Iran: Das Regime droht, die Revolution im Blut zu ertränken

Martin Suchanek, Neue Internationale 271, Februar 2023

Seit Monaten versucht das islamistische Regime, die Massenproteste und -erhebungen, die nach dem Mord an Jina Mahsa Amini das Land erschüttern, im Blut zu ertränken.

Im September 2022 erfasste die Bewegung das gesamte Land und nahm vorrevolutionäre Dimensionen mit Hunderttausenden auf den Straßen, regionalen befristeten Generalstreiks an. Die Frauen aus der Arbeiter:innenklasse standen an der Spitze der Bewegung. Die Universitäten bildeten ebenso Zentren des Widerstandes wie die unterdrückten Nationalitäten, deren Regionen zeitweilig durch lokale Massenstreiks vollständig paralysiert wurden. Immer wieder traten auch wichtige Sektoren der Arbeiter:innenklasse durch Arbeitsniederlegungen und Streikaufrufe massiv in Erscheinung.

Die Losung „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frauen, Leben, Freiheit) war von Beginn weit mehr als die Forderung nach vollen demokratischen und sozialen Rechten für Frauen und andere Unterdrückte, sondern untrennbar mit dem Ziel verbunden, das Mullah-Regime zu stürzen.

Der Ausbruch der Revolution war selbst Resultat der brutalen Repression durch die theokratische Diktatur, ihren Staatsapparat und ihre Scherg;innen. Die reaktionären Bekleidungsvorschriften bildeten so einen Fokus, eine Zusammenfassung eines unterdrückerischen patriarchalen Systems, das zwar weit ältere Wurzeln als die Mullah-Herrschaft aufweist, in denen sich jedoch der Charakter letzterer öffentlich, ideologisch, repressiv, ja mörderisch zusammenfasst.

Zugleich erzeugte die tiefe ökonomische Krise den sozialen Hintergrund der Bewegung. Der islamistische Kapitalismus verwehrt seinen Untertan:innen, allen voran den Frauen und unterdrückten Nationalitäten, nicht nur jede Form der Gleichheit. Er ist immer weniger in der Lage, das Überleben, die Reproduktion der Ausgebeuteten auch nur als Ausgebeutete zu sichern. Seit 2018/19 betrug die Inflationsrate pro Jahr zwischen 30 und 40 %. 2023 soll sie über 40 % betragen. Die Preissteigerungen für Lebensmittel spiegelt das jedoch keineswegs wider. Diese lagen 2022 selbst nach offiziellen staatlichen Angaben bei ca. 100 %.

Repression

Es ist daher kein Wunder, dass das Regime über wenig Spielraum zu Befriedung der Proteste verfügt. Und die wirtschaftlichen Probleme werden auch 2023 nicht geringer werden.

Daher setzt das Regime vor allem auf Repression und ideologische Mobilmachung, verbunden mit kleineren Zugeständnissen. So wurde die besonders verhasste Sittenpolizei, die auch Jina Mahsa Amini umbrachte, als Resultat der Proteste von den Straßen zurückgezogen. Teile des Regimes kündigten sogar die Auflösung der Einheiten an. Ob diese wirklich erfolgt, bleibt jedoch ungewiss.

In jedem Fall ging das Regime, gestützt auf die Polizei, die ultrareaktionären Repressionswächter, Geheimdienste und den Überwachungsapparat mit extremer Brutalität vor.

Seit September 2022 wurden mindestens 520 Demonstrant:innen getötet und mehr als 19.000 festgenommen. Seit Wochen werden Oppositionellen öffentlich Prozesse gemacht und diese medienwirksam zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch wenn einzelne Proteste Verschiebungen von Exekutionen erreichen konnten, so lässt sich seit Wochen eine Stärkung des Regimes beobachten. Öffentliche Prozesse und Hinrichtungen wegen Blasphemie in Kombination mit „Vaterlandsverrat“ erfüllen dabei zwei Funktionen: Einerseits sollen sie die Stärke und Einheit des Regimes, seines Staats- und Repressionsapparates zur Schau stellen und so auch dem reaktionären Anhang, über den die islamistische Diktatur durchaus auch verfügt, Zuversicht und Stärke vermitteln. Zweifelnden und schwankenden Elemente in der Elite oder ihren angelagerten Schichten soll vermittelt werden, dass es sich nicht lohnt, „abtrünnig“ zu werden.

Andererseits soll sowohl der Bewegung als auch ihren Aktivist:innen vermittelt werden, dass sie trotz Massenunterstützung gegen das Regime nicht ankommen und vor die Alternative Tod oder Kapitulation gestellt werden. Symbolträchtige Hinrichtungen wie jene des ehemaligen Vizeverteidigungsministers und britischen Staatsbürgers Akbari sollen deutlich machen, dass wirklich niemand geschont wird. Zudem soll dieser Fall auch suggerieren, dass die Opposition eigentlich von westlichen Geheimdiensten gekauft und kontrolliert werde.

Zweifellos gibt es solche Oppositionspolitiker:innen, zweifellos versuchen proimperialistische, bürgerliche oder auch monarchistische Kräfte, in der Bewegung Fuß zu fassen. Doch insgesamt handelt es sich um eine monströse, reaktionäre Lüge, eine Verleumdung der Millionen Frauen, Arbeiter:innen, Student:innen und der unterdrückten Nationalitäten in Kurdistan oder Belutschistan, die für ihre Freiheit ihr Leben riskieren.

Tausende Inhaftierte und hunderte Ermordete sind heroische Kämpfer:innen, deren einziges „Verbrechen“ darin bestand, gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufzustehen. Bei den inszenierten Prozessen und Hinrichtungen sollen nicht nur einzelne Personen, nur deren Mut und Entschlossenheit ausgelöscht, sondern auch die revolutionären Möglichkeiten und Hoffnungen, die in der Bewegung sichtbar wurden und die Massen erfassten, im Blut ertränkt werden. Die Ordnung, die die Mullahs wieder festigen wollen, ist auf Leichen gebaut.

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Das Schlimmste an der Repression, an den barbarischen Hinrichtungen ist jedoch, dass sie eine wirkliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Regimes ausdrücken. Ein Sieg der Konterrevolution – und mag er auch nur zeitweilig sein – droht, sollte sich die Lage nicht grundlegend verändern.

Angesichts dieser Situation stellen sich zwei, miteinander verbundene Fragen: 1. Warum kam es zu dieser Verschiebung des Kräfteverhältnisses, obwohl Millionen das Regime stürzen wollten? 2. Welche Lehren sind daraus zu ziehen, um bei einem neuen Ansturm besser vorbereitet und erfolgreich zu sein?

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und der Bildung von Soldatenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder muss sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrüclung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nicht-monarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Michael Gorbatschow – eine tragische Figur der Weltgeschichte

Martin Suchanek, Infomail 1197, 1. September 2022

Im Alter von 91 Jahren verstarb Michael Gorbatschow am 30. August in Moskau – der letzte Staatspräsident der Sowjetunion und Parteichef der KPdSU.

Putins Beileidsbekundung

Auch wenn Gorbatschow und Putin wenig Sympathie füreinander hegten, so weiß der Präsident des „neuen“, kapitalistischen und imperialistischen Russland nur zu gut, dass es weitaus klüger ist, den politischen Nachlass des Verstorbenen selbst auszuschlachten, als ihn den westlichen Staaten zu überlassen.

So bezeichnete Putin bekanntermaßen die Auflösung der Sowjetunion 2014 als „gesamtnationale Tragödie von gewaltigen Ausmaßen“ und 2015 „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Dabei meinte er nicht die Wiedereinführung des Kapitalismus, wohl aber den Verlust ganzer Staaten und Nationen, deren Unabhängigkeit und Selbstbestimmung den imperialen großrussischen Ambitionen im Wege stehen. Die reaktionäre, nationalistische Kritik hindert Putin freilich nicht, den Toten nachträglich vorsichtig zu würdigen. In einem Beileidstelegramm heißt es, der Verstorbene hätte  „großen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte“ gehabt und das Land „durch komplexe, dramatische Veränderungen, große außenpolitische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen geführt“.

Putin weiß, dass Gorbatschow politisch schon längst, genauer seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Jelzins Machtübernahme, keine Rolle mehr spielte. Die Trauerreden, Nachrufe, Beileidstelegramme und Statements westlicher wie östlicher Politiker:innen drehen sich vor allem darum, die historische Rolle des Verstorbenen für sich zu vereinnahmen, sein „Vermächtnis“ noch einmal für sich zu reklamieren und auszuschlachten.

Nur in diesem Kalkül machen Putins wohlwollende Worte gegenüber einem Mann Sinn, dem er eigentlich eine negative Rolle zuschreibt. Warum aber sollte er die „Würdigung“, also die Vereinnahmung Gorbatschows einem Joe Biden oder Boris Johnson, einem Olaf Scholz oder Emmanuel Macron überlassen? Lieber bringt die russische Administration die Sanktionspolitiker:innen des Westens in die Verlegenheit, Gorbatschows Begräbnis fernzubleiben oder nach Russland zu reisen und womöglich Seit an Seit mit Putin dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.

Westliche Trauer – nicht minder zynisch

Nicht minder zynisch fällt freilich die westliche Trauer aus. Joe Biden spricht von einem „Visionär“, Emmanuel Macron von einem „Mann des Friedens“. Olaf Scholz streicht einmal mehr Gorbatschows Verdienste um die Vereinigung Deutschlands heraus. Für seine Bemühungen um Reformen der Sowjetunion, das Ende des Kalten Krieges und einen friedlichen Systemwechsel in Osteuropa, den Abzug der Roten Armee wurde Gorbatschow mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.

Das gleicht dem Trostpreis eines Verlierers. Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion sowie die Restauration des Kapitalismus markieren einen Wendepunkt der Geschichte. Der Kalte Krieg war zugunsten der USA und ihrer westlichen Verbündeten entscheiden, eine neue historische Periode begann.

Die Würdigungen eines George Bush sen., einer Margaret Thatcher, eines François Mitterrand und Helmut Kohl für „unseren“ Gorbatschow waren wenig mehr als Festreden der Sieger:innen für den Besiegten.

Gorbatschow mag an seine eigenen „Visionen“ von einem geeinten „Haus Europa“, von einer globalen Ordnung auf „Augenhöhe“, von einer Demilitarisierung Europas geglaubt haben. Im realen Leben entpuppten sie sich als utopische Konzepte. Gorbatschows „Friedenpolitik“ war nur die letzte Strophe des Liedes von der „friedlichen Koexistenz“, einer Politik, die immer schon von den Klasseninteressen der imperialistischen Bourgeoisie abstrahierte.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der vergleichsweise friedliche Übergang zum Kapitalismus, die Entstehung einer neuen, zu einem beträchtlichen Teil aus der alten Staatsbürokratie geborenen Klasse von Privateigentümer:innen inklusive einer neuen russischen Oligarchie und die Auflösung des Warschauer Pakets spielten alle dem Westen in die Karten.

Das US-amerikanische und europäische, allen voran das deutsche Kapital, erschlossen in wenigen Jahren neue, halbkoloniale Ausbeutungsgebiete in Osteuropa sowie einen Zugang zum russischen Markt. Die NATO, wiewohl deren Expansion 1991 noch offiziell ausgeschlossen wurde, schob sich langsam, aber umso sicherer gegen Osten. Und die kapitalistische Wiedervereinigung formte Deutschland zur ökonomisch führenden imperialistischen Macht Europas, die seither ihre eigenen Machtansprüche weltweit anmeldet.

Keine Frage, ohne Gorbatschow wäre das Ende des Kalten Krieges wahrscheinlich anders verlaufen, hätte der weitgehend friedliche, gewaltfreie Übergang zum Kapitalismus womöglich gewaltsamere Formen angenommen.

Kämpfe wie jene um die baltischen Republiken, vor allem aber der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, der blutige Aufstand gegen das Ceaușescu-Regime oder der verunglückte Janajew-Putsch 1991 verdeutlichen, dass auch in der ehemaligen Sowjetunion bzw. in der von ihr kontrollierten Einflusssphäre ein anderer Gang der Geschichte möglich gewesen wäre.

Die grundlegenden Entwicklungslinien hätte das jedoch nicht geändert. Selbst eine erfolgreiche Niederschlagung von antibürokratischen Massenbewegungen hätte keineswegs eine Rückkehr zum „alten“, krisengeschütteten wirtschaftlichen und politisch maroden System der bürokratischen Arbeiter:innenstaaten bedeutet, wie ein Blick nach China nahelegt. Dort zerschlug die Bürokratie die von der Arbeiter:innenklasse und der Intelligenz getragene Bewegung am Tian’anmen-Platz im Juni 1989. Tausende fielen diesem Massaker zum Opfer. Doch nicht der „Sozialismus“ wurde gerettet, sondern der Restauration des Kapitalismus wurde unter Beibehaltung des politischen Monopols der KP der Weg geebnet.

Gorbatschow und die Krise der Sowjetunion

So wenig wie Gorbatschows Rolle beim Zusammenbruch der Sowjetunion vernachlässigt werden kann, so wenig darf sie überhöht werden. Der letzte Staatschef der Sowjetunion war nicht Treibender, sondern Getriebener.

Gorbatschow wurde 1985 Generalsekretär der KPdSU vor dem Hintergrund einer tiefen, strukturellen ökonomischen Krise und einer langjährigen Stagnation der Gesellschaft. Unter Breschnew fiel das Land, damals immerhin die zweitgrößte Ökonomie der Welt, wirtschaftlich und technologisch immer mehr zurück. Das unter Reagan forcierte Wettrüsten kostete die Sowjetunion immer größere Teile ihre gesamten Ressourcen. Zugleich stagnierte der Lebensstandard der Lohnabhängigen, die in der Sowjetunion und Osteuropa unter einem Mangel an Konsumgütern litten.

Vor diesem Hintergrund wurde das System einer starren bürokratischen Planwirtschaft und der umfassenden, tief in die Gesellschaft eindringenden politischen Diktatur über die Arbeiter:innenklasse immer unhaltbarer. Der ökonomische Niedergang verringerte die Möglichkeiten zur sozialen Befriedigung der Massen. Deren Entfremdung von der „sozialistischen“ Gesellschaft trat viel stärker ins Bewusstsein angesichts eines größer werdenden Gegensatzes zwischen stagnierenden oder schlechter werdenden  Lebensbedingungen der Massen und den Privilegien der Bürokratie.

Diese Lage beförderte auch die politische Unzufriedenheit – sei es der Intelligenz, der Arbeiter:innenklasse oder der unterdrückten Nationen und Nationalitäten, sei es in der Sowjetunion oder in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Schließlich entwickelten sich auch die Gegensätze in der herrschenden bürokratischen Kaste selbst. In den KPen und Staatsapparaten bildeten sich zwei politische Flügel – die sog. „Konservativen“ oder „Hardliner:innen“, die starr am bestehenden System festhalten wollten, und die sog. „Reformer:innen“, die diesem durch begrenzte, von oben kontrollierte wirtschaftliche, soziale und auch politische Reformen eine neue Dynamik zu verleihen hofften.

Anders als in den kapitalistischen Ländern, wo die freie Konkurrenz und der damit verbundene Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, für die Steigerung der Arbeitsproduktivität, Disziplin und „Motivation“ der Lohnabhängigen quasi automatisch sorgt, fehlte in den bürokratischen Planwirtschaften dieser Hebel weitgehend. Im Gegensatz zur Stalinära, wo die Arbeitsdisziplin despotisch durchgesetzt wurde, herrschte in der Sowjetunion oder auch Osteuropa der 1970er und 1980er Jahre eine weitgehende soziale Sicherheit vor mit Vollbeschäftigung, Wohnungen und garantierter Gesundheits- und Altersvorsorge.

Andererseits sorgte die zunehmende Entfremdung der Arbeiter:innen von der bürokratischen Planwirtschaft, von „ihren“ Staaten dafür, dass ihr Antrieb zur Verbesserung und Fortentwicklung des ökonomischen und sozialen Systems längst erloschen war. Wo dies noch nicht der Fall war, lief er sich im bürokratischen Getriebe tot.

Um diese Stagnation zu durchbrechen, war es aufgrund der technologischen Entwicklung und der gestiegenen Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskraft ökonomisch faktisch unmöglich, zu den Methoden der Stalinzeit zurückzukehren. Gesellschaftlich und sozial hätten sie womöglich das System noch mehr destabilisiert – und dessen war sich auch die Bürokratie bewusst.

Daher entflammte innerhalb dieser Kaste der Konflikt um die Frage, welche und wie weit gehende ökonomische soziale und politische Reformen durchgeführt bzw. zugelassen werden sollten. Ein Hin und Her kennzeichnete schon die Auseinandersetzungen vor Gorbatschow und die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität war auch mehr oder minder unstrittig. Keineswegs galt dies jedoch bezüglich politischer Reformen.

Als Gorbatschow 1985 Generalsekretär wurde, markierte dies eine Kräfteverschiebung zugunsten des Reformlagers in der Sowjetunion und im Ostblock. „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Offenheit) wurden zu den Schlagworten, Kampfbegriffen, um die Veränderungen der Gesellschaft voranzutreiben.

Dabei stellten beide von Beginn an keine klar umrissenen Konzepte dar, sondern eine Reihe von Reformmaßnahmen, die selbst im Laufe der Jahre modifiziert wurden und auf Veränderungen in der Gesellschaft eine Antwort zu geben versuchten.

Grundsätzlich zielte die Perestroika darauf, marktwirtschaftliche Mechanismen und Konkurrenz im Rahmen der Planwirtschaft zu deren Belebung einzusetzen, darunter einzelbetriebliche Kostenrechnung, Formen des Leistungslohns, Ausweitung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit und begrenztes Wirken von Joint Ventures. Glasnost bezog sich vor allem auf die öffentliche und politische Ebene und sah eine begrenzte Lockerung der Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit vor.

Hinzu kam ein neuer außenpolitischer Kurs der Abrüstung und Entspannung. 1989 zog die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistan zurück. Für Europa wurde eine neue Friedensordnung, ein „gemeinsames Haus“ propagiert.

Glasnost und Perestroika kamen jedoch wie die gesamte Politik Gorbatschows (und des gesamten Flügels der Bürokratie, auf den er sich stützte) von Beginn an einer Quadratur des Kreises gleich. Einerseits sollte die Gesellschaft geöffnet, andererseits jedoch die Herrschaft der Bürokratie und deren System der Planung beibehalten werden.

Diese Konzeption war im engen Wortsinn utopisch. Die Politik Gorbatschows löste nicht die inneren Widersprüche des Systems, dessen Krise ihn zum Generalsekretär gemacht hatte, sondern spitzte sie vielmehr weiter zu.

Und zwar auf allen Ebenen. Die ökonomischen Reformen belebten die Wirtschaft nicht, sondern verstärkten den Gegensatz zwischen den Elementen der bürokratischen Planung und der Marktwirtschaft. Sie verbesserten die Lage der Massen nicht, schufen aber zugleich eine Schicht von Manager:innen, Bürokrat:innen, neuen Eigentümer:innen, die Appetit auf mehr, auf die Restauration des Kapitalismus entwickelte.

Die begrenzten Elemente der Presse- und Meinungsfreiheit stießen ihrerseits auf Schritt und Tritt auf die Schranken des Systems, an die Grenzen der bürokratischen Diktatur und der führenden Rolle der Partei. Ähnlich wie die Perestroika schuf aber auch Glasnost die Forderung nach mehr Freiheit, nach mehr demokratischen Rechten, wenn auch über eine ganze Zeit im politischen Windschatten des Reformflügels. So entstand die scheinbar paradoxe Situation, dass der Generalsekretär der KPdSU, also der oberste und mächtigste Exponent der Bürokratie, Mitte bis Ende der 1980er Jahre zum Hoffnungsträger und zur Symbolfigur antibürokratischer Massenstimmungen und -bewegungen geriet. „Gorbi“  mutierte zur Identifikationsfigur und zugleich zum Schrecken mancher besonders reformunwilliger Bürokrat:innen.

Politisch glich Gorbatschow freilich Goethes Zauberlehrling. Die Geister, die er rief, wurde er nicht los – und anders als im Werk des großen Dichters rettete ihn auch kein mächtiger Zauberer.

Der scheinbar mächtige Führer der KPdSU und Sowjetunion erwies sich als tragische, geschichtlich ohnmächtige Figur. Das von ihm verfolgte Ziel einer reformierten, mit Glasnost und Perestroika aufpolierten Sowjetunion, eines reformierten degenerierten Arbeiter:innenstaates erwies sich als reinste Utopie, die die Interessen keiner einzigen gesellschaftlichen Kraft des alten wie des neuen, entstehenden kapitalistischen Systems befriedigen konnte.

Kein Wunder also, dass Gorbatschows Stern noch schneller unterging, als er aufgestiegen war. Er wurde faktisch zum Vorbereiter der Restauration des Kapitalismus, zum Vordringen der westlichen imperialistischen Staaten und – seines eigenen Sturzes.

1991 versuchten die konservativen Schichten der Bürokratie, mit einem halbherzigen Putsch noch einmal das Rad der Geschichte in der Sowjetunion zurückzudrehen – und scheiterten kläglich. Doch mit ihnen wurde auch Gorbatschow faktisch entmachtet. Die offen restaurationistischen Kräfte der Bürokratie um Jelzin und Sobtschak ergriffen die Initiative, mobilisierten die Massen gegen den Putsch und offenbarten damit zugleich die Ohnmacht Gorbatschows. Am 25. Dezember trat er als Präsident der Sowjetunion ab und damit faktisch von der geschichtlichen Bühne.

Seither wandelt Gorbatschow als mehr oder minder dekoratives Relikt der Geschichte durch die Welt. Als Vorsitzender der nach ihm benannten Stiftung kommentierte er weiter das Weltgeschehen und versuchte sich in der russischen Zivilgesellschaft. Politisch verstand er sich als Sozialdemokrat, kritisierte die innerrussischen Verhältnisse, aber auch den Westen und dessen „Machtarroganz“ und -politik und George W. Bush und Co.

Im Grunde bewegte sich seine ganze Kritik auf der Oberfläche gesellschaftlicher Erscheinungsformen. „Arroganz“, Machtpolitik, also subjektive politische Ausrichtungen und Charakterzüge von Herrschenden stellten für ihn den eigentlichen Kern der politischen Probleme unserer Zeit dar, ob im Westen oder in Russland. Die grundlegenden Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächte, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erwuchs für ihn nicht aus den Krisen des Kapitalismus, ja diese objektiven Entwicklungen stellten für ihn letztlich nebensächliche Faktoren dar, die durch guten (Verhandlungs-)Willen aus der Welt zu räumen gewesen wären.

Selbst hier entpuppt sich Gorbatschow noch als tragische Figur, die den Illusionen einer längst vergangenen Zeit nachhing und bis zum Ende von einem idealistischen Verständnis von Gesellschaft und Geschichte geprägt war.

Mythologisierung

Allerdings war Gorbatschow schon zu Lebzeiten von verschiedenen Seiten zur Projektionsfläche ihrer eigenen Sicht der Geschichte geworden.

Für die westlichen Mächte und die demokratische Öffentlichkeit war er der „gute“ Sowjetführer, denn schließlich trug er zur Niederlage des „Kommunismus“ und zum Sieg im Kalten Krieg bei. Nach 1991 schien es außerdem, dass in Russland nicht nur der Kapitalismus wieder Einzug halten würde, sondern es auch ökonomisch und politisch vom Westen dominiert werden könnte. Mit der Stabilisierung des Putin-Regimes sind die Hoffnungen verflogen.

Die posthume Würdigung Gorbatschows soll gewissermaßen auch die Vorstellung am Leben halten, dass ein prowestlicher russischer Führer möglich sei. Und nebenbei wird das klägliche Scheitern Gorbatschows in Russland auch noch uminterpretiert. Die Verhältnisse und die Schwäche der bürgerlichen Demokratie dort sollen partout nicht auf die Krise der Sowjetgesellschaft und die katastrophalen sozialen und politischen Auswirkungen der kapitalistischen Restauration zurückgeführt werden. Vielmehr wird der russischen Nation eine Neigung zum Autoritarismus und zur Diktatur unterstellt, eine „Unreife“ in Sachen Demokratie, der Gorbatschow und Co. zum Opfer gefallen wären. Daher erscheint der Verstorbene als seltener Glücksfall, den es zugunsten von Demokratie und Marktwirtschaft auszunutzen galt, solange er Einfluss ausübte.

Doch auch Teile der Linken nutzen Gorbatschow bis heute als Projektionsfläche eines verqueren Geschichtsbildes. Ihnen zufolge wären uns der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks, der gesamte Sieg des Westens im Kalten Krieg erspart geblieben, wenn Gorbatschow den Pfad von Glasnost und Perestroika nicht beschritten oder wenigstens die Staaten Osteuropas oder ehemalige Sowjetrepubliken nicht in die Unabhängigkeit entlassen hätte. Dieser Sicht zufolge verkörperten Gorbatschow und sein Aufstieg nicht Ausdruck einer tiefen Todeskrise des Stalinismus, sondern deren Ursache. Die Krise der Sowjetgesellschaft, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus werden so zum weltgeschichtlichen Verrat eines großen, bösen Mannes und noch böserer westlicher Hintermänner. An idealistischer Geschichtsverdrehung stehen sie damit ironischer Weise den westlichen (und auch russischen) Ideolog:innen wenig nach.

Arbeiter:innenklasse

Bemerkenswert und bezeichnend an den verschiedenen posthumen Würdigungen und Nachrufen, sei es von offizieller russischer Seite, westlichen Politiker:innen oder selbst stalinistischen Kräften, bleibt, dass die Arbeiter:innenklasse als gesellschaftliche Kraft nicht vorkommt. Die Lohnabhängigen treten entweder als Unterstützer:innen und zunehmend undankbare Versorgungsobjekte der Bürokratie auf oder als bloße Fußtruppe von Reformer:innen und der westlichen Demokratie.

Diese Sicht verkürzt nicht nur die reale geschichtliche Entwicklung, sondern verkennt auch das Potential der Umbrüche, die sich 1989 zu einer historischen politischen Krise der bürokratischen Herrschaft bündelten.

Die Entwicklung, die Gorbatschow seit 1985 mit den Mitteln bürokratischer Reformen von oben unter Kontrolle zu kriegen versuchte, führte auch zu einer Belebung und einem Erwachen der Arbeiter:innenklasse. In der Sowjetunion entstand Ende der 1980er Jahre eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, zum Beispiel unter den Bergarbeiter:innen. Die antibürokratischen Bewegungen stützten sich 1989 sozial auf Massenunterstützung in der Arbeiter:innenklasse und in einigen Ländern bildeten sich auch betriebliche Organisationen der Klasse. Hinzu kamen politische Differenzierungs- und Gärungsprozesse innerhalb der von der Bürokratie kontrollierten Massenorganisationen wie den Gewerkschaften, teilweise auch in der Staatspartei.

Aber aufgrund der Zerstörung des Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse nach Jahrzehnten der bürokratischen Diktatur und der damit eng verbundenen Entfremdung der Lohnabhängigen von „ihrem“ Staat und „ihrer“ Wirtschaft, also aufgrund der Ausprägung der Führungskrise des Proletariats in den damaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, dominierten zuerst kleinbürgerliche und bald offen bürgerliche Kräfte die Bewegung.

Wie der Arabische Frühling zeigt, lässt sich dieses Phänomen natürlich nicht nur an der Todeskrise des Stalinismus beobachten. Im Jahr 1989 standen die Sowjetunion und alle Länder Osteuropas vor der historischen Alternative: entweder Sturz der Bürokratie durch die politische Revolution der Arbeiter:innenklasse oder Restauration des Kapitalismus.

Und wie immer, wenn eine Revolution nur halb durchgeführt wird, endet sie in einer ganzen Konterrevolution. Daran ändert auch der Fakt nichts, dass diese eine bürgerlich-demokratische Form annahm. Nachdem Gorbatschow ihr den Weg bereitet hatte, wurde er selbst von ihr hinweggefegt. Am 30. August verstarb dieser Zauberlehrling der Weltgeschichte.

Es gibt keinen Grund, seine konterrevolutionäre Rolle zu beschönigen, aber auch keinen, sie zu überhöhen. Nicht Gorbatschow bildete das eigentliche Problem, sondern die Schwäche der revolutionären Kräfte und Tiefe der Krise der Arbeiter:innenklasse. Letztere manifestierte sich 1989 weitaus stärker als in vorangegangenen Revolutionen und Erhebungen gegen die bürokratische Herrschaft in Osteuropa. So brachten die ungarische Revolution, der Arbeiter:innenaufstand in der DDR oder der Kampf der polnischen Arbeiter:innenklasse klassenbasierte Doppelmachtorgane oder Ansätze in diese Richtung in viel stärkerem Maße hervor als 1989. Dieser Tatsache lagen vor allem zwei miteinander verbundene Ursachen zugrunde. Erstens die viel tiefere innere Krise der bürokratischen Planwirtschaft und damit auch der gesellschaftlichen Basis der Bürokratie, was generell die restaurationistischen Tendenzen schon lange vor 1989 vorbereitet und gestärkt hatte. Zweitens die Entfremdung und Zerstörung von Klassenbewusstsein der Arbeiter:innenklasse, was die spontane Tendenz zur Selbstorganisation und Schaffung eigener klassenspezifischer Organisationen schwächte (auch wenn solche durchaus entstanden).

Hinzu kam aber noch ein Drittes. Weltweit gab es keine revolutionäre Internationale der Arbeiter:innenklasse, die ein kämpfender, politischer Bezugspunkt für die Lohnabhängigen in der Sowjetunion und Osteuropa hätte sein können. Allenfalls existierte sie in Form zersplitterter Kleingruppen, die im Wesentlichen nur propagandistisch in die Ereignisse eingreifen konnten. Diese Führungskrise hat sich seit 1989 eher noch vergrößert. Sie bildet das zentrale Problem nicht nur vor und um 1989, sondern auch in unserer Zeit.




30 Jahre Wiedervereinigung: Nichts zu feiern

Bruno Tesch, Neue Internationale 250, September 2020

Das große Fest zum Tag der Einheit in Potsdam muss der Pandemie wegen ausfallen. Zu feiern gibt es für die ArbeiterInnenklasse ohnedies wenig nach 30 Jahren kapitalistischer Wiedervereinigung. Ein gewisser Sicherheitsabstand tut nicht nur wegen der Corona-Gefahr gut, auch zur bürgerlichen Mär von den „überwiegend“ positiven Resultaten. Wen hat die Wiedervereinigung eigentlich vorangebracht? Sind die nach wie vor ungleichen Lebensverhältnisse, die Zerstörung von Millionen Arbeitsplätzen nach der Wiedervereinigung bloß letzte Mängel der bürgerlichen Freiheit oder notwendiges Resultat eines stärker gewordenen deutschen Kapitalismus und Imperialismus?

Todeskrise des Stalinismus

Die deutsche Teilung selbst war Ausdruck einer globalen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Weltordnung geriet im Laufe der 1980er Jahre ins Wanken. Die Staaten des sog. real existierenden Sozialismus, in Wirklichkeit degenerierte ArbeiterInnenstaaten, in denen von Beginn eine Bürokratie die ArbeiterInnenklasse politisch beherrschte, hatten dem Imperialismus ökonomisch nichts mehr entgegenzusetzen.

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) bekam die Auswirkungen dieser Krise zu spüren, da sie zum einem über die einseitigen Bindungen im Energie- und Maschinen- sowie Rüstungsgütersektor an Lieferverträge an die Sowjetunion gekettet war, zum anderen im Handelsbereich mit dem Kapitalismus in eine stetig wachsende Auslandsverschuldung geriet. Damit versuchte die Bürokratie die Konsumbedürfnisse der ArbeiterInnenklasse einigermaßen zu befrieden, um die soziale Ruhe im Land zu gewähren. Doch die ökonomische Schieflage verschärfte sich weiter – auch durch einen Milliardenkredit, den die westdeutsche Bundesregierung Anfang der 1980er Jahre gewährte. Da hatte sich bereits der Allgemeinzustand der DDR-Wirtschaft dramatisch verschlechtert.

Der besondere Umstand der unmittelbaren Nachbarschaft zum durch den Imperialismus errichteten und geförderten BRD-Staat bewirkte, dass die DDR-Bevölkerung diesen als Schaufenster eines aufstrebenden Kapitalismus mit wachsendem Lebensstandard und scheinbarer Freizügigkeit vor Augen hatte. Die wirtschaftlich desolate Situation, die eingeschränkte Reisefreiheit sowie die Verweigerung demokratischer Rechte führten zu einem Gärungsprozess, der sich ab Spätsommer 1989 durch eine Fluchtwelle äußerte und im Herbst dann die Bevölkerung zu Protesten massenhaft auf die Straße trieb und in dem symbolträchtigen Mauerfall mündete.

Die bleierne Erblast des Stalinismus, also der politischen Diktatur einer bürokratischen Kaste, hatte die revolutionäre Traditionen der ArbeiterInnenbewegung, die 1953 kurz aufgeflammt waren und Fragen nach einer gesamtdeutschen Anstrengung zur sozialistischen Überwindung der Teilung aufgeworfen hatten, erdrückt. Angeführt wurde die 1989er Bewegung durch ideologisch kleinbürgerliche Kräfte, die das Heil in der Errichtung demokratischer Institutionen nach bürgerlichem Vorbild bzw. in einer Reform der herrschenden stalinistischen Partei suchten. Die entscheidenden Fragen nach einer politischen Revolution und dem Aufbau einer ArbeiterInnendemokratie und einer Wirtschaft nach demokratisch kontrolliertem gesellschaftlichen Plan wurden ebenso wenig gestellt wie die nach einer gesamtdeutschen revolutionären Wiedervereinigung.

Weichenstellung Richtung Kapitalismus

Weite Teile des Machtapparats, die selbst den Glauben an die Fortführung ihres bürokratischen Plankonzepts verloren hatten, versuchten, sich mit der Oppositionsführung zu arrangieren. Beide einte das Interesse, die Bewegung zu kanalisieren und ihr einen möglichen revolutionären Boden zu entziehen. So wurden zwar nominell als Volkskammerwahlen ausgeschriebene, doch de facto bürgerliche Parlamentswahlen für den 18. März 1990 vereinbart. Die noch von der SED geführte Übergangsregierung stellte zuvor eine weitere wichtige Weiche für die Auflösung der nichtkapitalistischen Grundlagen der DDR. Der Beschluss zur Gründung der Treuhandanstalt am 1. März sah bereits die Aufgabe von Planwirtschaft, von Außenhandelsmonopol und Staatseigentum an Produktion und Grundbesitz am Horizont heraufdämmern, wenn auch die Aufgabe von Eigenstaatlichkeit noch nicht zur Diskussion stand.

Glaubte die DDR-Regierung noch, bei den ersten Unterredungen mit dem Weststaat über eine vorsichtige Annäherung und einen mehrjährigen Plan zur eventuellen Wiedervereinigung auf Augenhöhe verhandeln zu können, wurde ihre Blauäugigkeit schnell desillusioniert. Sie wurde von der BRD-Regierung ultimativ vor die Wahl gestellt, deren Fahrplan für eine schnelle Wiedervereinigung zu kapitalistischen Bedingungen anzunehmen oder das völlige Ausbluten des Landes zu verantworten.

Die amtierende bundesdeutsche CDU/CSU/FDP-Regierung hatte mit Raubtierinstinkt längst die einmalige historische Chance gewittert, nicht nur den Auftrag des Grundgesetzes, die Wiedervereinigung nach kapitalistischen Richtlinien herbeizuführen, zu erfüllen, sondern auch die Ambitionen des BRD-Imperialismus auf internationalem Parkett auf einen Hieb enorm zu stärken. Sie hatte angesichts der bröckelnden Machtstrukturen des DDR-Staates und der gärenden Wünsche nach Veränderung im Land die Jetzt-oder-nie-Situation erfasst. Das Winken mit der harten West-D-Mark gab den Erwartungen der DDR-Bevölkerung einen entscheidenden Richtungsimpuls. Damit konnte zugleich auch die Gefahr einer revolutionären Orientierung in der DDR gebannt werden, was das DDR-Regime allein nicht ohne weiteres in den Griff bekommen hätte.

Finanzpolitische Bedenken über die hohen Kosten einer vorschnellen Vereinigung, geäußert v. a. von Seiten der WährungshüterInnen der Bundesbank, aber auch von der SPD-Opposition, konnte die Kohl-Regierung mit dem Hinweis auf die politisch günstige Lage und die Vorleistungen der DDR-Übergangsregierung vom Tisch wischen. Nach den DDR-Wahlen vom März 1990, deren Ausgang maßgeblich von der Aussicht auf die klingende Münze der BRD beeinflusst worden war, trat eine offen bürgerliche Regierung als diensteifriges Hilfspersonal bei der Umsetzung der Pläne der BRD-Führung ins Amt. Sie verhalf durch den Einigungsvertrag vom 18. Mai 1990, der eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen beiden Teilen festlegte, der Bundesregierung zur Entscheidungsgewalt über alle staats- und wirtschaftspolitischen Schritte der Wiedervereinigung, die nach bundesdeutschem Recht als Beitritt der DDR zur BRD deklariert wurde.

Vollendung der Konterrevolution

Das Treuhandgesetz trat am 1. Juli 1990 nicht zufällig zeitgleich mit der Einführung der Währungsunion in Kraft und regelte die Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens unter bundesdeutsch hoheitlicher Aufsicht. Die Bundesregierung entschied, die Besetzung der Schaltstellen ab Juli 1990 mit marktökonomisch versierten WestvertreterInnen durchzuführen. Der Treuhand waren 8.500 DDR-Betriebe unterstellt und damit das Schicksal einer Belegschaft von über 4 Millionen Menschen in die Hand gegeben.

Der zweite Pflock zur kapitalistischen Restaurierung der DDR wurde mit der Einführung der D-Mark als allein gültiger Währung ab dem 1. Juli 1990 eingeschlagen. Damit ging auch der Wunsch vieler DDR-BürgerInnen in Erfüllung. Der Umtausch der DDR-Währung in D-Mark Wertberechnung erfolgte zwar 1 : 1. Um aber in den Genuss der Auszahlungen zu kommen, die auf 2.000 D-Mark pro Person begrenzt waren, musste zuvor ein Antrag auf Kontoumstellung auf D-Mark gestellt und von den Banken eine Auszahlungsquittung eingeholt werden, die jedoch nur bis zum 6. Juli 1990 gültig war, um sofort an das Geld zu kommen. Soweit die Kontoguthaben Beträge altersgestuft von im Schnitt 4.000 DDR-Mark pro Kopf  überschritten, wurde nur noch im Verhältnis 2 : 1 getauscht. Guthaben, die erst nach dem 31. Dezember 1989 entstanden waren, konnten hingegen nur zu einem Kurs von 3 : 1 in D-Mark umgewandelt werden.

Das Volksvermögen an Produktionsmitteln und Grundbesitz jedoch, das nach DDR-Recht noch anteilig allen StaatsbürgerInnen zustand, wurde den Wertberechnungen des freien Markts überlassen. Die Mehrheit der Bevölkerung, d. h. die ArbeiterInnenklasse, wurde praktisch ohne Einspruchsrecht enteignet.

Für den Sieg der Konterrevolution war es auch notwendig, neben fortschrittlichen sozialen Einrichtungen, die in der DDR bestanden hatten, bspw. im Gesundheits- und Bildungswesen, auch demokratische Errungenschaften, die die halbrevolutionären Veränderungen hervorgebracht hatten, zu beseitigen wie demokratische Foren, vergleichsweise große Kontrolle und Transparenz in den Medien und politische Verhandlungen. (Runde Tische)

Die organisierte reformistische ArbeiterInnenbewegung in der BRD krümmte zu deren Rettung keinen Finger, sondern diente sich dem Imperialismus an. Der Deutsche Gewerkschaftsbund vollzog schon im Mai die Vereinigung als Übernahme der Ost-Gewerkschaften nach bewährtem sozialdemokratisch bürokratischen Konzept, das die strikte Trennung von Politik und Arbeitswelt festschrieb und jede unabhängige Tätigkeit der ArbeiterInnenklasse unterband.

Für die BRD-Regierung war nur noch eine wichtige Hürde zu nehmen: die Zustimmung der Mächte, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt und als feste Vorposten ihres jeweiligen Machtblocks in der Nachkriegsordnung aufgestellt hatten. Ein am 19. September ausgehandelter Staatsvertrag, den die USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion unterzeichneten, besiegelte das Ende der Nachkriegsära und wertete die Bundesrepublik Deutschland als politischen Faktor auch international auf. Zugleich offenbarte dies auch die angeschlagene Position des stalinistischen Systems, dessen Staatenblock auch in anderen Regionen bis in die Sowjetunion hinein in Auflösung begriffen war. Die deutsche kapitalistische Wiedervereinigung war ein historischer Meilenstein für den Untergang des Stalinismus und den Sieg des Imperialismus. Der offizielle Festakt am 3. Oktober 1990 war nur noch Formsache, er vollzog diesen Sieg.

Konsequenzen der Vereinigung

Nach 30 Jahren fällt die Bilanz geteilt aus. Die segensreiche Tätigkeit der Treuhandanstalt, die bis 1994 andauerte, bescherte den fünf neuen Bundesländern inklusive Ostberlin den Kahlschlag einer ganzen Region. Das Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer sank um 40 % und der Industrieproduktion um zwei Drittel. Durch die Privatisierung volkseigener Betriebe gelangten 85 % in westdeutschen Kapitalbesitz. Eindeutig profitierte das Monopolkapital aus der BRD am meisten von Stilllegungen, Zerschlagung von Großbetrieben und Verkäufen zu Schleuderpreisen. Zudem ließ es sich Investitionen für den „Aufbau Ost“ noch kräftig von staatlicher Seite subventionieren.

Alles in allem sind die Großbetriebe im Osten weiterhin unterrepräsentiert. Außerhalb von Berlin haben sich einige urbane Ballungsräume mit Ansiedlung neuer Technologien, v. a. in Sachsen, herausgemacht, während viele ländliche Gegenden nach wie vor strukturell chronisch schwach sind. Dort sind oft veraltete Industrien wie Braunkohlebergbau ansässig, die die ökologisch unselige Tradition der DDR fortführen. Die Arbeitsbevölkerung ist überaltert, der Abwanderungsprozess gen Westen hält immer noch an. Die Arbeitslosenquote lag im August 2020 in den östlichen Bundesländern mit 7,8 % noch 1,4 Punkte über dem gesamtdeutschen Schnitt.

Zwar hatte sich die individuelle wirtschaftliche Lage für die meisten Menschen in den fünf neuen Ländern bald nach dem Anschluss verbessert, im zweiten Jahrzehnt jedoch verlangsamte sich das Aufholtempo und stagnierte schließlich. In der Lohnentwicklung hinkt der Osten 2020 dem Westen weiter um brutto 540 Euro hinterher. Bei den Renten liegt der Osten zwar vorn, aber nur weil in der DDR mehr Frauen berufstätig waren und besser verdienten als im Westen.

Die Frauen zählen jedoch auch zu den VerliererInnen der Vereinigung. Die reaktionäre bürgerliche Gesellschaftsordnung benachteiligt Frauen, die in der DDR eine stärkere wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit entfalten konnten. Sie gehörten zu den ersten, die nach der Wende entlassen oder lohnmäßig und im betrieblichen Status abgruppiert wurden.

Insgesamt hat die Wiedervereinigung dem Kapital einen Zuwachs für die Reservearmee an Arbeitskräften gebracht, und dies zu sich ausweitenden Vorstößen in der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse durch zunehmende Prekarisierung, Leiharbeit, Aushöhlung von Arbeitsrechten und Unsicherheit des Arbeitsplatzes, verbunden mit einer verunsicherten Lebensplanung, sowie zur Privatisierung und Abbau öffentlicher Dienste genutzt.

Staat und Sozialversicherungswesen haben Jahr für Jahr Milliardensummen in den Aufbau Ost gepumpt, bezahlt größtenteils aus den Taschen aller lohnabhängig Beschäftigten – in West wie Ost – durch die vom Lohn abgezogenen Sozialversicherungsbeiträge und den so genannten Solidarbeitrag. Von den Sonderabschreibungen, Übernahme- und Abwicklungsprämien, Investitionszulagen, Entschädigungen für Enteignungen von Produktions- oder Grundbesitz, die in der DDR vorgenommen worden waren, profitierten wiederum nur die westdeutschen KapitalistInnen und reichen ErbInnen.

Strategische Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung

Die Auslöschung des ArbeiterInnenstaats DDR mit seinen nichtkapitalistischen Grundlagen bedeutet eine Niederlage für das Weltproletariat, die umso schwerer wiegt, da sie praktisch kampflos erfolgte. Das Versagen der deutschen ArbeiterInnenbewegung einschließlich der westdeutschen Linken, die diese historische Dimension des Prozesses und v. a. die Notwendigkeit des Eingreifens völlig verkannte oder unterschätzte, war eklatant.

Während der Reformismus teilnahmslos verharrte oder aktiv die Demobilisierung der ArbeiterInnenklasse im Osten betrieb, hing ein Großteil der zentristischen Linken den kleinbürgerlichen Reformillusionen der DDR-BürgerrechtlerInnen an und träumte von einer teilstaatlichen Lösung und einem Kompromiss mit dem Stalinismus, statt mit einem Forderungsprogramm für die revolutionäre Wiedervereinigung den Widerstand in die ArbeiterInnenklasse hüben wie drüben hineinzutragen und sie organisatorisch zu rüsten.

Nicht allein die Errungenschaften eines ArbeiterInnenstaates wurden abgewickelt, sondern das Territorium wurde zum Exerzierplatz für eine sozialpolitische Konterrevolution eingerichtet. Die Rechnung, die das BRD-Kapital auch der ArbeiterInnenklasse im Westen für die passive Duldung der restaurationistischen Einheit präsentierte, war unerbittlich und musste mit der Schwächung des eigenen Kampfpotenzials gegen alle folgenden Offensiven des Kapitals bezahlt werden.

Die deutsche Imperialismus triumphierte zunächst. Die Wiedervereinigung hatte eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die internationale Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit. Entscheidend war jedoch, mit dem neu gewonnenen Hinterland eine geostrategische Startrampe geschaffen zu haben, um die Rekapitalisierung des zerbröckelnden Ostblocks voranzutreiben.

Zum Zweiten konnte in der EU noch mehr deutsches Gewicht in die Waagschale geworfen werden. Die Erweiterung der Machtbasis erleichterte auch die Durchsetzung von Projekten wie der Einführung des Euro als wichtiges Faustpfand für den innerimperialistischen Konkurrenzkampf.

BRD-Imperialismus im Krisenmodus

Die gegenwärtige Krise der Globalisierung hat die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus weltweit offenbart und auch vor dem BRD-Imperialismus nicht Halt gemacht. Der Investitionsstau für Neuunternehmungen im Ostdeutschland machte sich laut Ifo-Institut als Abwärtstrend bereits 1996 bemerkbar, u. a. aus Mangel an Fachkräften, auch in Großunternehmen. Die Konvergenz bei der Produktivität je Erwerbstätigem/r – im Osten 14.000 Euro weniger als im Westen – war ebenfalls seit der Jahrtausendwende ins Stocken geraten.

Strukturelle Probleme von Ungleichheit selbst im Inland konnten nicht gelöst werden: Verschuldung der Kommunen, Armutsschere geht weiter auf, Gefälle Stadt-Land, lebensunsichere Perspektive für die eigene Bevölkerungsmehrheit, geschweige denn für die noch stärker ins Elend gestürzten Massen der imperialisierten Länder.

Den ersten Dämpfer bekamen die Ambitionen des BRD-Imperialismus mit dem Scheitern seiner Pläne für eine EU-Verfassung 2003 und damit des politischen Aufstiegs zu einer imperialistischen Supermacht, die den USA und dem aufstrebenden China die Stirn bieten hätte können. Wirtschaftlich ist Deutschlands Vormachtstellung innerhalb der EU zwar weiterhin unumstritten, doch die Schwierigkeiten, ökonomische Druckmittel gegen die sich sperrenden Nationalismen dort politisch umzumünzen, nehmen zu. Mit einheitlichen klaren Positionen kann die EU weltpolitisch nicht aufwarten: Für den aktiven militärischen Einsatz für eigene Interessen besteht ein begrenzter Aktionsspielraum. Nach wie vor hindert der Atomwaffensperrvertrag die BRD daran, auch militärisch Weltgeltung zu erlangen.

Vor ein paar Jahren noch kaum vorstellbare Instabilitäten haben das Land überzogen und einerseits das Durchregieren für das Kapital nicht unbedingt vereinfacht, zum anderen den Erfolg des Rechtspopulismus gebracht, der v. a. in Ostdeutschland Tritt gefasst hat, worin die – vorläufig – letzte Konsequenz der siegreichen Konterrevolution und der Kapitulation der ArbeiterInnenbewegung zum Ausdruck kommt.

Protestbewegungen wie jene gegen die Hartz-Gesetze ab 2003, die vor allem in der ehemaligen DDR eine Massenkraft waren, verdeutlichen, dass es sich hier um kein Naturgesetz handelt. Die ArbeiterInnenklasse kann durchaus für ein fortschrittliches, klassenkämpferisches Programm gewonnen werden – wenn dieses entschlossen verfochten wird, in Ost und West.




Der Zusammenbruch des Stalinismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2001)

„In Wirklichkeit könnte der Kapitalismus – wenn das überhaupt möglich wäre – nur mit Hilfe eines grausamen konterrevolutionären Umsturzes in Russland wiedererstehen, der zehnmal soviel Opfer fordern würde wie die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg zusammen.“ (1)

Trotzkis Prognose ist offensichtlich nicht eingetroffen. Die
stalinistischen Bürokratien sind in den meisten Ländern nicht durch eine
blutige Konterrevolution von der Herrschaft verjagt worden. Vielmehr ist die
herrschende Kaste selbst ins Lager der sozialen Konterrevolution übergegangen.
Sie spaltete sich und ihr Gros suchte ihr Heil im Bündnis mit bürgerlichen und
kleinbürgerlichen Kräften im Inneren oder mit dem Imperialismus.

Doch warum trat Trotzkis Prognose nicht ein? Erstens hatte
die bürokratische Herrschaft die ökonomischen Grundlagen ihres Regimes
erschöpft. Für eine gewisse Periode war es ihr möglich gewesen, die Potenzen
der Planwirtschaft zum eigenen Machterhalt zu nutzen. Doch diese waren
spätestens in den 1980er Jahren erschöpft. Die Unhaltbarkeit der bürokratischen
Diktatur, ihre Rolle als wirtschaftliche und politische Totengräberin des
(degenerierten) ArbeiterInnenstaates kam dann voll zur Geltung.

Zweitens erwies sich, dass die bürgerliche Form des
Staatsapparates im degenerierten ArbeiterInnenstaat mit den Aufgaben der
herrschenden Klasse kompatibel, vereinbar war. Hier musste nichts „zerschlagen“
werden. Es reichten eine Auswechslung mancher Spitzenfunktionärinnen und die
Umstrukturierung des Apparats. Nur in der DDR wurde der staatliche Apparat
zerstört. Doch der Grund dafür lag nicht in einer anderen Qualität dessen,
sondern in der Existenz der BRD. Es existierte hier bereits ein
imperialistischer Staatsapparat, große Teile des DDR-Staatsapparates waren
einfach überflüssig.

Drittens hatte die bürokratische Herrschaft die ArbeiterInnenklasse
politisch atomisiert, entmündigt. Das Proletariat betrachtete „seinen Staat“
immer weniger, schließlich gar nicht mehr als den seinen. Die ArbeiterInnen
wollten (zumindest zu großen Teilen) die Bürokratie stürzen – und wirkten auch
aktiv an deren Sturz mit –, aber sie hatten gleichzeitig die Hoffnung in eine
andere Gesellschaft verloren. Der „real existierende Sozialismus“ war für sie
zu einer real existierenden Katastrophe geworden. Sie waren am Beginn
keineswegs bewusst für die Wiedereinführung der Marktwirtschaft und hatten auch
keine klare politische Zielvorstellung. Sie wussten aber, was sie – zu Recht –
nicht wollten: die Fortdauer der bürokratischen Herrschaft.

Schließlich war die Existenz des stalinistischen
Übergangsregimes als Juniorpartner in einer weiterhin vom Imperialismus
dominierten Weltordnung in seinen wechselnden Formen von „Kaltem Krieg“ und „friedlicher
Koexistenz“ auf Dauer unmöglich. Die Stagnation der bürokratischen Herrschaft
stand den gewaltigen dynamischen Potenzen der kapitalistischen Welt gegenüber.
Sie blieb hinter deren Wachstumsschüben zurück, um gleichzeitig von ihren
Krisen mitbetroffen zu sein. Hochrüstung und technologisches Zurückbleiben
bürdeten den sowieso schon kränkelnden Planwirtschaften ungeheure Kosten auf,
verhinderten Konzentration auf Infrastruktur- und Konsumgüterinvestitionen. Mit
den „Marktreformen“ und „Öffnungen“ stiegen Verschuldung, Abhängigkeit von
Exportmärkten und die Korruption. Es bildeten sich jene Netze von
Bürokraten-ManagerInnen, Proto-UnternehmerInnen und imperialistischen
Mittelsmännern/-frauen, die zur sozialen Grundlage der Restauration werden
sollten.

Ökonomische Ursachen des Zusammenbruchs

Der Stalinismus engte die Planwirtschaft auf die jeweiligen
Landesgrenzen ein. Er verhinderte aktiv die Ausbreitung der proletarischen
Revolution auf wirtschaftlich entwickeltere Regionen. Er schnitt die Ökonomien
der degenerierten ArbeiterInnenstaaten von den Vorteilen eines Zugangs zur
höchsten Konzentration an Produktionsmitteln und von der Integration in die
internationale Arbeitsteilung ab. Das Außenhandelsmonopol gewährt einen
unverzichtbaren Schutz für den ArbeiterInnenstaat gegen die kapitalistische
Konkurrenz und die Auswirkungen der Krisen dieses Systems. Aber das Ziel dieses
Monopols ist nicht, alle agrarischen und industriellen Sektoren, die es im Rest
der Welt gibt, innerhalb der Grenzen eines jeden ArbeiterInnenstaats
einzurichten.

Dieser Weg erwies sich als utopisch (z. B. in Nordkorea
und Albanien) und führte zu unnötigen Opfern, die von der ArbeiterInnenklasse
in diesen Ländern mit einer Planwirtschaft erbracht wurden. Nur die Ausbreitung
der sozialen Revolution in die Metropolen des Weltkapitalismus würde einen
entscheidenden Durchbruch zum Aufbau des Sozialismus und einer globalen
Planwirtschaft ermöglichen. Das beschränkte, nationalistische Programm des „Sozialismus
in einem Land“ ließ die Entwicklung der Produktivkräfte zurückbleiben – zuerst
relativ, schließlich absolut.

Gerade die Unterdrückung der ArbeiterInnendemokratie sorgte
dafür, dass der Plan der stalinistischen Bürokratie auf ungenauen, ja falschen
Informationen basieren musste und die Bedürfnisse der Gesellschaft und der
Wirtschaft ignorierte. Die bürokratische Planung erzielte in den ersten
Jahrzehnten einige Erfolge, als sie  v. a. eine Angelegenheit der
industriellen Ausweitung war. Zunehmend aber überstiegen Innovation und
ständige technologische Erneuerung die Fähigkeiten bürokratischer Planung.

Die herrschende Kaste hatte den dynamischen Stachel der
Konkurrenz abgeschafft. Sie war zugleich unfähig und nicht bereit, die
unmittelbaren ProduzentInnen mit ihrem schöpferischen Eigeninteresse am
Planungsprozess teilnehmen zu lassen. Das Ergebnis war ein unvermeidbarer Fall
der Arbeitsproduktivität und ein verheerendes Zurückbleiben hinter dem
imperialistischen Kapitalismus.

Die Bürokratie verstand es, wirtschaftliche Ressourcen für
den eigenen üppigen Konsumbedarf und zur Absicherung ihrer Tyrannei
einzusetzen. Je weiter Produktions- und Verteilungssektoren von diesen
Prioritäten entfernt waren, desto mehr wurden Mängel und schlechte
Warenqualität zur Norm. Der Militär- und Verteidigungssektor einschließlich des
riesigen Polizei- und Sicherheitsapparates genossen absoluten Vorrang, was
Ausgaben anbelangte, und arbeiteten relativ effizient.

Aber bezüglich der Konsumbedürfnisse der Massen erwiesen
sich die bürokratischen Planmechanismen als unfähig, hochwertige Güter herzustellen,
die Arbeit zuhause oder in der Produktion zu erleichtern oder zu verkürzen und
das Ausmaß und die Qualität der Freizeit zu steigern. Nach erstaunlichen
Anfangserfolgen in Erziehung und Wohlfahrt wurden selbst sie Opfer der
Stagnation bürokratischer Planung. Die Erfahrung von Versagen und Niedergang
untergrub letzten Endes national wie international selbst die Idee der
geplanten Produktion im Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse. Die bürgerliche
Propaganda konnte immer erfolgreicher die „Lehre“ verbreiten, dass dies das
notwendige Resultat aller Versuche sei, eine Wirtschaft zu planen.

Aber die stalinistische Bürokratie war und ist kein Ausdruck
der Planlogik selbst. Effektive Planung setzt die Kontrolle über die Produktion
durch den zentralisierten und bewussten Willen der ProduzentInnen selbst
voraus. Die Ziele der stalinistischen Kommandoplanung wurden durch einen
winzigen Kern von PlanerInnen abgesteckt, der wiederum von einer
bonapartistischen Clique von SpitzenbürokratInnen gegängelt wurde. Die Wirkweise
des Plans wurde wiederholt aus dem Gleichgewicht gebracht und unterbrochen
durch rivalisierende Schichten von Partei- und Wirtschaftsbürokratie. Die
atomisierten und entfremdeten Arbeitskräfte, die weder über die Planziele
entschieden noch sie verstanden, traten der Produktion zusehends mit Apathie
entgegen. Eine chronische Stagnation steuerte in den 1980er Jahren auf eine
kritische Lage zu und stürzte die herrschenden Bürokratien in immer tiefere
politische Krisen.

Von Moskau bis Peking, von Belgrad bis Hanoi war die
herrschende Kaste in einander sich befehdende Fraktionen gespalten. Alle
Versuche, ihr System durch Beimengungen von „Marktelementen“ und
„Marktsozialismus“ wiederzubeleben, waren zum Scheitern verurteilt. Diese
Maßnahmen zerrissen und desorganisierten den bürokratischen Plan, ohne ihn
durch eine wirklich kapitalistische Ökonomie zu ersetzen, zunächst in Ungarn
und Jugoslawien, am spektakulärsten dann unter Gorbatschow in der UdSSR.

Die Zersetzung und der Zusammenbruch der Produktion, ein
blühender Schwarzmarkt und Korruption, gigantische Budgetdefizite und
Unternehmensbankrotte, aufgeschoben nur durch Hyperinflation, markieren die
Todesagonie der bürokratischen Planwirtschaft.

Für die ArbeiterInnenklasse ist der Zweck der
postkapitalistischen Eigentumsverhältnisse der Übergang zu einer klassenlosen
kommunistischen Gesellschaft. Sie ermöglicht die Planung der Produktion nach
menschlichen Bedürfnissen, das Ende von Unterdrückung und die fortschreitende
Beseitigung von Ungleichheiten.

Dies zu erreichen, erfordert die aktive und bewusste
Teilnahme des Proletariats als ProduzentInnen und KonsumentInnen. Diese müssen
als unmittelbare ProduzentInnen mit in der Geschichte erstmaligem unmittelbaren
Interesse und schöpferischer Fähigkeit zur Entfaltung der Produktivkräfte
souverän sein.

ArbeiterInnenstaaten müssen einen Weg zunehmender
ökonomischer Integration und gemeinsamer Planung einschlagen, um von der
internationalen Arbeitsteilung, die auch für eine sozialistische Ökonomie
notwendig ist, den effektivsten Gebrauch zu machen. Die stalinistischen
Bürokratien waren nicht fähig, diese Vorteile zu nutzen. Tatsächlich blieben
die degenerierten ArbeiterInnenstaaten mehr und mehr hinter der
Internationalisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft zurück.

Der erste Schritt eines gesunden ArbeiterInnenstaats in
diese Richtung würde die Errichtung von gemeinsamen Planungseinrichtungen für
wichtige Branchen und gemeinsame Pläne für eine Gruppe von Staaten verbunden
mit einer gemeinsamen Währung darstellen. Ein solches System kann nur durch die
revolutionäre Aktion der ArbeiterInnenklasse, die ihre Ziele bewusst verfolgt,
umgesetzt werden.

Die stalinistischen Bürokratien sind historisch illegitime
Kasten. Von ihrer Entstehung an neigten sie zur Herausbildung von Fraktionen
und Flügeln als Antwort auf den langfristigen Druck seitens des Imperialismus
und der ArbeiterInnenklasse. In der UdSSR, in Ungarn, Jugoslawien und China
entwickelten sich Fraktionen, die allmählich dominanter wurden und den Plan
insgesamt demontieren und Preise, Löhne und Produktion durch „Marktmechanismen“
bestimmen lassen wollten.

Sie versuchten, den Soziallohn in Form subventionierter
Lebensmittel und Sozialdienste, die den ArbeiterInnen als Ergebnis der
Beseitigung des Kapitalismus zugutekamen, abzuschaffen. Diese AnwältInnen der
Dezentralisierung, des freien Marktes und der Öffnung ihrer Ökonomien für die
multinationalen Konzerne zeigten eine immer offener restaurationistische
Haltung und zweifelten nicht nur an der bürokratischen Zentralplanung, sondern
auch an der Fähigkeit ihrer Kaste, sich an der Macht zu halten.

Diese Fraktion war mit der Direktorenschicht eng verwoben
und erhoffte sich eine Etablierung als direkte AgentInnen, wenn nicht gar
Mitglieder einer neuen Kapitalistenklasse. Solche bewussten RestaurationistInnen
waren, wie die Ereignisse in der UdSSR nach 1990/91 zeigten, mit
bemerkenswerter Geschwindigkeit imstande, ihr stalinistisches Hemd gegen ein
sozialdemokratisches, liberales, christdemokratisches oder protofaschistisches
einzutauschen.

Daneben hatten die Marktreformen, die Unterhöhlung des
Außenhandelsmonopols und die Öffnung für Auslandsinvestitionen vielfältige Wege
für das Wirken des Imperialismus selbst geöffnet. Ein Großteil der
COMECON-Staaten und Jugoslawien waren in eine enorme Schuldenfalle getappt und
mussten sich mit den Forderungen und Auflagen der internationalen
Finanzinstitutionen herumschlagen. Um die Devisenprobleme zu lösen, wurde die
Exportorientierung immer stärker, bestimmte Betriebe wurden immer mehr zu
verlängerten Werkbänken imperialistischer Konzerne. Das technologische
Zurückbleiben führte umgekehrt zur Abhängigkeit von Devisen verschlingenden
Importen. Alle drei Faktoren machten die nachkapitalistischen Ökonomien
anfällig für die Industrie-, Finanz- und Konjunkturkrisen der kapitalistischen
Weltwirtschaft in den 1980er Jahren.

Neben der verstärkten Rolle imperialistischer Finanz- und
Konzernvertretungen in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten bildete sich
entlang der Marktreformen eine Schicht von GeschäftemacherInnen, KleinbürgerInnen
bzw. halblegalen oder kriminellen KapitalistInnen. Der Imperialismus nutzte
alle Schwachpunkte des Systems, um prokapitalistische Oppositionen zu bilden
oder zu fördern. So wurden insbesondere die Kirchen zu einem Zentrum für die
Sammlung von Oppositionskräften. Aber auch ehemalige Sammlungspunkte für ArbeiterInnenopposition
wie Solidarnosc in Polen konnten nach dem reaktionären Niederwalzen der ArbeiterInnenproteste
in reaktionäre, kleinbürgerlich-konterrevolutionäre Parteien umgewandelt
werden.

Ende der 1980er Jahre war in fast allen degenerierten ArbeiterInnenstaaten
eine Situation entstanden, in welcher der Spitze der krisengeschüttelten
Bürokratie eine breite Front von prokapitalistischen BürokratInnen, kleinbürgerlichen
Oppositionskräften und der verstärkte Druck des Imperialismus gegenüberstanden.

Die Rolle des Staatsapparates

Die Periode des Marktsozialismus markiert in vielen
degenerierten ArbeiterInnenstaaten die Endphase des stalinistischen Regimes.
Die Einführung von Marktmechanismen – selbst Ausdruck der Krise der
bürokratischen Misswirtschaft – blieb jedoch insgesamt den Mechanismen direkter
und indirekter Planung untergeordnet. Entgegen den Intentionen
marktwirtschaftlicher ReformerInnen vom Schlage eines Gorbatschow trugen diese
Maßnahmen nicht zur Revitalisierung der Ökonomien so unterschiedlicher Länder
wie Russland, Jugoslawien oder Ungarn bei; sie kombinierten vielmehr die
Schwächen beider Systeme, von bürokratischer Planung und eingeschränkter Konkurrenzwirtschaft.

Aber auch die weitestgehende Liberalisierung der
bürokratischen Planung, ihre immer stärker werdende Unterhöhlung waren nicht
ausreichend, um eine qualitative Transformation der Gesellschaftsordnung zu
bewirken. Sie führten jedoch dazu, dass die Bürokratie selbst immer stärker
restaurationistische Tendenzen entwickelte, dass verschiedene Flügel der
Bürokratie immer offener einen prokapitalistischen Kurs steuerten, sich mit
entstehenden kleinbürgerlichen Schichten zu verbünden suchten und selbst Geld
anhäuften, das zu einem späteren Zeitpunkt die Funktion von Kapital spielen
konnte.

Jene Teile der Bürokratie, die aufgrund ihrer Stellung in
Partei, Armee, Staatsapparat befürchten mussten, ihre Privilegien beim Übergang
zum Kapitalismus zu verlieren, gerieten auf ökonomischer Ebene in eine immer
verzweifeltere Situation. Sie hatten das Vertrauen in eine Wiederbelebung
bürokratischer Planungsmechanismen verloren. Wo die Bürokratie solche Versuche
unternommen hatte – wie in Rumänien – waren die wirtschaftlichen Resultate eher
noch desaströser als in anderen Ländern.

In China zog dieser Teil der Bürokratie aus der
Niederschlagung der Massenbewegung chinesischer ArbeiterInnen und
Mittelschichten am Tian’anmen-Platz 1989 den Schluss, dass die Einheit der
Partei – und damit die Unterordnung unter deren restaurationistischen Flügel –
das geringere Übel gegenüber einer ArbeiterInnenrevolution war.

In Russland versuchte der stalinistische Hardlinerflügel in
einem verzweifelten Aufstand gegen Gorbatschow, das Rad der Geschichte
zurückzudrehen. Der Putschversuch um Janajew, der sich in erste Linie gegen die
politischen Freiheiten, die die ArbeiterInnenklasse und die Intelligenz
Gorbatschow abgerungen hatten, richtete, endete in einer raschen und verdienten
Niederlage. Er hätte nicht zur „Rettung des ArbeiterInnenstaates“, sondern zur
brutalen Unterjochung des Proletariats geführt, „bestenfalls“ zur zeitweiligen
Restauration von Kommandoplanung und zu einem autoritären,
staatskapitalistischen Weg zum Kapitalismus.

Der von Jelzin geführte Flügel der Bürokratie ergriff die
Gunst der Stunde und übernahm die politische Macht, bemächtigte sich des
vorhandenen Staatsapparates, den er zwar von den Spitzen der PutschistInnen und
der KP säuberte, der aber insgesamt intakt blieb.

Trotzkis Einschätzung, dass sich in der Bürokratie eine
Vielzahl politischer Ausrichtungen tummeln, die im Zuge ihrer Todeskrise offen
hervortreten würden – von einer proto-faschistischen bis zur revolutionären –
bewahrheitete sich nur bedingt. Ganz eindeutig ging eine Vielzahl politischer
Tendenzen aus ihr hervor. Eine auch nur ansatzweise revolutionäre bildete sich
jedoch nicht.

Wenn wir den anti-proletarischen Charakter der Bürokratie in
Betracht ziehen, ist das auch kein Wunder. Die Bildung eines solchen Flügels war
immer nur eine Möglichkeit – und sicher eine größere in den 1930er Jahren, als
die revolutionäre Tradition der Oktoberrevolution in der Gesellschaft noch
lebendig war. Ende der 1980er Jahre war die Herrschaft der Bürokratie an einem
historischen Endpunkt angelangt, waren die ökonomischen Grundlagen ihrer
Herrschaft erschöpft. Damit war die Bildung eines linken oder gar
revolutionären Flügels sehr unwahrscheinlich geworden.

Auch in den 1930er Jahren war die Bildung eines solchen Minderheitsflügels
überhaupt kein Automatismus. Er setzte immer die Existenz einer revolutionären
Avantgarde, den Druck der revolutionären ArbeiterInnenschaft voraus. Nur so
hätte ein Teil der Bürokratie zum Proletariat „überlaufen“ können.

Dass die Bildung eines solchen Flügels keine notwendige
Entwicklung darstellen konnte, liegt aber auch an einem wichtigen sozialen
Umstand. Alle anderen politischen Optionen der Bürokratie – weitere parasitäre
Ausplünderung des ArbeiterInnenstaates als herrschende Kaste, als Dienerin
einer neuen Bourgeoisie oder die Transformation in eine neue Kapitalistenklasse
– schlossen die Beibehaltung ihrer privilegierten gesellschaftlichen Stellung
ein.

Hinzu kam, dass sich 1989–1991keine revolutionäre Strömung
im Proletariat bildete, die Massenanhang oder auch nur eine starke Verankerung
in der Avantgarde der Klasse gehabt hätte. Die politische Atomisierung des
Proletariats durch die stalinistische Diktatur hatte zur Zerstörung des
Klassenbewusstseins geführt und dessen Bildung systematisch verhindert. Darin
besteht auch eines der Hauptverbrechen des Stalinismus im geschichtlichen
Maßstab.

Die wirtschaftliche Lage führte dazu, dass die Bürokratie in
allen Ländern Osteuropas der Restauration wenig oder gar keinen Widerstand
leistete und auch kaum leisten konnte.

In Osteuropa, in der Sowjetunion und in China entstanden
Massenbewegungen gegen die bürokratische Herrschaft, die ursprünglich als
Bewegung der Reform des Systems auftraten, gleichzeitig aber mit dem
Fortbestand des alten Regimes unvereinbar waren. Eine politisch-revolutionäre
Krise entstand, die in all diesen Ländern die Frage nach der politischen Macht
objektiv aufwarf.

Die Auseinandersetzungen endeten (außer in Rumänien und – in
anderer Weise – in Jugoslawien) mit dem unblutigen, „friedlichen“ Abdanken der
Bürokratie als herrschender Kaste. Die politische Macht ging an offen
restaurationistische Regierungen über, die sich entweder aus der ehemaligen
kleinbürgerlichen Opposition oder aus der ehemaligen herrschenden Kaste oder
einer Koalition beider zusammensetzen. Es bildeten sich bürgerliche ArbeiterInnenregierungen
oder Volksfrontregierungen, die der Einführung der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse dienten. In China (1992/93) und Serbien (mit dem
Machtantritt Milosevics) vollzog sich dieser Prozess, indem innerhalb der KP
bei Beibehaltung ihres Machtmonopols der offen restaurationistische Flügel die
Macht und Kontrolle über den Staatsapparat übernahm.

Wir charakterisieren diese Länder als
bürgerlich-restaurationistische Staaten. Die Regierungsgewalt und die
Staatsmacht gingen bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Koalitionen
und der Formen – bürgerlich-demokratisch oder diktatorisch – von einer Kaste,
deren politische Herrschaft auf der Verteidigung und Reproduktion
nach-kapitalistischer Eigentumsverhältnisse beruhte, über zu den politischen
VertreterInnen einer neuen herrschenden Klasse, zu einer entstehenden
Bourgeoisie.

Wie Trotzki richtig vorhersah, folgte der Machtübernahme
durch die entstehende bürgerliche Klasse eine ganze Periode, in der die
Wirtschaft bewusst gemäß den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft
umgestaltet werden musste.

Der Staat und die Kontrolle über den Staatsapparat spielen
auch im Restaurationsprozess – ähnlich wie bei Entstehung jedes ArbeiterInnenstaates
– keine passive Rolle. Er muss bewusst und gezielt die alten ökonomischen
Verhältnisse zerstören, um die Wirkung des Wertgesetzes durchzusetzen.

Es war eine große Stärke der Analyse der LRKI in den 1990er
Jahren herauszuarbeiten, durch welche inneren Widersprüche dieser Prozess nach
Etablierung restaurationistischer Regierungen gehen musste und welche
notwendigen ökonomischen Maßnahmen in dessen Verlauf dazu ergriffen werden
mussten.

Eine weitere Stärke unserer Analyse bestand in der Erkenntnis,
dass die Inbesitznahme des Staatsapparates durch diese Regierungen relativ
problemlos vonstattenging, dass der stalinistische Apparat i. W. auch zur
Erfüllung der Ziele der neuen bürgerlichen Regierungen diente. Was noch
wichtiger ist: Wir konnten diese Tatsache auch erklären, weil wir klar erkannt
hatten, dass der Staatsapparat in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten von
bürgerlichem Typus war. Dieser stellte nicht nur ein Hindernis auf dem Weg zum
Sozialismus dar; er war gleichzeitig auch kompatibel mit der Umsetzung der
politischen Ziele der Restauration, sobald sich eine solche politische Kraft
seiner bemächtigte.

Wir konnten dieses Phänomen in ganz Osteuropa erleben. Der
Staatsapparat wurde nicht zerschlagen, er wurde nur gesäubert. Die neuen restaurationistischen
Regime nahmen ihn in Besitz – als Instrument zur Umwandlung der
Eigentumsverhältnisse.

Trotzki hatte eine solche Entwicklung durchaus
vorausgesehen. In der „Verratenen Revolution“ legt er dar, dass der Sturz der
Bürokratie mit einer schonungslosen Säuberung des Staatsapparates einhergehen
muss. Auf wirtschaftlichem Gebiet würde die politische Revolution jedoch den
Charakter einer tiefgreifenden Reform haben.

Anders die soziale Konterrevolution. Sie müsste auf dem
Gebiet der Wirtschaft nicht einfach Reformen durchführen, sondern einen
fundamentalen konterrevolutionären Umsturz zur Wiederherstellung des
Privateigentums an den Produktionsmitteln herbeiführen. In der herrschenden
Bürokratie würde eine bürgerliche Partei dagegen „nicht wenige willfährige
DienerInnen“ finden.

„Eine Säuberung des Staatsapparates wäre auch in diesem Fall erforderlich, doch hätte die bürgerliche Restauration wahrscheinlich weniger Leute zu entfernen als eine revolutionäre Partei.“ (2)

Eine notwendige Korrektur

Hatte die LRKI auch die Widersprüchlichkeit dieses Systems
des Übergangs erkannt, hatte sie auch den Staatstyp im stalinistischen System
richtig charakterisiert und damit ein Mittel zum marxistischen Verständnis der
friedlichen Restauration des Kapitalismus zur Hand, so hatte sie jedoch in den
frühen 1990er Jahren einen schweren theoretischen Fehler gemacht, der mit der
marxistischen Staatstheorie wenig gemein hatte und der sich zu einem
gravierenden politischen Manko hätte entwickeln können.

Um den widersprüchlichen Prozess der Re-Etablierung des
Kapitalismus zu charakterisieren, haben wir die Phase von der Machtergreifung
offen restaurationischer Regierungen bis zum Sieg des Wertgesetzes als
vorherrschenden Regulator des Wirtschaftslebens als „moribunden ArbeiterInnenstaat“
bezeichnet.

Auf den ersten Blick hatte diese Charakterisierung mehrere
Vorzüge. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass die Aufmerksamkeit von
RevolutionärInnen auf die ökonomischen Verteidigungsaufgaben der ArbeiterInnenklasse,
den Kampf gegen Privatisierungen, Massenentlassungen usw. nach Machtübernahme
der RestaurationistInnen gelenkt wurde. Sie schärfte auch den Blick für die
inneren Widersprüche dieses Prozesses, dem fast alle anderen internationalen
Strömungen des Trotzkismus kaum Aufmerksamkeit schenkten.

Der entscheidende Fehler dieser Charakterisierung ist
jedoch, dass sie von einer mechanischen Sichtweise des Übergangs zwischen
Gesellschaftsformationen bestimmt war. Der Klassencharakter eines Staates wird
aber gerade in der Übergangsphase nicht durch die „momentan“ vorherrschenden
Eigentumsverhältnisse charakterisiert; entscheidend ist, welche
Eigentumsverhältnisse er verteidigt oder zu installieren versucht. Dies ist
nicht eine Frage des „Willens“ – was also die AgentInnen des Staatsapparates
gerade „durchsetzen wollen“ – sondern eine der Klassenverhältnisse in Bezug auf
Staat und Ökonomie. Die Klassenkräfte für einen Sturz der bürokratischen Kaste
zum Zweck der bewussten Restauration des Kapitalismus waren durch die Krise der
bürokratischen Herrschaft und die Atomisierung der ArbeiterInnenklasse in
ausreichender Stärke vorhanden – so ausreichend, dass sie auf der politischen
Ebene spätestens 1989 in verschiedensten Formen die Krise zur Hervorbringung
von Doppelmachtsituationen vorantreiben konnten. Diese Klassenkräfte
repräsentierten besonders durch ihre Verbundenheit mit dem Imperialismus, aber
auch durch die Ansätze einer einheimischen Kapitalistenklasse, eindeutig die
Bourgeoisie, die um die Errichtung bürgerlicher Eigentumsverhältnisse kämpfte.

Entscheidend ist nicht, ob diese bürgerlichen Kräfte ihr
Ziel „mit einem Schlag“ oder doch nur durch einen „langwierigen“
Restaurationsprozess durchsetzen konnten. Entscheidend ist vielmehr, dass ihre
Machtergreifung einen entscheidenden qualitativen Sprung in der Entwicklung
darstellte. Von da an war die Spitze des Staatsapparates kein, wenn auch noch
so unbewusstes und durch Marktideologie zersetztes, Hindernis für die
kapitalistische Restauration, sondern die entscheidende, vorantreibende Agentur
derselben. Auch wenn daher die Ökonomie weiterhin nicht durch das Wertgesetz
und das schrankenlose Funktionieren des Kapitalkreislaufes bestimmt war, so war
die Entwicklung seit diesem qualitativen Sprung auf einer schiefen Ebene hin
zur Beseitigung der noch existierenden Hemmnisse – etwas, das nicht mehr durch
den „passiven Widerstand“ der bürokratischen Trägheit hätte aufgehalten werden
können, sondern nur durch eine bewusste soziale Revolution zur Beseitigung der
restaurativen Maßnahmen.

Die Theorie der „moribunden ArbeiterInnenstaaten“ hatte
daher höchst problematische Seiten. Vor allem missachtete sie die dialektische
Sicht des Marxismus, dass die Übergangsperiode von einer Klassengesellschaft
zur anderen oft durch einen Widerspruch zwischen politischer und ökonomischer
Form gekennzeichnet ist. Diese wurde durch ein einfaches, mechanisches
Verhältnis ersetzt. Solange das Wertgesetz nicht dominiere, solange es nicht
vorherrsche, hätten wir es unabhängig davon, welche Klasse politisch herrscht,
mit einem ArbeiterInnenstaat zu tun.

Dagegen bemerkte Trotzki: „Weiß die Geschichte nicht von Fällen des Klassenkonflikts zwischen Ökonomie und Staat? Aber natürlich! Nachdem der ‚Dritte Stand‘ die Macht ergriffen hatte, blieb die Ökonomie noch für eine Phase von mehreren Jahren feudal. In den ersten Monaten der Sowjetwirtschaft regierte das Proletariat auf der Basis einer bürgerlichen Ökonomie. Im Bereich der Landwirtschaft operierte die Diktatur des Proletariats jahrelang auf der Basis einer kleinbürgerlichen Wirtschaft.“ (3)

Uns war klar, dass dieser „ArbeiterInnenstaat“ (also der
Staatsapparat, die Regierung usw.) in seiner „moribunden“ Phase die
proletarischen Eigentumsverhältnisse nicht mehr, nicht einmal auf bürokratische
Weise verteidigt. Daraus zogen wir nicht den naheliegenden Schluss, dass die
Staatsmacht, das Gewaltmonopol in die Hände einer anderen Klasse übergegangen
ist, die bewusst daran geht, die ökonomischen Verhältnisse ihrer Herrschaft
anzupassen.

Vielmehr gingen wir davon aus, dass der ArbeiterInnenstaat –
diesmal als Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden – solange
ein proletarischer Staat wäre, wie auf ökonomischer Ebene das Wertgesetz nicht
dominiere.

Wir hatten also einen ArbeiterInnenstaat, eine bürokratisch
degenerierte Form der Übergangsgesellschaft „erfunden“, in der die politische
Macht nicht in Händen einer gesellschaftlichen Kraft lag, die die soziale
Herrschaft der ArbeiterInnenklasse (und sei es in der entarteten Form der
politischen Herrschaft der Bürokratie) verteidigt.

Diesen schweren theoretischen Fehler konnten wir auf dem
letzten Kongress der LRKI (2000) überwinden. Die politische Entwicklung der
1990er Jahre war glücklicherweise in keinen Situationen gemündet, wo dieser
theoretische Fehler in einen politischen umgeschlagen wäre. Das hätte
allerdings zu einer programmatischen Kuriosität unsererseits geführt.

Mit dem moribunden ArbeiterInnenstaat hatten wir eine Form
der proletarischen Diktatur vor uns, die wir nicht gegen den Imperialismus
verteidigen würden, weil es eine bürokratisch degenerierte Form der Herrschaft
der ArbeiterInnenklasse ist, sondern weil ein Sieg des Imperialismus drohen
würde, eine solches Land zu einer Halbkolonie werden zu lassen.

Dieser Beschluss liest sich nicht nur schlecht, er ist der
sprachliche Ausdruck einer politischen Unklarheit. Im Grunde bemerkte er, dass
der moribunde ArbeiterInnenstaat bereits ein bürgerlicher Staat war – aber er
erkannte das auf einer ganz und gar widersprüchlichen theoretischen Grundlage
an. Die bewaffneten Organe dieses Staates waren in keiner Weise mehr die eines ArbeiterInnenstaates.
Sie hatten in allen kritischen Momenten gezeigt, dass ihre Spitze treu zu den
bürgerlichen RestaurationistInnen stand, gegen „stalinistische AbenteurerInnen“
(siehe die Moskauer Putschversuche) ebenso wie gegen „abtrünnige“ nationale
Minderheiten (siehe Tschetschenien-, Balkan-Kriege etc.). Damit ist auch klar,
dass die Armeen solcher Staaten keine andere Rolle mehr spielen können als jene
jedes anderen bürgerlichen Staates. Jede Grundlage für einen revolutionären
Defensismus gegenüber ArbeiterInnenstaaten-Armeen fällt weg, da es sich nur
noch um das unzweideutige bewaffnete Instrument einer konterrevolutionären
Bourgeoisie handelt. Die Frage des Defaitismus gegenüber dem eigenen
Imperialismus, der durch bewaffnete Intervention in den Restaurationsprozess
eingreift (z. B. Ex-Jugoslawien) ist völlig unabhängig von einem nicht
mehr vorhandenen „ArbeiterInnenstaats“-Charakter dieser Länder, sondern ergibt
sich rein aus dem Charakter des imperialistischen Krieges um neue, potentielle
Halbkolonien.

Die falsche Theorie des moribunden ArbeiterInnenstaates
hatte keine negativen programmatischen Folgen und konnte korrigiert werden. Wir
müssen aber klar sehen, dass die LRKI hier an einem schweren politischen Fehler
vorbeigeschrammt war. Das zeigte sich auch in der Titulierung der
Aktionsprogramme dieser Zeit. Sie trugen im Grunde alle den Charakter von
Programmen der sozialen Revolution, des Sturzes einer neuen oder neu
entstehenden Kapitalistenklasse.

Da wir jedoch die bürgerlich restaurationistischen Staaten
als „ArbeiterInnenstaaten” verkannten, trugen unsere Programme den Unter- oder
Nebentitel eines Programms der „kombinierten“ politischen und sozialen
Revolution, eines Programms, das stillschweigend anerkannte, dass die
proletarische Revolution nicht mehr die Herrschaft einer Kaste, sondern die
einer Klasse stürzen musste – freilich ohne diese Tatsache klar auszusprechen.

Die ArbeiterInnenklasse

Bisher haben wir die Frage nach der Möglichkeit eines
friedlichen Übergangs vom degenerierten ArbeiterInnenstaat zum Kapitalismus in
erster Linie mit einem Blick auf ihre ökonomischen Voraussetzungen, die
herrschende Bürokratenkaste und die Form des Staatsapparates betrachtet.

Dass die Restauration des Kapitalismus ohne Bürgerkrieg,
Aufstand, oft ohne Blutvergießen vollzogen wurde, war nur möglich, weil die
große Mehrheit der Gesellschaft, die ArbeiterInnenklasse, nicht versuchte, ihre
eigene soziale und politische Herrschaft zu etablieren, weil das Proletariat
die Todeskrise der Herrschaft der Bürokratie nicht zur eigenen Machtergreifung
zu nutzen trachtete.

Trotzki ging in den 1930er Jahren davon aus, dass die ArbeiterInnenklasse
ihren Staat, Sowjetrussland, gegen den Imperialismus verteidigen würde. Es ist
kein Zufall, dass er dabei eine faschistische oder bonapartistische politische
Form der sozialen Konterrevolution vor Augen hatte, eine bürgerliche unverhüllte
Diktatur. Die Vierte Internationale stellte – damals völlig zu Recht – einen
engen Zusammenhang zwischen dem imperialistischen Krieg und der drohenden
sozialen Konterrevolution in der Sowjetunion als Folge einer militärischen
Niederlage gegen den Faschismus her.

Beim Zusammenbruch der stalinistischen Regime hatten wir es
jedoch mit einer ganz anderen Situation zu tun. Natürlich hatten der
Rüstungswettlauf wie die ökonomische Penetration der degenerierten ArbeiterInnenstaaten
zur Erschütterung der Planwirtschaften beigetragen. Vor allem aber hatte die
stalinistische Herrschaft die revolutionäre Klasse „ihrem“ degenerierten ArbeiterInnenstaat
gegenüber entfremdet.

Die blutige Niederschlagung politisch-revolutionärer
Aufstände und proletarischer Massenbewegungen hatte im Proletariat die Hoffnung
auf eine Reform des „real existierenden Sozialismus” mehr und mehr gebrochen.
Ab Anfang der 1980er Jahre erwies sich für die ArbeiterInnenklasse nicht nur
der Mangel an politischen Rechten als erdrückend – als ProduzentInnen des
gesellschaftlichen Reichtums erlebten sie den ökonomischen Niedergang tagtäglich.

Die Massenbewegungen zum Sturz der stalinistischen
Bürokratien begannen zwar als Bewegungen für politische und demokratische
Rechte, sie fanden aber auf dem Boden einer strukturellen ökonomischen Krise
statt. In Osteuropa und der UdSSR nahm das die Form wirtschaftlichen
Niedergangs und einer zumindest relativen Verschlechterung der
Konsummöglichkeiten des Proletariats an. In China wuchs die Wirtschaft zwar
stark, aber auf Grundlage enormer gesellschaftlicher Polarisierung und der
Verschlechterung der Lebensbedingungen hunderter Millionen Arbeiter und
Arbeiterinnen.

Die politische Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse hatte
zu einer politischen Perspektivlosigkeit und Atomisierung geführt. Die
arbeitenden Massen stellten zwar zahlenmäßig den Großteil der DemonstrantInnen
und AktivistInnen gegen das Regime, die politische Führung lag jedoch bei
kleinbürgerlichen Oppositionskräften, ja musste aufgrund des Fehlens einer
genuin proletarischen Führung bei diesen liegen.

Die politische Unterdrückung hatte gleichzeitig auch dazu
geführt, dass das Proletariat große Illusionen in die bürgerliche Demokratie
entwickelte. Diese Konstellation war ein enormer Trumpf für die kapitalistische
Konterrevolution im Inneren und den Imperialismus. Die Etablierung restaurationistischer
Regime nahm in der Mehrzahl der Fälle eine bürgerlich-demokratische Form an.

Dass die Arbeiter und Arbeiterinnen in der formalen
Demokratie des bürgerlichen Parlamentarismus, in der Verwirklichung einfacher
demokratischer Rechte einen enormen Fortschritt sahen, ja sehen konnten, war
eine Frucht der stalinistischen Diktatur. Die Bürokratie hatte die
Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie nicht aufgehoben (und konnte das
auch nicht, ohne ihre Herrschaft zu unterminieren), sie hatte sie einfach
abgeschafft und/oder durch deren zweitklassige Imitationen – siehe die Wahlen
zur Volkskammer in der DDR – ersetzt.

Das Programm gegen die kapitalistische Restauration

Die Überlebtheit der bürokratischen Planwirtschaft, die
Zersetzung der sozialen Grundlagen der bürokratischen Diktatur führten dazu,
dass die herrschende Kaste in Osteuropa rasch abdankte. Zweifellos war die
Tatsache, dass in vielen Ländern die sowjetische Armee einen wesentlichen Teil
des staatlichen Repressions- und Unterdrückungsapparats stellte, ein Faktor,
der die stalinistischen „HardlinerInnen“ von einer bewaffneten Verteidigung des
Machtmonopols Abstand nehmen ließ, sobald Gorbatschow und die sowjetische
Bürokratie erklärt hatten, dass sie sich politischen Reformen nicht entgegenstellen
würden.

Die kampflose Kapitulation der Bürokratie führte auch dazu,
dass proletarische Kampforgane in den Betrieben, räteähnliche Organe wie die
Fabrikkomitees, die sich 1981 in Polen gegen die stalinistische Diktatur
gebildet hatten, 1989/1990 nicht entstanden. In einigen Betrieben kam es zwar
zur Bildung von gewählten und jederzeit abwählbaren neuen „Betriebsräten“ und
Komitees, doch diese waren Ausnahmeerscheinungen, hatten in der Regel keine
Funktion als Kampforgane über das Unternehmen hinaus und waren in keinem Moment
über den Betrieb hinaus zentralisiert.

Die Bildung solcher Organe hätte zwar nicht das Bewusstsein
automatisch geändert. Sie hätte aber wichtige Stützpunkte proletarischer Macht
geschaffen, Organe der Aktion, in denen sich gleichzeitig wie in jedem
revolutionären Prozess das Bewusstsein der Klasse hätte entwickeln können.
RevolutionärInnen hätten darin einen sehr viel besseren und solideren
Anknüpfungspunkt für ihre Agitation und Propaganda gehabt.

So war die Klasse zwar sehr aktiv und auf der Straße, aber
in erster Linie als Bürger und Bürgerinnen und nicht als ArbeiterInnen. Dass
das Proletariat keine eigenen Kampforgane schuf, war jedoch nicht dem Fehlen
von Klassenbewusstsein allein geschuldet. Es lag auch daran, dass die Bürokratenherrschaft
in der Regel schon durch Massendemonstrationen auf der Straße zum Rückzug und
schließlich zum Abdanken gezwungen wurde. Das erleichterte auch die
Demobilisierung der Massen. Die kleinbürgerlichen Führungen der Massen gingen
Abkommen mit der Bürokratie ein, um einen partiellen oder vollständigen,
möglichst schmerzlosen Transfer der politischen Macht zu arrangieren. In der
DDR nahm dies die Form der „Runden Tische“ an.

In vielen Ländern dienten bürgerlich-parlamentarische Wahlen
dazu, das Bedürfnis der Massen, die verhasste stalinistische Herrschaft zu
beseitigen, mit deren Demobilisierung zu verbinden.

Das stellte an RevolutionärInnen wichtige
politisch-programmatische Herausforderungen. Wie konnte die ArbeiterInnenklasse
in dieser Situation für die Verteidigung der nach-kapitalistischen
Eigentumsverhältnisse gewonnen werden? Wie konnte sie für die politische
Revolution, für den Kampf gegen die herrschende Bürokratie und gegen die
Übergabe der Macht an die RestaurationistInnen mobilisiert werden?

Ein wichtiger Bestandteil war zweifellos die Entlarvung
bürgerlicher Kräfte, die Entlarvung der bürgerlichen Demokratie, die alles
andere als „Volksherrschaft“, sondern ein Herrschaftsmittel der Kapitalisten darstellt.
Es war zweifellos notwendig, diese Propaganda energisch und klar durchzuführen.
Ein wichtiger Bestandteil davon war, damit an der Lebensrealität der Massen in
den Betrieben und Wohnbezirken anzuknüpfen. Die Propagierung der
Räteherrschaft, die Propagierung der Bildung von betrieblichen ArbeiterInnenkomitees,
von Stadtteilkomitees usw. war aber zu wenig.

Das Bedürfnis der Klasse, die Bürokratie ein für alle Mal
von der Macht zu verjagen, musste von RevolutionärInnen entschieden
aufgegriffen und mit Losungen kombiniert werden, die dazu dienten, die
bürgerlich-demokratischen Illusionen der Klasse nicht zum Fallstrick für die
ArbeiterInnen werden zu lassen.

Das bedeutete, dass RevolutionärInnen das entschiedenste
Programm zur Beseitigung der Bürokratenherrschaft präsentieren mussten. Es
bedeutet, dass bürgerlich-demokratische Forderungen z. B. nach
Koalitionsfreiheit, zur Bildung von Parteien und Gewerkschaften radikal
aufgegriffen werden mussten. Sie mussten gleichzeitig mit der Forderung nach
Organen der ArbeiterInnenkontrolle verbunden werden.

In einer Situation, in der die ArbeiterInnenklasse massive
Illusionen in den bürgerlichen Parlamentarismus hegte, war es einfach zu wenig,
die Vorzüge der Sowjetdemokratie zu propagieren – so wichtig diese Aufgabe für
sich genommen auch war. Es war gleichzeitig nötig, im Wahlprozess möglichst
viele Elemente von Kontrolle des Proletariats über den Wahlgang zu fordern und
dafür zu kämpfen.

Das beginnt bei der Frage der Wahl der KandidatInnen. In
jedem Betrieb, in jedem Stadtteil hätten sich die KandidatInnen, die vorgeben
die Interessen der ArbeiterInnen u. a. nicht-unterdrückender Schichten der
Bevölkerung zu vertreten, Massenversammlungen stellen müssen, denen sie auch
nach der Wahl verantwortlich und rechenschaftspflichtig gewesen wären.

Der Zugang zu den Medien, die Verteilung der Mittel zur
Wahlwerbung hätte von ArbeiterInnenausschüssen kontrolliert werden müssen. All
diese Forderungen hätten erlaubt, die gesamte Klasse einschließlich der großen
Mehrheit, die Illusionen in den bürgerlichen Parlamentarismus nachhing, in rätedemokratisch
aufgebauten Organen zu mobilisieren und zu organisieren. Diese Organe wären
Mittel der Kontrolle wie Kampforgane gegen die arbeiterInnenfeindliche Politik
zukünftiger Abgeordneter gewesen.

Das geringe Niveau proletarischen Klassenbewusstseins und
das Fehlen von räteähnlichen Organen bedeutet für RevolutionärInnen, Losungen
wie die nach einer „Konstituierenden Versammlung“ selbst aufzustellen und mit
Losungen nach ArbeiterInnenkontrolle zu kombinieren. Die Atomisierung des Proletariats
im Stalinismus, die systematische Verhinderung der Bildung eines revolutionären
Subjekts machte es für RevolutionärInnen notwendig, solche Forderungen wieder
aufzustellen, um die Klasse überhaupt für die Revolution gewinnen zu können.

Die historische Situation machte es dringend erforderlich,
dass RevolutionärInnen auch auf ökonomischen Gebiet die „Verteidigung der
Planwirtschaft“ entschieden mit deren Reorganisierung unter Kontrolle der
Beschäftigten verbanden – Produktion gemäß den Bedürfnissen der ProduzentInnen/KonsumentInnen,
vollständige Offenlegung aller Planungen der Bürokratie, Stilllegung aller
unnützen, parasitären Pfründe und Machtmittel, Zerschlagung des parasitären
repressiven Apparats – allen voran der Stasi.

Die „Verteidigung der Planwirtschaft“ hat nichts mit der
Beibehaltung der bürokratischen Misswirtschaft zu tun. Das musste den Arbeitern
und Arbeiterinnen verständlich dargelegt werden. Das war keineswegs nur ein
notwendiger Tribut an die gerechtfertigte Feindschaft der Massen gegen die
Bürokratie; es war auch notwendig, um die richtige Erkenntnis aufzugreifen,
dass die Planwirtschaft nur dann wieder in Schwung kommen konnte, wenn man
radikal mit dem System der Bürokratie bricht.

Die ArbeiterInnen wussten, dass dieses System nicht mehr
lebensfähig war, dass jede „Reform“ der StalinistInnen, jedes neue „Experiment“
zur Verbesserung der Wirtschaftsleistung in den 1980er Jahren ein Schuss in den
Ofen war. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wussten, wer für dieses Desaster
verantwortlich war – und wer daher ganz sicher nicht in der Lage war, die
Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Die Jahre 1989 bis 1991 bargen in sich nicht nur die
Möglichkeit der sozialen Konterrevolution, die schließlich siegte. Die
alternative Entwicklungsmöglichkeit war die politische Revolution, die
Errichtung genuiner proletarischer Macht in den ArbeiterInnenstaaten. Aber das
war nur möglich, wenn die Avantgarde der Klasse um eine politische Führung,
eine revolutionären Partei gesammelt werden konnte, die in der Lage war, eine
Brücke zwischen den demokratischen Hoffnungen der Massen und der Errichtung der
Rätedemokratie zu schlagen, eine Partei, welche die anti-stalinistische Wut der
Massen am radikalsten ausdrückte, gerade um zu verhindern, dass diese Wut,
dieser revolutionäre Impuls der demokratischen Konterrevolution zugutekommen
konnte.

Auf dieser Grundlage erfolgte das Eingreifen der LRKI in
diese Prozesse, auf dieser Grundlage versuchten wir, revolutionäre
Organisationen aufzubauen. Wir konnten den Sieg der Konterrevolution nicht
verhindern. Wir teilen diese bittere Niederlage mit Millionen Arbeitern und
Arbeiterinnen, deren Lebensstandard mit der Restauration des Kapitalismus
deutlich abgesunken ist und deren mangelhafte Organisationen oft völlig
entmachtet wurden und mit einem Ausbeutungssystem zu kämpfen haben.

Diese Niederlage hat die ArbeiterInnenbewegung weltweit um
Jahre zurückgeworfen und dem Neoliberalismus einen Vormarsch in der ArbeiterInnenbewegung
selbst erlaubt. Doch mit der Weltwirtschaftskrise, den dadurch erzeugten
Klassenkonflikten und der sich entwickelnden antikapitalistischen und ArbeiterInnenbewegung
beginnt sich erneut eine Kraft zu formieren, die sich gegen den Kapitalismus
wendet und die Frage nach einer Alternative stellt. Sie muss sich daher mit den
Erfahrungen der degenerierten ArbeiterInnenstaaten und des Stalinismus
auseinandersetzen, um diese Fehler nicht zu wiederholen.

Wir sagen daher auch ganz klar: Die Niederlage der ArbeiterInnenklasse
in Osteuropa und den GUS-Staaten war nicht zu verhindern durch die Anbiederung
an einen Teil der StalinistInnen – sondern nur durch den entschlossenen Kampf
gegen sie! Nur so hätte eine revolutionäre Organisation den Massen glaubhaft
vermitteln können, dass der Kampf für den Kommunismus nichts mit der
Verteidigung bürokratischer Misswirtschaft, von Privilegien und politischer
Unterdrückung des Proletariats zu tun hat.

Endnoten

(1) Trotzki im Jahr 1934, Schriften 1.1, S. 547.

(2) Trotzki, Verratene Revolution, S. 956.

(3) Trotzki, „Kein ArbeiterInnen- und kein bürgerlicher
Staat?”, Writings 1937–38, S. 63.




Entstehung und Untergang der DDR

Bruno Tesch/Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1999)

Die Deutschlandpolitik
der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs war Ausdruck der neuen
Nachkriegsordnung. Mit der endgültigen Niederzwingung des „durchgeknallten“
innerimperialistischen Konkurrenten Deutschland und der kriegsbedingten
Unterordnung der imperialistischen Verbündeten Frankreich und Britannien stieg
der US-Imperialismus als neuer Hegemon empor. Zugleich bescherte der Sieg über
den deutschen Faschismus aber auch der UdSSR und damit der stalinistischen
Bürokratie eine Stärkung. Die im Krieg durch das volksfrontartige Zweckbündnis
verschleierten Klassengegensätze mussten wieder voll durchbrechen. Ein neuer, „Kalter“
Krieg war vorprogrammiert.

Weltpolitischer Rahmen

Deutschland wurde nun zu
dessen besonderem Austragungsort. Das Potsdamer Abkommen der Kriegsalliierten
vom August 1945 mit seinen Plänen zur Entmilitarisierung, Abschaffung der
Rüstungsproduktion, Entflechtung von Kartellen und Behandlung Deutschlands als
wirtschaftlicher Einheit war bald darauf Makulatur. Die Installation des
Besatzungsrechts drückte bereits das gegenseitige Misstrauen aus, denn die
Durchführung von Maßnahmen oblag den jeweiligen Militärregierungen der
verschiedenen Besatzungszonen. Der gemeinsame Kontrollrat stellte nur ein
Koordinationsgremium ohne direkte Weisungsbefugnisse dar. Zudem kam es schon
vor Potsdam zu empfindlichen atmosphärischen Störungen zwischen den „Waffenbrüdern“,
als die US-Administration der SU weitere Hilfsleistungen verweigerte.

In den USA gab es noch
während des Krieges Kontroversen über ein mögliches militärisches Vorgehen
gegen die Sowjetunion, weil das Kriegsgeschehen ein Vorrücken der Roten Armee
nach Mitteleuropa mit sich brachte. Eine neue kriegerische Konfrontation wäre
aber zu riskant gewesen. Immerhin zwang die veränderte Lage, den Blick über
Deutschland hinaus auf Gesamteuropa zu richten. Die Absichten zur Zerstückelung
und der Morgenthau-Plan von 1944 zur Deindustrialisierung Deutschlands wurden
fallengelassen zugunsten einer modifizierten imperialistischen Strategie, die
schließlich im Marshall-Plan mündete. Danach sollten die von der Roten Armee
besetzten und von bürgerlichen ArbeiterInnen- oder Volksfrontregierungen
verwalteten Gebiete durch gezielte Wirtschaftshilfe dem Einfluss der
Kreml-Bürokratie friedlich wieder entrissen werden. Das gelang jedoch nicht. So
wurden die geopolitisch und ökonomisch unverzichtbaren Westzonen Deutschlands
mittels Marshall-Plan zum Bollwerk und Brückenkopf gegen den Stalinismus
ausgebaut.

Die stalinistische
Politik war von einem extremen Sicherheitsdenken dominiert. Was wie
weltrevolutionäre Ausweitungsgelüste wirkte, war in Wahrheit nichts weiter als
der Versuch, die durch den Kriegsverlauf errungenen Gebietsgewinne zu einem
Schutzgürtel für die bürokratischen Interessen auszubauen. So wurden das
Baltikum und Ostpolen unmittelbar dem eigenen Territorium einverleibt, die
Staaten Osteuropas von Polen bis Bulgarien sollten die eigentliche Pufferzone
bilden, während Deutschland (zu dieser Überlegung gehörte ursprünglich auch
Österreich) als entmilitarisiertes, neutrales, jedoch durchaus bürgerlich
geführtes und ungeteiltes Land vorgeschaltet sein sollte.

Jedoch weder der
US-imperialistische noch der Plan Moskaus gingen wie anfangs konzipiert auf.
Ein Erstarken der Bourgeoisie in Osteuropa konnte die Kreml-Bürokratie nicht
hinnehmen; sie entschied sich für deren Enteignung und die Errichtung von ArbeiterInnenstaaten.
Ihre Pläne für einen gesamtdeutschen Staat wiederum wurden durch den Aufbau
eines westdeutschen Separatstaates durchkreuzt. Folglich blieb auch hier keine
Wahl mehr, und die Kreml-Bürokratie musste nachziehen und auf ihrem
Besatzungsgebiet ebenfalls einen ArbeiterInnenstaat als Schutzzone etablieren.

Die beiden deutschen
Teilstaaten sind also Frucht eines weltpolitischen Prozesses und vereinen die
Gegensätze der Nachkriegsordnung auf unmittelbar benachbartem und daher
besonders spannungsgeladenem Raum, im Sonderstatus von Berlin sogar
schicksalhaft in einer Stadt. Die DDR blieb sogar bis 1952, also drei Jahre
nach ihrer Gründung, als die deutschlandpolitische „Stalin-Note“ den
Westbesatzungsmächten den Abschluss eines Friedensvertrags und die deutsche
Wiedervereinigung (als kapitalistische) anbot, bloße Verhandlungsmasse für die
Interessen der Kreml-BürokratInnen. Im Grunde hat sich diese Haltung bis zum
Ende der DDR nicht geändert und all jene enttäuscht, die sich an den Strohhalm
klammerten, Gorbatschow würde die kapitalistische Wiedervereinigung nicht
zulassen.

Die DDR-Gründung

Die Errichtung von
degenerierten ArbeiterInnenstaaten nach dem Vorbild der UdSSR war für die
StalinistInnen stets nur ein Mittel, um sich mit dem Imperialismus zu
arrangieren. So sehr diese Gebilde der Weltbourgeoisie auch ein Dorn im Auge
waren, garantierte die Bürokratenherrschaft doch andererseits eine gewisse
Berechenbarkeit und Stabilität der Verhältnisse, die dem Imperialismus seine
politischen und ökonomischen Geschäfte erleichterte. Als oberstes Gebot für die
Kreml-Bürokratie, bevor sie zur Schaffung dieser besonderen, bürokratisierten
Form von ArbeiterInnenstaat schritt, galt stets, sicherzugehen, dass jedwede
Art von Eigenständigkeit der ArbeiterInnenbewegung, die ihre Herrschaft in
Frage stellen könnte, restlos zerstört war. Erst wenn sie die Keime einer revolutionären
Entfaltung ausgerottet hatte, nahm sie die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse
in Angriff.

Notwendige Voraussetzung
für diesen Weg war auch in Deutschland die Ausschaltung eigenständiger
revolutionärer Bestrebungen aus der ArbeiterInnenklasse in Gestalt von
Antifa-Ausschüssen und Betriebsräten, die vielfach auf örtlicher und
betrieblicher Ebene das Machtvakuum der alten geflohenen oder desavouierten
Verwaltungs- und BetriebsdirektorInnen ausfüllten. Diese Organe einer
potentiellen rätedemokratischen ArbeiterInnenmacht wurden von der sowjetischen
Militärverwaltung und ihren HelfershelferInnen aus den Reihen der entstehenden ArbeiterInnenbürokratie
zerschlagen. Damit erwies sich der Stalinismus als Agentur des Imperialismus
auf dem Boden eines noch bürgerlichen Staates und bediente sich dessen
Instrumentarien.

Wie das Beispiel
Ostösterreichs zeigt, war die Enteignung der Kapitalistenklasse und die
Errichtung eines von Beginn an bürokratisch degenerierten ArbeiterInnenstaates
keineswegs ein unvermeidliches Produkt der stalinistischen Kontrolle über den
Staatsapparat in der sowjetischen Besatzungszone. Dieser Schritt zur Enteignung
der Bourgeoisie durch die StalinistInnen war vielmehr Produkt der
internationalen Entwicklung und der Herausbildung der Nachkriegsordnung.

Ausschaltung der ArbeiterInnenklasse…

Dieses Vorgehen der StalinistInnen
hatte wesentliche Konsequenzen. Die Etablierung nachkapitalistischer
Eigentumsverhältnisse – für sich genommen zweifellos ein Fortschritt – wurde
auf konterrevolutionäre Weise vollzogen. Ihre innerdeutschen, aber vor allem
ihre internationalen Auswirkungen waren mit einer Stabilisierung der
imperialistischen Weltherrschaft und einer Ruhigstellung des revolutionären
Potentials des Proletariats verbunden.

Die ArbeiterInnenklasse
in der DDR (und in der BRD) spielte nicht nur keine aktive politische Rolle.
Ihr wurde mit dem „ersten ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenstaat auf
deutschem Boden“ auch gleich die erste bürokratische Diktatur verpasst und
damit von Beginn an der „Sozialismus“ in Ost und West diskreditiert. Die
DDR-Staatsmaschinerie war vom Typus her bürgerlich, ein abgehobener
allmächtiger Apparat, ein Heer an Repressionskräften und StaatsdienerInnen. Es
ist kein Wunder, dass dieser Apparat später keinerlei Widerstand gegen die
Restauration des Kapitalismus leistete, sondern im Gegenteil die meisten
BürokratInnen versuchten, im vereinten imperialistischen Deutschland
unterzukommen. Dass ihnen das oft nicht allzu gut gelang, liegt daran, dass die
westdeutsche Kapitalistenklasse schon einen erprobten Staatsapparat hatte und
auf einen großen Teil der NVA, der Volkspolizei und der Beamtenschaft nicht
angewiesen war.

… und ihre
konterrevolutionären Folgen

Dass sich das Proletariat
keineswegs freiwillig in die Etablierung der Nachkriegsordnung fügte, beweisen
der ArbeiterInnenaufstand 1953 in der DDR ebenso wie die Kämpfe um die
Verstaatlichung der Grundstoffindustrie und gegen die Einführung des
Betriebsverfassungsgesetzes im Westen. Der „Kommunismus“ war rasch in der ArbeiterInnenklasse
in Ost und West diskreditiert. Hinzu kam, dass die stalinistische Diktatur in
der DDR jede unabhängige Subjektbildung der ArbeiterInnenklasse, selbst
verglichen mit vielen osteuropäischen „Bruderländern“ besonders systematisch
kontrollierte und somit das Subjekt jeder sozialistischen Umgestaltung
zerstörte.

Zweitens war die
Errichtung der DDR (wie des gesamten Ostblocks) Teil der Etablierung einer
reaktionären Nachkriegsordnung, die neben der territorialen Ausdehnung
bürokratischer Planung v. a. die konterrevolutionäre Aufteilung zwischen
Ost und West, unter unbedingter Anerkennung der Herrschaft des Kapitals in den
imperialistischen Sphären, implizierte. Die Errichtung degenerierter ArbeiterInnenstaaten
war nur die andere Seite der Preisgabe des griechischen Widerstandes gegen die
Bürgerlichen und die BritInnen, der Entwaffnung der ArbeiterInnen durch PCI und
KPF. In der Teilung Deutschlands fassten sich alle Probleme und Widersprüche
dieser reaktionären Nachkriegsordnung zusammen.

Hier standen einander
nicht nur die militärischen Apparate der DDR und der BRD gegenüber, sondern
Deutschland war auch zentraler Ort der Blockkonfrontation. Schließlich führte
die deutsche Teilung auch zu einer territorial fixierten Aufteilung der ArbeiterInnenbewegung
unter die Apparate von SED und SPD, die – wenn auch mit unterschiedlichen
Mitteln – ein politisches Monopol über „ihren“ Teil der Bewegung ausübten.
Zweifellos hatten beide ein beachtliches Eigeninteresse an diesem Monopol und
der Säuberung der ArbeiterInnenbewegung von allen widerspenstigen Elementen.
Zugleich waren sie aber auch verlängerter Arm der führenden
politisch-militärischen Kräfte „ihres“ Blocks zur Kontrolle der jeweiligen ArbeiterInnenklasse.

Anders als die
Oktoberrevolution brachte die Schaffung degenerierter ArbeiterInnenstaaten in
Osteuropa keinen revolutionären Impuls für die internationale ArbeiterInnenbewegung
mit sich. Im Gegenteil, sie führte zur Versteinerung der politischen
Verhältnisse und läutete eine rund zwei Jahrzehnte andauernde
konterrevolutionäre Periode ein.

Diese Politik des
Stalinismus konnte sich natürlich nicht nur auf die Rote Armee stützen. Um
rasch ein politisches Gegengewicht gegen die Gefahr einer revolutionären
Organisierung der ArbeiterInnenklasse schaffen zu können, wurden von der
sowjetischen Militärverwaltung nicht nur früher als in den Westzonen Parteien
zugelassen, sondern es sollte ein verlässliches Kontrollorgan der ArbeiterInnenschaft
entstehen. Dazu bediente man sich seitens der StalinistInnen der tiefen
Sehnsucht in der ArbeiterInnenklasse nach Einigkeit, die gerade aus der
schmerzlichen Erfahrung der historischen Niederlage des deutschen Proletariats
gegen den Faschismus resultierte.

Die Gründung der SED

Die deutschen StalinistInnen
der KPD folgten auch nach dem Krieg der seit 1935 für alle KPen verbindlichen
Volksfront-Linie, d. h. sie forderten eine bürgerliche Republik unter
Einschluss aller antifaschistischen demokratischen Kräfte und schlossen ein
Rätedeutschland aus. Sie verfochten ein Etappenmodell, wonach durch die
Blockaden der deutschen Geschichte zunächst die bürgerlich-demokratischen
Aufgaben von 1848 erfüllt werden müssten. Dann erst könne an die Aufgaben eines
gesellschaftlichen Zukunftsmodells, des Sozialismus, gedacht werden. Programmatisch
fiel die KPD damit deutlich hinter die andere ArbeiterInnenmassenpartei, die
SPD, zurück, die immerhin für die sofortige Verstaatlichung der
Schlüsselindustrien eintrat und von der auch das Motto „Deutschlands Zukunft
wird sozialistisch oder gar nicht sein“ (Dr. Kurt Schumacher) stammte.

Die Vereinigung beider
Parteien wurde im Ostteil von den StalinistInnen aktiv betrieben, als sie sich
sicher sein konnten, die Kontrolle über diesen Prozess ausüben zu können. Es
handelte sich jedoch nicht einfach um eine „Zwangsvereinigung“. Dieser Prozess
reflektierte auch Bedürfnisse nach Einheit der ArbeiterInnenklasse und reale
Unterstützung dieses Projekts durch bedeutende Teile der SPD-Mitgliedschaft.
Hinzu kommt, dass sich SPD und KPD politisch-programmatisch keineswegs
grundsätzlich unterschieden. Beide waren bürgerliche ArbeiterInnenparteien,
Parteien der sozialen Reform, wenn auch mit grundlegend anderer internationaler
Ausrichtung.

Dadurch geriet die
Ost-SPD mehr und mehr in die Defensive. Die Mentorin der KPD – die sowjetische
Besatzungsmacht – kontrollierte den Staatsapparat im Osten. Die West-Führung
der SPD hintertrieb gleichzeitig jede Vereinigungsbestrebung ebenso
bürokratisch, wie sie von der KPD-Führung ihrerseits vorangetrieben wurde. Die
Führung um Schumacher setzte vor allem auf den britischen Imperialismus und
dessen Labour-Premierminister Attlee.

Der Zusammenschluss von
KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) 1946 war
nicht das Ergebnis prinzipienfester Bilanz- und Perspektivdiskussionen, die
eine Vereinheitlichung des Bewusstseins der ArbeiterInnenbewegung auf einem
höheren Niveau sich auch nur zum Ziel gesetzt hätte. Es ging um einen rein
organisatorischen Akt, der ins nackte Machtkalkül der stalinistischen BürokratInnen
passte, die damit eine Legimitationsbasis für ihre spätere Rolle als
Staatspartei schufen. Die Strukturen der SED waren von Anfang an
undemokratisch, ihr Programm reformistisch und ihre Praxis konterrevolutionär
und immer an den Erfordernissen der Kreml-Bürokratie orientiert. Als erste
Visitenkarte ihrer frisch erlangten Monopolstellung in den Ost-Gewerkschaften
schaffte die SED das Streikrecht ab. Die unabhängigen Betriebsräte wurden mit
Beginn des 2-Jahresplans 1948 ausgemerzt.

Zick-Zack-Kurs der SED

Im Laufe der 40-jährigen
DDR-Geschichte hat es verschiedene Kurswechsel der SED gegeben. Der erste kam
sehr bald nach der Verkündung des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus auf der
zweiten Parteikonferenz 1952. Zwangskollektivierung von Kleinbauern/-bäuerinnen
und Vorgehen gegen das Kleinbürgertum in Handel und Dienstleistung verursachten
eine dramatische Verschlechterung der Versorgungslage, so dass diese Maßnahmen
schon ein Jahr später wieder wirtschaftlichen Vergünstigungen für die
kleinbürgerlichen Schichten und gleichzeitigen Belastungen des Proletariats
(Normenerhöhungen in der Produktion) wichen. Dies brachte wiederum die ArbeiterInnen
der DDR in Aufruhr. Die Regierung Ulbricht stand kurz vor der Ablösung, doch
paradoxerweise rettete gerade der Aufstand das Regime, das er eigentlich
stürzen wollte, denn die Kreml-Bürokratie konnte sich in der Situation keinen
Rückzug oder Schwäche leisten, sonst hätten sie womöglich die unterdrückten
Massen anderswo in ihrem Einzugsgebiet zu ähnlichen Aufständen ermutigt.

Dass die Ulbricht-Ära
doch zum Auslaufmodell wurde, lag daran, dass das 1963 ins Leben gerufene NÖSPL-
(Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung)-Experiment, das erhebliche
Mehrbelastung v. a. des Arbeitszeiteinsatzes für die ArbeiterInnenklasse
mit sich brachte, Mitte der 1960er Jahre verhältnismäßig erfolglos wieder
abgebrochen werden musste, aber keine neuen Impulse mehr von dieser
Regierungsspitze ausgingen.

Das sie 1971 ablösende
Honecker-Regime konnte kurzfristig ebenfalls wirtschaftliche Erfolge vorweisen:
Kaufkraft und Warenangebot stiegen. Dies wurde erreicht durch die taktische
Wende, „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ genannt, womit eine
Einengung des Entscheidungsspielraums der einzelnen Betriebe gemeint war. Die
sich verschärfenden weltwirtschaftlichen Bedingungen mit gestiegenen
Rohstoffpreisen, Verschuldung und erhöhten technologischen Anforderungen
schlugen in den 1980er Jahren voll durch. Mangelerscheinungen konnten in der
DDR zunehmend weniger kaschiert werden. Das Honecker-Regime war untragbar
geworden.

Deutsche Teilung – nationale
Frage

Bevor wir zum
Zusammenbruch der DDR kommen, wollen wir noch einmal auf die Bedeutung der
nationalen Frage eingehen.

Die beiden deutschen
Teilstaaten blieben immer ein Symbol für die Weltordnung nach dem Zweiten
Weltkrieg und ihre gegenseitige Beziehung ein Barometer für den jeweiligen
Stand des Kräfteverhältnisses zwischen den Hauptmächten des Status quo, dem
US-Imperialismus und der UdSSR. Nicht zufällig fällt gerade das sinnbildhafteste
Ereignis der deutschen Teilung, der Bau der Berliner Mauer, in eine Zeit, als
die internationalen Beziehungen auf dem Gefrierpunkt angelangt und der Kalte
Krieg in einen heißen atomaren Krieg (Kubakrise) umzuschlagen drohte.

1961 markierte einen Wendepunkt
in den innerdeutschen Verhältnissen und auch eine Abkehr der in der DDR
herrschenden SED-Bürokratie selbst von einem verbal positiven Bezug zur
deutschen Einheit und eine Hinwendung zum Versuch des Aufbaus einer
eigenständigen Nationalidentität der DDR. Maßnahmen von Zwangskollektivierung,
Enteignung und Denunziation hatten bereits seit den frühen 1950er Jahren zur
Flucht von Bauern/Bäuerinnen, HandwerkerInnen und KleineigentümerInnen in den
deutschen Weststaat geführt. Nach der Niederschlagung des ArbeiterInnenaufstands
1953 und dem am Ende des Jahrzehnts immer spürbarer werdenden
Auseinanderklaffen des Lebensstandards zwischen Ost und West drohte die DDR an
qualifizierten industriellen Arbeitskräften, die ebenfalls in die BRD
abwanderten, auszubluten. Dagegen musste etwas unternommen werden.

Das Nadelöhr Berlin mit
Flüchtlingsauffangstellen, hundertausenden Ost-West-ArbeitspendlerInnen und den
Wechselstuben, wo sich der Verfall der DDR-Währung empfindlich bemerkbar
machte, wurde zugemauert. Die PendlerInnen waren für Westfirmen besonders
lukrativ und für die DDR verheerend, da die ArbeiterInnen mit Wohnsitz im Osten
und Arbeitsstelle im Westen Sozialleistungen der DDR bezogen und die Valuta im
Verhältnis 1:10 rückgetauscht wurde. Auch ein gesunder ArbeiterInnenstaat hätte
die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse schützen müssen, aber niemals um
den Preis, die Bevölkerung in einer geschlossenen Anstalt mit Freigangsregelung
nur in die „sozialistischen Bruderländer“ zu verwahren. So aber schien die
deutsche Spaltung auf Dauer buchstäblich betoniert zu sein.

Ökonomische Durchdringung

Zwar erholte sich die DDR
bis Mitte der 1960er Jahre wirtschaftlich auf der Woge einer noch günstigen
Weltkonjunktur, doch in den Augen der internationalen ArbeiterInnenbewegung
hatte sich das stalinistische Regime politisch endgültig diskreditiert und
besonders in der BRD dem Antikommunismus auch in der ArbeiterInnenschaft immens
Vorschub geleistet. Die DDR-ArbeiterInnenklasse erstickte ideologisch im
Provinzmief, verfiel durch die nun noch effektivere Gängelung seitens der
Bürokratie in politische Apathie und wurde so erst recht zum „Fallobst“ für die
BetreiberInnen der kapitalistischen Restauration.

1972 wurde der
Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Das
BRD-Kapital erkaufte sich mittels der neuen SPD-Ostpolitik durch formale
Zugeständnisse der politischen Nichteinmischung, die das Sicherheitsbedürfnis
der DDR-Bürokratie bedienten, das Paradoxon eines größeren ökonomischen
Bewegungsspielraums in der DDR. Auf dieser Grundlage konnten sich die
innerdeutschen Beziehungen „normalisieren“, die ein prima Klima v. a.
unter der CDU-geführten Regierung der 1980er Jahre schufen.

Das scheinbare politische
Laisser-faire war allerdings begleitet durch eine neue imperialistische
Offensivstrategie der „Totrüstung“ gegen die ArbeiterInnenstaaten, die
zusätzlich die Wirtschaft der DDR neben den hausgemachten Problemen mit den
abgestumpften bürokratischen Planmechanismen in Mitleidenschaft zog. So ließ
sich der Milliarden Swing-Kredit von 1983/1984 als einvernehmliche Hilfe
anbahnen und erhöhte damit wiederum die Abhängigkeit der DDR von der BRD, da
die RGW-Zusammenarbeit des Ostblocks längst nicht mehr griff, sondern zum Klotz
am Bein wurde.

Aus der Schuldenfalle und
der damit verbundenen Produktionsspirale für die Erbringung von Devisen auf
Kosten der Gütererzeugung für den Inlandsbedarf konnte sich die DDR schließlich
mit den herkömmlichen bürokratischen Methoden nicht mehr aus eigener Kraft
befreien, so dass der BRD-Imperialismus die Wiedervereinigung in seinem Sinne
über diesen Umweg vorbereiten half.

40 Jahre unterschiedlicher
Gesellschaftssysteme und eine praktische Abschottung gegeneinander sind
natürlich nicht spurlos am Bewusstsein insbesondere der ArbeiterInnenklasse
diesseits und jenseits der deutsch-deutschen Grenze vorübergezogen, dennoch ist
die nationale Frage immer wieder aufgetaucht: 1953, 1961, 1970 (Brandt-Besuch).
Der Mauerfall 1989 war die Bestätigung, dass die seit dem Mauerbau scheinbar
negativ gelöste Frage der deutschen Wiedervereinigung plötzlich wieder zur
realen Perspektive wurde. Es war nicht entscheidend, dass in diesem Augenblick
kaum jemand der DDR-BesucherInnen im Westen an die Möglichkeit geglaubt hatte,
sondern vielmehr, dass das frisch gewonnene Selbstbewusstsein, durch Druck
etwas zu erreichen, aber auch die Verinnerlichung der beeindruckenden
Konsumkulisse der BRD beide Optionen, sowohl die der revolutionären
Wiedervereinigung wie die der kapitalistischen Restauration der DDR zuließen.

Nationale Frage und
politische Revolution

Die nationale Frage in
Deutschland war immer eng mit der Nachkriegsordnung verbunden. Die Frage der
politischen Revolution in der DDR und der sozialen Revolution in der BRD sowie
ihrer Kombination zur Errichtung einer gesamtdeutschen Räterepublik musste
notwendigerweise immer zum direkten Angriff auf diese Ordnung werden.

Jede Revolution in
Deutschland nach 1945 hätte nicht nur mit dem BRD- oder DDR-Staatsapparat,
sondern auch mit der Sowjet-Armee bzw. den US-amerikanischen, britischen und
französischen Truppen zu tun gehabt. Das bestätigte auch die politisch
revolutionäre Krise in der DDR, wenn auch mit konterrevolutionärem Ausgang.
Ohne Einverständnis v. a. der Sowjetunion zur praktischen Einverleibung in
die BRD, zum „Beitritt“ der DDR, v. a. aber zur Ausdehnung der NATO auf
dieses Territorium wäre die deutsche Einheit in dieser Form fraglos nicht
zustande gekommen.

Die Teilung Deutschlands
führte natürlich auch zu einer massiven Einschränkung demokratischer Rechte,
der Reisefreiheit im Besonderen. Diese war immer ein wichtiger Nährboden für
politische Unzufriedenheit und Proteste, vor allem gegen das SED-Regime.

Es ist damit klar, dass
die Teilung Deutschlands als solche bei der ArbeiterInnenklasse keine wie immer
geartete Legitimität erwarten konnte. Die Versuche des SED-Regimes, die
Existenz einer DDR-Nation zu beweisen, waren von Beginn an zum Scheitern
verurteilt. Mit der immer tiefer werdenden Krise der bürokratischen Planung und
dem damit verbundenen Schwinden der sozialen Stützen des SED-Regimes musste die
nationale Frage daher früher oder später akut werden.

Aushöhlung der
wirtschaftlichen Grundlagen des SED-Regimes

Die Existenz der DDR als
ökonomisch immer schwächer werdender Teil Deutschlands stand und fiel in
Wirklichkeit mit zwei Faktoren. Erstens der Stabilität der Nachkriegsordnung.
Zweitens damit, den Arbeitern und Arbeiterinnen in der DDR eine wirtschaftliche
und politische Perspektive glaubhaft darlegen zu können. Wie jedes Regime der
Welt konnte sich auch die stalinistische Herrschaft nicht nur auf Repression
stützen, sondern beinhaltete ein Element des Kompromisses mit der ArbeiterInnenklasse,
besonders mit den oberen Schichten der Angestellten und Staatsverwaltung, die
teilweise in die unteren Ebenen der Bürokratenkaste übergingen.

Dieser Ausgleich
erstreckte sich auch auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, ja musste diese
als sozial stärkste Schicht umfassen. Er bestand vor allem darin, dass das
Regime – politische Ruhe vorausgesetzt – zumindest eine spürbare Steigerung des
Lebensstandards bringen müsse. Diese Notwendigkeit reflektierte auch Honeckers
Wende zu vermehrter Konsumgüterproduktion am Beginn der 1970er Jahre.

Die DDR blieb jedoch
ökonomisch immer mehr zurück. Gerade die industrielle ArbeiterInnenklasse
spürte diese Entwicklung: stetige Verschlechterung des Zustands der
Produktionsmittel, immer stärkerer Verschleiß, immer größere Produktion für den
Export bei gleichzeitigem Engpass an Gütern im Inneren, Stagnation der
Lebensbedingungen, immer stärkeres relatives Zurückbleiben gegenüber dem
Westen. Hinzu kam, dass die „Betonköpfe“ in der SED-Führung verglichen mit den
polnischen oder ungarischen „Bruderländern“ sehr viel unbeweglicher und „reformfeindlicher“
wirkten, was die Hoffnung in eine schrittweise Reform à la Gorbatschow immer
unrealistischer erscheinen ließ.

Daraus ergibt sich, dass
erstens eine tiefe politische Krise der SED-Herrschaft recht rasch die Frage
der wirtschaftlichen Zukunft aufwerfen musste; dass zweitens die Kernschichten
der ArbeiterInnenklasse in der DDR mit dem System der bürokratischen Planung
schon abgeschlossen hatten, bevor es 1989/1990 geschichtlich zur Disposition
stand. In der Wirklichkeit hatte, wie sich herausstellen sollte, selbst die
Bürokratie die Hoffnung verloren, dass dieses System durch eine reformierte
Variante der SED-Herrschaft wieder in Schwung zu bringen sei.

Damit war das gesamte
DDR-Gesellschaftssystem in Frage gestellt. Dass die nationale Frage im Herbst
1989 rasch solche Bedeutung erlangen musste, hatte also vor allem
gesellschaftliche Ursachen (wie das bei der nationalen Frage immer der Fall
ist). Sie war keineswegs reaktionären „Urinstinkten der Deutschen“ geschuldet,
schon gar nicht wurde sie einfach „von außen“ durch die Kohl-Regierung „hineingetragen“
oder „künstlich“ aufgebauscht.

Es handelt sich vielmehr
um eine spezifische historische Form, in der die nationale Frage aufgeworfen
wurde: um die Infragestellung der reaktionären Nachkriegsordnung, die sich in
der deutschen Teilung manifestierte. Der Zusammenbruch eines der Pfeiler dieser
Nachkriegsordnung eröffnete die Möglichkeit, dass die in der Blockbildung
erstarrten Klassenwidersprüche auch im anderen Teil dieser Nachkriegsordnung
wieder in Bewegung gerieten.

Gerade wenn wir die
zentralen Aufgaben der politischen Revolution in der DDR – der Eroberung der
Staatsmacht und Reorganisation der Planwirtschaft – betrachten, wird unmittelbar
deutlich, dass diese von Beginn aufs Engste mit der ArbeiterInnenklasse und
sozialen Revolution im Westen verbunden waren. Wie hätte die DDR-Wirtschaft
reorganisiert werden sollen und können, wenn nicht im engen Verbund mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Westen?

Revolution und
Konterrevolution als historische Alternativen

Der Zusammenbruch eines
Teils der Nachkriegsordnung im Osten, eine politisch-revolutionäre Krise in der
DDR konnte nur zu drei Resultaten führen: bürokratische Konterrevolution,
politische Revolution oder soziale Konterrevolution. Die bürokratische
Konterrevolution wäre zwar im Herbst 1989 noch möglich gewesen. Sie hätte aber
angesichts der wirtschaftlichen Krise der bürokratischen Planung ziemlich rasch
zur nächsten manifesten politischen Krise führen müssen, wahrscheinlich mit
einer ArbeiterInnenklasse, die von „Sozialismus“ endgültig genug gehabt hätte
und die noch empfänglicher für bürgerlich-demokratische Lockungen gewesen wäre.
Daher waren im größeren geschichtlichen Maßstab nur zwei Optionen wirklich
offen: politische Revolution oder soziale Konterrevolution.

Die Bedeutung der
revolutionären Wiedervereinigung

Die Frage eines mutigen
und revolutionären Aufgreifens der nationalen Frage ergab sich daher für
Kommunisten und Kommunistinnen nicht aus irgendwelcher Einheitstümelei, sondern
aus der Analyse der sozialen Voraussetzungen, der politischen und
wirtschaftlichen Dynamik der Krise des SED-Regimes. Daher war die Losung einer
Vereinigten Sozialistischen Räterepublik in ganz Deutschland eine zentrale
Frage vom Beginn der Massenbewegung in der DDR an.

Sie musste jedoch konkret
übersetzt werden in Schritte zum sofortigen Aufbau von direkten Verbindungen
zwischen den Gewerkschaften, betrieblichen AktivistInnen in Ost und West, in
ein Aktionsprogramm zur Lösung der dringendsten Aufgaben auf wirtschaftlichem
und politischem Gebiet, das mit der Losung einer revolutionären ArbeiterInnenregierung
verbunden werden musste. Die LRKI (Vorläuferin der LFI) hat von Beginn an die
Frage der revolutionären Wiedervereinigung sehr konkret aufgeworfen und
gleichzeitig die Notwendigkeit dargelegt, jede Rekapitalisierung der DDR
einschließlich einer kapitalistischen Wiedervereinigung entschieden zu
bekämpfen. Wir dokumentieren den Abschnitt zur nationalen Frage aus einer der
ersten Stellungnahmen unserer internationalen Tendenz vom November 1989 am Ende
dieses Textes.

Die Frage der
Wiedervereinigung war von Beginn an virulent, obwohl sie in den ersten Wochen
der Mobilisierung gegen die Bürokratie nicht offen gestellt wurde. Das hing
damit zusammen, dass gerade in den Stellungnahmen des Großteils der
kleinbürgerlich geprägten „Bürgerbewegung“ die Forderungen im Wesentlichen auf
demokratische Reformlosungen beschränkt waren. Diese Ziele drückten zweifellos
berechtigten Unmut aus und ihr Gehalt musste von RevolutionärInnen in dieser
Phase aufgegriffen und zugespitzt werden. Das trifft besonders auf Losungen wie
Organisationsfreiheit, Reisefreiheit, Pressefreiheit zu.

Die Blindheit gegenüber
den ökonomischen Fragen fand ihren Ausdruck allerdings nicht nur in direkter
Ignoranz. Wo die Bürgerbewegung und besonders ihr linker Flügel wirtschaftliche
Forderungen und Konzepte entwickelten, stellten sie der bürokratischen
Planwirtschaft entweder eine Spielart des utopischen „Dritten Weges“ zwischen
Kapitalismus und Kommunismus oder eine Form des „Marktsozialismus“ entgegen.
Das traf auch auf die linkesten Strömungen wie die Vereinigte Linke zu, die in
der „Böhlener Plattform“ einer Form der „ArbeiterInnenselbstverwaltung“
nach jugoslawischem Muster das Wort redete.

Hinzu kam, dass die
Bürgerbewegung insgesamt politisch eine Reformperspektive des SED-Staates
vertrat. Die Macht lag zwar auf der Straße, wie ein geflügeltes Wort dieser
Tage hieß – aufheben wollte sie allerdings in dieser Phase niemand. Der Druck
der Massenbewegung führte Ende 1989 zur Installation der sogenannten „Runden
Tische“, die sowohl der perspektivlosen und konfusen Opposition wie auch der
noch herrschenden SED-Bürokratie zupasskamen.

Sie erlaubten allen
Kräften, vor allem die Massen zu demobilisieren, auf die Arbeit in den „neuen“
Gremien zu vertrösten. Hinzu kam außerdem, dass auch die zunehmende
Orientierung auf bürgerliche parlamentarische Wahlen zur Volkskammer dazu
beitrug, die politische Energie von der Straße an die Wahlurnen zu verlagern.

Die Bürgerbewegung
übergab in dieser Phase die Initiative, die sie ohnedies nie haben wollte, an
die teilweise aus ihr, teilweise aus den Blockparteien entstandenen, offen
bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie einerseits, an die SED-PDS
andererseits.

Vom Sommer 1989 bis zur
Wiedervereinigung erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre Krise, die
schließlich in einer sozialen Konterrevolution mündete. Bis zum November 1989
befand sich die Massenbewegung, befand sich die Revolution in der Offensive. Es
schien hier nur vorwärtszugehen. Der scheinbar aus Stahl gegossene Parteiapparat,
die Stasi usw. mussten Schritt für Schritt zurückweichen, zeigten, wie marode
das Regime schon war.

Nachdem Gorbatschow klargemacht
hatte, dass die sowjetischen Truppen nicht gegen die Bevölkerung eingesetzt
würden und die SU ein solches Vorgehen von den Staatsorganen der DDR
missbilligen würde, waren die Tage der Honeckers und Co. gezählt. Wie oft in
solchen Krisen tat die herrschende Schicht ihr Übriges, den letzen Kredit zu
verlieren, so z. B. als Honecker den hunderttausenden, die im Sommer die
DDR fluchtartig verlassen hatten, noch ausrichten ließ, dass er ihnen keine
Träne nachweine. Solche „Botschaften“ der stalinistischen Führung haben dazu beigetragen,
dass die unten nicht länger bereit waren, die oben wie bisher weitermachen zu
lassen.

Mehr noch, die tiefe
Krise in der DDR hatte auch in der SED, z. B. auf dem Parteitag von
Dezember 1989, zu einer politischen Differenzierung geführt. Unter den
Millionen, die in der DDR auf die Straße gingen, waren auch hunderttausende
SED-Mitglieder, die von „ihrer Parteiführung“ endgültig die Schnauze voll
hatten.

Es war in den ersten
Monaten der Wende keineswegs der Fall, dass die Restauration des Kapitalismus –
sei es in der DDR selbst oder in Form einer kapitalistischen Wiedervereinigung
bewusstes Ziel der Massenbewegung war. Auch der BRD-Imperialismus, die SPD und
noch viel mehr die westlichen imperialistischen Mächte sahen hier noch nicht
die Chance einer raschen Ausdehnung des Kapitalismus in den Osten (und viele
imperialistische PolitikerInnen waren darüber auch froh, da sie keineswegs ein
Interesse an einem erstarkenden deutschen imperialistischen Rivalen hatten).

Wie kam es zum
konterrevolutionären Umschwung?

Die Antwort darauf liegt
grundsätzlich nicht darin, dass besonders kluge oder dumme Aktionen einzelner
PolitikerInnen dazu geführt hätten. Natürlich war z. B. die Maueröffnung
auch auf einen Akt der „Panik“ des Politbüros zurückzuführen. Er macht
allerdings durchaus Sinn vom Standpunkt der Selbsterhaltung der Bürokratie, die
zu diesem Zeitpunkt ein Interesse daran hatte, dass die Bürger und Bürgerinnen
der DDR „Dampf ablassen“ frei nach dem Motto: Wer bei Aldi einkauft, läuft
nicht auf Demos gegen das DDR-Regime. Es ist überhaupt eine
verschwörungstheoretische Geschichtsinterpretation, wenn gemeint wird, dass der
Fortbestand des reaktionären Grenzregimes irgendeine grundsätzliche Änderung
gebracht hätte.

Die tieferen Ursachen des „Umkippens“ der Bewegungsrichtung bestanden in folgenden Faktoren:

  1. Erschöpfung der Potentiale der bürokratischen Planwirtschaft;
  2. Fehlen einer politischen Führung, die eine Alternative für die Avantgarde der ArbeiterInnenbewegung mit der Perspektive des revolutionären Sturzes des SED-Regimes und einer revolutionären Wiedervereinigung hätte weisen können;
  3. weitgehende Zerstörung des Klassenbewusstseins des Proletariats.

Diese Faktoren und die
internationale Bedeutung der politisch-revolutionären Krise implizierten von
Beginn an, dass sich die Ereignisse in der DDR überaus rasch entwickeln würden.
Doch trotz ungünstiger Voraussetzungen – Zerstörung des proletarischen
Klassenbewusstseins und Fehlen einer revolutionären Avantgardepartei weltweit –
entwickelten sich im Zuge der Krise politische Strömungen, die den Wunsch nach
einer fortschrittlichen, proletarisch-revolutionären Lösung zum Ausdruck
brachten. Das betraf vor allem in der Frühphase der Bewegung die Vereinigte
Linke, die sich auf eine landesweite Bekanntheit und einen Anhang unter der
Intelligenz und Teilen der bewussten ArbeiterInnenschaft stützen konnte und
einige hundert Aktivisten und Aktivistinnen und zehntausende AnhängerInnen
umfasste. Ebenso führten die Ereignisse zur politischen Oppositionsbildung in
den Gewerkschaften – z. B. in der Initiative Unabhängige Gewerkschaften –
und, vor allem Ende 1989, zu einer tiefen politischen Krise in der SED-PDS.

In diesen politischen
Bewegungen nach links hätten Revolutionäre und Revolutionärinnen das
Rohmaterial für eine wirklich revolutionäre Partei finden können.

Die Entwicklung in der
DDR wurde allerdings noch dadurch erschwert, dass die ArbeiterInnenklasse nicht
nur nicht als bewusstes politisches Subjekt auftauchte, sondern auch
betriebliche und kommunale Formen proletarischer Selbstorganisation sehr rar
blieben (obwohl es dokumentierte Fälle von betrieblichen Räten in der DDR
gibt). Es wäre jedoch verkürzt, das Ausbleiben proletarischer Machtorgane im
Betrieb und in der Gesellschaft nur auf ein geringes Niveau des
Klassenbewusstseins zurückzuführen.

Die SED-Bürokratie war
sehr rasch zurückgewichen. Im Betrieb erschien die Bürokratie kaum noch als
Gegnerin. Damit entfiel ein unmittelbarer praktischer Grund, die Macht im
Betrieb, gestützt auf Machtorgane der Arbeiter und Arbeiterinnen, direkt in die
Hand zu nehmen.

Zentrale politische Probleme

Revolutionäre Agitation
und Propaganda mussten sich auch stark auf die Notwendigkeit der Schaffung von
räteähnlichen Strukturen und Kampforganen der Arbeiter und Arbeiterinnen
konzentrieren und diese mit der Notwendigkeit der Errichtung einer demokratischen
Planwirtschaft verbinden. Eine solche wäre jedoch unmöglich gewesen, ohne den
revolutionären Sturz der SED, die Zerschlagung des Staatsapparates, die
Forderung nach Abzug der sowjetischen Armee, nach Entwaffnung von Polizei,
Armee, Betriebskampfgruppen und der Übergabe ihrer Waffen in die Hände von ArbeiterInnenmilizen.

Ein zweiter zentraler
Punkt war der Kampf gegen demokratische Illusionen. Dazu war es angesichts des
fehlenden Klassenbewusstseins des Proletariats unbedingt notwendig, die Kritik
des Charakters der bürgerlichen Demokratie und die Propagierung des Rätesystems
mit Forderungen zu verbinden, die die Hoffnungen in die bürgerliche Demokratie
einem Test unterzogen hätten und gleichzeitig dazu angetan waren, den Schaden
dieser Illusionen zu minimieren.

Eine solche
Herangehensweise war umso dringlicher, als der politisch-revolutionäre Prozess
November/Dezember 1989 seinen Schwung verloren hatte, die spontane
Massenmobilisierung mehr und mehr unter die Fuchtel offen restaurationistischer
Führungen geriet und auch SED, SED-PDS (später die PDS) unter Krenz, Modrow und
Gysi auf den Kurs der kapitalistischen Wiedervereinigung umschwenkten.
Bezeichnenderweise war es in dieser Phase Krenz, der als erster von einem „Vierten
Reich“ sprach, das er entstehen sah.

Demobilisierung und
Rechtsentwicklung

Die „Runden Tische“ waren
in dieser Hinsicht für alle bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bürokratischen
Kräfte ein Mittel, sich dem Druck der Arbeiter und Arbeiterinnen zu entziehen.
In dieser Phase wurde von der westdeutschen Bourgeoisie und der SPD auch die
Frage der kapitalistischen Wiedervereinigung offensiver ins Treffen geführt.

Im Januar 1990 versuchte
die SED-PDS einen letzten Vorstoß zur Restabilisierung der Stasi, zu der sie
auch das Auftauchen faschistischer Schmierereien nutzte. Doch dieser Versuch
versandete rasch und die SED-PDS willigte ein, im März 1990 Wahlen abzuhalten.

Die Massenbewegung war
damit von der Straße weg vor die Fernsehschirme verbannt. Anfang 1990 war es
die SPD, die nun die Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten
in der DDR auf sich zog. Aber die SPD hatte einen Wiedervereinigungsplan, der
weder die historisch-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus voll
befriedigte noch den Werktätigen der DDR eine vernünftige Perspektive bot:
Wiedervereinigung in zehn Jahren (womit die SPD in trauter Gemeinsamkeit mit
den MonetaristInnen der Deutschen Bundesbank gegen das „Abenteuer
Wiedervereinigung“ stand).

Die zögerliche Haltung
der SPD hatte nichts mit antiimperialistischen Überlegungen zu tun, sondern
spiegelte ihre soziale Basis in der westdeutschen ArbeiterInnenaristokratie
wider, die borniert, aber nicht zu Unrecht fürchtete, die Zeche für die
Expansion des deutschen Imperialismus zahlen zu müssen. Statt gemeinsam mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Osten in die Offensive zu gehen, blieb die ArbeiterInnenklasse
im Westen gegenüber den Ereignissen passiv, skeptisch, abwartend.

Statt gemeinsam gegen die
Angriffe des Kapitals zu kämpfen, dem Feldzug des deutschen Kapitals im Osten
gemeinsam entgegenzutreten und gleichzeitig für die Reorganisation der
Planwirtschaft auf Kosten der Profite der deutschen Multis zu kämpfen, redete
die SPD einer Variante der kapitalistischen Wiedervereinigung das Wort, deren
Kosten allerdings nur die ostdeutschen Arbeiter und Arbeiterinnen hätten
begleichen müssen.

Diese sahen sich daher zu
Recht von der SPD in Stich gelassen. Die Reformkonzepte der Bürgerbewegung, die
Sonntagsreden vom „Dritten Weg“ hatten nicht nur einen recht offensichtlichen
utopischen Charakter, sie klangen auch nach der allzu bekannten
Ankündigungspolitik der SED. Dass die DDR-Wirtschaft mit bürokratischer Planung
light nicht aus der Krise gebracht werden konnte, wusste auch die/der
unpolitischste DDR-ArbeiterIn.

Selbst eine einigermaßen
große kämpfende Propagandagruppe revolutionärer Kommunisten und Kommunistinnen
hätte in dieser Phase zumindest der Avantgarde eine politische Orientierung
geben können. Es existierte aber kein solcher Kern.

Die Haltung der
westdeutschen ArbeiterInnenbewegung, die Politik der SPD, aber selbst die
Position der „radikalen“ Linken, dass die Revolution (und Konterrevolution) in
der DDR ausschließlich eine Angelegenheit der DDR-Bevölkerung sei, führten
nicht nur zum stetigen Terrainverlust im Osten, sie sicherten dem westdeutschen
Imperialismus nebenbei auch ein ruhiges Hinterland.

Kohls Sieg

Andererseits hatte die
BRD-Regierung unter Kohl als einzige Kraft die weltgeschichtlichen Potentiale
der Situation nicht nur begriffen, sondern auch sehr selbstbewusst im Interesse
der langfristigen Perspektiven des deutschen Imperialismus die Initiative
ergriffen. Der „ideelle Gesamtkapitalist“ hat in dieser Situation auch ganze
Sektoren des deutschen Kapitals, nicht zuletzt die Bundesbank, zur Seite
geschoben und Kurs auf eine rasche kapitalistische Wiedervereinigung genommen.
Wenige Wochen vor der letzten Volkskammerwahl ging der westdeutsche
Imperialismus in die Offensive. Die Ost-CDU, nunmehr Marionette der Bonner
Regierung, gewann die Wahl. Der eigentliche Sieger war Kohl.

Keine einzige größere
Partei, die zur Wahl stand, hatte auch nur die Absicht, die kapitalistische
Wiedervereinigung und Abwicklung der DDR zu verhindern. Entscheidende
ökonomische Mechanismen – darunter die Gründung der Treuhand und die
Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 – waren schon
unter der Regierung Modrow auf den Weg gebracht worden. Nun folgte die
endgültige Zerstörung des degenerierten ArbeiterInnenstaats DDR mit der
Wirtschafts- und Währungsunion. Die Wiedervereinigung im Herbst war dann bloß
der staatliche Nachvollzug dieser Regelung.

Nein zur kapitalistischen
Vereinigung!

Zu den letzten
Volkskammerwahlen konnten Revolutionäre und Revolutionärinnen keine der
antretenden Parteien unterstützen. Sie waren in einer ganz entscheidenden
Stunde einer Wahl, die im Grunde eine Abstimmung über die Existenz der
Errungenschaften der DDR war, allesamt auf der falschen Seite der Barrikaden.
Die soziale Konterrevolution nahm dadurch auch wie in den meisten
osteuropäischen Ländern eine bürgerlich-demokratische Form an.

Im Frühjahr 1990 hätte
das Schwergewicht der Intervention revolutionärer Kommunisten und
Kommunistinnen auf folgende Punkte konzentriert werden müssen: die Verteidigung
der existierenden Errungenschaften, den Kampf gegen den beginnenden Ausverkauf
der DDR-Wirtschaft an das Kapital, ein klares Nein zur kapitalistischen
Wiedervereinigung bei gleichzeitiger Herstellung enger Verbindung zu den
Arbeitern und Arbeiterinnen im Westen (besonders in jenen Konzernen und Banken,
die sich anschickten, den Osten zu „erobern“), den Kampf für volle
demokratische Rechte für die ArbeiterInnenbewegung und die Schaffung von den
Belegschaften verantwortlichen Kampforganen, die bei einer Generalisierung und Zuspitzung
der Abwehrkämpfe zu landesweiten räteähnlichen Organen, zu Organisatorinnen von
Massenstreiks gegen Kapital und Bürokratie, gegen NATO und sowjetische Truppen hätten
ausgebaut werden müssen.

Solche Organe hätten
gleichzeitig die Grundlage für eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung sein
können, für die Zerschlagung der Reste des SED-Staatsapparates und die
Errichtung einer proletarischen Räterepublik in Deutschland. Eine solche
Entwicklung hätte die revolutionäre Wiedervereinigung mit unzweifelhaft
progressiver Dynamik auf die Tagesordnung gesetzt. Vor allem aber hätte der
Zusammenbruch der alten Weltordnung mit einem Fanal für die Ausweitung der
Revolution nach Ost- und Westeuropa begonnen.

Dass es nicht so gekommen
ist, lag zweifellos an ungünstigen politischen Voraussetzungen und der geringen
Zeitspanne, die für die Entstehung proletarischen Klassenbewusstseins und für
eine grundlegende Umgruppierung der Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung genutzt
werden hätte müssen. Die kapitalistische Wiedervereinigung war eine Niederlage
für die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und eine besonders schwere für das
Proletariat in der ehemaligen DDR.

Es ist kein Zufall, dass
seit den frühen 1990er Jahren fast alle zentralen Angriffe auf die
Errungenschaften im Westen durch „Probeläufe“ und „Vorstöße“ im Osten gestartet
werden. Die Deindustrialisierung und die riesige industrielle Reservearmee,
aber auch der Verlust an gewerkschaftlicher Kampferfahrung und Bereitschaft des
Proletariats in den neuen Bundesländern haben die ArbeiterInnenklasse in der ganzen
BRD geschwächt. Gleichzeitig wurde die weltpolitische Rolle des deutschen
Imperialismus im letzten Jahrzehnt enorm gestärkt. Die ArbeiterInnenbewegung in
Deutschland steht heute einem Klassengegner gegenüber, der sich viel mehr
gestärkt hat, als es die Betrachtung der rein territorialen Ausdehnung
wiedergibt.

Der Kampf ist nicht zu
Ende!

Welches Potential in der ArbeiterInnenklasse
noch immer steckt, lässt sich freilich daran ermessen, dass es der Bourgeoisie
trotz ihres historischen Erfolgs 1990 noch nicht gelungen ist, die
Errungenschaften der westdeutschen ArbeiterInnenbewegung und die Stärke dieser
Bewegung zu vernichten. Zweifellos hat sich das Kräfteverhältnis insgesamt
zugunsten der Kapitalistenklasse verschoben – aber diese Verschiebung hatte
bisher einen im Wesentlichen graduellen, keinen qualitativen Charakter. Für die
deutsche Bourgeoisie ist dieser Schritt aus internationalen politischen und
ökonomischen Erwägungen notwendig, da nur so für den deutschen Imperialismus
alle Früchte aus der kapitalistischen Wiedervereinigung geerntet werden können.

Um diesen noch
ausstehenden Kampf gewinnen zu können, muss die ArbeiterInnenbewegung in
Deutschland auch die Ursachen der Niederlage des ostdeutschen Proletariats
begreifen und die politischen Lehren daraus ziehen!




Revolution und Konterrevolution in der DDR, Teil 2: Vom Herbst 89 zur Wiedervereinigung

Bruno Tesch, Neue Internationale 242, November 2019

Im ersten Teil haben wir uns mit Entstehung und Niedergang der DDR beschäftigt. Im zweiten Teil widmen wir uns der Entwicklung bis zur Restauration des Kapitalismus.

Vom Sommer 1989 bis zur Wiedervereinigung
erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre Krise, die schließlich in
einer sozialen Konterrevolution mündete. Im Sommer hatte eine nicht mehr zu
bremsende Massenabwanderung eingesetzt. Im Herbst kam es dann zu
Massendemonstrationen, die sich gegen die Untragbarkeit der repressiven
Zustände wandten und nach politischen Reformen verlangten. Bis zum November
1989 befand sich die Bewegung in der Offensive. Der Parteiapparat und die
Staatssicherheitsorgane mussten Schritt für Schritt zurückweichen. Daran zeigte
sich, wie morsch das Regime schon war. Daran konnten selbst die
Palastrevolution und die Absetzung Honeckers im Oktober als Parteichef nichts
mehr retten. Auch die UdSSR war nicht mehr bereit, das Staatsgefüge zu stützen.

Der Zusammenbruch eines Teils der
Nachkriegsordnung im Osten, eine politisch-revolutionäre Krise in der DDR
konnte nur zu drei Resultaten führen: bürokratische Konterrevolution,
politische Revolution oder soziale Konterrevolution.

Grundfragen

Gerade wenn wir die zentralen Aufgaben der
politischen Revolution in der DDR – die Eroberung der Staatsmacht und
Reorganisation der Planwirtschaft – betrachten, wird unmittelbar deutlich, dass
diese von Beginn aufs Engste mit der ArbeiterInnenklasse und sozialen
Revolution im Westen verbunden waren. Wie hätte die DDR-Wirtschaft
reorganisiert werden sollen und können, wenn nicht im engen Verbund mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Westen?

Daher war die Losung einer Vereinigten
Sozialistischen Räterepublik in ganz Deutschland eine zentrale Frage vom Beginn
der Massenbewegung in der DDR an.

Sie musste jedoch konkret übersetzt werden in
Schritte zum sofortigen Aufbau von direkten Verbindungen zwischen den
Gewerkschaften, betrieblichen AktivistInnen in Ost und West, in ein
Aktionsprogramm zur Lösung der dringendsten Aufgaben auf wirtschaftlichem und
politischem Gebiet, das mit der Losung einer revolutionären
ArbeiterInnenregierung verbunden werden musste. Unsere Vorläuferorganisation,
die Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, hat von Beginn an
die Frage der revolutionären Wiedervereinigung sehr konkret aufgeworfen und
gleichzeitig die Notwendigkeit dargelegt, jede Rekapitalisierung der DDR
einschließlich einer kapitalistischen Wiedervereinigung entschieden zu
bekämpfen.

Die Frage der Wiedervereinigung war von Beginn
an virulent, obwohl sie in den ersten Wochen der Mobilisierung gegen die
Bürokratie nicht offen gestellt wurde. Das hing damit zusammen, dass gerade in
den Stellungnahmen des Großteils der kleinbürgerlichen „BürgerInnenbewegung“
die Forderungen im Wesentlichen auf demokratische Reformlosungen beschränkt
waren. Aber diese Ziele mussten auch von RevolutionärInnen in dieser Phase
aufgegriffen und zugespitzt werden. Das trifft besonders auf Losungen wie
Organisationsfreiheit, Reisefreiheit, Pressefreiheit zu.

Zugleich zeigte sich von Beginn an auch die
politische Schwäche der BürgerInnenbewegung darin, dass ihr größter Teil die
Krise in der DDR im Wesentlichen als „Demokratiefrage“ betrachtete und
weitgehend blind war gegenüber der Notwendigkeit, gerade auch eine Antwort auf
die tiefer liegende Krise der bürokratischen Planung zu geben.

Gründe für konterrevolutionären Umschwung

Wo die BürgerInnenbewegung und besonders ihr linker
Flügel ökonomische Konzepte entwickelten, stellten sie der bürokratischen
Planwirtschaft jedoch entweder nur eine Spielart des utopischen „Dritten Weges“
zwischen Kapitalismus und Kommunismus oder eine Form des „Marktsozialismus“
entgegen. Das traf auch auf die linkesten Strömungen wie Vereinigte Linke zu,
die in der „Böhlener Plattform“ einer Form der „ArbeiterInnenselbstverwaltung“
nach jugoslawischem Muster das Wort redete.

Hinzu kam, dass die BürgerInnenbewegung
insgesamt politisch eine Reformperspektive des SED-Staates vertrat. Der Druck
der Massenbewegung führte Ende 1989 zur Installation der sogenannten „Runden
Tische“, die der perspektivlosen und konfusen Opposition ein Forum boten, vor
allem aber der noch herrschenden SED-Bürokratie zupasskamen.

Sie erlaubten allen um die Tische versammelten
Kräften, die Massen zu demobilisieren, auf die Arbeit in den „neuen“ Gremien zu
vertrösten. Die zunehmende Orientierung auf bürgerliche parlamentarische Wahlen
zur Volkskammer trug ebenfalls dazu bei, die politische Energie von der Straße
an die Wahlurnen zu verlagern.

Die BürgerInnenbewegung übergab die Initiative
an die teilweise aus ihr, teilweise aus den Blockparteien entstandenen, offen
bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie einerseits, an die SED-PDS
andererseits.

Die tieferen Ursachen des „Umkippens“ der
Bewegungsrichtung bestanden in folgenden Faktoren:

  • Erschöpfung der Potentiale der bürokratischen Planwirtschaft;
  • Fehlen einer politischen Führung, die eine Alternative für die Avantgarde der ArbeiterInnenbewegung mit der Perspektive des revolutionären Sturzes des SED-Regimes und einer revolutionären Wiedervereinigung hätte weisen können;
  • weitgehende Zerstörung des Klassenbewusstseins des Proletariats

Dennoch entstanden in der Frühphase der Bewegung
Strömungen wie die Vereinigte Linke, die sich auf eine landesweite Bekanntheit
und einen Anhang unter der Intelligenz und Teilen der bewussten
ArbeiterInnenschaft berufen konnte und einige hundert AktivistInnen und
zehntausende AnhängerInnen umfasste. Außerdem kam es zu politischer
Oppositionsbildung in den Gewerkschaften – z. B. in der Initiative Unabhängige
Gewerkschaften – und, vor allem Ende 1989, zu einer tiefen politischen Krise in
der SED.

In diesen politischen Bewegungen nach links hätten
RevolutionärInnen eingreifen müssen und AnhängerInnen für die Bildung einer
wirklich revolutionären Partei finden können. Die Entwicklung wurde noch
dadurch erschwert, dass die ArbeiterInnenklasse nicht nur nicht als bewusstes
politisches Subjekt auftauchte, sondern auch betriebliche und kommunale Formen
proletarischer Selbstorganisation sehr rar blieben.

Revolutionäre Aufgaben 1989

Revolutionäre Agitation und Propaganda musste
sich auch stark auf die Notwendigkeit der Schaffung von räteähnlichen Strukturen
und Kampforganen der Arbeiter und Arbeiterinnen konzentrieren und diese mit der
Notwendigkeit der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbinden.
Eine solche wäre jedoch unmöglich gewesen ohne den revolutionären Sturz der
SED, die Zerschlagung des Staatsapparates, die Forderung nach Abzug der
sowjetischen Armee, nach Entwaffnung von Polizei, Armee, Betriebskampfgruppen
und der Übergabe ihrer Waffen in die Hände von ArbeiterInnenmilizen.

Ein zweiter zentraler Punkt war der Kampf gegen
demokratische Illusionen. Dazu war es angesichts des fehlenden
Klassenbewusstseins des Proletariats unbedingt notwendig, die Kritik des
Charakters der bürgerlichen Demokratie und die Propagierung des Rätesystems mit
Forderungen zu verbinden, die die Hoffnungen in die bürgerliche Demokratie
einem Test unterzogen hätten und gleichzeitig dazu angetan waren, den Schaden
dieser Illusionen zu minimieren.

Eine solche Herangehensweise war um so
dringlicher, als der politisch-revolutionäre Prozess November/Dezember 1989 seinen
Schwung verloren hatte, die spontane Massenmobilisierung mehr und mehr unter
die Fuchtel offen restaurationistischer Führungen geriet und auch SED, SED-PDS
(später die PDS) unter Krenz, Modrow und Gysi auf den Kurs der kapitalistischen
Wiedervereinigung umschwenkten. Sie willigten ein, im März 1990 bürgerliche
Parlamentswahlen abzuhalten.

Demobilisierung und  Rechtsentwicklung

Die „Runden Tische“ waren in dieser Hinsicht für
alle bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bürokratischen Kräfte ein Mittel, sich
dem Druck der ArbeiterInnen zu entziehen. In dieser Phase wurde von der
westdeutschen Bourgeoisie und der SPD auch die Frage der kapitalistischen
Wiedervereinigung offensiver ins Treffen geführt.

Durch die allgemeine Orientierung auf
Parlamentswahlen war die Massenbewegung damit von der Straße weg vor die
Fernsehschirme verbannt. Anfang 1990 war es noch die SPD, die nun die
Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten in der DDR auf sich
zog. Aber sie vertrat einen Wiedervereinigungsplan, der weder die
historisch-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus voll
befriedigte noch den Werktätigen der DDR eine vernünftige Perspektive bot:
Wiedervereinigung in zehn Jahren (womit die SPD in trauter Gemeinsamkeit mit
den MonetaristInnen der Deutschen Bundesbank gegen das „Abenteuer
Wiedervereinigung“ stand).

Die zögerliche Haltung der SPD hatte nichts mit
anti-imperialistischen Überlegungen zu tun, sondern spiegelte ihre soziale
Basis in der westdeutschen ArbeiterInnenaristokratie wider, die borniert, aber
nicht zu Unrecht fürchtete, die Zeche für die Expansion des deutschen
Imperialismus zahlen zu müssen. Statt gemeinsam mit den Klassenbrüdern und
-schwestern im Osten in die Offensive zu gehen, blieb die ArbeiterkInnenlasse
im Westen gegenüber den Ereignissen passiv, skeptisch, abwartend. Die SPD
redete einer Variante der kapitalistischen Wiedervereinigung das Wort, deren
Kosten allerdings nur die ostdeutschen ArbeiterInnen hätten begleichen müssen.

Diese sahen sich daher zu Recht von der SPD im
Stich gelassen. Dass die DDR-Wirtschaft mit bürokratischer Planung light nicht
aus der Krise gebracht werden konnte, wusste auch der/die unpolitischste
DDR-ArbeiterIn.

Eine einigermaßen große kämpfende
Propagandagruppe revolutionärer KommunistInnen hätte in dieser Phase zumindest
der Avantgarde eine politische Orientierung geben können. Es existierte aber
kein solcher Kern.

Die Haltung der westdeutschen
ArbeiterInnenbewegung, die Politik der SPD, aber selbst die Position eines
Teils der „radikalen“ Linken, dass die Revolution (und Konterrevolution) in der
DDR ausschließlich eine Angelegenheit der DDR-Bevölkerung sei, führten nicht
nur zum stetigen Terrainverlust im Osten, sondern sicherten dem Imperialismus
auch ein ruhiges Hinterland.

Kohls Sieg

Andererseits hatte die BRD-Regierung unter Kohl
als einzige Kraft die weltgeschichtlichen Potentiale der Situation nicht nur
begriffen, sondern auch sehr selbstbewusst im Interesse der langfristigen
Perspektiven des deutschen Imperialismus die Initiative ergriffen. Der „ideelle
Gesamtkapitalist“ hat in dieser Situation auch ganze Sektoren des deutschen
Kapitals, nicht zuletzt die Bundesbank, zur Seite geschoben und Kurs auf eine
rasche kapitalistische Wiedervereinigung genommen. Wenige Wochen vor der
letzten Volkskammerwahl ging der westdeutsche Imperialismus in die Offensive.
Die Ost-CDU, nunmehr Marionette der Bonner Regierung, gewann die Wahl. Der
eigentliche Sieger hieß Kohl.

Keine einzige größere Partei, die zur Wahl stand
(auch nicht die SED-PDS), hegte auch nur die Absicht, die kapitalistische
Wiedervereinigung und Abwicklung der DDR zu verhindern. Entscheidende
ökonomische Mechanismen – darunter die Gründung der Treuhand und die
Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 – waren schon unter
der Regierung Modrow auf den Weg gebracht worden. Nun folgte die endgültige
Zerstörung des degenerierten ArbeiterInnenstaats DDR mit der Wirtschafts- und
Währungsunion. Die Wiedervereinigung im Herbst war dann bloß der staatliche
Nachvollzug dieser Regelung.

Besonders skandalös war das Verhalten des DGB:
Im Herbst 1989 verhielt er sich passiv, stumm und gleichgültig gegenüber den
Klassengeschwistern in der DDR. Kaum aber war die Vereinigung unter
bürgerlich-kapitalistischen Vorzeichen ausgehandelt, vollzog er als Erstes den
‚Vereinigungsprozess‘ durch Übernahme des FDGB (Gewerkschaftsverband der DDR).
Der DGB liquidierte dabei kurzerhand alle bestehenden verbrieften
Errungenschaften der DDR-ArbeiterInnenklasse und kassierte außerdem
klammheimlich gleich noch den letzten Beschluss des FDGB, der ein Vetorecht der
Gewerkschaften gegen arbeiterInnenfeindliche Gesetze forderte. Die
DGB-BürokratInnen betätigten sich also als willfährige Speerspitze des
bundesdeutschen Imperialismus.

Nein zur kapitalistischen Vereinigung!

Zu den letzten Volkskammerwahlen konnten
RevolutionärInnen keine der antretenden Parteien unterstützen. Sie waren in
einer ganz entscheidenden Stunde einer Wahl, die im Grunde eine Abstimmung über
die Existenz der Errungenschaften der DDR war, allesamt auf der falschen Seite
der Barrikaden. Die soziale Konterrevolution nahm dadurch auch wie in den
meisten osteuropäischen Ländern eine bürgerlich-demokratische Form an.

Im Frühjahr 1990 hätte das Schwergewicht der
Intervention revolutionärer KommunistInnen auf folgende Punkte konzentriert
werden müssen: die Verteidigung der existierenden Errungenschaften, den Kampf
gegen den beginnenden Ausverkauf der DDR-Wirtschaft an das Kapital, ein klares
Nein zur kapitalistischen Wiedervereinigung bei gleichzeitiger Herstellung
enger Verbindung zu den ArbeiterInnen im Westen (besonders in jenen Konzernen
und Banken, die sich anschickten, den Osten zu „erobern“), den Kampf für volle
demokratische Rechte für die ArbeiterInnenbewegung und die Schaffung von den
Belegschaften verantwortlichen Kampforganen, die bei einer Generalisierung und
Zuspitzung der Abwehrkämpfe zu landesweiten räteähnlichen Organen, zu
OrganisatorInnen von Massenstreiks gegen Kapital und Bürokratie, gegen NATO und
sowjetische Truppen ausgebaut werden mussten.

Solche Organe hätten gleichzeitig die Grundlage
für eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung bilden können, für die
Zerschlagung der Reste des SED-Staatsapparates und die Errichtung einer
proletarischen Räterepublik in Deutschland. Eine solche Entwicklung hätte die
revolutionäre Wiedervereinigung mit unzweifelhaft progressiver Dynamik auf die
Tagesordnung gesetzt. Vor allem aber hätte der Zusammenbruch der alten
Weltordnung mit einem Fanal für die Ausweitung der Revolution nach Ost- und
Westeuropa begonnen.

Dass es nicht so gekommen ist, lag zweifellos an
ungünstigen politischen Voraussetzungen und der geringen Zeitspanne, die für
die Entstehung proletarischen Klassenbewusstseins und für eine grundlegende
Umgruppierung der Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung genutzt werden hätte
müssen. Die kapitalistische Wiedervereinigung war eine historische Niederlage
für die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und eine besonders schwere für das
Proletariat in der ehemaligen DDR.

Es ist kein Zufall, dass seit den frühen 1990er
Jahren fast alle zentralen Angriffe auf die Errungenschaften im Westen durch
„Probeläufe“ und „Vorstöße“ im Osten gestartet worden sind. Die
Deindustrialisierung und  der
Verlust an gewerkschaftlicher Kampferfahrung und -bereitschaft des Proletariats
in den neuen Bundesländern haben die ArbeiterInnenklasse in der ganzen BRD
geschwächt. Gleichzeitig wurde die weltpolitische Rolle des deutschen
Imperialismus gestärkt  Die
ArbeiterInnenbewegung in Deutschland steht seit 30 Jahren einem Klassengegner
gegenüber, der sich viel besser aufgestellt hat, als es die Betrachtung der
rein territorialen Ausdehnung wiedergibt.




Revolution und Konterrevolution in der DDR – Teil 1: Entstehung und Niedergang

Bruno Tesch, Neue Internationale 141, Oktober 2019

2019/2020 jährt
sich die Todeskrise der DDR, die schließlich in der Restauration des
Kapitalismus, Wiedervereinigung und Stärkung des deutschen Imperialismus mündete.
In dieser Ausgabe der Neuen Internationale skizzieren wir Entstehung und
Niedergang der DDR, also die Ursachen, die 1989/90 zu Revolution und
Konterrevolution führten.

Nachkriegsordnung

Bereits vor der
Niederwerfung des deutschen Faschismus wurden Pläne zur territorialen
Neuordnung in Mitteleuropa entworfen. Nach dem Sieg der Alliierten traten jedoch
die grundlegenden Gegensätze zwischen den Systemen, der nunmehr von den USA als
zentraler imperialistischen Macht geführten „freien“ Welt einerseits und dem
degenerierten ArbeiterInnenstaat Sowjetunion andererseits, hervor.

Die Absichten
von Teilen der US-Bourgeoisie zur Zerstückelung und der Morgenthau-Plan von
1944 zur Deindustrialisierung Deutschlands wurden daher recht rasch zugunsten
einer modifizierten imperialistischen Strategie fallengelassen: dem Marshallplan
(European Recovery Program). Danach sollten die von der Roten Armee besetzten
Gebiete durch gezielte Wirtschaftshilfe dem Einfluss der Kreml-Bürokratie
entrissen werden. Das gelang jedoch nicht. So wurden die geopolitisch und
ökonomisch unverzichtbaren Westzonen Deutschlands mittels Marshallplan zum
Bollwerk und Brückenkopf gegen den Stalinismus ausgebaut.

Die
stalinistischen Pläne waren von Sicherheitsdenken geleitet: Deutschland sollte
als entmilitarisiertes, neutrales, jedoch durchaus bürgerlich geführtes und
ungeteiltes Land als Pufferstaat gegen den imperialistischen Westen dienen. Dieser
Plan Moskaus wurde aber durch den Aufbau eines westdeutschen Separatstaates
durchkreuzt. Folglich blieb auch hier keine Wahl mehr, die Kreml-Bürokratie
musste nachziehen und auf ihrem Besatzungsgebiet einen ArbeiterInnenstaat als
Schutzzone etablieren.

Somit geriet Deutschland
zum zentralen Ort der Blockkonfrontation. Schließlich führte die Teilung des
Landes auch zu einer Aufteilung der ArbeiterInnenbewegung unter die Apparate
von SED und SPD, die – wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln – ein
politisches Monopol über „ihren“ Teil der Bewegung ausübten. Zweifellos hatten
beide ein beachtliches Eigeninteresse daran und an der Säuberung der Bewegung
von allen widerspenstigen Elementen. Zugleich waren sie aber auch verlängerte
Arme der führenden politisch-militärischen Kräfte „ihres“ Blocks zur Kontrolle
der jeweiligen ArbeiterInnenklasse.

Degenerierter
ArbeiterInnenstaat

Die
stalinistische Sowjetbürokratie ging in der späteren DDR nicht wie teilweise in
Osteuropa über den Umweg der anfänglichen Mitbeteiligung bürgerlicher Parteien
vor. Die Militäradministration der Roten Armee bestimmte direkt die Politik. Sie
schob jeglicher freier Entfaltung der ArbeiterInnenbewegung im Osten einen
Riegel vor. Die eigenständigen Volkskomitees wurden aufgelöst, das Streikrecht
abgeschafft. Als verlängerter Arm dieser Politik diente die bürokratisch
kontrollierte Vereinigung der beiden großen ArbeiterInnenparteien SPD und KPD
zur SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Erst nach dieser
politischen Entmündigung der ArbeiterInnenbewegung war die Bahn frei für die
Gründung eines degenerierten ArbeiterInnenstaates, der Deutschen Demokratischen
Republik (DDR).

Zwar bestanden deren
ökonomische Grundlagen in der Unterordnung der Binnenwirkungen des
kapitalistischen Wertgesetzes durch die Nichtverfügbarkeit eines freien Arbeitsmarktes,
die Enteignung des kapitalistischen Privatbesitzes an den Produktionsmitteln
und die Vorgabe eines Wirtschaftsplans und eines staatlichen
Außenhandelsmonopols. Doch die DDR-Staatsmaschinerie war und blieb vom Typus
her bürgerlich, ein abgehobener allmächtiger Apparat. In ihm bildete sich eine
wuchernde Schicht heraus, die sich als unterdrückende Kaste über die
ArbeiterInnenklasse erhob. Dieses Gebilde war unreformierbar und stellte, auch
wenn es der Wirkung des Wertgesetzes Grenzen setzte, letztlich ein Hindernis
beim Aufbau zu einer sozialistischen Gesellschaft dar. Es ist kein Wunder, dass
es später keinerlei Widerstand gegen die Restauration des Kapitalismus leistete
– vor allem aber entfremdete es die Lohnabhängigen über Jahrzehnte von „ihrem“
Staat und der Planwirtschaft und verhinderte die Entwicklung aller Ansätze
proletarischer Selbstorganisation und damit auch die Entfaltung des
Klassenbewusstseins.

ArbeiterInnenaufstand
und Mauerbau

Trotz dieser
Einschnürung der Eigenständigkeit der ArbeiterInnenklasse flammte noch einmal
ein Funke auf. Er entzündete sich an der Einführung des Neuen Kurses durch die
DDR-Parteiführung 1953. Dieser brachte den nichtproletarischen Schichten
Erleichterungen und Vorteile, der ArbeiterInnenklasse hingegen eine Erhöhung
der Arbeitsnormen. Dies führte zu einem spontanen Aufstand, der in Berlin
ausbrach und sich auf das Gebiet der gesamten DDR ausbreitete. Neben
Forderungen nach Rücknahme der Normenerhöhungen wurden auch politische,
darunter nach Wiedervereinigung erhoben. Von Teilen der Klasse, z. B. den
StahlarbeiterInnen in Hennigsdorf und Velten, wurden auch Losungen wie jene
nach einer „MetallarbeiterInnenregierung“ erhoben, die das Streben nach
revolutionärem Sturz des Stalinismus zum Ausdruck brachten.

Der Aufstand
konnte mit Hilfe der stationierten Sowjetarmee niedergeschlagen werden. Die Westalliierten
und deutschen Westparteien hatten das Geschehen eher passiv aus der Entfernung
beobachtet oder blockiert, weil sie genau wie die stalinistische Bürokratie
nichts mehr fürchteten als eine unkontrollierte Störung des Status quo und die
Eigentätigkeit der ArbeiterInnenklasse.

Die Normenerhöhung
wurde zwar zurückgenommen, erkauft aber mit einer politischen Friedhofsruhe und
Festigung der Macht der SED-Bürokratie.

Nicht zufällig
fiel gerade das folgende sinnbildhafteste Ereignis der deutschen Teilung, der
Bau der Berliner Mauer, in eine Zeit, als die internationalen Beziehungen auf
dem Gefrierpunkt angelangt waren und der Kalte Krieg in einen heißen atomaren (Kubakrise)
umzuschlagen drohte.

1961 markierte
einen Wendepunkt in den innerdeutschen Verhältnissen. Ende der 1950er Jahre
wurde das Auseinanderklaffen des Lebensstandards zwischen Ost und West immer
spürbarer und die DDR drohte an qualifizierten industriellen Arbeitskräften,
die in die BRD abwanderten, auszubluten. Dagegen unternahm die Parteiführung in
bürokratischer Manier eine Grenzschließung des letzten Nadelöhrs, das durch die
Viermächtevereinbarung in Berlin bestand.

Auch ein revolutionärer
ArbeiterInnenstaat hätte die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse
schützen müssen, aber niemals um den Preis, die Bevölkerung in einer
geschlossenen Anstalt mit Freigangsregelung nur in die „sozialistischen
Bruderländer“ zu verwahren. So aber schien die deutsche Spaltung auf Dauer
buchstäblich betoniert zu sein.

Zwar erholte
sich die DDR bis Mitte der 1960er Jahre wirtschaftlich auf der Woge einer extensiven
Ausdehnung der Planwirtschaft wie einer noch günstigen Weltkonjunktur, doch in
den Augen der internationalen ArbeiterInnenbewegung hatte sich das
stalinistische Regime politisch endgültig diskreditiert und besonders in der
BRD dem Antikommunismus auch unter den Lohnabhängigen immens Vorschub
geleistet.

„Normalisierung“
der innerdeutschen Beziehungen

Zugleich wurde
im Westen der Antikommunismus praktisch zur Staatsdoktrin. Nach der Niederlage
der ArbeiterInnenbewegung im Kampf um die Sozialisierung der
Grundstoffindustrien und der Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes wurde
auch die KPD im Westen politisch an den Rand gedrängt und schließlich verboten.
Unter der sozialliberalen Regierung vollzog der deutsche Imperialismus jedoch
eine Veränderung seiner Ost-Strategie. Die DDR sollte nicht mehr einfach
dämonisiert, sondern der westliche Einfluss durch Verträge und Handel ausgebaut
werden.

1972 wurde der
Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Das
BRD-Kapital erkaufte sich mittels der neuen SPD-Ostpolitik durch formale
Zugeständnisse der politischen Nichteinmischung, die das Sicherheitsbedürfnis
der DDR-Bürokratie bedienten, größeren ökonomischen Bewegungsspielraum in der
DDR.

Die scheinbare
politische Anerkennung war allerdings bald begleitet von einer neuen imperialistischen
Offensivstrategie der „Totrüstung“ der ArbeiterInnenstaaten, die zusätzlich die
Wirtschaft der DDR neben den abgestumpften bürokratischen Planmechanismen in
Mitleidenschaft zog. So ließ sich der Milliarden Swing-Kredit von 1983/1984 als
einvernehmliche Hilfe anbahnen und erhöhte damit wiederum die Abhängigkeit von
der BRD, da die RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe)-Zusammenarbeit des
Ostblocks längst nicht mehr griff, sondern zum Klotz am Bein wurde.

Aus der
Schuldenfalle und der damit verbundenen Produktionsspirale für die Erbringung
von Devisen auf Kosten der Gütererzeugung für den Inlandsbedarf konnte sich die
DDR schließlich mit herkömmlichen bürokratischen Methoden nicht mehr aus
eigener Kraft befreien, so dass der BRD-Imperialismus die restaurative
Wiedervereinigung über diesen Umweg objektiv vorbereiten half.

Aushöhlung der
wirtschaftlichen Grundlagen

Die Existenz der
DDR stand und fiel in Wirklichkeit mit zwei Faktoren. Erstens mit der
Stabilität der Nachkriegsordnung. Zweitens damit, den ArbeiterInnen in der DDR
eine wirtschaftliche und politische Perspektive glaubhaft darlegen zu können.
Die stalinistische Herrschaft konnte sich nicht nur auf Repression stützen,
sondern enthielt ein Element des Kompromisses besonders mit den oberen
Schichten der Angestellten und Staatsverwaltung.

Die DDR fiel
jedoch trotz Honeckers Wende 1971 zur Konsumgüterproduktion ökonomisch immer
mehr zurück. Gerade die industrielle ArbeiterInnenklasse spürte diese
Entwicklung: stetige Verschlechterung des Zustands der Produktionsmittel, immer
stärkerer Verschleiß, immer größere Produktion für den Export bei
gleichzeitigem Engpass an Gütern im Inneren, Stagnation der Lebensbedingungen,
immer stärkeres relatives Zurückbleiben gegenüber dem Westen.

In einem
internen Bilanzpapier des Politbüros der SED hieß es: „Die Zinszahlungen … betragen
1989 voraussichtlich 5 Milliarden Mark. Das ist mehr als der gesamte
Jahreszuwachs des Warenfonds im Jahre 1989. Das hängt mit nicht realisierbaren
Kaufwünschen, besonders nach langlebigen und hochwertigen Konsumgütern zusammen
(Pkw, HiFi-Anlage  u. ä.).“

Daraus ergibt
sich, dass die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse in der DDR mit dem System
der bürokratischen Planung schon abgeschlossen hatten, bevor es 1989/1990
geschichtlich zur Disposition stand. Selbst die Bürokratie hatte die Hoffnung
verloren, dass dieses System durch eine reformierte Variante der SED-Herrschaft
wieder in Schwung zu bringen sei.

1989

Vom Sommer 1989
bis zur Wiedervereinigung erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre
Krise, die schließlich in einer sozialen Konterrevolution mündete. Im Sommer
hatte eine nicht mehr zu bremsende Massenabwanderung eingesetzt. Im Herbst kam
es dann zu Massendemonstrationen, die sich gegen die Untragbarkeit der
repressiven Zustände wandten und nach politischen Reformen verlangten. Bis zum
November 1989 befand sich die Bewegung in der Offensive. Der Parteiapparat und
die Staatssicherheitsorgane mussten Schritt für Schritt zurückweichen. Daran
zeigte sich, wie morsch das Regime schon war. Daran konnte selbst die
Palastrevolution und die Absetzung Honeckers im Oktober als Parteichef nichts
mehr retten. Auch die UdSSR war nicht mehr bereit, das Staatsgefüge zu stützen.

Der
Zusammenbruch eines Teils der Nachkriegsordnung im Osten, eine
politisch-revolutionäre Krise in der DDR konnte nur zu drei Resultaten führen:
bürokratische Konterrevolution, politische Revolution oder soziale
Konterrevolution.

In der nächsten Ausgabe werden wir uns mit der Entstehung der Bewegung, ihrer ersten, aufsteigenden Phase wie auch ihren inneren Widersprüchen und Schwächen beschäftigen, die es ermöglichten, dass eine halbe politische Revolution in eine ganze Konterrevolution umschlug.