Rechtsruck, Krise und die Lage der Frauen

Kai Zumar, REVOLUTION, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 12, März 2024

Für Linke, Frauen, queere Menschen, rassistisch Unterdrückte und andere gesellschaftlich Unterdrückte und Menschen, die in Armut leben, fängt 2024 als gut geölte Rutschbahn in die Hölle an. Der Klimawandel droht nach wie vor, unseren Planeten buchstäblich höllisch heiß zu machen. Mit der Wirtschaft geht es bergab, Rechte sind auf dem Vormarsch, und alles scheint in deprimierender Perspektivlosigkeit zu versinken. Hinzu kommen Kriege und Auseinandersetzungen weltweit. Es wird weiterhin von einem sinkenden Produktionsniveau, Stagnation und Rezession, steigender Arbeitslosigkeit und hoher Inflation in Deutschland ausgegangen. Weltweit sieht es nicht besser aus, wie auch der ökonomische Kollaps von Halbkolonien wie Sri Lanka oder Pakistan verdeutlicht.

Wirtschaftskrise

„Schlechter war die Stimmung in diesem Punkt zuletzt im Jahr der Finanzkrise 2009“, meinte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Ende 2023. Dass direkt die Krise 2008/2009 zur Sprache kommt, ist kein Zufall. Denn die weltweite Wirtschaftskrise, die wir immer mehr beobachten können, ist direkte Folge dieser damals nicht voll aufgelösten Krise.

Eine massive Blase auf den Hypotheken- und Hausmärkten war 2008 geplatzt, als sich  Rückzahlungsausfälle häuften. In der Folge kam es zu einer enormen globalen Profitkrise. Doch während es üblicherweise zu einer Erholung kommen kann, wenn eine Reihe an Firmen pleitegeht und es damit zu einer Vernichtung (Außerdienststellung) von ihrem fixen Kapital (z. B. Maschinen) kommt, woraufhin der Anteil an menschlicher Arbeit in der Produktion und damit die Profitraten wieder steigen, wurde diese Entwicklung 2008/9 aufgeschoben. Erreicht wurde das durch Niedrigzinspolitik, die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen und internationale Koordination. Losgetreten und befeuert durch die Coronapandemie und die Energiekrise rollt die jetzige Krise als Folge dieser Politik über uns hinweg.

Für Frauen hat schon die Pandemie nicht nur einen unfassbaren Anstieg an häuslicher Gewalt und ein Eingesperrtsein mit ihren Tätern, sondern auch überdurchschnittlich oft Entlassung und Prekarisierung bedeutet, was sie zusätzlich ökonomisch abhängiger macht, als sie es ohnehin oft sind. Hinzu kam dann noch eine heftige Mehrfachbelastung dadurch, dass Frauen einerseits besonders oft in „systemrelevanten“ Jobs und im Gesundheitssystem arbeiten, das ohnehin kaputtgespart ist und wo sie Ansteckung noch mehr ausgesetzt sind, und andererseits, dass durch geschlossene Kindergärten und Schulen sowie Homeoffice viel mehr Reproduktionsarbeit in den privaten Familienhaushalt und damit die Frau in eine reaktionäre Geschlechterrolle als Hausfrau gedrängt wurden. Die Rückbesinnung auf die bürgerliche Kleinfamilie wirkt sich auch durch steigende Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen aus. Viele von ihnen mussten lange Lockdowns mit queerfeindlichen und/oder gewalttätigen Familienmitgliedern verbringen und waren gezwungen, sich tief im Schrank zu verschanzen. statt frei und geoutet zu leben. Für viele trans Personen bedeutete die Krise des Gesundheitssystems noch längere Wartezeiten oder die Aussetzung von lebensrettenden Operationen und Behandlungen, während Schutz- und Therapieangebote weiterhin völlig unzureichend sind.

Wie in einem Spießroutenlauf ging es nach der Zeit der Lockdowns weiter mit Inflation und einer Krise, die sowohl von ihrem Wesen her als auch in ihren Auswirkungen weitaus umfassender ist als 2008. Für Frauen, die öfter in sozialen Bereichen, anderen schlecht bezahlten Jobs und besonders in einigen Halbkolonien überdurchschnittlich oft im informellen Sektor arbeiten, macht eine Inflation von bis zu 8,8% in Deutschland 2023 und weitaus höher in anderen Teilen der Welt schnell den Unterschied zwischen gerade noch durchkommen und hungern müssen aus. Besonders, wenn man dann noch alleine Kinder großziehen muss. Auch queere Menschen, die überdurchschnittlich oft arm, arbeitslos oder wohnungslos sind, werden besonders hart von der Krise getroffen.

Die Lösungsansätze von 2008 waren für Arbeiter:innen und gesellschaftlich Unterdrückte nicht viel besser. Doch sie jetzt einfach zu wiederholen, geht auch nicht. Die mitgeschleppten Probleme der letzten Krise machen das unmöglich. Die Nullzinspolitik ist erschöpft, Quantitative Easing hat zu viele Nebenwirkungen, die Kosten sind nicht komplett auf Arbeiter:innen abwälzbar und die internationale Konkurrenz, entgegenstehende Kapitalinteressen und daraus entstehende militärische Konflikte verhindern internationale Koordinierung.

Geopolitische Lage

Solche politischen, wirtschaftlichen und militärischen Konflikte können wir gerade in großem Ausmaß an vielen Stellen beobachten – seien es der Handelskrieg zwischen China und den USA, der Genozid gegen die Palästinenser:innen oder der immer noch andauernde Ukrainekrieg. Als Folge von unsicheren Produktions- und Handelsketten durch die Pandemie und die globale Rezession verlagern die imperialistischen Zentren wichtige Industrien des nationalen Kapitals immer mehr in ihre eigenen Einflusszonen zurück und betreiben so eine Politik des „Reshoring“.  Das sehen wir beispielsweise an der Wiedereinführung von Zollschranken oder den Versuchen Chinas, eigene Alternativen zu dem internationalen Zahlungssystem SWIFT zu etablieren. Dieses Reshoring äußert sich auch in vermehrter imperialistischer Blockbildung. In einer Welt, in der jede Ressource und jedes Fleckchen schon von irgendwem/r kontrolliert wird, versuchen einzelne Kapitalfraktionen verzweifelt, während der Rezession ihren Einfluss zu behalten oder auszuweiten, um sich ihren Platz in der internationalen Konkurrenz zu sichern. Zunehmend nimmt dieser Kampf um die Neuaufteilung der Welt militärische Formen an.

Doch viele dieser Kriege sind geopolitische Konflikte von Imperialist:innen, bei denen für Arbeiter:innen nie was drin ist. Von welchem Imperialismus sie unterdrückt und ausgebeutet werden, macht kaum einen Unterschied. Für sie bedeutet Krieg die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, oft Nahrungsmittelknappheit, noch mehr Ausbeutung und, sich für fremde Interessen erschießen zu lassen.  Doch auf Frauen und queere Menschen haben auch Krieg und Flucht oft noch extremere Auswirkungen. Darum gilt es, besonders Kämpfe gegen nationale Unterdrückung wie in Kurdistan oder Palästina zu antiimperialistischen, revolutionären Befreiungskämpfen auszuweiten, in denen Frauen eine führende Rolle für ihre eigene Befreiung einnehmen.

Solange Frauen nicht in einem Befreiungs- oder Bürger:innenkrieg auf der fortschrittlichen Seite eine führende und aktive Rolle spielen (z. B. Rojava) wird sich ihre bestehende sexistische Unterdrückung nicht auflösen lassen. Neben einer allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen kommt es in Kriegssituationen oft zu einem enormen Anstieg an Gewalt gegen Frauen und queere Menschen. Besonders Vergewaltigungen als massenhaft angewendete, verbrecherische Kriegstaktik, um einer ganzen Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe nachhaltig zu schaden, kommt fern von jeden Beteuerungen über Menschenrechte und Schutz der Zivilbevölkerung oft vor (z. B. Ruanda 1994, Nanking 1937, Bosnien und Herzegowina 1992 – 1995). Konsequenzen hat das für die meisten Täter nicht, obwohl die UNO (erst) 2008 in einer Resolution zu einem sofortigen Stopp von sexueller Gewalt in der Kriegsführung aufrief. In dem UNO-Bericht dazu von 2023 wurde festgehalten, dass diese Verbrechen weiter eine relevante Rolle in der Kriegsführung spielen, im Kontext sich zuspitzender Konflikte sogar zugenommen haben, sie weiterhin auch von UNO-Soldat:innen ausgeübt werden und nach wie vor die meisten Taten unbestraft bleiben. Noch extremer als während Corona trifft auch der Zusammenbruch des Gesundheitswesens im Krieg Frauen und LGBTQ+-Menschen besonders stark, nicht nur weil sie häufig in diesem Bereich arbeiten. Oft gehen die Zahlen von Geburtensterblichkeit drastisch in die Höhe. Dazu kommt, dass eine Frühwitwenschaft durch Krieg die ohnehin bestehende Altersarmut von Frauen verstärkt. Auch werden im Krieg oft Kinderbetreuung, Bildung oder Sozialdienste ausgesetzt, wodurch Frauen mit noch mehr unbezahlter Reproduktionsarbeit zurückgelassen werden als sonst.

Doch nicht nur die zuhause Gebliebenen haben es schwer, auch auf der Flucht zeigt sich sexuelle Unterdrückung gegen Frauen und queere Menschen. Etwa die Hälfte der über 27 Mio. Menschen, die gerade auf der Flucht sind, sind Frauen. Auch hier erfahren sie häufig sexuelle Gewalt und tragen Verantwortung für Kinder und Familien. Auch queere Menschen erfahren oft Gewalt auf der Flucht. Die auch nur unzureichenden Schutzversuche der UNO für geflüchtete Frauen wie die Einrichtung von geschlechtergetrennten Sanitäranlagen bieten diesen Menschen dabei keinerlei Schutz. Und wenn sie ein sicheres Land erreichen, werden Verfolgungen aufgrund sexueller Orientierung oder des Geschlechts oft de facto nicht anerkannt.

Rechtsruck

Doch auch abgesehen von spezifischer Unterdrückung wird die Situation für Geflüchtete ja immer schlechter. Die AfD in Deutschland würde am liebsten wieder die Rassentheorie auspacken und nicht nur Geflüchtete, sondern gerne gleich alle, die kein „reines, deutsches Blut“ haben, abschieben. Schweden erlässt ein Gesetz, nach dem alle im sozialen Bereich Arbeitenden gezwungen sind, Menschen ohne Papiere, die ihre Hilfe aufsuchen, an den Staat zu melden. Die EU schafft fröhlich das Asylrecht nach und nach ab und verweigert Geflüchteten Grundrechte. Es scheint, als gäbe es keine Ecke mehr auf der Welt, aus der nicht Meldungen über neue rechte Regierungen oder rassistische Gesetzgebungen kommen. Analog zu der Wirtschaftspolitik des Reshorings und der Blockbildung greift auf ideologischer Ebene eine neue Welle des Nationalismus um sich. Wir erleben eine allgemeine Entwicklung nach rechts, die sich aus der Schwäche der Linken und der Wirtschaftskrise speist. Die Krise führt zu Abstiegsängsten beim Kleinbürger:innentum und zur Prekarisierung vieler Arbeiter:innen. Mangels irgendeiner fortschrittlichen Perspektive wenden sie sich zum Teil an Rechte, die versprechen, das Gefühl, es gäbe zu wenig, damit zu beantworten, dass halt noch weniger geteilt wird (was faktisch Rassismus und Umverteilung nach oben bedeutet). Auch das binnenmarktorientierte Kapital wendet sich den Rechten zu, die ihre Interessen viel eher vertreten als die der Kleinbürger:innen oder gar Arbeiter:innen.

Es ist also kein Zufall, dass AfD, Sverigedemokraterna (rechte Regierungspartei in Schweden) oder die Fratelli d’Italia gerade jetzt so stark sind. Und es ist auch kein Zufall, dass die Rechten in Italien Mussolinis alte Parole „Dio, patria, famiglia“ (Gott, Vaterland, Familie) wieder aufwerfen oder die AfD dafür ist, dass Kinder die ersten drei Jahre zu Hause von der Mutter betreut werden, während sie gleichgeschlechtlichen Paaren gerne Kinderkriegen und Heiraten verbieten würde.

Reproduktionsarbeit

Es ist kein Wunder, dass Krise und Rechtruck mit einer Rückbesinnung auf die bürgerliche Kleinfamilie und damit Angriffen auf die Rechte von queeren Menschen (siehe Transfeindlichkeit, besonders in den USA, Russland, Großbritannien …) und von Frauen (z. B. Kürzungen von Geldern für Frauenhäuser, Abtreibungsrecht) einhergehen. Denn die bürgerliche Kleinfamilie ist der Ort, an dem im Kapitalismus die Arbeitskraft reproduziert wird. Wer morgens brav zur Arbeit erscheinen soll, wurde irgendwann geboren, erzogen und hat Bildung erfahren, braucht einen vollen Magen, eine saubere Wohnung, in der sie/er leben und schlafen kann, gewaschene Klamotten etc. Und wer putzt die Wohnung, erzieht die Kinder, kocht Essen, geht einkaufen, wäscht Geschirr und Kleidung? Frauen wenden im Durchschnitt in Deutschland 52,4 % mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf (bei 34-Jährigen sind es sogar 110,6 %). Ganz schön praktisch für die Kapitalist:innen, die dadurch nicht für die Reproduktionsarbeit verantwortlich sind und mehr Profite machen können. Ideologien wie die Erzählung von der perfekten Hausfrau und dem umsorgenden weiblichen Wesen halten diese Arbeitsteilung (bzw. Mehrarbeit der Frauen) genauso aufrecht wie Regelungen wie z. B. die Bedarfsgemeinschaft für den Empfang von Sozialleistungen oder Ehegattensplitting. Und besonders in einer Krise gilt es für die Kapitalist:innen, Arbeitskraft so billig wie möglich, bestenfalls kostenlos zu mobilisieren. Sexistische Erzählungen kommen darum in Krisenzeiten oft mehr auf und rechtfertigen die unbezahlte Hausarbeit und das Abschieben von Frauen in prekäre Arbeitsverhältnisse. In Deutschland arbeitet momentan fast die Hälfte aller Frauen in Teilzeit (bei Männern sind es 12,7 %). In den fünf schlechtest bezahlenden Branchen arbeiten auch überdurchschnittlich viele Frauen, beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel mit über 80 %. Von ihnen wird erwartet, dass sie den Haushalt schmeißen, während sie gleichzeitig der Lohnarbeit nachgehen  müssen, um sich über Wasser zu halten. Die Familie als ökonomische Instanz wird so immer unattraktiver. Das möchten die Rechten gerne ändern. Allerdings nicht, indem sie Hausarbeit vergesellschaften und damit Frauen von dieser Doppelbelastung befreien. Außerdem sollen alle staatlichen Unterstützungen bitte nur für „klassische“ Familienmodelle (á la eine deutsche Mutter, ein deutscher Vater und deren leibliche Kinder) zur Verfügung stehen.

 Doch dieses Beharren auf sexistischen Erzählungen und der bürgerlichen Kleinfamilie, in der die Frau abhängig vom Mann ist, ist gefährlich. Zum einen sind da die Mehrbelastung, die ökonomische Abhängigkeit, die mit der Krise noch steigt, und fehlende Selbstbestimmung über den eigenen Körper sowie die sexuelle Gewalt. Aber da hört es nicht auf. Frauen werden täglich ermordet, einfach weil sie Frauen sind. Parallel zum Anwachsen sexistischer Ideologien ist auch die Zahl an Femiziden in den letzten Jahren immer noch erschreckend hoch. Mehr als 135 Frauen sind es weltweit täglich, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, zumal diese Statistik nur von Morden in der Familie oder Partner:innenschaften ausgeht. In Deutschland wird etwa jeden dritten Tag ein Mädchen oder eine Frau in einem Femizid ermordet. 2022 wurden so viele Frauen in einem Jahr ermordet wie noch nie. Österreich ist eines der wenigen Länder, in denen es regelmäßig sogar mehr ermordete Frauen als Männer gibt. Mehr als 70 % dieser Morde werden von (Ex-)Partnern begangen. Und auch in Ländern, in denen die allgemeine Mordrate sinkt, bleibt die Zahl der Femizide laut den (sehr unzureichenden) Studien relativ konstant. Neben den schon genannten Gründen, die aus Krise und Rechtsruck erwachsen, kommt hier noch dazu, dass die Krise auch die gesellschaftliche Position der Männer angreift. Viele können ihre zugeteilte Rolle als Ernährer und Familienoberhaupt nicht mehr spielen. Die ökonomische Abhängigkeit wächst und für Frauen und queere Menschen wird es sehr schwierig, den unter diesem Druck oft missbräuchlichen Familien- oder Beziehungsverhältnissen zu entfliehen.

Perspektive

So weit, so deprimierend. Doch all diese Umstände sind mehr als nur traurige Fakten. Uns als Revolutionär:innen zeigen sie Zusammenhänge auf, die wir zu ihrer Bekämpfung unbedingt verstehen müssen. Sie zeigen uns, dass wir wahrhaftig am Anfang einer „Zeitenwende“ stehen, wie Scholz es einmal ausdrückte. Und dass es an uns ist, dafür zu sorgen, dass sich die Zeit im Sinne der Arbeiter:innen, der Frauen, queeren Menschen, rassistisch Unterdrückten und all jenen wendet, die keinerlei Interesse am Fortbestehen des Kapitalismus und seiner Krisen haben. Gerade in solch umfassenden Krisen besteht im Rahmen des Möglichen unsere Pflicht und Aufgabe darin, dem voranschreitenden Rechtsruck und den drängenden Fragen und Problemen unserer Zeit eine fortschrittliche, linke Antwort auf die Krise entgegenzustellen.

Das bedeutet, Bewegungen gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen aufzubauen und sowohl Forderungen gegen die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen (z. B. Vergesellschaftung der Hausarbeit) als auch gegen Rassismus (z. B. offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle) aufzuwerfen und miteinander zu verknüpfen. Das bedeutet, dass wir demokratisch legitimierte Selbstschutzorgane aus der Arbeiter:innenbewegung brauchen, die sich gegen Sexismus und Rassismus sowie rechten Angriffen entgegenstellen können. Das bedeutet, dass Frauen und queere Menschen eine führende Rolle im Kampf um ihre eigene Befreiung einnehmen und gleichzeitig verstehen müssen, dass unsere vollständige Befreiung im Widerspruch zu den Interessen des Kapitalismus steht, alle unsere Kämpfe sich deshalb gegen diese Wurzel unserer Unterdrückung richten müssen. Und vor allem bedeutet das auch, den Imperialismus und seine Krisen als globales Phänomen zu betrachten, auf das es nur internationale Antworten geben kann. In jeder Bewegung gegen Krise, Krieg und Blockbildung müssen wir dabei für einen internationalistischen und antiimperialistischen Charakter eintreten. Jeden Konflikt, der einen fortschrittlichen Charakter trägt, etwa die Verteidigung Rojavas, die Befreiung Palästinas oder den Sturz des iranischen Regimes gilt es, in einen revolutionären Kampf gegen die „eigene“ Bourgeoisie und den Imperialismus zu verwandeln, in dem Frauen und LGBTQ+-Personen ihre Entrechtung beenden und Perspektiven für ein befreites Leben aufwerfen können. Im selben Atemzug gilt es, die Organe und Organisationen der Arbeiter:innenklasse unter Druck zu setzen und gegen die Krise zu mobilisieren: Vor allem die Gewerkschaften müssen sich gegen eine Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen stellen und fordern, dass stattdessen die Reichen zur Kasse gebeten werden. Es ist unsere Aufgabe als Revolutionär:innen, diese Forderungen und Perspektiven in die aktuellen sozialen Kämpfe zu tragen und gemeinsam für eine Welt ohne kapitalistische Krisen und Ausbeutung zu kämpfen.




Vorwort zur Sondernummer „Die Krise der Linkspartei“

Redaktion, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar  2024

Neuanfang, Startschuss, Aufbruch – mit solchen Schlagworten versucht DIE LINKE einen Neubeginn aus dem stetigen Umfragetief. Die Trennung von Sahra Wagenknecht und ihren Anhänger:innen wird zum Befreiungsschlag stilisiert, auch wenn natürlich zugestanden wird, dass sie nicht an allem schuld gewesen wären.

Mit Schlagworten wie Neuanfang, Startschuss und Aufbruch werden die Geschichte der Linkspartei, ihre Politik, Strategie, ihr Programm und ihre (Regierungs-)Praxis gleichermaßen in der Vergangenheit, in die Zeit vor dem Neuanfang entsorgt und tabuisiert. Eine wirkliche Beschäftigung mit dem „Alten“ lohnt nicht, wenn nur noch Neues angesagt erscheint – und zugleich kann das Alte umso bequemer als „Neues“ wieder verwendet werden.

Die Spaltung der größten dezidiert linken Partei im Land, das frühzeitige Ende ihrer Bundestagsfraktion und die Beleuchtung der politischen Ursachen für ihren Niedergang ist jedoch zu bedeutend, um die Selbstdarstellung ihrer Parteiführung unwidersprochen und unkommentiert vorbeiziehen zu lassen.

Immerhin hat die Partei noch immer über 50.000 Mitglieder – und damit wohl mehr als die gesamte sog. radikale Linke. Wir widmen daher diese Aufgabe der Neuen Internationale ausschließlich der Partei DIE LINKE.

Die Mehrzahl ihrer Beiträge wurde nach dem Parteitag der Linkspartei und der vollzogenen Spaltung der Bewegung Sahra Wagenknecht verfasst. Drei Artikel sind bereits früher entstanden, wurden aber wegen ihrer thematischen Schwerpunkte – „Revolutionäre Realpolitik“, „#linkemetoo“ und gewerkschaftliche Erneuerung – in diese Nummer aufgenommen.

Wir versuchen in den Beiträgen, auf die verschiedenen Aspekte der Politik der Linkspartei einzugehen, auch wenn wir keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können. Mit einem wirklichen Neufang, Startschuss oder Aufbruch haben wir es jedoch beim besten Willen nicht zu tun. Unabhängig vom Bruch mit Sahra Wagenknecht steht DIE LINKE für programmatische und politische Kontinuität, für politischen Reformismus, für bürgerliche Arbeiter:innenpolitik.

Unsere Analyse und Kritik stellen dabei keinen Selbstzweck dar. Wenn wir die Krise der Linken in Deutschland wirklich überwinden und dem Rechtsruck effektiv begegnen wollen, brauchen wir auch Klarheit darüber, worin eigentlich die Ursachen für die Krise der Linkspartei liegen und welche Alternative notwendig ist. Nur so lässt sich sicherstellen, dass der notwendige Bruch mit dem Reformismus auch  zu einem revolutionären Aufbruch führt.




Venezuela und die zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Jonathan Frühling, Infomail 1239, 17. Dezember 2023

Geschichte Venezuelas von 1998 – 2013

1998 wurde Hugo Chaves zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Dies war der Startpunkt einer Linksentwicklung auf dem südamerikanischen Kontinent. Diese Art des Linkspopulismus wurden nach Chaves als Bolivarismus bezeichnet (in Anlehnung an den antikolonialen General Símon Bolívar, der als wichtigste Person des antispanischen Befreiungskampfes im Norden des Kontinents gilt). Die politische Grundlage dieser Regierungssysteme war die Verstaatlichung einige Schlüsselindustrien. In Venezuela ist dabei vor allem Ölindustrie zu nennen. Von den so generierten Staateseinnahmen wurden vielfältige soziale Programme finanziert. Es gab zur Zeit Chaves genügend Wohnraum, günstige Bildung und gute Krankenversorgung. Außerdem wurden Arbeitsrechte verbessert und solid Renten- und Sozialsysteme eingeführt. Dadurch gewann Chaves ein großes Ansehen bei der Linken weltweit, besonders aber bei der verarmten Bevölkerung Venezuelas.

Allerdings ist dies keineswegs ein “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”, was von Chaves und ähnlichen Regierungen in Bolivien, Ecuador oder Argentinien immer behauptet wurde. Tatsächlich handelte es sich um einen Klassenkompromiss. Trotz Verstaatlichung eines Teils der Industrie blieb das Privateigentum an Produktionsmitteln überall voll intakt. Ausbeutung von Arbeitskraft und damit eine Generierung von Mehrwert blieben Grundlage der Wirtschaft. Deshalb billigte die Bourgeoisie diese Regime. Außerdem schafften die sozialen Reformen politische Stabilität, die auch für die Bourgeoisie von Vorteil war. Streiks, die über den beschränkten Reformismus hinausgingen und die Klassenzusammenarbeit gefährdeten, wurde auch in Venezuela unter Chaves brutal niedergeschlagen. Zudem entwickelte sich ein durch und durch korrupter Staatsapparat, der letztlich der Bourgeoisie und vor allem sich selbst dient.

Ab 2013: Das Scheitern des Bolivarismus

Wie wir bereits Ende der 90er Jahre vorausgesagt haben, musste der Bolivarismus scheitern, da die Interessen der Bourgeoisie und der Lohnabhängigen absolut gegensätzlich sind und deshalb nicht ewig befriedet werden können. Der Zeitpunkt war gekommen, als 2013 die Ölpreise einbrachen. Die Sozialprogramme mussten dann zurechtgestutzt werden. So verlor die Regierung einen guten Teil der unterdrückten Klassen als Unterstützer:innen. Linke Proteste wurden von der Regierung brutal unterdrückt, das Land entwickelte sich ab 2013 unter dem neue Präsidenten Maduro vollständig zu einer Diktatur. Das beides entfremdete noch mehr Menschen von der Regierung. Auch die Profite der Bourgeoisie wurden mit der Wirtschaftskrise schmaler. Sie hatte damit genug vom Klassenkompromiss und wollte von diesem Zeitpunkt an eine durch und durch bürgerliche Regierung. Auch die USA sah nun die Möglichkeit gekommen, einen Regimechange herbeizuführen. Sie verhängte schon unter Obama ab 2015 immer mehr Sanktionen, die letztlich das Ziel hatten, das Land völlig in den Ruin zu treiben und so die Regierung zu destabilisieren. Damit waren Obama und später Trump leider erfolgreich. Heute existiert quasi eine völlige Blockade gegen Venezuela und jedes Land, welches mit Venezuela handelt, wird selbst sanktioniert. (Gerade am 20.10.2023 wurden die Sanktionen gelockert, da der Präsident Maduro Wahlen für 2024 angekündigt hat). Außerdem gibt es allerhand Sabotage von Seiten der herrschenden Klasse innerhalb des Landes.

Dass sich das Regime halten kann, liegt vor allem daran, dass die Armee die Regierung unterstützt und die führenden Generäle Angst haben, ihre Machtstellung unter einer USA-treuen und neoliberalen Regierung zu verlieren. Außerdem gibt es noch Teile der unterdrückten Klassen, die dem Regime die Treue halten, weil sie wissen, dass sie vom Neoliberalismus noch weniger zu erwarten haben. Außerdem gibt es auch regierungstreue Milizen, die neben der Armee existieren, und die einen Putsch schwieriger machen würden, als z.B. in Bolivien.

Wirtschaftliche und soziale Krise in Venezuela 2023

Venezuela ist heute durch die US-Blockade und den Widerstand der Bourgeoisie innerhalb des Landes heute faktisch ein failed state. Das Land ist einer der ärmsten der Welt. Das BIP liegt kaufkraftbereinigt bei 200 Mrd. US-Dollar. Das durchschnittliche pro Kopf Einkommen mit rund $ 3400 (2022) ist das 159. niedrigste der gesamten Welt. Die Wirtschaft ist seit 2013 um ein Drittel geschrumpft. Die Inflation ist von 2013 bis 2017 von 40 % auf 428 % gewachsen. Seit 2017 die US-Sanktionen greifen, ist sie auf unvorstellbare 65.000 % gestiegen, um dann bis 2022 auf 200 % zu sinken (Prognose für 2023: 400 %)  (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/).

Das Geld ist so wertlos geworden, dass es in Kolumbien an Touris verkauft wird und daraus zum Teil Handtaschen hergestellt werden. Es gab auch immer mal wieder Währungsreformen, die vorsahen einige Nullen zu streichen. An der realen Situation hat das natürlich nichts geändert. Die Arbeitslosigkeit ist auch explodiert. 2018 erreichte sie einen Wert von über 35 % (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/). Viele Menschen haben deshalb ihre Lebensgrundlage verloren und sind hungernd auf der Straße gelandet; das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. In dem Zuge der Krise ist auch die Gangkriminalität explodiert. Venezuela ist heute das gefährlichste Land Südamerikas. Selbst für die, die überleben können oder konnten, bot und bietet das Land keine Zukunft mehr.

Zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Aufgrund dieser grausamen Lage habe bis 2023 über 7 Millionen Menschen das Land verlassen. Dies ist nach Syrien die größte Flüchtlingsbewegung, die es momentan auf der Welt gibt. Rund 6 Millionen haben in Südamerika und der Karibik Zuflucht gesucht, alleine 2,5 Millionen in Kolumbien. (Quelle: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/venezuela)

Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hat zum Teil Trinkwasser und Hilfspakete entlang der Flüchtlingsrouten zur Verfügung gestellt und geholfen die Menschen als Geflüchtete zu registrieren. Allerdings sind die Programme völlig unterfinanziert. Programme zur Ernährung, Bildung oder dem Schutz von Kindern mussten nach kurzer Zeit wieder eingestellt werden. Eigentlich bräuchte es nur 61 Millionen US-Dollar pro Jahr für die Finanzierung der Programme (ungefähr 3/4 des Geldes, was Deutschland für eine F-35 Kampfjet ausgibt oder 1/1640 des 100 Mrd. Sondervermögens der Bundeswehr). Aber 2023 waren nur 12 Prozent davon finanziert, also schlappe 7,3 Millionen (ungefähr 2 Leopard 2 Kampfpanzer) (Quelle: ebd.). Die Menschen werden als faktisch völlig im Stich gelassen.

Situation der Geflüchteten in Südamerika

Wie überall, wo Menschen zu Fuß flüchten, sind sie dabei von massiven Gefahren durch Wetter, Tiere und im besonderen Menschen bedroht. Hunger, Krankheiten und (sexuelle) Ausbeutung gehören für diese Menschen zum Alltag. Die Situation der Geflüchteten ist auch in ihren Zielländern in Südamerika katastrophal. Durch Corona sind diese Länder sowieso schon wirtschaftlich zerrüttet. Die Mittelklassen sind erodiert, Armut und Kriminalität grassieren wie nie zuvor. Formelle Arbeit zu finden ist als illegale Geflüchtete natürlich unmöglich, zumal der informelle Sektor in Ländern wie Kolumbien oder Peru 80% der Arbeitskräfte umfasst! Die Länder basieren also faktisch fast ausschließlich auf einer Schattenwirtschaft, in der es keine Arbeitsrechte gibt. Zudem gibt es sehr viel Diskriminisierung und Entrechtung, was dazu führt, dass Venezulaner:innen entweder gar nicht oder zu schlechteren Löhnen eingestellt werden. So lassen sich die einheimischen Lohnabhängigen gegen die Geflüchteten ausspielen. Viele landen völlig mittellos auf der Straße und geraten so in die Fänge der Mafia, die sie für ihre Zwecke missbraucht. Frauen bleibt oftmals keine andere Möglichkeit als sich für Hungerlöhne kontrolliert von der Mafia zu prostituieren. Männer werden dazu eingesetzt Schutzgeld einzutreiben oder Kriege gegen andere Gangs zu führen. In Kolumbien sind sie auch den sozialen Säuberungen der Gangs und reaktionären Bewohner:innen ausgesetzt, die wahllos Geflüchtete, Prostituierte und Drogenabhängige ermorden.

In Peru müssen sie als Sündenbock herhalten. Ähnlich wie in Ecuador rutscht das Land momentan in Chaos ab. Raubüberfälle, Morde und Schutzgelderpressung breiten sich rasendschnell im Land aus. Grund dafür sind die Verarmung des Landes durch Corona und durch die korrupten und neoliberalen Regierungen, die sich nur in die eigene Tasche wirtschaften und dem Kapital wortwörtlich den Weg freischießen, statt ernsthaft eine soziale und wirtschaftliche Entwicklung in dem Land anzustoßen. Durch die Regierung, das Parlament und die große bürgerlichen Medien wird jedoch das Narrativ verbreitet, dass die Schuld alleine bei den Geflüchteten aus Venezuela liegt, die per se kriminell sein. Ähnlich wie wir das aus Deutschland mit der Hetze gegen Geflüchtete kennen, werden hier alle tatsächlichen Verbrechen von Venezulaner:innen aufgebauscht und dadurch ein Zerrbild erzeugt. Das mittellose Geflüchtete zum Teil tatsächlich in die Kriminalität abgedrängt werden, ist natürlich durch die Diskriminierung und die Verweigerung der Integration zu erklären. Die Schuld muss hier also ganz klar bei der Regierung gesucht werden. Die Idee, dass die Geflüchteten das Land ins Chaos stürzen, ist allerdings zu wirksam, um von den eigenen Verbrechen abzulenken und das Land unter einer reaktionären Idee zu einen, als das die Regierung mit dieser Politik brechen würde.

Kampf dem Imperialismus und Kapitalismus!

Die Geflüchtetenkrise Venezuelas zeigt deutlich, wie der US-Imperalismus, der gescheiterte Populismus und Nationalismus bzw. Chauvinismus den Kontinent in den Ruin treiben. Als Revolutionär:innen müssen wir deshalb gegen alle diese Übel gleichzeitig vorgehen. Wir müssen für ein sofortiges Ende der Blockade Venezuelas eintreten, die die Basis dieser Krise ist. Obwohl wir die Politik von Maduro ablehnen, sollten wir die Regierung trotzdem gegen die von der USA unterstützen Putschversuche verteidigen. Der Kampf für bürgerliche Rechte, wie freie Wahlen, mehr gewerkschaftliche Rechte oder Pressefreiheit, verdient natürlich vollste Unterstützung. Allerdings brauchen wir einen Umstürz von links, der mit dem korrupten Regime Maduros Schluss macht und es durch wahren Sozialismus unter einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung ersetzt und das Land nicht an die herrschende Klasse und die USA ausliefert.

In den anderen Ländern Südamerikas müssen wir gegen die chauvinistische Spaltung der Lohnabhängigen kämpfen. Wir müssen uns gemeinsam gegen die Bosse organisieren und dürfen uns nicht gegen unsere Klassengeschwister aus Venezuela ausspielen lassen. Unsere Feind:innen sind letztlich die gleichen. Die Grundlage dieser Politik muss natürlich die gewerkschaftliche Organisierung aller Lohnabhängigen in den gleichen Organisationen sein. Die Grenzen müssen offen sein und es muss jeder Person in allen Ländern die gleichen Rechte zugestanden werden. Nur das kann uns dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und für ein Leben in Freiheit näherbringen.




Enteignet Signa!

Stefan Katzer, Infomail 1238, 9. Dezember 2023

Das Weihnachtsgeschäft wird noch einmal ordentlich Geld in die Kassen spülen, doch wie es mit den Kaufhäusern von Galeria Karstadt Kaufhof und den dort Beschäftigten danach weitergehen wird, ist derzeit ungewiss. Nachdem die derzeitige Eigentümerin, die Signa-Holding GmbH, einen Antrag auf ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung gestellt hat, müssen die Beschäftigten erneut um ihre Jobs bangen. Erst 2019 wurden dutzende Filialen geschlossen, haben hunderte Mitarbeiter:innen ihre Jobs verloren. Dabei hatten sie zuvor noch versucht, durch Lohnverzicht ihre Arbeitsplätze zu erhalten – es hat nichts genützt. Und nun also die Nachricht von der Signa-Pleite,  und die Beschäftigten von Galeria Karstadt Kaufhof müssen erneut um ihre Jobs bangen.

Das Geschäftsmodell Signa

Dass die Signa-Holding GmbH jetzt insolvent ist, ist keinesfalls die Schuld der Beschäftigten. Es hängt vielmehr mit der ökonomischen Großwetterlage zusammen, mit steigenden Zinsen und hohen Baukosten. Solange die Zinsen niedrig waren, hat sich das Bauen für die Immobilienhaie noch gelohnt. Darauf war und ist das Geschäft der Signa-Holding GmbH ausgerichtet. Sie ist im Kern kein Handelsunternehmen, sondern verdient ihr Geld vor allem durch ihr Geschäft mit Immobilien. Die Signa-Holding GmbH ist die Dachgesellschaft eines unübersichtlichen Konglomerats unterschiedlichster Unternehmen – darunter auch die Tochter Galeria Karstadt Kaufhof – und  laut Insolvenzantrag an 53 Gesellschaften direkt und an mehreren Hundert Gesellschaften indirekt beteiligt.

Dabei profitierte die Holding in den letzten Jahren vor allem von den stetig steigenden Mieten sowie dem Umstand, dass sich diese positiv auf  die Bewertung von Immobilien und damit auf die Gewinne in einer Unternehmensbilanz auswirken. Aus diesem Grund war es für die Signa-Holding attraktiv, etwa nach der Übernahme von Galeria Karstadt Kaufhof die Mieten für diese neue Tochter deutlich zu erhöhen, ja zu verdoppeln, denn damit stieg zugleich das berechnete Vermögen bzw. der Gewinn der Eigentümer:innen. Dadurch wiederum kamen sie leichter an Kredite, mit deren Hilfe sie ihr Geschäft ausweiteten und neue Immobilien bauen konnten, um noch mehr Mieten zu kassieren, die sie gerne weiter erhöhten, da dadurch ihre Gewinne weiter stiegen, was dazu führte, dass … – das Prinzip sollte nun klar sein.

Dieses Treiben ging recht lange gut aus. Einige Zeit konnte der Unternehmer René Benko, der die Signa-Holding aufgebaut und zwischen 2014 und 2018 auch die heutige Kette Galeria Karstadt Kaufhof übernommen hatte, sich davon ein luxuriöses Leben finanzieren, gerne auch auf Kosten des eigenen Unternehmens. Er ging jagen mit Politiker:innen, flog mit einem eigenen Privatjet durch die Welt und kaufte schöne Villen an schönen Seen. Er zog prestigeträchtige Aufträge an Land, wie etwa den Bau des Elbtowers in Hamburg, und ließ sich gerne mit Politiker:innen ablichten – und diese mit ihm. Geld für seine Geschäfte bekam er dabei auch von zahlreichen Landesbanken, darunter die Hessen-Thüringens, die LBBW in Baden-Württemberg und die Bayern-LB. Wie schon vor der letzten Finanzkrise hofften sie, vom großen Reibach der Immobilienkonzerne selbst profitieren zu können. Es ging mal wieder nach hinten los.

Nach der Pleite von Signa steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Landesbanken einen Teil der von ihnen vergebenen Kredite abschreiben müssen, ihr Geld bzw. das der Steuerzahler:innen somit nicht wiedersehen werden. Denn das Geschäft von Benko und der Signa-Holding lief nur gut, solange die Zinsen niedrig waren. Das hat sich durch Corona, den Ukrainekrieg und die steigende Inflation nun aber geändert. Die Zinsen stiegen rasant an, die Baukosten schossen in die Höhe und auf dem  Immobilienmarkt ging es plötzlich nicht mehr nur aufwärts, sondern sogar etwas bergab. Das alles führte dazu, dass die Signa-Holding einen Teil ihrer Kredite nicht mehr zurückzahlen konnte. Deshalb nun der Insolvenzantrag in Eigenverwaltung. Die Signa-Holding soll neu strukturiert werden, damit sie ihren Geldgeber:innen möglichst bald wieder Gewinne einbringt.

Enteignet Signa! Entschädigungslos und unter Kontrolle der Beschäftigten!

Die Gewerkschaften und die Beschäftigten von Galeria Karstadt Kaufhof, die zuletzt noch eine Eckpunktevereinbarung hin zu einem neuen Tarifvertrag inklusive Mini-Inflationsausgleichspauschale ausgehandelt hatten, müssen sich nun unverzüglich auf den Kampf um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze vorbereiten. Dazu ist es dringend erforderlich, dass die Gewerkschaften endlich damit aufhören, verzweifelte Appelle an die Eigentümer:innen und das Management zu richten, die Interessen der Beschäftigten bei diesem Großreinemachen auch zum eigenen Nutzen der Kapitaleigner:innen bitte zu berücksichtigen. Stattdessen müssen sie selbst einen Kampfplan schmieden, der als letzte Konsequenz auch die Forderung nach einer entschädigungslosen Enteignung beinhaltet. Es muss sichergestellt sein, dass niemand der Beschäftigten bei Galeria Karstadt Kaufhof oder einer sonstigen Tochter der Sigma seine Arbeit verliert, Einkommenseinbußen erleidet oder unter schlechteren Bedingungen weiter arbeiten muss. Wenn dies nur durch Verstaatlichung möglich ist, muss diese Forderung auf den Tisch und unter Kontrolle der Beschäftigten vollzogen werden. Sie müssen es sein, die darüber entscheiden, wie es für sie weitergeht, und nicht diejenigen, deren einziges Interesse darin besteht, aus Geld mehr Geld zu machen. Deren Vermögen sollte stattdessen für die Sanierung konfisziert werden.

Die Tarifrunden im Groß- und Einzelhandel sowie im öffentlichen Dienst müssen mit Protestaktionen bis hin zu Besetzungen und Streiks der Beschäftigten bei Signa verbunden werden. Auf Belegschaftsversammlungen bei Karstadt-Kaufhof und in allen anderen Betrieben der Holding müssen die nächsten Kampfschritte beschlossen werden, um so die Gewerkschaften zum Handeln zu zwingen.




Das Ende der Ära Rutte und die Dilemmata der niederländischen Linken

Fabian Johan, Neue Internationale 278, November 2023

Das niederländische Kabinett stürzte im Juli letzten Jahres aufgrund erheblicher Meinungsverschiedenheiten zwischen den regierenden Parteien der Koalition über die Migrationsfrage. Infolgedessen werden in den Niederlanden am 22. November Parlamentswahlen stattfinden, um eine neue Regierung zu wählen.

Mark Rutte, der die Niederlande dreizehn Jahre lang mit der VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) regiert hat, hat angekündigt, dass er bei den kommenden Wahlen nicht mehr antreten wird. Mit seinem Rückzug gehen 13 Jahre Rutte zu Ende und die politischen Karten in den Niederlanden werden neu gemischt.

Die Ära Rutte

Er, der bisher der bevorzugte Führer der niederländischen Bourgeoisie war, hat immer im Interesse der großen Konzerne, Banken und kapitalistischen Institutionen und nicht in dem der Arbeiter:innenklasse regiert. Für die arbeitende Bevölkerung hat Rutte eine schwierige Situation herbeigeführt, die durch unbezahlbaren Wohnraum, Teilprivatisierungen des Gesundheitssystems, unsichere Arbeitsplätze, ein sinkendes Bildungsniveau und sehr hohe Lebenshaltungskosten gekennzeichnet ist. Für die großen Banken, die Superreichen und die multinationalen Konzerne hingegen hat er Steuererleichterungen eingeführt, das Arbeitsrecht liberalisiert und ein günstiges Geschäftsklima für die Bourgeoisie geschaffen. In der Europäischen Union trieb er neoliberale Reformen voran, die die Macht weiter in den Händen des Monopolkapitals zentralisieren.

Doch warum ist Ruttes Zeit abgelaufen? Sein viertes Kabinett (von nun an Rutte IV) bestand aus einer Koalition von vier Parteien, der VVD (Volkspartij Voor Vrijheid en Democratie), D66 (Demokrat:innen 66), ChristenUnie (CU; Christ:innenunion) und Christen Democratisch Appèl (CDA; Christlich-Demokratischer Aufruf). Das Kabinett war von Anfang an instabil, seine Bildung dauerte mehr als 299 Tage und es gab viele interne Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Niederlande am besten regiert werden sollten. In der ursprünglichen Koalitionsvereinbarung waren die wichtigsten Punkte, die das Kabinett einte, eine 55 %ige Verringerung der CO2-Emissionen bis 2023, eine Verringerung des Stickstoffausstoßes, die Abschaffung der Vermieter:innensteuer, eine stärkere Regulierung des liberalisierten Wohnungssektors, eine Erhöhung des Mindestlohns um 7,5 % und mehr Geld für das Militär. Das letzte Versprechen hielt Rutte IV am treuesten, denn die niederländische Regierung unterstützte das ukrainische Militär in großem Umfang mit Ausrüstung, Panzern, Kampfjets und militärischer Ausbildung. In den Jahren 2022 und 2023 wurden die Löhne zwar erhöht, aber nur aufgrund von Streiks der Beschäftigten der nationalen Eisenbahngesellschaft (NS) und anderer Beschäftigter im Verkehrssektor.

Rassismus und Rechtspopulismus

Am meisten versagt hat Rutte IV bei der Behandlung von Flüchtlingen und Asylbewerber:innen. Die Kriege in Syrien, Afghanistan, im Irak, Jemen und der Ukraine haben dazu geführt, dass Millionen von Menschen aus ihrem Land fliehen mussten. Flüchtlinge, die Monate und Jahre unter entsetzlichen Bedingungen auf der Flucht vor dem Krieg verbrachten, kamen in die Niederlande und mussten feststellen, dass die Bedingungen hier nicht viel besser sind. Keines von Ruttes Kabinetten hat nennenswert in die Verbesserung der Einrichtungen für Asylbewerber:innen investiert. Dafür mobilisierte aber die Rechte. Wenn die Regierung den Bau einer neuen Einrichtung ankündigt, kommt es häufig zu rechten Hasskampagnen gegen Migrant:innen. In einem Fall wurde sogar ein Hotel, das in eine vorübergehende Flüchtlingsunterkunft umgewandelt werden sollte, von örtlichen Faschist:innen niedergebrannt.

Zwischen 2019 und 2023 organisierten Großbäuer:innen zudem massive Proteste, bei denen sie mit Traktoren durch Den Haag fuhren, um sich gegen Umweltvorschriften zu wehren, die von ihnen eine Verringerung der Produktion verlangen würden. Diese Proteste wurden von FvD-, JA21- und PVV-Mitgliedern gut besucht und erhielten erhebliche Unterstützung von Menschen in kleineren Städten und auf dem Land (FvD: Forum für Demokratie; JA21: Partei in Nordholland; PVV: Partei für die Freiheit). Die großkapitalistische Agrarindustrie finanzierte die Gründung der Bürger:innen-Bäuer:innen-Bewegung (BBB), die der politische Ausdruck der reaktionären Bäuer:innenproteste ist und bei den nächsten Parlamentswahlen voraussichtlich 13 bis 16 Sitze erringen wird. Mit dem Rechtsruck der VVD wollte man die Stimmen der rechtsextremen Anhänger:innen von FvD, PVV, JA21 und BBB auf sich ziehen.

Mögliche Ergebnisse

Doch ein Sieg der VVD ist keineswegs sicher. Zur Zeit konkurrieren in den Umfrage drei Parteien darum, wer stärkte Fraktion im 150 Abgeordnete umfassenden Parlament wird: die VVD, die NSC (Nieuw Sociaal Contract; Neuer Sozialvertrag) oder die gemeinsame Liste von PvdA/GL (Arbeiter:innenpartei/Grün-Links) liegen in den Umfragen vorn und könnten 25 bis 30 Sitze erreichen. Alle drei wären im traditionell zersplitterten Parlament – zur Zeit sind darin 17 Parteien vertreten – auf Mehrparteienkoalitionen angewiesen, was an sich nichts Neues in den Niederlanden ist. Aber es wird komplizierter aufgrund der Umgruppierungen im bürgerlichen Lager.

Traditionell geben die Konservativen, die nicht für die VVD stimmen, ihre Stimme der CDA, einer christlichen Partei der Mitte-Rechts-Bewegung. Die CDA hat eine starke Basis in den kleineren Städten und Dörfern sowie in einem Teil der niederländischen Bourgeoisie. Infolge der Kabinettskrise hat sich die CDA gespalten. Einige ihrer Mitglieder schlossen sich dem eher rechtsgerichteten BBB an und treten bei den kommenden Wahlen als Kandidat:innen an. Eine große Gruppe Gemäßigter um das ehemalige CDA-Mitglied Pieter Omtzigt gründete die NSC, die versucht, der christlich-demokratischen Politik der CDA neues Leben einzuhauchen.

Obwohl sich die NSC für die soziale Sicherheit und Wiederherstellung des Vertrauens in die Regierung einsetzt, ist ihre Migrationspolitik genauso rechts wie die der VVD. Die Umfragen zeigen, dass die VVD, die NSC und die BBB zusammen zwischen 60 und 65 Sitze im Parlament erhalten könnten. Das gibt ihnen die Flexibilität, die anderen rechten Parteien auszuwählen, die mit ihnen eine Koalition eingehen.

Ein mögliches und sehr wahrscheinliches Ergebnis der Parlamentswahlen im November sind also große Siege für die Rechte. Obwohl er sich als Beschützer der sozialen Sicherheit, der Renten und der Arbeitsplätze positioniert, werden Pieter Otmzigt und die NSC nicht in der Lage sein, eine massive Sparwelle aufzuhalten, die darauf abzielt, alles zu privatisieren und einen autoritären Staat zu schaffen. Migrant:innen, Flüchtlinge und Asylbewerber:innen werden die ersten Opfer dieser Regierung sein und keine Verbesserung ihrer Situation im Vergleich zu ihrem Heimatland erleben.

Das andere mögliche Ergebnis ist ein Wahlsieg von PvdA-GroenLinks, die bei den Wahlen auf einem einzigen Ticket antreten. Seit Anfang der neunziger Jahre ist die niederländische Arbeiter:innenpartei (PvdA) nach rechts gerückt und hat ihre früheren linken Positionen aufgegeben.

Diese Veränderungen ermöglichten es ihr, in Ruttes zweitem Kabinett mitzuwirken und im Namen der Bourgeoisie zu regieren. PvdA-Führer:innen erhielten hochrangige Ministerposten und wurden mit der Drecksarbeit betraut, Ruttes Sparmaßnahmen durchzuführen, insbesondere im Bildungs- und Wohnungswesen. Im Jahr 2017 schnitt die PvdA bei den Wahlen schlecht ab und verlor viele Parlamentssitze. Dies war auf jahrelanges Missmanagement während der Regierungszeit mit der VVD zurückzuführen. Sie hat keine Perspektive, den Kapitalismus zu beenden oder die Arbeiter:innenklasse an die Macht zu bringen. Die PvdA ist also eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, die kapitalistisch geprägt ist und ein bürgerliches Gesellschaftssystem verteidigt, deren soziale Basis aber die Arbeiter:innenklasse bildet.

GroenLinks hat eine etwas andere Geschichte, folgte aber einem ähnlichen Rechtsruck wie die PvdA in den 90er und 2000er Jahren. Im Jahr 1990 schlossen sich die ehemalige Kommunistische Partei (CPN), die Pazifistische Sozialistische Partei und zwei fortschrittliche christliche Parteien zu GroenLinks zusammen. Die progressiven christlichen Parteien, aus denen sich GroenLinks zusammensetzte, dominierten ihr Programm. In den 2000er Jahren bewegte sich GroenLinks weiter in Richtung Mitte und positionierte sich als liberale Partei und vertrauenswürdige Partnerin. Genau wie die PvdA war GroenLinks eine Juniorpartnerin der niederländischen Bourgeoisie und stimmte häufig für Gesetze, die die soziale Sicherheit, die Renten und Arbeit„nehmer“:innenrechte einschränkten. Die Partei hat in der Vergangenheit mit der VVD zusammengearbeitet, deren Standpunkte unterstützt und eine opportunistische Haltung eingenommen.

Den Umfragen zufolge ist es durchaus möglich, dass die PvdA-GroenLinks als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen wird. Die PvdA-GroenLinks-Allianz wird von Frans Timmerman angeführt, der an der Spitze der Europäischen Kommission stand und einer der Hauptverantwortlichen für den europäischen Green New Deal war. PvdA-GroenLinks hat ein Reformprogramm, mit dem einige der Probleme angegangen werden sollen, die in 13 Jahren Rutte entstanden sind, z. B. Klimawandel, Wohnungskrise, teure Gesundheitsfürsorge, hohe Verschuldung von Student:innen, verstärkter Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt, Erhöhung des Mindestlohns.

Sollte die PvdA-GroenLinks die Wahl gewinnen, müsste sie eine Koalition mit Parteien des bürgerlichen Zentrums oder sogar mit den Rechten bilden, um zu regieren. Damit wären ihre Reformversprechen gleich zu Beginn kassiert.

Sozialistische Partei (SP)

Die Sozialistische Partei bleibt die fortschrittlichste Partei und hat Verbindungen zur Arbeiter:innenbewegung. Sie ist in den 1970er Jahren aus der maoistischen Bewegung hervorgegangen, wandelte sich jedoch zur einer reformistischen Partei. 1994 gab sie den Marxismus ganz auf. Die Führer:innen der SP sehen sich selbst eher als linke Sozialdemokrat:innen denn als revolutionäre Sozialist:innen. Sie betrachten den Sozialismus als eine Verteidigung des Wohlfahrtsstaates und formulieren ihre Politik eher in ethischen als in politischen Begriffen. Die SP ist somit eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, die zwar bedeutende Stimmen aus der Arbeiter:innenklasse erhält, deren Führung und Organisation aber strukturell auf das kapitalistische System ausgerichtet ist.

Deutlich lässt sich das an ihrer problematischen Position zur Migration zeigen, die sie schon seit den 1980er Jahren vertritt. Die SP fordert Einwanderungskontrollen, die ihrer Ansicht nach die Rechte der Lohnabhängigen schützen und die ungeregelte Einwanderung einschränken würden. Anstatt für Einwanderungskontrollen einzutreten, sollte die SP dazu aufrufen, die Migrant:innen zu organisieren und die Gewerkschaftsbewegung ermutigen, den Kampf für ihre Rechte anzuführen. Die SP vertritt außerdem eine euroskeptische Haltung und möchte die Herrschaft der „nicht gewählten Bürokrat:innen in Brüssel“ beenden und die Entscheidungsgewalt in den Händen der niederländischen Regierung konzentrieren.

Die SP vertritt zugleich fortschrittliche Positionen zur Gesundheitsversorgung, zum Wohnungsbau, zur Studienfinanzierung, zur Verstaatlichung von Versorgungs- und Verkehrsbetrieben und zur Besteuerung von Superreichen und Großkonzernen.

Obwohl die Partei keine formale Beziehung zum größten Gewerkschaftsverband, dem FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging; Niederländischer Gewerkschaftsbund), hat, sind viele niederländische Gewerkschafter:innen in der SP aktiv und stimmen für sie. Ihr derzeitiger Vorsitzender, Tuur Elzinga, vertrat die SP von 2006 bis 2017 in der Ersten Kammer des Parlaments. Die SP führt häufig Kampagnen der Gewerkschaften im Parlament durch, wie z. B. die Voor14-Kampagne, die einen Mindeststundenlohn von 14 Euro anstrebte (und inzwischen durch eine Kampagne für einen 16-Euro-Stundenlohn ersetzt wurde). Wir empfehlen eine kritische Stimmabgabe für die SP bei den Wahlen am 22. November.

Wir lehnen jede Beteiligung der SP an einer bürgerlichen Koalitionsregierung ab, auch an einer von PvdA-GroenLinks geführten. Stattdessen sollte SP, Gewerkschaften und soziale Bewegungen gegen die nächste bürgerliche Regierung und deren Angriffe mobilisieren.

Rolle der Gewerkschaften

Unabhängig vom Ausgang der Wahlen ist es von entscheidender Bedeutung, die Gewerkschaftsbewegung in den Niederlanden zu stärken. In den Jahren 2022 und 2023 gab es einige groß angelegte Streiks im Verkehrs- und Gastgewerbesektor. In Schiphol (Flughafen Amsterdam) organisierten die Gepäckarbeiter:innen und das Sicherheitspersonal im April 2022 einen Streik, der zur Streichung von Flügen und zur Schließung des gesamten Flughafens führte. Die Gewerkschaft FNV unterstützte den Streik zunächst nicht, übernahm dann aber im Sommer die meisten Forderungen und erreichte erhebliche Verbesserungen des Tarifvertrags (CAO; Kollektives Arbeitsabkommen), der für alle Beschäftigten in Schiphol gilt. Später im November organisierten die Beschäftigten der nationalen Eisenbahngesellschaft NS Streiks, durch die der Zugverkehr für einige Tage vollständig eingestellt wurde. In der Folge erreichten sie enorme Lohnerhöhungen, inflationsbereinigte Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Obwohl nur etwa 15 % der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, zeigen diese Streiks, dass die arbeitenden Menschen in den Niederlanden gewinnen können, wenn sie aktiv werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die niederländische Gewerkschaftsbewegung aufzubauen und insbesondere die Organisation der Basis zu stärken.

Die vergangenen neoliberalen Regierungen sowie alle derzeitigen linken und rechten Parteien haben von „Teilhabe“ gesprochen. Wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft ist nur durch einen revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus und die Organisation der Massen in Arbeiter:innenräten möglich. Nur wenn die arbeitenden Menschen ihre eigenen unabhängigen Organisationen haben – Räte, Nachbarschaftskomitees, Organisationen der Unterdrückten (d. h. Frauen, trans Personen, Migrant:innen, nationale Minderheiten) und von Mitgliedern geführte Gewerkschaften – können sie wirklich an der Gesellschaft teilhaben. Um eine radikale Transformation der Niederlande in der Nach-Rutte-Ära zu gewährleisten, müssen wir linke Organisationen aufbauen, die es den Arbeiter:innen ermöglichen, echte Macht auszuüben und die Kräfte zum Sturz der niederländischen Bourgeoisie vorzubereiten. Dies erfordert einen revolutionären Angriff nicht nur auf die niederländische Bourgeoisie, sondern auf das gesamte internationale kapitalistische System.

Ein Schlüsselelement für den Bruch mit dem Kapitalismus ist ein revolutionäres sozialistisches Programm, das die aktuellen Kämpfe der Arbeiter:innen mit dem langfristigen Ziel der sozialistischen Transformation verbindet. Dazu ist eine revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse in den Niederlanden notwendig, die Teil eines größeren Kampfes für eine vereinigte sozialistische Föderation Europas wäre.




Argentiniens Präsidentschaftswahlen: Für das „kleinere Übel“ zu stimmen, bringt nichts

Tim Nailsea, Neue Internationale 278, November 2023

Die erste Runde der argentinischen Parlamentswahlen endete mit einem klaren Vorsprung für den peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa, der 37 Prozent der Stimmen erhielt. Der demagogische rechtsextreme neoliberale Kandidat Javier Milei kam mit 30 Prozent auf den zweiten Platz. Die konservative Patricia Bullrich lag mit 24 Prozent hinter ihnen. Sie hat nun Milei für die Stichwahl unterstützt, aber die Koalition, die sie unterstützte, hat sich gespalten, da zwei ihrer drei Parteien, die Bürgerliche Koalition und die Radikale Partei, sich weigern, ihr zu folgen. Nur wenn es Milei gelingt, die meisten Bullrich-Wähler für sich zu gewinnen, wird er genug haben, um Massa zu besiegen. Massa hofft jedoch, Stimmen von ihren konservativen Anhängern zu gewinnen, die über ihr Bündnis mit dem Demagogen Milei entsetzt sind.

Die einzige Stimme der Arbeiter:innenklasse, Myriam Bregman, Präsidentschaftskandidatin der FIT-U (Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) eines Wahlblocks aus vier Parteien, die verschiedenen trotzkistischen Traditionen angehören, erzielte knapp drei Prozent der Stimmen – etwa 850.000 Stimmen. Cristian Castillo von der PTS (Partido de los Trabajadores Socialistas, Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen), wurde für die Provinz Buenos Aires gewählt und fügte den vier bei den Zwischenwahlen gewählten FIT-U-Abgeordneten einen weiteren hinzu. Aber die unmittelbare Zukunft der ArbeiterInnen des Landes wird jetzt nicht durch einen Wahlblock entschieden, sondern durch eine vereinte Kampffront in den Betrieben und auf den Straßen.

Zweite Runde – keine Wahl für die Arbeiter:innen

Keiner der drei bürgerlichen Kandidaten hat die für einen Gesamtsieg erforderlichen 45 Prozent erreicht, so dass es nun am 19. November zu einer Stichwahl zwischen Massa und Milei kommen wird. Für die argentinische Arbeiterklasse bedeutet dies, dass sie überhaupt keine Wahl hat. Zwar fürchten viele eine rechtsradikale Präsidentschaft Mileis, doch haben sie aus erster Hand erfahren, wie es ist, unter etablierten peronistischen Regierungen zu leben, die zu einer Aushöhlung ihres Lebensstandards und Angriffen auf ihre Organisationen geführt haben. 

Die Armut hat sich seit 2018 vervierfacht, die Armutsquote liegt derzeit bei 40 Prozent. Die Inflation liegt bei über 100 Prozent und die Lebenshaltungskosten steigen rasant an. 

Der „Peronismus“, benannt nach Juan Peron, der von 1946-55 und erneut von 1973-4 Präsident war, hat eine lange Geschichte des Verrats an der Arbeiter:innenklasse. Peron, der für sich in Anspruch nahm, eine „dritte Position“ zwischen links und rechts einzunehmen, pflegte enge Beziehungen zur mächtigen argentinischen Gewerkschaftsbürokratie, während er und seine Justicialist Party (PJ) in den Boomjahren nach dem Krieg einige politische Maßnahmen zugunsten der Armen des Landes ergriffen und das Frauenwahlrecht einführten, später aber, insbesondere nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 1973, nach rechts rückten. 

Seit Perons Tod wird die peronistische Bewegung weitgehend von ihrem rechten Flügel dominiert, auch wenn sie weiterhin die sklavische Unterstützung des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes (CGT) genießt. Die peronistischen Regierungen, beginnend mit Carlos Menem in den 1990er Jahren und weiterführend mit den Kirchnern Nestor und Cristina sowie dem amtierenden Albertio Fenandez, waren dadurch gekennzeichnet, dass sie riesige Schulden bei ausländischen Banken auftürmten und dann vom IWF diktierte brutale Sparpakete durchsetzten. Trotz des rhetorischen argentinischen Nationalismus des Peronismus hat er sich immer den Forderungen des globalen Kapitalismus und des US-Imperialismus gebeugt. 

Massa steht ganz in dieser Tradition. Er ist eine Figur des Establishments und hat im letzten Jahr als Wirtschaftsminister versucht, einen Ausgleich zwischen den eher interventionistischen und den marktwirtschaftlich orientierten Fraktionen in der peronistischen Koalition zu schaffen. Unter ihm werden die argentinische Lebenshaltungskostenkrise und der Kotau der Regierung vor dem IWF weitergehen. Sein überraschend gutes Ergebnis ist auf die verständlichen Ängste vor der extremen Rechten zurückzuführen.

Faschismus oder extremer Neoliberalismus?

Die Freiheitsbewegung von Javier Milei ähnelt dem rechten MAGA-Flügel der Republikanischen Partei in den USA, mit einer ultra-neoliberalen „libertären“ Wirtschaftspolitik und einer heftig reaktionären Sozialpolitik. Das Ganze ist verpackt in die „Anti-Establishment“-Demagogie, die von Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien vorangetrieben wird. 

Milei ist ein rechtsgerichteter Wirtschaftswissenschaftler und Journalist. Zu seiner Politik gehören Angriffe auf die Rechte der Frauen, einschließlich des Zugangs zu Abtreibung und Sexualerziehung. Er plant, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, und während des Wahlkampfs sprach sich Milei für die Privatisierung der argentinischen Eisenbahnen aus. Seine schockierendste Politik ist das Versprechen, den argentinischen Peso abzuschaffen und die Wirtschaft zu dollarisieren. Tatsächlich gibt es in der Zentralbank nicht genügend Dollarreserven, um dies zu verwirklichen.

Im Gegensatz zu einigen der hysterischen Reaktionen auf seinen Aufstieg ist Mileis Bewegung nicht faschistisch. Der Faschismus kommt auf der Grundlage außerparlamentarischer paramilitärischer Gewalt an die Macht, die auf die Zerschlagung der Arbeiterbewegung abzielt, während seine Bewegung in erster Linie auf Wählerstimmen setzt. Zwar haben sich Mitglieder seiner Bewegung, darunter auch seine Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel, positiv über die argentinische Militärdiktatur von 1976-83 geäußert, aber wie bei Trump und Bolsonaro gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Militärhierarchie Milei bei der Errichtung einer Diktatur unterstützt, zumindest nicht unter den unmittelbaren Bedingungen. Es ist vielmehr der brutale neoliberale Abbau von Sozialleistungen, Frauenrechten, staatlicher Beschäftigung und den Überresten von Arbeits- und Umweltvorschriften, den die Arbeiter:innen zu fürchten haben.

Milei und sein Wahlbündnis enthalten zwar Elemente, die sich bei einer Verschärfung der Wirtschaftskrise in eine faschistische Richtung entwickeln könnten, sind aber eigentlich ein Beispiel für das, was in der kapitalistischen demokratischen Politik üblich geworden ist – ultrakonservative, extreme Neoliberale, die darauf abzielen, den Kapitalismus von den letzten Resten der Beschränkung zu befreien und ihn auf die Arbeiterklasse und die Armen loszulassen. 

Das geringere Übel?

Aufforderungen an die Linke und die Arbeiter:innenbewegung, sich hinter Massa und das Establishment zu stellen, müssen entschieden zurückgewiesen werden. Das System der Stichwahlen ist darauf ausgelegt, die Wähler zu disziplinieren, damit sie die etablierten Parteien unterstützen. Sie dürfen sich im ersten Wahlgang mit Stimmen für alternative Kandidaten vergnügen, aber danach wird von ihnen erwartet, dass sie „ernst machen“ und für eine der beiden verbleibenden Optionen stimmen. 

Dies gilt insbesondere angesichts eines möglichen Sieges der Rechten, wobei Politiker und Medienvertreter die Menschen auffordern, für das „kleinere Übel“ zu stimmen. Da es nur zwei Möglichkeiten gibt, warum nicht den Kandidaten wählen, der trotz seiner Schwächen zumindest kein fanatischer Reaktionär ist, der alles, was von den Rechten der Lohnabhängigen, der Frauen und der Homosexuellen übrig geblieben ist, abschaffen will?

Es ist die neoliberale Politik der peronistischen Koalition, die Argentinien in diese Sackgasse geführt hat. Wenn sie weiter regiert, wird sich die Krise nur vertiefen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rechte dies ausnutzen und an die Macht kommen kann.

Der einzige Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein kämpferischer Kampf, bei dem die Gewerkschaften in den Betrieben, die Arbeitslosenorganisationen und die Frauenbewegung zu einer gemeinsamen Front des Widerstands gegen denjenigen, der Präsident wird, gewonnen werden. Nur eine unabhängige, vom Peronismus und allen kapitalistischen Parteien losgelöste Arbeiter:innenbewegung kann sich sowohl den Angriffen des Neoliberalismus als auch einer aufständischen extremen Rechten entgegenstellen.

Eine solche Bewegung ist kein Hirngespinst. In Jujay, der ärmsten Provinz Argentiniens mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von 80 %, haben Kampagnen gegen die Auswüchse der Lithiumkonzerne und reaktionäre Verfassungsänderungen die argentinische Politik in diesem Jahr erschüttert, wobei Lehrer:innen und indigene Arbeiter:innen den Kampf anführten. Eine solche Bewegung kann als Vorbild dienen und auf nationaler Ebene verallgemeinert werden. 

Eines der Hauptziele der Linken muss es sein, die argentinische Arbeiter:innenbewegung von ihrer historischen Unterstützung für den Peronismus zu lösen, und das kann nur geschehen, indem der Ruf nach einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei laut wird. Der bescheidene Erfolg des linksextremen Wahlbündnisses FIT-U zeigt, dass es Aktivist:innen gibt, die eine solche Partei aufbauen könnten. Doch dazu bedarf es einer Einheit, die über die von zersplitterten Wahlbündnissen hinausgeht. Es erfordert ein revolutionäres Aktionsprogramm, das bei den wichtigsten Forderungen und Taktiken ansetzt und notwendig ist, um den neuen Präsidenten anzugreifen und zu besiegen.




Ein Programm von Übergangsforderungen

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 3, Sommer 1989

Die gegenwärtige Periode ist durch defensive ökonomische Massenkämpfe in den imperialistischen Ländern, durch aktuelle oder latente politisch- revolutionäre Krisen in den degenerierten Arbeiterstaaten und durch vorrevolutionäre und revolutionäre Krisen in den halbkolonialen Ländern gekennzeichnet. Diese fortdauernde Ungleichheit macht es unmöglich, wie Trotzki 1938 von einer weltweit vorrevolutionären Situation zu sprechen. Aber dies ändert nichts an der Dringlichkeit, die Arbeiterbewegung mit einem Übergangsprogramm zu bewaffnen.

Nur ein solches Programm kann absichern, daß die Fortschritte, die die Massen in diesem oder jenem Teilkampf erreicht haben, aufeinander aufgebaut und konsolidiert werden und daß ihnen diese nicht bei der ersten Gelegenheit von den Kräften der Reaktion wieder gestohlen werden. Nur ein solches Programm kann den fundamentalen Widerspruch, an dem die internationale Arbeiterbewegung krankt, lösen: einerseits sind die Massen bereit, ihre Errungenschaften zu verteidigen und auch die revolutionäre Offensive zu wählen; andererseits aber sind die etablierten Führungen immer noch in der Lage, eben diese Kämpfe zu demobilisieren und zu verraten.

Ein Übergangsprogramm bemüht sich, diese subjektive Schwäche anzusprechen, indem es für die Massen eine Brücke zwischen ihren unmittelbaren Verteidigungskämpfen und dem Kampf für die sozialistische Revolution baut. Diese Brücke hat die Form einer Reihe miteinander verbundener Forderungen, die in ihrer Gesamtheit eine offene und direkte Herausforderung an die kapitalistische Herrschaft darstellen. Aber Revolutionäre sind keine Sektierer. Sie kämpfen für Mindestforderungen und sind in jedem Teilkampf die gründlichsten und gewissenhaftesten Taktiker und Organisatoren. Wir stehen bei allen Kämpfen der Arbeiterklasse an vorderster Front, egal wie partiell sie sind. Aus diesem Grund wäre es falsch, das Übergangsprogramm den existierenden Massenkämpfen als Ultimatum entgegenzustellen.

Aber es ist eine zentristische Verzerrung des Übergangsprogramms, einzelne Forderungen vollständig aus dem in sich verketteten System herauszutrennen und sie als dürftig maskierte und isolierte Gewerkschaftsforderungen zu präsentieren. Ebenso sind alle Versuche, Übergangsforderungen als strukturelle Reformen des Kapitalismus darzustellen, äußerst opportunistisch. Der eigentliche Zweck von Übergangsforderungen ist, die Massen gegen den Kapitalismus zu mobilisieren. Die Aufgabe der revolutionären Avantgarde ist es deshalb, in den unmittelbaren Massenkämpfen einzelne Forderungen im Kontext eines Kampfes für das Programm als ganzes zu verwenden.

In der Praxis wird dies bedeuten, innerhalb eines Einzelkampfes für zugespitzte, relevante Übergangsforderungen zu agitieren, während Propaganda für das Programm als ganzes gemacht wird, indem erklärt wird, was die Realisierung dieser oder jener Forderung für die nächste Phase des Kampfes bedeuten wird. Wie muß dieser Fortschritt gefestigt werden, wie können wir einen Gegenangriff der Herrschenden verhindern? Das Verhältnis zwischen solcher Agitation und Propaganda, der Punkt, von dem an die Massenagitation die Propaganda ersetzt, wird vom Umfang, Tempo und der Intensität des Kampfes bestimmt.

Der Übergangscharakter des Systems von Forderungen wird durch verschiedene Merkmale ausgedrückt. An erster Stelle sprechen solche Forderungen die fundamentalen ökonomischen und politischen Bedürfnisse der Massen, wie sie durch die objektive Situation bestimmt werden, an. Die Forderungen hängen in ihrer Richtigkeit nicht davon ab, ob sie für das reformistische Massenbewußtsein annehmbar sind; auch werden sie nicht entwertet, wenn die kapitalistischen oder stalinistischen Bürokraten dazu gezwungen sind, solchen Forderungen zu entsprechen. Zweitens versuchen Übergangsforderungen, die Massen unabhängig von den offenen politischen Repräsentanten der Bourgeoisie und deren reformistischen Agenten innerhalb der Arbeiterbürokratie zu organisieren. Dies wollen wir durch Gewerkschaften, Fabrikkomitees, Arbeiterräte und die revolutionäre Partei erreichen.

Rund um diese Forderungen mobilisiert, stellt die Arbeiterklasse in solchen Organisationen die Herrschaft der Kapitalisten in Frage. Sie beeinträchtigt die bürgerliche Herrschaft in Fabrik, Büro und Schule, durch Streikpostenketten und Straßenaktionen, ja sogar auf Regierungsebene. Zu diesem Zweck verkörpert jede Übergangsforderung einen Kampf für irgendein Element direkter Arbeiterkontrolle über die Kapitalisten. Indem im Kampf für die Erhaltung von Arbeitsplätzen elementare Formen von Arbeiterkontrolle über die Produktion errichtet werden, wird die Auseinandersetzung auf eine höhere Ebene gebracht. Die Frage ist aufgeworfen: Wer hat die Macht in der Fabrik, die Arbeiter oder die Bosse? Ein erfolgreicher Kampf auf Fabrikebene stellt die Arbeiter in der Folge vor neue Herausforderungen, sowohl in Beziehung zu anderen Industriezweigen als auch zur Gesellschaft als ganzer.

Zusätzlich üben sich die Massen durch das System der Arbeiterkontrolle im Führen der Fabrik und bereiten sich so auf die kommenden Aufgaben unter der Diktatur des Proletariats vor. Daher sind Übergangsforderungen einerseits das Mittel zum Übergang von den heutigen, unmittelbaren Kämpfen zu einem revolutionären Angriff auf das gesamte kapitalistische Regime und andererseits eine Schule, ein Mittel, die Arbeiter für die Aufgaben des Übergangs zum Sozialismus selbst zu erziehen.

Gegen die kapitalistische Offensive

Die vereinte Offensive der Kapitalisten zur Lösung ihrer Krisen und zur Herbeiführung eines Konjunkturaufschwunges hat einen schweren Tribut auf die Lebensbedingungen der Weltarbeiterklasse und der unterdrückten Bauernschaft gefordert. Steigende Preise, die in einigen Halbkolonien sogar das Niveau der Hyperinflation erreichten, und Massenarbeitslosigkeit sind der Preis zeitweiser Stabilisierung. Um ihre Kampfkraft zu erhalten, muß die Arbeiterklasse ihr Recht auf Arbeit verteidigen und einen ausreichenden Lohn verdienen. Sie ist dazu gezwungen, das von der Bourgeoisie zugestandene Wohlfahrtssystem – den sogenannten Soziallohn – zu verteidigen und auszudehnen. Es ist notwendig, Forderungen voranzutreiben, die den Überlebenskampf zu beenden versuchen.

In jedem Land kämpfen wir für einen gesetzlich garantierten Mindestlohn in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung und nicht von den Herrschenden bestimmt wird. Das soll natürlich keinesfalls heißen, daß sich Kollektivverträge auf ein solches Minimum beschränken. Die Arbeiterklasse muß sich ständig bemühen, über den Mindestlohn, der einfach nur ein Sicherheitsnetz gegen niedere Löhne und die Armut des unterdrücktesten Teils der Arbeiter ist, hinausgehen.

Kampf der Inflation

Unter Bedingungen, unter denen die Herrschenden steigende Preise dazu benutzen, die Arbeiter zu verarmen, kämpfen wir für den Schutz kollektiver Abkommen gegen jede Preissteigerung durch die Unternehmer. Zu diesem Zweck kämpfen wir für eine gleitende Lohnskala, die Lohnsteigerungen zum Ausgleich für steigende Lebenshaltungskosten garantiert. Natürlich werden die Herrschenden mit gefälschten Indizes zu beweisen versuchen, daß die Lebenshaltungskosten nicht steigen, und dadurch die Massen zu hintergehen. Um dieser Gaunerei zu begegnen, kämpfen wir für einen Lebensmittelindex der Arbeiterklasse, erstellt und bestimmt durch Preiskontrollkomitees, bestehend aus gewählten Delegierten von den Arbeitsplätzen und den Arbeiterbezirken: den Wohnsilos, den Arbeitervierteln, den Barrios und Slums, den Organisationen der Frauen der Arbeiterklasse und den proletarischen Konsumenten. Unter der Bedingung der Hyperinflation werden darüber hinausgehende Maßnahmen erforderlich, um die Ausgebeuteten und Unterdrückten vor dem Hunger, der Zerstörung ihrer Sicherheit und ihrer dürftigen Ersparnisse zu schützen. Sie müssen um die Kontrolle über die lebensnotwendigen Güter kämpfen. Dies bedeutet Arbeiterkontrolle über die Lebensmittelindustrie, die großen landwirtschaftlichen Betriebe, die verarbeitende Industrie, das Transportwesen und die Supermarktketten. Weiters bedeutet dies, direkte Handelsbeziehungen zwischen den Arbeitern und den Bauern durch den Austausch von Gütern einzuführen. Dies führt zum Aufbau von Arbeiter- und Bauernkomitees, um die Lebensmittelpreise und deren Verteilung zu kontrollieren.

Aber um die Hyperinflation zu stoppen, müssen die Arbeiter die Kontrolle über die Banken erlangen und ihre vollständige Nationalisierung erzwingen, einschließlich der Konfiszierung der Einlagen der Bourgeoisie und der ausländischen Multis. Wir fordern Aktionen zur Verhinderung der Kapitalflucht ins Ausland, zur sofortigen Nichtanerkennung der Auslandsschuld und zur Einstellung aller Zinsenzahlungen. Die Ersparnisse der Arbeiter, Bauern und Kleinbürger sollten zu ihrem vorhyperinflationären Wert gesichert werden.

Alle diese Maßnahmen verweisen auf die Notwendigkeit eines Staatsmonopols über den Außenhandel und auf die Einführung demokratischer Planung durch die Produzenten. Um ein Arbeiter- und Bauernprogramm gegen die Inflation durchzusetzen, ist eine Regierung eben dieser Klassen ein unerläßliches Instrument. Ohne dieses wird die Bourgeoisie die Hyperinflation dazu benutzen, die Arbeiter zu demoralisieren und die Bauernschaft und das Kleinbürgertum gegen sie aufzuhetzen (Bolivien 1985 – 1986). Sie wird versuchen, die inflationäre Krise zu lösen, indem sie die Arbeiter niederknüppelt und ihnen brutale deflationäre Maßnahmen aufzwingt: Kürzung des Staatsbudgets für Gesundheits- und Erziehungswesen, Lohnkürzungen und Schließungen von Fabriken und Bergwerken. Inflation und Deflation sind beides Waffen der Bourgeoisie, um das revolutionäre Moment der Arbeiterklasse zu brechen. Gegen beides vereinigen wir die Massen um ein Programm, das darauf besteht: „Laßt die Reichen zahlen!“

Die Geissel der Arbeitslosigkeit

Massenarbeitslosigkeit ist heute ein beständiges Merkmal eines jeden kapitalistischen Landes. In den Halbkolonien führt der Zusammenbruch der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt zur Zerstörung ganzer Industrien, während die Landwirtschaft Millionen von landlosen Bauern in die Städte getrieben hat, wo sie keine Arbeit finden und in die Reihen des Lumpenproletariats hinabgedrückt werden. In den imperialistischen Kernländern ließ die kapitalistische Umstrukturierung Millionen Menschen am Schrotthaufen der Arbeitslosigkeit landen. Gegen diese Geißel bringt unser Programm die Forderung für das Recht auf Arbeit für alle, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Alter, Glaubensbekenntnis oder sexueller Orientierung, vor. Diese Forderung ist nur verwirklichbar auf der Basis von militanten, direkten Aktionen – Streiks gegen Entlassungen, Besetzungen gegen Betriebsschließungen, militante Proteste durch die Organisationen der Arbeitslosen. Solche Kämpfe müssen sich die Erreichung einer gleitenden Arbeitszeitskala zum Ziel setzen. Unter der Herrschaft der Arbeiterkontrolle soll die Arbeit unter allen Arbeitenden eines Unternehmens aufgeteilt und die Arbeitswoche verkürzt werden, um diese Arbeitsaufteilung zu erleichtern. Unter keinen Umständen sollen bei weniger Arbeitsstunden die Löhne gekürzt werden. Dies ist eine bewußte Verallgemeinerung und revolutionäre Ausdehnung von Forderungen, die spontan von den Arbeitern für die „35-Stunden-Woche ohne Lohnverlust“ (Britannien, BRD) oder von „30 für 40“ (USA) aufgestellt wurden.

Für jene, die die Kapitalisten in der Arbeitslosenschlange stehen lassen, kämpfen wir für Arbeit oder vollen Lohn. Wenn die Kapitalisten keine Arbeit zur Verfügung stellen, fordern wir staatliche Arbeitslosenunterstützung in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung festgelegt werden soll. Wenn der Kapitalismus unfähig ist, soziale Betreuungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen, und Frauen daran gehindert werden, ganztägig zu arbeiten, dann fordern wir volle Unterstützungsleistungen. Aber diese Forderung muß mit dem Kampf für soziale Einrichtungen für Kinder, Kranke und Behinderte verbunden werden, sodaß es Frauen möglich ist zu arbeiten.

Volle Unterstützungszahlungen sollten für all jene gefordert werden, die der Kapitalismus aufgrund ihres Alters, ihrer Behinderung oder Krankheit aus der gesellschaftlichen Produktion ausschließt. Für die Älteren verlangen wir das Recht, in einem Alter in Pension zu gehen, das von der Arbeiterbewegung eines jeden Landes festgelegt wird. Inflationsgesicherte Pensionen müssen vom Staat in einer von der Arbeiterklasse festgesetzten Höhe, die den Lebensstandard der Älteren erhält, bezahlt werden. Für jene über dem Pensionsalter, die weiterarbeiten wollen, muß dies zu vollen von den Gewerkschaften ausgehandelten Löhnen möglich sein.

Die Arbeitslosen selber dürfen nicht als Zuschauer im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit stehengelassen werden. Kommunisten und Kommunistinnen streben nach dem gemeinsamen Kampf von Arbeitslosen und Arbeitenden. Wir sind für das Recht der Arbeitslosen, sich in den Gewerkschaften mit vollen Rechten, aber reduzierten Beiträgen zu organisieren. Wir sind auch für den Aufbau von demokratischen Massenarbeitslosenbewegungen, die durch die Arbeiterbewegung beträchtliche finanzielle Unterstützung erhalten, ohne daß Bedingungen an diese Zahlungen geknüpft werden. Sie sollen volle Vertretungsrechte innerhalb der Arbeiterbewegung haben. Solche Organisationen werden eine entscheidende Rolle spielen, um zu verhindern, daß die Arbeitslosen der Ideologie des Faschismus (oder anderen reaktionären Ideologien und Bewegungen), der Kriminalisierung und der Verlumpung zum Opfer fallen. Sie sind ein wichtiges Druckmittel gegenüber den beschäftigten Arbeitern, um einen aktiven Kampf zur Verteidigung ihrer arbeitslosen Kollegen und Kolleginnen aufzunehmen.

Um alle Arbeitslosen in den Produktionsprozeß zu integrieren und es ihnen zu ermöglichen, sozial nützliche Arbeit zu verrichten, kämpfen wir unermüdlich für ein Programm von öffentlichen Arbeiten unter Arbeiterkontrolle, bezahlt durch den kapitalistischen Staat. Die Notwendigkeit für ein solches Programm ist unübersehbar. In den imperialistischen Kernländern sind alle Arten von öffentlichen Einrichtungen verbesserungs- oder renovierungsbedürftig. In den Halbkolonien leben die Massen im Elend und müssen die grundsätzlichsten Annehmlichkeiten des Lebens (Wohnen, Wasser, sanitäre Anlagen und Heizung, Erziehung und Gesundheitsversorgung) entbehren. Das Programm für öffentliche Arbeiten versucht sowohl diese brennenden Bedürfnisse, wie den Bau von Wohnungen, Spitälern, Schulen und sonstigen Einrichtungen, zu befriedigen, als auch Arbeitsplätze für Millionen Menschen bereitzustellen. Weiters schult es die Arbeiterklasse, die Wirtschaft in einer Art und Weise zu führen, die ihre Bedürfnisse befriedigt. Es ist eine Schule für die Planwirtschaft selbst.

Verbunden mit einem solchen Programm für öffentliche Arbeit ist der Kampf für soziale Einrichtungen oder für deren Verteidigung und Ausbau. Diese dienen in gewisser Weise dazu, die Arbeiterklasse vor den schlimmsten Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung zu schützen. Der Kapitalismus ist nicht nur bereit, unseren Lebensstandard seinem Lechzen nach Profit zu opfern, er ist dies auch in Bezug auf unser Recht auf Bildung, auf das Recht, die uns verbleibende Freizeit zu genießen und in Bezug auf das Recht auf Krankenversorgung. Was für ein besseres Zeugnis für den Bankrott des Kapitalismus kann erwartet werden als das Faktum, daß die USA als reichstes und mächtigstes Land der Welt eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten aller industrialisierten Länder aufweisen. Um solche Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, kämpfen wir für kostenlose Bildung, freie öffentliche Einrichtungen und Freizeitmöglichkeiten und ein kostenloses Gesundheitswesen für alle. Diese Rechte müssen durch staatliche Subventionen in einer von den Massen selbst bestimmten Höhe garantiert werden. Diese Einrichtungen dürfen nicht von kapitalistischen Managern geleitet werden, sondern durch eine Arbeiterkontrolle über die öffentlichen Dienste.

Die habgierige Suche nach Profit degradiert und zerstört die Individuen weit über die Fabrik und das Büro hinaus. Im Kapitalismus treibt der Gebrauch von Drogen Hunderttausende über die Grenzen von Genuß und Stimulation hinaus in die Unproduktivität von Abhängigkeit und Knechtschaft: Alkoholismus und Drogenabhängigkeit zerstören das Leben von vielen potentiellen Klassenkämpfern gegen das System, das solche Abhängigkeiten verursacht. Wir fordern die Entkriminalisierung des Drogengebrauchs und die Beschlagnahme der enormen Profite, die die Rauschgiftmagnaten aus dem illegalen Import und Export von Drogen ziehen. Wir sind für ein staatliches Monopol, das von einem Arbeiter- und Bauern-Preiskomitee überwacht wird, für den Verkauf von Drogen für den pharmazeutischen und nicht-pharmazeutischen Gebrauch. Wir fordern wissenschaftlich fundierte Erziehung und Information über die Gefahren des Gebrauchs von manchen Drogen für nicht-medizinische Zwecke.

Es wird keinen Mangel an Kapitalisten, bürgerlichen Politikern, wirtschaftlichen „Experten“ und reformistischen Apologeten des Kapitalismus geben, welche „beweisen“ werden, daß unsere Forderungen für Löhne, Arbeitsplätze und Dienstleistungen nicht realisierbar seien und sicher nicht geleistet werden können. Darauf antworten wir, daß wir es uns nicht leisten können, ohne die Erreichung unserer Forderungen zu leben. Wir gehen nicht davon aus, was das kapitalistische System behauptet, sich leisten zu können. Die ganze Geschichte hindurch traf jede unserer Forderungen auf den Aufschrei, daß unsere Herrscher sie nicht verkraften könnten. Dennoch haben wir sie gewonnen, denn was leistbar ist, wird durch den Kampf entschieden; in Summe sind Reformen das Nebenprodukt des revolutionären Kampfes gegen den Kapitalismus. Wenn der bürgerliche Staat die Forderungen der Massen nach Löhnen, Arbeit oder Sozialleistungen mit dem Argument ablehnt, daß das zu einem Budgetdefizit führen würde, dann schlagen wir ein revolutionäres Programm der Besteuerung vor.

Die Arbeiter in den Fabriken und Banken sollen das veranlagte und flüssige Vermögen der Arbeitgeber berechnen. Auf der Grundlage dieses Kapitals und anderen Besitzes soll eine stark progressive Vermögenssteuer von ihnen eingehoben werden. Mit diesen Einnahmen wird es möglich sein, mit der Finanzierung der Bedürfnisse der Massen anzufangen. Andererseits soll die indirekte Besteuerung von Gütern des Massenkonsums und die Einkommensteuer der besitzlosen Massen über Bord geworfen werden. Die progressive Einkommens- und Vermögenssteuer für die Kapitalisten muß durch Arbeiter kontrolliert werden, um die Umgehung und Korruption durch Finanzexperten aufzudecken. Auch muß jeder Versuch, die Sonderbesteuerung der Kapitalisten auf die Preise der Massenkonsumgüter abzuladen, durch die Arbeiterkontrolle verhindert werden. Wenn die Kapitalisten sich weigern, ihre Steuern zu zahlen, diese zu hinterziehen versuchen oder Zahlungsunfähigkeit vorgeben, dann muß ihr Vermögen konfisziert werden.

Die Gewerkschaften

In vielen Teilen der Welt sind die Gewerkschaften dauerhafte Massenorganisationen des Proletariats geworden. Revolutionäre und Revolutionärinnen müssen daher eine zentrale Ausrichtung auf die Gewerkschaften haben, trotz deren reaktionärer Führungen. Eine richtige revolutionäre Intervention in die Gewerkschaften erfordert ein klares Verständnis ihres Charakters, ihrer Grenzen im Kapitalismus sowie eine systematische Strategie für deren Umwandlung in Instrumente des revolutionären Kampfes.

Reines Gewerkschaftertum verkörpert Klassenkampf in den Grenzen des Kapitalismus. Im allgemeinen haben sich die Gewerkschaften als elementare Organisationen zur Verteidigung der Arbeiterklasse gegen die Auswüchse der kapitalistischen Ausbeutung, zur Erlangung der Mittel für den Lebensunterhalt und zur Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter und ihrer Familien herausgebildet. Auf diese Weise anerkennt das reine Gewerkschaftertum das Lohnsystem, das System der Lohnsklaverei. Als eine Form des Bewußtseins verbleibt es auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft. Rein gewerkschaftliches Bewußtsein ist daher eine Form des reformistischen, bürgerlichen Bewußtseins innerhalb der Arbeiterklasse.

Das System der kapitalistischen Ausbeutung erzeugt jedoch den Klassenkampf selbst, wenn auch zumindest anfangs rein ökonomisch und zersplittert. Dies geschieht deswegen, weil die Bourgeoisie durch die Konkurrenz gezwungen ist, die Arbeitskosten zu senken und damit entweder die Intensität zu steigern oder den Arbeitstag zu verlängern. Dieser Klassenkampf schafft die objektiven Bedingungen für die Überwindung der reformistischen Beschränkungen des reinen Gewerkschaftertums. Die Arbeiterklasse wird zur Anwendung von Klassenkampfmethoden getrieben, die drohen, über die Grenzen reformistischer gewerkschaftlicher Lösungen hinauszugehen. Diese objektive Tatsache gibt Gewerkschaftsorganisationen einen widersprüchlichen Charakter. Auf der einen Seite widerspiegeln sie den selbstbeschränkenden Reformismus eines reinen gewerkschaftlichen Bewußtseins. Andererseits verkörpern sie episodenweise das revolutionäre Potential einer Arbeiterklasse, die zur Anwendung von Streiks, Besetzungen und Streikposten gezwungen ist. Sie können daher als „Kriegsschulen“ der Arbeiterklasse dienen.

Dieser widersprüchliche Charakter der Gewerkschaftsorganisationen offenbart sich auf mannigfaltige Weise. Selbst mit der Ausdehnung des Proletariats in die halbkoloniale Welt organisieren die Gewerkschaften weiterhin nur eine Minderheit der internationalen Arbeiterklasse. Die etablierten Bürokratien sind bei der Integration neuer Arbeiterschichten durch konservative Trägheit gekennzeichnet. Sie sind ängstlich besorgt, daß der Zustrom solcher Arbeiter ihre Privilegien und ihr ruhiges Leben gefährden könnte. Tendenziell organisieren die Gewerkschaften die Arbeiteraristokratie, die besser ausgebildeten und privilegierten Teile der Klasse. Sie widerspiegeln den Gruppenegoismus und das enge handwerklerische Bewußtsein dieser Schichten. Sie neigen im Namen der Neutralität zu einer selbstschädigenden Enthaltsamkeit in der Politik, obwohl die Gewerkschaftsführung oft gleichzeitig bei Wahlen die Stärke der Gewerkschaften reformistischen oder liberalen bürgerlichen Parteien ausliefert.

Im wesentlichen werden Gewerkschaften von einer reformistischen Bürokratie dominiert, die sich in den imperialistischen Ländern während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus der Arbeiteraristokratie entwickelte und sich vor allem auf die organisierten Facharbeiter stützte. In vielen Halbkolonien entstand ebenfalls eine Bürokratie, auch hier aus der Arbeiteraristokratie. Doch ist sie kleiner und genießt weniger materielle Privilegien als die der imperialistischen Länder. Sie wurde von bürgerlich- nationalistischen oder reformistischen Kräften gefördert, die sich so eine soziale Basis zu sichern hofften (wie in Mexiko und Argentinien). In anderen Ländern, wo sich entweder noch keine Arbeiteraristokratie entwickelt hat oder diese noch zu schwach ist, um die Gewerkschaften oder reformistische bzw. nationalistische Parteien zu beeinflussen, entstand eine reformistische Bürokratie oft durch Verbindungen mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung und durch die materielle Hilfe der Bürokratien in den imperialistischen Ländern.

Die Gewerkschaftsbürokratie ist eine besondere Kaste, die ihre Position und ihre materiellen Privilegien (wie gering sie auch immer sein mögen) ihrer Rolle als Unterhändler im Klassenkampf zwischen den Arbeitern und ihren Bossen verdankt. Ihre privilegierte Position geht oft einher mit ihrer Einbindung in untere Ebenen des kapitalistischen Staates. Um diese Positionen aufrechtzuerhalten, hat sie ein objektives Interesse an der Erhaltung des Systems der Klassenausbeutung und beschränkt und verrät daher die Klassenkämpfe. Sie handelt also als Feldwebel der Kapitalisten in der Arbeiterklasse und ist ein verschworener Feind des militanten Klassenkampfes und einer echten Arbeiterdemokratie.

Im Gegensatz dazu hat die Gewerkschaftsbasis kein objektives Interesse an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ausbeutung. In den Momenten verschärften oder verallgemeinerten Klassenkampfes erweisen sich die Bestrebungen der Arbeiter an der Basis als das genaue Gegenteil der Methoden der Bürokratie. Im Angesicht der Attacken von seiten ihrer Bosse greifen die Arbeiter zu direkten Aktionen zur Verteidigung ihrer Interessen. Sie versuchen, die sektoralen Verschiedenheiten in ihren Reihen zu überwinden, die Unorganisierten zu organisieren und sich mit Arbeitern anderer Industrien und Gewerkschaften zu vereinigen. Im Gegensatz zur notorischen „Neutralität“ ihrer Bürokratie gibt es unzählige Beispiele, wo Arbeiter an der Basis ihre Organisationen für eindeutig politische Ziele zu nutzen versuchten. Die grundlegenden Interessen der Gewerkschaftsbasis sind daher nicht einfach verschieden von denen der Bürokratie, sondern ihr genaues Gegenteil.

Um dieses elementare Klassenbewußtsein der Gewerkschaftsbasis zu revolutionärem Bewußtsein zu entwickeln, ist es notwendig, für eine revolutionäre Umwandlung der Gewerkschaften zu kämpfen. Entweder werden Gewerkschaften zu Instrumenten der Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Interessen des Kapitals, oder sie werden zu Instrumenten des revolutionären Kampfes gegen den Kapitalismus. So etwas wie Neutralität der Gewerkschaften im Klassenkampf kann es nicht geben. Das Ergebnis des Kampfes für die Umwandlung der Gewerkschaften hängt in erster Linie von der organisierten Stärke des revolutionären Kommunismus in ihnen ab. Wir sind bestrebt, kommunistische Fraktionen in den Gewerkschaften aufzubauen, die von Mitgliedern und Sympathisanten der revolutionären Partei gebildet werden und auf der Grundlage eines revolutionären Programms offen um die Gewerkschaftsführung kämpfen.

Um unser Ziel der Entmachtung der Bürokratie zu erreichen, befürworten wir oppositionelle Basisbewegungen, die der Basisdemokratie, der jederzeitigen (Ab-)Wählbarkeit und Verantwortlichkeit aller Funktionäre und einem Klassenkampfprogramm verpflichtet sind. Wir bekämpfen alle Beschränkungen der Basisdemokratie, jede von der Bürokratie erzwungene Spaltung, alle Versuche, die Gewerkschaften politisch „neutral“ zu halten oder genauer, sie von revolutionärem Einfluß freizuhalten. Wir leisten Widerstand gegen alle Versuche, Revolutionäre und Militante mit bürokratischen Mitteln aus Gewerkschaftsorganen zu jagen. Wir bekämpfen alle Bemühungen, die Kämpfe der Arbeiterklasse zu verraten beziehungsweise sie um ihren Erfolg zu bringen. Wir verteidigen die Rechte der gesellschaftlich Unterdrückten (Frauen, Jugendliche, sexuelle und rassische Minderheiten) auf eigene getrennte Treffen. Wir treten für die Einheit der Gewerkschaften auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis und für Industriegewerkschaften ein.

Die Taktik der oppositionellen Basisbewegung (nach dem Modell des „Minority Movement“ 1920 in Britannien) widerspricht nicht dem Ziel, eine kommunistische Gewerkschaftsfraktion zu bilden. Sie ist eine Bewegung, in der die Kommunisten eine Fraktion bilden, aber durch die sie gleichzeitig versuchen, eine Massenkraft zu werden und auf der Grundlage eines Aktionsprogramms von Übergangsforderungen die Führung der Gewerkschaften zu übernehmen. Sie ist eine Form der Einheitsfront, die dort notwendig ist, wo Kommunisten eine Minderheit darstellen, aber gleichzeitig die Möglichkeit der Mobilisierung nicht-kommunistischer Arbeiter besitzen.

Die Geschichte des reformistischen Verrats und die Einbindung einiger Gewerkschaften in den bürgerlichen Staat hat viele Sektierer dazu geführt, die Massenorganisationen preiszugeben und „saubere“Gewerkschaften oder „rote Gewerkschaften“ aufzubauen, die weder die Massen noch irgendwelche bedeutenden Teile der Arbeiterklasse miteinschließen. Diese Politik der ‚Doppelgewerkschaften‘ ist in Wirklichkeit eine Form der feigen Enthaltung. Sie überläßt die Massen der verräterischen Bürokratie. Sie beläßt sie unter deren Einfluß und damit zur Niederlage verdammt. Unsere Politik ist es daher nicht, uns von den reformistischen Massengewerkschaften abzuspalten anstatt darin für eine revolutionäre Führung zu kämpfen. Wir kämpfen in ihnen für die volle politische und organisatorische Unabhängigkeit vom Staat und den Unternehmern. Arbeitermilitante sollten sogar in vom Management oder vom Staat kontrollierten Gewerkschaften arbeiten, wenn diese die Masse der Arbeiter organisieren; und zwar mit dem Ziel, die Massen zum Bruch mit diesen Gewerkschaften zu führen und tatsächliche Arbeitergewerkschaften zu bilden. Wir sind andererseits keine Fetischisten der Gewerkschaftseinheit. Wir sind sehr wohl bereit, Gewerkschaften zu spalten, die tatsächlich Streikbrecherorganisationen geworden sind. Insbesondere lehnen wir jede Verbindung mit Gangster-Syndikaten oder Politikern offen bürgerlicher Parteien ab, die sich als „Freunde der Arbeiter“ darstellen wollen.

Auch sind wir keine Gewerkschaftsfetischisten. Gewerkschaftsorganisationen vereinigen notwendigerweise breite Schichten. Sie sind uneinheitlich und umfassen sowohl fortgeschrittene als auch noch wenig entwickelte Teile der Arbeiterklasse. Sie können daher nicht die politisch geschulte Avantgarde ersetzen – die revolutionäre Partei. Im Gegensatz zu den Syndikalisten und Trade- Unionisten sehen wir in Gewerkschaften keinen Selbstzweck und keinen Ersatz für die Partei und die Arbeiterräte. Denn nur die Partei kann die strategischen Interessen des Proletariats in seiner Gesamtheit vertreten. Und nur die Partei kann die vielen Bewegungen des Klassenkampfes zur Niederlage des kapitalistischen Systems selbst hinführen. Gewerkschaften, selbst wenn sie von Revolutionären geführt werden, stellen für uns nur ein Instrument unter vielen dar, um unser Ziel zu erreichen – die sozialistische Revolution. Nur der Sieg der Partei und ihres Programms in den Gewerkschaften, genauso wie in allen anderen Organisationen des Massenkampfes, garantiert einen bleibenden Sieg des Proletariats über das Profitsystem.

Arbeiterkontrolle und Fabrikkomitees

Das kapitalistische Ausbeutungssystem erfordert, daß die Bosse jeden Aspekt des Produktionsprozesses kontrollieren. Die Suche nach höherer Produktivität und höheren Profiten gefährdet die Sicherheit, ruiniert die Gesundheit und intensiviert die Ausbeutung. Die Arbeiterklasse ist daher zunehmend gezwungen, auf die kapitalistische Kontrolle mit Arbeiterkontrolle zu antworten, um selbst grundlegende und begrenzte Forderungen durchzusetzen. Aus diesem Grund stellt die revolutionäre Avantgarde den Kampf für Arbeiterkontrolle in den Mittelpunkt ihrer Propaganda und Agitation. Gegen die kapitalistische Ausbeutung kämpfen wir für die Arbeiterkontrolle über die Produktion. Kurz gesagt heißt das, daß wir uns ein Vetorecht über die Pläne und Aktionen der Bosse in jedem Teil der Produktion vorbehalten, von den grundlegendsten Dingen (Arbeitstempo, Recht auf Pausen) bis auf die Ebene der Verwaltung der Fabrik (Zahl der Beschäftigten, Bezahlung der Löhne, Art der Produktion). Wir lehnen aber die tausendundein Schemata von Arbeitermitbestimmung kategorisch ab. Diese sind nur dazu entwickelt worden, um die Arbeiterklasse zu täuschen und in die Mechanismen des Kapitalismus zu integrieren, und sie versuchen, die Arbeiter dazu zu verführen, Verantwortung für das Versagen der kapitalistischen Produktion zu übernehmen. Sie sind darauf ausgerichtet, Absprachen für Angriffe auf Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen abzusichern.

Die Arbeiterkontrolle auf der Ebene der Fabrik ist unvollständig, wenn sie nicht auf die gesamte kapitalistische Produktion ausgeweitet wird. Die Kapitalisten halten ihre Geschäftsbücher und Konten streng geheim vor den Arbeitern (wenngleich nicht untereinander). Dadurch täuschen und manipulieren sie die Arbeiterklasse. Wir kämpfen daher gegen den Schwindel des Geschäftsgeheimnisses, für die Öffnung aller Geschäftsbücher der Kapitalistenklasse – ihrer Firmen, ihrer Gesellschaften, ihrer Banken und ihres Staates – und für die Untersuchung durch die Arbeiter und Arbeiterinnen selbst. Das Ziel dieser Kontrolle ist nicht, eine Niederlage zuzugestehen, falls sich dieses oder jenes Unternehmen tatsächlich als bankrott erweist. Der Ruin individueller Kapitalisten ist nicht unsere Schuld. Und auch nicht unsere Sorge. Nein: Die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses ist darauf ausgerichtet, den Bankrott des gesamten kapitalistischen Systems darzulegen, seinen Betrug und sein Mißmanagement der Wirtschaft, seinen Parasitismus, seine Tendenz, den Reichtum zu vergeuden, den die Arbeiter schaffen, und seine extrem ungerechten Methoden der Verteilung dieses Reichtums.

Aber die seit 1945 stark ausgeweitete Anwendung von Wissenschaft und Technik in der Produktion verlangt immer weiter reichende Formen der Arbeiterkontrolle. Da Wissenschaft und Technik vom Kapital organisiert werden, werden Ziel und Auswirkung der Einführung neuer Technologien immer mehr vor den Arbeitskräften verborgen. Sie erlangen davon nur bei Rationalisierungen, durch Sicherheitsrisiken, bei der Intensivierung der Arbeit und durch die verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt Kenntnis. Die Frage der Arbeiterkontrolle über die technische und wissenschaftliche Planung des Staats und der Unternehmer kann sogar eine Frage des Überlebens werden – nicht nur für die Arbeitskräfte, sondern auch für die umliegenden Gemeinden. Das zeigte sich immer wieder, sei es nun in Bhopal oder Tschernobyl. Die Arbeiterkontrolle über den technischen und wissenschaftlichen Apparat bedeutet auch, daß die Arbeiter die Trennung von Hand- und Kopfarbeit überwinden. Ein diesbezüglicher Erfolg wird es ermöglichen, daß technische und wissenschaftliche Arbeiter und Arbeiterinnen dafür gewonnen werden, mit den Fabrikarbeitern in Arbeiterkontrollkomitees zusammenzuarbeiten.

In der imperialistischen Epoche haben die Tendenzen zur verstärkten staatlichen Regulation der Industrie verschiedene Reformisten und Zentristen dazu geführt, alternative Produktionsschemata innerhalb des Kapitalismus zu entwickeln. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wurden sogar aufgerufen, unter der Aufsicht reformistischer oder nationalistischer Regierungen bestimmte Unternehmen zu „managen“. Die alternative Planung im Kapitalismus ist aber eine Utopie. Natürlich entwickeln wir in Zeiten tiefer ökonomischer und sozialer Krisen einen Aktionsplan für eine revolutionäre Arbeiterregierung zur Lösung dieser Krisen. Aber selbst der elementarste Plan muß auf der Arbeiterkontrolle über die Produktion im nationalen Maßstab basieren, wenn er einen Fortschritt gegenüber kapitalistischem Chaos und Sabotage bringen soll. Es bedeutet, die Rolle frommer Berater des bankrotten kapitalistischen Systems zu spielen, solch einen Plan vom revolutionären Kampf für Arbeiterkontrolle zu trennen und ein Arbeitermanagement auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft zu befürworten. Die Arbeiterkontrolle ist kein Mittel, eine sozialistische Planwirtschaft durch die Hintertür einzuführen. Sie muß vielmehr den revolutionären Kampf um die Macht in der ganzen Gesellschaft beflügeln und dient so als Voraussetzung des Arbeitermanagements für die Zeit nach dem Sieg der Revolution.

Die reformistisch geführten Gewerkschaften sind bestenfalls nur teilweise dazu geeignet, die Arbeiterkontrolle über die Produktion auszuüben. Die Berufsgruppentrennung in den Fabriken, die oft durch auf dieser Trennung basierende Gewerkschaftsorganisationen wiedergespiegelt und befestigt wird, begrenzt die Fähigkeit dieser Gewerkschaften, die Kontrolle über die Produktion auszuüben. Abgesehen von speziellen Kontrollkommissionen, die ad hoc für bestimmte Ziele eingerichtet werden, ist das Fabrikkomitee die beste Organisationsform, um den Kampf für die Arbeiterkontrolle zu führen. Das Fabrikkomitee ist in der Lage, alle Arbeitskräfte zu vereinigen, diese auf den täglichen Kampf um Kontrolle zu orientieren und die Macht des Managements herauszufordern, indem darin alle Arbeiter und Arbeiterinnen einer Fabrik – unabhängig von Beruf, Abteilung und Gewerkschaftsmitgliedschaft – organisiert werden. Weiters kann das Fabrikkomitee im Kampf für die Umformung der Gewerkschaften in klassenkämpferische Industriegewerkschaften eine Rolle spielen. Das Fabrikkomitee muß direkt-demokratisch aufgebaut sein, das heißt, daß die Delegierten, die auf Abteilungs- und Massenversammlungen gewählt werden, jederzeit abwählbar sind und in täglichem Kontakt mit den Arbeitern und Arbeiterinnen stehen.

Als „inoffizielle“ Organe werden die Fabrikkomitees gleichermaßen von den Bossen und Bürokraten angegriffen und sabotiert werden. Der Grund dieser Feindschaft ist ihre Möglichkeit, Kampforgane des Proletariats zu sein. Die Fabrikkomitees sind (so wie die Fabriksbesetzung) eine Herausforderung für das Recht des Managements auf Leitung, die unantastbare Natur des Privateigentums und für die Macht der Gewerkschaftsbürokratie über die Arbeitenden. Sie etablieren eine Doppelmachtsituation in der Fabrik, und ihre Existenz stellt die Frage: Wer herrscht in der Fabrik – die Arbeitenden oder die Bosse? Daher sind sie für Perioden intensiven Klassenkampfes charakteristisch. Und genauso wie die Doppelmacht in der Gesellschaft nicht für längere Zeit aufrechterhalten werden kann, kann sie dies auch in der Fabrik nicht. Das Fabrikkomitee ist gezwungen, den Kampf für Arbeiterkontrolle immer kühner voranzutreiben. Wenn das nicht der Fall ist, riskiert es seinen Zerfall oder seine Vereinnahmung.

In Österreich und Deutschland entstanden nach dem ersten Weltkrieg Fabrikkomitees als Kampforgane. Aber die Niederlage der Revolution führte zur Umwandlung dieser Komitees in Organe der Kollaboration mit den Bossen. Diese Komitees werden von der Gewerkschaftsbürokratie und der Bourgeoisie als Stützen des sozialen Friedens verwendet. Diese Erfahrung zeigt gerade die Gefahr der Vereinnahmung auf, wenn sich das Fabrikkomitee nicht in revolutionäre Richtung entwickelt. Wo keine Fabrikkomitees existieren, müssen sie von Anfang an als Kontrollorgane der Arbeiterinnen und Arbeiter aufgebaut werden. Wo sie als Organ bürokratischer Kontrolle existieren, müssen sie zur Gänze transformiert werden, um die Rolle von Arbeiterkontrollorganen zu spielen.

Verteidigt die Umwelt durch Arbeiterkontrolle

Alle Produktionsweisen haben zur Störung der Umwelt geführt. Der Kapitalismus aber hat in der imperialistischen Epoche eine Zerstörung auf einer qualitativ neuen Stufe möglich gemacht. Die kapitalistische Produktionsweise hat ein Umweltproblem hervorgebracht, das sowohl physische Beschädigungen (an lebenden Organismen, Ökosystemen und der Ozonschicht) als auch die daraus folgenden sozialen und psychischen Auswirkungen für die Menschen einschießt (Krankheit, Hunger, psychischer Streß). Die Verbindung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt hat die Möglichkeit von Überfluß für die gesamte Menschheit hervorgebracht. Aber das nach wie vor bestehende Privateigentum an den Produktionsmitteln führte im Kontext einer von den imperialistischen Mächten beherrschten Welt zu einer vierfachen Bedrohung der Menschheit: Sie wird durch einen möglichen Nuklearkrieg von ihrer vollständigen Ausrottung bedroht; das Regenerationsvermögen der natürlichen Umwelt wird durch die rücksichtslose Zerstörung lebenswichtiger Teile des Ökosystems aufs Spiel gesetzt; die Bevölkerung wird durch die unzureichende Kontrolle der Anwendung gefährlicher Substanzen und Prozesse gefährdet; die sozialen Folgen der weltweiten Arbeitsteilung des Imperialismus trieben Millionen in den Hungertod und machten die Verstädterung zur ökologischen Gefahr.

In den degenerierten Arbeiterstaaten hat die Herrschaft der Bürokratie zu ähnlichen Konsequenzen geführt. Diese Kaste greift auf Produktionsmethoden zurück, die auf eine kurzfristige Maximierung des Outputs ausgerichtet sind. Die langfristigen Auswirkungen auf die Umwelt bleiben unberücksichtigt. Ähnlich der Bourgeoisie hat auch die Bürokratie die Wissenschaften weiterentwickelt. Aber sie steht ihren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Massen und den Folgen ihrer Anwendung auf die Produktion gleichgültig gegenüber. Auch in den degenerierten Arbeiterstaaten erfordert ein grundlegender Fortschritt auf diesem Gebiet den Sturz der herrschenden Macht.

Obwohl das Proletariat und die kleinen Bauern am meisten unter den zerstörerischen Folgen des Kapitalismus litten und leiden, waren es Teile des städtischen Kleinbürgertums und der Intelligenz in den imperialistischen Ländern, die die gegenwärtige Gefahr als erste in größerem Maßstab erkannten. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre vervielfachte sich die Anzahl von Ein- Punkt-Kampagnen beispielsweise in der BRD und in Österreich, aber später auch in Frankreich und Italien. Diese mündeten schließlich in eine breite Ökologiebewegung. Diese Bewegungen waren vorwiegend vom Kleinbürgertum getragen. Erstmals wurden ihre Wohngegenden, ihre Kinder und ihre Gesundheit bedroht. Aufgrund ihrer sozial und kulturell privilegierten Position waren sie in der Lage, die Umwelt zum politischen Thema zu machen. Einige von ihnen beleuchteten sogar die Folgen für die halbkolonialen Ländern. Die Politik dieser kleinbürgerlichen Schicht war zwar begrenzt, aber fortschrittlich, da sie das Problem der Umweltzerstörung in einer systematischen Form stellte. Sie führte Massenmobilisierungen durch und die Ökologie-Frage gewann als deren Folge erstmals Einfluß auf das öffentliche Bewußtsein. Außerdem gelang es ihnen, eine bedeutende Anzahl von qualifizierten und gut bezahlten Arbeitern und Arbeiterinnen einzubeziehen. Die großteils utopischen, sogar offen reaktionären Antworten dieser Bewegungen ändern nichts an der fortschrittlichen Rolle, die sie angesichts reformistisch dominierter Arbeiterorganisationen spielten, die in dieser Frage selbstzufrieden an der Seite ihrer Bourgeoisie standen.

Die von den Umweltschützern vorgeschlagenen Lösungen griffen weder die Herrschaft des Privateigentums an Produktionsmitteln noch die des bürgerlichen Staates an. Das spiegelt die soziale Lage des Kleinbürgertums und der Intelligenz wider. Die von ihnen vorgeschlagenen Strategien und Taktiken waren – abgesehen von ihrer häufigen Ineffektivität – auch Ablenkungen von der notwendigen Aufgabe, die soziale und ökonomische Macht der Arbeiterklasse zu mobilisieren. Aber wo diese Bewegungen Mobilisierungen initiierten, die die Interessen der Arbeiterklasse verteidigen oder vorantreiben, dort sind gemeinsame Aktionen der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen mit diesen kleinbürgerlichen Bewegungen notwendig. Unser Ziel ist, deren fortgeschrittenste Elemente für eine proletarische Orientierung zu gewinnen und folglich die kleinbürgerliche Bewegung zu spalten.

Die Arbeiterklasse hat ein lebendiges Interesse daran, die Gefährdung der Umwelt durch den Imperialismus zu bekämpfen. Während seiner ganzen Geschichte hat das Proletariat für den Stopp gefährlicher Produktionsmethoden und den Kapitalisten die Einführung von Sicherheitsstandards aufgezwungen. Die Arbeiterklasse hat dadurch in diesen Bereichen Ziele verwirklicht, die zur Schaffung einer bewohnbaren Umwelt für die Lohnabhängigen führte. Wiewohl dieser Kampf fortgesetzt und intensiviert werden muß, kann er niemals dauerhaft gewonnen werden, ohne den Kapitalismus selbst zu stürzen. Die erfolgreichsten Kampfmethoden – selbst für unmittelbare Verbesserungen – sind die Methoden des Klassenkampfes, sei es auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene. Trotz der häufigen Gleichgültigkeit der momentanen Gewerkschaftsführung ist es entscheidend, daß der Kampf für eine proletarische Antwort auf die Umweltfrage in die Massenorganisationen der Arbeiterklasse getragen wird. Das ist ein integraler Bestandteil des Kampfes, den Reformisten die Gewerkschaftsführung zu entreißen. Um sicherzustellen, das die Arbeiter und Arbeiterinnen Zugang zur Beratung mit unabhängigen Experten und Expertinnen haben, fordern wir die Bildung von Beratungskommissionen für Umweltschutz- und Sicherheitsbelange in den Gewerkschaften.

Gegen gefährliche Prozesse und Praktiken in den Werken kämpfen wir dafür, daß Fabrikkomitees und Gewerkschaften ein Veto einlegen und die Einführung von sichereren Technologien oder Arbeitsbedingungen auf Kosten des Profits überwachen. Wo die Gefahr über das Unternehmen hinausgeht, treten wir für die direkte Aktion der Arbeiter und Arbeiterinnen des Werks und der örtlichen Gemeinde mit dem Ziel ein, die Regierung zu zwingen, die Verwendung sichererer Methoden und Materialien vorzuschreiben. Wo die Bosse oder ihr Staat die Gefahr leugnen oder wirtschaftliche Rentabilität zur Verteidigung gefährlicher Fabriken ins Treffen führen, rufen wir zur Offenlegung aller relevanten Geschäftsbücher und Protokolle für eine Arbeiteruntersuchung auf. Wir weisen die Forderung nach unmittelbarer Schließung aller Atomkraftwerke zurück. Das heißt aber nicht, daß wir die Gefahren ignorieren, die Atomkraftwerke verursachen. Der Forderung nach unmittelbarer Schließung stellen wir die nach einer Untersuchung durch die Arbeiter oder durch von ihnen ausgewählte Repräsentanten gegenüber. Die revolutionäre Partei präjudiziert die Entscheidung einer solchen wissenschaftlichen Untersuchung nicht. Wir unterstützen die Mobilisierung der Arbeiterklasse zur Forderung und Durchsetzung der Schließung, wo eine Arbeiteruntersuchung oder eine Kommission der Arbeiterbewegung die Schließung empfiehlt oder wo akute und unmittelbare Gefahr gegeben ist. In diesen Fällen fordern wir die Erhaltung des Lebensstandards der dortigen Arbeitskräfte durch den Staat.

Wir kämpfen für Arbeiterkontrolle über Forschung und Planung der wissenschaftlich-technischen Institutionen der Unternehmen und des Staates. Das beinhaltet die Offenlegung der Art der Forschungs- und Entwicklungsprojekte und die Formulierung von darauf bezüglichen Gesundheits- und Sicherheitsforderungen. Weiters kann es auch bedeuten, im Zusammenhang mit einem Programm gesellschaftlich nützlicher, öffentlicher Arbeiten andere Forschungsziele durchzusetzen.

Für das Proletariat erschöpft sich die Ökologiefrage nicht in einem Kampf um vorbeugende Maßnahmen. Vieles wurde bereits zerstört und muß wiederhergestellt werden. Wir fordern daher, daß die Wiederherstellung einer lebenswerten Umwelt einen zentralen Platz im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher gesellschaftlicher Arbeiten einnimmt. So ist die Gewährleistung angemessene sanitärer Anlagen und sauberen Trinkwassers eine brennende Notwendigkeit für Millionen Slumbewohner. Integrierte regionale Wiederherstellungsprogramme sind in großen Teilen Afrikas, die in den letzten Jahren in Wüsten verwandelt wurden, dringend notwendig. Große Mittel müssen für die Konstruktion von Hochwasserdämmen in den Monsungebieten der Erde verwendet werden. Die Bourgeoisie muß gezwungen werden, die in diesen Programmen vorgesehenen notwendigen Reparaturen durchzuführen.

Zahlreiche Gefahren können nicht auf der Ebene der Veränderung oder Schließung einzelner Produktionsstätten gelöst werden. Luft- und Wasserverschmutzung, Zerstörung ganzer Ökosysteme durch Abholzung oder Monokulturen oder die vollständige Auslaugung natürlicher Ressourcen sind oft internationale Erscheinungen, auch wenn ihre Auswirkungen anfangs meist in einzelnen Ländern bemerkbar sind. Auf nationaler und internationaler Ebene treten wir für die Einführung gesetzlicher Sicherheitsstandards für die Umwelt ein – aber wir kämpfen für diese mit den Methoden des proletarischen Klassenkampfes und wir vertrauen den internationalen Agenturen des Imperialismus in keiner Weise, wenn es darum geht, diese Standards, selbst wenn sie eingeführt würden, durchzusetzen. Keine dieser Forderungen kann dauerhaft verwirklicht werden, ohne daß das Proletariat die politische und ökonomische Macht von den Kapitalisten errungen und eine demokratische internationale Planung etabliert hat. Nur auf diesem Weg kann der Gegensatz von Stadt und Land aufgehoben und die menschliche Produktion mit der Natur ausgesöhnt werden.

Enteignung und Nationalisierung

Das sozialistische Programm tritt für die vollständige Enteignung der Kapitalistenklasse, die Zerschlagung ihres Staates und die Etablierung der Arbeitermacht ein. In der imperialistischen Epoche wurde eine ganze Reihe staatskapitalistischer Verstaatlichungen entweder durch „konsensuale“ konservative und reformistische Regierungen in den imperialistischen Nationen oder durch nationalistische Regierungen in den Halbkolonien durchgeführt.

Im ersten Fall sind die staatskapitalistischen Nationalisierungen generell im Interesse der gesamten Kapitalistenklasse. Sie gewährleisten die Fortführung notwendiger wirtschaftlicher Bereiche, die für die individuellen Kapitalisten zu wenig profitabel sind. Diese stellen anderen Teilen der Wirtschaft üblicherweise Produkte und Leistungen zu geringen Kosten zur Verfügung. Sie sind auch eine Möglichkeit, bankrotte und schlechte Manager, die für ihre Inkompetenz mit ungeheuren Entschädigungen bezahlt werden, abzusichern.

In den Halbkolonien war die Verstaatlichung eine Methode, durch die eine schwache oder embryonale Bourgeoisie die Mittel zur Kapitalakkumulation, die zuvor in den Händen des Imperialismus waren, konzentrierte. Das war für das Wachstum der nationalen Bourgeoisie notwendig.

Obwohl diese oder jene Verstaatlichung einen Schlag gegen den Imperialismus bedeuten mag (Nasser in Ägypten, die Verstaatlichungen der Kupferminen in Chile unter Allende) oder Zugeständnisse an die Massen darstellen können, so führen sie keineswegs zur Enteignung des Kapitalismus. Vielmehr wird die Herrschaft der Kapitalistenklasse in einem bestimmten Sektor oder mehreren Sektoren der Wirtschaft durch den kapitalistischen Staat ausgeübt. Die Verstaatlichungen verführen die Massen zu dem Glauben, daß ihnen dieser oder jener Teil der Ökonomie „gehört“, obwohl diese Nationalisierungen nur eine betrügerische Methode der Verwaltung des Kapitalismus, nicht aber seines Sturzes ist. Gleichzeitig werden die Arbeiter und Arbeiterinnen staatlicher Unternehmen daran gehindert, irgendeine Kontrolle über die Produktion auszuüben.

Wo die Arbeiter und Arbeiterinnen aufgerufen werden mitzuverwalten, dient dies generell dazu, den Fortbestand der Unternehmen zu sichern oder das bürgerliche Regime zu retten, das die Verstaatlichungen durchgeführt hat, und sich in einem, wenngleich nur zeitweiligen Konflikt mit dem Imperialismus befindet (Mexiko in den 30er Jahren, Bolivien in den 50er Jahren). Dasselbe gilt für Managementbeteiligungen der Arbeiter und Arbeiterinnen in den kränkelnden Industrien und Werken. Dabei beuten sie sich oft unter der Maske von „Kooperativen“ selbst aus; sie werden gezwungen, beständig Lohnforderungen zurückzunehmen und Lohneinbußen hinzunehmen, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Sobald diese verstaatlichten Sektoren wieder profitabel sind, kennt der kapitalistische Staat keine Gewissensbisse, wenn er die einst nationalisierten Unternehmen zu Schleuderpreisen an Privatkapitalisten zurückgibt (Ägypten unter Sadat, Britannien unter Thatcher). Die Reformisten und Nationalisten werden keinerlei ernsthafte Aktion setzen, um diese Übergaben zu verhindern.

Trotz unserer Kritik an bürgerlichen Verstaatlichungen, stellt die Privatisierung, wie sie immer wieder von den Bossen versucht wird, einen Rückschritt dar, der auf Kosten der Arbeiterklasse durchgeführt wird. Das Proletariat wird dabei gezwungen, die Kosten der Privatisierung durch Arbeitslosigkeit und Lohneinbussen direkt zu bezahlen. Im allgemeinen gehen sie auf Kosten von Sozialleistungen, gewerkschaftlicher Organisations- und Mitspracherechte. Die Arbeiterklasse zahlt die Privatisierungen auch indirekt durch die Steuern, die ursprünglich für die Verstaatlichungen aufgewandt wurden. Wenn diese Unternehmen wieder verkauft werden, erhält die Arbeiterklasse im Gegensatz zu den ehemaligen Eigentümern, die für die Nationalisierung Entschädigungen erhielten, keine solchen von den neuen Bossen. Schließlich wird, allgemein gesprochen, die Aufgabe des Übergangs zum Sozialismus durch die Existenz privater Unternehmen erschwert.

Obwohl wir diese verstaatlichten Industrien nicht als sozialistische betrachten, bedeutet die Zentralisation in den Händen des Staates einen klaren Vorteil für einen Arbeiterstaat in der Übergangsepoche. Wir fordern daher von den Reformisten und Nationalisten in der Regierung, die behaupten, daß sie gegen Kapitalismus und Imperialismus seien, daß sie alle privaten Industrien ohne Entschädigung und unter Arbeiterkontrolle wieder verstaatlichen.

Im Gegensatz zu den Reformisten und Nationalisten und ihren Sonntagsreden treten wir für die Enteignung ein. Die Arbeiterklasse benötigt die politische Macht, um die ökonomische Herrschaft der Kapitalistenklasse zu zerstören. Trotzdem argumentieren wir schon heute für die unmittelbare Enteignung unter Arbeiterkontrolle und ohne Entschädigung für die Bosse, wo sie ein Werk oder eine ganze Industrie schließen wollen. Eine Verstaatlichung, die auf dieser Basis durchgeführt wird, zwingt alle Unternehmer, vermittelst des Staates, für die Krise ihres Systems zu zahlen. Wir schrecken auch nicht davor zurück, zur Enteignung ganzer Sektoren der Industrie oder der Infrastruktur (Transport, Energie und Trinkwasseraufbereitung) aufzurufen, um die Anarchie der kapitalistischen Produktion zu bekämpfen. Jeder Erfolg, den die Arbeiter durch das Erzwingen solcher Enteignungen machen, stellt sie vor die Notwendigkeit der Enteignung weiterer Teile der Wirtschaft, um die kapitalistische Sabotage der von den Arbeitern kontrollierten Industrien zu verhindern. Um das Monopol des Großkapitals über Information und Propaganda durch die sogenannte ‚freie Presse‘ zu brechen, stellen wir die Losung der Verstaatlichung der Zeitungs- und Fernsehgesellschaften und der anderen Medien unter Arbeiterkontrolle und ohne Entschädigung für die Medienbarone auf. Diese Maßnahme ist weit davon entfernt, eine freie Presse zu verhindern. Im Gegenteil: Sie ermöglicht den Arbeitern, die Kapitalisten am Verbreiten von Lügen, von Attacken auf Kämpfe der Arbeiter und von ekelhafter sexistischer, rassistischer und homosexuellenfeindlicher Propaganda zu hindern. Gleichzeitig verteidigen wir das Recht der Arbeiterorganisationen und ihrer politischen Parteien, ihre eigene Presse unabhängig von staatlicher Kontrolle zu organisieren.

Obwohl die Enteignung des gesamten Kapitals das strategische Ziel der Arbeiterklasse ist, muß das Proletariat der taktischen Wichtigkeit der Neutralisierung bestimmter Kleinkapitalisten und kleinbürgerlicher Eigentümer Rechnung tragen. Daher soll diese Schicht, die in den Halbkolonien oft zahlenmäßig sehr bedeutend ist, von ihren drückenden Schulden ans Finanzkapital befreit werden. Das Maß der Enteignung großer und kleiner Kapitale wird in einem jungen Arbeiterstaat einerseits durch den Rhythmus des Klassenkampfs im Land und international bestimmt und andererseits durch den Grad der Enteignungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Brechen des kapitalistischen Widerstands und zur Sicherung der ökonomischen Entwicklung notwendig sind. Analog dazu und vorausgesetzt, daß es möglich ist, können Entschädigungen an Kleinkapitalisten und kleinbürgerliche Investoren bezahlt werden, wenn das dazu beiträgt, diese Schichten zu neutralisieren.

Die Enteignung eines Teils der Industrie bringt die Arbeiter und Arbeiterinnen in Konflikt mit den Banken und Finanzhäusern, die den Geld- und Kreditfluß kontrollieren. Das wirtschaftliche Regime dieser Parasiten ruiniert nicht nur die Arbeiter, sondern auch Teile des städtischen Kleinbürgertums und der Bauern. Gegen ihre Sabotage treten wir für die Enteignung der Banken und Finanzhäuser ein. Nur dadurch können die Kredite für die Bauern und Bäuerinnen billiger gemacht werden. Nur dadurch können die bedeutendsten Rechnungsbücher der Gesellschaft für die aufmerksamen Augen der Arbeiter und Arbeiterinnen geöffnet werden. Nur so können die in zahlreichen unterdrückten Ländern angehäuften Schulden gestrichen werden, ohne eine plötzliche wirtschaftliche Erschütterung zu riskieren. Nur so können die Massen Schritte ergreifen, um die Plage der Hyperinflation zu beenden. Die Arbeiterkontrolle über die Banken und Finanzhäuser wird auch gewährleisten, daß die kleinen Sparer, die proletarischen Eigenheimbesitzer und die kleinen Bauern von den gierigen Finanziers nicht ausgepreßt werden.

Die Enteignung von Industriesektoren, der Banken und Finanzhäuser stellt einen Übergang zur vollständigen wirtschaftlichen Vernichtung der Kapitalistenklasse dar. Nur dann wird wirkliche Planung möglich sein, d.h. Produktion für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und nicht für den Profit. Die Ungleichgewichte zwischen einzelnen Teilen der Industrie, die für das System des Privateigentums charakteristisch sind, werden auf fortschrittliche Weise überwunden. Dasselbe gilt für die Gesellschaft, in der ständige Überproduktion mit unbefriedigten Bedürfnissen einhergeht, da nützliche Güter unverkauft bleiben, wenn sie keinen Profit erzielen. Doch die Enteignung der Kapitalistenklasse wird nur dann die Grundlage für eine sozialistische Planung sein können, wenn die Staatsmacht vollständig von den Händen der Kapitalisten und der stalinistischen Bürokratie in die der Arbeiter und Arbeiterinnen übergeht.

Von der Verteidigung der Streikposten zur Arbeitermiliz

Alle entscheidenden Konflikte in der Geschichte wurden letztendlich mit Waffengewalt entschieden. Die Reformisten, die über einen friedlichen Weg zum Sozialismus blöken, sind entweder naive Narren, die sich nicht bewußt sind, wie Geschichte „gemacht“ wird, oder zynische Diener der Bourgeoisie. Keine herrschende Klasse ist jemals kampflos von der Bühne der Geschichte abgetreten. Das Proletariat ist die einzige Klasse in der Geschichte, die ein Interesse an der Abschaffung aller Klassen hat. Um dies zu erreichen, muß es durch einen bewaffneten Aufstand seine Diktatur über die Ausbeuter errichten. Die Vorbereitung der Arbeiterklasse für den Aufstand durchläuft eine Reihe von Forderungen und Aktionen, die sich alle auf die Verteidigung der Arbeiterkämpfe und die Destabilisierung und Zerstörung der bürgerlichen Staatsgewalt konzentrieren.

Seit Beginn der kapitalistischen Gesellschaft wurde der Arbeiterklasse mit Gewalt entgegengetreten, wenn sie versuchte, für ihre Rechte am Arbeitsplatz zu kämpfen. Angesichts solcher Angriffe entwickelte sie ihr eigenes Mittel zur Verteidigung: die Streikpostenkette. Aus diesem Grund versucht der bürgerliche Staat diese auf einen ineffektiven Protest zu beschränken. Andererseits haben Arbeiter, die ernsthaft siegen wollen, versucht, aus den Streikposten eine Massenkraft zu machen, welche in der Lage ist, Streikbrecher, Firmengangster und ebenso die Staatspolizei zu verjagen. Aber egal wie groß sie ist, die Streikpostenkette ist unzureichend, sowohl um ihre unmittelbaren Ziele gänzlich durchzusetzen, als auch für die ausreichende Verteidigung der kämpfenden Arbeiter. Die Arbeiter müssen in jedem Kampf ihre eigene Verteidigung organisieren und so die Basis für die Arbeitermiliz zu schaffen.

Der erste Schritt dazu ist die Verteidigung der Streikpostenkette und der Fabriks- oder Landbesetzung. Jedesmal, wenn Arbeiter oder arme Bauern versuchen, ihren Willen durchzusetzen, wird ihnen mit Repression entgegengetreten. Die Agenten solch einer Repression variieren je nach Ort und Umständen. Aber gleichgültig, ob die Streikbrecher und ihre Drahtzieher die Polizei (wie in Westeuropa), die Armee (wie in vielen Halbkolonien) oder bezahlte Gangster und „Nationalgardisten“ (wie in den USA) sind, ihre Funktion ist die physische Zerschlagung der Streikpostenkette der Arbeiter und Arbeiterinnen. Unter Bedingungen extremer Krisen wird die Bourgeoisie Zuflucht zu faschistischen Banden nach dem Modell der „Schwarzhemden“ Mussolinis oder der „Braunhemden“ Hitlers nehmen oder zu geheimen „Todesschwadronen“, die mit den Streitkräften verbündet sind, um nach und nach die Kampfkraft der Arbeiterklasse zu brechen.

Die Streikbrecher lassen sich selbstbewußt auf diese Auseinandersetzung ein, weil sie wissen, daß sie das ganze Gewicht des bürgerlichen Staates hinter sich haben. Jedoch stehen ihre Erfolge in direktem Verhältnis zum Mangel an Organisation innerhalb der Arbeiterklasse und armen Bauernschaft. Besondere Einheiten von Streikenden, unterstützt von den Massen, aber speziell zum Zweck des bewaffneten Kampfes ausgebildet, können das Selbstvertrauen der Streikbrecher zerstören und diesen Mob in die Flucht schlagen. So kann die Streikpostenkette von einer bloßen Scheingeste oder einer schlecht organisierten Demonstration in eine disziplinierte und effektive Abteilung der proletarischen Armee umgewandelt werden. Damit können auch die ersten Elemente einer Arbeitermiliz versammelt werden. In allen Phasen dieses Kampfes sind wir für die Mobilisierung und Ausbildung von proletarischen Frauen, so daß jene eine vollwertige Rolle in den militärischen Organisationen der Arbeiterklasse spielen können.

Natürlich muß der Aufbau einer solchen Organisation mit der gebührenden Rücksichtnahme auf das vorhandene Bewußtsein der Massen und ihr erreichtes Niveau der Organisierung durchgeführt werden. Im Falle eines Streikes oder einer Besetzung sind Verteidigungstrupps notwendig. Sogar in „friedlichen“ Perioden des Klassenkampfes erkennen wir die Notwendigkeit, junge Kämpfer der Arbeiterklasse für die zukünftigen Auseinandersetzungen zu trainieren, und benutzen dazu alle möglichen Mittel und Organisationen. Aber unter keinen Umständen darf diese Aufgabe aufgeschoben werden. Verzögerung führt zur Niederlage – und die Niederlage zum Weiterbestand der Klassengesellschaft.

Für die Zerschlagung der bewaffneten Staatsmacht

Allein wird die Arbeitermiliz nicht in der Lage sein, die Macht des bürgerlichen Staates zu zerschlagen. Die bewaffneten Streitkräfte der herrschenden Klasse müssen sowohl von innen als auch von außen gebrochen werden. Jede revolutionäre Situation hat gezeigt, daß in einer entscheidenden Auseinandersetzung mit der Arbeiterklasse Teile der bewaffneten Streitkräfte (Polizei, Armee, Marine, Luftwaffe) schwankten und mit ihren kapitalistischen Auftraggebern brachen.

Das Wesen der Streitkräfte und Polizeiorganisationen ist in vielen Teilen der Welt unterschiedlich. Normalerweise bilden die Polizeikräfte den alltäglichen Repressionsapparat des kapitalistischen Staates. In Notfällen, in Situationen von Kriegsrecht und unter Militärregierungen wird auch die Armee die direkt repressive Rolle spielen. Deshalb stellen wir uns überall jener utopischen Idee entgegen, daß diese Organe bewaffneter Männer und Frauen demokratisiert, in eine neutrale Kraft oder in einen Verbündeten der Arbeiterklasse umgewandelt werden können. Sie müssen zerschlagen und durch eine Volksmassenmiliz auf der Grundlage der Arbeiter und armen Bauern ersetzt werden.

Jedoch erfordert die Verschiedenheit in Zusammensetzung und Organisation der Streitkräfte (Berufsheer oder allgemeine Wehrpflicht, arme bäuerliche oder proletarische Rekruten) verschiedene Taktiken, um sie zu zerbrechen. Aber alle diese Taktiken zielen darauf ab, die Kette zwischen Kommando und Gehorsam zu destabilisieren und zu sprengen. Zu diesem Zweck treiben wir den Klassenkampf innerhalb des Militärs voran. Das Offizierscorps bildet eine absolut unreformierbare und hingebungsvolle Vorhut der herrschenden Klasse gegen das Proletariat. Die Arbeiter müssen dafür kämpfen, die niederrangigen Soldaten und Unteroffiziere gegen die Autorität, die Privilegien und die Korruption dieser Kaste zu organisieren. Um diese Arbeit anzuleiten, bemühen wir uns, (geheime) kommunistische Zellen in den Streitkräften aufzubauen, welche an die einfachen Soldaten gerichtete Bulletins herausgeben.

Genauso wichtig wie die Untergrabung der Disziplin ist, daß Kommunisten und Kommunistinnen den berechtigten Groll der einfachen Soldaten unterstützen. Nur auf einer solchen Basis können wir hoffen, die repressive Rolle der Streitkräfte zu unterminieren und die einfachen Soldaten dazu zu gewinnen, sich mit der Arbeiterklasse zu solidarisieren, indem sie zum Beispiel ablehnen, Demonstrationen und Streikposten anzugreifen, oder sich weigern, Gefangene zu foltern. Deshalb fordern wir das Recht für die einfachen Soldaten und Polizisten, Gewerkschaften und politische Organisationen zu gründen, politische Literatur in Umlauf zu bringen und zu streiken.

Obwohl es nicht unsere Aufgabe ist, höhere Löhne oder bessere Bedingungen für die Armee oder Polizei des kapitalistischen Staates zu verfechten, unterstützen wir die Kämpfe der unteren Ränge, wo diese sie in einen fortschrittlichen Konflikt mit dem kapitalistischen Staat bringen. Zu diesem Zweck kämpfen wir für das Ende des Kasernierungssystems und für die Wahl aller Offiziere durch die niederen Ränge. Wir kämpfen für Tribunale dieser unteren Ränge, um Offiziere vor Gericht zu stellen, die der Brutalität, der Korruption, der Verschwörung und reaktionärer Anschläge bezichtigt werden. In vorrevolutionären Situationen agitieren wir dafür, daß die Soldaten Räte bilden und Delegierte zu den lokalen, regionalen und nationalen Räten der Arbeiter und Bauern schicken.

Solange jedoch die Polizei, die Gefängniswärter und die Armee unter dem ungebrochenen Kommando des bürgerlichen Staates bleiben, kommt es überhaupt nicht in Frage, ihren Gewerkschaften oder Organisationen Zutritt in die Reihen der Arbeiterbewegung einschließlich ihrer nationalen oder lokalen Gewerkschaftsverbände zu gewähren.

Im Kampf um die Zerstörung der bürgerlichen Streitkräfte gehen wir vom Grundsatz aus: Keinen Groschen, keine Person für dieses System! Wir verurteilen alle Arbeitervertreter, die für Militärbudgets oder Kriegskredite unter dem Vorwand der Verteidigung der Nation stimmen. Daraus folgt, daß wir gegen die Einberufung junger Arbeiter in das Heer der Bourgeoisie sind. Wir sind gegen die Einführung der Wehrpflicht und ihre Existenz. Aber wir sind dies nicht vom Standpunkt des Pazifismus aus. Wir sind für das Recht und die Möglichkeit aller, militärische Fertigkeiten zu lernen und Waffen zu tragen. Dies schließt das Recht der Frauen auf militärische Ausbildung in bürgerlichen Armeen ein. Nieder mit dem Monopol der Kapitalisten auf Gewaltmittel! Militärische Ausbildung sollte am Arbeitsplatz und in Gemeinschaften der Arbeiterklasse organisiert werden, unter Gewerkschaftskontrolle und in Verbindung mit Soldatenkomitees.

Wir unterstützen das Recht von einzelnen, sich zu weigern, zu den Streitkräften einberufen zu werden, aber solch einen Schritt zu propagieren, ist ein Akt von kleinbürgerlichem Pazifismus. Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen gehen in die Armeen, wo auch die Arbeiter zu finden sind, und arbeiten für die Revolution von innen her. Wo es Massenbewegungen gegen einen reaktionären imperialistischen Krieg gibt, die unter pazifistischer oder reformistischer Führung stehen, geben wir diesen kritische Unterstützung, insofern sie die Kriegsbemühungen behindern oder sabotieren. Aber wir betonen, daß Militärdienstverweigerungen die Bourgeoisie niemals ihrer bewaffneten Macht berauben werden.

Gegen bürgerlichen Militarismus, gegen imperialistischen Krieg!

Das Proletariat ist eine internationale Klasse, die keinerlei Interesse an der Verteidigung des bürgerlichen Nationalstaates hat. Deshalb müssen die Arbeiter und Arbeiterinnen in den imperialistischen Ländern in ihrem Defätismus unerschütterlich sein. Die leninistische Position, die zwischen 1914 und 1918 entwickelt wurde, behält vollständig ihre Gültigkeit. Revolutionärer Defätismus basiert auf dem Prinzip, daß der Hauptfeind der Arbeiterklasse die Bourgeoisie des eigenen Landes ist. Die Niederlage der „eigenen“ imperialistischen Bourgeoisie infolge des revolutionären Kampfs der Arbeiterklasse um die Macht ist ein geringeres Übel als ihr Sieg infolge von Klassenkollaboration und des Verzichts auf die proletarische Unabhängigkeit während des Krieges. Die Sozialchauvinisten, die Partei für den sozialen Frieden ergreifen, werden argumentieren, daß sich die Arbeiter und Arbeiterinnen während eines Krieges den Notwendigkeiten der „Nation“ beugen sollten, indem sie die Produktion beschleunigen und gesetzliche Beschränkungen des Streikrechts akzeptieren.

Wir müssen jedoch gegen eine Beteiligung der Arbeiterklasse an den Kriegsbemühungen kämpfen. Die Arbeiterorganisationen müssen den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln. Angesichts eines Krieges gegen eine Halbkolonie oder einen Arbeiterstaat müssen die Arbeiter dem Feind des Imperialismus Solidarität und Hilfe geben. In einem Konflikt mit einem Arbeiterstaat, egal wie degeneriert dieser ist und welche militärischen Waffen in diesem Konflikt angewendet werden (nukleare, biologische, chemische oder konventionelle Waffen), müssen ihn die Arbeiter gegen den imperialistischen Angriff verteidigen.

Außerhalb der imperialistischen Länder ist verallgemeinerter Defätismus nicht in jedem Konfliktfall die richtige Methode. Die konkreten Bedingungen werden verschieden sein, und die revolutionäre Avantgarde wird entweder für Defätismus oder für Verteidigung kämpfen müssen, was primär vom Charakter der kriegführenden Staaten abhängig ist. Innerhalb von Halbkolonien oder degenerierten Arbeiterstaaten, welche sich in Konflikt mit dem Imperialismus befinden, muß das Proletariat eine Verteidigungsposition beziehen. In Anbetracht von Kriegen zwischen Halbkolonien (Indien-Pakistan) oder zwischen degenerierten Arbeiterstaaten (China-Vietnam) sollten die Arbeiter auf beiden Seiten generell eine defätistische Position einnehmen, außer es ist der Fall, daß eine Seite ein Handlanger des Imperialismus ist und daß das internationale Proletariat durch den Sieg einer Seite gestärkt würde.

Das Proletariat verteidigt die Halbkolonien und Arbeiterstaaten nicht mit den gleichen Methoden wie die Bourgeoisie oder die Bürokratie. Die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse ist notwendig, um internationale Solidarität und die Niederlage der Imperialisten zu sichern. Selbst wo sich eine imperialistische Macht in einem militärischen Bündnis mit einem Arbeiterstaat befindet, behält das Proletariat in jenem imperialistischen Land seine defätistische Position bei und sollte unter keinen Umständen den Klassenkampf aussetzen. Nur wo die Fortführung einer bestimmten Aktion im Klassenkampf die Kriegsbemühungen des Arbeiterstaates direkt behindert, würde das Proletariat seine Aktion unterbrechen. Aber keinesfalls würde solch ein Ausnahmefall einen Aufschub der Politik des Defätismus in Bezug auf den imperialistischen Krieg und die kapitalistische Klasse signalisieren.

Die Existenz riesiger Arsenale atomarer Sprengköpfe, biologischer und chemischer Waffen, die in der Lage sind, die Menschheit mehrfach zu vernichten, erzeugen berechtigte Angst im Herzen von Millionen. Angesichts dieser Bedrohung predigen die sozialdemokratischen und stalinistischen Reformisten der Arbeiterklasse von weltweiter Abrüstung und der Verbannung des Krieges von der Erde. Es geht aber nicht abstrakt um die Frage der Abrüstung, sondern darum, wer entwaffnet werden soll und mit welchen Mitteln. Die Bourgeoisie wird nie kampflos ihre Waffen aufgeben. Sie muß vom revolutionären Proletariat gewaltsam entwaffnet werden. Indem versucht wird, die Arbeiter und Teile eben jener Bourgeoisie in einer Abrüstungskampagne zu vereinigen, wird die Illusion geschürt, daß die Herrschenden überzeugt werden könnten, jene Waffen aufzugeben, die sie zur Verteidigung ihres Monopols auf die Produktionsmittel besitzen. Tatsächlich gehen die ausgehandelten Abkommen zwischen den Imperialisten und den degenerierten Arbeiterstaaten, bestimmte Waffentypen zu reduzieren, Hand in Hand mit neuen Aufrüstungsrunden. Wie vor den beiden Weltkriegen können internationale Friedenskonferenzen ein Vorspiel des Krieges sein, indem sich jede Seite damit beschäftigt, propagandistische Schliche auszuarbeiten, welche die gegnerische Seite als den Feind des Friedens darstellen.

Wo immer jedoch die Pazifisten Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums in direkte Auseinandersetzungen führen, die das Militärprogramm der herrschenden Klasse untergraben, nehmen Revolutionäre und Revolutionärinnen an solchen Aktionen teil, während sie aber ihre vollständige Opposition gegen die utopische Politik der Pazifisten klarlegen und unser Übergangsprogramm mit Forderungen zu Krieg und Militarismus vorbringen.

Die Kriegsindustrie ist für die herrschende Klasse sehr profitabel. Wir kämpfen für die Veröffentlichung ihrer Geschäftsgeheimnisse, für die Beschlagnahme ihrer Militärprofite und für ihre Enteignung und Stellung der Produktionsmittel unter Arbeiterkontrolle. Indem die Bourgeoisie Kriegsvorbereitungen trifft, werden Geld und Leute in die Streitkräfte gepumpt. In Opposition zu ihren Rüstungsprogrammen fordern wir ein Programm nützlicher öffentlicher Arbeiten.

Sogar in Zeiten, in denen es keinen globalen Konflikt gibt, konstruieren die Imperialisten Pakte und Verträge zur Verteidigung ihrer Interessen und unterstützen sie durch die Androhung militärischer Intervention. Wir fordern die Auflösung aller imperialistischen Pakte und Verträge und ein Ende der Geheimdiplomatie. Alle Verträge und Abkommen sollten offengelegt und veröffentlicht werden.

Wir stellen die Forderung an die reformistischen bürgerlichen Arbeiterparteien, daß sie, wenn sie in der Regierung sind, Forderungen durchsetzen, die im Interesse jener Klasse sind, die sie zu vertreten beanspruchen. Wir verlangen den Rückzug aus NATO, ANZUS, SEATO, die Ablehnung der Militärbudgets und die Weigerung, Waffengewalt gegen die Arbeiter und unterdrückten Völker anzuwenden. Sie müssen die Forderung nach vollen demokratischen Rechten für Soldaten unterstützen, das Recht auf Gründung von Soldatenkomitees und -gewerkschaften anerkennen und Arbeiterinspektionen und -kontrollen der Kasernen unterstützen, die allgemeine Wehrpflicht abschaffen und das Recht der Arbeiter auf Bildung von Selbstverteidigungsorganisationen befürworten. Wir müssen den progressiven Wunsch der Arbeiter nach Frieden verwenden, um für solche Forderungen innerhalb der Arbeiterbewegung zu kämpfen, zugleich aber beharrlich vor der bankrotten Strategie des Pazifismus warnen. Der einzige Weg, die schreckliche Barbarei eines Atomkriegs zu verhindern, ist die internationale sozialistische Revolution.

Bürgerliche Demokratie und demokratischen Forderungen

Solange die soziale und politische Stabilität aufrechterhalten werden kann, ist die bürgerliche Demokratie die bevorzugte Herrschaftsform in den imperialistischen Ländern. Sie ist die spezifische Herrschaftsform, welche die Bourgeoisie in ihrer revolutionären Epoche als Mittel zur Gewinnung der Massen im Kampf gegen den Feudalismus, und um sich selbst politisch gegen die feudalen Stände zu konsolidieren, entwickelte. Mit dem Parlament wird eine demokratische Fassade errichtet, um die tatsächliche Diktatur der Bourgeoisie zu verbergen. Mittels der parlamentarischen Demokratie wirft die Bourgeoisie der Arbeiterklasse kleine Brocken hin, gewährt ihr das Recht, von Zeit zu Zeit zu wählen, und gliedert ihre Führung in die Verwaltung des bürgerlichen Staates ein. Durch die Medien und die Presse haben die Kapitalisten eine mächtige Propagandamaschinerie zur Verfügung, die imstande ist, für ganze Perioden die Massen zu täuschen und sie an die Illusion zu binden, daß unter diesem System das Volk herrsche.

Aber hinter der Fassade liegt die Realität der kapitalistischen Staatsmacht – die Exekutive: die ungewählte (oder, wenn sie gewählt ist, die nicht rechenschaftspflichtige) Richterschaft und Bürokratie, die Polizei und die Streitkräfte. Sobald die Kapitalisten meinen, daß ihr Eigentum oder ihre Herrschaft durch die Arbeiterklasse streitig gemacht wird, wird die volle Wucht des Repressionsapparats ins Spiel gebracht. Die Reformisten in der parlamentarischen Quatschbude sehen ohnmächtig zu, wenn Polizei und Armee Streikpostenketten durchbrechen und die Richter Gewerkschafter inhaftieren. Selbst wenn eine reformistische Mehrheit im Parlament versucht, die schwächlichsten Reformen im Interesse der Arbeiter und Arbeiterinnen durchzusetzen, wird sie von der Staatsbürokratie sabotiert, verwenden die Wirtschaftsmagnaten ihre finanzielle Kontrolle, um die Reformisten zu bescheidenem Gehorsam zu zwingen, und warten die Sicherheitsdienste und Streitkräfte jederzeit hinter den Kulissen, bereit einzugreifen, sollten die Dinge außer Kontrolle der Herrschenden geraten. Und in jeder bürgerlichen Demokratie werden in der Gestalt von Monarchen oder Präsidenten die potentiellen Instrumente einer bonapartistischen Herrschaft bewahrt.

Im imperialistischen Südafrika existiert die parlamentarische Herrschaftsform nur für die weiße Minderheit. Der Masse der Bevölkerung, den Schwarzen, werden die meisten elementaren demokratischen Rechte verweigert, und sie werden von einer unbarmherzigen Diktatur beherrscht. Unter Umständen wie diesen kann der Kampf der Arbeiterklasse für demokratische Rechte, selbst wenn diese an die bürgerliche Demokratie angeschlossen sind, als Sprengsatz für den revolutionären Kampf dienen. Aber während eine solche Revolution als demokratische beginnen kann, erfordert ihr Sieg ihre Umwandlung in eine sozialistische Revolution.

Die strategische Aufgabe der revolutionären Avantgarde besteht in der Zerstörung aller Formen bürgerlicher Herrschaft, einschließlich ihrer demokratischen Form. Zu diesem Zweck bemühen wir uns, die parlamentarische Attrappe vor der Arbeiterklasse zu entlarven und Organisationen proletarischer Demokratie zu schaffen. Allerdings wurden die gesetzlichen Rechte, welche die Arbeiterklasse in der bürgerlichen Demokratie erreichen konnte, den Herrschenden in Kämpfen abgerungen und stellen Errungenschaften dar, die gegenüber Angriffen von seiten der Kapitalistenklasse verteidigt werden müssen. Die wiederkehrenden Krisen der gegenwärtigen Periode zwingen die Kapitalisten, die von den Arbeitern erreichten demokratischen Rechte in Frage zu stellen. In der imperialistischen Epoche besteht immer eine Tendenz zur Negation der bürgerlichen Demokratie und ihrer Ersetzung durch bonapartistische, offen diktatorische Herrschaftsformen.

Diese Tendenz wird in allen imperialistischen Kernländern heftiger. Gewerkschaftsfeindliche Gesetze, die Beschneidung der Redefreiheit, die Fähigkeit, Gesetze mittels einer völligen Umgehung des Parlaments einzuführen, die Stärkung des Repressionsapparates; all dies stellt eine embryonale Form des Bonapartismus dar. In allen solchen Fällen kämpfen Revolutionäre für die Verteidigung der von der Arbeiterbewegung erreichten grundlegenden Rechte in der bürgerlichen Demokratie: das Streikrecht, die Redefreiheit, Zugang zu den Medien, das Recht auf Versammlung und Bildung von Vereinigungen. Mehr noch, wir verteidigen die parlamentarische Demokratie, wenn sie vom Bonapartismus bedroht wird und wo wir sie noch nicht durch proletarische Demokratie ersetzen können. Wir machen das nicht als Selbstzweck, sondern als ein Mittel, die gesetzlichen Rechte der Arbeiterklasse auf Organisierung zu bewahren und ihren Kampf gegen die Ausbeuter fortzusetzen.

Wir bekämpfen die „Mini-Apartheid“-artigen Beschränkungen der demokratischen Rechte, die überall in der Welt den immigrierten Arbeiter und Arbeiterinnen auferlegt werden. Diese Beschränkungen sind Mittel, um die Überausbeutung dieser Immigranten und die Spaltung der Arbeiterklasse eines Landes entlang rassischer oder nationaler Linien zu erleichtern. Indem wir uns auf die Prinzipien des revolutionären Internationalismus stellen, kämpfen wir für das Recht auf völlige Bewegungsfreiheit der Arbeiterschaft – gegen alle von den imperialistischen Ländern auferlegten Einwanderungs- und Auswanderungskontrollen, für das Recht aller Arbeiter und Arbeiterinnen auf volle demokratische Rechte, einschließlich des Wahlrechtes in dem Land, in dem sie leben und arbeiten. In den Halbkolonien sind wir gegen alle Einwanderungskontrollen und kämpfen für diese demokratischen Rechte, außer im Falle kolonialer Ansiedelungen. Wir sind gegen jegliche Nationalitätengesetzgebung, welche als Mittel zur Verfolgung und Unterdrückung der immigrierten Arbeiter und Arbeiterinnen dient.

Im Kampf um die Erreichung oder Verteidigung demokratischer Rechte wendet das Proletariat die Methoden des Klassenkampfes an. Das Streikrecht zum Beispiel wird in jenem Ausmaß erreicht und verteidigt, als die Arbeiterklasse bereit ist, die Waffe des Streiks im Kampf zu verwenden. Der Widerstand gegen die Einschränkung unserer Rechte, die Weigerung, sich vor dem kapitalistischen Klassengesetz zu beugen, die Bereitschaft zur Verwendung aller proletarischen Kampforganisationen und Kampfmethoden auf politischem Gebiet, das den Kampf für Wahlrecht einschließt; dies sind die nötigen Methoden, welche sicherstellen, daß die Arbeiterklasse aus dem Kampf für demokratische Rechte profitiert. Wie in allen Kämpfen wird die Opferung der unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse im Interesse einer Einheit mit „progressiven“ oder „demokratischen“ bürgerlichen Kräften fatal für das Proletariat und seinen Kampf für die sozialistische Revolution sein.

Unter Bedingungen einer tiefen sozialen Krise kann sich die Bourgeoisie, um ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse zu erhalten, einer faschistischen Bewegung zuwenden. Faschismus, eine reaktionäre Massenbewegung, welche sich hauptsächlich aus den Reihen des durch die Krisen des Kapitalismus zur Verzweiflung gebrachten Kleinbürgertums und Lumpenproletariats rekrutiert, hat die Zerstörung der unabhängigen Arbeiterbewegung und die Errichtung der durch keinerlei Elemente bürgerlicher Demokratie gehemmten Herrschaft des Finanzkapitals zum Ziel. Er ist der letzte Ausweg für die Bourgeoisie, nachdem sie in die Abschaffung ihrer eigenen parlamentarischen Vertretungen verwickelt wurde. Trotzdem, wie Nazi-Deutschland und Mussolini-Italien zeigen, ist er eine Maßnahme, die ergriffen wird, wenn die Situation es erfordert.

In den halbkolonialen Ländern kann sich der Faschismus als eine Bewegung entwickeln, die aus kommunalen Konflikten oder reaktionären klerikalen Bewegungen entsteht. Die Phraseologie solcher Bewegungen kann zeitweise antiimperialistisch sein. Aber dies sollte uns gegenüber dem antikommunistischen und arbeiterfeindlichen Charakter solcher Bewegungen nicht täuschen. Diese Rhetorik ist von derselben Beschaffenheit wie der demagogische Antikapitalismus der Nazis. Durch den Triumph eines Kommunalismus oder klerikalen Faschismus in den Halbkolonien wird die Herrschaft des Imperialismus aufrechterhalten oder sogar gestärkt werden.

Vom Augenblick des Entstehens dieses Faschismus an muß die Arbeiterklasse einen unbarmherzigen Kampf führen, um ihn zu zerschlagen. Auch wenn er seine allgemeineren Ziele verbirgt und sich darauf konzentriert, die giftigen Dämpfe des Rassenhasses zu verbreiten, muß zu seiner Bekämpfung die Arbeitereinheitsfront organisiert werden. Den Faschisten können keine demokratischen Rechte (wie z.B. Rede-, Presse- und Organisationsfreiheit) zugestanden werden. Indessen stellen wir nicht die Forderung auf, sie durch den bürgerlichen Staat verbieten zu lassen. Da die Bourgeoisie die eigentliche Stütze der Faschisten ist, kann ihr diese Aufgabe nicht anvertraut werden. Der Staat würde in Wirklichkeit die Verbote zur Entwaffnung und Behinderung des antifaschistischen Widerstandes verwenden. Die revolutionäre Avantgarde mobilisiert die Arbeiterklasse um die Slogans: Keine Plattform für Faschisten, werft die Faschisten aus den Arbeiterorganisationen hinaus. Wir setzen uns für eine physische Bekämpfung aller ihrer Mobilisierungen ein und organisieren Arbeiterverteidigungseinheiten, um faschistische Angriffe auf rassisch Unterdrückte und die Arbeiterbewegung zurückzuschlagen.

Der Kampf zur Verteidigung der demokratischen Rechte der Arbeiter und gegen den Faschismus bildet in keiner Weise eine vom gesamten Übergangsprogramm abgesonderte und getrennte Reihe von Aufgaben. Der Kampf gegen Bonapartismus und Faschismus kann schließlich nur gewonnen werden durch die Verwirklichung des Programms von Übergangsforderungen in ihrer Gesamtheit.

Wahltaktik

Die Arbeiterklasse kann die Macht nicht durch Parlamente und Wahlen erreichen. Es ist die Pflicht der Revolutionäre, den parlamentarischen Kretinismus erbarmungslos zu entlarven ohne dem wahlfeindlichen Kretinismus der Anarchisten nachzugeben. Revolutionäre benützen Parlamente als Tribünen, um die Massen anzusprechen. Diese bieten die Gelegenheit, wesentliche Punkte des kommunistischen Aktionsprogramms in Form allgemeiner Propaganda zu präsentieren.

Die beste Methode, diese Propagandamöglichkeit zu nutzen, ist es, Kandidaten der revolutionären Partei auf Basis ihres Programms aufzustellen. Wenn eine revolutionäre Kandidatur unmöglich ist, ist es zulässig, einer reformistischen oder zentristischen Partei, die organisch mit einem großen Teil der proletarischen Avantgarde oder der Volksmassen im allgemeinen verbunden ist, kritische Wahlunterstützung zu gewähren. Das Ziel der Wahl ist es, diesen Schichten zu sagen: Wir werden für eure Partei stimmen, trotz unseres völligen Fehlens an Vertrauen in ihre Führer und in ihr Programm, um euch zu helfen, ihre Handlungen, in und außerhalb der Regierung, zu testen. Wir fordern euch auf dafür zu kämpfen, daß eure Führer Maßnahmen setzen, die eindeutig im Interesse der Arbeiter sind, und daß sie mit der Bourgeoisie brechen. Diese Taktik erfordert es von Revolutionären und Revolutionärinnen, vollständige Kritik an Reformismus und Zentrismus, am Parlamentarismus, aber auch an der verräterischen Vergangenheit der jeweiligen Partei zu üben.

Wo nur klassenfremde Parteien oder hoffnungslos unbedeutende, reformistische oder zentristische Sekten bei den Wahlen antreten, sind wir verpflichtet, klassenbewußte Arbeiter dazu aufzurufen, „weiß“ zu wählen. Dies darf nicht mit einem Wahlboykott verwechselt werden, der als Taktik nur zulässig ist, wenn der revolutionäre Kampf der Arbeitermassen die Frage des Umsturzes des Parlaments als unmittelbare Perspektive stellt.

Die Arbeiter- und Bauernregierung und die Diktatur des Proletariats

Das strategische Ziel des Kampfes des Proletariats ist der Übergang zum Kommunismus. Um diesen Übergang zu verwirklichen, muß das Proletariat seine eigene Diktatur errichten. Wenn das Proletariat einmal die Staatsmacht errungen hat, kann es, wie es Anarchisten anstreben, nicht sofort auf diese verzichten. Auf nationaler und internationaler Ebene wird sich die Bourgeoisie verschwören und versuchen, die Konterrevolution zu organisieren. Die Arbeiterklasse ist verpflichtet, ihren Willen der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen, um die Revolution zu verteidigen und den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen. Sie übt ihre Klassendiktatur auf Basis ihrer eigenen – eindeutig proletarischen – Demokratie (Arbeiterräte, Fabrikkomitees, Arbeitermilizen) offen aus. Sie zentralisiert diese Demokratie in einer nationalen Regierung, einer revolutionären Arbeiter- oder Arbeiter- und Bauernregierung. Die einzige konsequent revolutionäre Arbeiter- oder Arbeiter- und Bauernregierung ist die, welche die Diktatur des Proletariats ausübt.

Dennoch treten in der Übergangsperiode Krisen auf, welche die Machtfrage für das Proletariat stellen, bevor seine Mehrheit für die revolutionäre Partei gewonnen wurde. In diesen Situationen erwartet die Arbeiterklasse selbstverständlich von ihrer aktuellen Führung, falls diese an der Regierung ist, die Erlassung eines Programms in ihrem Interesse.

Unter solchen Umständen benutzten die Bolschewiki – und entwickelte die Komintern – die Losung der Arbeiter- sowie Arbeiter- und Bauernregierung. Das wesentliche an der Taktik der Bolschewiki in Bezug auf die provisorische Regierung war es, von den kleinbürgerlichen Führern der Arbeiter (Menschewiki) und der Bauern (Sozialrevolutionäre) zu verlangen, mit der Bourgeoisie zu brechen und in den Kampf für eine wirkliche Arbeiter- und Bauernregierung einzutreten.

Revolutionäre und Revolutionärinnen verlangen nicht nur einen formalen Bruch mit den bürgerlichen Parteien, die an der Regierung sind, sondern auch, daß die Führer der Arbeiter und Arbeiterinnen sofortige Maßnahmen zur Lösung der Krise auf Kosten der Bourgeoisie durchführen. Dies muß die sofortige Enteignung von imperialistischem Besitz und der großen Kapitalisten unter Arbeiterkontrolle einschließen, ebenso wie die Beschlagnahmung des Großgrundbesitzes, die sofortige Bewaffnung der Arbeiterorganisationen und die Entwaffnung der bürgerlichen Konterrevolution. Es muß der gesamte staatliche Repressionsapparat, der gegen Arbeiter- und Bauernorganisationen eingesetzt wird, aufgelöst und die Autorität aller Organisationen der Arbeiter- und Bauerndemokratie anerkannt werden. Auf dem Weg zu solch einer Regierung bietet die Arbeiterklasse allen ihre revolutionäre Hilfe gegen Angriffe der Imperialisten und der Bourgeoisie unter Beibehaltung ihrer Unabhängigkeit an, ohne jedoch politische Verantwortung für solch eine Regierung zu übernehmen, deren Mehrheit nicht aus Revolutionären besteht.

Die Erfahrung von 1917 hat gezeigt, daß die Weigerung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, einem solchen Weg zu folgen, keine Ausnahme war. Alle späteren Erfahrungen bestätigen dies. Die heutigen Führer der Arbeiter und der Bauern tun ihr möglichstes, um – entweder durch Volksfronten oder durch bürgerliche Arbeiterregierungen – den Kapitalismus vor dem Untergang zu retten. Die Ereignisse in Frankreich und Spanien in den dreißiger, in Bolivien in den fünfziger und achtziger Jahren und heute in Nicaragua bezeugen diese Tatsache.

Die heutigen Zentristen haben sich den Stalinisten in deren opportunistischer Entstellung der Losung der Arbeiter- und Bauernregierung angeschlossen. Während die Stalinisten Lenins aufgegebene Formel von der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ in den zwanziger Jahren wiederbelebten, indem sie diese zu einer notwendigen bürgerlichen Stufe der Revolution erklärten, tat das heutige Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VS) dasselbe mit Trotzkis Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“. In Algerien und Nicargua wurden kleinbürgerlich-nationalistische Regierungen, die nicht einen Schritt zum Bruch mit der Bourgeoisie getan hatten, zu „revolutionären Arbeiter- und Bauernregierungen“ erklärt, die der politischen Unterstützung wert seien.

Verschiedenartige Strömungen des zentristischen „Trotzkismus“ (z.B. die Lambertisten in Frankreich und Portugal in den siebziger und achtziger Jahren) bezeichnen Regierungen, die von Arbeiterparteien (Sozialdemokraten und Stalinisten) gebildet werden, als „Arbeiterregierungen“. Das ist ein betrügerischer und opportunistischer Gebrauch dieser Losung. Nur wenn eine Regierung von Arbeiterparteien durch die Massen in einen wirklichen Kampf gegen die bürgerliche Ordnung getrieben wird und gezwungen ist, sich auf die Massenorganisationen auf eine Art und Weise zu stützen, sodaß dies deren Bewaffnung beinhaltet, kann sie als revolutionäre Arbeiterregierung gesehen werden.

Trotz der opportunistischen Verzerrung der Arbeiter- und Bauern- Regierungslosung bleibt sie eine entscheidende Waffe bei der Erziehung und die Vorbereitung der Massen für bzw. auf die Macht. Wir benutzen sie, um Forderungen an die Führung der Arbeiterklasse zu stellen und um den Anhängern dieser Führung zu zeigen, daß diese es ablehnt, mit der Kapitalistenklasse zu brechen. Diese Losung beinhaltet die Möglichkeit, die reformistischen und kleinbürgerlich-nationalistischen Parteien zu spalten, die Basis und die besten Führer für einen wirklichen Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus zu gewinnen.

Diese Losung ist notwendigerweise abstrakt, da jede Krisensituation von der anderen verschieden ist und unterschiedliche Führungen an die Macht bringt. Das heißt, daß die tatsächliche Zusammensetzung solch einer Regierung nicht vor dem konkreten Kampf fixiert werden kann. Wenn eine Arbeiterregierung entsteht, die nicht die direkte Diktatur des Proletariats darstellt, wäre sie lediglich eine Regierung des Bürgerkrieges gegen die Kapitalistenklasse. In Konfrontation mit der Bourgeoisie muß sie entweder zurücktreten oder sich als zeitlich begrenzte Brücke zu dieser Diktatur erweisen. Auf keinen Fall ist die Arbeiterregierung, in Einheitsfrontform, eine historisch notwendige Stufe, die vor der Errichtung der Diktatur des Proletariats durchlaufen werden muß.

Trotzki postulierte im Übergangsprogramm die theoretische Möglichkeit, daß in einer außergewöhnlichen revolutionären Krise die traditionellen Führungen dazu gezwungen werden, weiter zu gehen, als sie eigentlich wollten, das heißt, mit der Bourgeoisie zu brechen und eine Arbeiterregierung zu etablieren. In der Geschichte hat sich diese Möglichkeit mehrere Male praktisch bewiesen, allerdings immer mit konterrevolutionärem Ergebnis.

Die Stalinisten stürzten unter außergewöhnlichen Umständen in Osteuropa, China, Indochina und Cuba den Kapitalismus. Die Werkzeuge dieser sozialen Umstürze waren bürokratische Arbeiterregierungen. Diese hatten nichts gemeinsam mit einer revolutionären Arbeiterregierung, welche den Weg zum Kampf für den Sozialismus öffnet. Obwohl die bürokratischen Arbeiterregierungen den Kapitalismus beseitigten, geschah dies in konterrevolutionärer Form. Bevor die Bourgeoisie enteignet wurde, erstickten die Stalinisten alle unabhängigen Organe der Arbeiterdemokratie, um die Etablierung ihrer eigenen bürokratischen Kastenherrschaft zu sichern.

Die Pflicht des Proletariats unter solchen Umständen ist es, nicht die Enteignung der Kapitalisten aufzuhalten, sondern die bürokratische Form der Durchführung zu bekämpfen. Indem der Kampf für proletarische Demokratie in den Vordergrund gestellt und die Forderung an die Stalinisten gerichtet wird, das Regime der Arbeiterkontrolle in den Fabriken anzuerkennen, und indem weiters die Bewaffnung der Massen und die Auflösung der stalinistisch kontrollierten Sicherheitskräfte gefordert wird, können die Massen dazu organisiert werden, den Prozeß der Enteignung fortzusetzen und gleichzeitig das geplante konterrevolutionäre Resultat zunichtezumachen: nämlich die Entstehung eines degenerierten Arbeiterstaates, der den Weg zum Sozialismus versperrt.

Arbeiterräte und der Kampf für die Macht der Arbeiterklasse

Die krönende Losung des Übergangsprogramms ist die Forderung nach Sowjets – oder auf Deutsch nach Arbeiterräten. Ist das Fabrikkomitee das Organ der Doppelmacht in der Fabrik, so ist der Arbeiterrat, koordiniert auf nationaler Ebene, das Organ der Doppelmacht in der ganzen Gesellschaft. Solche wirklichen Arbeiterräte entstehen auf lokaler und nationaler Ebene, wenn die Gesellschaft in eine revolutionäre Krise eintritt, wenn die Massen über die Grenzen ihrer traditionellen Organisationen hinauswachsen und revolutionäre Organisations- und Kampfformen anwenden. Eine revolutionäre Krise entsteht, wenn die Gesellschaft eine Sackgasse erreicht: Die Bourgeoisie ist gespalten und von Regierungskrisen heimgesucht, die Massen sind nicht mehr bereit das alte Regime zu tolerieren, und demonstrieren wiederholt ihren Willen und die Bereitschaft, alles zu opfern, um den Kapitalismus zu besiegen.

In der Geschichte des Kapitalismus hat es eine Reihe von revolutionären Perioden gegeben, bestehend aus einer ausgedehnten Kette von ökonomischen und politischen Krisen, die nur durch die grundlegende Niederlage einer der konkurrierenden Klassen gelöst hatten werden können. Danach erlaubten radikal neue ökonomische und politische Kräfteverhältnisse eine Stabilisierung und die weitere Entwicklung des Kapitalismus. Perioden revolutionärer Krisen erfassen ein Land, einen Kontinent oder die ganze Welt. Sie sind verschieden in Länge und Tiefe, wobei die tiefgreifendsten mit Kriegen, erfolgreichen Revolutionen oder Konterrevolutionen verbunden sind.

Eine revolutionäre Situation kann aus mehreren kürzeren Phasen oder Situationen bestehen. Eine vorrevolutionäre Situation besteht, wenn eine tiefgehende ökonomische Krise massive Inflation (oder Deflation), Arbeitslosigkeit und Bankrotte nach sich zieht. Durch diese Katastrophen zeigt sich der todkranke Charakter des kapitalistischen Systems für Millionen. Eine vorrevolutionäre Situation kann auch durch eine militärische Niederlage, wie in Rußland 1905, entstehen. Solche Krisensituationen tendieren dazu, politische Krisen zu produzieren, die die Bourgeoisie dazu zwingen, entweder zu autoritäreren Regierungsmethoden Zuflucht zu nehmen oder die Führer der Arbeiter darin einzubinden, die Krise auf Kosten der Arbeiterklasse zu lösen. Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse darüber, welcher Kurs einzuschlagen sei, geben dem Proletariat einen zusätzlichen Impuls, im allgemeinen und in den politischen Formen des Kampfes immer militanter zu werden. Eine revolutionäre Situation ist die Folge.

In einer vorrevolutionären Situation ist es die zentrale Aufgabe der revolutionären Partei, die allgemeinsten Losungen des politischen Klassenkampfes (Generalstreik, Arbeiterselbstverteidigung, der Aufbau von embryonalen Arbeiterräten, wie z.B. Aktions-, Streik- oder Einheitsfrontkomitees) aufzustellen. In einer revolutionären Situation ist es zentral, all diese Organe in voll ausgeformte Arbeiterräte umzuwandeln: Der direkte Kampf um die Macht kann nicht mehr länger verschoben werden. Wenn die Arbeiterklasse darin versagt, eine erfolgreiche Revolution durchzuführen, wird die Konterrevolution entweder in Form einer Diktatur (faschistisch oder bonapartistisch) über die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten oder in der mehr beschränkten Form der „demokratischen Konterrevolution“ triumphieren. Letztere beläßt eine bürgerlich-demokratische Verfassung mehr oder weniger in Kraft und überläßt die revolutionäre Avantgarde dem Terror von Militär, Polizei und Justiz.

Diese Konterrevolutionen beenden eindeutig die revolutionäre Periode. Was folgt, kann sich als langandauernde Periode der Konterrevolution herausstellen, wie sie etwa den Niederlagen der Arbeiter in Deutschland 1933 oder der chilenischen Arbeiter 1973 folgte. Auf der anderen Seite kann eine nichtrevolutionäre Periode auftreten, eine Periode sozialer Stabilisierung, wenn eine tiefgreifende Erholung von der ökonomischen und politischen Krise auftritt. Trotzdem: Wo fundamentale Widersprüche, die die Revolution haben aufbrechen lassen, fortdauern und wo die Arbeiterklasse nicht eine Niederlage von historischem Ausmaß erlitten hat, kann eine zwischenrevolutionäre Periode auftreten, bevor der Kampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie erneut losbricht. Das Erkennen dieser Änderungen von Perioden kann entscheidend sein für das Wachstum oder gar das Überleben einer revolutionären Partei. Es ist lebenswichtig, die geeigneten legalen oder illegalen Taktiken und Methoden der Organisation zu ergreifen und zum richtigen Zeitpunkt in die Defensive oder in die Offensive zu gehen.

Rußland im Februar 1917, Deutschland 1918, Spanien in den dreißiger Jahren und viele andere Beispiele zeigen deutlich auf, daß, falls das Proletariat es schafft, seine eigenen bewaffneten Kräfte aufzubauen, ohne gleichzeitig die bewaffneten Kräfte der Bourgeoisie total zu zerstören, es zu einer Situation der Doppelmacht kommt, in welcher sich zwei Regime verschiedener Klassen gegenüberstehen. Diese Situation der Doppelmacht ist in ihrem Wesen instabil. Sie kann nur – egal für welchen Zeitraum – existieren, wenn die bewaffneten Kräfte der Arbeiter stark sind und die Bourgeoise die Kontrolle über wesentliche Sektoren ihrer bewaffneten Kräfte verloren und Angst vor der endgültigen Konfrontation hat.

Ansonsten kann Doppelmacht nur für längere Zeit andauern, wenn die reformistische oder zentristische Führung des Proletariats zaudert und schwankt, wenn sie mit der Aufgabe der Führung des Kampfes, der auf die endgültige Entscheidung hinsteuert, konfrontiert ist. Solche Kräfte innerhalb der Arbeiterbewegung versuchen, entweder die Doppelmacht im Sinne eines „legitimen“ (bürgerlichen) Staates zu lösen oder einen Staat mit dauerhaftem Doppelmachtcharakter zu begründen. Dieses Konzept, welches dahin strebt, einen „Zwitterstaat“ mit Parlament parallel zu Arbeiterräten zu etablieren, ist immer zum Scheitern verurteilt (Deutschland 1918-23), da es das Unvereinbare zu vereinigen versucht. Die Versuche von linken Reformisten oder Zentristen, Arbeiterräte mit parlamentarischer Demokratie zu „kombinieren“, laufen einfach darauf hinaus, den revolutionären Kampf der Massen zu demobilisieren.

Wenn eine Situation der Doppelmacht auch ein enormer Schritt vorwärts ist, verglichen mit der unbestrittenen Ordnung der Bourgeoisie, so ist sie dennoch weder eine unvermeidliche Phase noch ein strategisches Ziel für sich selbst. Unser Ziel ist die vollständige Vernichtung des bürgerlichen Staates, und wir streben danach, die Doppelmacht durch die Diktatur des Proletariats als Ergebnis einer bewaffneten Erhebung zu ersetzen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die revolutionäre Partei die Führung in den Arbeiterräten erringt. Nur dann kann die Losung „Alle Macht den Arbeiterräten!“ tatsächlich verwirklicht und die Konterrevolution besiegt werden.

Embryonale Arbeiterräte können sich aus verschiedenen Organisationsformen entwickeln – aus revolutionierten Gewerkschaften, aus Fabrikkomitees oder aus Aktionskomitees, die um Teilkämpfe herum aufgebaut wurden. Obwohl wir der Frage der Form keine übergroße Bedeutung zumessen, bestehen wir darauf, daß es keinen Ersatz für jene Kampforgane gibt, die das Wesen der Arbeiterräte zum Ausdruck bringen. Wir trachten danach, die verschiedenen embryonalen Formen von Arbeiterräten so weiterzuentwickeln und anzuleiten, daß sie zu tatsächlichen Arbeiterräten werden. Fabrikkomitees und -gewerkschaften, egal wie radikal sie sind, können aus sich selbst heraus nicht als Arbeiterräte dienen. Die Gründe dafür sind im Charakter der Arbeiterräte selbst angelegt.

Arbeiterräte sind nicht fabrik- oder industriespezifisch. Tatsächlich sind sie zentrale Mittel, um Teile der Gesellschaft, wie etwa die arme Landbevölkerung und die einfachen Soldaten, für die Sache des Proletariats zu organisieren und zu gewinnen. Alle, die sich im Kampf befinden, sind in diesen Räten vertreten. Sie setzen sich aus Delegierten der Fabriken, der Gewerkschaften, von allen Arbeitsplätzen, Arbeiterbezirken, von Bauernkomitees und den Arbeiterparteien zusammen. Sie durchbrechen sektorale Barrieren und ersetzen diese durch eine klassenweite kämpferische Einheit. Sie haben territorialen Charakter, durch welchen alle Ausgebeuteten und Unterdrückten in einer Stadt oder einer Region einbezogen werden. Durch regelmäßige Wahlen und die jederzeitige Abberufbarkeit wird die demokratischste Form repräsentativer Organisation der Arbeiter, die die Geschichte je gesehen hat, erzeugt. Frei von vorher bestehenden bürokratischen Apparaten, sind sie unmittelbar empfänglich für die Änderungen in der Stimmung, die politischen Ansichten und die Militanz der Massen. Arbeiterräte sind das sicherste Entscheidungsmittel über den tatsächlichen, momentanen Willen des kämpfenden Proletariats.

Aufgrund dieser Eigenschaften eignen sich Arbeiterräte außergewöhnlich gut für den revolutionären Kampf. In Perioden sozialen Friedens aber kann ein Arbeiterrat keine dauerhafte Organisation sein. Er lebt und atmet durch den täglichen Kampf mit der Bourgeoisie, beobachtet jede ihrer Bewegungen, organisiert Widerstand gegen jede ihrer Attacken, kämpft für die Interessen der Massen, die er vertritt, und hebt das kämpferische Selbstvertrauen der Massen mit jedem Sieg. Keine andere Organisationsform ist im Durchführen der notwendigen taktischen Manöver im revolutionären Kampf mit der Bourgeoisie so flexibel wie der Arbeiterrat.

Zuletzt, aber keinesfalls am unwichtigsten, sind Arbeiterräte die Basis für die Verwaltung des zukünftigen Arbeiterstaates. Sie sind Organe der Macht der Arbeiterklasse. Ebenso wird die Arbeitermiliz vom Werkzeug des Aufstandes in die Bastion zur Verteidigung des Arbeiterstaates gegen die Konterrevolution verwandelt. Jede revolutionäre Situation hat bewiesen, daß die Arbeiterklasse nicht einfach die existierende Staatsmaschinerie beibehalten und dazu benützen kann, um den Sozialismus aufzubauen. Neue proletarische Organisationen müssen den Platz des kapitalistischen Staates einnehmen. Die Arbeiterräte, welche in Situationen der Doppelmacht dazu gezwungen sind, die Kontrolle über Produktion, öffentliches Leben und Verteilung auszuüben, sind ideal dafür geeignet, die Leitung des Arbeiterstaates zu übernehmen. Sie sind beides: revolutionäre Werkzeuge im Kampf um die Macht und revolutionäre Organe der Machtausübung. Bis jetzt hat niemand eine Form der Organisation gefunden, die sich besser für diese Zwecke eignen würde. Versuche, Ersatz für Arbeiterräte zu finden, führten ausnahmslos zu opportunistischen Fehlern.

Der Aufstand

Die Aufgabe der revolutionären Partei in den Arbeiterräten ist es, alle Kämpfe auf das Ziel der Zerschlagung des kapitalistischen Staates hin zu vereinigen. Der Generalstreik und der bewaffnete Aufstand sind Schlüsselwaffen, um dieses Ziel zu erreichen. Aufstände haben sich auch ohne Generalstreik als erfolgreich erwiesen (wie in Petrograd, Oktober 1917), aber der Generalstreik ist unter vielen Umständen eine revolutionäre Schlüsselmethode des Kampfes, da er die gesamte Maschinerie des kapitalistischen Feindes und seines Staates lähmt. Er stellt die Frage: Wer regiert die Gesellschaft, die Kapitalisten, die die Produktionsmittel besitzen, oder die Arbeiter, die sie am Laufen erhalten? Er setzt den Kampf um die Macht auf die Tagesordnung. Aber aus sich selbst heraus kann eine massenhafte Arbeitsniederlegung die Frage, wer regiert, nicht beantworten. Daher muß ein Generalstreik den Weg zum bewaffneten Aufstand vorbereiten.

Die Geschichte hat gezeigt, daß das Proletariat der Bourgeoisie die Staatsmacht nur durch gewaltsame Mittel entreißen kann. Natürlich wird das notwendige Ausmaß an Gewalt, abhängig von der Verteilung der Kräfte am Vorabend des Aufstandes, verschieden sein. Es wird teilweise davon abhängen, in welchem Ausmaß die bewaffneten Kräfte für die Sache des Proletariats gewonnen werden konnten. Wie auch immer: Die Arbeiterklasse muß damit rechnen, dem maximalen Widerstand der Kapitalisten zu begegnen, und sie muß deshalb auch ihre eigenen Kräfte zu maximieren versuchen, um dem Widerstand entgegenwirken und ihn zerstören zu können. Ohne revolutionäre Situation, in welcher die Massen vollständig hinter der revolutionären Partei stehen, wird ein Aufstand, der von einer revolutionären Minderheit geführt wird, ein abenteuerlicher Putsch sein und zu Rückschlägen für den revolutionären Kampf führen. Wenn das neue Regime, das durch den Aufstand geschaffen wird, stabil und dauerhaft sein soll, muß die Partei bereits die Mehrheit der organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen der großen Städte und der Ortschaften gewonnen haben.

Aufstände hat es, historisch gesehen, in zwei Formen gegeben. Die eine ist die „Februarrevolution“ (Frankreich 1848, Rußland 1917), in der spontane Massenerhebungen gegen ein diktatorisches Regime stattfinden und wo keine dominante bewußt-revolutionäre Partei die Massen führt. Hier kann das Resultat ein demokratisch-bürgerliches Regime sein, eine Situation der Doppelmacht oder, in seltenen und nur ausnahmsweisen Umständen, ein Triumph der Arbeiter und Arbeiterinnen, wie etwa die Pariser Kommune, unter einer Führung, die entweder nicht die Führung behalten will oder nicht weiß, wie sie diese festigen beziehungsweise ausweiten kann. Der Standpunkt der revolutionären Minderheit zu solch einer spontanen Erhebung ist es, voll daran teilzunehmen, danach zu streben, ihr eine bewußte Führung zu geben, im speziellen durch den Kampf für Arbeiterräte und eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung, die auf letzteren aufbaut.

Die andere Form des Aufstandes ist die bewußte, geplante, gewaltsame Übertragung der Staatsmacht an das Proletariat nach dem Modell der Oktoberrevolution in Rußland. Das Durchführen des Aufstandes ist eine technische Aufgabe, welche heimliche Planung erfordert. Die Arbeiterräte müssen für das Ziel des Aufstandes gewonnen werden, und die Arbeitermiliz und diejenigen Regimenter, die auf der Seite der Arbeiterklasse stehen, sind die Mittel zur Durchführung der Erhebung. Nur die revolutionäre Partei alleine kann den allgemeinen Führungsstab zur Leitung der Erhebung zur Verfügung stellen. Obwohl sich die Partei die Hilfe von Offizieren, die aus den einfacheren Mannschaftsgraden kommen, zunutze machen kann, muß deren Kommando immer auf die militärische Handlungen beschränkt bleiben, kontrolliert durch gewählte Kompanie- und Regimentskomitees. Die Inbesitznahme der Schlüsseleinrichtungen, die Organisation der Verteidigung des neuen Regimes, die Verteilung von Waffen und die Zuteilung von proletarischen Aufständischen kann nicht der Spontaneität der Massen oder „aufgeklärten Offizieren“ überlassen werden. Die Partei ist entscheidend für die Koordination dieser Tätigkeiten. Aber am Tag nach einem erfolgreichen Aufstand wird die Belohnung für diese Vorbereitung klar sein: die Zerschlagung des kapitalistischen Staates und die Etablierung der Diktatur des Proletariats auf Basis der Macht der Arbeiterräte.




Rechtsruck in Deutschland: Der Fall Aiwanger

Martin Suchanek, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, so könnte man meinen, fällt ein Aiwanger Hubert mehr auch nichts ins Gewicht. Was ist schon ein Nazi-Pamphlet aus Gymnasialtagen, was ist schon ein Verhöhnen der Opfer des Holocaust im Flugblatt verglichen mit dem Mitmachen, Mitlaufen, Mitverwalten, Mitaburteilen, Mitdeportieren in der Nazi-Diktatur, dessen sich Aiwangers Eltern- und Großelterngeneration schuldig gemacht hat.

Auch diesen wurde schließlich vergeben – vorzugsweise durch sich selbst und einen Nachfolgestaat der NS-Diktatur, der im Kalten Krieg die alten Leistungsträger:innen der Gesellschaft, deutsche Unternehmer:innen, deutsche Beamt:innen, deutsche Offizier:innen, deutsche Intelligenz brauchte. Warum, also so fragen die Söders scheinheilig, sollten wir dem Aiwanger nicht seine Jugendsünden vergeben? Warum nicht, nachdem „wir“ auch unserer Eltern- und Großelterngeneration längst nichts mehr nachtragen? Schließlich hätten wir alle daraus irgendetwas gelernt. Und schließlich: haben „wir“ nicht alle in der Jugend „gesündigt“ haben? Warum nicht, nachdem sich der Aiwanger Hubert dafür sogar, wenn auch reichlich spät und wenig schlüssig, „entschuldigt“ habe?

Populistische Inszenierung

Geschickt, wenn auch nicht unbedingt originell, inszenieren Aiwanger, die Freien Wähler und, im Nachgang, Söder und die CSU, den Schulterschluss mit ihren spießbürgerlichen Anhänger:innen – und das sind bekanntlich viele, weit über dessen kleinbürgerlichen Kern hinaus. Klar, so gesteht der Aiwanger Hubert freimütig, habe er Fehler gemacht und diese auch zu spät gestanden. Aber er habe sich entschuldigt, er habe daraus gelernt. Jetzt würden ihn andere fertigmachen wollen, eine regelrechte Kampagne wäre ins Leben gerufen worden, um ihn, sein Lebenswerk und stellvertretend auch das aller anderen ehrlich schaffenden bayrischen und deutschen Menschen zu zerstören.

Die Freien Wähler bedienen sich hier einer für populistische Rhetorik typischen Stilfigur. Den „einfachen Menschen“, die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten zum Bürgermeister, vom erfolgreichen Unternehmer zum Facharbeiter reichen, werden die besserwisserischen, arroganten, vom „wirklichen Leben“, das vorzugsweise auf bayrischen Volksfesten stattfindet, entrückten Kritiker:innen gegenübergestellt. So wird eine klassenübergreifendes „Wir“ konstruiert, das sich im Aiwanger Hubert personifiziert. Die Kritiker:innen schlagen darauf „von oben“ herab, geradezu gnadenlos ein. Sollen wir uns da nicht „wehren“ dürfen und dem Jugendsünder beherzt zu Seite springen?

Wer hat schließlich in seiner Jugend nicht gesündigt? Wer hat denn keine Äpfel vom Baum in Nachbars Garten gestohlen, wer hat nicht am Schulhof geraucht oder gar gekifft? Wer fuhr nicht alkoholisiert auf Bayerns Landstraßen? Und wer hat nicht Blödsinn verbreitet und geschmacklose Witze erzählt? Waren, ja sind wir nicht alle kleine Sünder:innen, die sich vom Aiwanger Anton nur durch die Art der Sünde, für die er sich sogar – durchaus im Gegensatz zu manch anderem ehrenwerten Spießer-Menschen – entschuldigt hat?

Solcherart wird unter der Rubrik „Jugendsünde“ das Nazi-Flugblatt entschuldet, zur Bagatelle unter Bagatellen. Dass sich der Aiwanger an nichts genaues mehr erinnern kann, erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als skandalöser Vertuschungsversuch, sondern macht ihn nur noch menschlicher und volksnäher – und zwar nicht nur in den Augen seiner Fans von den Freien Wählern, sondern auch in denen der bayrischen Staatskanzlei. Auf die 25 Fragen Söders zur „Klärung“ des Falls Aiwanger, antwortet dieser nicht nur möglichst knapp, sondern vorzugsweise damit, dass er sich nicht erinnern könne oder nichts zur Frage wisse. Die Gedächtnislücken stehen im eigentümlichen Kontrast zu seiner Aussage: „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen.“ Welche das sind, führt Aiwanger nicht aus. Dafür stellt er am Ende nur fest: „Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden.“

Damit spricht er seinen Anhänger:innen aus der Seele. Mit dem „ewigen“ Anlasten müsse endlich Schluss sein, zumal sich – von wegen „ewig“ – auch in den letzten 30 Jahren niemand darüber aufgeregt habe. Die rechte, konservative, rechtspopulistische Gefolgschaft verharmlost nicht nur Faschismus und Antisemitismus, sie inszeniert sich zugleich als Gemeinschaft nachsichtiger und wohlwollender Menschen. Das Vergeben der Jugendsünde wird zum Bestandteil deutscher Leitkultur.

Gnadenlos, unbarmherzig, falsch sind nicht jene, die selbst nicht wissen, warum sie mit antisemitischen Flugblättern in der Schultasche rumliefen, sondern jene, die den armen Jugendsünder bis heute an den Pranger stellen wollen. Gnadenlos, unbarmherzig sind jene, die schon seit 1968 keinen Frieden geben können, sind die Linken, die rot-grüne „Elite“, kosmopolitische Intellektuelle, Gender-Wahnsinninge und „das Ausland“, das sich auch noch in Bayerns Staatskanzlei und in den Wahlkampf einmischen wolle.

Angesichts dieser brutalen Kampfansage „von oben“ auf die Leistungsträger:innen der bayrischen und deutschen Gesellschaft, auf „unsere“ Leitkultur, inszenieren sich CSU und Freie Wähler als Kräfte der Gnade, der Nachsicht, des Zusammenrückens und Verzeihens. Sicher wären auch AfD und verschiedene Nazigruppen bei dieser christlich-abendländischen Inszenierung der Nächstenliebe gern mit von der Partie, doch noch passen sie nicht so recht ins Sittenbild der konservativen „Mitte“.

Aber auch Gnade und Vergeben kennen, wie alles, ihre Grenzen. Das macht Aiwanger schon in seiner Antwort an die Bayrische Staatskanzlei deutlich: „Die Veröffentlichungen aus Lehrerkreisen sind ein massiver Verstoß gegen das Bayrische Dienstrecht. Gegen die Verdachtsberichterstattung mit überwiegend anonymen Aussagen und dem Weglassen entlastender Inhalte behalte ich mir rechtliche Schritte vor.“ So viel zur aufrichtigen Reue des Herrn Aiwanger.

Hier wird deutlich, dass Vergeben, Nachsicht, Großzügigkeit und das Verzeihen aller Jugendsünden längst nicht für alle gilt. Genauer, sie gilt, selbst der Phrase nach, nur für die Angehörigen der spießbürgerlichen Gemeinschaft echter deutscher Menschen, die die Freien Wähler und die CSU im Blick haben. Und hier zuerst natürlich ihren Spitzenexponenten wie Aiwanger, dessen „Lebenswerk“ als Regierungsmitglied zerstört werden soll. Geschickt präsentiert er diese wirkliche oder vermeintliche Gefahr für sich als hoch dotierten Spitzenpolitiker als ob die berufliche Zukunft seiner Wähler:innen auch zur Disposition stünde.

So verlogen diese imaginäre Einheit gegenüber den Anhänger:innen der Freien Wähler:innen, so wenig gilt das Nachsichtsversprechen für die Kritiker:innen Aiwangers.

Kritische Medien und erst recht verbeamtete Lehrer:innen dürfen auf Gnade nicht hoffen. Die Nachsicht gegenüber Aiwangers Jugendsünden darf niemand als Freibrief für wirkliche Bagatelldelikte missverstehen. Schwarzfahren oder kleiner Ladenklau dürfen „natürlich“ nicht entkriminalisiert werden.

Erst recht gilt das, wenn die Gegner:innen der rechtspopulistischen Freien Wähler:innen und der konservativen bis liberalen Mitte ins Visier genommen werden. Aiwangers Gedächtnislücken möge man nachsehen, Lücken in der Vita traumatisierter Geflüchteter – niemals. Abschiebung muss Abschiebung, Unrecht muss Unrecht bleiben. Ein Nazipamphlet an der Schule möge man verzeihen, aber keine antifaschistische und antirassistische Selbstverteidigung, keine Solidarität mit vom Imperialismus Verfolgten.

Die Entschuldung der eigenen Wähler:innen, der Träger:innen der deutschen Leitkultur bildet nur das Gegenbild zur umso brutaleren, menschenverachtenden Hetze gegen „Schein-Ayslant:innen“, „Überfremdung“, „Sozialscharozertum“, jugendliche und migrantische „Krimininelle“, die allesamt die volle Härte des Gesetze ohne jede Nachsicht und Gnade heute erfahren müssen und sollen.

Kulturkampf und Diskursverschiebung

Kein Wunder also, dass die Freien Wähler, CDU/CSU wie auch die AfD, die konservative und die extreme Rechte die Auseinandersetzung um Aichwanger als regelrechten Kulturkampf inszenieren. In der Tat geht es dabei um eine wirkliche grundlegende Diskursverschiebung im politischen Raum.

Bei der Verharmlosung des faschistischen und antisemitischen Pamphlets und der Rolle Aiwangers geht es nicht bloß um eine persönliche Entschuldung. „Jugendlicher“ Faschismus und Antisemitismus sollen insgesamt bagatellisiert, quasi-normalisiert werden.

Damit steht auch eine, wenn auch auf halben Weg steckgebliebene Errungenschaft der 68er-Bewegung entsorgt werden. Diese thematisierte nach Jahrzehnten des Unter-den-Teppich-Kehrens den Faschismus und die Kontinuität seiner Funktionsträger:innen in Staat und Wirtschaft. Blieb die Entnazifizierung auch aus, so hielt die Jugend den Eltern und Großeltern den Spiegel vor. Die wirklich Selbstgerechten mussten sich endlich rechtfertigen. Einmal verschoben sich das politische Geschehen, der öffentliche Diskurs und die Kultur in der Bundesrepublik nach links. Zweifellos: Die 68er sind gescheitert, nicht zuletzt an sich. Doch ihre Halbheiten, ihre Teilreformen, ihre partiellen Errungenschaften noch geben einen Geschmack von dem, was möglich wäre. Daher stehen sie auch im Visier des konservativen und rechten Rollbacks.

Die mit der 68er-Bewegung assoziierten und von Frauenbewegung, Studierenden, Jugend wie auch von der Arbeiter:innenklasse gemachten Errungenschaften sind ihnen ein Dorn im Auge. Das betrifft sowohl in Gang gesetzten soziale und demokratische Reformen. Auch wenn sie im Rahmen des Kapitalismus verblieben, in diesen mehr oder weniger integriert wurden, stellen sie oder ihre Überreste bis heute auch Errungenschaften, teilweise zur Selbstverständlichkeit gewordene Aspekte des sozialen Lebens dar, gegen die sich selbst hart gesottene Reaktionär:innen (noch) nicht anzugehen wagen (z. B. die Vergewaltigung in der Ehe).

Vielleicht noch bedeutsamer aber waren und sind die Errungenschaften der 68er auf der kulturellen und diskursiven Ebene. Dazu gehört auch, dass faschistische und anti-semitische Flugblätter an der Schule eben nicht mehr als landesüblicher „Lausbubenstreich“ durchgingen. Selbst Aiwangers mangelndes Erinnerungsvermögen deutet noch darauf hin. So wie die Beteiligung am Faschismus und seinen Verbrechen nach 1945 durch „Vergessen“ und Schweigen gesellschaftlich tabuisiert wurde, so soll über den jugendlichen „Fehler“ der Mantel des Vergessens geworfen werden. Wer nachfragt, wer nicht schweigt, ja wer bloß nicht jede Schutzbehauptung für bare Münze nehmen will, wird in der rechten Diskursverschiebung zum Täter, zum „elitären“ Besserwisser.

Längst geht es dabei nicht um Aiwanger. Schon gar nicht geht es, wie Sozialdemokrat:innen und Grüne gern entrüstet behaupten darum, dass dem Ansehen Deutschlands geschadet würde. Schließlich passt Aiwanger ganz gut zu einer Meloni und einem Orban, zu einem Erdogan und einer Le Pen. Und, betrachten wir die Diskussion über die Verschärfung des rassistischen Grenzregimes und die Aushebelung der verbliebenen Rechte der Geflüchteten, so sind die Grenzen zwischen Rechten, Konservativen, Liberalen, Sozialdemokrat:innen und Grünen fließend, so reichen sich rechte und linke Populist:innen die Hand.

Vielmehr bildet der Fall Aiwanger nur einen weiteren Baustein zur Entsorgung des Faschismus für den deutschen Imperialismus. Es geht dabei nicht darum, dessen Existenz und Verbrechen zu leugnen, sondern vielmehr zu einem bloßen Stück Geschichte unter anderem herabzusetzen, um den Boden für eine reale Kontinuität imperialistischer Großmachtpolitik in der EU und international leichter zu begründen und hoffähig zu machen. Vor allem aber dient es auch als Klammer einer konservativen, großkapitalistischen und aggressiven Agenda, die durch rechten Populismus eine imaginäre, klassenübergreifende „Volkseinheit“ ideologisiert.




Österreich: Die Rezession ist da: Nach dem Wirtschaftsabschwung ist vor der Krise

Mo Sedlak, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1231, 13. September 2023

Österreich ist in einer Rezession, das Bruttoinlandsprodukt ist im zweiten Quartal gesunken. Diese Zahlen für April bis Juni bestätigen, was wir uns wegen der großen Firmenpleiten denken konnten. Bei kika/Leiner, Salamander, Delka, Forstinger, Yves Rocher und Christof Industries und anderen Pleiten sind in nur einem halben Jahr 9.000 Menschen arbeitslos geworden.

Insgesamt hat sich der Trend bei der Arbeitslosigkeit wieder in die roten Zahlen gedreht. Zum ersten Mal seit dem Coronajahr 2020 steigt sie wieder. Gleichzeitig fällt wegen der Teuerung und Reallohnverluste das Einkommen der Menschen, die noch einen Job haben.

Mit dieser Krise war leider zu rechnen. Schon 2019 waren alle Anzeichen für Negativwachstum und Firmenpleiten da. Tatsächlich gab es schon vor dem Ausbruch der Pandemie eine abgegrenzte, aber erhebliche Krise auf den Energiemärkten. Die Rezession damals wurde aber von den Lockdowns „überdeckt“, ihre Folgen wurden durch die staatlichen Hilfsmaßnahmen und die plötzliche Nachfrage nach Masken, Tests und Impfungen ausgeglichen. Die dahinter liegende Krisendynamik ist aber nur verschleppt worden und fällt uns jetzt doppelt auf den Kopf.

In den politisch-ökonomischen Perspektiven des Arbeiter*innenstandpunkt für 2023 haben wir diese Entwicklung ausführlicher analysiert. „2023 wird die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten eintreten. Das ist die logische Folge aus schon länger fallenden Industrieprofitraten und der gestiegenen Unsicherheit in Produktion und Kapitalverwertung. […] Der Wirtschaftsabschwung 2023 hat denselben Hintergrund wie die Hochinflation 2022. Die Profitrate, also das Verhältnis von Profit zur Gesamtinvestition in Maschinen, Arbeitskraft, Miete usw. in der Industrie geht bereits seit Jahren zurück, was 2020 schon vor der Coronapandemie zu einem beginnenden Abschwung geführt hat.“

Diese Einschätzung hat die Statistik Austria jetzt mit konkreten Zahlen untermauert. Tatsächlich wurde schon die Quartalsstatistik im März so kommentiert, dass Österreich „haarscharf an der Rezession vorbeischrammt“. Die Verluste in Industrie und Bau wurden noch durch den Tourismus ausgeglichen, das war aber mehr ein Aufholen der Lockdowns als echtes Wachstum.

Jetzt erleben wir eine Industrierezession bei gleichzeitig hoher Inflation. Das belastet vor allem die Arbeiter:innen und Erwerbslosen, aber der Druck wird auch die Rezessionsdynamik auf der Kapitalseite befeuern. Viele kleine und größere Firmen haben unprofitables Wirtschaften und Überakkumulation (also Investitionen, die sich eigentlich gar nicht auszahlen) durch die staatlichen Coronahilfen ausgeglichen, es gibt eine Blase bei den Firmenanlagen, die jetzt platzt.

Die Rezession wird aber in eine echte Krise umschlagen, wenn auch der Finanzbereich wackelt. Damit müssen wir aus zwei Gründen rechnen. Erstens bedeuten Insolvenzen auch Zahlungsausfälle, woraufhin Banken weniger Kredite vergeben, und wieder weniger Firmen ihre Zahlungsschwierigkeiten auf Pump überbrücken können. Zweitens braut sich auch auf den internationalen Finanzmärkten etwas zusammen. Die chinesische Immobilienwirtschaft ist überschuldet, der weltweit am meisten verschuldete Konzern Evergrande hat schon Gläubigerschutz beantragt. Die Aktienkurse sinken schon seit 2022, alleine nach der Pleite der Silicon Valley Bank war der Börsenwert des weltweiten Bankensystems um 16 % gefallen. Dazu kommt ein spezifisch österreichisches Problem: Die heimischen Banken sind in Russland, Ost- und Zentraleuropa „überexponiert“, sie haben mehr Kredite vergeben, als sie an Ausfällen verkraften können.

Krise bedeutet im Kapitalismus immer Verteilungskampf. Als erstes müssen wir damit rechnen, dass die Industrie probiert, uns in den Kollektivvertragsverhandlungen über den Tisch zu ziehen, die Reallohnverluste des letzten Jahres nicht ausgleichen will. Es ist gut, dass die Gewerkschaftsspitze das schon jetzt zurückweist (Reinhold Binder von der PRO-GE: „Lohnraub kann nicht die Lösung sein!“ PRO-GE: Produktionsgewerkschaft für z. B. den Metallbereich). Die Versuchung zu einem faulen Kompromiss wird aber größer, wenn der Druck in den Medien und aus der Politik stärker wird, da können nur streikbereite Kolleg:innen und spürbare Solidarität aus der Linken entgegenwirken.

Es werden sich die Lösungsvorschläge von der Kapitalseite und der Sozialdemokratie gegenüberstehen. Die Industrie will schnell die schwächsten Kapitale loswerden und Verluste für die Besitzer:innen vom Staat bezahlen lassen, damit es wieder Raum zum Wachsen gibt. Für die Arbeiter:innen bedeutet das Massenentlassungen, anschließend wird es konservativen Druck für Sparpakete und Abbau von Arbeitsrechten geben. Das ist kein ökonomisches Gesetz, sondern ein politisches Programm, das auch politisch besiegt werden kann.

Auch die sozialdemokratische Standardantwort ist keine Perspektive für die Arbeiter:innen. Weil sie davon ausgeht, dass die Krise von fehlender Konsum- und Investitionsnachfrage kommt, will sie die durch Subventionen und Kurzarbeit wieder ankurbeln. Das hilft zwar, die Krisenfolgen zu lindern oder zumindest auf einen längeren Zeitraum aufzuteilen, an der grundlegenden Dynamik ändert sie aber nichts: Die Krise entsteht auf der Kapitalseite, weil im Wettbewerbsdruck soviel investiert wird, dass prozentual weniger Profit rausschaut. Dementsprechend wird auch der Druck der Kapitalseite nicht geringer, diese „Überakkumulation“ durch Arbeitsplatzabbau und „Marktbereinigung“ zu lösen.

Wenn man die beiden Seiten einfach gewähren lässt, kommt die übliche Dynamik heraus: erst Massenarbeitslosigkeit, dann Staatshilfen, dann Sparpakete und Sozialabbau. Das haben wir schon nach 2008 gesehen, wo die Krise zu einer Umverteilungsmaschine von unten nach oben geworden ist.

Die Alternative ist ein kämpferischer Zugang zur politischen Ökonomie, ein Kampf um politische Antworten und ökonomische Sicherheit. Kündigungsverbot in der Krise, Enteignung von Unternehmen, die Arbeitsplätze abbauen, Steuern auf Vermögen und Krisenprofite, Reallohnerhöhungen im Kollektivvertrag und ein Rechtsanspruch auf soziale Sicherheit für Erwerbslose und Sorgearbeiter:innen. Dieses offensive Programm kann nicht erst „nach der Revolution“ funktionieren, sondern ist die konkrete Antwort auf die Krise des Kapitalismus jetzt.

Eine große Gefahr wird die Antwort der Rechten darstellen. Die nutzen Krisendynamiken, um ihre Kernideologie als Scheinlösung anzubieten, und werden auf Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit setzen. Die Choreographie von Kickl in der Coronapandemie kann man da als Blaupause nehmen. Die FPÖ wird eine Verschwörung der Eliten wittern (aber nicht von ihren Sponsor:innen bei den Konzernen), um dann gegen Migrant:innen, Feminist:innen und eine angebliche queere Verschwörung zu hetzen. Auch darauf braucht es eine konkrete Antwort der Linken und Arbeiter:innen: Wir lassen uns nicht spalten und wir geben Rechten keine Möglichkeit, sich aufzuspielen.

Warum erst jetzt?

Marxist:innen wollen Krisen oft auf den Tag genau vorhersagen, und deshalb schaffen wir es oft, von drei Krisen zehn anzukündigen. Wir vom Arbeiter*innenstandpunkt waren uns zum Beispiel Ende letzten Jahres nicht sicher, ob Österreich Anfang oder Ende 2023 in die Rezession schlittert, jetzt haben wir uns in der Mitte getroffen. Aber der Wirtschaftseinbruch hat sich nicht erst seit 2022 angekündigt. Der kapitalistische Wettbewerb führt zu regelmäßigen Krisen, weil durch massive Investitionen die Grundlagen der Wertschöpfung ausgehöhlt werden: menschliche Arbeit und unsere natürliche Umwelt. Dieser innere Widerspruch führt zu regelmäßigen Einbrüchen, zuletzt 2008, davor die Dotcom-Blase der 2000er, die Ostasien- und Russlandkrise 1997 und so weiter.

Diesen Frühsommer haben die Nationalbank und das Wirtschaftsforschungsinstitut noch davon gesprochen, dass Österreich dem Abschwung „technisch gesehen“ entkommen wäre. Die Konjunkturabteilung der Nationalbank schrieb damals „Österreich schrammt haarscharf an einer technischen Rezession vorbei“, redete aber davon, dass die Lage sich im zweiten Halbjahr wieder verbessern würde. Schon damals waren die wichtigen Branchen Industrie und Bau geschrumpft, der Zweckoptimismus kam vor allem vom Wachstum im Tourismus.

Das „Wachstum“ in Beherbergung und Gastronomie ist aber eigentlich ein Nachholeffekt gegenüber den letzten Jahren (Statistiker:innen nennen das Basiseffekt), ein Aufholen des tiefen Einbruchs in den Coronawellen. Es gibt aber immer noch um 5 % weniger Übernachtungen und 3.000 Beschäftigte weniger als vor der Pandemie. Aber auch der Außenhandel war im Jänner und Februar 2023 nochmal umsatzstärker als in den Vorjahren, die Auslandsnachfrage konnte in der Industrie einen noch stärkeren Absturz verhindern.

Es ist nicht unüblich, dass in Tourismus und Handel die Krise später ankommt. Die stabilisierende Wirkung dieser Bereiche ist aber vergleichsweise gering, dort werden niedrigere Durchschnittslöhne gezahlt und saisonale Beschäftigung ist weit verbreitet. Entlassungen im Industriebereich führen zu größeren Einkommensverlusten (weil davor mehr da war) und auch zu einem größeren Einbruch der Konsumnachfrage. Das trifft dann wieder Handel und Konsument:innendienstleistungen, zum Beispiel Friseur:innen, aber eben verzögert.

Der Grund für die beginnende Rezession ist aber nicht ein Einbruch der Konsument:innennachfrage. Sie hat in der Produktion, bei den Kapitalist:innen, und bei den internationalen Beziehungen begonnen. Politik, die jetzt versucht, kurzfristig Konsumausgaben zu stabilisieren, und Firmeninvestitionen subventioniert, kann die Krise kurzzeitig dämpfen. Sie ändert aber nichts an ihren Ursachen und auch nicht an den Vorstößen des Kapitals: Lohnkürzungen, Sozialabbau und Vernichtung von Arbeitsplätzen bei weniger konkurrenzfähigen Firmen. Diese Dynamik kann nur politisch abgewehrt werden, die Bürgerlichen lassen sich nicht durch „besser durchdachte“ Vorschläge davon abbringen.

Was noch dazu kommt: Finanzkriseleien

Es schaut im Moment auch so aus, als ob es zu einer internationalen Bankenkrise kommt. Vor allem in China hat sich eine riesige Blase an Immobilienkrediten aufgebaut. Das Platzen der Immobilienblase in den USA 2007 war ja auch der Startschuss für die globale Finanzkrise gewesen. Wenn etwas Vergleichbares noch einmal passiert, wird sich die schon begonnene Wirtschaftskrise jedenfalls verschärfen.

Dazu kommt, dass das Wirtschaftswachstum in China nach 2008 die globale Wirtschaft als „internationaler Wachstumsmotor“ teilweise stabilisieren konnte. Das geht sich natürlich nicht aus, wenn die größte Volkswirtschaft der Welt selber strauchelt.

Wir haben in den politisch-ökonomischen Perspektiven des Arbeiter*innenstandpunkt für 2023 geschrieben: „Egal ob die Krise vom Finanzsektor ausgeht oder der Finanzsektor als Multiplikator dahinter liegender Krisendynamiken funktioniert, wird mit der Rezession ab 2023 auch eine Finanzkrise einhergehen. Die Banken werden keinesfalls stabilisierend wirken können, sondern im Gegenteil die Geschwindigkeit der Krisenentwicklung weiter anheizen.“ Man kann im Vorhinein immer schwer abschätzen, ob die Krise zuerst bei den Finanzmärkten oder Konzernen sichtbar wird. Die dahinter liegende Dynamik ist aber dieselbe: Sinkende Unternehmensprofite führen zur Blasenbildung und gleichzeitigen Kreditausfällen im Bankensektor; der Einbruch im Finanzsektor verstärkt dann noch einmal die Krise.

Der Einbruch 2023 wurde jetzt zuerst bei Konzernpleiten und negativem Industriewachstum sichtbar. Das bedeutet aber auch, dass der verschärfende Effekt des Bankensektors noch aussteht.

Politische Antworten und politische Ökonomie

Krisen sind hochpolitische Momente. Es ist für die Arbeiter:innenbewegung zentral, sich in diesen Momenten gegen die Antworten der Herrschenden zu organisieren. Das Verständnis der Krisendynamik bestimmt auch den politischen Kurs: Die nachfrageseitige Erklärung der Keynesianer:innen (es kommt zur Krise, weil Menschen über zu wenig Einkommen verfügen, um zu konsumieren) führt zu sozialdemokratischen Vorschlägen (Kurzarbeit und Unternehmenssubventionen). Die federn zwar das Schlimmste ab, setzen aber den danach kommenden Angriffen der Bürgerlichen nichts entgegen. Damit können sich Revolutionär:innen, die Linke und die Arbeiter:innenbewegung nicht begnügen.

Die Antwort der Neoliberalen ist noch unattraktiver. Um kapitalistische Krisen zu lösen, aber gleichzeitig den Kapitalismus zu stärken, setzt das Kapital auf eine Radikalkur. Die unprofitabelsten Firmen werden vom Markt verdrängt, die schwächsten Kapitale zerstört. Das nennen Konservative die „reinigende Wirkung der Krise“, dadurch wird wieder Wachstumspotential frei. Ganz auf den Staat verzichten die Marktfetischist:innen aber auch nicht: Verluste für Unternehmensbesitzer:innen und Banken sollen durch Regierungshilfen verhindert werden: Krise für uns, Sozialstaat für sie, sozusagen.

Die Zerstörung von Kapital bedeutet Massenentlassungen, Einkommenseinbruch für Arbeiter:innen und schlechtere Gehälter, wenn man überhaupt wieder einen Job findet. Außerdem nutzen Konservative die Krise auch für politische Angriffe wie Sozialabbau und Abbau von Arbeitsrechten, die langfristig die Lage der Arbeiter:innen verschlechtern, aber die Unternehmensprofite hochtreiben.

Die Entlassungen werden uns zuerst einmal als bedauernswertes Ergebnis von anonymen Marktkräften präsentiert, die offiziell-politischen Vorstöße zum Sparen kommen oft erst später. Aber tatsächlich sind das nur zwei Seiten derselben politischen Medaille. Die Kapitalist:innen und ihre Parteien wälzen die Krisenkosten auf die Arbeiter:innen ab. Die Arbeiter:innenbewegung und die Linke kann auch beide gleichzeitig bekämpfen.

Wir dürfen auf keinen Fall auf die Rhetorik von anonymen Marktkräften und wirtschaftlichen Gesetzen, die leider so sind, hereinfallen. Stattdessen sagen wir klar: Wir können und wollen demokratisch entscheiden, wie produziert, verteilt und beschäftigt wird. Die Krise zeigt, dass der Markt das schlecht und, wenn überhaupt, dann im Interesse von einigen wenigen Kapitalist:innen regelt. Wir fordern politische Lösungen für das, was wir ja bewusst politische Ökonomie nennen: Entlassungsverbote und Enteignung von Unternehmen, die glauben, dass es ohne Arbeitsplatzabbau nicht geht, ein Arbeitslosengeld mit einer Nettoersatzrate von 100 % auf Kosten einer Reichensteuer und ganz bestimmt keine Geschenke an Konzerne und Banken.

Damit warten wir auch nicht darauf, bis der Markt durch eine demokratisch geplante Wirtschaft ersetzt wird. Der politische Klassenkampf auf der ökonomischen Bühne wird von der Kapitalseite jeden Tag geführt, die Arbeiter:innenbewegung muss ihn genauso tagtäglich beantworten. Dass die Gewerkschaftsspitzen schon jetzt sagen, Lohnraub kann nicht die Lösung sein, ist ein guter Ansatz. Wieviel davon aber Rhetorik bleibt und wieviel auch in reale Arbeitskämpfe und Erfolge umgesetzt wird, werden wir noch sehen. Druck von der Basis ist auf jeden Fall notwendig, damit die Gewerkschaftsspitzen nicht wieder sofort einknicken und so wie im letzten Jahr massive Reallohnverluste ausverhandeln.

Wir wissen ja jetzt, was an Rezession und politischen Angriffen auf uns zukommt. Am besten ist es, schon jetzt zu sagen „Wir sind streikbereit“, damit Verhandler:innen und Gewerkschaftsspitzen gar nicht in Versuchung geraten, sich auf faule Kompromisse einzulassen. Dafür müssen wir uns aber im Betrieb organisieren, von den Betriebsrät:innen einfordern, dass Versammlungen organisiert werden und andernfalls selber die Kolleg:innen einladen. Wenn einem/r das erst einfällt, wenn die Betriebsrät:innenkonferenz schon angekündigt ist, ist es zu spät.

Dieser Widerstand, an der konkreten Frage aufgehängt, ist auch der Ausgangspunkt für die Veränderung in den Gewerkschaften, die wir dringend brauchen. Statt Entscheidungen in den Händen von einigen gut bezahlten und auf Sozialpartner:innenschaft getrimmten Funktionär:innen wollen wir hin zu selbstorganisierten Kampforganisationen, die nichts außer den Interessen der Arbeiter:innen im Blick haben. Das ist solch eine radikale Änderung, dass man sie nicht anders als eine „Revolutionierung der Gewerkschaften“ nennen kann.

Linke Betriebsgruppen und antibürokratische Oppositione sind in Österreich leider schwach und wenige. Es ist natürlich wichtig, genau jetzt welche aufzubauen und sich abzusprechen. Aber gleichzeitig können wir auch Druck auf der Straße erzeugen, durch aktive Unterstützung von Warnstreiks, Teilnahme an Gewerkschaftsdemonstrationen und eigenen Protesten wo wir den ewig alten Standardspruch der Linken noch einmal wiederholen: „Wir zahlen nicht für diese Krise“.




Eine Welt in der Krise

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Der ökonomische Zusammenbruch Sri Lankas im Jahr 2022 und die ähnlichen Zuspitzungen, die sich etwa in Pakistan im Jahr 2023 angedeutet haben, sind symptomatisch für die aktuelle Weltlage. Sie bringen die tiefe Krise vieler Länder des „globalen Südens“ an die Oberfläche, die seit einem Jahrzehnt die Realität außerhalb der imperialistischen Zentren der Welt prägt. Während „Globalisierung“ einst mit dem Narrativ verbunden war, dass das Ende des Kalten Krieges und die weltweite Ausbreitung von Kapital und Demokratie nun auch den ärmeren Ländern eine nachholende Entwicklung ermöglichen würde, wenden sich heute selbst hoffnungsvolle Schwellenländer wieder in großer Zahlan den IWF, um den Kollaps abzuwenden. Immer mehr stehen vor der Wahl, ihre Ökonomien dem Diktat der westlichen Finanzmärkte oder Chinas zu unterwerfen.

Die Globalisierung, die als Explosion des Welthandels, der internationalen Finanzströme, des weltweiten Informations- und Meinungsaustauschs über offene Netze, der Ausdehnung eng miteinander verflochtener internationaler Produktionsketten, der Beschleunigung globaler Verkehrssysteme usw. verstanden wurde, scheint derzeit ins Stocken geraten zu sein. Was manchmal als vorübergehendes Stottern des Globalisierungsmotors verkauft wurde (Unterbrechung von Lieferketten, Transportprobleme, Kapitalabfluss aus bestimmten Ländern, Zahlungsprobleme …), trägt heute in vielerlei Hinsicht einen systematischeren Charakter: Liefer- und Produktionsketten werden neu ausgerichtet, Investitionen aus bestimmten Ländern politisch angegriffen, Zollschranken und Investitionsbeschränkungen in großem Stil wiederbelebt, Finanzinstitute als politische Waffe eingesetzt usw.

Die Welt erscheint wieder klar geteilt in imperialistische Mächte und ihre Halbkolonien (die Rede von „Schwellenländern“ kann man getrost vergessen), während die Großmächte dabei sind, die „Globalisierung“ in ihre Einflusssphären und Machtblöcke aufzuteilen. Nur haben sich in der Zeit der Globalisierung China und Russland als neue Konkurrenten gegen den „westlichen Block“ etabliert und sind damit als Herausforderer des schwächelnden Welthegemons USA auf den Plan getreten. In vielen Regionen des krisengeschüttelten globalen Südens konkurrieren diese Mächte nun um ihre Position, sei es als Handelspartnerinnen, Kreditgeberinnen, Rüstungslieferantinnen oder Bündnis„partnerinnen“. Mehr und mehr wird diese Konkurrenz auch zur offenen Konfrontation. Der Ukrainekrieg ist nur der schärfste Ausdruck dieser wachsenden Konfrontation bei der Neuaufteilung der Welt 3.0.

Doch diese Krise der Globalisierung und die damit verbundene neue politisch-ökonomische Weltunordnung sind nur ein Ausdruck tiefer liegender Krisenprozesse. Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das zum Wachstum, zur Akkumulation von Kapital verurteilt ist, scheinbar ohne Grenzen. Jede Stagnation der Akkumulation, sei es als Rezession, anhaltende Produktionsausfälle, Absatzprobleme oder Kurseinbrüche bei den Finanzwerten, führt zu Zahlungsausfällen, ausbleibenden Kapitalzuflüssen, Betriebsschließungen und Firmenzusammenbrüchen, kurz zur Unterbrechung der Geld-Waren-Metamorphose und damit letztlich der Verwandlung von Mehrarbeit in Profit, der Grundlage der kapitalistischen Klassengesellschaft. Aber diese erzwungene Grenzenlosigkeit der Kapitalakkumulation führt direkt zu ihrem Gegenteil: zur Schaffung oder Verschärfung von Schranken für die erweiterte Reproduktion.  Der Zwang zur Steigerung der intensivsten Ausbeutung von Mensch und Natur, wie er der kapitalistischen Rationalisierung inhärent ist, führt zu solchen Erscheinungen, wie sie Marx im Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zusammengefasst hat. Während der aus dem einzelnen Produktionsakt erwachsende Mehrwert also abnimmt, kann die Profitmasse durch die Steigerung der Gesamtproduktion ausgeweitet werden. Dies führt zu einem Punkt, an dem die gestiegenen Kapitalkosten, sei es für Energie, Maschinen, Rohstoffe, Produktionssteuerung und -planung usw. selbst die absolute Profitmasse aufzehren. Die Kapitalakkumulation gerät zur Überakkumulation, das Kapital in Form des investierten Bestands und seines Bedarfs an Material, Energie, Arbeit und neuem Kapital wird zu einem Hindernis für neues Wachstum.

Verbunden mit dieser wirtschaftlichen Wachstums- ist die soziale und ökologische Krise. Bereits durch die kapitalistische Rationalisierung bedroht, werden die arbeitenden Klassen durch die Mechanismen der kapitalistischen Krisenbewältigung, der Kapitalentwertung und -vernichtung, der Kapitalkonzentration, der Standortverlagerung usw. sowohl in der direkten Produktion als auch in abgeleiteten Bereichen (öffentliche Versorgung, staatliche Dienstleistungen, Kleinbürgertum usw.) existenziell bedroht. Andererseits stößt der Hunger der Kapitalakkumulation nach Energie und Rohstoffen zunehmend an die Grenzen der natürlichen Reproduktionssysteme.  Der Rockströmbericht nennt neun planetarische Grenzen, die bei Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsweise in absehbarer Zeit überschritten werden und damit die Existenz des menschlichen Lebens in Frage stellen.

Die 1,5-Grad- und 2-Grad-Szenarien und die daraus resultierenden Ziele für die Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase zumindest innerhalb der nächsten 2 Jahrzehnte bilden nicht einmal die größten Herausforderungen. Die zunehmende Verknappung von Süßwasser, die Versauerung der Meere, die Überlastung der Stickstoff- und Phosphorkreisläufe in Böden und Gewässern, das Artensterben etc. erfordern dringend globales Handeln. Viele der „Umwelterfolge“ im globalen Norden wurden einfach durch die Verlagerung in schlechterer Form in den globalen Süden erkauft. Global führt der Zwang zur Kapitalakkumulation zu einem ökologischen Bruch – der Entwicklung eines tiefen Widerspruchs zwischen expandierter wirtschaftlicher Reproduktion und der Anpassungsfähigkeit zentraler natürlicher Reproduktionssysteme. Es besteht kein Zweifel, dass sich dieser ökologische Bruch in der Zeit der Globalisierung zu einer Menschheitskrise verschärft hat. Die sich bereits abzeichnenden Umweltkatastrophen oder die verzweifelten Versuche der Gegensteuerung im Rahmen des Systems („Transformation“) wirken zwangsläufig auf das Wirtschaftswachstum zurück.

Das Kapital reagiert auf die oben beschriebenen immanenten Grenzen der Kapitalakkumulation mit dem, was Marx als „gegenläufige Tendenzen“ zum Fall der Profitrate bezeichnete. Dabei ist zu beachten, dass das Problem vor allem eins des Falles der „Durchschnittsprofitrate“ ist. Die Kapitalakkumulation findet in einem Raum statt, der zum einen in Sektoren mit unterschiedlicher Produktivität oder Kapitalintensität und zum anderen in Länder und Regionen mit sehr unterschiedlichem „Entwicklungsstand“ (in Bezug auf die Kapitalakkumulation) segmentiert ist. Ein grober und dynamischer Ausgleich der durchschnittlichen Profitraten findet nur zyklisch durch Kapital- und Arbeitsströme zwischen den Segmenten statt. Dieser kann vorübergehend gestoppt oder modifiziert werden, z. B. durch Monopolbildung, so dass z. B. Großkonzerne ihre Ausbeutungsprobleme für einen längeren Zeitraum auf andere Wirtschaftszweige abwälzen können (Monopolrentabilität). Andererseits ermöglichen es die unterschiedlich ausgeprägten Kapital- und Arbeitsströme auf dem Weltmarkt gegenüber nationalen/regionalen Märkten, dass Kapitalexporte und Welthandel genutzt werden, um höhere Ausbeutungsraten in weniger entwickelten Ländern („Entwicklung“ hier im Sinne der Akkumulationsbewegung) als Quelle für Extraprofite zu nutzen. Im Zeitalter des Finanz- und Monopolkapitals, d. h. des Imperialismus, können diese Momente ausgedehnt werden, so dass in den imperialistischen Zentren längere Perioden scheinbar stabiler Akkumulation und die Vermeidung ausgeprägter Krisenmomente erreicht werden. Die Krise der Überakkumulation bricht also zunehmend in der inneren und äußeren Peripherie aus, um über kurz oder lang auch die Monopolprofitrate in den Zentren selbst zu treffen.

Mit der Globalisierung seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Verteilung der direkten Industrieproduktion freilich noch stärker zu Ungunsten der klassischen imperialistischen Länder (wie sie in der G7 vertreten sind) verschoben: Noch im Nachkriegsaufschwung konzentrierten sich 80 % auf die „entwickelten“ OECD-Staaten mit nur 20 % der Weltbevölkerung, während für den Rest der kapitalistischen Welt die Rolle als Rohstofflieferant:in und die Herstellung weniger kapitalintensiver Produkte (z. B. Textilien) blieb. Dies hat sich heute radikal geändert: USA/CND/EU/J mit inzwischen nur noch 15 % der Weltbevölkerung produzieren nur noch 42 % des Welt-BIP (etwa so viel wie in Asien ohne Japan). Ein entscheidender Faktor hat sich jedoch kaum verändert: die Verteilung des Kapitals. 70 % des Vermögens- und Investitionskapitals sind nach wie vor in der genannten Ländergruppe konzentriert. Zählt man China und Russland zur imperialistischen Welt hinzu, bleiben für den Rest, d. h. für den „globalen Süden“, nur noch 10 % des investierbaren Kapitals übrig (wovon der größte Teil davon dann auch noch auf Rentierkapital entfällt, z. B. Fonds von Ölkartellstaaten).

Die Globalisierung hat zwar die industrielle Produktion weltweit stärker verteilt, nicht aber die Anfangs- und Endpunkte der Kapitalakkumulation, das Kapital, das nach profitablen Investitionsfeldern sucht. Bei krisenhaften Entwicklungen in den Zielländern der Kapitalströme kommt es sehr schnell zur Rückkehr in die „sicheren Häfen“ des globalen Nordens. Dies haben verschiedene als „Schwellenländer“ angepriesene Kandidat:innen wie die Türkei, Brasilien oder Pakistan im letzten Jahrzehnt schmerzlich erfahren. Letztlich waren nur China und Russland in der Lage, sich als neue imperialistische Mächte in der Globalisierungsperiode zu etablieren, während Indien als einziges der ehemaligen Schwellenländer dem Absturz bis jetzt noch widerstand.

Auf der Grundlage dieser Weltmarktbewegung des Kapitals können keine „vereinigten Staaten der Welt“, kann nicht einmal ein „Hyperimperialismus“, entstehen. Aufgeteilt in Zentrum und Peripherie bleiben auch die Finanzkapitale und Monopole im Wettbewerb und der letztendlichen Wirkung der Ausgleichsmechanismen unterworfen. Auf Perioden der relativen Stabilität folgen Krisen, Zusammenbrüche und Umverteilungsprozesse. Die Perioden der Stabilität werden auch immer von der Vorherrschaft eines Systems von Großmächten begleitet, welches die Weltordnung garantiert und so etwas wie eine globale politische Agenda bestimmt – allerdings letztlich immer im Rahmen der Vertretung der Weltmarktinteressen des „eigenen“ Kapitals, aber verkleidet als „Kampf um Fortschritt, Menschenrechte und Demokratie“. Das nationalstaatliche System, in dem der Kapitalismus ursprünglich entstanden ist, ist längst zu einem unpassenden Korsett für die imperialistische Entwicklungsstufe des Kapitalismus geworden – aber es gibt keine globale politische Struktur, die der Kapitalismus als Ersatz für das nationalstaatliche Konzept hervorbringen kann. Daher erweist er sich als unzureichend, um lebenswichtige globale Probleme wie Klimakatastrophe, Pandemien, Welternährung usw. durch eine global geplante Politik zu lösen. Auch „Demokratie“ und „nationale Selbstbestimmung“ erweisen sich im gegenwärtigen Zustand der globalen Kapitalentwicklung zunehmend als illusorische bürgerliche Ideen. In den stabileren Perioden der monopolistischen Zyklen kann das globale Kapital durch die hegemoniale Rolle einer der Großmächte eine gewisse politische Stabilität erreichen. Sie verfügt dann sowohl über die wirtschaftlichen und monetären Hebel als auch über die militärische Interventionsfähigkeit und die politischen und ideologischen Mittel, um politische und wirtschaftliche Krisen im Rahmen aller imperialistischen Mächte, aber vor allem im eigenen Weltmarktinteresse, mit seiner Bündnis- und Militärpolitik zu lösen.

War dies lange Zeit der britische Imperialismus, so ist er seit dem Zweiten Weltkrieg durch den US-Imperialismus abgelöst worden. Zu Beginn der Globalisierung wirtschaftlich angeschlagen, konnte er in dieser Periode vor allem aufgrund seines nach wie vor überlegenen Finanz- und Technologiekapitals wieder eine dominierende Rolle spielen – allerdings auf Kosten des Aufstiegs Chinas zu einem zentralen Akteur in der Welt des globalen Industriekapitals.

Der Rückgang der Produktivität und Rentabilität wichtiger Industriesektoren in den USA wurde durch immer größere Blasen in der Finanzwelt und durch fiktive Kapitalakkumulation kompensiert. Mit der Großen Rezession von 2008/2009 wurde der wirklich stagnierende Charakter der US-Wirtschaft immer deutlicher. Wir gehen daher davon aus, dass wir in eine Phase eintreten, in der mit der allgemeinen kapitalistischen Krise die Frage nach der Führungsrolle der USA zunehmend umstritten sein wird.

Die Periode der Globalisierung – Aufstieg und Weg in die Krise

Grafik 1 fasst den Zeitraum von 1990 bis 2019 anhand der Entwicklung der Profitraten einiger ausgewählter Länder zusammen. Die zugrundeliegende Berechnung der Profitraten ist den Extended Penn World Tables (Release 7.0) entnommen. Hier wird die Profitrate anhand der Kapitalquote (Anteil der Gewinne am Volkseinkommen), der Kapitalproduktivität und der Abschreibungsrate berechnet.

Grafik 1: Profitratenentwicklung ausgewählter Länder

Das Schaubild zeigt die Erholung der Profitrate der USA zu Beginn der 1990er Jahre als Impuls und Ausdruck einer veränderten Wirtschaftsdynamik sowie den großen Unterschied zur chinesischen Profitrate. Entgegen der oben genannten Tendenz zeigt die chinesische Profitrate, die den gesamten Zeitraum bestimmte, dass das Bewegungszentrum des Zeitraums die enorme Kapitalakkumulation in China bildete, die an seinem Ende in eine Phase der Überakkumulation des chinesischen Kapitals überging. Erst mit der Abschwächung der US-Profitrate und dem Aufblühen des China-Booms erholten sich die Profitraten in Deutschland und Japan und in ihrem Gefolge auch die Russlands, um dann mit der Großen Rezession in eine stagnierende bis fallende Richtung zu gehen. Nimmt man eine typische Halbkolonie wie Brasilien hinzu, so ist die Profitrate dort in der Regel viel höher (wie gesagt, das ist genau der Ausdruck einer abhängigen Entwicklung, die sich in geringerer Kapitalintensität und höherer Ausbeutungsrate manifestiert), aber mit viel stärkeren Ausschlägen nach oben und unten (in Brasilien zwischen 14 und 10 Prozent) – als Ausdruck der Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen und den Verwertungsbedingungen auf dem Weltmarkt.

Anmerkung: Die Berechnung der Profitrate in China ist umstritten. Die statistischen Daten, insbesondere zu Beginn des Zeitraums, sind fragwürdig und können im Hinblick auf die Gewinn- und Abschreibungswerte ungenau sein. Daher gibt es mehrere Schätzungen der Rate. Im Allgemeinen sind die in den obigen Statistiken aufgezeigten Tendenzen jedoch ähnlich.

Was waren die Startbedingungen, die vor allem das US-Kapital bot? Die Überwindung der vorangegangenen Krisenperiode (gekennzeichnet durch zwei Jahrzehnte sinkender Profitraten, Überakkumulation, Verschuldung, Zunahme der Klassenkämpfe und eine Eskalation der Blockkonfrontation) wurde durch einige entscheidende Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, der Kämpfe in den Halbkolonien und den Zusammenbruch der degenerierten Arbeiter:innenstaaten ermöglicht. Die Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zugunsten des Kapitals führte zu dem, was damals „Neoliberalismus“ genannt wurde: der Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungskraft, Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, einer neuen Qualität der Privatisierung und des Abbaus sozialer und öffentlicher Dienstleistungen, dem Abbau von Handels- und vor allem von Investitions-„Schranken“, der Verringerung staatlicher Interventionsmöglichkeiten in der Wirtschaft und zu all dem der Deregulierung der globalen Finanzmärkte mit unbegrenzten Möglichkeiten für den Kapitalfluss zu den günstigsten Produktions- und Investitionsmöglichkeiten auf der ganzen Welt. Dadurch wurden nicht nur die bereits erwähnte globale Differenz der Profitraten optimal genutzt (Ausgleich des eigenen Profitratenverfalls), sondern auch die absolute und relative Mehrwertrate als weitere Stabilisierungsmaßnahme erhöht. Hinzu kommen technische Innovationen im Transportwesen (z. B. das globale System der Containerlogistik), in der Steuerungs- und Regelungstechnik (Elektronik und IT) usw., die zur Bildung sehr großer Produktions- und Versorgungsnetze auf Weltebene geführt haben. Diese Produktionsketten werden häufig als „Wertschöpfungsketten“ bezeichnet, weil die Produktion und die Aneignung von Werten entlang der Kette von der Investitionsentscheidung, der Planung, der Konstruktion, der Einbindung von Zulieferer:innen, der Teile- und Systemproduktion, dem Vertrieb und dem Marketing bis hin zur Verteilung der Erträge und der Kontrolle ihrer Verwendung sehr ungleich verteilt sind. Während sich die arbeitsintensiven Produktionsprozesse in Ländern mit hoher Ausbeutungsrate konzentrieren, werden die qualifizierteren Spezialaufgaben, die technische und finanzielle Gesamtplanung und letztlich die Gesamtkontrolle weiterhin in den „Zentren“ wahrgenommen. Diese Form der Wertschöpfungskette ist also eine neue Form des Werttransfers aus den Halbkolonien in die imperialistischen Zentren, die direkter mit dem Produktionsprozess verbunden ist als die klassischen Direktinvestitionen. Für die Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren resultierte das in vielen Abwehrkämpfen um die Verlagerung von Produktionsstätten oder auch nur von Arbeitsbereichen in „Billiglohnländer“.

Mit der Verfestigung dieser Formen der internationalen Arbeitsteilung wurde auch die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stabilisiert, so dass die oben als Imperative des Kapitals beschriebenen Elemente des Neoliberalismus zu „Sachzwängen“ wurden. Der „Neoliberalismus“ war nicht nur eine schlechte Ideologie, die plötzlich von Manager:innen und Politiker:innen in den Zentren und in der Peripherie übernommen wurde und der, wie viele Linke meinten, mit „Argumenten“ begegnet werden müsste. Vielmehr gibt es zu ihm keine Alternative, solange es der Arbeiter:innenklasse nicht gelingt, ein Netzwerk des Widerstands gegen die Kapitalströme und die damit verbundene Bildung von Produktionsketten auf ebenso globaler Ebene zu schaffen.

Insgesamt hat die neue Qualität der Globalisierung des Kapitals den Spielraum für soziale Reformen und damit auch für Demokratie und nationale Selbstbestimmung im Rahmen der bürgerlichen Politik weltweit weiter eingeschränkt, wenn auch in unterschiedlichem Maße in den Halbkolonien und in den imperialistischen Zentren. Die Gewöhnung an die Grenzen demokratischer oder sozialer Forderungen ist so groß geworden, dass solche, die den neoliberalen Rahmenbedingungen widersprechen, leicht als „Populismus“ diffamiert werden können. Am erfolgversprechendsten waren Klassenkampfzyklen, die supranationale Bedeutung erlangten (z. B. ausgehend von Frankreich oder Griechenland sich ausbreitend auf den Rest der EU), die Sozialforumsbewegung (die regionale und internationale Proteste lose zusammenführte), die „Pink Tide“ (die mehrere lateinamerikanische Linksregierungen hervorbrachte), die internationalen Protestbewegungen nach der Großen Rezession (Arabischer Frühling, die „Aufstände“ in Südeuropa, vor allem Griechenland, Occupy). Aber es gelang nicht, diese in eine international koordinierte Kraft des antikapitalistischen Widerstands zu verwandeln (fälschlicherweise als „Antiglobalisierungsbewegung“ bezeichnet). Nach der daher unvermeidlichen Niederlage dieser Bewegungen zogen sich ihre Anhänger:innen auf den nationalen linken Reformismus oder stark lokal konzentrierte „Arbeit vor Ort“ zurück. Einem Kapital, das noch immer seinen globalen Hebel ansetzen kann, steht also kein international koordinierter Widerstand gegenüber, schon gar nicht in Krisenzeiten der Globalisierungsperiode.

Dennoch waren diese Klassenkämpfe, Bewegungen und politischen Widerstände wichtig, um die anfänglichen Steigerungsraten des absoluten Mehrwerts abzuschwächen. Wie in jeder Aufschwungsperiode folgte auf die Phase, in der die verstärkte unmittelbare Ausbeutung und Intensivierung der Arbeit im Vordergrund stand, die, in welcher die Rationalisierung und Modernisierung des Kapitaleinsatzes dominierte. Vor allem aber ging es um die Ausweitung internationaler Produktionsketten – zunächst mit der verstärkten Tendenz, China in ihren Mittelpunkt zu stellen. Grafik 1 zeigt die Abschwächung der Profitrate in den USA seit Mitte der 1990er Jahre. Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt haben, beruht diese auf einem viel ausgeprägteren Abwärtstrend der industriellen Gewinnraten (aufgrund der sinkenden Kapitalproduktivität). Dies wurde in den frühen 2000er Jahren durch das stark kreditfinanzierte Chinageschäft kompensiert (Fortsetzung der Kapitalakkumulation auf der Grundlage der fiktiven Wertsteigerung von unproduktivem Kapital, z. B. Immobilien, als finanzielle Grundlage für einen sehr starken Anstieg der Importe aus China). Daher die Eile, mit der China 2001 in die WTO aufgenommen wurde (Beseitigung wichtiger Handelshemmnisse), auch ohne dass die üblichen Öffnungen des Finanzmarktes oder Übernahmemöglichkeiten für chinesische Unternehmen durchgesetzt wurden. Auf der anderen Seite nutzten imperialistische Volkswirtschaften wie Deutschland und Japan diese Zeit, um ihre Produktionsketten in Richtung China auszudehnen und so ihre Exportindustrien nach Nordamerika und in die übrige EU wesentlich wettbewerbsfähiger zu machen. Die fiktive Erholung der Profitrate in den USA in den Jahren 2000 – 2005 ist somit eng mit dem großen Sprung der chinesischen Profitrate und der deutlichen Erholung der Profitraten in Deutschland und Japan bis zur Großen Rezession verbunden.

Abbildung 2: Globale Wertschöpfungsketten

Abbildung 2 zeigt einen Überblick über die Entwicklung der globalen Wertschöpfungsketten in einem gewichteten Diagramm, je nach Ausmaß der Aufteilung der Teilprozesse der Produktion zwischen einigen Zentren und ihrer „Peripherie“ (aus dem Global-Value-Chain-Bericht der WTO 2017). Es ist zu erkennen, dass zu Beginn der 2000er Jahre China noch als untergeordneter Zuliefererstandort für den NAFTA-Sektor auftrat (mit den USA als Zentrum und Mexiko als Hauptlieferanten), während sich das europäische Produktionskettennetz mit Deutschland im Zentrum noch relativ separat entwickelte. Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre, dem Höhepunkt der Globalisierung, entwickelte sich China zu einem eigenen Zentrum der Wertschöpfungsketten in Asien, in engem Zusammenhang mit dem Ausbau solcher Industriemodelle in Japan und Südkorea. Bis 2011 scheinen diese drei Zentren auch zunehmend miteinander verbunden zu sein, wobei Deutschland sowie die anderen großen EU-Volkswirtschaften (Frankreich, Benelux, Vereinigtes Königreich, Italien, Spanien) ihre Produktionsprozesse zunehmend internationalisierten. Erwähnenswert sind auch Länder wie Brasilien, die bis in die 1990er Jahre überwiegend Nordamerika belieferten, dann mehr in den europäischen Block exportierten und heute in den chinesischen Wertschöpfungsketten auftauchen. Mitte des letzten Jahrzehnts, im Zuge der Großen Rezession und ihrer Auswirkungen, ist ein leichter Bedeutungsverlust der globalen Wertschöpfungsketten und ein erneutes Auseinanderdriften der Hauptblöcke zu beobachten. Es muss betont werden, dass es hier um Produktionsketten geht – bei den klassischen Direktinvestitionen, Handelsströmen und vor allem Finanzmarktbewegungen gibt es ganz andere Zentren und Netzwerke (z. B. in letzteren New York, London, Singapur, Hongkong), die für die Dynamik der Globalisierung mindestens genauso wichtig sind.

Die große globale Rezession von 2008/2009 wurde durch die anhaltende Finanzmarktkrise nach dem Platzen der US-Immobilienblase ausgelöst. Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, offenbarte die Schwächung der Möglichkeiten, überakkumuliertes Kapital in fiktive Anlagen zu investieren, das Problem der Masse des anlagesuchenden Kapitals, das nur noch Anlagemöglichkeiten mit deutlich geringerer Rendite fand oder in solchen mit geringerer Rendite gebunden war. Der Einbruch bei der Finanzierung bestehender Unternehmen, die Refinanzierung von Schulden und das Ausbleiben großer Investitionen führten 2009 zu einem Wachstumseinbruch von rund 5 % synchron in den USA, den wichtigsten EU-Ländern, Japan und in der Folge zu einer Verlangsamung der Wirtschaft im Rest der Welt, auch in China. Der normale Verlauf der kapitalistischen Krise hätte darin bestanden, die unrentablen Kapitalien einfach zu vernichten (Konkurs von Schuldner:innen, Realisierung von Verlusten in der Gläubigerkette, Firmenzusammenbrüche, massenhafte Privatkonkurse, Massenarbeitslosigkeit, -entlassungen). Tatsächlich ist dies nicht im erwartbaren Umfang geschehen (bzw. hat vor allem auf die unteren Einkommensschichten Auswirkungen gehabt), aber das Szenario von 1929 wurde von den zentralen imperialistischen Finanzinstitutionen auf der Grundlage des Prinzips „too big to fail“ abgewendet: Der größte Teil des „überschüssigen“ Kapitals wurde durch die Politik des „quantitative easing“ (QE) vorm Untergang bewahrt. Einerseits retteten die Zentralbanken das gefährdete Kapital durch den Ankauf von Vermögenswerten in Billionenhöhe, andererseits sorgte die Nullzinspolitik der großen Zentralbanken (FED, EZB, BoJ) dafür, dass Refinanzierung und Neuinvestitionen nicht durch Zinsen belastet wurden. Hinzu kamen staatliche Beihilfen und Investitionsprogramme in Milliardenhöhe.

All dies hat jedoch nicht zu einem neuen Aufschwung geführt. Die 2010er Jahre waren in den alten imperialistischen Ländern durch noch niedrigere Wachstumsraten als in den Jahrzehnten zuvor, wiederkehrende Verschuldungsprobleme, niedrige Investitionsquoten, sinkende Arbeitsproduktivitätszuwächse und stagnierende Profitraten auf niedrigem Niveau gekennzeichnet. Die Halbkolonien (insbesondere die „Schwellenländer“) waren von massiven Kapitalabflüssen, einer Verdünnung der Lieferketten, einem Rückgang der Nachfrage nach Rohstoffen und Halbfertigwaren und damit der Rückkehr der Schreckgespenster Rezession, Verschuldung, Währungskrisen und Inflation betroffen. Insbesondere war das Jahrzenht aber auch durch eine deutliche Veränderung der Rolle Chinas in der Weltwirtschaft gekennzeichnet.

Die geringe krisenbedingte Kapitalvernichtung, d. h. die Aufrechterhaltung eines großen Teils des überakkumulierten Kapitals, führte zu einem stetigen Anstieg der Zahl der Unternehmen oder Investitionen, die eigentlich nur durch ständiges Subventionskapital (sei es durch Anleihekäufe oder direkte Unterstützung) am Leben erhalten werden können.

Abbildung 3: Anteil der Zombie-Unternehmen

Abbildung 3 zeigt den Anteil der „Zombie“-Unternehmen, d. h. der Firmen, die ihre Schulden langfristig nicht aus ihren Gewinnen finanzieren können. Nicht nur, dass der Anteil nach der Großen Rezession weiter auf rund 16 % gestiegen ist, auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unternehmen aus diesem Status nicht mehr herauskommen, hat sich erhöht. Allein diese hohe Ziffer macht deutlich, dass ein erheblicher Teil des Kapitals in unrentablen Investitionen gebunden ist und nicht für neue Investitionen genutzt werden kann.

Darüber hinaus führte die Gefahr von Verlusten in den Jahren 2008/2009 dazu, dass die Anleger:inen eher Risiken vermieden und sich auf Anlagen konzentrierten, die weniger Rendite versprachen, aber sicher erschienen. Insbesondere die Erklärung der großen Zentralbanken, dass sie die Investitionen in ihrem Bereich schützen würden, „koste es, was es wolle“ (EZB-Chef Mario Draghi), führte dazu, dass die internationalen Investor:innen (deren Kapital sich ohnehin größtenteils aus den klassischen imperialistischen Ländern und den Ölrentiers speist) ihre Gewinne so schnell wie möglich repatriierten oder wieder auf sichere Anlagen wie Staatsanleiehn, Immobilien- und Energierenten setzten.

Grafik 4, die die Entwicklung der Auslandsinvestitionen aus den klassischen imperialistischen Ländern in die „unterentwickelten“ Halbkolonien nach Kategorien darstellt, zeigt, dass es nach 2013 zu einer Rückflut von Kapital in historischem Ausmaß kam (um kurze Zeit später unter „günstigeren Bedingungen“ wieder zurückzukehren). Insbesondere die Kategorie „Portfolioinvestitionen“, also kurz- und mittelfristiges, schnell abbaubares Investitionskapital, wurde rapide reduziert; aber auch das Volumen der Direktinvestitionen ging zurück.  In allen imperialistischen Ländern ist aus der Leistungsbilanz im Kapitel „Einkommen aus Auslandsvermögen“ ersichtlich, dass diese Erträge in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts jährlich etwa 2 – 4 % zum BIP beitrugen. Dies sind die Profiteinkommen, die aus Anlagen im Ausland ins Heimatland zurückfließen. Da es sich um reine Profiteinkommen aus Auslandsinvestitionen handelt, müssten sie eigentlich mit den Profiteinkommen im Inland und nicht mit dem gesamten Inlandsprodukt ins Verhältnis gesetzt werden: D. h., tatsächlich steigerten die Zuflüsse aus dem Ausland die Gewinne um bis zu 10 %.  Auch dies ist ein Indikator für die verstärkte Überschussextraktion aus den Halbkolonien durch Kapitalzu- und -abflüsse. Diesen positiven Bilanzen in den imperialistischen Ländern stehen in den Halbkolonien je nach Region negative Vermögenvon 2 % – 5 % im entsprechenden Kapitel gegenüber, die als US-Dollarverpflichtungen (d. h. reale Werttransfers aus dem dort erbrachten Mehrwert) mit großem Aufwand erfüllt werden müssen. Zusammen mit dem Abbau von Lieferketten führte dies zu massiven wirtschaftlichen Schocks in vielen Halbkolonien (in Lateinamerika, Nordafrika, Südafrika, der Türkei, Pakistan und einigen anderen asiatischen Ländern), die für ihre Kapitalakkumulation ohnehin stark von Kapitalzuflüssen abhängig waren.  Die daraus resultierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Instabilitäten, Kriege und Bürgerkriege führten wiederum zu weiteren Investitionsverlusten oder zum Wiedererstarken der Rolle von IWF und Weltbank bzw. zu direkten militärischen Interventionen.

Mit der Großen Rezession änderte sich Chinas Rolle in der Weltwirtschaft. Statt als Quelle für billig produzierte Waren für die USA zu fungieren, konzentrierte es sich auf eine selbsttragende Kapitalakkumulation und stieg in der Wertschöpfungskette (auch bei den Arbeitskosten) auf. Angestachelt durch ein Billionen-US-Dollar-Konjunkturprogramm begann China, seinen eigenen Markt zu entwickeln und selbst in die höheren technologischen Sphären der Wertschöpfungsketten zu klettern. Nichts macht die Entwicklung der 2010er Jahre so deutlich wie die Entwicklung der Profitraten Chinas und der USA in Grafik 1: Entgegen dem, was viele über die Entwicklung der Profitraten missverstehen, ist paradoxerweise eine sinkende Profitrate (wenn sie mit hohen Wachstumsraten verbunden ist) ein Indikator für eine besonders dynamische, von kapitalintensiven Investitionen getriebene Wirtschaftsentwicklung, während eine „gleichbleibende“ Profitrate bei schwachem Wachstum genau das Gegenteil, eine stagnierende Entwicklung mit wenig Verbesserung der Kapitalproduktivität und schwacher Modernisierung des Anlagekapitals (Neuinvestitionen), offenbart. Vor allem Anfang der 2010er Jahre war China in allen wichtigen Bereichen des Produktivkapitals zu einem ernsthaften globalen Konkurrenten für das US-Kapital mutiert.

Dass dieses Wachstum Mitte der 2010er Jahre ins Stocken geriet, lag nicht nur an Fehlern bei der Planung der Konjunkturprogramme (z. B. Bau ganzer Städte, die nie gebraucht wurden) oder an den immer offensichtlicher werdenden Schwächen des Finanzsektors (Rolle der Schattenbanken, Immobiliengesellschaften etc.). All das war vielmehr nur Ausdruck der Tatsache, dass mit der rasanten Kapitalakkumulation und Investitionstätigkeit immer mehr Kapital in Anlagen investiert wurde, seien es hochproduktive oder unsinnige, und damit ab einem bestimmten Punkt, als die Profitrate sank, das Kapital für neue Investitionen einfach knapp wurde. Deshalb kamen Schattenbanken und durch Bodenspekulation getriebene Immobilienblasen zum Tragen, da solche Kapitalien verstärkt zur Finanzierung eingesetzt werden mussten. Darüber hinaus war China auch vom Rückzug von Direkt- und Portfolioinvestitionen betroffen (sei es direkt oder über zwischengeschaltetes Kapital in Hongkong, Singapur oder Taiwan), und das Geschäft zwischen den USA und China ging sowohl in Bezug auf den Handel als auch auf die Lieferketten zurück.

Andererseits expandierte China, um seine Profitratenentwicklung durch den Aufbau von Produktionsketten (siehe oben, z. B. Indien, Indonesien, Malaysia, Vietnam, Thailand, Brasilien), durch verstärkte Direktinvestitionen (z. B. „Neue Seidenstraße“, als Kreditgeber in Afrika und Lateinamerika) und durch die Einrichtung internationaler Zahlungssysteme als Alternative zu den von den USA dominierten US-Dollar-Systemen zu kompensieren. Auch in China sind in den letzten Jahren die Einnahmen aus Auslandsvermögen (wenn auch oft über Hongkong vermittelt) gestiegen. Dies ist ein klarer Hinweis auf den imperialistischen Charakter der chinesischen Wirtschaft und die wirtschaftlichen Vorteile des Imperialismus in Zeiten der Überakkumulation (und Pech für diejenigen, die sich bei China Geld geliehen haben, z. B. in Afrika und Lateinamerika).

Die beschriebene Dynamik der verschiedenen regionalen Volkswirtschaften spiegelt sich letztlich in der Entwicklung der Akkumulation über den gesamten Zeitraum wider, wie sie in Abbildung 5 im Verhältnis von Kapitalstock zu Investitionen, d. h. dem Gewicht des aus Gewinnen neu investierten Kapitals im Vergleich zu dem in bestehenden Investitionen gebundenen Kapital, dargestellt ist.

Grafik 5: Akkumulationsraten im Vergleich

Das Beispiel USA zeigt, dass es in den 1990er Jahren einen leichten Anstieg der Akkumulationsrate gab, die dann mit der Großen Rezession in eine Abwärtsbewegung überging und dann auf niedrigem Niveau stagnierte (man muss bedenken, dass eine Abschreibungsrate von 4 % in den 2010er Jahren bedeutet, dass die tatsächlichen Neuinvestitionen marginal waren). Die gleiche Abwärtsbewegung ist auch in der deutschen Wirtschaft zu beobachten, allerdings von einem noch niedrigeren Niveau aus (wenn auch mit einer Abschreibungsrate von nur 3 %). Auf der anderen Seite ist in China in der Zeit nach dem WTO-Beitritt ein starker Kapitalaufbau durch Investitionen zu beobachten, der sich aber nach dem oben beschriebenen Übergang zum unabhängigen Akkumulationsmodell nach 2010 deutlich abschwächt – ein deutliches Zeichen für die Überakkumulation von investiertem Kapital, was auch gut zu der sinkenden Gewinnrate in diesem Zeitraum passt. In der ausgewählten Halbkolonie Brasilien hingegen ist deutlich zu erkennen, wie der seit Anfang der 2000er Jahre steigende Akkumulationszyklus (fast parallel zu dem Chinas) 2014 abrupt abbricht (Doppeleffekt aus Kapitalabzug und Nachfragerückgang auf dem Weltmarkt). In den Folgejahren entspricht dies einer leichten wirtschaftlichen Erholung in den USA/EU/J im Vergleich zur Rezession in vielen Halbkolonien (wie Brasilien) und der Abschwächung der Wachstumsraten in China.

Insgesamt ist zu erkennen, dass sich die imperialistischen Länder (einschließlich Chinas) nach großen Unterschieden in der Profitrate, der Kapitalzusammensetzung und den Akkumulationsraten gegen Ende des Zeitraums stärker angenähert haben – und das bei geringer Profitabilität und Investitionstätigkeit. Offensichtlich hat die „entgegenwirkende Ursache“ der Globalisierung viel von ihrer Kraft verloren, so dass nach 2019 ein klarer Trend zur globalen Rezession erkennbar war. Dass diese im Jahr 2020 eintrat, hatte aber natürlich einen ganz anderen Grund, auf den wir später noch eingehen werden.

Entwicklung des Weltmarkts, des Weltwährungssystems und der globalen Schuldenproblematik

Ein zentrales Moment der Globalisierungsperiode war nicht nur die neue Qualität der Internationalisierung der Produktion und der globalen Finanzströme, sondern auch die enorme Expansion des Welthandels. Während der Anteil des Welthandels am Welt-BIP nach dem Nachkriegsboom auf 40 % anstieg, erhöhte er sich in der Globalisierungsperiode nochmals auf über 60 %. Das bedeutet, dass heute weit mehr als die Hälfte der für Investitionen oder Konsum erworbenen Güter über den Weltmarkt beschafft und nicht im Inland produziert werden. Dies ist in den imperialistischen Ländern natürlich noch stärker ausgeprägt als in den Halbkolonien. In letzteren ist der Anteil des im Inland produzierten BIPs größer, insbesondere was die Güter des Massenkonsums oder den Umfang des informellen Sektors und der Subsistenzwirtschaft betrifft.

Dies bedeutet, dass die Kosten für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft viel niedriger sind, was sich in den „Kaufkraftparitäten“ widerspiegelt (d. h., mit einem viel niedrigeren Lohn kann immer noch der „Standardwarenkorb“ gekauft werden). Zusammen mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität bedeutet dies, dass der inländische Sektor einer anderen Wertbildung unterliegt als der, der für den Weltmarkt produziert – wo in US-Dollar und nicht in Kaufkraftparitäten bezahlt wird. Aus der Sicht der Halbkolonie muss also weit mehr Wert als Äquivalent für importierte Güter aus Ländern mit höherer Kapitalzusammensetzung produziert werden, als zurückgewonnen wird. Während aus Sicht des Weltmarktes ein gleichwertiger Austausch stattfindet, erscheint dies aus der Sicht der Halbkolonie als „ungleicher“ und Werttransfer in die imperialistischen Volkswirtschaften. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Wert der Außenhandelsgüter in Kaufkraftparitäten und in US-Dollar vergleicht. Hier wird in fast allen Halbkolonien der Wert der Weltmarktgüter in Kaufkraftparitäten etwa doppelt so hoch bewertet wie zumWeltmarktpreis, während in den imperialistischen Ländern der Wert in Kaufkraftparitäten meist unter dem Weltmarktpreis liegt.

Dies drückt eben aus, dass die Halbkolonien einen viel größeren Teil ihrer Arbeitskraft und Produktionsmittel für den Erwerb von Weltmarktprodukten aufbringen müssen als die imperialistischen Länder. Das Problem ist nun, dass viele Studien (z. B. Ocampo/Parra) gezeigt haben, dass sich diese „Terms of Trade“ zwischen dem globalen Norden und Süden in der Globalisierungsperiode weiter zu Ungunsten des letzteren verschlechtert haben. In den imperialistischen Ländern führt dies z. B. zu einer Erhöhung der relativen Mehrwertrate durch billigere Importe von Konsumgütern. Wenn diese vom imperialistischen Kapital angeeignet werden, resultiert dies in einer Steigerung der Profitrate.

Ein wichtiger Faktor dabei ist der Wandel im weltweiten Agrar- und Rohstoffhandel in diesem Zeitraum. Beide Sektoren waren durch bisher nicht gekannte Monopolisierungstendenzen großer, internationaler Privatkonzerne gekennzeichnet. Angetrieben von Fortschritten in der Saatgut-, Düngemittel- und Mechanisierungstechnologie haben die Agrarkonzerne vor allem in den Halbkolonien riesige Flächen übernommen und bewirtschaften sie in großem Stil, um direkt für den Weltmarkt zu produzieren. Nach Angaben der FAO kontrollieren nur 2 % aller landwirtschaftlichen Betriebe mehr als zwei Drittel der weltweiten Agrarnutzfläche, in den Halbkolonien sogar mit Großbetrieben von rund 10.000 Hektar.

Die 2,6 Milliarden Kleinbauern/-bäuerinnen auf der Welt bewirtschaften jeweils weniger als 2 Hektar. Bis vor wenigen Jahren zeichneten diese Kleinstbetriebe für 80 % der Nahrungsmittelversorgung im globalen Süden verantwortlich. Die Expansion des Agrobusiness im Zuge der Globalisierung hat nicht nur immer mehr Kleinbauern/bäuerinnen von ihren Feldern vertrieben, sondern durch billige Industriegüter auch immer mehr solcher Selbstversorgungsnetze zerstört. Die Auseinandersetzungen um die Folgen dieses Verdrängungswettbewerbs haben in den letzten Jahren zu großen Agrarprotesten, z. B. in Indien, geführt. Zudem tendiert die Abhängigkeit der Grundversorgung solcher Länder vom Weltmarkt dazu, dass dessen Preisschwankungen, z. B. durch Währungsabwertungen oder Ereignisse wie den Ukraine-Krieg, sich unmittelbar in den betroffenen Ländern manifestieren – wo sie z. B. zum Arabischen Frühling führten.

Auch im Bergbau wurden fast alle ehemaligen Staatsbetriebe privatisiert und von einigen wenigen großen internationalen Konzernen übernommen. Auch diese sind nahtlos in die globalen Lieferketten integriert worden. Durch die Kontrolle seitens der multinationalen Agrar- und Rohstoffkonzerne verlieren die Volkswirtschaften des globalen Südens weitere Punkte bei den „Terms of Trade“, indem ihre internen Märkte weiter geschwächt werden und der Werttransfer in die imperialistischen Zentren ausgeweitet wird.

Diese Bedeutung des Weltmarktes für die globale Umverteilung sowie für Direktinvestitionen und Finanzmarkttransaktionen unterstreicht die Notwendigkeit für den Imperialismus, ein „Weltgeld“, heute den US-Dollar, durchzusetzen. Es gibt einen Angleichungsprozess zwischen den imperialistischen Ländern und eine starke gegenseitige Abhängigkeit durch gegenseitige Direktinvestitionen, die auch zu geringen Schwankungen zwischen ihren Währungen in der Zeit der Globalisierung geführt haben. Andererseits müssen die Länder mit abhängiger Entwicklung große Anstrengungen unternehmen, damit ihre Währungen gegenüber dem US-Dollar nicht abwerten – sonst werden die Kosten für die benötigten Weltmarktprodukte noch höher und es droht eine Inflation.

Daher müssen sie eine möglichst ausgeglichene Leistungsbilanz und die Bildung großer US-Dollarreserven anstreben. Beides erzwingt zwangsläufig eine so genannte neoliberale Politik, d. h. Öffnung für ausländische Investor:innen – vor allem als Profiteur:innen von Privatisierungen, Haushaltskürzungen –, niedrige Sozialbudgets, minimaler Spielraum für eigene wirtschaftliche Interventionen usw. Und wenn, wie geschehen, dennoch in größerem Umfang Kapital abgezogen wird, müssen die Devisenreserven vergeudet werden, um die eigene Währung zu stabilisieren. In den letzten Jahren haben wir dieses Drama in Ländern wie Brasilien, der Türkei und vor allem Argentinien erlebt.

Nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods (Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars) ist er selbst zu einem Objekt der Finanzspekulation geraten. Heute wird er vor allem durch Kreditvergabe und Anleihekäufe der US-Notenbank geschaffen, was bedeutet, dass seine Deckung von regelmäßigen, weltweiten Zinserträgen und der Entwicklung der Wertpapiermärkte abhängt. Das geht so lange gut, wie die großen Kapitalvermögen letztlich die Finanzinstitute im US/Euro-Raum/J als sichere Häfen für Investitionen bevorzugen.

Die Finanzmarktkrise 2007/2008 hat diese kurzzeitig erschüttert, aber letztlich nur zu deren Stärkung angesichts fehlender Alternativen (durch Rückkehr zu den klassischen Anlagemärkten) geführt. Die Kehrseite dieser weiteren Rettung der US-Dollarwirtschaft war die mit QE verbundene Ausweitung von Schulden und Geldmenge. Angesichts der stagnierenden Akkumulation und der niedrigen Profitraten ist jedoch weder ein rascher Abbau von Schuldverpflichtungen noch eine Ausweitung des Warenangebots im Vergleich zur Geldmenge zu erwarten. Die inflationäre Tendenz war also bereits in der Endphase der Globalisierung angelegt. Andererseits würde eine rasche Abschreibung von Billionen wertloser Geldeinlagen und Zombie-Unternehmen, z. B. nach einem erneuten Platzen der Immobilienblasen, sowie eine damit verbundene Abwertung von US-Dollar/Euro/Yen das derzeitige Finanzsystem wohl erneut in Frage stellen – und die Frage nach konkurrierenden Währungen aufwerfen.

Durch die Russlandsanktionen im Zuge des Ukrainekrieges dürfte diese Frage für viele Länder immer dringlicher werden: Die Beschlagnahme seiner US-Dollar-/Euro-/Yen-Devisenreserven und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System zur Abwicklung des internationalen Zahlungsverkehrs in US-Dollar haben hier die imperialistische Macht des US-Dollar-Systems überdeutlich gemacht. Daher führten die von China entwickelten Alternativen wie CIPS (internationale Zahlungsabwicklung für Banken, angesiedelt bei der Bank of China), China Union Pay (für globale Kreditkartensysteme), Universal Digital Payments Networks (basierend auf Blockchain) zu einer größeren Rolle Chinas bei globalen Finanzoperationen.

Zusammen mit seiner zunehmenden Bedeutung als Direktinvestor und internationaler Kreditgeber könnte dies den RMB zu einem Konkurrenten des bisher vom US-Dollar geprägten Systems machen. Gegenwärtig hat der US-Dollar seinen Anteil an den weltweiten Devisenreserven zwischen 2000 und heute von 70 % auf 59 % verringert, was jedoch durch einen Anstieg der Anteile von Euro, Pfund und Yen auf zusammen etwa 30 % kompensiert wurde. Der RMB gehört nur zu den 10 % „Nicht-Standard“-Währungen in den Devisendepots. Sein Anteil nimmt jedoch seit einigen Jahren stark zu. Bei einer erneuten Finanzkrise, einer Stabilisierung des chinesischen Finanzsektors und einer weiteren Expansion Chinas auf dem Weltmarkt könnten wir daher in eine Phase einer multilateralen Währungswelt ähnlich der 1970er Jahre (damals mit US-Dollar, Pfund, Yen und D-Mark) abgleiten, in der auch Euro und Yen wieder eine eigenständigere Rolle spielen könnten. Dies würde die globale Steuerungsfähigkeit der Krisenprozesse nicht gerade stärken und ähnlich wie in den 1970er und frühen 1980er Jahren zu einer Phase von Währungsturbulenzen, Inflations- und Rezessionsrisiken führen.

Die EU und Russland als die schwächsten Glieder des Imperialismus

Rein quantitativ gesehen ist die EU mit einem Anteil von 17,2 % am Welt-BIP der größte Wirtschaftsraum der Welt. China und die USA liegen nur etwa 1 % dahinter (die EU ist auch die mit Abstand größte Exporteurin weltweit). Sie ist jedoch durch innere Widersprüche gekennzeichnet. Im Zentrum der EU steht ein industriell starkes Deutschland, das die EU-Peripherie von Ost- bis Südeuropa als Zuliefererin für seine Produktionsketten nutzt. Gleichzeitig verfügt es weder über global bedeutendes Finanzkapital noch über politisch-militärisches Gewicht in der Sicherheits- und Außenpolitik. Im Vergleich zu Großbritannien (solange es noch Teil der EU war) und Frankreich ist dies umgekehrt. Ergänzt wird dieser Kern durch Italien und Spanien, die zu einer Zwischenkategorie gehören. Diese 4 – 5 führenden Nationen werden durch kleinere imperialistische Mächte ergänzt, von denen die meisten mit Deutschland einen Schwerpunkt in der Exportindustrie haben, sowie durch die Benelux-, die skandinavischen EU-Länder und Österreich. Gleichzeitig ist die EU ein Wirtschaftsblock, der eine Reihe von sehr unterschiedlichen Halbkolonien integriert: südeuropäische Länder wie Portugal, Griechenland, Zypern und Malta, Balkanländer, die sehr unterschiedlichen osteuropäischen Länder (mit Polen als einem der größten EU-Länder) und die baltischen Staaten.

Die Länder des Baltikums, Osteuropas und des Balkans, die aus den ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten hervorgegangen sind, wurden während der Globalisierung stark in die Produktionsketten des deutschen, niederländischen und skandinavischen Imperialismus integriert. Dies führte zu einer Stabilisierung der Industriesektoren nach ihrem Zusammenbruch während der Restaurationsphase. Dies zeitigte jedoch auch große Einkommensunterschiede bei den Beschäftigten in den Exportindustrien und Dienstleistungsunternehmen, in den ruinierten öffentlichen Sektoren, in den von EU-Agrarsubventionen profitierenden landwirtschaftlichen Betrieben und in verlassenen, prekären Gebieten. Nachdem ein großer Teil der ehemaligen Bürokratie ins Lager der Bourgeoisie und des Managements gewechselt ist, gibt es seit den 2000er Jahren kaum noch nennenswerte linke Kräfte mit Massenunterstützung auf der politischen Bühne dieser Staaten. Die Gewerkschaften vertreten vor allem sektorale Schichten (z. B. recht erfolgreich in der Automobilindustrie mit hohen Lohnerhöhungen; dagegen eher verzweifelte Abwehrkämpfe im Gesundheitssektor).

Infolgedessen konnten in fast allen diesen Staaten politische Kräfte die Führung übernehmen, die populistisch vorgeben, die Interessen der Zurückgebliebenen zu vertreten, während sie gleichzeitig die Opposition mit einer stark nationalistischen und autoritären Politik klein halten. Während sie sich scheinbar im „Widerstand“ gegen die imperialistischen Herr:innen in Berlin, Brüssel und Co. befinden, sind sie, wenn es um „konservative Werte“ geht, die der Nation angeblich wichtig sind, umso radikaler in der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Besonders deutlich wurde dies während der Eurokrise, als die baltischen und osteuropäischen Regierungen die radikalsten Kritikerinnen „linker“ Projekte waren, die im Gegensatz zum Brüsseler Spardiktat standen.

Die Eurokrise brachte den Widerspruch deutlich zum Ausdruck, dass zwar eine gemeinsame Währung mit bestimmten Haushaltsregeln geschaffen wurde, die Akkumulationsmodelle dieser Länder aber keineswegs angeglichen waren. Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, der Niederlande und der skandinavischen Länder standen in der Krise in starkem Kontrast zum Gegenteil in Südeuropa. Dies führte zwangsläufig zu niedrigen Zinssätzen für die einen und enorm steigenden für die anderen. Die Weigerung des Europäischen Rates und der EZB, auf den Kapitalmärkten gegenzusteuern, führte unweigerlich zu einem Problem bei der Refinanzierung des enormen Schuldenanstiegs in der Zeit der Überakkumulation und im Gefolge der Großen Rezession. Um den Zusammenbruch Griechenlands oder den Austritt aus dem Euro zu vermeiden, wurden schließlich umfangreiche EU-Programme aufgelegt, um die Zahlungsfähigkeit gegenüber den privaten (meist europäischen) Gläubiger:innen zu sichern, was letztlich zu einer Verstaatlichung dieser Schuldenrisiken führte und den Südeuropäer:innen enorme Opfer für die jahrelange Bearbeitung dieser Schulden auferlegte. Der Bankrott des linken Widerstands dagegen, z. B. der Syriza-Regierung in Griechenland, führte daher zur Zementierung von Varianten neoliberaler Politik auch in Südeuropa – mit der nahezu zwangsläufigenFolge des Aufstiegs des Rechtspopulismus (z. B. in Italien und Spanien).

Der Aufstieg der europäischen Exportindustrien und ihrer internationalen Produktionsketten ist eng mit der zunehmenden Zusammenarbeit mit einem wieder erstarkenden russischen Imperialismus verbunden. Bereits in der Lissabon-Agenda wurde das Ziel eines mit dem US-Imperialismus konkurrenzfähigen EU-Blocks mit der Idee neuer Partnerschaften verknüpft. Im Hinblick auf China soll dies insbesondere für die deutsche Industrie durch eine engere Einbindung in die Produktions- und Handelsbeziehungen erreicht werden, die mittlerweile die mit den USA bei den Importen übertreffen. Der VW-Konzern generiert inzwischen 40 % seines Umsatzes in China.

Die Stabilisierung des russischen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch Ende der 1990er Jahre (der „Russlandkrise“) führte dazu, dass mit dem Putin-Regime nach der „wilden“ Privatisierungsphase eine Wiederherstellung der Staatsmacht gelang. Insbesondere die großen Energiekonzerne und die Banken wurden einer strengen staatlichen Kontrolle unterworfen, die auch ein starkes direktes Eingreifen beinhaltete (eine besondere Rolle spielte dabei die Kontrolle über die Justiz). Mit den Gewinnen der Energiekonzerne konnte auch das Leid der vielen Verlierer:innen der Restauration etwas gemildert werden (z. B. Rentner:innen). Putins Populismus gewann gerade durch die Unterstützung der ärmeren und ländlichen Bevölkerung an Stabilität und konnte so die Unzufriedenheit der verschwindend kleinen „Mittelschichten“ in Russland verkraften. Die Stabilisierung des russischen Imperialismus ist auch in Grafik 1 zu sehen, wo die Perioden starker Erholung (oder sogar Wiederherstellung) der Profitrate offensichtlich mit der gestiegenen Nachfrage nach Energie und Rohstoffen in den aufstrebenden Industriezyklen der EU und Chinas zu tun haben.

Insbesondere die starke Ausrichtung des deutschen Kapitals auf Russland („Energiepartnerschaft“, die Nord-Stream-Projekte usw.) sorgte in der EU, vor allem in den baltischen Staaten und in Osteuropa, lange Zeit für Kritik und Polemik. Dies deckte sich mit den Interessen der USA, die sich durch die EU in ihren Russland-China-Partnerschaften herausgefordert sahen. Länder wie Polen und die baltischen Staaten witterten die Chance, unabhängig von Berlin/Brüssel zu agieren und sich der Unterstützung des US-Imperialismus sicher zu sein, der auf dem europäischen Kontinent ohnehin durch die NATO engagiert ist, die in der Sicherheitspolitik eine weitaus größere Rolle spielt als die EU. Die USA wiederum nutzten vor allem ihre baltischen und osteuropäischen Verbündeten, um die Osterweiterung der NATO voranzutreiben und deren Aufrüstung zu fördern. Die sich daraus zwangsläufig ergebende Konfrontation mit Putin-Russland musste auch die „Partnerschaft“ des EU-Projekts mit ihm als Konkurrenz zur US-Hegemonie erschüttern. In den bekannten „Pufferstaaten“ Ukraine, Belarus (Weißrussland), Georgien, wo es sowohl westliche als auch russische Machteinflüsse gab, musste diese Konfrontation schließlich in heiße Konflikte umschlagen.

Die genaueren Hintergründe und Verläufe dieser Konflikte werden an anderer Stelle behandelt. Wichtig ist hier, dass mit dem Ukrainekrieg das Projekt des EU-Blocks gegenüber Russland völlig gescheitert ist. Selbst die engen Beziehungen zu China geraten angesichts der engeren Beziehungen zwischen diesem und Russland ins Wanken. Das ist eine Katastrophe vor allem für den deutsch-französischen Kern der EU. Einerseits ist die Exportwirtschaft Deutschlands (aber auch der Niederlande und Österreichs) durch den Wegfall der russischen Energieimporte enorm betroffen. Der Anstieg der Energiepreise trifft Industrien, die bereits stark unter Versorgungsproblemen und Preisschocks leiden. Kurzfristig wird dies sicherlich zu Rezessionstendenzen führen. Insgesamt aber muss sich ein geschwächtes europäisches Kapital wiederum dem US-Kapital unterwerfen und sein Geschäftsmodell radikal auf eine atlantische Anbindung umstellen. Dies wird in der EU auch von den Regierungen in Polen und den baltischen Staaten vorangetrieben, die sich nun auf der Siegerstraße mit den USA sehen. Nach dem Brexit kann der britische Imperialismus auch eine neue Rolle als Vermittler in der Unterordnung unter die USA spielen und mit der Nordirlandfrage weiter an der Integrität der EU rütteln. Ein wirtschaftlich und politisch stark geschwächtes Kerneuropa um Deutschland, Frankreich und Italien ohne hegemoniales Projekt wird die Tendenzen, die EU zu einer immer loseren Interessengruppe zu transformieren, kaum aufhalten können – während die Integrationstendenzen immer schwächer werden.

Russland wird, wie immer der Krieg ausgeht, wirtschaftlich und politisch enorm geschwächt sein. Es hat seine wichtigsten Handelsbeziehungen verloren ebenso wie die Aussicht, über die EU und insbesondere Deutschland eine Alternative zum Bündnis mit China aufzubauen. Dies wird es dazu zwingen, seine zentralen Verbündeten, wahrscheinlich aus einer schwachen Position heraus, in China und Indien zu suchen. Dieses Bündnis trüge sicherlich das wirtschaftliche Potenzial, dem von den USA geführten Block zu widerstehen. Es ist jedoch noch nicht klar, ob China weiterhin versuchen könnte, in diesem Block zu operieren und seine wirtschaftlichen Beziehungen (die weitaus stärker sind als die zu Russland) auszubauen. Insbesondere in Lateinamerika, Afrika und vielen Regionen Asiens kann China den US-Imperialismus bereits herausfordern. Ob Russland für China als Lieferant von Öl, Waffen und Söldner:innen wichtig ist, bleibt abzuwarten. Andererseits gibt es in einigen zentralasiatischen (sehr rohstoffreichen) Ländern und an den Tausenden von Kilometern gemeinsamer Grenze genügend Konfliktpunkte zwischen China und Russland.

Energie, Wachstum und ökologische Krise

Wie in vielen Studien bestätigt, ist eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und entsprechendem Anstieg des Energieverbrauchs aus globaler Sicht bis heute nicht gelungen. Das bedeutet, dass die „Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“ entgegen den Ankündigungen unter dem Schlagwort „Green Economy“ auf der „Nachhaltigkeitskonferenz“ von Rio 2012 nicht gelungen ist. Die versprochenen „neuen Technologien“ und „effizienteren Wirtschaftsweisen“ ändern nichts an der Tatsache, dass der Zwang zu ständig steigender Kapitalakkumulation mit einem ebenso zunehmenden Energie- und Rohstoffhunger verbunden ist.

Grafik 6: Verhältnis BIP-Wachstum und Energieverbrauch

Abbildung 6 zeigt die enge Korrelation zwischen dem Wachstum des BIP (nach Angaben der Weltbank) und dem des Energieverbrauchs (gemessen in Litern Öläquivalenten, nach EPWT). Die Schwankungen des Energieverbrauchs sind stärker, da sie enger mit den physischen Zyklen in der Industrie verbunden sind (dennoch beträgt die Korrelation 0,75). Auch wenn der Anstieg des Energieverbrauchs in den USA im letzten Jahrzehnt geringer war (da auch die Wachstumsraten zurückgingen), wird dies weltweit durch seinen enormen Anstieg in China kompensiert (Wachstumsraten von bis zu 14 % im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre; danach immer noch Raten von bis zu 10 %) und, nachdem sich der Anstieg in China Mitte der 2010er Jahre verlangsamt hat, durch einen Anstieg des Energieverbrauchs insbesondere in den asiatischen Lieferländern für China wie Indonesien um 5 % von einem viel niedrigeren Niveau aus.

Während der weltweite Energieverbrauch im Globalisierungszeitraum (1990 – 2019) um rund 60 % gestiegen ist, hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien nur von 22 % auf 29 % erhöht. Weltweit, insbesondere in den Halbkolonien, stand und steht die Wasserkraft im Vordergrund (16 %). Allerdings besitzen die großen Staudammprojekte auch enorme ökologische Nachteile (siehe die Auseinandersetzungen um den Grand Ethiopian Renaissance Dam oder den Staudamm am Rio San Francisco in Brasilien). Auch Photovoltaik und Windkraft erzeugen bei der Rohstoffgewinnung, der Produktion, dem Flächenverbrauch, der Lieferung und dem Betrieb Treibhausgase, sind also nicht 100 %ig „CO2-frei“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge der Globalisierung die Treibhausgasemissionen insgesamt gestiegen sind, ebenso wie der Ressourcen- und Flächenverbrauch für die Energieerzeugung. Jede neue Wachstumswelle wäre daher im Kapitalismus mit neuen ökologischen Katastrophen verbunden. Entweder beschleunigt sich die Klimakatastrophe durch die Beibehaltung fossiler Energieträger oder der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien verbraucht massiv Land, Rohstoffe, Ökosysteme (z. B. Wasserkraft) oder Nahrungsmittel (z. B. für Biokraftstoffe). In jedem Fall wird die Frage nach einer nachhaltigen Wirtschaft, die die massenhafte Energieverschwendung durch eine effiziente Planung im globalen Maßstab ersetzt, zunehmend zu einer des Überlebens für die Menschheit. Die in der ökologischen Bewegung verbreitete Illusion einer „Gesellschaft ohne Wachstum“ („Degrowth“) oder der „Entkopplung von Wachstum und Energieverbrauch“ („Green Economy“) wird sich im Kapitalismus nicht realisieren lassen. Die unmittelbare Folge der Grenzen des bestehenden Energiesystems und der Umstellung auf erneuerbare Energien wird ein langfristiger Anstieg der Energiepreise sein. Die „billige Energie“, auf der die Zeit der Globalisierung basierte (z. B. durch die Autarkie der USA durch steigenden Verbrauch fossiler Ressourcen, billiges russisches Öl und Gas), wird kaum wiederkommen.

Corona und Ukrainekrieg als Krisenauslöser

Bereits 2019 deuteten viele Indikatoren auf ein erneutes Abgleiten der Weltwirtschaft in eine globale Rezession und eine tiefere Krise zu Beginn der 2020er Jahre hin. Auch wir haben diese Erwartung in unsere Perspektiven aufgenommen. Im Jahr 2018 schrieben wir: „Die Überwindung des stagnierenden Aufschwungs 2010 – 2016 und die gravierenden Widersprüche des aktuellen Aufschwungs bedeuten, dass wir auf eine nächste Rezession vorbereitet sein müssen, die um das Jahr 2020 eintreten könnte. Die Probleme der Schwellenländer und die Handelskonflikte machen es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Rezession handeln wird, die nicht auf einige Länder oder Regionen beschränkt sein wird. Wie tief die Krise sein wird, hängt von der Verlangsamung in China, den Turbulenzen in den Schwellenländern, der EU-Krise und sicherlich von den Schockwellen der Schulden- und Finanzkrise ab.“ Wir hatten die kurze Erholungsphase nach 2016 bereits als Ergebnis der Rückkehr des Kapitals gesehen, die nicht auf einer nachhaltigen Verbesserung der Rentabilität und Modernisierungsinvestitionen beruhte, sondern durch Probleme wie Schwellenländerkrisen, verstärkte Deglobalisierungstendenzen, das Abwürgen des chinesischen Aufschwungs und die anhaltende EU-Krise ins Gegenteil verkehrt werden würde. Die Prognose war insgesamt nicht falsch – nur der Auslöser der Krise im Jahr 2020 war ein ganz anderer, der von kaum jemandem vorhergesehen werden konnte.

Wie so oft in der Geschichte des Kapitalismus war es ein äußerer Schock, der die Krise auslöste, aber letztlich nur zum Beschleuniger der tieferen Krisenmomente wurde: das plötzliche Auftreten einer sich schnell ausbreitenden Pandemie Anfang 2020, die durch das hochansteckende Coronavirus (Sars-CoV-2) verursacht wurde und zu einer lebensbedrohlichen Krankheit, Covid-19, führte. Das Auftreten von Pandemien ist für die kapitalistische Epoche nichts Neues (Spanische Grippe), wurde aber durch die Fortschritte in der Medizin und insbesondere Mikrobiologie als reale Gefahr stark aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Die industriellen Formen der Massentierhaltung und der weltweite Handel mit exotischen Tieren sind ideale Brutstätten für Erreger, die vom Tier auf den Menschen überspringen (Zoonose). Die genauen Ursprünge des Erregers Sars-CoV-2, der erstmals in der chinesischen Stadt Wuhan registriert wurde, werden noch erforscht. Klar ist jedoch, dass die starke zwischenmenschliche Interaktion auf internationaler Ebene aufgrund der Globalisierung dazu geführt hat, dass dieses Virus, das sich durch die Luft verbreitet, überall auf dem Globus auftaucht.

Tatsächlich erwiesen sich die üblichen epidemiologischen Schutzmaßnahmen im internationalen Reiseverkehr als völlig unzureichend. In nur einem Monat war im Frühjahr 2020 praktisch jedes Land der Welt mit einem Ausbruch konfrontiert. Es wurde auch schnell klar, dass ein ausreichend großer sofort zu einem exponentiellen Wachstum der Viruserkrankungen führen würde, was in kurzer Zeit die Kapazitäten der intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten fast aller bestehenden Gesundheitssysteme übersteigen würde. Die drei bekannten Reaktionsmodelle bestanden in (1) der Entwicklung einer Herdenimmunität, indem die Infektion durch die Bevölkerung weitergegeben wird; (2) strengen Quarantänemaßnahmen zur Isolierung der Ausbrüche und damit zum Austrocknen der Infektion (Null-Covid); (3) der Begrenzung des Anstiegs der Infektion auf ein Niveau, das die Gesundheitssysteme kontrollieren können, in der Hoffnung auf frühzeitige Einführung eines wirksamen Impfstoffs.

Alle diese Strategien trugen auf ihre Weise ernste wirtschaftliche Folgen: Der Ansatz der Herdenimmunität führt zu vielen Krankheiten und Todesfällen und natürlich zu Produktionsausfällen. Die Null-Covid-Strategie in China schien zunächst äußerst erfolgreich zu sein, da sie die Sperrungen auf einige wenige, „kleinere“ Zentren beschränkte, während der Großteil der chinesischen Wirtschaft weiterlaufen konnte. Doch schließlich waren im Jahr 2022 auch sehr große Wirtschaftszentren betroffen, in denen die strengen Isolierungsmaßnahmen selbst mit den autoritären Methoden des chinesischen Seuchenschutzes nur schwer durchsetzbar waren, was zu einer Kettenreaktion von Einbrüchen der Wirtschaftstätigkeit in ganz China führte.

In den westlichen imperialistischen Ländern wurde zumeist die „Eindämmungs“strategie verfolgt, eine Mischung aus Kontakt- und Reisebeschränkungen und kleineren Abriegelungen, die nur eine sehr kurzfristige Unterbrechung der Produktion zum Ziel hatten. Die geringeren Restriktionen führten zwar zu weniger direkten wirtschaftlichen Folgen, machten das Virus aber auch langfristig „heimischer“ und förderten zusammen mit der Strategie der Herdenimmunität weltweit eine rasche Abfolge neuerer Mutationen des Virus, die mit Kontaktbeschränkungsmaßnahmen immer schwerer zu bekämpfen sind. Eine Entspannung ergab sich erst durch die überraschend schnelle Entwicklung wirksamer Impfstoffe, die bereits Ende 2020 klinisch erfolgreich getestet wurden. Hier wiederum begann die irrationale, global ungeplante Herangehensweise des Kapitalismus an ein weltweites Problem zu wirken: Anstatt Impfstoffe systematisch und je nach Ansteckungsdichte weltweit zu verteilen, wurde ein Großteil von den westlichen imperialistischen Zentren aufgekauft.

In diesen Ländern konnte zwar eine gewisse Beruhigung der Coronapandemie erreicht werden, aber vor allem im globalen Süden (der mit Testkits bereits schlecht versorgt war) war die Versorgung, vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu gering, um einen angemessenen Schutz zu bieten. Infolgedessen kam es 2021 zu weiteren Todesfällen und die Möglichkeit neuer Mutationen und Infektionswellen auf der ganzen Welt wurde ebenfalls vorbereitet. Während viele imperialistische Länder Mitte 2021 bereits das Ende der Pandemie feierten, wurde die Welt in der zweiten Hälfte des Jahres erneut von einer heftigen Infektionswelle getroffen. Mit den Omikronvarianten und den erreichten Impfquoten hat sich die Lage seit dem Frühjahr 2022 zwar beruhigt, von einer Entwarnung kann aber keine Rede sein. Nach Ansicht der meisten Expert:innen ist das Virus nicht endemisch geworden (d. h. auf das Niveau einer normalen Grippewelle gesunken). Es kann immer noch eine gefährlichere, ansteckende Variante von Sars-CoV-2 auftreten, die eine weitere Welle auslösen könnte, die die Intensivstationen wieder füllt. Es kann also nur eine vorläufige wirtschaftliche Bilanz gezogen werden.

Abbildung 7: Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden nach 2019

Im Gegensatz zur Großen Rezession von 2008/2009 wurde die Krise von 2020/2021 nicht direkt durch die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation ausgelöst. Aber die Unfähigkeit des Kapitalismus, diese Krise tatsächlich auf globaler Ebene zu bekämpfen, bedeutete, dass der externe Schock der Pandemie zum Verstärker der bereits bestehenden Krisentendenz geriet. Die unmittelbare Auswirkung der Pandemie im Frühjahr 2020 bestand darin, dass innerhalb von ein bis zwei Monaten die Produktions- und Handelsströme fast überall auf der Welt zum Erliegen kamen (aufgrund von verschiedenen Schließungen, Einschränkungen am Arbeitsplatz, Grenzschließungen usw.). Auch wenn in der Folgezeit mit Ausnahme Chinas keine drastischen Maßnahmen ergriffen wurden, so wurden doch einige Wirtschaftszweige langfristig eingeschränkt. Vor allem kam es zu einem starken Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden aufgrund von Krankheiten, der viele Monate anhielt. Abbildung 7 zeigt den von der ILO gemessenen Einbruch der globalen Arbeitsstunden nach Ende 2019. Er geriet im zweiten Quartal 2020 zum stärksten, der jemals gemessen wurde, sogar schlimmer als in den Jahren 2008/2009: Während die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2020 um 2,6 Stunden sank, waren es in der „Großen Rezession“ nur 0,6 Stunden (ILO Monitor Covid-19, 2021). Der Einbruch war regional deutlich gestaffelt: Lateinamerika, Südostasien, Nordafrika und Südeuropa waren die Länder mit den größten Arbeitszeitverlusten.

Vor allem in Anbetracht des letztgenannten Punktes ist es nicht verwunderlich, dass es zu enormen Einbrüchen in den globalen Lieferketten und im Welthandel kam. Der Welthandel mit Gütern ging bis 2020 um 8,2 % zurück, der mit Dienstleistungen sogar um 16,7 %. Die Störungen der „globalen Wertschöpfungsketten“ (GVC) sind schwieriger zu quantifizieren. Studien der WTO zeigen jedoch, dass die GVC in Korrelation mit dem Welthandel Versorgungsprobleme aufwiesen, die Störung aber viel langfristiger anhielt (asynchrone Wellen in den verschiedenen Regionen, häufige Unterbrechungen der Transportketten, Dominoeffekte bei Versorgungskettenproblemen, Nachfrageschwankungen usw.). Darüber hinaus rückte ein weiteres wichtiges Moment in den Vordergrund: Bereits in der kurzfristigen Erholungsphase der Industrien des klassischen Imperialismus nach 2016 begann das Phänomen des „Reshoring“ (im Gegensatz zum „Offshoring“ Anfang der 2000er Jahre): Durch verstärkte Automatisierung und KI können westliche Industrien im Rahmen der „Industrie 4.0“ angesichts gestiegener Transportkosten billigere Arbeitskräfte in Halbkolonien einsetzen. Im Zuge der Versorgungsrisiken in der Coronakrise hat sich diese Tendenz zum Reshoring nun offensichtlich verstärkt – um mit dem Ukraine-Krieg nochmals beschleunigt zu werden.

Ursprünglich verkündeten die meisten Wirtschaftsforscher:innen zu Beginn der Coronakrise, dass nach einem kurzen Produktionsstillstand, der durch staatliche Hilfen abgefedert werden konnte, das Wachstum der Vorkrisenzeit nach einer ebenso schnellen Erholungsphase nach dem scharfen Abschwung nahtlos in einer Art V-Form fortgesetzt werden könne. Zu Beginn des Jahres 2021 schien sich diese optimistische Prognose zusammen mit dem Beginn der Impfkampagnen zumindest in den imperialistischen Ländern zu erfüllen. Doch in der zweiten Hälfte des Jahres schlug nicht nur eine neue Coronawelle zu, sondern auch die langfristigen Probleme im Welthandel und in den globalen Wertschöpfungsketten machten sich bemerkbar. So klagten drei Viertel der deutschen Industriebetriebe über wesentliche Lieferprobleme (VW musste wegen fehlender Teile auf Kurzarbeit zurückgreifen), weltweite Produktionsausfälle, gestiegene Rohstoff- und Energiepreise usw. Der versprochene Aufschwung brach also sofort zusammen. Dies hatte aber noch eine weitere unangenehme Folge: Die zu Beginn der Coronakrise ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft bewahrten viele Unternehmen vor dem Zusammenbruch und hielten die Nachfrage nach Konsumgütern auf hohem Niveau – allerdings in der Annahme, dass Produktion und Welthandel bald wieder in Gang kommen und diese Nachfrage dann befriedigen könnten. Das fehlende Wachstum des Angebots führte im Jahr 2021 zu einem Nachfrageüberhang, der zu einem Preisanstieg führen musste.

Es sind also nicht die „lockere Geldpolitik“, die „mangelnde Haushaltsdisziplin“ oder gar „zu hohe Löhne“, die die Inflation auf den Stand der 1970er Jahre zurückbrachten, sondern ist eindeutig das Problem der Stagnation des globalen Produktionsprozesses, das zu einem Angebotsschock führte.  In diesem Punkt können wir Michael Roberts zustimmen: „Die kapitalistische Produktion und die Investitionen verlangsamten sich, weil die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften vor der Pandemie nahezu historische Tiefstände erreicht hatte. Die Erholung der Investitionen und der Produktion nach COVID war nur ein ,Zuckerrausch’, als sich die Volkswirtschaften wieder öffneten und aufgestaute Ausgaben freigesetzt wurden. Jetzt wird deutlich, dass das Produktions- und Investitionswachstum in den großen Volkswirtschaften einfach zu schwach ist, um auf die wiederbelebte Nachfrage zu reagieren.  Daher ist die Inflation in die Höhe geschossen“ (M. Roberts,  https://thenextrecession.wordpress.com/2022/06/18/a-tightening-world/).

Grafik 8: Verschuldung der Industrieländer, in Prozent des BIP (1970 – 1918)

Darüber hinaus gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt der Krisenverschärfung: die Rolle der Schulden. Die Krisenpolitik nach der Großen Rezession hat die globale Schuldenlast enorm erhöht. Zu Beginn der Coronakrise betrug das globale private und öffentliche Schuldenvolumen das 2,6-fache des Welt-BIP (siehe Grafik 8: Verhältnis zwischen Schulden und BIP, nach „Die Volkswirtschaft“, einer Publikation des Schweizer Wirtschaftsministeriums). Mit den Rettungspaketen, Anleihekäufen, Wirtschaftshilfen usw. der Coronawirtschaftspolitik beträgt die Schuldenlast heute mehr als das Dreifache des Welt-BIP. Für imperialistische Länder, deren privates Kapitalvermögen das 4- bis 6-Fache des jeweiligen nationalen BIP ausmacht, mag das noch finanzierbar sein – in Halbkolonien muss es jedoch zu den bekannten Mustern von Schuldenkrisen führen. Auch in den imperialistischen Ländern zieht dies einen wachsenden Anteil an Kapital nach sich, das in Anlagen mit geringer Rendite gebunden ist. Laut Bloomberg stieg der Index der in Grafik 3 erwähnten Zombie-Unternehmen im Jahr 2022 auf über 20 % (31/05/22 „Zombie Firms Face Slow Death in US as Era of Easy Credit Ends“). Das bedeutet, dass das Kapital, das jetzt für Reshoring, „Industrie 4.0“ oder die Energiewende benötigt würde, fehlt. Zudem treibt die schuldenfinanzierte Nachfrage die Inflation weiter auf hohem Niveau an. Eine weitere Ausweitung des Schuldenregimes stößt daher derzeit auf den erbitterten Widerstand mächtiger Kapitalfraktionen, insbesondere der nach profitablen Investitionen suchenden Finanz- sowie der profitablen Industriekapitale. Diese drängten die Zentralbanken zu einem Ende des „Quantitative Easing“.

Die Einstellung der Anleihekäufe für angeschlagene Unternehmen und die Anhebung der Zinssätze, auf die sich die großen Zentralbanken nun konzentrieren (QT; Quantitative Tightening), wird unweigerlich zu einem mehr oder weniger schnellen Ausfall der Zombie-Unternehmen führen. Da es sich dabei um große Unternehmen, z. B. in der Luftfahrt- oder Energiebranche, handelt, werden sich sicherlich wieder einige die Frage stellen, ob der Zusammenbruch eines Unternehmens eine Kettenreaktion wie beim Zusammenbruch von Lehman im Jahr 2008 auslösen könnte. Die Zentralbanken und Regierungen werden die nächsten 2 – 3 Jahre damit verbringen, die verschuldeten Unternehmen abzuwickeln, ohne dass es zu einer Pleitewelle oder dem Platzen von Finanzblasen kommt. Die Bankenkrise vom März 2023 markierte bereits ein deutliches Anzeichen der Anpassungsprobleme der Geschäftsbanken an die restriktivere Geldpolitik der Zentralbanken (Zusammenbruch der zweitgrößten Schweizer Bank). Andererseits könnte ein zu langsames Tempo den Trend zur Stagflation weiter verstärken. Denn eine steigende Inflation könnte zusammen mit den bereits bestehenden Wachstumshemmnissen schnell zu einer Abwärtsspirale aus ungünstigen Inputkosten und mangelnden Investitionen führen, die auch durch steigende Kreditzinsen behindert werden. Die Zusammenbruchsszenarien hingegen können zu rasch steigender Arbeitslosigkeit, Ausfall von Produktions- und Lieferketten und schließlich zusätzlich über eine Angebots- zu einer Nachfragekrise führen – also zu Deflation und Stagnation, d. h. zu einer Depression. In jedem Fall kommt das Kapital unter diesen Bedingungen nicht mehr umhin, seine Überakkumulationskrise durch Kapitalvernichtung zu lösen. Ob dies nun durch Stagflation, Depression oder ein gefährliches Manöver dazwischen geschieht und wie die Ausmaße regional unterschiedlich ausfallen werden, sicher ist, dass jede dieser Lösungen mit massiven Verschlechterungen für die Arbeiter:innenklasse und heftigen Angriffen auf ihre Errungenschaften verbunden sein wird.

Wie auch immer sich die Inflation entwickelt, die Höhe der Löhne und Sozialleistungen bildet sicher nicht ihre Ursache. Die Arbeit„nehmer“:innen haben im letzten Jahr damit begonnen, ihre in einigen Bereichen durch Reshoring und „angespannte Arbeitsmärkte“ gestärkte Verhandlungsposition für Kämpfe zum Schutz des Lohnniveaus zu nutzen. Insbesondere darf man sich durch das Gerede von der „Lohn-Preis-Spirale“ nicht dazu drängen lassen, auf einen nachhaltigen Inflationsausgleich zu verzichten: Jede kurzfristige Entlastung, die jetzt angeboten wird, führt nur dazu, dass bei einer weiteren Verschärfung die Kampfkraft zur Abwehr weiterer Lohneinbußen noch schlechter ausfällt. Der Verzicht auf einen Inflationsausgleich ist keine „Inflationsbekämpfung“, sondern ein Mittel zur Gewinnsteigerung (so wie bestimmte staatliche Subventionen für die Mineralölindustrie in Deutschland nicht zur Senkung der Benzinpreise, sondern zur „Förderung“ der Gewinne der Unternehmen eingesetzt wurden).

In Zeiten der Inflation müssen die Preissteigerungen durch Klassenkampf gegen die Profite aufgefangen werden, sei es durch gleitende Lohntarife, Preiskontrollen oder Gewinnsteuern – jeweils verbunden mit entsprechenden Kontrollgremien der Arbeiter:innenklasse. Da sich die Preissteigerungen vor allem um die Bereiche Energie, Wohnen und Verkehr drehen, müssen auch hier weitere Kämpfe geführt werden, für die Verstaatlichung der Energieunternehmen, der Wohnungsbaugesellschaften und für den Ausbau des kostenlosen öffentlichen Verkehrs. Wir müssen uns auf die kommende Welle von Betriebsschließungen und Entlassungen vorbereiten, damit nicht jeder einzelne Betrieb auf verlorenem Posten für sich kämpft. Die Krise muss mit einer Welle von Besetzungen, Streiks, letztlich dem Generalstreik, um die Verteilung der immer noch steigenden Arbeit auf alle, verbunden mit einer entsprechenden Anpassung der Wochenarbeitszeit, einhergehen.

Krieg und Kriegswirtschaft

Natürlich wird die derzeitige Krisenphase dadurch verschärft, dass die neue Blockbildung der imperialistischen Mächte zunehmend auf eine militärische Konfrontation drängt. Nachdem das Ende der Coronakrise Anfang 2022 die schlimmsten wirtschaftlichen Einbrüche abzumildern schien, begann Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dies hat zu einer Konfrontation zwischen dem „westlichen“ und russischen Imperialismus geführt, die es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Die EU hat gemeinsam mit der NATO und den USA weitreichende Wirtschaftssanktionen ergriffen, die auch Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft nach sich ziehen. Länder wie China, Indien oder Brasilien, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen, sind von den Sekundärsanktionen nicht betroffen, müssen aber eine langfristige Schwächung ihrer Handelsbeziehungen mit „dem Westen“ befürchten, insbesondere was China betrifft. Kurzfristig werden China und Indien jedoch vom billigeren Zugang zu russischem Gas, Öl, Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen profitieren.

Die Sanktionen beinhalten zum einen den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT und die Sperrung von russischen Devisenkonten in „westlichen“ Währungen. Damit sind Direktinvestitionen in Russland unmöglich bzw. weitgehend eingestellt worden. Ebenso ist der Handel praktisch zum Erliegen gekommen – mit der wichtigen Ausnahme von Gas und Öl, da ein sofortiger Stopp in den meisten EU-Ländern akut zu einer tiefen Rezession geführt hätte. Die Wirtschaftssanktionen betreffen also hauptsächlich die EU-Imperialist:innen selbst. Während Russland große Probleme mit der Einfuhr westlicher Hochtechnologie bekommt, kann es sein Öl weiterhin zu guten Preisen an die nicht sanktionierenden Länder liefern. Hinzu gesellt sich das Problem des Weltagrarmarktes: Vor dem Krieg belegten Russland und die Ukraine einen Anteil von 15,8 % bzw. 9,8 % am weltweiten Getreideexport – beide sind durch die Blockade der Schwarzmeerhäfen und des Bosporus gefährdet bzw. extrem eingeschränkt. Angesichts des oben beschriebenen Wandels in den Subsistenzwirtschaften der Halbkolonien drohen in vielen Ländern des globalen Südens Hungerkrisen. Während der Weltmarktindikator „Food Price Index“ während der Coronakrise von 100 % in den Jahren 2014 – 2016 auf über 150 anstieg, nahm er während des Ukrainekrieges auf 250 zu. Auch die Energiepreisindizes sind durch den Krieg von ihrem bereits hohen Coronaniveau aus so stark angestiegen, dass die EU-Industrie allein in diesem Jahr voraussichtlich 30 % höhere Energiekosten zahlen muss (sofern es nicht noch schlimmer kommt). Damit hat der Krieg die bereits bestehende inflationäre Tendenz weiter beschleunigt. Insbesondere für das EU-Kapital stellen der Energiepreisschock und der Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland einen weiteren Krisen- und Inflationsbeschleuniger dar. Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt man aber auch über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome Russland in die Schuhe zu schieben und die wirtschaftlichen Angriffe auf soziale Errungenschaften als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen.

Natürlich bringt der Krieg auch direkte wirtschaftliche Auswirkungen mit sich: Die Ukraine selbst ist natürlich das Hauptopfer der massiven Zerstörung und der extremen menschlichen Verluste. Wer die Kosten für den Wiederaufbau des ohnehin bitterarmen und hoch verschuldeten Landes (die Ukraine hat das halbe Pro-Kopf-Einkommen Bulgariens, des bisher ärmsten EU-Lands, und war bereits Opfer mehrerer IWF-Umschuldungsprogramme) tragen wird, ist mehr als unklar und wird in einem EU-Beitrittsprozess Milliarden verschlingen, mit entsprechenden Auflagen für einen mehr oder weniger offenen Kolonialstatus des Landes in der EU. Für Russland bedeutet der Krieg jeden Tag Kosten in Milliardenhöhe (von den menschlichen Opfern ganz zu schweigen). Es ist durchaus möglich, dass es nach dem Krieg angesichts der Kosten und der Folgen von Sanktionen in den Staatsbankrott schlittert, je nachdem wie lange er dauert. Ein möglicher Wechsel an der Spitze des Staates macht aber eine weniger nationalistische Ausrichtung Russlands keineswegs wahrscheinlicher. Sicherlich muss es sich finanziell, handelspolitisch und auch bei der militärischen Ausrüstung sehr stark an China anlehnen, um überhaupt als (untergeordnete) imperialistische Macht überleben zu können.

Obwohl die westlichen imperialistischen Mächte noch nicht direkt mit kämpfenden Einheiten in der Ukraine zusammengearbeitet haben (auch wenn freiwillige „Ex-Soldat:innen“ ermutigt werden), haben sie die ukrainischen Streitkräfte bereits vor dem Krieg massiv ausgerüstet und ausgebildet und sie im Krieg mit Waffen, Logistik und Informationsdiensten sowie mit der Ausbildung an den neueren Waffensystemen unterstützt. Darüber hinaus wurde der Krieg genutzt, um die Präsenz der NATO-Truppen und aller Arten von Waffen entlang der Ostfront auszubauen. Mehrere EU-Staaten haben umfangreiche Aufrüstungsprogramme beschlossen (darunter auch Deutschland). Nach Angaben der Washington Post haben allein die USA von 2014 bis 2021, also bereits vor dem Krieg, 2,7 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe bereitgestellt. Im ersten Jahr des Ukrainekriegs haben die USA 48 Milliarden US-Dollar an finanzieller und militärischer Hilfe geleistet, während die EU-Staaten (und die Union) 52 Milliarden US-Dollar aufbrachten. Zusammen mit der Hilfe des Vereinigten Königreichs und anderer Länder (Kanada, Australien, … ) hat die Ukraine im ersten Kriegsjahr eine Hilfe erhalten, die dem BIP entspricht, das sie im Jahr vor dem Krieg produziert hat. Allein die USA haben seit Beginn des Krieges bis November 2022 direkte Militärhilfe in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar geleistet (alle diese Daten stammen aus dem „Ukraine Support Monitor“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“, das der deutschen Regierung und dem Deutschen Arbeit„geber“verband nahesteht). Im Vergleich dazu haben die USA in einem durchschnittlichen Jahr vor 2021 280 Millionen US-Dollar in Afghanistan investiert.

Der Großteil der bis Ende 2022 an die Ukraine gelieferten Ausrüstung stammte aus den Beständen westlicher Armeen. Dies ging mit einer langfristigen Erneuerung mit moderneren Waffen in diesen einher. Schon vor dem Krieg gehörte die Rüstungsindustrie im Westen zu den am schnellsten wachsenden Bereichen der imperialistischen Länder. Während der Coronakrise wuchs sie im Jahr 2021 um 2 %. Im ersten Quartal 2022 konnten Panzer- und Artilleriehersteller:innen wie Rheinmetall ihre Gewinnspanne um 10 % steigern. Doch das Beste für diese Unternehmen steht noch bevor. Ende 2022 wird immer deutlicher, dass die Lieferungen aus Lagerbeständen für die ukrainische Armee nicht ausreichen. Sie verbraucht pro Tag Munition, die den Vorrat ganzer NATO-Armeen aufbraucht, so dass Anfang 2023 ein erheblicher Munitionsmangel entsteht, vor allem für die moderneren Waffen (z. B. die Leopardpanzer, die Munition aus Schweizer Produktionsstätten benötigen würden). Dies erfordert nun eine direkte Lieferung aus westlichen Produktionsstätten. Normalerweise dauert es bei komplexeren Waffen 28 Monate von der Bestellung bis zur Lieferung. Einiges davon war zwar bereits vorbereitet, aber die NATO-Regierungen haben nicht mit einem so langen Zermürbungskrieg gerechnet – vor allem nicht mit der Menge an konventionellen Waffensystemen wie Panzern und Artillerie. Die westliche Führung appelliert nun an die Industrie, riesige Rüstungsprojekte auf die Beine zu stellen, um Vorräte anzuhäufen und schnell auf den Kriegsschauplatz liefern zu können. Die Vertreter:innen der Rüstungsindustrie reagierten eifrig, verwiesen aber gleichzeitig auf die gestiegenen Produktionskosten und verlangten strenge Zahlungsverpflichtungen. Während also die militärische Unterstützung bisher nur über die Lieferung aus Vorratsdepots finanziert wurde, wird deren Kalkulation nun direkt zur Staatsverschuldung beitragen.

Da die westlichen Imperialist:innen also auf eine Kriegswirtschaft zusteuern, wird dies spezifische Auswirkungen auf die weltwirtschaftlichen Krisentendenzen mit sich führen. Einerseits hat das Wachstum der Rüstungsindustrien kurzfristige Auswirkungen in Form von Nachfrage- und Beschäftigungswachstum. Da es sich dabei aber um unproduktive Arbeit für den Kapitalkreislauf handelt, löst sie in keiner Weise die langfristigen Probleme der Kapitalverwertung. Dies kommt in der Frage der Finanzierung dieses Wachstums zum Ausdruck. Wie beim Vietnamkrieg in den 1960er/1970er Jahren ist nicht zu erwarten, dass die Kriegsanstrengungen über Steuererhöhungen finanziert werden. Er (wie später auch Afghanistan) wurde vor allem über eine massive Erhöhung der Staatsverschuldung und eine Ausweitung der verfügbaren Geldmenge finanziert. Der Vietnamkrieg verkörperte somit den Beginn der ersten Inflationsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wir bereits in das zweite Jahr des Ukrainekrieges mit hohen Inflationsraten und einem astronomischen Schuldenstand eintreten, wird der Drang zur Kriegswirtschaft das QT-Projekt des Schulden- und Inflationsabbaus konterkarieren. Hinzu kommen die unmittelbaren Probleme der Rüstungsindustrie selbst: Wie alle Industrien weist sie Versorgungsprobleme (z. B. im wichtigen Bereich der Halbleiter oder Rohstoffe) durch Preissteigerungen bei Vorprodukten und Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auf. Letzteres hängt auch mit der Notwendigkeit zusammen, die Produktionsketten der Rüstungsindustrie in den „zuverlässigen“ imperialistischen Kern zu verlagern. Nicht zuletzt gehört sie auch zu den größten Produzentinnen von Treibhausgasen und muss vor allem in den imperialistischen Kernländern zunehmende Restriktionen einhalten. All dies führt zu explodierenden Kosten des neuen Wettrüstens. Wie im Fall des Vietnamkriegs könnten die hohen wirtschaftlichen Risiken, die auf dem Spiel stehen, die USA dazu veranlassen, eine direkte Beteiligung in Betracht zu ziehen, um einen schnellen Sieg sicherzustellen.

Der Faktor China

Nach eher pessimistischen Prognosen für 2023 in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres sind die bürgerlichen Ökonom:innen seit Anfang dieses Jahres wieder erstaunlich optimistisch. Während sie in allen großen imperialistischen Volkswirtschaften rezessive Tendenzen sahen, erwarten sie jetzt nur noch im Vereinigten Königreich einen Einbruch. Während sie einen Trend zu einem globalen Wachstum von unter 2,7 % voraussagten, reden sie nun über einen in Richtung 3 % – eine mögliche „sanfte Landung“ nach der „Überhitzung nach der Pandemie“. Eine Grundlage für den Optimismus sind Daten über sinkende Inflationsraten, insbesondere fallende Preise im Energie- und Wohnungssektor. Hinzu kommen Daten über hohe Beschäftigungsquoten und abnehmende Probleme in den Lieferketten. Sollten wir also eine Rückkehr zu den stetigen Wachstumstrends der Zeit vor der Pandemie erwarten, wie es Weltbank und IWF suggerieren?

Wie wir bereits erwähnt haben, gibt es mehrere Probleme mit dieser Perspektive: Erstens war dieses „vorpandemische Wachstumsniveau“ bereits eines der schlechtesten in der Geschichte des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist Ausdruck eines historisch niedrigen Produktivitäts- und Rentabilitätsniveaus, das keine gute Grundlage für eine Zunahme der für ein nachhaltiges kapitalistisches Wachstum erforderlichen Investitionen darstellt. Zweitens ist die derzeitige Preissenkung Ausdruck des Nachfragerückgangs aufgrund der weltweit sinkenden Wachstumsraten am Ende des letzten Jahres (Wachstum von nur 0 bis 1 % in den meisten imperialistischen Ländern) – und insbesondere des historisch niedrigen Wachstums in China (2 % im letzten Quartal). Gerade letzteres hatte auch einen enormen Einfluss auf den Rückgang der Ölpreise. Drittens hat sich der Anstieg der Zinssätze auf das Investitions- und Ausgabenniveau ausgewirkt, so dass die sinkende Nachfrage auch Auswirkungen auf die Preise hatte. Viertens haben die notwendigen Lohnkämpfe der Arbeiter:innenklasse, um zu verhindern, dass die Krise über die Inflation bezahlt wird, die Löhne in einer Weise erhöht, die sich im Jahr 2023 auf das Preisniveau auswirken wird. Fünftens werden die genannten Auswirkungen der Kriegswirtschaft erst im Jahr 2023 spürbar werden. All diese gegensätzlichen Elemente sowie die Probleme bei der Umstellung der Volkswirtschaften auf Reshoring und die Abkehr von fossilen Brennstoffen machen diese optimistischen Aussichten ziemlich obsolet.

Aber es gibt noch einen viel wichtigeren Faktor: China. Es hat die Coronakrise in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 schneller als erwartet überwunden. Wirtschaftswissenschaftler:innen erwarten, dass es in diesem Jahr auf einen Wachstumspfad von bis zu 4 bis 5 % zurückkehren wird. Dies ist wichtig für exportorientierte Volkswirtschaften, die ansonsten mit Märkten konfrontiert sind, die mit Wachstumsraten von 1 % zu kämpfen haben. Der Druck, die chinesische Expansion wieder als Vehikel für die eigene Erholung zu nutzen, wird groß sein. Dies geht einher mit einer wachsenden politischen Nutzung der wirtschaftlichen Macht durch die chinesische Regierung und die Kapitalist:innen auf der anderen Seite. Zwar könnten westliche Regierungen versuchen, ihre Kapitalist:innen unter Druck zu setzen, einen Teil ihrer Chinainvestitionen zu verlagern, doch wird dies schwierig sein, wenn das Land den Zugang zu Rohstoffen und Produktionsprozessen blockiert, die der Westen dringend benötigt, wie beispielsweise die Auseinandersetzungen um die Solarindustrie in jüngster Zeit gezeigt haben. China zu sanktionieren oder die „Abhängigkeit“ von ihm zu verringern, wird für die Wachstumsperspektiven des Westens äußerst kostspielig sein und kann zu einer schnellen Wende hin zu einem Einbruch der Weltwirtschaft führen.

Dies trägt zu der zunehmenden geopolitischen Konfrontation zwischen China und den USA bei. China ist im Vergleich zu Russland eine wirtschaftliche Supermacht, mit der die USA auf rein wirtschaftlicher Ebene nur schwer zurechtkommen, obwohl sowohl Trump als auch Biden dies durch Handels- und protektionistische Maßnahmen versucht haben. Es liegt auf der Hand, dass sich Chinas wirtschaftliche Stärke zunehmend auch auf die politische und rüstungspolitische Ebene überträgt. Der Ukrainekrieg zeigt, dass es eine vom Westen unabhängige Rolle spielen und eine eigene Einflusssphäre um sich scharen kann. Während der Westen in Bezug auf den Ukrainekrieg vorgibt, dass „die Welt geschlossen hinter uns gegen Russland steht“, gelang es China, einen großen Block von Ländern anzuführen, die nicht bereit sind, Sanktionen gegen Russland zu unterstützen und Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus wurde Russland in eine untergeordnete Rolle als billiger Energielieferant gedrängt. China ist somit ein Gewinner der neuen Blockkonfrontation. Da es sich nun als möglicher Friedensvermittler (zusammen mit Brasilien und Indien) präsentiert, ist dies eine gewaltige Provokation für die US-Hegemonie. Sicherlich wird dies den Taiwankonflikt anheizen, da es zu neuen Anschuldigungen führen wird, dass China in Wirklichkeit Waffen und Munition an Russland liefert. Der Ukrainekrieg wird also nur ein Vorspiel für die viel größere Konfrontation zwischen den beiden größten Supermächten abgeben – mit unvorhersehbaren Folgen für das weitere Schicksal der Weltwirtschaft, da die Spannungen zunehmen werden.

Eine neue Periode der „Deglobalisierung“?

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass wir weit davon entfernt sind, uns in einer neuen Periode des Aufschwungs der Kapitalakkumulation zu befinden. Die nächsten Jahre werden weiterhin von der Krise des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geprägt sein. Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode gibt es keine entscheidenden neuen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die zu noch höheren Ausbeutungsraten führen könnten. Auch gibt es im Gegensatz zu damals keine aufstrebende Wirtschaftsmacht wie China, die mit wesentlich höheren Profitraten in das Konzert der imperialistischen Akkumulation einsteigen kann. Im Gegenteil, die Profitraten aller imperialistischen Volkswirtschaften haben sich auf einem niedrigen Niveau angeglichen. China ist selbst von einem Motor der globalen Akkumulationsdynamik zu einem Krisenfaktor geworden.

All diese Krisenfaktoren: Energie und Ökologie, Pandemie, Verschuldung, Inflationsgefahr, Zusammenbruch von Zombie-Unternehmen, die aussichtslose Krise fast aller halbkolonialen Regionen, insbesondere der Absturz der Schwellenländer, wachsende Kriegsgefahr und Aufrüstungsspiralen lassen einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Investitionswelle in klimaneutrale und intelligente Technologien (Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 etc.) höchst unwahrscheinlich erscheinen. Die Phänomene der „Deglobalisierung“, wie der Rückgang der Direktinvestitionen, das geringere Gewicht globaler Wertschöpfungsketten, die Schwächung des Welthandels, z. B. durch neue Zölle, stellen vor allem ein Zeichen der Krise und nicht das Merkmal einer neuen Blüteperiode dar.

Auch wenn die „Globalisierung“ nicht mehr dynamisch voranschreitet, wird der Kapitalismus kaum vom neuen Grad der Internationalisierung seiner Produktionsweise ablassen. In der gegenwärtigen Zeit bedeutet dies, dass auch die Krise eine viel internationalere und globalere Dynamik annimmt.  Wir werden mit einer Welt der Krisen und Kriege konfrontiert sein, in der die internationale Arbeiter:innenklasse für ihre Grundrechte und einen sozial und ökologisch bewohnbaren Planeten für alle kämpfen muss. Deshalb ist der Kampf um die Führung der Klasse, die Stärkung ihrer grundlegenden Kampforgane, ihre Gewinnung für eine internationalistische und kommunistische Transformation der Gesellschaft sowie die Verteidigung gegen die verschiedenen populistischen Pseudoreaktionen auf die Krise notwendiger denn je!