Somalia: immer schwerere Hungersnot

Dave Stockton, Infomail 1198, 5. September 2022

Somalia sowie Teile Äthiopiens und Nordkenias sind erneut von einer schweren Hungersnot betroffen, die auf die extreme und sich weiter verschärfende Dürre am Horn von Afrika zurückzuführen ist. Es handelt sich bereits um die längste Dürre seit 40 Jahren, da die Regenzeit dreimal hintereinander ausfiel. Nach Angaben der Weltorganisation für Meteorologie besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die überdurchschnittliche Trockenheit in der Region anhält. Zu der Dürre kommt noch das Problem der eskalierenden Preissteigerungen für das Lebensnotwendige hinzu. Nach Angaben der Afrikanischen Entwicklungsbank liegt die Inflation bei Lebensmitteln auf dem Kontinent bei 40 Prozent.

Auswirkungen der Dürre

Subsistenzlandwirt:innen und Viehzüchter:innen haben mehr als drei Millionen ihrer Tiere sterben sehen und waren gezwungen, in behelfsmäßige Vertriebenenlager zu fliehen, die aus dürftigen Zelten und wenigen Einrichtungen bestehen. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden seit Januar 2021, als die Dürre begann, mehr als 755.000 Menschen im Landesinneren vertrieben.

Auf die Landwirtschaft entfallen bis zu 60 Prozent des somalischen Bruttoinlandsprodukts, 80 Prozent der Arbeitsplätze und 90 Prozent der Exporte. Das Land und seine bereits verarmte Bevölkerung stehen vor dem absoluten Ruin. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind mindestens 7,1 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 16 Millionen) bereits von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Im Mai dieses Jahres litten 1,5 Millionen Kinder an Unterernährung, und die Zahl ist nach den sengend heißen Sommermonaten zweifellos noch viel höher. In einigen Regionen wurde bereits eine Hungersnot ausgerufen, aber die Hilfsorganisationen appellieren an die Geberländer, sich nicht zurückzuhalten, bis die Hungersnot für das ganze Land ausgerufen wird.

Das UN-Nahrungsmittelhilfswerk bemüht sich um die Versorgung von 882.000 Menschen, was 131,4 Millionen US-Dollar kosten wird, aber am 4. August waren erst 46 Prozent der Mittel aufgebracht.

Verglichen mit den Milliarden, die die USA und ihre NATO-Verbündeten seit Russlands Einmarsch in der Ukraine für ihr riesiges Rüstungsprogramm ausgeben, ist dies lächerlich gering. Die Situation am Horn von Afrika hat sich durch die Unterbrechung der Getreidelieferungen infolge der Besetzung der Südukraine durch russisches Militär und die Blockade der dortigen Häfen noch verschlimmert. Das erste Schiff unter der Flagge der Vereinten Nationen ist gerade erst in Dschibuti mit 23.000 Tonnen ukrainischem Weizen eingetroffen, der für Äthiopien bestimmt ist, wo der Krieg in Tigray eine von Menschen verursachte Hungersnot verursacht hat. Es werden noch viele weitere Sendungen benötigt werden.

Im Jahr 2011 starb in Somalia eine Viertelmillion Menschen – die Hälfte davon Kinder – in einer Hungersnot, die auf ein ähnliches dreijähriges Ausbleiben der Regenfälle folgte. Weniger als die Hälfte dessen, was die Geberländer für die humanitäre Hilfe zugesagt hatten, wurde tatsächlich ausgezahlt. Eine weitere Hungersnot ereignete sich im Jahr 2017.

Nach Angaben der Vereinten Nationen ist die Zahl der Menschen, die weltweit auf dem Weg in den Hunger sind, in den letzten Jahren von 80 Millionen auf 323 Millionen gestiegen, wobei 49 Millionen Menschen in 43 Ländern von einer Hungersnot bedroht sind.

Folge des Klimawandels

Diese Zunahme der Hungersnöte ist eindeutig eine Folge des Klimawandels. Er betrifft bereits einen riesigen Landstrich in der Sahelzone, dem trockenen Grasland südlich der Sahara, und erstreckt sich bis zum Horn von Afrika, vom Sudan im Norden bis nach Kenia im Süden. Die Wüstenbildung in der Region hat soziale und politische Folgen und führt zu mörderischen Rivalitäten zwischen Nomad:innen, Viehzüchter:innen und Ackerbauern und -bäuerinnen um die knappen Landressourcen. Rebell:innengruppen und staatliche Kräfte tragen mörderische Konflikte in Mali, Burkina Faso, Tschad, Niger, Nigeria und Kamerun aus.

Interventionen ehemaliger Kolonialherr:innen wie der Französ:innen und der Brit:innen, die von den Vereinten Nationen und deutschen „Friedenstruppen“ unterstützt wurden, haben die Lage meist noch verschlimmert. Blutige Bürgerkriege zwischen und innerhalb des Sudan und des Südsudan sowie in jüngster Zeit zwischen Äthiopien und Tigray verschlimmern das Elend der Menschen.

Es ist bezeichnend, dass diese schreckliche Situation in Afrika zur gleichen Zeit auftritt wie das entsetzliche Leid, das die Überschwemmungen in Pakistan verursachen. Aber auch in Nordamerika, Europa und China sind extreme Wetterereignisse im Gange. Kein halbwegs informierter Mensch kann heute ernsthaft die extreme Klimakatastrophe leugnen, mit deren Erscheinungsformen – Dürren, Überschwemmungen, Waldbrände und Hungersnöte – die Welt jetzt konfrontiert ist.

Doch nach den Fiaskos der Klimakonferenzen von Paris und Glasgow mit ihren grandiosen Zielen und Reden haben die reicheren Länder keine ernsthaften Maßnahmen zu deren Umsetzung ergriffen. Es wurden keine Ressourcen für die Länder bereitgestellt, in denen die Katastrophen heute durchschlagen. Im Zuge des Ukrainekrieges und der NATO-Sanktionen kehren sie sogar zu fossilen Brennstoffen zurück.

Die sich abzeichnende Hungersnot in den Ländern am Horn von Afrika unterstreicht die von Aktivist:innen seit langem vorhergesagte Tatsache, dass die Menschen im globalen Süden die ersten Opfer sind, die historisch gesehen die geringste Verantwortung für die Emission von Treibhausgasen durch die Industrialisierung und die Verbrennung fossiler Brennstoffe tragen.

Die Weltpolitik, der Konflikt zwischen den Großmächten und die korrupten, eigennützigen lokalen Eliten, die von ihnen unterstützt oder eingesetzt wurden, machen die Lage noch schlimmer. Somalia selbst leidet seit Jahrzehnten unter dem Bürgerkrieg und den Interventionen der UN-Truppen, Äthiopiens und Kenias sowie unter der Brutalität politisch-islamistischer Kräfte wie al-Shabaab (Harakat al-Shabaab al-Mujahedin, HSM; Bewegung der Mudschahedin-Jugend).

Zu dem Leid, das Afrika seit drei Jahrhunderten durch die Ausbeutung seiner menschlichen und natürlichen Ressourcen durch die Europäer:innen – von den ersten Sklavenhändler:innen bis hin zu den Kolonialist:innen – erfahren hat, kommt nun noch die zunehmende Rivalität zwischen China und dem Westen in der Region hinzu.

Heute ist klar, dass Somalia sofort eine massive Versorgung mit Nahrungsmitteln und Unterkünften benötigt, die sich die reichen imperialistischen Mächte durchaus zu gewähren leisten können. Aber dies wird nur ein Pflaster auf einer klaffenden Wunde bleiben, wenn darauf nicht ein Programm von Sozialausgaben für Schulen und Universitäten, Krankenhäuser, Infrastrukturen aller Art und – ganz wichtig – Maßnahmen zur Eindämmung und Umkehrung der Umweltzerstörung folgt.

Dies ist die „Wiedergutmachung“, die Afrika verdient, aber sie wird niemals von denen kommen, die den Kontinent in der Vergangenheit beraubt haben und ihn auch heute noch berauben. Die Arbeiter:innenklassen Europas und Nordamerikas müssen die Wiedergutmachung dieses historischen Unrechts in ihre Programme und ihren Kampf um die Macht aufnehmen, damit sie dies in Zusammenarbeit mit der Arbeiter:innenklasse und den Kleinbauern und -bäuerinnen des globalen Südens zu ihrem und unserem gemeinsamen Nutzen umsetzen können.




Indien: Sieg der Bäuerinnen und Bauern gegen Modi-Regierung

Javiad Imran, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nach einem Jahr mutigen Kampfes haben die indischen Bauern und Bäuerinnen Indiens „starken Mann“ Narendra Modi gedemütigt. Modi musste der Nation verkünden, dass er beabsichtigt, die neoliberalen Agrargesetze aufzuheben.

Hunderttausende haben gestreikt und Blockaden errichtet, um die Regierung und die großen AgrarkapitalistInnen, denen sie dient, zum Rückzug zu zwingen, und haben ihre Aktionen trotz des schlechten Wetters und der Verwüstungen durch Covid-19 fortgesetzt. Selbst unter diesen Umständen wurden sie von der Polizei der Regierung weiterhin brutal gefoltert und verhaftet. Mehr als 700 Bauern und Bäuerinnen erlitten ihr Martyrium.

Trotz aller Repressionen und Gewalt ist es der Modi-Regierung nicht nur nicht gelungen, die Aktionen der Kleinbauern und -bäuerinnen zu stoppen, sondern auch ihre Politik des „Teile und Herrsche“ ist gescheitert. Außerdem scheiterte auch das Vorhaben der Regierung, die Führung der Bauern und Bäuerinnen durch eine Reihe von Verhandlungen zu spalten, die sich letztlich als erfolglos erwiesen. Auch Modis verlogene Propaganda, die das Gesetz als Fortschritt für die wirtschaftliche Entwicklung und eine gerechtere Gesellschaft darstellte, misslang.

Gemeinsamer Kampf

Stattdessen hat die bäuerliche Bewegung, unterstützt von den LandarbeiterInnen, gezeigt, dass ein gemeinsamer Kampf siegen kann. Sie wurde von Gewerkschaften, StudentInnen- und Frauenorganisationen aus dem ganzen Land mitgetragen. Viele Proteste wurden in Solidarität mit dem Sit-in der Bauern und Bäuerinnen abgehalten, an denen sich ArbeiterInnen, StudentInnen und Frauen beteiligten. Unter diesen Umständen geriet die Bauern- und Bäuerinnenbewegung zu einem Leuchtturm der Hoffnung nicht nur für die Bauern und Bäuerinnen in ganz Indien, sondern auch für die Muslima/e, die von den hinduchauvinistischen Regierungen der Bundesstaaten und von Delhi verfolgt wurden.

Am 22. Januar, dem indischen Tag der Republik, marschierten Millionen von Bauern und Bäuerinnen durch Delhi und besetzten das historische Rote Fort aus der Zeit der Mogulreiche. Danach breitete sich die bäuerliche Bewegung auf Uttar Pradesh und andere Teile des Landes aus. Versuche, sie zu zerschlagen, scheiterten. Daraufhin gingen auch in anderen Bundesstaaten zahlreiche Bauern und Bäuerinnen auf die Straße, und auch StudentInnen und ArbeiterInnen schlossen sich an und bekundeten ihre Solidarität mit diesem Kampf.

In seiner Ansprache an die Nation am Freitag, den 19. November, kündigte Modi an: „Heute bin ich gekommen, um Ihnen, dem ganzen Land, mitzuteilen, dass wir beschlossen haben, alle drei Landwirtschaftsgesetze zurückzuziehen. In der Ende des Monats beginnenden Parlamentssitzung werden wir den verfassungsrechtlichen Prozess zur Aufhebung dieser drei Landwirtschaftsgesetze abschließen.“

Zu den umstrittenen Gesetzen gehörte die Abschaffung des Mindestpreises zur Stützung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Dem Gesetz zufolge sollten Verkauf und Preisgestaltung vom Markt bestimmt werden, so dass größere privatkapitalistische Agrarbetriebe und der Unternehmenssektor die Preise festlegen konnten. Die kleinen und mittleren LandwirtInnen waren sich darüber im Klaren, dass dies zu einem regelrechten wirtschaftlichen Massaker führen würde, mit Hortungen und anderen Taktiken der Modi-BefürworterInnen unter den Geschäftsleuten. In ähnlicher Weise forderten die LandwirtInnen die Rücknahme des Gesetzes, das die kostenlose Stromversorgung für Kleinbauern und -bäuerinnen beendete. Außerdem wollen sie, dass für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse faire Preise gesetzlich garantiert werden sollten. Solange diese Forderungen nicht erfüllt seien, würden sie ihren Sitzstreik fortsetzen. Dies zeigt das Bewusstsein der bäuerlichen Bewegung, das sie im Laufe des Kampfes gewonnen hat.

Obwohl die gegen die Bauern und Bäuerinnen gerichteten Gesetze angeblich im Namen der Abschaffung feudaler Verhältnisse auf dem Lande eingeführt wurden, haben sie in Wirklichkeit die Rolle der ZwischenhändlerInnen gestärkt, indem sie den Handel zwischen den Bundesstaaten zuließen und die Vorratshaltung lockerten. MilliardärInnen wie Mukesh Ambani und Gautam Adani, die laut Bloomberg-Index zu den reichsten Männern Asiens gehören, unterstützten Modis „Reformen“ eifrig, da sie eine erhebliche Steigerung der Gewinne aus der Landwirtschaft bedeuteten. Infolge dieser „Reformen“ sind die Lebensmittelpreise in die Höhe geschossen und die Lebenshaltungskosten für die ArbeiterInnen gestiegen. Die Lage der Armen in den Städten und auf dem Lande, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, wurde noch verschlimmert.

Wie weiter?

Die Ankündigung der Aufhebung war natürlich ein Grund zum Feiern, wurde aber auch mit Vorsicht genossen, da Modis Regierung die DemonstrantInnen oft betrogen hat, sobald sich ihre Mobilisierungen auflösten. Die Bauern und Bäuerinnen weigerten sich daher, Modis Aufforderung zur Beendigung der Blockaden nachzukommen. Sie erklärten, dass sie ihren Sitzstreik an der Stadtgrenze von Delhi fortsetzen würden, bis der Gesetzentwurf zur Aufhebung dieser Gesetze von der Lok Sabha (1. Kammer des indischen Parlaments) verabschiedet worden sei und andere Forderungen zur Sicherung der Einkommen der LandwirtInnen erfüllt worden seien.

Die Wahlen in Uttar Pradesh, Punjab (Pandschab) und anderen Bundesstaaten stellen den unmittelbaren Grund dafür dar, dass die Regierung Modi die Gesetze zurückgenommen hat. In diesen Bundesstaaten ist der Hass auf die Regierung Modi groß, weil die Änderungen schwerwiegende Auswirkungen auf die ArbeiterInnen und die Armen in Stadt und Land mit sich führen. Modi und seine Partei waren der Meinung, dass in dieser Atmosphäre des Zorns und Hasses große Wahlverluste zu erwarten wären.

Aus all dem wird deutlich, wie tief die bäuerliche Bewegung auch andere Schichten der Gesellschaft berührt hat. Dieser Sieg zeigt, dass weitere Kämpfe gegen die repressive Modi-Regierung möglich sind und gewonnen werden können.

Die Bauern und Bäuerinnen müssen nun gewarnt werden, dass die Modi-Regierung, selbst wenn sie diese Gesetze durch die Lok Sabha aufhebt, versuchen wird, sie in einem anderen Gewand wieder einzuführen, denn Indiens größter Gewinn für indische und ausländische MilliardärInnen ist die Landwirtschaft. Die Entwicklung der kapitalistischen Landwirtschaft und eines Teils der KapitalistInnen, die sich auf diesen Sektor stützen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Strategie zur Entwicklung des indischen Kapitalismus und seiner Rolle in der Welt.

Nicht nur Modi blickt auf die bevorstehenden Wahlen. Die Kongresspartei und die reformistischen kommunistischen Parteien wollen nun den Erfolg der LandwirtInnen nutzen, um Sitze zu gewinnen. Letztere glauben, dass Modis Bharatiya Janata Partei (BJP; Indische Volkspartei) durch ein Wahlbündnis mit der Kongress-Partei besiegt werden kann. Diese Strategie ist aus zwei Gründen falsch. Erstens würde ein Wahlbündnis mit der traditionellen Partei der indischen Bourgeoisie nur eine politische Unterordnung unter die alternative Partei der KapitalistInnen bedeuten. Zweitens müssen die Wahlen als ein Mittel zur unabhängigen Mobilisierung der ArbeiterInnen und LandwirtInnen, der Frauen, der Jugend, der MuslimInnen und aller national und sozial unterdrückten Sektoren gegen die Herrschaft der BJP gesehen werden.

Der erfolgreiche Kampf der Bauern und Bäuerinnen, angeführt vom Allindischen Kisan Sangharsh Koordinationskomitee (AIKSCC), hat deutlich gemacht, dass nur eine kämpferische antineoliberale Bewegung, die in den unterdrückten Teilen der Gesellschaft verwurzelt ist und mit den ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und Armen in den Städten und auf dem Land verbunden ist, Modis höchst reaktionäre Regierung besiegen kann.

Nach der Niederschlagung der Unruhen in Delhi und der Bewegung gegen das Nationale BürgerInnenregister (NRC) und das StaatsbürgerInnenschaftsänderungsgesetz (CAA) im Jahr 2019 sowie der Inhaftierung von Anti-Hindutva-AktivistInnen hat sich die Bewegung der BäuerInnen zu einer starken Alternative zur Modi-Regierung entwickelt. Ihr Sieg ist ein großer Schritt nach vorn, aber es ist notwendig, sich mit den ArbeiterInnen, MuslimInnen und der Dalit-Bewegung (Angehörige der untersten Kasten) zusammenzuschließen, die zusammen mit anderen Forderungen der Bauern und Bäuerinnen den Kampf gegen die Modi-Regierung in Bezug auf das CCA, das Arbeitsgesetz, Kaschmir und andere Themen fortsetzen und ein alternatives Programm zu ihr anbieten.

Der Kampf gegen die Regierung und ihre neoliberale Politik muss sich über die vom indischen Kapitalismus gesetzten Grenzen hinaus auf alle grundlegenden Verbesserungen bei Löhnen, Bildung und Gesundheitsdiensten ausweiten, ganz zu schweigen von den Rechten der Frauen und der national, religiös und rassistisch Unterdrückten. Es ist klar, dass Modis Regierung besiegt werden kann, aber dafür braucht die ArbeiterInnenklasse eine politische Partei mit einem Programm, das die heutigen Auseinandersetzungen in einen Kampf gegen den Kapitalismus verwandeln kann.




Indien: Marsch der Bauern und Bäuerinnen entfacht neue Massenbewegung gegen Modi

Imran Javlad, Infomail 1132, 22. Dezember

Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen aus ganz Indien starteten am 25. November auf Initiative des allindischen Sangharsh-Kisan-Koordinationskomitees, das aus 300 bäuerlichen Organisationen besteht, den Delhi-Chalo-(Lasst uns nach Delhi gehen)-Marsch. Der Marsch wurde von LandarbeiterInnen, TransportarbeiterInnen und wichtigen Sektoren der ArbeiterInnenklasse unterstützt.

Hunderttausende haben sich ihm angeschlossen, mit dem Ziel, Delhi zu einer Massenkundgebung zu erreichen und die Aufhebung der neuen Gesetze zu fordern, die Kleinbauern und -bäuerinnen, LandarbeiterInnen und die Masse der Landbevölkerung zugunsten der GroßkapitalistInnen weiter verarmen lassen werden. Polizei und paramilitärische Kräfte griffen die DemonstrantInnen wiederholt mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern an und verletzten mehrere von ihnen.

Dies hat ihre Entschlossenheit nicht gebrochen. Zwischen dem 28. November und dem 3. Dezember blockierten schätzungsweise 150 bis 300 Tausend Bauern und Bäuerinnen Delhi im Rahmen des Delhi Chalo. Sie riefen für den 8. Dezember zu einem Stillstand in Indien auf. Elf Oppositionsparteien, darunter die Kongresspartei und die Kommunistische Partei, schlossen sich diesem Aufruf an.

Der bäuerliche Streik wird von ArbeiterInnenorganisationen, Studierenden und Frauen aus dem ganzen Land unterstützt, und es wurden Proteste in Solidarität mit dem Sitzstreik der Landbevölkerung organisiert. Bei vielen Gelegenheiten wurde die Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, mit Slogans für Freiheit und Revolution den Kampf fortzusetzen, bis die Forderungen angenommen sind. Auch TransportarbeiterInnen haben sich dem Sitzstreik angeschlossen, so dass weitere Straßen in Richtung Delhi gesperrt werden.

Die Modi-Regierung hat nicht nur versagt, diesen Marsch zu stoppen, sondern ihre gesamte Verteilungs- und Regierungspolitik ist gescheitert und entlarvt worden. Die Gespräche von Landwirtschaftsminister Narendra Singh Tomar mit den Bauern/Bäuerinnen waren bisher erfolglos, trotz der ständigen Regierungspropaganda in den Medien, die behauptet, die neuen Gesetze würden die Entwicklung und das Wohlergehen der Gesellschaft fördern.

Ziele

Der Delhi-Chalo-Marsch und der Sitzstreik der Bauern und Bäuerinnen richten sich gegen die Einführung neoliberaler Gesetze durch die indische Regierung im Namen von Reformen, die sie der Gnade der Agrar- und FinanzkapitalistInnen ausliefern werden. Die Bauern und Bäuerinnen fordern die Abschaffung von drei umstrittenen Gesetzesvorlagen, die den Mindeststützungspreis abschaffen würden. Dieser Preis, der von der Regierung festgelegt wird, sichert einen Mindestpreis für die heimischen Agrarprodukte. Nach dem neuen Gesetz wird der Verkauf und die Preisgestaltung von landwirtschaftlichen Produkten den Marktkräften unterliegen und den Preisen, die das Privatkapital und der Unternehmenssektor zu zahlen bereit sind. Dies wird wahrscheinlich zu einem wirtschaftlichen Massaker an kleinen LandwirtInnen durch Horten von Produktion und andere Mittel führen.

In ähnlicher Weise fordern die Bauern und Bäuerinnen die Rücknahme der Änderungen des Gesetzes über die Stromversorgung. Diese sollen die Versorgung der Bauern mit kostenlosem Strom stoppen. Die dritte Forderung der LandwirtInnen ist die Aufhebung der Gesetzgebung, die eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe von 10 Millionen Rupien für diejenigen vorsieht, die ihre Felder flämmen.

LandwirtInnen in Pandschab (Punjab), Haryana, Rajasthan, Uttar Pradesh und anderen Bundessstaaten wehren sich seit Monaten gegen die Gesetze. Neben den Streiks in Pandschab dagegen wurde auch der Bahnverkehr im Rahmen der Bahnstopp-Strategie ausgesetzt.

Obwohl die bauernfeindlichen Gesetze vorgeblich im Namen der Abschaffung der feudaler Verhältnisse eingeführt werden, stärken sie in Wirklichkeit die Rolle der Großkonzerne, die in der Lage sein werden, die Preise zu manipulieren, indem sie Vorräte anlegen und Lieferungen zwischen verschiedenen Bundesstaaten transferieren. Sie haben GroßkapitalistInnen wie Mukesh Ambani, Besitzer des Petrochemieriesen Reliance Industries, und Gautam Adani, Chef der Adani-Gruppe, die die Regierungspartei BJP finanziert haben, die Möglichkeit gegeben, von diesen Reformen in der Landwirtschaft zu profitieren. Diese Umstrukturierungen haben bereits zu steigenden Lebensmittelpreisen für die ArbeiterInnen geführt und die Notlage der Armen verschlimmert, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.

Inflation

Der VerbraucherInnenpreisindex für Lebensmittel stieg im Oktober um 11,07 Prozent, während die Einzelhandelsinflation mit 7,61 Prozent den höchsten Stand der letzten sechs Jahre erreichte. Beides verdeutlicht die steigende Belastung für LandwirtInnen und ArbeiterInnen im ganzen Land. Gleichzeitig bot dies den großen KapitaleignerInnen und HändlerInnen die Möglichkeit, künstliche Engpässe auf dem Markt zu schaffen, was die Lebensmittelpreise und damit ihre Gewinnspannen vervielfachte. Da die Modi-Regierung das öffentliche Verteilungssystem zerstört hat, um die Menschen daran zu hindern, Getreidenahrungsmittel zu vergünstigten Preisen zu kaufen, ist die Mehrheit der Bevölkerung auf den offenen Markt für Getreide und Gemüse angewiesen.

All dies muss vor dem Hintergrund einer dramatischen Rezession in Indien gesehen werden. Im ersten Quartal des Finanzjahres (April – Juni) sank das Bruttoinlandsprodukt um 23,9 Prozent. Am 27. November veröffentlichte das Nationale Statistikamt seinen BIP-Bericht für das zweite Vierteljahr des laufenden Fiskaljahres (Juli – September), der einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 7,5 Prozent ausweist. Dies ist eine Schrumpfung von historischem Ausmaß. Damit hat sich gleichzeitig die soziale Spaltung der Gesellschaft verschärft. Es gibt einen starken Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite enorme Investitionen. Laut Internationalem Währungsfonds sind die Profite Indiens aufgrund von Regierungspaketen und einer arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Politik gestiegen.

Der eintägige Generalstreik am 26. November, der nach Angaben der Gewerkschaften eine historische Zahl von 250 Millionen ArbeiterInnen, Bauern, Bäuerinnen und Armen zusammenbrachte, und der Delhi-Chalo-Marsch haben die Wut der ArbeiterInnenklasse und die Einheit der Kleinbauern und -bäuerinnen, ArbeiterInnen und StudentInnen gezeigt. Der indische Streik vom 8. Dezember reichte jedoch nicht aus, um die Forderungen der ArbeiterInnen und kleinen LandwirtInnen durchzusetzen. Die Verhandlungen am 9. Dezember brachten keine Ergebnisse, und die Massenprotestwelle setzt sich mit weiteren Sitzstreiks und Straßenblockaden fort, an denen sich Hunderttausende, wenn nicht Millionen, bis zum 14. Dezember beteiligten.

Die beeindruckenden Streiks der ArbeiterInnenklasse in Indien in den letzten Jahren sind auch ein deutlicher Beweis dafür, dass die Krise und Massenmobilisierungen die Modi-Regierung und ihre kapitalistische Agenda erschüttern können. Privatisierungen, arbeiterInnen- und bauernfeindliche Gesetze, die Steigerung der Profite und die Senkung der Löhne, Aufweichung des gesetzlichen Schutzes und Einschränkungen der Bedingungen der ArbeiterInnenklasse sind allesamt Teil eines größeren kapitalistischen Angriffs.

Regierung

Der Generalstreik vom 26. November sowie die wachsende Bewegung von LandwirtInnen, KleinerzeugerInnen und LandarbeiterInnen und die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und bäuerlichen Organisationen deuten auf die Entwicklung einer Kraft hin, die nicht nur ihre Gesetze, sondern auch die hindu-chauvinistische Modi-Regierung und ihre Agenda aus den Angeln heben könnte.

Um eine solche Bewegung zustande zu bringen, müssen die Gewerkschaften über eintägige Streiks und Solidaritätsbekundungen mit den Bauern und Bäuerinnen hinausgehen. Es bedarf eines permanenten Widerstands gegen die arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Gesetze und unbefristeter Streiks in Städten und Dörfern für Mindestlöhne und -gehälter sowie eines Massenaufstands der Bauern und Bäuerinnen gegen das Agrarkapital.

Gewerkschaften und bäuerliche Organisationen kämpfen mit Mut gegen Modis Angriffswelle. Sie sollten zur Bildung von Kampfkomitees am Arbeitsplatz, auf Bezirksebene, in der Nachbarschaft und in den Dörfern aufrufen, die ArbeiterInnen, kleine und mittlere LandwirtInnen und landlose Bauern und Bäuerinnen einschließen. Sie müssen sich zugleich gegen jede Diskriminierung auf Grundlage von Religion, Nationalität, Kaste und Geschlecht wenden. Es müssen Selbstverteidigungseinheiten gebildet werden, um die Bewegung gegen staatliche Repression und Angriffe reaktionärer Hindu-ExtremistInnen zu verteidigen.

Ein politischer Generalstreik und ein bäuerlicher Aufstand, die das Land dauerhaft lähmen, würden unweigerlich die Machtfrage aufwerfen und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit entstehen lassen, von einem defensiven Kampf zu einem offensiven überzugehen. Das erfordert allerdings, über den gewerkschaftlichen Kampf hinauszugehen.

Die Verbindung dieses Kampfes mit dem Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung, der Gegenwehr gegen die BJP-Regierung mit dem Kampf gegen den Kapitalismus weist auf die Notwendigkeit einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse hin, deren Programm auf Übergangsforderungen beruht. Eine solche Partei wird in der Lage sein, die Landbevölkerung zu gewinnen, wenn sie die Forderungen der Bauern und Bäuerinnen aufgreift und für die Kontrolle des Landes durch diejenigen kämpft, die es bearbeiten, die Bauern, Bäuerinnen und die LandarbeiterInnen. Ein solcher gemeinsamer Kampf würde den Weg für eine permanente Revolution in Indien öffnen, die in dem Ringen um eine ArbeiterInnen- und BäuerInnen-Regierung gipfelt, die die Herrschaft der Räte errichtet, das ausländische und indische Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt. Nur das würde es ermöglichen, den Austausch zwischen Stadt und Land zum Nutzen sowohl der bäuerlichen wie auch der städtischen Bevölkerung zu organisieren.

Zurzeit gibt es in Indien keine politische Kraft, die ein solches Programm auf nationaler Ebene vertritt. Die Kongresspartei ist, obwohl sie momentan behauptet, die Bauern, Bäuerinnen und Gewerkschaften zu unterstützen, selbst eine kapitalistische Partei, die viele der neoliberalen Angriffe, die Premierminister Modi derzeit versucht, zu ihrem logischen Ende zu bringen, begonnen hat. Die kommunistischen Parteien, die aus der stalinistischen stammen, haben in der Tat den Kampf für die revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus schon lange aufgegeben, und auch die radikale Linke ist verwirrt und zersplittert. Wir müssen die Notwendigkeit einer Partei in den Mittelpunkt des Kampfes stellen, die eine revolutionäre Regierungslösung für die aktuelle politische Krise präsentieren kann.




Hubertus Heil, die Schlachthöfe, die großen und die kleinen Schweine

Mattis Molde, Infomail 1104, 23. Mai 2020

Hubertus Heil hatte harte Begriffe gewählt: Unhaltbar nannte er die Zustände in deutschen Schlachthöfen, Ausbeutung sei das, Gefährdung nicht nur der Arbeitenden, sondern der gesamten Gesellschaft. Er erklärte, dass bevor so viele Sub-Sub-SubunternehmerInnen profitieren sollten, es besser wäre, die ArbeiterInnen anständig zu bezahlen, und er griff die SchlachthofbetreiberInnen an, die Verantwortung systematisch abzuschieben. Er kündigte an, verschärft zu kontrollieren, und ein Ende der Werkverträge im „Kerngeschäft“, also beim Schlachten und Zerlegen.

Solche Sätze waren seitens der SozialdemokratInnen selten geworden zum Thema Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnenklasse, insbesondere der unteren Schichten derselben. Seit die SPD mit der Agenda 2010 die Leiharbeit zu einer derart dominierenden Beschäftigungsform entwickelt hatte, in deren Gefolge ein Niedriglohnsektor von 30 bis 40 % der Beschäftigten entstanden war und ganz widerliche Kombinationen dieser Leiharbeit mit Werkverträgen und Scheinselbstständigkeit entwickelt worden waren, haben sich Sozis gerne weggeduckt, wenn es um dieses Thema ging.

Die Zustände

Die massiven Infektionsausbrüche machen es offensichtlich für SozialdemokratInnen wie für die Medien unmöglich, die Augen weiter vor den Zuständen in der Fleischindustrie zu verschließen. Die Zahlen gehen überall in die Hunderte und Mitte Mai lagen die Spitzenwerte bei über 400 pro Betrieb. Das liegt einmal an den Arbeitsbedingungen. Die Leute arbeiten oft dicht an dicht an den Zerlegebändern. Zweitens an den Wohnverhältnissen, die viel damit zu tun haben, dass die ArbeiterInnen in Leiharbeit oder als Scheinselbstständige beschäftigt werden, für 3 bis 6 Monate aus dem Ausland kommen und von den Leiharbeitsfirmen Unterkünfte zugewiesen bekommen, wo mehrere Menschen pro Zimmer in Wohnungen oder Baracken hausen.

Diese Leiharbeitsfirmen haben ihrerseits Werkverträge mit den Fleischunternehmen. Sie sind also juristisch sowohl für die Bezahlung, die Arbeitszeiten und die Arbeitssicherheit zuständig. Die Beschäftigten sind fast völlig machtlos: Sie werden in ihrer Heimat angeheuert, kennen oftmals die Verträge nicht oder können sie nicht verstehen. Sie kennen auch ihre Rechte nicht und wissen nicht, an wen sie sich wenden könnten. Sie müssen die angebotenen, völlig überteuerten Schlafplätze annehmen, die ihr Unternehmen ihnen aufzwingt, und die Miete an die VermieterInnen abdrücken, die sie sich nie ausgesucht haben.

Eine Arbeiterin aus Siebenbürgen/Rumänien beschreibt die Lage bei Müllerfleisch so: „Die Konditionen sind ganz schlecht“, kommentiert die Frau. Es gebe höchstens 1.450 Euro netto für rund 260 Stunden im Monat, vor allem Nachtschicht. Davon würden monatlich 24 Euro für die Reinigung der Arbeitskleidung abgezogen. Weitere 50 Euro für den Transport nach Birkenfeld und 250 Euro pro Bett in kleinsten, mehrfach belegten Zimmern. Auf den zehn Quadratmetern, für die ein Paar zusammen 500 Euro bezahle, stehe noch ein Kühlschrank. Wer einzeln, ohne Partner oder Verwandte angestellt sei, teile sich ein solches Zimmer zu dritt oder viert. Dusche und Küche gebe es stockweise.“ (Badische neueste Nachr., 5.5.20)

Die Schuldigen

Der Vorwurf Heils, dass die SchlachthofkapitalistInnen Verantwortung abschieben, ist völlig korrekt. Sie betreiben das weiter. In einer Presseerklärung vom 13.05.2020 schreibt der Verband der Fleischwirtschaft: „Einzelne Politiker und Gewerkschafter bringen aktuell faktenfreie Vorwürfe in Umlauf, die sich pauschal gegen die gesamte Fleischwirtschaft richten.“

Am 18.5. heißt es: „140 der uns bekannten Testergebnisse waren Covid-19 positiv, d. h. 1 %. Dabei gab es in zwei von 27 untersuchten Betrieben mit jeweils 33 und 92 positiven Fällen ein gehäuftes Auftreten“

Zynisch behaupten sie: „In den Selbstverpflichtungen der Fleischwirtschaft von 2014 und 2015 ist ein gutes Rahmenwerk für die Beschäftigung mit Werkverträgen geschaffen worden, das vor allem Wohn- und Sozialstandards absichert.“

Das war eine Woche, nachdem das RKI von Massenausbrüchen in Baden-Württemberg, Bayern Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein berichtet hatte und einige Betriebe geschlossen worden waren.

Zwei Tage später hatte der Verband erkannt, dass es nicht mehr hilft, zu lügen und die Realität zu Fake-News zu erklären, und schlug ein 5-Punkte-Papier vor, das vor allem eines fordert: die Werkverträge nicht abzuschaffen!

Ihre Vorschläge beziehen sich vor allem auf die Wohnverhältnisse und sie bieten an, dass ausländische Beschäftigte auf jeden Fall eine deutsche Krankenversicherung haben sollen. Das wirft einerseits ein Licht darauf, dass es Konstrukte gibt mit Scheinselbstständigkeit und Werkverträgen, die Beschäftigte hier schutzlos bei Krankheiten lassen. Getrieben wird dieser Vorschlag vermutlich davon, dass diese Herrschaften fürchten, selbst für die Kosten für Tests, Quarantäne und Krankenbetreuung aufkommen zu müssen. Bezeichnend an diesen Vorschlägen ist jedenfalls, dass sie Maßnahmen vorschlagen, die möglicherweise den Beschäftigten Mehrkosten für die Krankenversicherung aufhalsen und auf jeden Fall zulasten der Subunternehmen und der VermieterInnen gehen.

Marx schrieb einst: „Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendigt, daß er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt erhält, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.“ Der Verband der Fleischindustrie verteidigt die Interessen seiner Mitglieder nicht nur gegen die ArbeiterInnen, sondern auch sehr heftig gegen die „anderen Teile der Bourgeoisie“.

Die Gewerkschaft und die Linkspartei

Zuständig für diesen Bereich ist die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) und diese Gewerkschaft ist in fast allen Bereichen mit Niedriglohn, hoher Fluktuation, Arbeitszeitbetrug und schwierigen Bedingungen für gewerkschaftliche Organisierung konfrontiert. Sie kennt die Probleme  und bräuchte dringend Unterstützung durch andere Gewerkschaften – sowohl finanziell wie auch bei Kampagnen, selbst wenn es nur auf dem Niveau wäre, wie zum Beispiel das Thema Pflege gewerkschaftsübergreifend behandelt wird.

Die plötzliche und viel zu späte Aufmerksamkeit der Medien und Politik nutzt die NGG-Führung aber nicht wirklich aus. Sie erklärt „Wir begrüßen, dass das Bundeskabinett heute schärfere Regeln für die Fleischindustrie beschlossen hat und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil wie angekündigt ‚in der Branche aufräumen‘ will.

Der Beschluss ist ein sehr guter Anfang, damit der Missbrauch von Werkverträgen in der Fleischindustrie und die Ausbeutung der in Sub-, Sub-Subunternehmen ausgebeuteten Werkvertragsbeschäftigten beendet werden kann. Laut Kabinettsbeschluss soll das Schlachten und Zerlegen ab 2021 nur noch mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des eigenen Unternehmens zulässig sein. Dieses angekündigte Verbot kommt der Beseitigung eines Krebsgeschwürs gleich.

Richtig und wichtig ist es, dass schärfer kontrolliert wird und die Kontrollen sich auch auf die Wohnungen und Unterkünfte erstrecken. Dringend notwendig ist es, die Kontrollkapazitäten in den Bundesländern, die teilweise kaputtgespart worden sind, wieder aufzustocken.

Mit einer digitalen Zeiterfassung kann auch endlich dem Betrug bei den Arbeitszeiten ein Ende gesetzt werden. Jetzt gilt es, diesen Beschluss im Gesetzgebungsverfahren Eins zu Eins umzusetzen. Wir warnen die CDU/CSU-Fraktion davor, diesen Kabinettsbeschluss im Bundestag zu schleifen oder zu verwässern.“

Der NGG-Sekretär von Nordbaden, Capece, geht da weiter. Er fordert: „Als erstes muss mit dem Ausbeutungssystem Leiharbeit gebrochen werden, das keinen anderen Zweck hat, als auf dem Arbeitsmarkt die Löhne zu drücken“.

Das ist mehr, als DIE LINKE fordert. Nach den Worten von Bartsch will diese „einen Mindestlohn von 12 Euro, lückenlose Kontrollen und spürbare Strafen bei Verstößen“. (Osnabrücker Ztg)

Der Parteivorsitzende Riexinger beschränkt sich darauf, „auch häufigere und schärfere Kontrollen“ zu fordern, sowie dass die Werksverträge von flächendeckenden Tarifverträgen abgelöst werden müssen und die Kosten, die den Beschäftigten für ihre Unterkunft abverlangt werden, orientiert an ortsüblichen Vergleichsmieten, gedeckelt werden.“

Tierschützer und Grüne

Die Forderungen von NGG, SPD und DIE LINKE gehen in die richtige Richtung, auch wenn sie unzureichend sind. Sie alle sehen, dass das Kapital das Problem ist, aber sie wollen es nur einschränken. Es ist offensichtlich, dass mehr nötig ist.

Die grüne Methodik andererseits, die auch weit in Umweltbewegungen verbreitet ist, macht die VerbraucherInnen zu den Schuldigen. In der Schlachthof-Debatte zeigt diese Logik ihre ganze Hilflosigkeit. Die Grünen behaupten, dass KundInnen schuld sind, weil sie billiges Fleisch wollten. Dass das der Kundenwunsch sei, behaupten auch die Einzelhandelskonzerne, die Verbände der Agrar- und der Fleischindustrie. Die Grünen sagen, die Preise für Fleisch müssen steigen. Wie schön für die Einzelhandelskonzerne, die Verbände der Agrar- und der Fleischindustrie. Als Kampfmaßnahme gegen die Zustände in der Fleischindustrie kaufen wir alle ein Biorindersteak für 10 Euro das Stück, vor allem die Leute, die Mindestlohn verdienen und dann noch um diesen betrogen werden.

Die Krise zeigt hier auf, dass diese Argumentation aus klein- und linksbürgerlichen Kreisen zur Beruhigung für das eigenen Gewissen taugen mag, für politische Zwecke ist sie wertlos.

Strategie für Veränderung

Die Krise um Corona, des Klimas und des kapitalistischen Systems geben den Blick auf die Tiefe der Probleme frei. Sie zeigen, dass radikale Veränderungen nötig sind. Die Kombination von Leiharbeit und Werkverträgen gibt es auch in anderen Branchen, z. B. bei Paketdiensten, in Bauindustrie, Gastronomie, Landwirtschaft, und sie führt überall zu Überausbeutung und Rechtlosigkeit. Die Beschäftigung von MigrantInnen ist überall mit Diskriminierung und Rassismus verbunden.

SozialistInnen sollten nicht nur die richtigen Forderungen von Gewerkschaft, SPD und LINKEN unterstützen, die zu einer Verbesserung der Lage führen können, sondern sie müssen aufzeigen, dass die spektakulären Corona-Hotspots in der Fleischindustrie ihre Basis im Kapitalismus haben. Und sie schlagen Forderungen vor, die helfen, den Widerstand der FleischfabrikantInnen und ihrer Verbündeten in CDU/CSU zu brechen.

Enteignung

Heil greift an, dass auch noch Sub-Sub-SubunternehmerInnen Profite auf Kosten der Arbeitenden machen. Er stellt die großen Bosse nicht in Frage. Aber die großen Schweine sind das Problem, nicht nur die kleinen. Ihre Profite diktieren ihr Handeln. Da kommen die Rechte der Beschäftigten genauso unter das Messer wie das Wohl der Tiere. Jede wirkliche Umstellung auf artgerechtere Aufzucht und Schlachtung von Tieren findet da ihre Grenzen. Im übrigen waren Schlachthöfe aus gutem Grund in Deutschland früher kommunal organisiert. Es gab tarifliche Arbeitsplätze und Gesundheitskontrollen. Der Spiegel verkündete am 27.10.1975 unter dem Titel „Letztes Gefecht – Westdeutschlands Kommunal-Schlachthöfe kosten den Steuerzahler immer mehr Geld. Eine bundesweite Privatisierungswelle verspricht Abhilfe“ das Ende für damals noch 400 kommunale Schlachthöfe in Westdeutschland. Im Osten wurden sie nach 1991 abgewickelt. Die Enteignung darf die Leitung von Betrieben nicht wieder städtischer oder staatlicher Bürokratie übergeben und auch nicht die Gesundheits- und Arbeitsschutzüberwachung: Die Beschäftigten müssen sowohl die Kontrolle über ihre Auslastung haben: z. B. nicht wie heute möglichst viele Tiere möglichst schnell zu töten, sondern nur entsprechend dem wirklichen Bedarf. Sie müssen und sollen über Zeit für Gesundheit und Arbeitssicherheit verfügen. ExpertInnen für Tier- und Arbeitsschutz aus Verbänden und Gewerkschaften sollen die Beschäftigten in dieser Kontrollaufgabe unterstützen.

Das erfordert auch Änderungen in der Landwirtschaft, weg von „billig, schlecht und zu viel“. Tiertransporte dürfen nur bis zum nächsten Schlachthof erlaubt sein. Die Ausschaltung des Profitstrebens in der Nahrungsmittelproduktion und Verteilung ist somit ein Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit und Klimarettung.

Sofortmaßnahmen

  • Das Verbot der Werkverträge in der Fleischindustrie muss sofort gelten. JedeR Beschäftigte muss sofort einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten mit tariflicher Bezahlung und Kündigungsschutz. Leiharbeit muss generell verboten werden.
  • Ausländische Beschäftigte erhalten, wenn nötig, ein unbefristetes Visum und das Recht auf Familienzusammenführung. Alle Verträge müssen in den Heimatsprachen verfasst und DolmetscherInnen durch die Firmen gestellt werden.
  • Sofortige Unterbringung in angemessenen Wohnungen, Hotels und Pensionen; die Bezahlung muss von der Firma übernommen werden, bis die Beschäftigten eigene Wohnungen gefunden haben.
  • Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 12 Euro netto/Stunde (rund 1600,-/Monat)!
  • Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Neuwahl der Betriebsräte in Fleischfabriken innerhalb von 3 Monaten, damit die Massen der (Ex-)LeiharbeiterInnen entsprechend vertreten sind! Unterstützung der NGG durch die anderen DGB-Gewerkschaften bei der Organisierung der Lebensmittelindustrie!

Wie kämpfen?

Die SchlachthofbetreiberInnen drohen schon mit Betriebsverlagerung. Sie weisen uns darauf hin, dass diese Forderungen europaweit aufgestellt und durchgesetzt werden müssen. Zu Recht: Die Zustände sind fast überall dramatisch schlecht.

Die Vermengung der Wirtschaftskrise mit Corona und Gesundheit, mit Umwelt und Klima gilt für alle Bereiche. Millionen merken das schon und noch viele mehr wird es treffen. Wir brauchen eine Bewegung gegen Abwälzung der Krise auf die arbeitende Bevölkerung: Aufbau von Antikrisen-Bündnissen zur Koordinierung und Unterstützung von politischen Streiks, Besetzungen, zur Vorbereitung und Organisierung von Massendemonstrationen.




Wilder Streik in Bornheim – Solidarität und Perspektive

Korrespondent Bonn, Infomail 1104, 22. Mai 2020

Genug ist genug. Den SpargelstecherInnen aus Bornheim reicht es, nachdem sie bis heute auf den größten Teil ihrer Löhne vom April warten und mit 50 bis 300 Euro abgespeist worden sind. Seit dem 18. Mai haben sie die Arbeit niedergelegt und sind in einen wilden Streik getreten. Mit Demonstrationen, Kundgebungen vor dem Sitz des Insolvenzverwalters haben sie gezeigt, dass Kampf, dass Widerstand selbst für gewerkschaftlich kaum organisierte ArbeitsmigrantInnen aus Rumänien und Bulgarien möglich sind, dass Solidarität kein leeres Wort ist.

Die Mobilisierung zwang das Unternehmen, das rumänische Arbeitsministerium sowie die BundesministerInnen Heil und Klöckner dazu, auf das Unternehmen, den Spargel- und Erdbeerhof Ritter in Bornheim, Druck auszuüben und den Beschäftigten einige Zugeständnisse zu machen. So wurden am Mittwoch, den 20. Mai, Löhne ausgezahlt und etliche ArbeiterInnen wurden in andere Betriebe nach Belgien und in Rheinland-Pfalz vermittelt. Viele der Beschäftigten nahmen das Angebot an, obwohl (oder weil?) die Gewerkschaft FAU nicht bei der Auszahlung dabei sein durfte, diese von Sicherheitsleuten überwacht wurde. Rund 30 Beschäftigte warten noch immer auf ihren Lohn. Effektiv wurde damit die Kampffront massiv geschwächt. Für die wenigen verbliebenen ArbeiterInnen wird es sehr schwer, ihre Interessen durchzusetzen.

Vorgeschichte

Mit Beginn der Coronakrise und dem Verhängen von Einreiseverboten war die Panik unter den deutschen LandwirtInnen und Agrarunternehmen groß. Wer würde im Frühjahr Spargel und Erdbeeren von den Feldern holen, wenn die dazu normalerweise angestellten ArbeiterInnen aus Osteuropa nicht über die Grenze dürfen?

Das Geschäft mit dem Spargel ist sehr lukrativ, allerdings auch deutlich arbeitsintensiver als die Ernte anderer Feldfrüchte. Es werden viele ArbeiterInnen benötigt, die den Spargel aus der Erde holen können. Diese Arbeit ist körperlich anstrengend und alles andere als leicht.

Auch der Spargel- und Erdbeerhof Ritter in Bornheim stand in den letzten Wochen vor diesem Problem und sicherlich freuten sich die ChefInnen, als im März klar wurde, dass es unter bestimmten Voraussetzungen doch möglich sei, billige Arbeitskräfte aus Rumänien und Bulgarien zu importieren. Der Hof steckt in der Krise. Das Unternehmen ist insolvent und die aktuelle Lage spitzt diese Krise noch zu. Doch wie immer sind es nicht die Bosse, die die Kosten der Krise tragen sollen, sondern die ArbeiterInnen. Zusammengepfercht in engen und mangelhaften Unterkünften verbringen die ca. 240 SpargelstecherInnen nach langen Tagen auf dem Feld dort ihre Freizeit.

Doch damit nicht genug, viele ErntehelferInnen berichten, bislang keinen bzw. zu wenig Lohn bekommen zu haben. Der Insolvenzverwalter des Hofes begründet dies damit, den Lohn gäbe es erst zum Ende des Arbeitsvertrages. Womit die Lohnabhängigen bis dahin ihre Rechnungen zahlen sollen, interessiert ihn offenkundig nicht.

Aktion

Vollkommen richtig war die Reaktion der ArbeiterInnen. Obwohl sie nicht in DGB-Gewerkschaften organisiert sind, begannen sie in den letzten Tagen einen wilden Streik, weigerten sich, auf den Feldern zu arbeiten und forderten die Auszahlung ihres Lohns.

Die Polizei wurde gerufen, um die streikenden ArbeiterInnen unter Kontrolle zu halten, und in der letzen Woche gab es Demonstrationen beim Hof und am Sitz der Insolvenzverwaltung.

Mittlerweile ist klar: Die Spargelernte soll abgebrochen werden. Was mit dem Lohn der ArbeiterInnen geschieht, die noch nicht bezahlt wurden, bleibt weiter unklar.

Dass nun Spargel nicht geerntet wird, weil den KapitalistInnen die Felle, also ihre Profite, davonschwimmen und sie die ArbeiterInnen nicht bezahlen wollen, ist nur ein weiteres Beispiel für die Absurdität der kapitalistischen Produktionsweise.

Die Teilerfolge für alle jene, die am 20. Mai Lohn erhielten, geht auf die Aktionen der Beschäftigten und die Unterstützung durch die anarchosyndikalistische Organisation FAU Bonn zurück, die auch mit dem rumänischen Konsulat und dem Insolvenzverwalter verhandelt hat bzw. die KollegInnen dabei unterstützte. Notwendig wäre freilich eine Verbreiterung der Solidarität, d. h. die Unterstützugn durch die gesamte Gewerkschaftsbewegung, insbesondere durch die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und die IG Bauen-Agrar-Umwelt (BAU) gewesen. Um das Unternehmen in die Knie zu zwingen und die Entlassung der Beschäftigten zu verhindern, wären ein unbefristeter Streik und eine Betriebsbesetzung nötig gewesen.

Der Kampf hat freilich gezeigt, dass auch unorganisierte ArbeiterInnen unter überaus prekären und entrechteten Bedingungen kämpfen und Teilerfolge erzielen können. Der Spargel- und Erdbeerhof Ritter ist jedoch kein Einzelfall, sondern sein Geschäftsmodell steht für eine ganze Branche.  Es braucht zugleich eine politische Perspektive und klare Forderungen für die gesamte Sparte, für die die Gewerkschaften mobilisieren müssten:

  • Ausbezahlung der ausstehenden Löhne! Bereitstellung sicherer Unterbringung statt der Sammelunterkünfte!
  • Offenlegung der Finanzen aller Firmen! Entschädigungslose Enteignung aller Betriebe, die mit Entlassung drohen, Löhne nicht auszahlen oder Gesundheitsvorschriften missachten! Weiterführung und Wiederaufnahme der Ernte unter Kontrolle der Beschäftigen! Kontrolle der Einhaltung der Gesundheitsvorschriften durch die Gewerkschaften!



Agrarwende? Nur gegen das Kapital!

Jürgen Roth, Neue Internationale 243, Dezember 2019/Januar

Am 18. Januar 2020 werden wie in den vergangenen Jahren zehntausende Menschen auf den Straßen Berlins unter dem Motto „Wir haben es satt!“ demonstrieren. Anlass ist die Eröffnung der 85. „Grünen Woche“, der weltweit größten Agrarmesse.

Forderungen

Das Bündnis „Meine Landwirtschaft“ als Veranstalter weist darauf hin, dass 2020 wichtige Entscheidungen für Landwirtschaft und Klima anstehen (EU-Agrarreform, EU-Mercosur-Freihandelsabkommen, Klimapaket), und fordert: „Agrarwende anpacken, Klima schützen – Macht endlich eine Politik, die uns eine Zukunft gibt!“ Fördergelder soll es nur für Bauernhöfe geben, „die die Tiere gut halten, Umwelt und Klima schützen und gutes Essen für uns alle herstellen!“

Die Demonstration
fordert von der Bundesregierung:

„Die Agrarwende finanzieren – Bauernhöfe beim Umbau der Landwirtschaft nicht alleine lassen: Mit gezielten Subventionen und fairen Preisen sind artgerechte Tierhaltung und mehr Klima- und Umweltschutz machbar!

  • Klares Veto gegen das Mercosur-Abkommen: Für gerechten Welthandel, globale Bauernrechte und konsequenten Regenwaldschutz!
  • Nein zu den Industrie-Mogelpackungen: Gentechnik, Patent-Saatgut und der routinemäßige Einsatz von Pestiziden und Kunstdünger verschärfen die Klimakrise und den Hunger!“

Landwirtschaft
in Bewegung

Am 18. Januar
geht der fortschrittlichere Teil der landwirtschaftlichen, bäuerlichen und
genossenschaftlichen ProduzentInnen auf die Straße. Schon am 22.10. zog auch
das europäische Netzwerk „#GoodFoodGoodFarming“ (http://gfgf.eu)
zum EU-Parlament in Straßburg und forderte dort die Umverteilung der
EU-Agrarsubventionen: weg von pauschalen Flächenprämien hin zu einer konkreten
Unterstützung für „enkeltaugliche“ Landwirtschaft. „Wir haben es satt!“
unterstützte auch letzteres.

Eine andere
Haltung nahm das Bündnis richtigerweise zu den am 22. Oktober und 26. November
2019 demonstrierten in mehreren deutschen Städten Bäuerinnen und Bauern. Diese
wurden von der Initiative „Land schafft Verbindung“ gegen Düngeverordnung und
Insektenschutzprogramm mobilisiert, um auf die missliche Lage auf dem Lande
aufmerksam zu machen.

Die
Traktor-Demonstrationen kritisiert „Wir haben es satt!“ als ambivalent. Das
„Agrarpäckchen“ der Bundesregierung mit seinen halbherzigen Maßnahmen
grundsätzlich abzulehnen, sei falsch, richtig dagegen, dass die Bauernhöfe
nicht mit dem „gesellschaftlich gewollten“ Umbau der Landwirtschaft allein
gelassen werden dürften. Zu Recht weist das Bündnis auf die verheerenden
ökologischen Folgen von Pestizideinsatz (Insektensterben), Massentierhaltung
(Gülleverseuchung des Trinkwassers, Abholzung des Regenwalds für
Gensoja-Futter) und Dumpingexporten (Vernichtung kleinbäuerlicher Existenzen)
hin.

Als Alternative
stellt es in den letzten 10 Jahren eine starke Bewegung für gute Landwirtschaft
und gutes Essen fest. Immer mehr Bauern und Bäuerinnen bauten ihre Ställe um
und erzeugten Lebensmittel ohne Gentechnik, nutzten weniger Pestizide oder
setzten ganz auf Bio. Bürgerinitiativen hätten unzählige Tierfabriken
verhindert, Volksbegehren kämpften für Artenvielfalt und Foodsharing-Projekte
retteten wertvolle Lebensmittel vor dem Müll. Schließlich kauften immer mehr
Menschen konzernfreie Nahrung und äßen weniger Fleisch.

Unbegründeter
Optimismus

Diese Sichtweise
der Agrarprotestbewegung „Wir haben es satt“ legt nahe, dass der Fortschritt lediglich
eine Frage der Vernunft sein und dass sich bei LandwirtInnen wie
VerbraucherInnen zunehmend durchsetze. Es brauche eigentlich nur Druck auf
Regierungen und EU, um auch diese zur Vernunft zu bewegen, und alles gehe wie
von selbst.

Doch derzeit
liegt der weltweite Anteil der ökologisch bewirtschafteten Äcker im Vergleich
zur Gesamtnutzfläche bei 0,8 %. Zudem steigt die Weltbevölkerungszahl
weiter an und verschwinden weltweit immer mehr Nutzfelder für die
Grundnahrungsmittelproduktion. Darüber hinaus sind sich die Herrschenden der
drastischen Verschlechterung der Bedingungen des zukünftigen Nahrungsanbaus,
darunter v. a. der Übersäuerung und Auslaugung fruchtbarer Böden, durchaus
bewusst. Gerade deshalb sichern sie sich bereits jetzt mittels Handel und
Börsenspekulation unbearbeitete Flächen, um aus der von ihnen selbst
verursachten globalen Hungersnot zukünftig Profit zu schlagen. Bei steigenden
Bevölkerungszahlen und stets rückgängigen fruchtbaren Ackerböden ist der Gewinn
so sicher wie das Amen in der Kirche.

Gute und
schlechte Bauern und Bäuerinnen?

So richtig die
Kritik an der letztlich reaktionären Stoßrichtung von „Land schafft Verbindung“
ist, so sehr kippt z. B. das Netzwerk Campact in einem Spendenbettelbrief
(!) das Kind mit dem Bade aus. „Kleine, naturnahe“ Höfe schützten Artenvielfalt
und Insekten, während die „Turbo-Landwirtschaft“ als einzige von den
Erzeugerpreisen der Discounteinzelhandelsketten noch gut leben könne.
Zahlreiche Insolvenzen auch größerer Betriebe zeigen aber, dass auch viele von
diesen unter den herrschenden Bedingungen unter Druck geraten, wenn auch nicht
so sehr wie kleinere Höfe. Zudem ist es nicht so, dass Beihilfen auch für die
große Agrarwirtschaft seit 2005 nicht an Umwelt- und Tierschutzstandards
gebunden seien. Diese stellen aber nur eine kümmerliche Kompensation für die
miserable Vergütung durch Handel und verarbeitendes Gewerbe dar, die sich zugleich
frei auf dem Weltmarkt bedienen können. Biobetriebe bekommen übrigens längst
wesentlich mehr – in Brandenburg 490 ggü. 250 Euro pro Hektar.

Richtig an der
Kritik bleibt, dass Unternehmen mit viel Fläche und ohne Tierhaltung durch die
Direktzahlungen überproportional begünstigt werden und diese deshalb an soziale
und zusätzliche ökologische Standards sowie die Beschäftigtenzahl gekoppelt
werden sollten. Der Protest von „Land schafft Verbindung“ richtete sich erst an
letzter Stelle gegen das Mercosur-Abkommen und vorrangig gegen das noch gar
nicht beschlossene Agrarpaket der Bundesregierung, dessen Auswirkungen auf
Arten- und Gewässerschutz höchst zweifelhaft sein dürften. Das
Mercosur-Abkommen führt die bauernfeindliche Agrarpolitik fort und soll für verstärkte
Konkurrenz mit AnbieterInnen auf globalisierten Märkten sorgen, die überhaupt
keine Tierschutz- und Umweltstandards einhalten müssen. Die Empörung dagegen
wäre viel berechtigter gewesen als die gegen das Regierungspaket, in dessen
Zustandekommen die Protestierenden nicht einbezogen waren. Trotzdem ist die Wut
verständlich, die Suppe auslöffeln zu müssen für Lebensmittelindustrie und
–handel, die mit ihrem Preisdumping maßgeblich für die Misere mit
verantwortlich sind.

Zurück zur
kleinbäuerlichen Hofidylle?

Bei aller
berechtigten Kritik an den reaktionären Protesten von „Land schafft
Verbindung“, prägt auch „Wir haben es satt“ eine rückwärtsgewandte Perspektive.
Die Rettung der „unabhängigen“ Bauernwirtschaft durch „gezielte Subventionen“
soll nicht nur die Landwirtschaft retten, sondern auch die Ernährung auf
sichern.

Dabei entspricht
das Selbstbild als freie UnternehmerInnen auf dem Land längst nicht mehr der
Realität – und es wird auch nicht mehr wiederkehren. „Wir haben es satt“ täte
gut darin, sich von dieser Chimäre zu verabschieden, die schon lange nicht mehr
der Realität entspricht und im globalisierten Kapitalismus erst recht nicht.

Eine ökologisch
nachhaltige Agrarwirtschaft wird die Ernährung der Weltbevölkerung nicht
mittels Rückkehr zur nicht-kapitalistischen kleinen Hofwirtschaft sicherstellen
können! Nicht Ersatz der industriell betriebenen Agrarwirtschaft durch
handwerkliche kann die Lösung sein, die zudem eine rückwärtsgewandte
reaktionäre Utopie darstellt, sondern die Aneignung der landwirtschaftlichen
Produktivkräfte auf wissenschaftlicher Basis und in großem Maßstab. Dazu muss
man diese (Veterinärmedizin, Saatgut, Düngemittel, Bodenfläche, Genpatente …)
den kapitalistischen Agrarkonzernen und GroßgrundbesitzerInnen entreißen und in
den Dienst der Allgemeinheit stellen. Dazu braucht es eine Revolution nicht nur
auf dem Lande, sondern in der gesamten Gesellschaft, letztlich die Errichtung
der Herrschaften der ArbeiterInnenklasse und die Enteignung des Großkapitals.
Nur auf der Grundlagen von Gemeineigentum an den Produktionsmitteln und eine
demokratischen Planwirtschaft können auch die landwirtschaftlichen
ProduzentInnen in einen transparenten, auf Nachhaltigkeit und soziale Standards
bedachtes Verhältnis zu den KonsumentInnen und zur industriellen Produktion
eingebunden werden. Die Verbindung von ArbeiterInnenklassen und armer
Bauern-/Bäuerinnenschaft ist dabei in den Entwicklungsländern
überlebenswichtig, aber auch z. B. in der BRD notwendig.

Klassenfrage

In Deutschland
waren 2010 noch 1,6 % der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft
einschließlich Fischerei und Forstwirtschaft tätig. Dabei repräsentiert „Wir
haben es satt“ den untypischen, schrumpfenden Teil der selbstständigen
Kleinunternehmen. In Deutschland (außer im ostelbischen Preußen) spielte der
kapitalistische Betrieb mit LohnarbeiterInnen im Gegensatz zu Großbritannien
eine untergeordnete Rolle. Nichtsdestoweniger wurde die Landwirtschaft
v. a. nach dem 2. Weltkrieg vollständig der Warenproduktion einverleibt.

Eine immer größer
werdende Anzahl von AgrarproduzentInnen befindet sich in einem Stadium zwischen
KleinunternehmerIn und LohnarbeiterIn. Damit ist nicht die Zahl der Bauern und
Bäuerinnen gemeint, die ihre Betriebe aufgegeben haben und z. B. als LohnarbeiterInnen
in der Industrie ihr Geld verdienen. Diese gehören zum Proletariat.

Zum
Halbproletariat gehört die Schar der NebenerwerbslandwirtInnen, die ihre Höfe
nach Feierabend bewirtschaften. Immer mehr AgrarierInnen arbeiten wie die
deklassierte DorfhandwerkerInnenschaft im 19. Jahrhundert (Verlagssystem) nur
für Aufträge aus Industrie und Handel mit von diesen festgelegten Preisen.
Ganze ehemals bäuerliche Tätigkeiten (Schlachtung, Milchverarbeitung …) sind
zum kapitalistisch betriebenen Gewerbe geworden. Bereiche wie Geflügelmast und
Eierproduktion werden praktisch in Lohnarbeit erledigt, auch wenn die Betriebe
und Böden sich noch in Händen des/r bäuerlichen LohnarbeiterInnen befinden
mögen. Es ist von daher einsichtig, dass KommunistInnen diese im Übergang zum
Proletariat befindlichen Schichten keineswegs ignorieren oder abschreiben
dürfen zugunsten alleiniger Orientierung auf das „grüne“
kleinbäuerlich-selbstständige Milieu, auch wenn erstere in der
„Turbolandwirtschaft“ tätig sind!

Nachhaltige
Landwirtschaft und Markt: unlösbarer Widerspruch!

Wie in allen
anderen Wirtschaftsbereichen führt diese triste kapitalistische Wirklichkeit
auch in der ökologischen Landwirtschaft zwangsläufig zu stets sich selbst
reproduzierenden Widersprüchen. Auf der einen Seite existiert das völlig
verständliche Bedürfnis nach qualitativ hochwertigen Lebensmitteln, nach Ausbau
sozialer Mindeststandards insbesondere für ProduzentInnen aus Drittweltstaaten
und einer sich verbunden fühlenden Gemeinschaft der Ökolandbauern und
–bäuerinnen. Auf der anderen Seite werden diese Prinzipien gerade durch den
permanenten Konkurrenzkampf mit anderen MarktteilnehmerInnen immer wieder
ausgehöhlt. De facto sind Ökolandbauern und –bäuerinnen, so fortschrittlich sie
auch denken mögen, zur kapitalistischen Produktionsweise gezwungen, da ihr
Überleben selbst vom Gesamtmarkt (also dem übergeordneten System) abhängig ist.
Die von der Ökobewegung ausgeblendete oder falsch beantwortete Klassenfrage
stellt ein zusätzliches Hindernis für wirklich selbstverwaltete Strukturen in
den Händen der Lohnabhängigen, der übergroßen Bevölkerungsmehrheit in diesem
Lande, dar wie umgekehrt der niedrige Stand proletarischen Klassenbewusstseins.

Nicht die
ArbeiterInnen als EndverbraucherInnen sind z. B. für die massive
Lebensmittelverschwendung verantwortlich. Nur ein geringer Bruchteil wird
tatsächlich in Privathaushalten entsorgt, ein noch geringerer in
LohnempfängerInnenhaushalten. Durch unzählige Lebensmittelnormen im Interesse
der Industrie gelangt ein großer Teil erst gar nicht in den Handel.

Sozialismus und
Landwirtschaft

Die staatliche
Landwirtschaftspolitik, so scheinen etlicher selbständige BäuerInnen zu hoffen,
soll anscheinend durch ihre Subventionen die kapitalistische Konkurrenz außer
Kraft setzen. Die Mehrzahl der untergegangenen Höfe spricht eine andere Sprache
und verdeutlicht, dass auch in der Landwirtschaft die Gesetze des Marktes
wirken. Die staatliche Politik hat allenfalls zeitweilig, beginnend mit dem
letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, die Proletarisierung, das Ausscheiden aus
der Landwirtschaft verzögert, doch nur insoweit, als sie das Agrarkapital
stärkte. Genauso haben später die EU-Programme diesen Prozess beschleunigt bei
immer weiterer Durchsetzung kapitalistischer Marktlogik und
Weltmarktorientierung. „Wir haben es satt“ wendet sich also mit seinen Appellen
an falsche Freundinnen, ähnelt hier einem Großteil der Bewegung „Fridays for
Future“.

Auch die in der
Ökobranche gängigen Genossenschaften und Kommunen können den äußeren Einfluss
des Kapitalismus nicht aushebeln. Solange sie am marktwirtschaftlichen
Geschehen teilnehmen, müssen sie zum Überleben nach seinen ökonomischen
Spielregeln handeln. Sie werden entweder ein stinknormaler kapitalistischer
Betrieb wie alle anderen oder untergehen.

Erst die eine sozialistische
Umwälzung schafft die Voraussetzungen für eine nachhaltige ökologische
Landwirtschaft. Die Enteignung der Agrokonzerne und des Großgrundbesitzes sowie
die Planwirtschaft, nicht die kleine Parzellenwirtschaft für einen anonymen
Markt, können die unabdingbaren Voraussetzungen schaffen, um bäuerliche
Genossenschaften bzw. Privatwirtschaften der KleinbesitzerInnen in eine
integrierte ökologische Kreislaufwirtschaft einzubeziehen und somit den
Gegensatz zwischen Stadt und Land nach und nach zu überwinden. Soziale
Phänomene wie Landflucht und Hypertrophie der Städte werden verschwinden.

Agrarwende nur
mit Systemwandel

An dieser Stelle
können wir kein umfassendes Agrarprogramm vorlegen. Wir wollen hier nur kurz
wichtige Forderungen im Kampf gegen das Kapital in der Landwirtschaft
sowie  Eckpunkte eines
sozialistischen Programms darlegen und zur Diskussion stellen.

  • Annullierung aller Schulden für nicht-ausbeutende ErzeugerInnen! Verstaatlichung der Banken unter ArbeiterInnenkontrolle, günstige Kredite für genossenschaftliche ProduzentInenn, Ermutigung der selbstständigen Wirtschaften zum genossenschaftlichen Zusammenschluss
  • Integrierte ökologische Kreislaufwirtschaft! Gleichmäßige Verteilung von Ackerbau und Viehzucht sowie Artenvielfalt und Düngemittel sparende Fruchtfolge!
  • Offenlegung aller Patente (Gentechnik, Antibiotika, Dünger, Anbau- und Erntetechniken)! Frei zugängliches, breit diversifiziertes Saatgut!
  • Anwendung von Pestiziden und Antibiotika nur nach wissenschaftlichen Kriterien, wenn andere Mittel versagen! Landwirtschaftliche Forschung unter ArbeiterInnenkontrolle, nicht unter jener der Konzerne!
  • Staatliches Außenhandelsmonopol statt Protektionismus und kapitalistischen Freihandels! Gezielte Förderung der Erzeugung eines breiten Angebots an Grundnahrungsmitteln vorrangig vor dem Anbau von Exportfrüchten! Sicherstellung der Ernährung der Weltbevölkerung zuerst! Erlass aller Schulden der Länder der Dritten Welt!
  • Verstaatlichung des Grund und Bodens unter Kontrolle durch ArbeiterInnen und nicht-ausbeutende bäuerliche Werktätige! Abschaffung des Großgrundbesitzes! Zahlung der Grund- und Bodenrente an den Staat!
  • Entschädigungslose Enteignung der Agro- und Lebensmittelkonzerne unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Integration von Landwirtschaft, Forsten und Fischerei in den allgemeinen Wirtschaftsplan unter ArbeiterInnenkontrolle und der dortigen nicht-ausbeutenden Werktätigen! Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land!
  • Keine Agrarwende ohne Sozialismus – kein Sozialismus ohne Agrarwende!



Brasilien: Tage des Feuers

Markus Lehner, Neue Internationale 240, September 2019

Seit Beginn der Trockenzeit in der Amazonasregion ist dieses
Jahr dort ein wahres Inferno an Waldbränden ausgebrochen. Allein im August
handelt es sich jede Woche um Tausende. Diese sind zwar sehr unterschiedlich in
der Größe, summieren sich aber zu einem Katastrophenzustand, von dem inzwischen
die vier brasilianischen Bundesstaaten Rondônia, Pará, Mato Grosso und Amazonas
betroffen sind. Aufnahmen von Satelliten zeigen, dass pro Minute Regenwald in
der Größe von etwa 1,5 Fußballfeldern abbrennt.

Verbrecherische Politik

Die Mitschuld der verbrecherischen Bolsonaro-Regierung an
diesem ökologischen Desaster mit globalen Auswirkungen ist unbestreitbar.
Agro-Business und extraktive Industrien (wie der Bergbaukonzern Vale) haben für
ihre globalen Geschäfte ein starkes Interesse an der rücksichtslosen Ausbeutung
der Amazonasregion. Durch die Vorgängerregierungen und internationalen Druck
war das enorme Entwaldungstempo seit 2004 von jährlich über 20.000
Quadratkilometer auf unter 10.000 zurückgegangen. Offensichtlich ist es die
„Entwicklungsstrategie“ der Bolsonaro-Regierung, im Interesse ihrer
wesentlichsten GeldgeberInnen diese „Zurückhaltung“ wieder vollständig
aufzugeben. Die „Umweltbedenken“ wurden als Behinderung der wirtschaftlichen
Interessen Brasiliens verunglimpft, internationale Kritik als
„Neokolonialismus“ abgetan und jede nur erdenkliche Hetze gegen
UmweltaktivistInnen, Landlosenbewegung und indigene AmazonasbewohnerInnen vom
Zaun gebrochen.

Gleich zu Beginn der Präsidentschaft von Bolsonaro wurden
IBAMA (Brasilianisches Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche
Ressourcen; Umweltbundesamt Brasiliens) „gesäubert“, 21 der 27
Regionaldirektoren abgesetzt und ihre Mittel drastisch gekürzt. Mit Tereza
Cristina, der Landwirtschaftsministerin, bekam eine direkte Lobbyistin des
Agrobusiness die Verantwortung für die Amazonasregion übertragen. Der
„Umweltminister“ Ricardo Salles erklärte, dass es die oberste Pflicht seines
Ministeriums ist, die „Rechte der LandbesitzerInnen zu schützen“. Daher werden
nicht nur die Aktionen gegen illegale Landbesetzungen jetzt rechtzeitig
angekündigt, es gibt auch die niedrigsten Strafen für illegale Brandrodungen
seit Jahrzehnten. Die 980 Millionen Dollar, die die EU für die
Wiederaufforstung im Amazonas zur Verfügung gestellt hat, werden von Salles zur
„Entschädigung“ von Agrounternehmen verwendet (die die jetzt freigegebenen
Gebiete sich zumeist illegal angeeignet hatten). Schließlich brachte Flávio
Bolsonaro, der Sohn des Präsidenten, der selbst Senator ist, ein Gesetz ein,
das die Verpflichtung zum Schutz bestimmter Pflanzenarten, die
LandbesitzerInnen bisher einhalten mussten, lockert.

Was auch immer die Regierung bisher an Maßnahmen gesetzt
hat: klar ist, dass sich LandbesitzerInnen, Konzerne und ihr gesellschaftliches
Umfeld in der Amazonasregion durch Bolsonaro ermutigt fühlten, alle Schranken
fallen zu lassen. Seit dem Amtsantritt von Bolsonaro im Januar wurden bis Juni
79.000 neue Brände gezählt, ein Anstieg um 82 % gegenüber dem Vorjahr. Die
kriminelle Energie der LandeigentümerInnen wird am Beispiel des Überfalls auf
das indigene Volk der Wajapi im Bundesstaat Amapá deutlich: Am 24. Juni drangen
Bewaffnete eines Bergbaukonzerns für Rodungsarbeiten in das als „geschützt“
ausgezeichnete Gebiet ein, vertrieben die EinwohnerInnen und töteten dabei
mehrere Menschen, darunter deren Sprecher Emyra: ein Mord, der unter den
Indigenen-AktivistInnen großes Entsetzen verbreitete. Dies ist Ausdruck des
Charakters der Bolsonaro-Bewegung: von GroßgrundbesitzerInnen unterstützt, gibt
es in den ländlichen Regionen Mittelschichten und HandlangerInnen, die sich
rassistisch aufgeladen mit mörderischer Energie auf die Hindernisse für das
„echte Brasilianertum“ stürzen: Indigene, landlose LandarbeiterInnen und
KleinbäuerInnen (meist durch die MST vertreten), UmweltaktivistInnen und Linke:
eine mit Bolsonaro verbundene Bewegung, die durchaus Ähnlichkeiten mit den
italienischen FaschistInnen der 1920er Jahre im Klassenkampf um die Latifundien
der Po-Ebene hat. Daher sind die Waldbrände nicht nur ein ökologisches
Desaster, sie sind auch Teil einer gewalttätigen Bewegung gegen alle, die
Interesse an einem nachhaltigen Umgang mit dem Regenwald haben. So stellt es
auch die Erklärung der MST (die von Bolsonaro als „Terrororganisation“ bezeichnet
wird) zu den jüngsten Bränden fest: Die Abschaffung der bisherigen (schwachen)
Schutzbestimmungen im Amazonasgebiet ist das eine, aber „zur selben Zeit wächst
die Verfolgung und Kriminalisierung der Teile der Bevölkerung, die
traditionellerweise die Biome Brasiliens erhalten: die einfache Landbevölkerung
und die Indigenen“ (Queimar a Amazonia e crime contra humanidade, MST, 23.8.).
[Biom: Großlebensraum der Erde; Makro-Ökosystem]

So ist es auch kein Wunder, dass kürzlich bekannt wurde,
dass über einen Whatsapp-Verteiler der bolsonaristischen LandeigentümerInnen
für den 10. August zu einem „Tag des Feuers“ aufgerufen wurde entlang der
Bundesstraße 163, die die jetzt besonders betroffenen Regionen Mato Grosso und
Pará (beim Rio Tapajós) verbindet. Nachdem diese Whatsappgruppe von 70
LandeignerInnen durch die Zeitschrift Globorural geleakt worden war, konnte das
lächerliche Ablenkungsmanöver von Bolsonaro, dem zufolge die
Umweltorganisationen die Brände selber legen würden, um ihm zu schaden, nicht
mehr aufrechterhalten werden. Inzwischen muss selbst der Bolsonaro zutiefst
ergebene Justizminister Moro gegen die tatsächlichen BrandstifterInnen
ermitteln lassen (Globorural, Grupo usou whatsapp para convocar „dia do fogo“
no Para; 25.8.).

Entwicklung der letzten Jahre

Natürlich sind Waldbrände am Rand des Amazonasgebiets und in
der angrenzenden Savannenlandschaft (Cerrado) speziell in der Trockenzeit
nichts Ungewöhnliches, haben sich jedoch durch bestimmte Umstände in den
letzten Jahren periodisch verstärkt. Zu beachten ist, dass normalerweise selbst
in der „Trockenzeit“ im Amazonasgebiet durchschnittlich mehr Regen fällt als in
unseren Breiten in den regenreichsten Monaten. Das Gebiet lebt einerseits vom
Abregnen der feuchten Luftmassen der äquatorialen Nord-/Südostpassatwinde, die
sich in der zweiten Jahreshälfte entsprechend abschwächen. Andererseits erzeugt
der Regenwald selbst ein Mikroklima, das auch in der Trockenzeit noch für
ausreichend Regen sorgt. In den Millionen-Jahren, in denen sich der Regenwald
gebildet hat, haben speziell die Regenwaldbäume aufgrund der nährstoffarmen
Böden die Fähigkeit zu enormem Wasserumsatz entwickelt. Zur Aufnahme von
Kohlendioxid und Abgabe von Wärme über Wasserdampf haben sie ein Kreislauf-,
Wurzel- und Porensystem entwickelt, das sie pro Tag 1000 Liter aus Bodenwasser
umsetzen und in die Atmosphäre abgeben lässt (die Bäume unserer Breitengrade
schaffen durchschnittlich um die 400 Liter). Dies senkt die Temperatur im
Waldgebiet (durch die über das Wasser dem Boden entnommene Wärmeenergie),
bewässert große Gebiete und sorgt durch die Sonnenabstrahlung der großen
Wolkenbänke (Albedo-Effekt) für einen zusätzlichen Klimaschutz.

Die schon bisher betriebene Abholzung hat messbare
langfristige Auswirkungen auf das regionale und globale Klima. Seit 1970 wurden
800.000 Quadratkilometer (von ursprünglich 4 Millionen) abgeholzt, mit einem
gemessenen Effekt von 0,6 Grad Erwärmung im Amazonasbecken. Die abgeholzten
Gebiete sind noch mal im Durchschnitt um 4,3 Grad wärmer, was bei
landwirtschaftlicher Nutzung wiederum gesteigert wird (ohne die Wirkungsweise
der Waldflora kann nur ein Bruchteil des Regenwassers im Boden gehalten werden,
der Großteil fließt ab). Die nährstoffarmen so gewonnenen Böden sind nach 4–5
Jahren zumeist unbrauchbar. Viele werden aufgegeben und versteppen (was den
Hunger nach immer neuen Abholzungen erklärt). Diese immer größeren Schneisen
des Cerrado in den Regenwald untergraben das Mikroklima in immer mehr Bereichen
des Waldes – und ab einer bestimmten Gesamttemperatur (beim heutigen Tempo wird
die Erwärmung bis 2050 seit 1970 um 1,5 Grad gestiegen sein) funktioniert die
„Wasserpumpe“ Baum in diesen Bereichen nicht mehr. Dann werden selbst
Regenwaldbäume zu leichter Beute von Funkenflügen und Wind. Nach
unterschiedlichen Modellen wird daher inzwischen von bestimmten „Kipppunkten“
des Waldsterbens im Amazonasbecken gesprochen. Seit langem wird davon
gesprochen, dass mit 40 % Verlust (relativ zur Größe 1970) ein Punkt
erreicht wäre, wo die Selbstregeneration und der Mikroklimaschutz
zusammenbrechen und der Wald als Ganzes bedroht ist (also der Region die
Versteppung drohen könnte). Inzwischen werden Modelle mit 20–25 %
diskutiert, die schon nahe an den heute erreichten 17 % Waldvernichtung
sind (https://advances.sciencemag.org/content/4/2/eaat2340).

Die Auswirkungen der Erreichung dieses Kipppunktes wären
nicht nur für das regionale Klima, und damit für die natürlichen Grundlagen der
Landwirtschaft in Südamerika, verheerend. Das Amazonasbecken enthält 40 %
des Weltbestandes an Regenwäldern und 10–15 % der globalen Biodiversität.
Vor allem aber ist der Regenwald auch eine riesige Kohlenstoffsenke: In der
Biomasse der Regenwälder steckt so viel Kohlenstoff, wie die Menschheit derzeit
in 10 Jahren verbrennt. In „normalen“ Jahren (ohne extreme Dürreereignisse) nimmt
der Amazonasregenwald etwa 1,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus der
Atmosphäre auf und wirkt damit der Erderwärmung durch Treibhausgase entgegen.
In den letzten Dürrejahren mit großen Brandereignissen, die seit den
2000er-Jahren im 5-Jahresrhythmus stattfanden (das letzte war 2015), kehrte
sich dies um. Dann bewirkt die Verbrennung der Kohlenstoffreservoirs des
Waldes, dass in so einem Jahr mehr Treibhausgase entstehen, als zur selben Zeit
von China und den USA zusammen hervorgebracht werden. Dabei sind diese
Dürreereignisse selbst ein Produkt des Klimawandels. Es lässt sich ein
Zusammenhang mit den El-Ninjo-Phänomenen nachweisen (die Erwärmung im
Ostpazifik führt zu einer Umkehr der Konvektionsströme über Südamerika, was zu
einer Abschwächung der für den Regenwald lebenswichtigen Passatwinde führt).
Entscheidend ist derzeit aber, dass in diesem Jahr dieses Wetterphänomen noch
nicht sein Maximum erreicht hat – dieses ist erst im nächsten Jahr
wahrscheinlich (die Auswirkungen können wir uns heute noch gar nicht
vorstellen!). Gerade dies zeigt deutlich, wie sehr menschengemacht das
derzeitige Ausmaß der Brandkatastrophe ist. Sollten die Vorhersagen für die
nächsten beiden Jahre stimmen und die brasilianische Politik sich nicht
grundlegend ändern, so wären die Auswirkungen auf den Regenwald und das
Weltklima beängstigend!

Reaktionen

Sehr zum Unmut von Bolsonaro ließ sich die Katastrophe in
Amazonien vor der Weltpresse und globalen Umweltverbänden nicht verbergen –
auch die Entlassung des Direktors der Satellitenüberwachung half nichts mehr,
nachdem die NASA diesem „Nestbeschmutzer“ auch noch in allen Punkten recht
gegeben hatte. Bolsonaros Politik steht jetzt weltweit am Pranger – und dies
ist angesichts der großen Exportpläne speziell des Agrobusiness keine gute Publicity.
Hatte man sich doch gerade durch das Mercosur/EU-Abkommen riesige Geschäfte mit
Fleisch und Tierfutter nach den zu erwartenden Zollsenkungen versprochen.
Sicherlich hat besonders der französische Präsident sein Herz für den Amazonas
speziell auch aufgrund der Bedenken seiner heimischen Agrarlobby entdeckt. Klar
ist jedoch, dass jetzt auch die brasilianische Agroindustrie „Maßnahmen“
fordert und erkennt, dass Bolsonaro ihrem Geschäft gerade schadet. In vielen
Punkten muss jetzt zurückgerudert werden. Der Einsatz der brasilianischen Armee
zur Brandbekämpfung muss jedoch auch als Element des inneren Klassenkampfes
verstanden werden.

Die Armee wirkt dort nicht nur als erweiterte Feuerwehr,
sondern als Unterstützung im Kampf gegen die dortigen „TerroristInnen“
(UmweltschützerInnen, Indigene, Landlose,…). Ebenso werden die „Hilfsaktionen“
aus Europa und den USA, besonders die zur „Wiederaufforstung“, sicher wieder
als „Entschädigung“ zum Verzicht auf weitere Brandrodungen eingesetzt werden.
Aus Deutschland und Co. sind diese PR-Aktionen vor allem als Instrumente zu
verstehen, das Mercosur-Abkommen in jedem Fall zu retten.

Trotz der großen Bekenntnisse zum Klimaschutz und der
Ermahnungen an den „bösen“ Bolsonaro wollen deutsche Industrie und Politik ihr
großes Brasiliengeschäft („ein unheimlich interessanter Zukunftsmarkt“ nach
einem Anlagefondsmanager, der der deutschen Bank nahesteht) nicht durch „so
etwas Nebensächliches“ in Frage stellen lassen. Hatten doch wichtige
VertreterInnen der deutschen Konzerne (von Daimler, VW, Bayer bis zur Deutschen
Bank) ihre unverhohlene Unterstützung für Bolsonaro schon vor dessen Wahl zum
Ausdruck gebracht. Auch gegenseitige Besuche von WirtschaftsvertreterInnen nach
der Wahl zeigen deutlich, dass man gegenseitig große Geschäfte und
Investitionen erwartet. Dazu passt dann auch, dass der SPD-Außenminister bei
seinem Besuch in Brasilien vor allem von Bolsonaros Bereitschaft zur
Zusammenarbeit gegenüber Venezuela sprach – aber kaum die semi-faschistische
Politik dieses Gangsters noch die sich abzeichnende Amazonas-Katastrophe
erwähnte. Da wurde selbst der CSU-Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung Müller deutlicher, als er den ökologisch bedenklichen Anstieg
von billigem Soja-Futtermehl aus den Amazonas-Brandregionen anprangerte.

Ablenkungsmanöver

Natürlich werden jetzt wieder vor allem „die
VerbraucherInnen“ in die Verantwortung genommen, die durch ihren Fleischkonsum
und Kauf billiger Agrarimporte die VerursacherInnen des Ganzen seien. Abgesehen
wird davon, dass die Preise auf den internationalen Agrarmärkten nur zum Teil
von den ErzeugerInnen bestimmt werden, sondern durch eine Kette von
MitprofiteurInnen von Lebensmittelkonzernen, Handelsketten bis zu
Warenterminbörsen. Verkannt wird auch die globale Dimension der beteiligten Märkte:
der Handelskrieg zwischen den USA und China führt gerade jetzt zu einem enormen
Anstieg der Nachfrage nach Soja und Fleisch aus Brasilien für China.
„Verhaltensänderungen“ einiger tausend MarktteilnehmerInnen aus europäischen
Mittelklassefamilien werden angesichts dieser Struktur der globalen Agrar- und
Rohstoffmärkte nichts bewirken – schon gar nicht angesichts der Schnelligkeit,
mit der auf die dramatische Situation des Regenwaldes reagiert werden muss. Es
ist eine billige Masche der eigentlichen VerursacherInnen, die Verantwortung
auf „die VerbraucherInnen“ abzuschieben, die dann auch noch durch das
Green-Washing von Produkten mittels fragwürdiger Ökolabels zur Kasse gebeten
werden.

Tatsächlich ist die Klimakatastrophe wie auch die Gefährdung
grundlegender Biotope ein klarer Fall von Marktversagen, von der Unmöglichkeit
in diesem System, solche Probleme über „den Markt“ (etwa durch
Zertifikatehandel, indirekte Steuern oder Produktbewertungen) zu lösen. Denn
der Markt ist nur die Vermittlung der eigentlich problematischen
Kapitalverwertungsinteressen, die – wie auch das brasilianische Beispiel zeigt
– die drohende ökologische Katastrophe wesentlich mit hervorbringen. Daher kann
dieser Katastrophe nur entgegengewirkt werden, wenn man radikal die Eigentumsfrage
stellt. Die genannten Probleme erfordern einen globalen Plan von
Wiederaufforstung bis zur systematischen Umstellung auf klimaneutrale
Produktion auch im Agrarsektor.

Perspektive

Natürlich ist auch die Durchsetzung eines solchen globalen
Planes angesichts des Zeithorizonts der Probleme und der erwiesenen Langsamkeit
globaler Klimapolitik keine Soforthilfe. Daher müssen heute die weltweiten
Umweltbewegungen im Zusammenkämpfen mit den sozialen Bewegungen vor Ort die
jeweiligen Staaten zu radikalen Maßnahmen zwingen. Im Fall von Brasilien heißt
dies: Enteignung der Agro- und Bergbaukonzerne, Agrarreform zur Umverteilung
des Großgrundbesitzes an die Bevölkerung auf dem Land und Entwicklung eines
Planes zur Wiederaufforstung des Regenwaldes sowie zu seiner ökologischen
Bewirtschaftung – alles unter Kontrolle der sozialen und ökologischen
Bewegungen, vor allem der LandarbeiterInnen und KleinbäuerInnen. Nein zu den
aus Massensteuern finanzierten „Geldfonds“ von G7, EU & Co., die nur wieder
in die Kassen der GroßgrundbesitzerInnen fließen werden. Stattdessen sollen die
imperialistischen Konzerne Steuern aus ihren Gewinnen für die Regenwaldprojekte
unter Kontrolle der armen Landbevölkerung zahlen! Nein zu jeder Unterstützung
von Bundesregierung und deutschen Konzernen für das Bolsonaro-Regime – es wird
keine Rettung des Regenwaldes ohne den Sturz dieses rechts und marktliberalen
Regimes geben! Daher: vor allem Unterstützung für die Bewegung zum Sturz von
Bolsonaro, die im Kampf gegen dessen sozialen und gesellschaftlichen Amoklauf
schon mehrere Generalstreiks durchgeführt hat! Sofortiger Abbruch der
Ratifizierung des Mercosur/EU-Abkommens, das den Interessen der deutschen
Konzerne in Brasilien wie auch dem der brasilianischen Agrarkonzerne in die
Hände spielt – und nie ein Mittel zur Bewahrung des Amazonasgebietes sein kann (wie
uns das die Bundesregierung verkaufen will)!

Alle diese Forderungen müssen von einer ernsthaften Bewegung
gegen den Klimawandel, wie es FFF beansprucht zu sein, aufgegriffen werden und
anstelle der verfehlten Strategie von Verbraucher-Kritik gestellt werden!
Machen wir Amazonastag am 5. September und Klimastreik am 20.
September zum Beginn einer globalen Bewegung zur Enteignung des Kapitals, das
als Ganzes diesen Planeten zerstört!




Verlängerung der EU-Zulassung für Glyphosat – Der Alleingang des Bundeslandwirtschaftsministers

Jürgen Roth, Infomail 980, 8. Januar 2018

Die aktuelle EU-Zulassung wurde 2002 erteilt und sollte ursprünglich zum 31. Dezember 2015 auslaufen. Am 20. Oktober wurde sie durch die EU-Kommission bis 30. Juni 2016 verlängert, da sich die Neubewertung aus Gründen verzögerte, auf die die Hersteller keinen Einfluss hätten. Diese Frist wurde um weitere 18 Monate bis Ende 2017 ausgedehnt, da keine qualifizierte Mehrheit unter den EU-Mitgliedsländern für oder gegen eine Neuzulassung zustande kam. Am 27. November 2017 hat eine qualifizierte Mehrheit aus 18 Ländern, darunter auch Deutschland, einer Verlängerung um weitere 5 Jahre zugestimmt.

Gemäß der Geschäftsordnung der Bundesregierung hätte sich die BRD enthalten müssen, denn Umwelt- und Landwirtschaftsministerium der geschäftsführenden Bundesregierung waren sich uneins. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) hatte eine Zulassung abgelehnt, doch CSU-Landwirtschaftsminister Christian Schmidt setzte sich ohne Rücksprache mit der Bundeskanzlerin über die Geschäftsordnung hinweg.

Die EU-Kommission muss bis zum 8. Januar 2018 auf die Unterschriftensammlung (1,1 Millionen gültige Unterzeichnungen) einer von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Greenpeace und Campact unterstützten Europäischen Bürgerinitiative (EBI) antworten, die den Mitgliedsstaaten den Vorschlag einer Überarbeitung der Genehmigungsverfahren für Pflanzenschutzmittel sowie eines Glyphosatverbots unterbreitete.

Der Alleingang Minister Schmidts bildet nur die Spitze des Eisbergs. Der Skandal innerhalb der geschäftsführenden Koalition wird durch den im alltäglichen Umgang mit Unkrautvernichtungsmitteln (Herbiziden) wie Glyphosat bei Weitem in den Schatten gestellt, die verharmlosend als Pflanzenschutzmittel bezeichnet werden.

Eigenschaften von Glyphosat

Glyphosat [N-(Phosphonomethyl)glycin] ist eine chemische Verbindung aus der Gruppe der Phosphonate und aufgrund der Bindung des Phosphoratoms an Kohlenstoff erheblich stabiler als die Ester der dreiwertigen phosphorigen Säure. Es ist die biologisch wirksame Hauptkomponente einiger Breitband- bzw. Totalherbizide und wurde seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre von Monsanto unter dem Handelsnamen Roundup auf den Markt gebracht. Weltweit ist Glyphosat seit Jahren der mengenmäßig bedeutendste Inhaltsstoff von Herbiziden und wird mittlerweile von mehr als 40 Herstellern vertrieben. Im Vergleich zu anderen Herbiziden weist Glyphosat meist eine geringere Mobilität, kürzere Lebensdauer (bessere Abbaubarkeit im Boden) und eine niedrigere Toxizität gegenüber Tieren auf. Da der reine Wirkstoff aufgrund seiner Polarität an der Außenhaut (Cuticula) der aufnehmenden Pflanze abperlt, wird er als wasserlösliches Salz in Verbindung mit Netzmitteln (Tensiden, Surfactants) zu sog. Formulierungen verarbeitet, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Bei der Prüfung auf Toxizität ist das zu berücksichtigen, da sie durch die Begleitstoffe zunehmen kann. Das Kaliumsalz kann eine Hypokaliämie auslösen, die hohe Giftigkeit des Netzmittels Talgfettaminoxethylat (POEA) für Amphibien (Lurche) ist bekannt und verdarb schon so manchem potenziellen Froschkönig das Quaken.

Die Internationale Agentur für Krebsforschung bewertet den Wirkstoff und seine Formulierungen als „wahrscheinlich krebserregend“ für den Menschen. Dieser Bewertung widersprechen andere Behörden wie die EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit/European Food Safety Authority), die sich dabei auf das Urteil des BfR (Bundesamt für Risikobewertung) stützt.

Das erstmals 1950 vom Schweizer Chemiker Henri Martin von der Firma Cilag synthetisierte Glyphosat sollte ursprünglich als eine von etwa 100 Varianten der Aminomethylphosphonsäure zu Wasserenthärtungszwecken getestet werden. Nach Entdeckung seiner herbiziden „Neben“wirkung in geeigneter Formulierung meldete es Monsanto 1974 zum Patent an.

Sein Wirkmechanismus beruht auf der Blockade des Enzyms 5-Enolpyruvylshikimat-3-phosphat-Synthase (EPSPS), das von Pflanzen und den meisten Mikroorganismen zur Synthese der aromatischen Aminosäuren benötigt wird. Glyphosat verdängt das eigentliche Enzymsubstrat Phosphoenolpyruvat (PEP), verhindert somit die Synthese und bewirkt das Absterben des Organismus.

Einsatz in der Landwirtschaft

Die geringe Verdampfung des Unkrautvertilgers und seine nahezu ausbleibende Auswaschung ins Grundwasser liegen an der hohen Adsorption an Bodenmineralien aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem Phosphation. Im Boden wird es verhältnismäßig rasch abgebaut. Dies erklärt seine Beliebtheit bei LandwirtInnen im Vergleich zu anderen Unkrautvernichtungsmitteln.

Glyphosat wird über alle grünen Pflanzenteile aufgenommen, auch von den Nutzsorten. Um diese zu schonen, wird es im konventionellen Pflanzenbau vor der Aussaat der Feldfrüchte auf den Acker gebracht, wo schon viele Unkräuter zu sprießen begonnen haben. Üblich ist auch ein Auftragen unmittelbar nach der Saat, wodurch schnell und oberflächlich keimendes Unkraut getroffen werden soll, während die tiefer eingesäten Kulturpflanzen verschont bleiben. In Deutschland wird Glyphosat zu 3 verschiedenen Zeitpunkten verwendet: um die Aussaat (s. o.) herum, zwischen Ernte der Winter- und Ausbringung der Sommerfrucht und – stark eingeschränkt – vor der Ernte (Sikkation). Letzteres ist z. B. in der Schweiz verboten.

Außerhalb der konventionellen Landwirtschaft, also beim (zusätzlichen) Einsatz glyphosatresistenter gentechnisch veränderter Nutzpflanzen (Baumwolle, Mais, Raps, Soja), wird der Einsatz des Totalherbizids zu weiteren Zeitpunkten möglich. Der Aufwand zur mechanischen Bodenbearbeitung verringert sich dabei, der Einsatz von Roundup & Co. erhöht sich umgekehrt drastisch.

Vorzeigeherbizid als Zauberlehrling

Die Entwicklung herbizidresistenten Unkrauts lässt sich bereits dokumentieren (z. B. Amaranthus palmeri), der Befall mit dem parasitären Spaltpilz Fusarium erhöht sich v. a. bei Getreide und Mais, die Bildung der Knöllchenbakterien wird behindert. Pflanzen, die auf symbiontische Mykorrhizapilze zum Gedeihen angewiesen sind wie Rosengewächse nehmen weniger Nährstoffe auf.

Diese zunehmenden Probleme durch resistente Unkräuter werden durch vermehrten Einsatz von Glyphosat und anderer Herbizide „bekämpft“. Die Glyphosatlobby schätzt dagegen trotzdem das Umweltprofil des Anbaus resistenter genetisch modifizierten Saatgutes positiver als den nicht resistenter Kulturpflanzen ein. Es soll nicht bestritten werden, dass Glyphosat im Durchschnitt umweltfreundlicher sein mag als das von ihm verdrängte andere Unkraut-Ex. Es bindet schneller an den Boden, was das Auswaschungsrisiko ins Grundwasser mindert, und wird dort durch Bodenbakterien biologisch abgebaut. Seine Giftigkeit für Säugetiere, Vögel und Fische ist geringer. Es ist im Unterschied zur „Konkurrenz“ nur kurze Zeit im Boden nachweisbar.

Die Verhältnisse im Ackerbau ähneln denen in der Medizin. Nicht Herbizide und Antibiotika sind an sich das Problem, sondern ihre unsachgemäße Anwendung ist es, die zu Resistenzen führt und damit vorhandene Waffen entschärft, Gefahren erzeugt, die immer schwerer zu bekämpfen sind. Ein wissenschaftlicher Umgang mit diesen Mitteln würde gerade nicht zuerst Breitbandwirkstoffe einsetzen, sondern solche, die gegen Unkräuter und Bakterien gezielt vorgehen. Das setzt ihre genaue Identifizierung voraus. Vor dem Antibiotikaeinsatz in der Medizin und vor diesen Diagnosen muss aber die Vorbeugung stehen (Hygiene, Desinfektion), damit erst gar keine Infektionskrankheiten ausbrechen. Selbst das deutsche Umweltbundesamt weist auf die Verbindung der Ausbringung von Glyphosat mit einer Einschränkung der biologischen Vielfalt hin. Eine effektive pfluglose Unkrautbekämpfung ließe sich auch durch vielfältige Fruchtfolgen, Zwischenfruchtanbau und Eggen realisieren. Der Einsatz des „Zauberherbizids“ ließe sich drastisch reduzieren und auf wenige „schwere Fälle“ beschränken.

Unzureichende Antworten

Der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz e. V. (BUND) Hubert Weiger fordert eine umfassende Neuordnung des Zulassungsverfahrens für Pestizide, die im Laufe diesen Jahres im Rahmen der Überarbeitung der EU-Pflanzenschutzverordnung ansteht. Er bemängelt, dass EFSA und BfR in ihren Expertisen Monsanto-Studien teilweise wortgleich übernommen haben, während kritische Gutachten als unzuverlässig eingestuft wurden. Die Zulassungsprüfung solle von „unabhängigen“ Instituten durchgeführt werden, die ihre „Konzernferne“ nachprüfbar dokumentieren müssten. Zudem müssten alle zur Bewertung herangezogenen Studien öffentlich gemacht werden. So sei die verheerende Wirkung von Glyphosat auf Artenvielfalt und Ökosysteme erwiesen, seine krebsauslösende Nebenwirkung zumindest nicht widerlegt. Sein Einsatz müsse eingeschränkt werden: privater und Gebrauch auf kommunalen Grundstücken könnten ebenso unterbleiben wie die Sikkation, erweiterte Pufferzonen für geschützte Flächen gelte es festzulegen, unter Berufung auf nationale Schutzklauseln sei ein Ausstieg nach 3 Jahren gemäß dem Beispiel Frankreichs möglich, schließlich solle ein Lebensmitteletikett für glyphosatfrei angebaute Erzeugnisse erwogen werden.

DIE LINKE forderte im Bundestag einen Gesetzentwurf zum bundesweiten Verbot, Grüne und SPD favorisierten einen Ausstiegsplan im Schulterschluss mit Frankreich. Einig waren sich die 3 Fraktionen in der Forderung nach dem Verbot von Insektenvertilgern aus der Wirkstoffgruppe der Neonikotinoide, die als maßgeblicher Faktor für das dramatische Bienensterben in Europa verdächtigt wird.

Gegen ökologische Reformflickschusterei!

Gegen diese Vorschläge ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen die Ausblendung des monopolkapitalistisch geprägten gesellschaftlichen Hintergrundes! Diese (klein)bürgerlichen Reformvorstellungen stellen zwar die Abhängigkeit des Staats von den Konzernen fest, meinen aber, per Bundestagsdekret PuppenspielerInnen und Marionetten austauschen zu können – ohne Eingriff in die Eigentumsverhältnisse.

„Unabhängige“ Studien? Die Monopole verfügen über die Wissenschaft, nicht der Staat und schon gar nicht unabhängige Privatinstitute. Folglich führen auch nur sie die erdrückende Zahl an Gutachten durch, weil in ihnen das gesamte Know-how konzentriert ist. Der Rest zehrt bestenfalls von den Erkenntnisbrosamen, die vom Tisch der Multis herunterfallen.

Selbst ein Verbot von Glyphosat würde doch die Entwicklung von Alternativen gänzlich in Konzernhand belassen, die unter dem Primat des Profits vorangetrieben werden und nicht der Nützlichkeit und Unbedenklichkeit. Monsanto zeigt gerade schlagend, dass das durchaus vorhandene Potenzial der Gentechnik sich in einen Fluch verwandelt. Statt Krankheiten zu bekämpfen, gegen Wachstumsbeeinträchtigungen immunes Saatgut zu züchten, steigert sie nur den Einsatz vom eigenen Hausherbizid, vermindert nicht die Abhängigkeit von chemischen Keulen, sondern steigert sie.

Die erste Forderung wäre also die entschädigungslose Verstaatlichung der Agrarmultis und Gentechnikkonzerne, die Offenlegung ihrer Patente und Studienergebnisse.

Darüber hinaus braucht es zweitens eine Agrarrevolution hin zu sowohl ökologisch nachhaltiger wie wissenschaftlich gestützter Boden-, Wald- und Gewässerbearbeitung. Diese ist drittens ohne staatlichen bzw. genossenschaftlichen Besitz an Grund und Boden unmöglich. Erst auf dieser Grundlage können Bodengüte- und –eignung als Kataster erfasst, eine planmäßige, kollektive Bearbeitung der Felder in Angriff genommen werden, weil nur so der Aspekt vielfältiger Fruchtfolge mit dem gesamtwirtschaftlicher Rentabilität in Einklang gebracht werden kann. Die sozialistische Menschheit wird’s danken – der Froschkönig auch.




Landwirtschaft: Ernährung am Abgrund

Janosch Janglo, Neue Internationale 178, April 2013

artikel_landwirtschaft_abgrundGegenwärtig ärgert den Verbraucher ein Lebensmittelskandal nach dem anderen. Ab und zu muss er dabei auch einen in der Lasagne versteckten Gaul essen. Die Lust am Essen kann einem bei Rindfleisch, das nach Pferd schmeckt, Bio-Eiern, die keine sind, oder Kühen, die verschimmeltes Futter fressen müssen, vergehen – um nur die letzten Skandale zu nennen.

Diese Skandale und der gleichzeitig steigende weltweite Hunger zeigen, was der Kapitalismus aus einem grundlegenden Bedürfnis der Menschheit gemacht hat: eine krankmachende Mogelpackung einerseits und ein unerschwingliches Mangelprodukt andererseits. Es zeigt auch in aller Deutlichkeit, dass der Kapitalismus zwar die technischen Voraussetzungen für die Ernährung der Weltbevölkerung geschaffen hat, aber absolut nicht in der Lage ist, unter den Bedingungen des Marktes diese auch vollständig und gesund zu ernähren.

Krankmachend

In diesen Agrarfabriken, die Nutztiere unter Bedingungen der industriellen Aufzucht zu reinen Fress- und Wachstumsmaschinen machen, werden seit Jahrzehnten Antibiotika als Wachstumsbeschleuniger regelrecht verfüttert.Täglich sterben nach Schätzungen der Welthungerhilfe über 57.000 Menschen an Unterernährung. Insgesamt leiden 870 Millionen an Hunger, obwohl die weltweite Agrarwirtschaft nach dem heutigen Stand der Produktivkräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte. In den fortschrittlichen kapitalistischen Ländern wandern weltweit rund 1,3 Milliarden Tonnen völlig genießbare Lebensmittel in den Müll, etwa weil das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, Lagerkapazitäten erschöpft sind oder Obst und Gemüse nicht den optischen Normen entspricht. Insgesamt ist das etwa ein Drittel der globalen Jahresproduktion. Farmer in den USA pflügen rund 20 Prozent der Melonenernte unter, weil die Früchte „Makel“ an der Oberfläche oder in der Form haben.

Dieser Überfluss ist Folge einer massiven Industrialisierung der Landwirtschaft v.a. nach dem 2. Weltkrieg verbunden mit einer Konzentration und Massenproduktion bei den Agrarproduzenten. Diese Entwicklung wurde nicht durch massives Sterben bäuerlicher Familienbetriebe teuer erkauft, sondern auch durch eine Lebensmittelproduktion, die inzwischen kaum noch ihrem Namen gerecht wird.

Der gnadenlose Konkurrenzdruck in den landwirtschaftlich hochindustrialisierten Ländern hat zu einer beispiellosen Massenproduktion geführt, deren Perversion bei der Tierhaltung am deutlichsten wird. Mittlerweile sind Mastbetriebe mit mehreren Tausend Tieren keine Seltenheit mehr. In diesen Agrarfabriken, die Nutztiere unter Bedingungen der industriellen Aufzucht zu reinen Fress- und Wachstumsmaschinen machen, werden seit Jahrzehnten Antibiotika als Wachstumsbeschleuniger regelrecht verfüttert. 2011 wurden in Deutschland rund 1.734 Tonnen Antibiotika in der Tiermast eingesetzt. Tiere, die zu Tausenden im Stall hocken, werden häufig krank – wenn sie krank sind, legen sie kein Gewicht zu. Auch als reine Mastbeschleuniger werden Antibiotika eingesetzt, damit die Tiere schneller das Schlachtgewicht erreichen.

Seit 2006 ist das in der EU eigentlich verboten, aber wie immer sucht sich das Kapital Hintertürchen, um das zu hintergehen. Laut Verordnung dürfen seither nur nach Krankheitsbefund Antibiotika eingesetzt werden, doch ein daran mitverdienender Tierarzt kann bei einem Hähnchenmastbestand von z.B. 40.000 Tieren einen solchen Befund zu jeder Zeit diagnostizieren, da unter solchen Bedingungen laufend Infektionen entstehen. Dann wird der gesamte Bestand behandelt. Folge ist eine immer stärker auftretende Resistenzbildung bei Bakterienstämmen, an denen inzwischen nach Angaben der WHO jedes Jahr in Europa ca. 25.000 Menschen an einer Infektion mit multiresistenten Bakterien sterben. Dabei sind die Gewinne der Mastbetreiber trotz immer kürzerer Aufzuchtzeiten und immer größeren Ställen sehr gering. Hähnchenmastbetreiber kassieren maximal 5 Cent pro Tier. Bei 40.000 Hähnchen sind das 2.000 Euro Gewinn bei einer Aufzuchtzeit von 5 Wochen.

Zugleich führt die massive Konkurrenz und Überproduktion in diesem Sektor dazu, dass der Unternehmer sein Heil nur in noch größeren Betrieben, noch intensiver betriebener Fleischproduktion mit all ihren oben beschriebenen Auswirkungen suchen muss.

Agrarfabrik contra Subsistenzwirtschaft

Über die Verschuldung erpressen Weltbank oder die Europäische Entwicklungsbank die ärmsten Länder, dass sie ihr Ackerland Hedgefonds und Investoren übereignen.“Damit der Markt nicht noch stärker durch Überproduktion unter Druck gerät, greift die EU mit Hilfe von Exportsubventionen den Betreibern von Mastanlagen unter die Arme, die somit in der Lage sind, billiges Fleisch auch in Länder der „Dritten Welt“ zu verkaufen. So schützen die Länder der Nordhalbkugel mit Subventionen die Konkurrenzfähigkeit heimischer Produzenten gegenüber den Landwirten der halbkolonialen Länder.

Deren Produktion ist extrem ungleich in ihrer eigenen Entwicklung. Einerseits finden wir für den internationale Markt produzierende Großbetriebe, welche die KleinproduzentInnen mit allen Mitteln verdrängen. Andererseits ist der Entwicklungsstand oft über eine vorkapitalistische Bewirtschaftungsweise nicht hinausgekommen. Schließlich finden wir unzählige Mischformen, wo Großgrundbesitz und Produktion für den kapitalistischen Markt einhergeht mit sklavenähnlichen oder halb-feudalen Formen der Ausbeutung von Bauern und LandarbeiterInnen.

44 Prozent des Gesamthaushalts der EU – rund 126,5 Milliarden Euro – wandern aus den Taschen der Steuerzahler zu den Landwirten. Angesichts des gerade einmal 0,8 Prozent-Anteils am BIP in Deutschland bei einem Anteil von 2,2% der Erwerbstätigen, sieht man deutlich, wie stark die Lobby der Landwirte in Deutschland und der EU ist, die solche Umverteilung auf Kosten der  Lohnabhängigen möglich machen.

So hochsubventioniert kann man billig landwirtschaftliche Erzeugnisse je nach Saison um die Hälfte oder ein Drittel billiger als gleichwertige einheimische Erzeugnisse auf den Märkten der „Dritten Welt“ anbieten. Den einheimischen Kleinbauern bleibt so nicht die geringste Chance, auch nur das Existenzminimum für ihre Familien oder gar für Investitionen in die Modernisierung ihrer Produktion zu erwirtschaften.

Nicht nur, dass die Subsistenzbauern, die ihre Äcker zum Teil noch mit dem Hakenpflug beackern, keine Chance gegen die hoch mechanisierte profitorientierte Landwirtschaft der reichen Industriestaaten auf demselben kapitalistischen Markt haben, ihnen werden auch beständig die landwirtschaftlichen Flächen weggekauft. Längst sind Agrarflächen der halbkolonialen Länder seit Krisenbeginn als Anlageobjekte gefragt. Über die Verschuldung erpressen Weltbank oder die Europäische Entwicklungsbank die ärmsten Länder, dass sie ihr Ackerland Hedgefonds und Investoren übereignen.

Alleine in Afrika sind im vergangenen Jahr 41 Millionen Hektar überschrieben worden. Diese Investoren verfügen über genug Kapital, um auf dem erworbenen Land Produkte für den Export nach Europa oder Nordamerika anzubauen. Ein Großteil davon wird für Tierfutter und Bio-Treibstoffe produziert. So wandern mittlerweile nur 47 Prozent der weltweiten Erzeugung an Getreide in die Nahrungsmittelproduktion. Schon vor dem Ausbruch der Krise 2008 stiegen Hedgefonds und Großbanken an den Rohstoffbörsen ein, v.a. bei Agrarprodukten. Das blieb nicht ohne Folgen für die Nahrungsmittelpreise. Allein in den vergangenen zwölf Monaten ist der Preis für Mais auf dem Weltmarkt um 63 Prozent gestiegen, der Preis für philippinischen Reis hat sich gar verzehnfacht.

Der Bock als Gärtner

Die kapitalistische Landwirtschaft hat die Natur zum bloßen Mittel für Ausbeutung und Gewinnmaximierung degradiert und damit einen permanenten Feldzug gegen das materielle Fundament der Reproduktion der Gesellschaft gestartet. Die Aneignung der Natur zugunsten der Profite Weniger kann auch nicht dadurch verhindert werden, wenn, wie einige Linke oder Alternative, der Abbau der Handelsschranken und Subventionen zugunsten vermehrter Nahrungsmittelimporte aus der „Dritten Welt“ oder die Ökologisierung der Landwirtschaft unter kapitalistischen Bedingungen gefordert wird.

Diese Forderungen stellen nicht den Kapitalismus als System infrage, sondern implizieren, dass afrikanische und asiatische Landwirte sowie Ökobauern die besseren Kapitalisten wären. „Wachse oder weiche“ – das ist der Leitspruch auch der Landwirtschaft im Kapitalismus. D.h. auch ein Öko-Bauer oder Kleinlandwirt steht unter diesem Existenzdruck. Aufgrund ihrer größeren Kapitalmasse können die kapitalistischen Agrar-Konzerne jedoch fast immer rationeller produzieren und kleinere Produzenten verdrängen.

Die Vernichtung von Millionen Tonnen an Lebensmitteln zeigt, dass der Kapitalismus gar nicht die Produktion von noch mehr Lebensmitteln braucht. Ein Mangel besteht eher an Kaufkraft, der Hunderte von Millionen Menschen trotz voller Lebensmittelregale verhungern lässt.

Alternative

Ein erster Schritt zur Befreiung der Kleinbauern wäre die konsequente entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer, der Hedgefonds und Agrarkonzerne. Das bedeutet, je nach sozialer Struktur, die Übergabe des Landes an die Bauern und Ermutigung zur Bildung von genossenschaftlichen Formen oder, wo die am Land Arbeitenden LohnarbeiterInnen sind, Enteignung und Fortführung der Produktion unter Kontrolle der ArbeiterInnen.

Zugleich muss sich die Arbeiterklasse daran machen, die Versorgung mit Lebensmitteln weltweit zu planen. Um die Produktivität in der Landwirtschaft zu steigern und gleichzeitig ökologische Schäden weitestgehend zu vermeiden, müssen auch die Agrar- und Chemiekonzerne enteignet werden. Dazu muss außerdem die Forschung im Bereich Düngemittel- und Gentechnologie unter Arbeiterkontrolle gestellt werden. Ihre Ergebnisse dürfen nicht ohne ausgiebige Überprüfungen angewendet werden.

Ein weiterer nötiger Schritt ist die Abschaffung von IWF und Weltbank, die Instrumente der imperialistischen Staaten zur Unterdrückung und Ausbeutung der Länder der halbkolonialen Länder sind.

Ein solches Programm kann letztlich nur von Arbeiter- und Bauernregierungen durchgesetzt werden, die sich auf Räteorgane und die Bewaffnung der Massen stützen. Solche Regierungen müssen neben den obigen Forderungen auch die Streichung der Schulden und ein Außenhandelsmonopol durchsetzen sowie einen demokratischen Plan zur Steigerung bzw. Umstrukturierung der Agrarproduktion und der Verbesserung der Infrastruktur.

Bild: http://www.flickr.com/photos/cosmok/ (CC BY-ND 2.0)