Formel schon klären, würde, welche Politik im Interesse der Millionen nötig wäre und welche SPD und Grüne verfolgen. Doch die Linke macht ihre Differenzen zur noch regierenden SPD oder einer Grünen Partei, die so weit rechts steht wie nie zuvor, nicht deutlich.

Für viele Mitglieder der Linkspartei, die sich aktiv an Streiks wie bei den Berliner Krankenhäusern, an der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder an den Mobilisierungen gegen das Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen beteiligen, muss das Sofortprogramm wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Die sog. roten Haltelinien und Mindestbedingungen für Koalitionen mit SPD und Grünen wurden einfach fallen gelassen.

Doch das Lancieren des Sofortprogramms zeigt nicht nur, dass man sich auf die Spitzen der Partei nicht verlassen kann. Da helfen auch keine TV-Auftritte Bartschs, der laut von sich gibt, dass die Linke nur mit ihrem Ganzen und keinem halben Programm in Koalitionsverhandlungen geht. Faktisch tritt das Sofortprogramm an die Stelle des Wahlprogramms.

Der Text zeigt nicht nur, wie weit das Führungspersonal der Linkspartei bereit ist zu gehen. Es offenbart aber auch ein erschreckendes Ausmaß an politischer Fehleinschätzung, einen Mangel an jener Klarheit, die das Papier verspricht.

Lageeinschätzung

Angesichts der aktuellen Umfragen, denen zufolge die SPD unter Olaf Scholz zur stärksten Partei im Bundestag werden könnte, und dass es rein arithmetisch für Rot-Grün-Rot reichen könnte, unterstellt das Papier eine Art gesellschaftlicher Aufbruchsbewegung, die  eine Reformmehrheit signalisieren würde. Wie wird das begründet? Indem eine „andere Mehrheit“ im Land suggeriert wird.

„Es gibt in diesem Land eine Mehrheit, die Ungleichheit und Armut nicht länger hinnehmen will. Eine Mehrheit, die nicht länger hinnehmen will, dass die Löhne von Millionen Beschäftigten stagnieren, während Mieten und Preise weiter steigen. Eine Mehrheit, die weiß, dass gleiche Chancen für alle nur mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur möglich sind. Eine Mehrheit, die nicht länger Zeit beim Klimaschutz verlieren will. Die Politik für die Gesellschaft erwartet, nicht für Lobbygruppen oder ‚den Markt’. Eine Mehrheit, die jeden Tag den Laden zusammenhält, die sich für ihre Nächsten engagiert und das Träumen nicht verlernt hat.“ (Sofortprogramm)

Diese schwammigen Formulierungen sollen offenbar eine politische Lageeinschätzung ersetzen. In Wirklichkeit vernebeln sie sie nur. In der Allgemeinheit ist so ziemlich jede/r gegen Ungleichheit und Armut, für faire Mieten. Löhne und Preise. „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ versprechen schließlich nicht nur LINKE, SPD und Grüne, sondern auch FDP, Union und AfD. Zu jenen, die den Lagen zusammenhalten, rechnet sich auch fast jede/r. Und beim Klimaschutz nicht länger verlieren – wer will das nicht? Solche Phrasen sagen nichts aus darüber, ob und für welchen Klimaschutz man überhaupt eintritt.

Mit der ständigen Beschwörung einer diffusen, im Grunde nichtssagenden Mehrheit soll jedoch das Bild einer Gesellschaft gezeichnet werden, die in zwei Lager zerfällt: die reformorientierten AnhängerInnen eines Politikwechsels einerseits und das neoliberale Lager (FDP, CDU/CSU) samt AfD andererseits.

Verkennen der Lage

Diese Sicht verkennt die Lage gleich mehrfach. Sie geht nämlich von einer realitätsfernen Sicht des bürgerlichen Lagers aus. Dieses ist zurzeit – so weit die gute Nachricht – von einer tiefen Krise und Umgruppierung geprägt. Darin besteht auch die tiefere Ursache für den Niedergang der CDU/CSU in den Umfragen und für die drohende Niederlage der Unionsparteien. Die traditionelle Hauptpartei der Bourgeoisie in der Bundesrepublik vermag nicht mehr, die Einheit der verschiedenen Klassenfraktionen, angelagerter Schichten des KleinbürgerInnentums und auch von Teilen der ArbeiterInnenklasse erfolgreich zu einer gemeinsamen Politik zu vermitteln. Es fehlt ihr vielmehr angesichts der aktuellen Krisen ein strategisches Konzept. Dass CDU/CSU auf einen Kandidaten wie Laschet verfielen, drückt das aus. Selbst wenn er das Ruder noch einmal rumreißen sollte und die Unionsparteien als stimmenstärkste in den Bundestag einzögen, würde das ein Wahldebakel bedeuten. Die Krise der Union speist die Wahlchancen der FDP und auch der AfD – aber auch von Grünen und SPD.

Die Grünen sind in den letzten Jahren selbst zu einem wichtigen Bestandteil des bürgerlichen Lagers geworden. Sie vertreten – im Unterschied zu CDU/CSU – ein relativ klares Konzept der Modernisierung des deutschen Kapitals, den Green New Deal, der ökologische Nachhaltigkeit mit gesteigerter Konkurrenzfähigkeit zu vereinen verspricht und dafür auch staatliche Konjunktur- und Investitionsstützen vorsieht.

Die SPD vertritt das im Grunde auch. Aufgrund ihres historischen Erbes und ihrer sozialen Verankerung in den Gewerkschaften und größeren Teilen der ArbeiterInnenklasse präsentiert sie sich jedoch glaubwürdiger als Partei des sozialen Ausgleichs als die Grünen, als Partei, die die ökologische Modernisierung mit mehr Sozialschaum abfedert. Daher kann sich Scholz bei Teilen der WählerInnen auch eher als Nachfolger von Merkel verkaufen als Laschet oder Baerbock. Grundsätzlich begründet sich aber der mögliche Erfolg von Scholz aus den Fehlern und Schwächen von Union und Grünen bzw. von deren SpitzenkandidatInnen.

Betrachten wir die politische Lage in Deutschland genauer, so drücken die Wahlergebnisse der letzten 10, 20 Jahre insgesamt eine Verschiebung nach rechts aus. Mit der Einführung der Hartz-Gesetze, für deren Reform, aber nicht Abschaffung das Sofortprogramm steht, und der Ausweitung des Billiglohnsektors erlitt nicht nur die ArbeiterInnenklasse eine tiefe, strategische Niederlage, die SPD hat dafür auch einen wohlverdienten Preis bezahlt. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei hat nachhaltig an Verankerung in der Klasse verloren, stützt sich in der Hauptsache noch auf Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte in Großkonzernen.

Diese Krise – wie auch den Rechtsschwenk der Grünen – konnte die Linkspartei seit ihrer Gründung jedoch auf elektoraler Ebene nicht nutzen, auch wenn ihr Einfluss in Gewerkschaften und Betrieben wie auch ihre Verankerung in sozialen Bewegungen größer geworden ist. Auf Wahlebene verlor sie jedoch in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten und konnte das nicht durch Zuwächse im Westen ausgleichen. So droht ihr das schlechteste Ergebnis seit der Fusion von PDS und WASG.

Fiasko

Zweifellos tragen die schlechten Umfragen dazu bei, dass die Linkspartei-Spitze ihr Sofortprogramm aus dem Hut zaubert, um das Ruder rumzureißen. Rauskommen wird dabei jedoch ein politisches Fiasko.

Grüne und SPD präsentieren sich im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus. Die Spitze der Linkspartei tut jedoch so. als wollten im Grunde SPD und Grüne dasselbe wie die LINKE, die im Grunde ein reformistisches Programm zur Zähmung des Kapitalismus von seinen Auswüchsen vertritt. Schon aus politischem Eigeninteresse müsste die Linkspartei die beiden dafür angreifen und wenigstens ihr eigenes Programm starkmachen.

Mit dem Sofortprogramm tut sie genau das Gegenteil. Sie biedert sich SPD und Grünen an. Wie viel dabei Opportunismus oder Verzweiflung ist, ist sekundär.

In jedem Fall verkennt sie, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; und sie verkennt, dass eine Regierung mit einer SPD unter Scholz auch nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green New Deal im Kapitalinteresse. Dafür wirft das Sofortprogramm, wie z. B. Christian Zeller in seinem Beitrag „Sagt die Linke gerade ihren Wahlkampf ab?“ feststellt, praktisch alle Reformforderungen über Bord, die mit den aktuellen Interessen des deutschen Imperialismus inkompatibel sind.

RegierungssozialistInnen wie Bartsch und Hennig-Welsow mögen damit persönlich wenig Probleme haben. Ein paar Reförmchen, die zum politischen Erfolg hochstilisiert werden können, dürfte schließlich auch Rot-Grün-Rot abwerfen. Der ehemaligen Anhängerin von marx21, Wissler, mag das Sofortprogramm als politisch kluger Schachzug erscheinen, SPD und Grüne unter Druck zu setzen.

In Wirklichkeit ist es genau das Gegenteil. Die Linkspartei macht sich faktisch zum Anhängsel von SPD und Grünen und stellt jede ernstzunehmende, weitergehende Kritik an diesen ein. Warum dann noch DIE LINKE wählen, werden Unentschlossene erwägen, wenn sie ohnedies nichts anders als SPD und Grüne will?

Da die „Rote-Socken“-Kampagne von CDU/CSU und FDP nicht greift, sind Grüne und SPD auch nicht gezwungen, eine Koalition mit der Linken vorab kategorisch auszuschließen. Vielmehr können sie das nutzen, um die FDP in eine SPD-Grünen-geführte Koalition zu drängen. Die Linkspartei bliebe dabei im Regen stehen.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.