Der aufhaltsame Aufstieg der AfD: Zum Charakter und Erfolg der Partei

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 281, April 2024

Ein geheimes Hinterzimmertreffen. Die Salonfähigkeit des Begriffs der Remigration oder sogenannter „negativer Aufnahmezahlen“. Die ersten Land- und Stadträte der Alternative für Deutschland. Zusammenarbeit mit der AfD auf Kommunal- und Landesebene. Mordanschläge und Gewaltverbrechen aus dem Umfeld der Partei. In den letzten Monaten erfährt die Partei gerade angesichts der Krise der Ampelkoalition einen starken Aufwind und ist auf einem Allzeithoch. In Thüringen läuft sie Gefahr, stärkste Kraft bei den Landtagswahlen im September zu werden mit prognostizierter 32- bis 35-prozentiger Zustimmungsquote. Expert:innen aus der Wahlforschung unterstreichen, dass die Wähler:innenschaft der Partei sich mittlerweile in fast allen Regionen und sozialen Milieus etabliert habe, städtischer und weiblicher geworden sei – kurz, die Partei im bürgerlichen Sinne immer mehr als „Volkspartei“ bezeichnet werden könne. Ein Grund mehr, sich mit ihrem Charakter und den Hintergründen ihres Aufstiegs zu befassen.

Die Partei damals

Die AfD wurde vor 11 Jahren gegründet. Hervorgegangen aus dem neoliberalen „Hamburger Appell“ (2005) und dem „Plenum der Ökonomen“ (2010) um den Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke und den ehemaligen BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel, war sie zu dieser Zeit vor allem eine „eurokritische Professor:innenpartei“. Doch keinesfalls unter einem fortschrittlichen Aspekt. Ihren Erfolg bei den Bundestagswahlen 2014 (4,6 %) konnte sie vor allem durch eine Position verbuchen: ihrem Dasein als Anti-Euro-Kraft. Bürokratieabbau, Insolvenzfähigkeit staatlicher Institutionen mit möglicher Privatisierung, kapitalgedeckte private Rentenversicherung, ein härterer Sparkurs in Europa und letzten Endes Bruch mit der EU rundeten die Mischung aus Neoliberalismus und Nationalismus ab. Das Wesen des Programms der AfD war immer eines für die Reichen.

Doch war das nicht das Einzige, was sie ausmachte. Seit ihrer Gründung ist die Alternative für Deutschland ein Sammelbecken von rechten Konservativen, Revanchist:innen, christlichen Fundamentalist:innen, Marktradikalen und Faschist:innen. Die unterschiedlichen Standpunkte drücken sich dabei in mehreren Flügeln aus. Das wirtschaftsliberale Credo des sozialen Kahlschlags blieb über die Zeit fraktionsübergreifend bestehen, das AfD-Programm erweiterte sich über die Jahre und ist in diesem Sinne eklektisch. Zentral ist jedoch der permanente Flügelkampf, der den Charakter der Partei maßgeblich prägt.

Aufstieg und Erfolge

Nach der Eurofrage kam die Geflüchtetenkrise und katapultierte die AfD in den Umfragen nach vorne. Mit dem Aufstieg verließ Lucke 2015 die Partei, die er selbst gründete, nachdem er die Auseinandersetzung gegen Frauke Petry verlor und sich „dem islamfeindlichen XYZ“ nicht ergeben wollte. Dies stellte den ersten Flügelkampf dar, bei dem sich die rechtere Position durchsetzen konnte. Es folgte bald die nächste Runde: Petry gegen Gauland 2017, mit Abstrichen Meuthen gegen Chrupalla/Weidel 2022. Abgeschlossen ist dieser nicht, auch wenn momentan eine von Götz Kubitschek (prominenter Vertreter der Neuen Rechten) ausgehandelte „Waffenruhe“ zwischen Weidel und Höcke herrscht.

In den Jahren hat sich die AfD verstärkt auf Ebenen des sogenannten Kulturkampfes gegen den linksgrünen Mainstream  – und konnte ihren Erfolg damit halten.

Dabei sprechen zuallererst die Zahlen für sich: Mittlerweile ist die AfD im Bundestag als fünftstärkste Fraktion und in 14 von 16 Landesparlamenten (Ausnahme Bremen, Schleswig-Holstein) vertreten. Bis auf die Zeit zwischen 2020 und 2022 hat sie bei fast allen Wahlen dazugewonnen. Laut Meinungstrend des INSA-Instituts steht sie in den Prognosen vom 11. März bei 18,5 %. Das ist der niedrigste Wert seit Mai 2023 und ein Punkt weniger als im Vormonat. Bei Allensbach waren es am 21. März 16 %, bei Forsa am 19.3 17 % und bei der Forschungsgruppe Wahlen 18 %. Nutznießerin des leichten Abstiegs ist die Union. Zur Bundestagswahl 2021 waren es 10,3 %. Doch der Erfolg der AfD besteht nicht alleinig aus ihren Wähler:innenstimmen.

a) Die AfD hat den Rechtsruck befeuert

Die Alternative für Deutschland ist Ausdrucks der Krise der deutschen Bourgeoisie, zeitgleich hat sie den Rechtsruck massiv befeuert. Während auf Demonstrationen der Spruch „Die AfD macht die Hetze, die Regierung die Gesetze“ zu hören ist, kann man auch sagen, dass sie es schaffte, das Motto des ehemaligen CSU-Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß „Rechts von mir ist nur noch die Wand“ zu widerlegen. Damit hat sie mehr erreicht als ihre Vorläufer:innen zusammen wie die DVU, Republikaner, Schill-Partei, ProDeutschland, Die Freiheit und wie sie nicht alle hießen.

Sie vermochte sich selbst nicht nur rechts neben der Union zu positionieren, sondern sämtliche bürgerlichen Parteien vor sich herzutreiben. Ob Abschiebungen oder „Genderwahn“: Viele Positionen der AfD sind mittlerweile salonfähig. Das jüngste Beispiel bildet ein AfD-Antrag vom März 2024 im Dresdener Stadtrat zur Einführung eines Bezahlkartensystems für Asylsuchende als kollektive Bevormundung, um ihnen das Bargeld zu verwehren. Mit den Stimmen von FDP, CDU und Freien Wählern fand er auch eine Mehrheit. Man wollte damit der Bundespolitik gegenüber Zeichen setzen, speziell um die Stellung der Grünen in der Ampelkoalition zu schwächen. Silke Schöps (AfD Dresden) twitterte darauf hin auf X, dass die Brandmauer krachend zusammengefallen sei. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz spielt mit Zusammenarbeitsgedanken und will sich das nun genauer anschauen.

b) Rechte Bewegung auf der Straße bündeln

Speziell im Verhältnis zu irrationalen sozialen Bewegungen auf der Straße hat sich die Partei fortentwickelt. Setzte sie in der Eurokritik noch verstärkter auf die Auseinandersetzungen in den Medien, so stellte sie die Pegida-Bewegung ab 2014 vor die Herausforderung, Position zu beziehen. Zu Beginn bestand noch eine Unvereinbarkeitserklärung. Bei den Protesten gegen die Coronamaßnahmen oder jüngst den Bauern-/Bäuerinnenprotesten existierten kaum noch Vorbehalte. Höchstens die Sorgen, nicht ausreichend stark aus ihnen zu Stimmen zu gewinnen.

Was ist …

Bevor wir den Charakter der Partei klären, wollen wir an dieser Stelle kurz die Begriffsdefinitionen skizzieren. Dabei wollen wir anmerken, dass für Rechtspopulismus wie Faschismus gilt, dass diese Formationen Ausdruck eines Wechselspiels sind von kapitalistischer Krise, Stellung der bürgerlichen Parteien und des Kleinbürger:innentums im Verhältnis zur Lage der Arbeiter:innenbewegung. Die Debatte über den Faschismus (oder Nicht-Faschismus) hat für uns als Marxist:innen keinen rein abstrakten Zweck. Es geht darum, ihn als politisches Phänomen zu begreifen, also dessen Rolle, Gefahren und Möglichkeiten zu erkennen, um daraus Taktiken zu seiner Bekämpfung abzuleiten. Denn wenn wir die AfD erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir die/den politische/n Feind:in verstehen.

a) Rechtspopulismus

Populismus ist ein Ausdruck der Krise bürgerlich-parlamentarischer Ordnung, in welcher die etablierten Parteien die Bindung zu Teilen ihrer Wähler:innenschaft verloren haben. Zumeist ist diese Entwicklung verbunden mit einer strategischen Krise der herrschenden Klasse innerhalb der jeweiligen Nationen und damit i. d. R. auch global. Das handelnde Subjekt des Populismus ist dabei das wiederentdeckte „Volk“. Je nach Zuspitzung stellen die „Etablierten“ oder gar „Volksfremde“ wie „Volksverräter:innen“ das Gegenstück dazu dar. Dementsprechend setzt der Populismus an den Widersprüchen herrschender Ordnung an, löst sie aber nicht auf.

Er fungiert vielmehr als Ideologie, die kleinbürgerliche und rückständige proletarische Schichten auf einen vermeintlichen gemeinsamen Feind aller Mitglieder der Nation im Gleichschritt mit einer sich selbst „antielitär“ gebenden Schicht der herrschenden Klasse in Anschlag bringt. Der Populismus muss sich daher immer nationalistischer, rassistischer Ideen als Kitt für seine klassenübergreifende Mobilisierung bedienen. An seiner Spitze steht oft nicht zufällig eine scheinbar über den Klasse stehende Führungsfigur, an der Regierung tendiert er zum Bonapartismus.

b) Faschismus

Der Faschismus teilt mit dem Rechtspopulismus oft ideologische Momente bzw. bedient sich vorgefundener nationalistischer, rassistischer oder antisemitischer Muster. Aber er unterscheidet sich auch fundamental davon.

Leo Trotzki fasst sein Verständnis im Text „Porträt des Nationalsozialismus“ (1933) kurz zusammen, wenn er schreibt: „Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpressten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums. Mussolini hat recht, die Mittelklassen sind nicht fähig zu selbstständiger Politik. In Perioden großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden Hauptklassen bis zur Absurdität zu treiben. Dem Faschismus gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen.“

Darin stecken einige Aspekte: Das Subjekt des Faschismus ist das Kleinbürger:innentum. Dieses ist unfähig zu einer eigenständigen Politik und wird zerrieben zwischen den gesellschaftlichen Hauptklassen. In Perioden großer Krisen spitzt sich dies deutlich zu. Der Faschismus ist dementsprechend historisch ein Angriff auf die Arbeiter:innenbewegung und davon abgeleitet auf den Überbau der bürgerlichen Demokratie. Er nutzt dabei das Parlament als Tribüne, zerschlägt Organe, die seinen Aufstieg oder Machterhalt im Inneren bekämpfen könnten, durch paramilitärische Straßenbanden, die zunehmend in den faschistischen Staatsapparat integriert werden.

In seiner ideologischen Struktur verfügt der Faschismus über keine besondere Qualität, es ist viel mehr sein Charakter, der ihn prägt. Er ist eine zugespitzte Form bürgerlicher Ideologie, in welcher bereits völkisches Denken, Nationalismus, Rassismus und die Unterdrückung das Bestehende herausfordernder Minderheiten bereits eingeschrieben ist. Nach außen ist der Faschismus zugleich die extremste Form imperialistischen Expansionsinteresses. In diesem Sinne ist der „Faschismus [ … ] ein chemisch reines Destillat der Kultur des Imperialismus“ (Trotzki 1940, „Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Revolution“).

Dies ist die Charakterisierung der faschistischen Kräfte während des Zweiten Weltkriegs. Unsere Strömung hat Mitte der 1990er Jahre das Konzept der faschistischen Frontorganisationen entworfen. Mit der Kategorie versuchen wir analytisch, den Fortbestand faschistischer Organisationen danach zu verstehen. Im Wesentlichen nahmen diese Kräfte in Europa und Nordamerika drei Erscheinungsformen an: (A) Sie tauchten ab als eine Form von Netzwerk in bürgerlichen Parteien. So schlossen sich die meisten höheren NSDAP-Mitglieder in den ersten Jahren der FDP an. (B) Sie bestanden als kleine Sekten fort. (C) Sie bauten faschistische Frontorganisationen auf. Letztere bestanden aus einem Widerspruch: einem faschistischen Kaderkern bei gleichzeitig verhältnismäßig gemäßigter, auf das Parlament ausgelegter Politik. Im Zuge dessen gewannen diese Parteien oftmals Mitglieder auf Basis ihres Wirkens und ihres öffentlichen Programms, was wiederum zur „Verbürgerlichung“ eines Teils führte. Die Parteien halten diesen Widerspruch nicht auf Dauer aus, sondern lösen ihn nach einer von beiden Seiten hin auf. Im Modell der faschistischen Frontorganisation geschah dies bisher hin zur bürgerlichen Politik. Beispiele dieser Organisationen sind vor allem die italienische MSI oder der französische FN, mit Abstrichen aber auch die österreichische FPÖ.

Was unterscheidet nun den Rechtspopulismus vom Faschismus?

Sowohl Faschismus als auch Rechtspopulismus in Form von bonapartistischen Regimen (bspw. Miliärdiktaturen oder durch große welthistorische Menschen Putin oder Erdogan) sind Ausdruck einer zugespitzten, krisengeprägten und expansionistischen Außenpolitik imperialistischer Nationen. Beide sind – wie bereits beschrieben – Formen bürgerlich autoritärer Politik.

Doch der Faschismus liefert eine Antwort auf eine Notlage der bestehenden Form bürgerlicher Herrschaft inmitten einer tiefen Krise des Systems, um die Gefahr seiner fortschrittlichen, somit proletarischen Überwindung zu vereiteln. Sein Ziel ist die Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung – nicht nur durch Angriffe auf gesetzlicher Ebene, sondern auch in militanter Form auf der Straße.

Somit sind es die Kampf- und Bewegungsformen, die ihn auszeichnen. Die faschistische Partei ist nicht bloß eine besonders reaktionär-kleinbürgerliche, sie ist die Partei des „wild gewordenen Kleinbürger:innentums“ (Trotzki), die gegen die organisierte Arbeiter:innenbewegung als atomisierender Rammbock fungiert. An der Macht errichtet sie jedoch nicht die Herrschaft des Kleinbürger:innentums, sondern verwirklicht das politische Programm des Monopolkapitals.

Die Partei heute

Mittlerweise scheint sich für die AfD und ihre Basis der bekannte Satz von Trump zu bewahrheiten, der meinte, dass selbst, wenn er auf dem New Yorker Times Square jemanden öffentlich erschießen würde, an Stimmen dazugewinnen würde. Denn während der Verfassungsschutz aktuell die Junge Alternative sowie die Landesverbände Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen als gesichert rechtsextrem einstuft, hat die Partei 2023 etwa ein Drittel ihrer Mitglieder im Zuge der weiteren Rechtsentwicklung gewonnen, die Ausdruck deren sind. Die Patriotische Plattform hat vor ihrer Auflösung 2018 angeblich knapp ein Drittel der damals 26.000 AfD-Mitglieder umfasst. Aktuell zählt die Partei etwa 40.000. Wir können also davon ausgehen, dass knapp die Hälfte der Partei entweder aus der erneuten Rechtsentwicklung der Partei des letzten Jahres gewonnen wurde oder bereits zuvor dem Flügel von Höcke oder gar dessen noch rechterem Pendant, der Patriotischen Plattform, angehörte. Von den etwa 40.000 Mitgliedern im Januar 2024 werden etwa 10.000 als „extremistisch“ kategorisiert.

Für diese ist Björn (Rufname: Bernd) Höcke Symbolfigur. Als Vertreter des formal aufgelösten Flügels, des Sammelbeckens rechter Kräfte in der Partei, ist er jedoch bis heute kaum direkt einflussnehmend auf die Bundespolitik. Im „kleinen Rahmen“ kann er in Thüringen wirken, während er als Redner ideologische Duftmarken für wachsende Teile der Partei setzt. Er bleibt dadurch als Faschist weitgehend unbeschmutzt durch den bürgerlichen Politikbetrieb anderer Teile seiner Partei. Damit kann er seine Stellung ausbauen. Für diesen Teil der Partei stellt die AfD eine Art der faschistischen Frontorganisation dar. Dabei läuft sie Gefahr, die Erste ihrer Art zu werden, der eine Transformation hin zu einer faschistischen Massenkraft gelingen könnte. Im November 2023 hat Bernd Höcke sein Landtagswahlprogramm für Thüringen vorgestellt. Es beabsichtigt den Umbau staatlicher Struktur weiterhin über das Parlament, wenn auch als autoritären mit offener Flanke zur Stärkung faschistischer Kräfte. Sein Fünf-Punkte-Programm lautet zusammengefasst: Klage Thüringens gegen die Geflüchtetenpolitik des Bundes, Umwandlung des Landesverfassungsschutzes, Streichung der Fördermittel für Demokratie und gegen rechts, Einstellung aller Klimaschutzmaßnahmen, Aufkündigung des Rundfunkstaatsvertrages.

Gleichzeitig hat das Programm der Partei seinen marktradikalen Kern behalten, trotz Höckes angeblich national-sozialen Kurses. Sie steht für die Insolvenzfähigkeit öffentlicher Institutionen, die Privatisierung weitreichender sozialer Absicherungen wie beispielsweise der Arbeitslosenversicherung, die Abschaffung von Spitzensteuern, der öffentlich-rechtlichen Medien und vieles mehr. Für den organisatorisch zusehends marginalisierten Pol marktradikaler Kräfte basiert die Strategie hingegen darin, einen Kurswechsel der Union zu erwirken, hin zum sozialen Kahlschlag und zur Stärkung von Exekutivorganen. Auch wenn dieses Lager weder einheitlich noch im Aufwind innerhalb der Partei ist, so sind es doch die Debatte über die Brandmauer, die Abstimmungen der AfD-Fraktionen in Landtagen speziell mit der CDU und FDP, die ihren bisherigen Gipfel in der kurzzeitigen Wahl des ersten FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich im Februar 2020 fanden.

Die Landratsmandate und pragmatische Arbeit auf Kommunalebene liefern die Begleitmusik zu einer möglichen künftigen Koalition. Der Teil der AfD, der diese Zusammenarbeit als strategisch und nicht taktisch begreift, wird immer marginaler. Alle bisherigen Versuche, ihn zu organisieren, scheiterten. Jedoch entspräche dies deutlicher dem, was das deutsche Monopolkapital von der AfD jetzt bräuchte. Wobei es nicht unbedingt darum geht, was die Herrschenden möchten, sondern worauf sie angewiesen sind.

Zugleich können wir nicht davon ausgehen, dass dieses brüchige Bündnis immer bestehen bleiben muss, es ist schließlich ein dynamisches Verhältnis. Während Weidel und Chrupalla den Parteivorsitz darstellen, wurde auf dem 13. Bundesparteitag in Riesa im Jahr 2022 das verpflichtende System Doppelspitze abgeschafft, was historisch für einen Ausgleich zwischen den Lagern sorgen sollte.

Was ist der Charakter der AfD?

Wie bereits erwähnt, nimmt die AfD gewissermaßen die entgegengesetzte Bewegungsrichtung ein, weshalb die Kategorie der faschistischen Frontorganisation nur als Orientierung nützt. Zugleich zeigt sie die Widersprüchlichkeit ihrer Bezeichnung als jeweils rein bürgerlicher oder faschistischer Formation. Rechtspopulistisches Programm ist mehr als ein oberflächlicher Politikstil. Das Sammelbecken hat Methode. Beide Orientierungen gehen weiterhin auf, jedoch sind die Stellungen innerhalb der Partei ungleich. Die AfD ist ein Betätigungsfeld für Nazis und wirkt auf die Praxis der klassischeren Naziorganisationen zugleich, ähnlich wie beispielsweise Pegida für weite Teile der klassischen Naziaufmärsche ein taktisches, vermutlich zeitweiliges Ende bedeutete. In diesem Sinne übt die AfD eine Scharnierfunktion aus.

Im Rechtspopulismus bestehen dabei wesentlich zwei Quellen der sozialen Basis der Parteien: aus Kernen nationalistischer bis faschistischer Organisationen und Bewegungen sowie aus bisherigen liberalen bis konservativen Parteien. Bei der AfD handelt es sich um eine Kombination, in der strategischen Orientierung unterscheiden sich ihre Teile anhand der Bedeutung der Regierungsfrage. Höcke formulierte seine Perspektive vor der Jungen Alternative im Januar 2017, „[d]ie AfD ist die letzte evolutionäre, sie ist die letzte friedliche Chance für unser Vaterland“. In einer Befragung vom Januar 2024 zu einer möglichen Koalition zwischen AfD und Union von de.statista lehnen knapp 93 % der befragten AfD-Wähler:innen die sogenannte Brandmauer ab, im BSW sind es knapp 40 %, gefolgt von 30 % in der FDP, 27 % bei den Freien Wähler:innen und 22 % bei der Union. Bei den Grünen (2 %), der SPD (10 %) und der LINKEN (12 %) sind es bedeutend weniger. Insgesamt lag die Zustimmung zu einer möglichen Koalition bei 30 %.

Den dynamischen Widerspruch innerhalb der AfD bildet dementsprechend die Frage der Regierungsbeteiligung mit der Union oder zumindest unmittelbar einer AfD-gestützten Minderheitsregierung aus Union und FDP einerseits oder die Orientierung auf Aufbau einer Kraft auf der Straße und in den Betrieben andererseits – also die Frage der Übernahme bürgerlich-demokratischer staatlicher Machtmittel oder Umwandlung des Staates zu einer faschistoiden Diktatur. Ein Spannungsverhältnis, das den Charakter der Partei auszeichnet, wenn es auch nie kaum unveränderlich bleiben muss. Ja, in diesem Sinne schlummert in der Partei ein faschistisches Potential und Teile ihrer Mitgliedschaft denken nicht nur, sondern handeln bereits jetzt als solches. Die Entwicklung der Parteirechten, der Jungen Alternative, der faschistischen Zellen wie des Hannibal-Netzwerks, der Mörder von Walter Lübcke, der faschistischen Terroranschläge der letzten Jahre wie Halle, Hanau, Celle – all das zeigt, welch giftige Mischung sich da bereits im Schatten dieser Partei zusammenbraut.

Gleichzeitig besteht der Erfolg ihres Aufstiegs darin, dass sie nicht genuin faschistisch ist, sondern die verschiedenen Flügel es erlauben, ein breiteres, rechtes Milleu abzudecken.

Die Krise des deutschen Imperialismus

Zugleich muss klar sein, dass sich der Charakter der Partei nicht nur aus ihren inneren Dynamiken erklärt. Vielmehr ergeben diese sich aus der allgemeinen politischen Lage. In diesem Kontext muss man also auch die Entwicklung des deutschen Imperialismus sowie die Interessen der unterschiedlichen Kapitalfraktionen einbeziehen und die Frage stellen: Wie faul ist der Zahn denn schon?

Die Welt befindet sich in der Krise und mit ihr die herrschende Ordnung. Deutschland und dessen strategische Orientierung auf den Multilateralismus als sogenannter Exportweltmeister in der Globalisierungsperiode droht im Zuge einer multipolaren Weltordnung inmitten des Kampfes um die imperialistische Hegemonie zwischen dem US- und dem chinesischen Imperialismus ökonomisch, wie politisch zerrieben zu werden. Zugleich stehen weite Teile der deutschen Schlüsselindustrie vor massiver Umstrukturierung, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen. Das zentrale Projekt des deutschen Imperialismus, die Europäische Union, ist ein Ausdruck dieser Krisenhaftigkeit.

Die Grünen stellten bereits in den vergangenen Jahren die bürgerliche Partei dar, die am deutlichsten einen Strategiewechsel formuliert hatte – hin zum Juniorpartner der USA. Die Union unter Merkel hingegen saß die Richtungsfrage tendenziell aus, auch wenn sie unter Merz hier immer deutlicher um eine Alternative ringt. Angesichts dieser Krise erscheint die AfD für immer mehr Menschen als politische Lösung, auch mangels einer sozialistischen Perspektive.

Die Partei ist weiterhin von ihrem Widerspruch geprägt. Sie ist eine nach rechts gehende rechtspopulistische Partei, die vor der Herausforderung steht, sowohl Betreiberin einer Nachfolgeregierung der Ampelkoalition als auch eine kämpfende Formation auf der Straße zu werden. Dieser Widerspruch gehört zur Strategie der sogenannten neuen Rechten. In diesem Sinne übt die Union einen vermutlich größeren Einfluss auf die Entwicklung der Partei aus, als es ihr sogenannter moderater Flügel vermag. Die Geschichte der AfD ist in diesem Sinne leider noch lange nicht auserzählt. Ihre Zukunft bleibt ungewiss, auch wenn ihr faschistoider Arm für Teile der Arbeiter:innenbewegung und der gesellschaftlich Unterdrückten immer militanter wird. Welches der beiden Elemente der Partei auch obsiegt, die AfD muss auf der Straße blockiert und wo nötig bekämpft werden, wie es gegenüber faschistischen Aufmärschen der Fall ist: durch massive Mobilisierung der Organisationen der Arbeiter:innenbewegung und Unterdrückten!




Niederlande: Extreme Rechte gewinnt Wahlen

Fabian Johan, Infomail 1244, 7. Februar 2024

Bei den jüngsten Wahlen in den Niederlanden am 22. November 2023 erhielt die rechtsextreme Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders 2.450.878 Stimmen und bekam 37 Sitze im 150-köpfigen Parlament. Für viele war dies eine Überraschung, da die bürgerlichen Medien und Umfragen einen Sieg der Mitte-Rechts-Parteien NSC (Nieuw Sociaal Contract; Neuer Gesellschaftsvertrag) und VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie; Volkspartei für Freiheit und Demokratie) vorausgesagt hatten. Auch wenn diese beiden Parteien viele Sitze errungen haben (20 für die NSC und 24 für die VVD), ist dies das erste Mal, dass eine rechtsextreme Partei die niederländischen Wahlen gewonnen hat. Was bedeutet dieses Wahlergebnis für den Klassenkampf in den Niederlanden und Europa? Wie ist es dazu gekommen und wie sollten Revolutionär:innen darauf reagieren? Wie sollten wir die kommende Periode angehen und wie können sich die arbeitenden Menschen in den Niederlanden gegen die kommende Regierung wehren?

Wie haben die Rechtsextremen die Wahlen gewonnen?

Dreizehn Jahre Regierungszeit des Ministerpräsidenten Mark Rutte und der VVD haben zu einer sehr unsicheren Situation für die Mehrheit der arbeitenden Menschen in den Niederlanden geführt. Rutte verkaufte riesige Mengen an öffentlichem Wohnungsbestand an Immobilienunternehmen, was zu extrem teuren Mieten und einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum führte. Seit Ruttes Amtsantritt im Jahr 2010 sind die Gesundheitskosten für die arbeitende Bevölkerung in den Niederlanden jedes Jahr gestiegen, es wurde weniger in Kultur und Freizeit investiert, und der Arbeitsmarkt ist sehr instabil. Die Beschäftigten in den Niederlanden sind an schlecht bezahlte, flexible Verträge gewöhnt, die keine Arbeitsplatzsicherheit bieten. Das Sozialversicherungssystem wurde vollständig abgebaut, und diejenigen, die Leistungen beantragen, werden wie Kriminelle behandelt. Jemand, die/der eine „bijstandsuitkering“ (Beistandszuwendung; ähnlich wie Universal Credit im Vereinigten Königreich) beantragt, muss sich regelmäßig mit seinem/r Fallmanager:in treffen, jede noch so schlechte Arbeit annehmen, die ihm/r angeboten wird, und sogar umsonst arbeiten, wenn die Gemeinde es verlangt. Rutte hat auch Studiengebühren eingeführt, die das Studium sehr teuer machen und viele Student:innen mit hohen Schulden zurücklassen. Ruttes VVD brachte den organisierten Krieg gegen die Arbeiter:innenklasse durch eine neoliberale Umgestaltung des Staates zum Ausdruck.

Bei den Wahlen kämpften die Parteien vor allem um die Themen Migration, soziale Sicherheit, Wohnungsbau und Transparenz der Regierung. Die vorgezogenen Wahlen waren das Ergebnis des Scheiterns der von der VVD dominierten Koalition, die aufgrund großer Differenzen über die Einwanderungspolitik zerbrach. Mark Rutte und die VVD befürworteten einen zweistufigen Ansatz für Asylbewerber:innen, der sie in zwei Kategorien einteilte: diejenigen, die vor einem Krieg, und diejenigen, die aufgrund von Diskriminierung oder Unterdrückung fliehen. Erstere sollten ihre Aufenthaltsgenehmigung verlieren, sobald sich die Lage in ihrem Land verbessert, während Letztere weiterhin in den Niederlanden leben dürften. Darüber hinaus befürwortete die VVD einen strengeren Umgang mit der Familienzusammenführung und plädierte für ein Quotensystem, das die monatliche Aufnahme von Flüchtlingsfamilien begrenzen würde. Die anderen Parteien in der Koalition, wie D66 (Democraten 66) und CU (ChristenUnie; ChristenUnion), waren gegen eine solch harte Einwanderungspolitik, lösten die Regierung auf und es kam zu Neuwahlen.

Geschwächte Arbeiter:innenbewegung

Ein wichtiger Grund für den Wahlsieg der PVV war die geschwächte Gewerkschaftsbewegung. In den Niederlanden sind nur 16 % der Erwerbstätigen Mitglied einer Gewerkschaft, und sie sind nur in einigen wenigen großen Branchen wie dem Bildungswesen, dem Transportwesen und der Logistik gut organisiert. Die bedeutendste Gewerkschaft, die FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging; Niederländischer Gewerkschaftsbund), führt zwar regelmäßig Streiks im Verkehrssektor durch und konnte bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder durchsetzen. Die Gewerkschaft ist jedoch sehr bürokratisch organisiert. Obwohl sie soziale Veranstaltungen für ihre Mitglieder, eine jährliche Maiaktion und Konferenzen zu wichtigen Themen organisiert, unternimmt die FNV keine nennenswerten Anstrengungen, um die Organisation der Basis zu stärken. Es gibt keine regelmäßigen Gewerkschaftssitzungen, auf denen die Mitglieder ihre Anliegen vorbringen, die Gewerkschaftspolitik beeinflussen und eine aktive Rolle in der Gewerkschaft spielen können. Stattdessen liegt die Macht der Organisation zentral in den Händen von Kadern, die alle wichtigen Entscheidungen treffen und die Gewerkschaft leiten. Sie reichen von Berater:innen in den Gewerkschaftshäusern, die die Mitglieder rechtlich beraten, über Organisator:innen, die neue Mitglieder anwerben, bis hin zu Streikunterhändler:innen.

Bei Streiks gibt es nur selten eine Streikpostenkette. Stattdessen werden die Mitglieder lediglich gebeten, zu Hause zu bleiben. Wenn Eisenbahner:innen streiken, versucht die Gewerkschaft nicht, die lohnabhängigen Nutzer:innen einzubeziehen, um zu erklären, warum gestreikt wird, und Solidaritätsausschüsse zu organisieren. Außerdem entscheiden oft die Gewerkschaftsbürokrat:innen darüber, wann gestreikt wird, und nicht die Beschäftigten. Dies hat zur Folge, dass viele Menschen in den Niederlanden die Streiks als lästig empfinden und den Arbeiter:innen gegenüber feindselig eingestellt sind. Eine solche bürokratische Organisation hat dazu geführt, dass die arbeitenden Menschen in den Niederlanden keine starke Gewerkschaft haben, über die sie für ihre Interessen jenseits der unmittelbaren wirtschaftlichen und sektoralen Fragen kämpfen können. Obwohl sich Schichten aktiver Gewerkschaftsmitglieder an politischen Aktionen oder internationaler Solidarität beteiligen, gibt es nur sehr wenige politische Massenkampagnen und Aktivitäten der Gewerkschaften und kaum Streiks oder andere Aktionen, die über wirtschaftliche Fragen hinausgehen. Da sie keinen Nutzen in einer Gewerkschaft sehen, haben sich viele Lohnabhängige in den Niederlanden rechtsextremen Parteien zugewandt. Andere gehen überhaupt nicht wählen, weil sie sich völlig machtlos fühlen und zynisch werden.

Neben einer sehr schwachen Gewerkschaftsbewegung ist auch die niederländische Linke im Laufe der Jahre deutlich geschrumpft. Wie in vielen vom Reformismus beherrschten Arbeiter:innenklassen ist auch in der niederländischen Arbeiter:innenbewegung der Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen historisch gesehen die Domäne der Gewerkschaften, die den politischen Kampf – der seinerseits auf Wahlen ausgerichtet ist – den reformistischen Parteien überlassen. Mit dem Niedergang und der Rechtsverschiebung der Sozialdemokratie und der eher linksgerichteten Sozialistischen Partei ist die Arbeiter:innenklasse auf dem Gebiet der Politik massiv ins Hintertreffen geraten.

Sozialistische Partei

So wie die Gewerkschaften nur in einigen wenigen Sektoren organisiert sind, ist die Sozialistische Partei (SP) nur in einigen wenigen Städten populär. Nachdem sie in den 2000er Jahren gewachsen war und bei den Wahlen 2006 26 Sitze errungen hatte, wandte sich die SP zunehmend gegen den Marxismus und versuchte, sich als gemäßigte, sozialdemokratische Partei zu präsentieren. Zwischen 2015 und 2020 gab es eine linke Opposition in der SP, die von der der CPGB-PCC (Kommunistische Partei Großbritanniens-Provisorisches Zentralkomitee) angeschlossenen Kommunistischen Plattform (KP) angeführt wurde. Die KP betätigte sich in tiefem, strategischen Entrismus in dem Glauben, dass sie die SP durch Radikalisierung umgestalten könnte. Sie übernahm den Vorsitz in vielen Ortsverbänden der SP und hatte Mitglieder, die in die Führung der SP-Jugendorganisation ROOD (Dtsch.: ROT) gewählt wurden.

Unter dem Namen „Marxistisches Forum“ organisierten die KP-Mitglieder interne Diskussionen über marxistische Theorie und waren recht erfolgreich bei der Kontaktaufnahme mit jungen, linken SP-Mitgliedern. Auf der jährlichen SP-Konferenz stellte die KP Anträge und argumentierte für ihre Standpunkte. Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass sie einige ernsthafte Probleme in der Sozialistischen Partei ansprachen, wie Islamophobie, migrant:innenfeindliche Einstellungen und Nationalismus. Außerdem sprachen sie sich gegen die Beteiligung an einer Koalition mit einer der bürgerlichen Parteien aus und versuchten, auf einigen Kampagnen der SP aufzubauen, z. B. der Organisierung von Mieter:innengewerkschaften.

Im Jahr 2020 griff die SP-Führung die Mitglieder der Kommunistischen Plattform mit den übelsten antikommunistischen und bürokratischen Methoden an. Anfänglich schloss die SP-Führung nur KP-Mitglieder und Teilnehmer:innen des Marxistischen Forums aus. Als jedoch ein KP-Mitglied in die Führung von ROOD gewählt wurde, lösten die SP-Bürokrat:innen ROOD auf und gründeten eine neue Jugendorganisation namens Junge in der SP. Auch die niederländische Sektion des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale (Grenzeloos; Grenzenlos, Zeitung der Socialistische Alternatieve Politiek, Sozialistische Alternative Politik, SAP, Sektion der IV. Internationale) hatte einige Mitglieder in der SP, die bei den Kommunalwahlen kandidierten und bei den Mitgliedern beliebt waren. Die SP-Führung schloss auch sie aus, ebenso wie jede/n, der/die auch nur am Rande mit der KP in Verbindung gebracht wurde. Nachdem der gesamte linke Flügel der Sozialistischen Partei gesäubert worden war, verlor die SP an Popularität und Tausende ihrer engagiertesten Aktivist:innen.

Die aus der SP ausgeschlossenen Linken bildeten rasch eine neue Gruppe, die sich Sozialist:innen nannte und einem ähnlichen Modell wie die brasilianische PSOL (Partido Socialismo e Liberdade; Partei für Freiheit und Sozialismus) folgte. ROOD arbeitete weiterhin als sozialistische Jugendorganisation, organisierte gelegentlich marxistische Seminare und nahm an Demonstrationen teil. Leider sind weder die Sozialist:innen noch ROOD effektive Organisationen. Ihr Ausschluss aus der SP hat dazu geführt, dass sie sehr nach innen gerichtet sind und sich nicht wirklich mit der Arbeiter:innenklasse und den Volksmassen auseinandersetzen können. Sie haben zwei Kongresse abgehalten, aus denen einige programmatische Dokumente und eine Verfassung hervorgingen, aber kein wirkliches Publikum für ihre Politik, außer sich selbst. Diejenigen, die sich nicht den Sozialist:innen anschlossen, traten der BIJ1 (niederländisches Kürzel für Bijeen; Zusammen) bei, einer kleinbürgerlichen radikalen Partei, die sich vor allem für den Kampf gegen Rassismus und trans Rechte einsetzt. Das Programm von BIJ1 enthält zwar viele fortschrittliche Reformen, doch die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution wird darin nie erwähnt. Ihre theoretische Grundlage bilden Intersektionalität und Postmodernismus, auch wenn sie einige Ideen aus dem Marxismus aufgegriffen hat. Jeder persönliche Konflikt in BIJ1 führt zu einer Krise, und es gab regelmäßig Vorwürfe über ein toxisches Umfeld. Bei den Wahlen im November büßte BIJ1 ihren einzigen Parlamentssitz ein und hat seitdem an Bedeutung verloren.

In Ermangelung einer starken Linken und einer geschwächten Gewerkschaftsbewegung verfügte die Arbeiter:innenklasse weder über eine Führung noch ein Mittel, um sich zu wehren. Viele Werktätige, die für die PVV stimmten, verstanden, dass Rutte und die VVD Teil des Problems waren. Sie spürten es in ihrem Portemonnaie, sahen es in ihren Renten und erlebten während der vier Kabinette Ruttes eine deutlich geringere Lebensqualität. Leider hatte die Mehrheit der arbeitenden Menschen keine Gewerkschaft, die gegen die Sparmaßnahmen ankämpfte, und auch keine sozialistische Bewegung, die ihnen die Ursachen ihrer Probleme erklären konnte. Da sie weder der VVD noch einer der Parteien der Mitte (NSC, D66 usw.) vertrauten, wandten sich viele an Geert Wilders, der versprach, sofort zu handeln und ihre Situation zu verbessern.

Rassistische Wahlkampagnen

In den Debatten vor den Wahlen und über die Programme der bürgerlichen Parteien machten die rechtsextremen Parteien die Migrant:innen für alle von Rutte und der VVD verursachten Probleme verantwortlich. Sie nutzten das fremdenfeindliche Klima, um Arbeitsmigrant:innen, Asylbewerber:innen, internationale Student:innen und sogar Staatenlose für die Wohnungskrise verantwortlich zu machen. Parteien wie die PVV, die FvD (Forum voor Democratie; Forum für Demokratie) und der BBB (BoerBurgerBeweging; Bauer-Bürger-Bewegung) argumentierten, dass die Niederländer:innen keinen bezahlbaren Wohnraum finden, weil alle bezahlbaren Wohnungen von Migrant:innen besetzt sind. Sogar das Wahlbündnis aus Grünen und Arbeiter:innenpartei (GroenLinks-PvdA), das auch eine gemeinsame Fraktion in der Ersten und Zweiten Kammer der Generalstaaten (niederländisches Parlament) bildet, sprang auf den Zug auf. Obwohl sie keine so harte Haltung gegenüber Migrant:innen einnehmen, haben sie es wie die übrigen Parteien versäumt, den Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Kontext neoliberaler Reformen zu stellen.

Die einzige Partei, die dies tat, war die Sozialistische Partei (SP), die immer wieder darauf hinwies, dass die Wohnungsknappheit das Ergebnis von 13 Jahren Rutte sei, die zu einer massiven Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus geführt hätten. Anstatt Migrant:innen für die Wohnungskrise verantwortlich zu machen, plädierte die SP für einen massiven sozialen Investitionsplan, um den öffentlichen Wohnungsbau auszubauen, Mietkontrollen auf dem privaten Wohnungsmarkt einzuführen und bezahlbaren Wohnraum für alle zu gewährleisten. Leider hat die SP nur eine sehr schwache Unterstützungsbasis und ist nur in einigen wenigen Teilen des Landes sowie bei Gewerkschaftsmitgliedern und progressiven Aktivist:innen beliebt.

Weitere Themen, die häufig genannt wurden, waren bessere Arbeitsplätze, Renten und soziale Sicherheit. Genau wie beim Wohnungsbau argumentierten rechte Parteien wie die PVV, die VVD und die BBB, dass Migrant:innen alle Arbeitsplätze besetzen und es notwendig ist, die Migration zu begrenzen, um den Niederländer:innen eine sicherere Existenz zu gewährleisten. Wilders behauptete, dass seine Partei durch die Begrenzung der Zuwanderung das Rentenalter der Niederländer:innen senken, den Mindestlohn anheben und die soziale Sicherheit erhöhen würde. Keine der rechtsbürgerlichen Parteien hat gezeigt, dass die wirkliche Ursache für niedrige Löhne, teure Bildung und Gesundheitsversorgung, die Zerstörung des Sozialstaats und eine unsichere Existenz das Ergebnis des Neoliberalismus ist. 

Die Partei der Arbeit (PvdA) versprach zwar, Bildung wieder erschwinglich zu machen, die Gesundheitskosten zu senken und den Mindestlohn auf 16 Euro pro Stunde zu erhöhen, kritisierte aber nie öffentlich die Rolle, die sie bei der Umsetzung der schlimmsten Elemente von Ruttes Neoliberalismus spielte. Während Ruttes zweitem Kabinett war die PvdA in einer Koalition mit der VVD und besetzte viele Minister:innenposten. Als enge Verbündete der niederländischen Bourgeoisie trug die PvdA-Minister:innenriege zur Umsetzung der Sparpolitik bei, stimmte für die von der VVD vorgeschlagenen neoliberalen Reformen, stellte sich gegen die Gewerkschaften und verriet ihre Arbeiter:innenbasis vollständig. Aus diesem Grund haben viele Arbeiter:innen in den Niederlanden das Vertrauen in die PvdA verloren und suchten bei den letzten Wahlen bei den rechten Parteien nach Antworten.

Eine Rechts- oder eine Mitte-Links-Regierung?

Obwohl die PVV 37 Parlamentssitze gewonnen hat, stellt Wilders fest, dass die Bildung einer Koalition keine leichte Aufgabe sein wird. Nach seinem Wahlsieg wurde dem Parteiführer schnell klar, dass er nur mit Unterstützung der VVD und des NSC eine Regierung bilden kann. Ob diese gelingt steht in den Sternen, nachdem die NCS die Koalitionsverhandlungen verlassen hat.

Um die Unterstützung von NSC und vor allem der VVD zu erhalten, müsste Wilders einige der wichtigsten Versprechen, die er den PVV-Wähler:innen gemacht hatte, opfern. Obwohl sich VVD und NSC für eine strenge Migrationspolitik einsetzen, werden sie sich nicht an einer Koalition beteiligen, die die Grenzen schließt und Tausende von Flüchtlingen abschiebt. Außerdem will die VVD das Renteneintrittsalter auf 69 Jahre anheben und wird keiner Koalition beitreten, die sich nicht dafür einsetzt. Wilders müsste also diejenigen verraten, die ihn als Verfechter ihrer Renten wahrgenommen haben. Die VVD ist einer der eifrigsten Verteidigerinnen des ukrainischen Regierungschefs Selenskyj und liefert Waffen an die ukrainische Armee, was im Widerspruch zu Wilders‘ prorussischer Haltung und seiner Forderung nach einer geringeren Unterstützung für die Ukraine steht.

Dies offenbart eine grundlegende Tatsache: Die VVD bleibt, obwohl sie weniger Sitze als zuvor hat, das politische Instrument, mit dem die niederländische Bourgeoisie den kapitalistischen Staat regiert. Sie nutzt alle Täuschungen und Manipulationen der bürgerlichen Demokratie, um ein rechtes Kabinett mit der PVV zu organisieren. Die VVD hat nach wie vor das Sagen und ist in der Lage, die Zusammensetzung der nächsten Regierung zu bestimmen. Obwohl die PVV eine bürgerliche Partei ist und sich voll und ganz dem Kapitalismus verschrieben hat, wird sie nur von einzelnen Teilen der niederländischen Bourgeoisie unterstützt. Die VVD hat einen Rechtsruck vollzogen, weil die geschwächte Gewerkschaftsbewegung und eine desorganisierte Linke viele Werktätige (und viele Teile des Kleinbürger:innentums) nach rechts gedrängt haben.

Bei den Gesprächen zur Kabinettsbildung kündigte Wilders an, dass er bereit sei, bei den meisten seiner Versprechen Kompromisse einzugehen, z. B. bei der Schließung der Grenzen, der Abschiebung von Zuwandernden, der Senkung des Rentenalters und der Gesundheitskosten. Daher wird die PVV trotz ihrer 37 Sitze ihr Programm so anpassen müssen, dass es mit der VVD und der NSC übereinstimmt. Ein Kabinett, das sich aus PVV, VVD und NSC zusammensetzt oder eine Minderheitsregierung, die von VVD und NSC geduldet wird, wird sicherlich rechter und rassistischer sein als alle anderen, aber es stellt keine grundlegend neue Situation dar. Die Hauptleidtragenden werden die Asylbewerber:innen sein, denn die kommende Regierung wird die 

Einrichtungen nicht verbessern, die Familienzusammenführung von Flüchtlingen erschweren und ein schwierigeres Umfeld für sie schaffen. Da sie die neoliberalen Sparmaßnahmen von Rutte fortsetzen wird, kann sie die Krise nicht lösen. Daher wird sie wahrscheinlich instabil und unpopulär sein und ein Umfeld mit verschärften Kämpfen schaffen.

Faschismus?

Einige haben behauptet, der Sieg der PVV und anderer rechter Parteien bedeute, dass in den Niederlanden eine faschistische Gefahr bestehe. Aber im Allgemeinen kommt ein faschistisches Regime nur als Ergebnis einer langen Periode an die Macht, die durch eine intensive Krise und eine Verschärfung des Klassenkampfes gekennzeichnet ist, eine Situation, in der die herrschende Klasse darauf zurückgreifen muss, die politische Exekutive an Parteien zu übergeben, die ihren Ursprung in einer faschistischen Massenbewegung haben, einer Bewegung von wütenden Kleinbürger:innen, die als militarisierte Kraft (mit Milizen, Banden) eingesetzt wurden, um die Arbeiter:innenbewegung, ihre Gewerkschaften und politischen Parteien, seien sie revolutionär oder reformistisch, zu zerschlagen.

In den Niederlanden haben weder politische noch wirtschaftliche Krise solche Siedepunkte erreicht. Das heißt jedoch nicht, dass die kommenden Jahre nicht doch zu einer Formierung größerer faschistischer Organisationen – außerhalb oder innerhalb der PVV – führen könnten. Bereits jetzt fühlt das Kleinbürger:innentum die Auswirkungen der Wirtschaftskrise am schmerzhaftesten. Faschismus beginnt in den kleinbürgerlichen, unorganisierten proletarischen und Sektoren der kapitalistischen Klasse, die eine Massenbewegung mit arbeiter:innenfeindlichen reaktionären Forderungen und Antikommunismus erzeugen. Mit extremem Rassismus, Nationalismus rufen faschistische Bewegungen nach einem starken Nationalstaat, gewöhnlich mit einem/r Führer:in im Mittelpunkt, und verteufeln eine bestimmte Gruppe für die Probleme, die der Kapitalismus verursacht. Wenn die fortdauernde Existenz des Kapitalismus in ernsthafte Gefahr gerät, unterstützt die Bourgeoisie faschistische Bewegungen, um die Arbeiter:innenorganisationen komplett zu zerschlagen. Eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen wird dann zum Schlüssel zur Bekämpfung des Faschismus und zur Umwandlung in einen Kampf für den Sozialismus.

Die Bedingungen für den Faschismus sind in den Niederlanden (noch) nicht vorhanden, und der Sieg von Geert Wilders’ PVV wird nicht zu einer faschistischen Regierung führen, wenngleich er ein rechter rassistischer Politiker ist. Damit sollen nicht die gegenwärtigen Gefahren heruntergespielt werden. Die PVV wird fraglos von faschistischen Ideen beeinflusst und teilt einige Forderungen des Rechtspopulismus und Faschismus wie den Ruf nach Abschiebung aller Syrer:innen aus den Niederlanden, die Opposition gegen „die Elite“ sowie den extremen Nationalismus.

Anders als der Faschismus haben die PVV und andere rechte bürgerliche niederländische Parteien nicht zu außerparlamentarischen Kampf- und Organisationsmitteln gegriffen. Sie wollen vielmehr einer noch rechteren, reaktionären und autoritären Regierungsform im Rahmen der niederländischen bürgerlichen Herrschaft den Weg ebnen. Trotz Hochinflation und Wirtschaftskrise nach der Pandemie muss die herrschende Klasse der Niederlande keine Bedrohung durch soziale Unruhen oder die Arbeiter:innenbewegung befürchten. Sie hat die Situation sogar noch zur Rechtfertigung von Sozialabbau und Stärkung ihrer Position genutzt. Wilders’ Erfolg wird also nicht mehr als Melonis Italien zu einem faschistischen Staat führen.

Was tun?

Das heißt wiederum nicht, dass wir nicht faschistische Ideen, die sich regelmäßig in rechten Parteien breitmachen, wie den Identitarismus, die Theorie des „großen Bevölkerungsaustauschs“ oder den weißen Nationalismus denunzieren sollen. Rassismus und Nationalchauvinismus sind extrem schädlich für die Arbeiter:innenklasse, und Kommunist:innen haben die Pflicht, dieses Gift, wo es auch auftritt, auszumerzen. Kapitalist:innen verbreiten Rassismus, um die Arbeiter:innenklasse zu spalten und die eigene Macht zu stärken. Durch Gegenüberstellung von weißen niederländischen Arbeiter:innen mit Arbeitskräften anderer Herkunft – Syrien, Türkei, Marokko, Polen oder Ukraine – lähmt die niederländische Kapitalist:innenklasse die Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse. Der Rassismus von PVV und ihren verbündeten Parteien ermöglichte der niederländischen Bourgeoisie, von den wahren Ursachen der Krise im Land abzulenken und die Schuld dafür den Einwandernden aufzubürden.

Obwohl die PVV für die herrschende Klasse nicht die erste Wahl unter den politischen Parteien darstellt, hält sie die Kapitalist:innenklasse an der Macht, bar jeder wirklichen Opposition. Deswegen ist es grundlegend, dass wir eine klare Kante gegen Rassismus und verderbliche Spaltungen, die er in der Arbeiter:innenklasse hervorruft, zeigen. Unsere Losung sollte lauten: „Schwarz, braun, asiatisch, weiß, Zusammenschluss aller Arbeiter:innen!“ und unter dieser gilt es, einen harten Kampf gegen die rassistische, chauvinistische Politik der kommenden Regierung führen.

Für eine starke Arbeiter:innenbewegung in den Niederlanden!

Gegen Rassismus, Nationalchauvinismus und alle zersetzenden Ideologien, die die Arbeiter:innenklasse spalten!

Aufbau militanter Basisgewerkschaften als Instrument zur Gegenwehr gegen die kommende Regierung!

Für einen sozialistischen niederländischen Staat als Teil der Vereinigten Sozialistischen Föderation von Europa!




Partei Bündnis Sahra Wagenknecht: Demokratie nur für die anderen

Susanne Kühn, Neue Internationale 280, Februar 2024

Die offizielle Gründung der Wagenknecht-Partei brachte wenig Neues. Floskeln wie eine „verantwortungsvolle Politik, die Wohlstand, sozialen Ausgleich und Frieden fördert“ und, bei Erfolg eine „bessere Regierung“ zu sein, sind schon seit dem 23. Oktober bekannt – der Tag an dem das Programm veröffentlicht wurde.

In unserer Sondernummer zur Krise der Linkspartei haben wir das Programm einer ausführlicheren Kritik unterzogen. Die Mischung aus „vernünftiger Wirtschaftspolitik“, die das Wunder verspricht, Lohnabhängigen wie Unternehmer:innen zu nutzen, soll nicht nur Wohlstand bringen, sondern auch Deutschland vor der angeblich drohenden Deindustrialisierung retten. Ansonsten will man Frieden, mehr Demokratie und Wohlstand – allerdings könne das nicht funktionieren, wenn „zu viele“ in Deutschland leben, also müsse die Migration strikt begrenzt werden.

Links ist an der populistischen Mischung nichts. Und auf der Pressekonferenz zur Parteigründung erklärte Wagenknecht für alle, die es nicht ohnedies schon wussten, dass DIE LINKE eh nur noch für „skurrile Minderheiten“ stünde, so dass der Begriff links für ihre Partei fortan nicht verwendet würde. Man kann nur hoffen, dass sie dieses Versprechen hält.

Team Sahra

Statt also inhaltlich in die Tiefe zu gehen, wurden bei der Gründung Vorstand und Spitzenkandidat:innen zur Europawahl, die von 44 handverlesenen Mitgliedern gewählt wurden, präsentiert. Im sechsköpfigen Vorstand, der am 23. Oktober noch erweitert wurde, befinden sich zum einen vier ehemalige Funktionär:innen der Linkspartei, zum anderen zwei Mitglieder aus dem unternehmerischen Lager (Ralph Suikat, Shervin Haghsheno). Allein das macht schon die Ausrichtung der Partei deutlich: nicht auf die Arbeiter:innenklasse, sondern auf den „innovativen“ unternehmerischen Mittelstand zu setzen, diese Speerspitze des „Volkes“. Und dass, obwohl Wagenknecht während ihrer Linksparteizeit nie müde wurde zu kritisieren, dass man das Interesse „der kleinen Leute“ aus den Augen verloren hätte.

Spitzenkandidaten für die Europawahlen wurden Fabio De Masi, ehemaliger Abgeordneter und langjähriger Wagenknecht-Vertrauter, und Thomas Geisel, ehemaliger SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf und überzeugter Anhänger von Gerhard Schröder und Hartz IV. In seinem Austrittsschreiben aus der SPD fordert er die „Ablösung“ des „individuellen Grundrechts auf Asyl“, weil das einen „Freifahrtschein“ für ungezügelte Migration bedeuten würde. Die SPD und die Ampel-Koalition würden sich dieser angeblichen Realität verweigern, während die BSW Deutschland retten und endlich wieder „Leistungsgerechtigkeit“ herstellen würde, statt Menschen vor allem aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sexueller Orientierung zu fördern! Die Schilderungen – nicht nur des Spitzenkandidaten – erlauben einen Blick in den politischen Abgrund, für den BSW steht.

Festung BSW

Das eigentliche Parteiprogramm soll bis 2025 nachgereicht werden, ausgearbeitet von einer „Expert:innenkommission“. Diese bestimmt der Vorstand, der innere „Kern“ der Bewegung und im Zweifel der Kern des Kerns, Sahra Wagenknecht. Natürlich wollen die Initiator:innen auch eine Partei aufbauen. Damit sich „Wirrköpfe“, „Trittbrettfahrer:innen“ oder Menschen, die noch immer meinen, die Partei Wagenknecht wäre links, fortschrittlich oder gar antikapitalistisch, erst gar nicht in den Laden „verirren“, soll die zukünftige Mitgliedschaft sorgfältig ausgewählt und überprüft werden.

Wer sich gestern noch über die „Verengung des Meinungskorridors“ in der Linkspartei beschwerte, will nun erst gar keinen zulassen. Natürlich nur, um die Vernunft der Partei zu wahren.

„Wir wollen langsam und kontrolliert wachsen, um das Projekt nicht zu gefährden“, heißt es auf der Homepage und auch die veröffentlichen Statuten zeigen: Mehr Demokratie und Meinungsfreiheit mag zwar gefordert werden, für die eigene Struktur gilt das aber nicht unbedingt. Dabei besteht das Problem nicht darin, dass wie in „§ 7 Rechte und Pflichten der Mitglieder“ Mitglieder dazu verpflichtet sind, „sich an der politischen und organisatorischen Arbeit der Partei zu beteiligen“, oder es einen Überprüfungszeitraum von einem Jahr gibt für Leute, die eintreten wollen (§ 4 Aufnahme der Mitglieder). Die Probleme sind vielmehr die mangelnden demokratischen Rechte der handverlesenen Mitglieder, die es ins BSW geschafft haben, den Parteivorstand zu kontrollieren. Dieser muss weder Rechenschaftsberichte vorlegen noch seine Entscheidungen großartig begründen – während die Landes- und Kreisverbände dies gegenüber dem Vorstand tun müssen. Der Parteitag muss alle 2 Jahre zusammenkommen und ist das höchste Gremium (§ 10 Parteitag) – die Möglichkeit, einen Notparteitag einzuberufen, falls man mit der Arbeit des Vorstands nicht zufrieden ist, wird natürlich nicht eingeräumt.

Diese Einbahnstraße der Demokratie wird auch bei der Aufnahme von Mitgliedern ersichtlich. Im Überprüfungszeitraum von einem Jahr, bis man die Vollmitgliedschaft bekommt, kann jedes BSW-Mitglied Einspruch erheben und der Vorstand der Gliederung – oder Parteivorstand höchstpersönlich – überprüft das dann. Da die Ablehnung eines Mitgliedsantrags keiner Begründung bedarf, ist so auf jeden Fall sichergestellt, dass niemand mit „falscher“ Gesinnung eintritt. Statt also ein inhaltliches Programm zur Basis der Entscheidung zu machen, muss man wissen, wie man den Vorständen gefällt. Im Klartext: Die BSW will keine Wiederholung des Aufstehen-Projektes, das lt. Wagenknecht und De Masi an zu viel Offenheit zugrunde gegangen wäre, weil es zu viele „nicht-konstruktive“ Mitglieder gegeben hätte, die dort ihr eigenes Süppchen gekocht hätten. Daher soll es kontrollierte Aufnahmen geben – und die Sicherung der Vorstandsposition ist nun auch gewährleistet.

Und „Was tun“?

Bis zum 27. Januar werden  450 Menschen hinsichtlich ihrer Eignung als Mitglied überprüft. Dabei wird wahrscheinlich auch so manche/r aus der Linkspartei auf der Strecke bleiben, die/der sich eigentlich der neuen Partei anschließen wollte. Dazu gehören die Mitglieder und Anhänger:innen des „Was Tun“-Netzwerkes. Diese linken Mitglieder der Linkspartei erhofften sich letztes Jahr, dass mit der Wagenknecht-Partei eine Formation entstehen würde, in der sie für „eine antimilitaristische, antiimperialistische und an den gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse orientierten Politik“ kämpfen könnten.

Eine Hoffnung, die schnell begraben werden kann. Unter den ersten 450 dürften sich jedenfalls nur wenige aus dem „Was Tun“-Netzwerk befinden. Denn auch wenn das politische Verständnis dieser Strömung stark vom stalinistischen Reformismus geprägt ist, so unterscheidet es sich von Wagenknecht. Auf ihrer letzten bundesweiten Konferenz im Dezember 2023 wurde die BSW zwar einerseits gefeiert, andererseits machte sich auch Skepsis breit. Jede Erwähnung des Wortes Sozialismus fehle und die Position zur Migration hätte einen „falschen Zungenschlag“ (was selbst schon eine extreme Beschönigung der sozialchauvinistischen, ja oft direkt rassistischen Forderungen und Äußerungen der BSW darstellt).

Dass solche Kritiker:innen nicht gerne in der neuen Partei gesehen werden, dämmerte auch einigen Kongressteilnehmer:innen, die sich in ihrer Verzweiflung sogar für einen Verbleib in der LINKEN aussprachen, weil man diese eher „übernehmen“ könne, falls das neue Projekt auch scheitere.

Gescheitert sind schon jetzt alle, immer schon illusorischen Hoffnungen auf eine „linke“ BSW. Dass Wagenknecht und Co. für ihr Projekt keine „Spinner:innen“ mit „unkonstruktiven Beiträgen“ und abschreckenden Forderungen brauchen, dass dort keine Debatten über Programm, Inhalt und Ziel der Partei gewünscht sind, sollte nicht weiter verwundern. Es entspricht einem Projekt, an dessen bürgerlichem, populistischen Charakter Wagenknecht nie einen Zweifel gelassen hatte.




8. – 12. Januar: Bauernproteste legen Land lahm

Susanne Kühn, Infomail 1241, 8. Januar 2024

Vom 8. – 12. Januar werden Tausende Bauern und Bäuerinnen mit Fahrtkolonnen, Sternfahrten zu größeren Städten und Blockaden von Autobahnzufahrten und zentralen Verkehrsknoten immer wieder Teile des Landes lahmlegen. Am 15. Januar schließt die Aktionswoche mit einer zentralen Kundgebung in Berlin, um der Ampel den Marsch zu blasen.

Den unmittelbaren Auslöser für die Proteste bildete die geplante Streichung der Subventionen beim Agrardiesel und der KfZ-Steuerbefreiung für die Landwirtschaft. Diese belaufen sich für das Jahr 2024 auf insgesamt ca. 440 bzw. 485 Millionen Euro. Für einen durchschnittlichen Betrieb würde sich die Streichung der Vergünstigungen auf 4.000 – 5.000 Euro pro Jahr belaufen bei einem durchschnittlichen Jahresgewinn von 82.000 Euro im Wirtschaftsjahr 2021/22 bzw. 115.400 Euro im Jahr 2022/23.

Damit steht sicherlich nicht „die Landwirtschaft“ auf der Kippe, wohl aber würden die Streichungen vor allem die kleineren und mittleren Betriebe treffen, da sich hinter diesem statistischen Durchschnitt ernorme Unterschiede verbergen. Natürlich machen die kleineren Betriebe weniger Gewinn, verfügen über weniger Reserven und verbrauchen mehr Sprit im Verhältnis zu ihrer Agrarfläche. Für diese landwirtschaftlichen Unternehmen stellt die Streichung der Subventionen eine erhebliche Einkommenseinsbuße dar – zumal die Steigerung der Durchschnittsgewinne landwirtschaftlicher Unternehmen in den letzten Jahren selbst Resultat eines dauerhaften Zentralisations- und Konzentrationsprozesses ist. Gab es im Jahr 2000 noch 440.000 Unternehmen im Agrarsektor, so waren es 2020 noch 260.000.

Zweifellos ist die Empörung und Wut der kleineren und mittleren Landwirt:innen über die Streichungen und die dazukommende schrittweise Abschaffung der Subventionen für den KfZ-Diesel nachvollziehbar und berechtigt. Diese kleinbürgerliche Schicht wird längst ökonomisch von einem immer unhaltbareren Agrarsystem an den Rand gedrückt, da vor allem die Interessen der großen Betriebe, vor allem aber der Agrarindustrie und Handelskonzerne im globalen Wettbewerb bedient werden. Zugleich sollte auch niemand die Protestaktionen idealisieren. Geführt werden sie von den großen Wirtschaften, die auch den Bauernverband dominieren, politisch eng an CDU/CSU hängen und an einem auf Subventionen basierenden aberwitzigen Agrarsystem. Diese sind eng verbunden mit direkten Kapitalinteressen und einer über Jahrzehnte etablierten Agrarpolitik, die die Konkurrenzfähigkeit der deutschen und europäischen Agrarproduktion sichert und für relativ günstige Preise in Supermärkten sorgt, die letztlich wiederum durch Massensteuern finanziert werden.

In den letzten Wochen ging der Bauernverband zudem ein enges Bündnis mit dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), der einen großen Teil des Transportgewerbes vertritt, ein. Die Aktionswoche vom 8. – 12. Januar wird von beiden Verbänden durchgeführt. Während der Bauernverband weiter die Streichung aller Subventionskürzungen will, fordern die Transportunternehmen „Geld für intakte Straßen und Brücken, Lkw-Stellplätze und verlässliche Förderprogramme für einen klimafreundlichen Straßengüterverkehr“.

Am rechten Rand der Proteste machen sich zudem Verbände wie die sog. „Freien Bauern“ und andere reaktionäre kleinbürgerliche Standesvereinigungen breit. Die AfD und auch Nazi-Organisationen wie die Freien Sachsen suchen die Verbindung zu diesem „Volkswiderstand“ und mischen den Ruf nach billigem Diesel mit dem nach noch billigerem Blut und Boden.

Aktionen gehen weiter

Angesichts der Aktionen des Bauernverbandes im Dezember nahm die Ampel-Koalition die Kürzung der KfZ-Steuerbefreiung vollständig zurück. Die Begünstigung für den KfZ-Diesel soll 2024 nur zu 40 % gekürzt und dann schrittweise bis 2026 abgeschafft werden. Das lehnt der Bauernverband ab, der an der Spitze der Proteste steht und bundesweit die weitaus größte Interessenvertretung bildet. Auch wenn die Bundesregierung jammert, dass die geplanten Blockaden und Sternfahrten „unverhältnismäßig“ seien, so sieht der Bauernverband die Chance, sämtliche Forderungen durchzusetzen.

Gemeinsam mit BGL und unterstützt von CDU, CSU und Freien Wählern wollen sie die Ampel-Koalition weiter vor sich hertreiben. Auch wenn der Bauernverband gebetsmühlenartig betont, dass die Proteste „unpolitisch“ wären, so befindet er sich faktisch im Bündnis mit den konservativen Oppositionsparteien.

Diese Kräfte haben (noch) kein Interesse an einem Bündnis mit den rechten Bauernverbänden wie den sog. Freien Bauern oder Teilen von „Landwirtschaft schafft Verbindung“. Daher distanzieren sich der Bauernverband und seine konservativen Verbündeten auch von den rechten Protestaktionen wie der Blockade von Habeck in Schleswig-Holstein, denn schließlich wollen CDU und CSU nicht das System „stürzen“, sondern übernehmen.

Der Bauernverband hofft so, außerdem seine eigene Vormachtstellung unter der Bäuer:innenschaft wieder zu festigen, die in den letzten Jahrzehnten eigentlich schwächer wurde. Phasenweise hatten die Grünen Einfluss gewonnen; die können zurückgedrängt werden. Zugleich machen sich immer wieder auch die inneren Gegensätze unter „den“ Bäuer:innen bemerkbar. Diese reicht schließlich von großen Agrarunternehmen bis hin zu noch relativ kleinen Landwirt:innen, ist also klassenmäßig durchaus heterogen. Darüber hinaus unterminieren auch Interessengegensätze wie z. B. zwischen konventionellen und Öko-Landwirtschaften die „Einheit“ des Verbandes.

Der Angriff auf die Agrarsubventionen dient daher auch als Mittel, eine Einheit herzustellen, die es bei früheren Protesten, z. B. gegen die EU-Glyphosat-Verordnung nicht gab, als Bauern und Bäuerinnen auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden standen. Indirekte Steuern und Agrarsubventionen stellen hingegen traditionell ein Mittel dar, eine Einheit zwischen klassenmäßig heterogenen Kräften wie Kleinunternehmen und Agrarkonzernen herzustellen. Höhere Steuern und Belastungen seien schließlich ein Angriff auf alle Unternehmen. Wie die Subventionen finanziert werden, wird dabei bewusst außen vorgelassen. Dabei liegt gerade hier der Hase im Pfeffer, denn unter den aktuellen Bedingungen müssen diese natürlich aus Steuermitteln finanziert werden – und diese kommen nach Jahrzehnten der Umverteilung der Steuerlast auf die Lohnabhängigen natürlich vor allem von diesen.

Daher müsste eine linke Haltung zu den Forderungen der Landwirt:innen folgendermaßen aussehen: Nein zu den Subventionsstreichungen, da diese tatsächlich die Existenz der kleineren Betriebe bedrohen und massive Einkommenseinbußen bedeuten. Diese Maßnahmen müssten aber durch eine progressive Besteuerung der Unternehmensgewinne – auch im Agrarsektor – finanziert werden. So wäre es möglich, einen Keil zwischen die verschiedenen Schichten der Landwirt:innen zu treiben und die Vormachtstellung der Großbäuer:innen und des Agrarkapitals anzugreifen.

Die Grenzen der kapitalistischen Agrarbranche

Die aktuelle Protestbewegung reflektiert auch eine tiefe Krise des bestehenden landwirtschaftlichen Systems in Deutschland und der EU, der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Die Subventionen oder Vergünstigungen in diesem Sektor bilden mittlerweile einen zentralen Bestandteil der Einkommen landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland (und der gesamten EU). So zogen die landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe in Deutschland ungefähr die Hälfte ihres Einkommens aus Direktzahlungen und anderen Zuschüssen.

Auch wenn in bestimmten Sektoren kleiner Landwirt:innen, z. B. bei einzelnen Nebenerwerbsbäuer:innen das sogar 90 % ausmachen kann, so werden die Großbetriebe (z. B. in Ostdeutschland) sowie Agrarholdings (also große Investor:innen) von diesem System überdurchschnittlich begünstigt.

Dieses Subventionssystem ist selbst ein Resultat der inneren Tendenzen der kapitalistischen Landwirtschaft. Die Preise für zentrale Produkte (z. B. Getreide, Futtermittel, Rinder- und Schweinefleisch, Milchprodukte) werden auf dem Weltmarkt bestimmt. Die Agrarproduktion selbst ist natürlich auch auf ihn ausgerichtet.

Um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher oder europäischer Produzent:innen zu sichern, pumpen die EU und Deutschland seit Jahren Milliarden an Subventionen in diesen Bereich. Solcherart (und aufgrund der höheren Produktivität einer industrialisierten Landwirtschaft) kann der europäische Agrarexport halbkoloniale Konkurrenz verdrängen und sogar deren Inlandsmärkte erobern.

Einen eng damit verbunden Bestimmungsfaktor der gesamten landwirtschaftlichen Produktion bilden die Lieferant:innen von Maschinen, Saatgut, Düngemitteln etc. sowie die Abnehmer:innen (große Agrarkonzerne und Handelsunternehmen). Im Unterschied zur Bäuer:innenschaft sind diese hochgradig konzentriert, bestimmen wenige Konzernen nationale und internationale Märkte, können also den landwirtschaftlichen Produzent:innen Preise diktieren.

Ohne Subventionen würden die Bauern und Bäuerinnen entweder nicht mehr erhalten als diese Preise. Viele Betriebe wären längst pleite, die Zentralisation in der Landwirtschaft noch viel weiter fortgeschritten. Oder sie wären in der Lage, höhere Preise zu verlangen, was massiv steigende Nahrungsmittelpreise zur Folge hätte, die von der Masse der lohnabhängigen Konsument:innen zu bezahlen wären. Um beides zu verhindern, wirken die Agrarsubventionen wie ein Reparaturbetrieb, der ständig nach mehr Subventionen, mehr Stützen schreit, weil für ein im Grunde aberwitziges System eigentlich immer mehr Subventionen nötig werden. Hinzu kommt, dass relativ geringe Lebensmittelpreise auch den Wert der Ware Arbeitskraft senken, so dass sich auch Lohnabhängige in prekären Verhältnisse noch über Wasser halten können. Das heißt, das bestehende Agrarsystem erleichtert auch die Umsetzung und Durchsetzung neoliberaler Arbeitsmarktreformen.

Die aktuellen Proteste bringen auch einen Unmut breiter Schichten der Landbevölkerung mit diesem System zum Ausdruck, das immer schwerer zu finanzieren ist und den Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft zwar bremst, keinesfalls aber aufhält. Zweitens steht dieses System jeder einigermaßen vernünftigen Reorganisation der Landwirtschaft im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit direkt entgegen.

Es ist daher eine gewisse Paradoxie, dass bei den aktuellen Protesten gerade solche Kräfte an der Spitze stehen – CDU/CSU, aber auch der Deutsche Bauernverband –, die über Jahrzehnte dieses milliardenschwere System auf- und ausgebaut und gegen jede Kritik verteidigt haben; ein System, das vor allem dem Agrarkapital sowie den großen Konzernen im Handel Milliardenprofite sichert.

Innerhalb der Bäuerinnen:schaft bildet sich schon länger ein kleinbürgerlicher Widerstand gegen diese Politik des Bauernverbandes. Mit der Expansion der ökologischen Landwirtschaft profitierten einige Zeit die Grünen davon. Doch die Illusionen in deren „andere“ Politik sind bei vielen verblasst, was auch erklärt, warum in der gegenwärtigen Situation Habeck und die Grünen und nicht Lindner und die FDP zur ersten Zielscheibe des Hasses gerieten. Der andere Grund liegt darin, dass seit etlichen Jahren auch eine reaktionäre, kleinbürgerliche, rechte und nationalistische Kritik am Bauernverband stärker geworden ist. Diese lehnt Subventionen grundsätzlich ab und tritt für eine „echte“, das heißt kleinbäuerliche Marktwirtschaft ein, will zurück zur Einheit von Hof, Land und Eigentum. Um die „ehrliche“ deutsche Landwirtschaft zu retten, soll sie von der internationalen Konkurrenz abgeschottet werden. Es sind diese utopischen und gleichzeitig reaktionären Tendenzen, die von den Rechten, von AfD oder auch Faschist:innen aufgegriffen werden. Darin sind sie nicht erfolglos, obwohl sie selbst kein auch nur einigermaßen schlüssiges Konzept vorzuweisen haben. Die AfD fordert sogar die Streichung aller Subventionen in der Landwirtschaft, was, würde es auf einmal umgesetzt, den Ruin Zehntausender Bäuerinnen und Bauern bedeuten würde. Doch wie andere rechte und rechtspopulistische Bewegungen zeigen, wird der Verweis auf die innere Unvernunft solcher Vorschläge, auf ihren aberwitzigen und zutiefst irrationalen Charakter nicht verhindern, dass Kleinbürger:innen solchen Rattenfänger:innen auf den Leim gehen.

Arbeiter:innenklasse

Ein entscheidender Grund, warum die gesamte Krise des Agrarsektors von bürgerlichen Kräften bestimmt und als deren einzige scheinradikale Alternative rechte bis faschistische Gruppierungen auf den Plan treten, liegt darin, dass die Arbeiter:innenbewegung selbst über keine programmatische und politische Antwort verfügt. Sie kann so auch nicht als eigenständige Kraft in Erscheinung treten, zumal sie auch bei den Kämpfen der letzten Jahre über rein ökonomische Forderungen kaum hinauskam.

Natürlich sollten sämtliche Subventionsstreichungen unmittelbar rückgängig gemacht werden. Aber das löst die grundlegenden Probleme überhaupt nicht. Eine Überwindung der Krise des Agrarsektors und eine Neustrukturierung im Interesse der Versorgung und ökologischer Notwendigkeiten setzt voraus, die Eigentumsfrage anzugehen. Das schließt die Enteignung von Grund und Boden sowie der Agrarindustrie und der Handelskonzerne ein.

Auf dieser Basis könnte die Produktion unter Einbeziehung von Ausschüssen der Bauern und Bäuerinnen und Landarbeiter:innen gemäß der Bedürfnisse der Masse der Konsument:innen und ökologischer Nachhaltigkeit reorganisiert werden – und zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene. Dies müsste natürlich nicht nur die Frage einschließen, welche Landwirtschaftsprodukte wie produziert, sondern auch, wie die Maschinen und Transportsysteme entwickelt werden sollen.

Um die Preise für Agrarprodukte zu regulieren, braucht es Preiskontrollkomitees, die ländliche Produzent:innen und städtische Konsument:innen direkt verbinden. Damit höhere Agrarpreise nicht auf Kosten der Lohnabhängigen gehen, müssen Löhne und Einkommen automatisch an diese Preissteigerungen angepasst werden.

Die Arbeiter:innenklasse kann und muss den bäuerlichen Produzent:innen zwar einen Plan für eine vernünftige Reorganisation der Landwirtschaft anbieten, sie kann und muss sie gegen den Druck der Agrarkonzerne verteidigen, aber sie kann ihnen nicht die Beibehaltung des bäuerlichen „unabhängigen“ Betriebs versprechen. Dieser ist selbst auf dem Boden des aktuellen Kapitalismus längst zu einer Fiktion geraten. Die Lösung des Problems besteht nicht in der Rückkehr zu einem „goldenen“ Zeitalter der bäuerlichen Wirtschaft, das es ohnedies nie gab, sondern in der gemeinwirtschaftlichen, demokratisch geplanten Produktion auch in der Landwirtschaft. Dabei können Genoss:innenschaften als Übergangsform vom individuellen Privat- zum Gemeineigentum nützlich sein. Sie sollten daher von der Arbeiter:innenklasse unterstützt werden.

Ein solches Programm würde zwar sicher nicht alle Landwirt:innen, also eine ganze (klein-)bürgerliche Schicht gewinnen. Es wäre aber geeignet, einen Keil zwischen die Bäuer:innenschaft und das Agrarkapital zu treiben und zwischen die reaktionären und die fortschrittlichen Teilen der Landbevölkerung.




Rechtsruck in Deutschland: Der Fall Aiwanger

Martin Suchanek, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, so könnte man meinen, fällt ein Aiwanger Hubert mehr auch nichts ins Gewicht. Was ist schon ein Nazi-Pamphlet aus Gymnasialtagen, was ist schon ein Verhöhnen der Opfer des Holocaust im Flugblatt verglichen mit dem Mitmachen, Mitlaufen, Mitverwalten, Mitaburteilen, Mitdeportieren in der Nazi-Diktatur, dessen sich Aiwangers Eltern- und Großelterngeneration schuldig gemacht hat.

Auch diesen wurde schließlich vergeben – vorzugsweise durch sich selbst und einen Nachfolgestaat der NS-Diktatur, der im Kalten Krieg die alten Leistungsträger:innen der Gesellschaft, deutsche Unternehmer:innen, deutsche Beamt:innen, deutsche Offizier:innen, deutsche Intelligenz brauchte. Warum, also so fragen die Söders scheinheilig, sollten wir dem Aiwanger nicht seine Jugendsünden vergeben? Warum nicht, nachdem „wir“ auch unserer Eltern- und Großelterngeneration längst nichts mehr nachtragen? Schließlich hätten wir alle daraus irgendetwas gelernt. Und schließlich: haben „wir“ nicht alle in der Jugend „gesündigt“ haben? Warum nicht, nachdem sich der Aiwanger Hubert dafür sogar, wenn auch reichlich spät und wenig schlüssig, „entschuldigt“ habe?

Populistische Inszenierung

Geschickt, wenn auch nicht unbedingt originell, inszenieren Aiwanger, die Freien Wähler und, im Nachgang, Söder und die CSU, den Schulterschluss mit ihren spießbürgerlichen Anhänger:innen – und das sind bekanntlich viele, weit über dessen kleinbürgerlichen Kern hinaus. Klar, so gesteht der Aiwanger Hubert freimütig, habe er Fehler gemacht und diese auch zu spät gestanden. Aber er habe sich entschuldigt, er habe daraus gelernt. Jetzt würden ihn andere fertigmachen wollen, eine regelrechte Kampagne wäre ins Leben gerufen worden, um ihn, sein Lebenswerk und stellvertretend auch das aller anderen ehrlich schaffenden bayrischen und deutschen Menschen zu zerstören.

Die Freien Wähler bedienen sich hier einer für populistische Rhetorik typischen Stilfigur. Den „einfachen Menschen“, die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten zum Bürgermeister, vom erfolgreichen Unternehmer zum Facharbeiter reichen, werden die besserwisserischen, arroganten, vom „wirklichen Leben“, das vorzugsweise auf bayrischen Volksfesten stattfindet, entrückten Kritiker:innen gegenübergestellt. So wird eine klassenübergreifendes „Wir“ konstruiert, das sich im Aiwanger Hubert personifiziert. Die Kritiker:innen schlagen darauf „von oben“ herab, geradezu gnadenlos ein. Sollen wir uns da nicht „wehren“ dürfen und dem Jugendsünder beherzt zu Seite springen?

Wer hat schließlich in seiner Jugend nicht gesündigt? Wer hat denn keine Äpfel vom Baum in Nachbars Garten gestohlen, wer hat nicht am Schulhof geraucht oder gar gekifft? Wer fuhr nicht alkoholisiert auf Bayerns Landstraßen? Und wer hat nicht Blödsinn verbreitet und geschmacklose Witze erzählt? Waren, ja sind wir nicht alle kleine Sünder:innen, die sich vom Aiwanger Anton nur durch die Art der Sünde, für die er sich sogar – durchaus im Gegensatz zu manch anderem ehrenwerten Spießer-Menschen – entschuldigt hat?

Solcherart wird unter der Rubrik „Jugendsünde“ das Nazi-Flugblatt entschuldet, zur Bagatelle unter Bagatellen. Dass sich der Aiwanger an nichts genaues mehr erinnern kann, erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als skandalöser Vertuschungsversuch, sondern macht ihn nur noch menschlicher und volksnäher – und zwar nicht nur in den Augen seiner Fans von den Freien Wählern, sondern auch in denen der bayrischen Staatskanzlei. Auf die 25 Fragen Söders zur „Klärung“ des Falls Aiwanger, antwortet dieser nicht nur möglichst knapp, sondern vorzugsweise damit, dass er sich nicht erinnern könne oder nichts zur Frage wisse. Die Gedächtnislücken stehen im eigentümlichen Kontrast zu seiner Aussage: „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen.“ Welche das sind, führt Aiwanger nicht aus. Dafür stellt er am Ende nur fest: „Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden.“

Damit spricht er seinen Anhänger:innen aus der Seele. Mit dem „ewigen“ Anlasten müsse endlich Schluss sein, zumal sich – von wegen „ewig“ – auch in den letzten 30 Jahren niemand darüber aufgeregt habe. Die rechte, konservative, rechtspopulistische Gefolgschaft verharmlost nicht nur Faschismus und Antisemitismus, sie inszeniert sich zugleich als Gemeinschaft nachsichtiger und wohlwollender Menschen. Das Vergeben der Jugendsünde wird zum Bestandteil deutscher Leitkultur.

Gnadenlos, unbarmherzig, falsch sind nicht jene, die selbst nicht wissen, warum sie mit antisemitischen Flugblättern in der Schultasche rumliefen, sondern jene, die den armen Jugendsünder bis heute an den Pranger stellen wollen. Gnadenlos, unbarmherzig sind jene, die schon seit 1968 keinen Frieden geben können, sind die Linken, die rot-grüne „Elite“, kosmopolitische Intellektuelle, Gender-Wahnsinninge und „das Ausland“, das sich auch noch in Bayerns Staatskanzlei und in den Wahlkampf einmischen wolle.

Angesichts dieser brutalen Kampfansage „von oben“ auf die Leistungsträger:innen der bayrischen und deutschen Gesellschaft, auf „unsere“ Leitkultur, inszenieren sich CSU und Freie Wähler als Kräfte der Gnade, der Nachsicht, des Zusammenrückens und Verzeihens. Sicher wären auch AfD und verschiedene Nazigruppen bei dieser christlich-abendländischen Inszenierung der Nächstenliebe gern mit von der Partie, doch noch passen sie nicht so recht ins Sittenbild der konservativen „Mitte“.

Aber auch Gnade und Vergeben kennen, wie alles, ihre Grenzen. Das macht Aiwanger schon in seiner Antwort an die Bayrische Staatskanzlei deutlich: „Die Veröffentlichungen aus Lehrerkreisen sind ein massiver Verstoß gegen das Bayrische Dienstrecht. Gegen die Verdachtsberichterstattung mit überwiegend anonymen Aussagen und dem Weglassen entlastender Inhalte behalte ich mir rechtliche Schritte vor.“ So viel zur aufrichtigen Reue des Herrn Aiwanger.

Hier wird deutlich, dass Vergeben, Nachsicht, Großzügigkeit und das Verzeihen aller Jugendsünden längst nicht für alle gilt. Genauer, sie gilt, selbst der Phrase nach, nur für die Angehörigen der spießbürgerlichen Gemeinschaft echter deutscher Menschen, die die Freien Wähler und die CSU im Blick haben. Und hier zuerst natürlich ihren Spitzenexponenten wie Aiwanger, dessen „Lebenswerk“ als Regierungsmitglied zerstört werden soll. Geschickt präsentiert er diese wirkliche oder vermeintliche Gefahr für sich als hoch dotierten Spitzenpolitiker als ob die berufliche Zukunft seiner Wähler:innen auch zur Disposition stünde.

So verlogen diese imaginäre Einheit gegenüber den Anhänger:innen der Freien Wähler:innen, so wenig gilt das Nachsichtsversprechen für die Kritiker:innen Aiwangers.

Kritische Medien und erst recht verbeamtete Lehrer:innen dürfen auf Gnade nicht hoffen. Die Nachsicht gegenüber Aiwangers Jugendsünden darf niemand als Freibrief für wirkliche Bagatelldelikte missverstehen. Schwarzfahren oder kleiner Ladenklau dürfen „natürlich“ nicht entkriminalisiert werden.

Erst recht gilt das, wenn die Gegner:innen der rechtspopulistischen Freien Wähler:innen und der konservativen bis liberalen Mitte ins Visier genommen werden. Aiwangers Gedächtnislücken möge man nachsehen, Lücken in der Vita traumatisierter Geflüchteter – niemals. Abschiebung muss Abschiebung, Unrecht muss Unrecht bleiben. Ein Nazipamphlet an der Schule möge man verzeihen, aber keine antifaschistische und antirassistische Selbstverteidigung, keine Solidarität mit vom Imperialismus Verfolgten.

Die Entschuldung der eigenen Wähler:innen, der Träger:innen der deutschen Leitkultur bildet nur das Gegenbild zur umso brutaleren, menschenverachtenden Hetze gegen „Schein-Ayslant:innen“, „Überfremdung“, „Sozialscharozertum“, jugendliche und migrantische „Krimininelle“, die allesamt die volle Härte des Gesetze ohne jede Nachsicht und Gnade heute erfahren müssen und sollen.

Kulturkampf und Diskursverschiebung

Kein Wunder also, dass die Freien Wähler, CDU/CSU wie auch die AfD, die konservative und die extreme Rechte die Auseinandersetzung um Aichwanger als regelrechten Kulturkampf inszenieren. In der Tat geht es dabei um eine wirkliche grundlegende Diskursverschiebung im politischen Raum.

Bei der Verharmlosung des faschistischen und antisemitischen Pamphlets und der Rolle Aiwangers geht es nicht bloß um eine persönliche Entschuldung. „Jugendlicher“ Faschismus und Antisemitismus sollen insgesamt bagatellisiert, quasi-normalisiert werden.

Damit steht auch eine, wenn auch auf halben Weg steckgebliebene Errungenschaft der 68er-Bewegung entsorgt werden. Diese thematisierte nach Jahrzehnten des Unter-den-Teppich-Kehrens den Faschismus und die Kontinuität seiner Funktionsträger:innen in Staat und Wirtschaft. Blieb die Entnazifizierung auch aus, so hielt die Jugend den Eltern und Großeltern den Spiegel vor. Die wirklich Selbstgerechten mussten sich endlich rechtfertigen. Einmal verschoben sich das politische Geschehen, der öffentliche Diskurs und die Kultur in der Bundesrepublik nach links. Zweifellos: Die 68er sind gescheitert, nicht zuletzt an sich. Doch ihre Halbheiten, ihre Teilreformen, ihre partiellen Errungenschaften noch geben einen Geschmack von dem, was möglich wäre. Daher stehen sie auch im Visier des konservativen und rechten Rollbacks.

Die mit der 68er-Bewegung assoziierten und von Frauenbewegung, Studierenden, Jugend wie auch von der Arbeiter:innenklasse gemachten Errungenschaften sind ihnen ein Dorn im Auge. Das betrifft sowohl in Gang gesetzten soziale und demokratische Reformen. Auch wenn sie im Rahmen des Kapitalismus verblieben, in diesen mehr oder weniger integriert wurden, stellen sie oder ihre Überreste bis heute auch Errungenschaften, teilweise zur Selbstverständlichkeit gewordene Aspekte des sozialen Lebens dar, gegen die sich selbst hart gesottene Reaktionär:innen (noch) nicht anzugehen wagen (z. B. die Vergewaltigung in der Ehe).

Vielleicht noch bedeutsamer aber waren und sind die Errungenschaften der 68er auf der kulturellen und diskursiven Ebene. Dazu gehört auch, dass faschistische und anti-semitische Flugblätter an der Schule eben nicht mehr als landesüblicher „Lausbubenstreich“ durchgingen. Selbst Aiwangers mangelndes Erinnerungsvermögen deutet noch darauf hin. So wie die Beteiligung am Faschismus und seinen Verbrechen nach 1945 durch „Vergessen“ und Schweigen gesellschaftlich tabuisiert wurde, so soll über den jugendlichen „Fehler“ der Mantel des Vergessens geworfen werden. Wer nachfragt, wer nicht schweigt, ja wer bloß nicht jede Schutzbehauptung für bare Münze nehmen will, wird in der rechten Diskursverschiebung zum Täter, zum „elitären“ Besserwisser.

Längst geht es dabei nicht um Aiwanger. Schon gar nicht geht es, wie Sozialdemokrat:innen und Grüne gern entrüstet behaupten darum, dass dem Ansehen Deutschlands geschadet würde. Schließlich passt Aiwanger ganz gut zu einer Meloni und einem Orban, zu einem Erdogan und einer Le Pen. Und, betrachten wir die Diskussion über die Verschärfung des rassistischen Grenzregimes und die Aushebelung der verbliebenen Rechte der Geflüchteten, so sind die Grenzen zwischen Rechten, Konservativen, Liberalen, Sozialdemokrat:innen und Grünen fließend, so reichen sich rechte und linke Populist:innen die Hand.

Vielmehr bildet der Fall Aiwanger nur einen weiteren Baustein zur Entsorgung des Faschismus für den deutschen Imperialismus. Es geht dabei nicht darum, dessen Existenz und Verbrechen zu leugnen, sondern vielmehr zu einem bloßen Stück Geschichte unter anderem herabzusetzen, um den Boden für eine reale Kontinuität imperialistischer Großmachtpolitik in der EU und international leichter zu begründen und hoffähig zu machen. Vor allem aber dient es auch als Klammer einer konservativen, großkapitalistischen und aggressiven Agenda, die durch rechten Populismus eine imaginäre, klassenübergreifende „Volkseinheit“ ideologisiert.




Antisemitismus und Psychoanalyse – eine marxistische Kritik

Teil 2 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 5, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis, heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Welche psychische Funktion nehmen antisemitische Überzeugungen für Menschen in Klassengesellschaften ein?
In der vorherigen Podcastfolge zur historischen Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus haben wir gehört, dass sich Gesellschaftsstrukturen zwar ändern, der Antisemitismus jedoch, wenn auch in veränderter Form, bestehen bleibt. Es stellt sich also die Frage, ob der Antisemitismus ein notwendiges Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist und welche Elemente der Zivilisation Individuen und Gemeinschaften dazu bringen, antisemitische und damit irrationale Überzeugungen für sich anzunehmen?

Im Folgenden wollen wir uns das Phänomen des Antisemitismus, welcher der Archetyp aller Verschwörungstheorien ist, einmal aus einer eher psychoanalytischen Sicht ansehen. Die Psychoanalyse ist ein durchaus wichtiges Instrument, um vor allem die unbewussten und vorbewussten Vorgänge im Menschen zu verstehen und damit auch sein Handeln besser nachvollziehen zu können. Uns muss aber auch klar sein, dass die Psychoanalyse im Großen und Ganzen das gesamthaft Irrationale am Kapitalismus verkennt, durch Pathologisierungen ihr Hauptaugenmerk hauptsächlich auf das Individuum und nicht auf die Gesellschaft richtet und daher keinen tragfähigen Ausweg aus eben diesem System aufzuweisen hat.

Im Verlauf der Episode soll deutlich werden, wie sehr Psyche und Gesellschaft, und damit auch ihre ökonomischen und politischen Bedingungen, miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass die ökonomischen, materiellen Verhältnisse das Primat in diesem Zusammenspiel einnehmen. Das Denken und Handeln, also auch das Psychische, ist sozusagen die Übersetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, welches wiederum seine eigene Dynamik entfaltet und auf die Gesellschaft zurückwirken kann.

Verschwörungstheorien sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen sowie Krisen nicht abstrakt gedacht werden können, sondern personalisiert werden. Die Grundlage bietet dabei häufig die Unfähigkeit, Widersprüche und Ungewissheiten auszuhalten, von denen es in unserer heutigen Welt mehr denn je gibt. Alles Beobachtbare wird dabei auf dieselbe Ursache zurückgeführt, nämlich auf das personifizierte Böse, was sich vom Guten klar unterscheiden lässt und ohne welches die Welt ein nahezu paradiesischer Ort sein könnte. In Verschwörungstheorien werden alternative, in sich schlüssige Realitäten erschaffen, die dem individuellen Wahn sehr ähnlich sind, jedoch sozial geteilt werden. Wir dürfen allerdings nicht dem Trugschluss aufsitzen, dass Verschwörungstheorien Ausdruck mangelnder Intelligenz seien, vielmehr sind sie, wie der Psychoanalytiker Ernst Simmel schreibt, Ausdruck eines gestörten Gleichgewichts des kollektiven Charakters der Gemeinschaft, wie wir später noch sehen werden.

Verschwörungstheorien und damit auch der Antisemitismus dienen immer der Stärkung eines Ichs, welches entweder durch individuell-biografische oder aber durch gesellschaftliche Krisen geschwächt worden ist. Im Wesentlichen sind es folgende psychische Funktionen, die von Verschwörungstheorien erfüllt werden, um das schwache Ich zu stärken:

Es werden Komplexität und Ungewissheit reduziert, indem beispielsweise vielschichtige wirtschaftliche Entwicklungen einzelnen Personen wie den Rockefellers und Rothschilds zugeschrieben werden, welche durch Habgier geleitet das Weltgeschehen lenken.
Angst, Neid und Aggression, die durchaus auf reale Ohnmachtserfahrungen zurückgehen, werden gebunden und durch Verschwörungstheorien verstärkt. Zudem erfährt das Individuum Entlastung durch das Projizieren: Das, was das Individuum an sich selbst ablehnt, wird in andere projiziert und an ihnen erkannt statt im Individuum selbst. Eigene unangenehme Gefühle werden ausgelagert und auf äußere Sündenböcke, wie das Jüd:innentum, sogenannte Klimadiktator:innen wie Habeck und Baerbock, Bill Gates oder die Globalist:innen übertragen. Hinzu kommt, dass das Selbst narzisstisch aufgewertet wird, indem die eigene Person zu den Eingeweihten gehört und die anderen Unwissenden, die den großen Plan der Verschwörer:innen einfach nicht begreifen, abwertet. Letztlich stiften Verschwörungstheorien auch Identität, da sie durch die Konstruktion von Gut und Böse, von Innen und Außen ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl herstellen, welches auf Hass und Ablehnung basiert. Als Beispiel ist hier die Konstruktion des/r in Anführungszeichen „guten Deutschen“, welche/r stark, loyal und heimattreu ist und zu dem/r man selbst gehört, gegen das in Anführungszeichen „böse, gierige Jüd:innentum“ – zu dem die anderen gehören, zu nennen.

Begriffe der Psychoanalyse

Da wir im Folgenden einige Termini aus der Lehre der Psychoanalyse verwenden werden, wollen wir zum besseren Verständnis das Instanzenmodell des Psychoanalytikers Sigmund Freud kurz skizzieren: Drei Instanzen bilden demnach die menschliche Persönlichkeit und wirken aufeinander ein: Es sind das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es ist die älteste und ursprünglich unbewusste Instanz der Psyche. Sie wird beherrscht von grundlegenden Bedürfnissen wie Schlaf und Hunger und dergleichen. Das Es drängt auf direkte Triebbefriedigung und duldet keinen Aufschub. Hingegen vertritt das Über-Ich das Gewissen eines Menschen, welches sich erst entwickeln muss. So ist das Über-Ich auch Ausdruck der gesellschaftlichen Normen und Werte und ist zuständig für Gebote und Verbote. Werden diese verletzt, kommt es zu Schuldempfindungen. Das Über-Ich steht häufig mit der Instanz des Es im Konflikt. Die Aufgabe der dritten Instanz, nämlich des Ich, ist es, zwischen den ersten beiden Instanzen, also den Triebansprüchen und den verinnerlichten Ge- und Verboten zu vermitteln. Das Ich entwickelt sich erst im Laufe der Kindheit und Jugend ist unter anderem für die Realitätsprüfung zuständig.

„Wo Es war, soll Ich werden“, so Freud im Jahre 1933. Es sei das Ziel der Psychoanalyse, das Ich zu stärken und es vom Über-Ich unabhängiger zu machen. Auch solle der Mensch sich seiner Energien aus dem Es bewusster werden. Dies sind hehre Ziele. Wir müssen jedoch anerkennen, dass die Entwicklung des Ich im Kapitalismus stets strukturell blockiert ist. Wenn eine Ich-Bildung im Kapitalismus relativ erfolgreich gelingt, so ist diese entweder an Privilegien gebunden oder an die Entstehung einer fortschrittlichen Gegenbewegung zu den herrschenden Verhältnissen. In letzter Instanz also an eine kämpferische Arbeiter:innenbewegung. Dieser Zusammenhang verweist bereits auf die Notwendigkeit der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse, um gesellschaftliche und bis zu einem gewissen Grad auch individuelle Pathologien zu verhindern. Schließlich kann es kein nicht-entfremdetes Individuum, also ein gänzlich bewusstes und gesundes starkes Ich, in einer Gesellschaft geben, in der Entfremdung eines ihrer Wesensmerkmale darstellt.

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück, inwiefern der Antisemitismus ein Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist.

Um uns der Beantwortung dieser Frage zu nähern und ein tieferes Verständnis für innerpsychische Vorgänge im Komplex antisemitischen Denkens zu entwickeln, greifen wir im Folgenden auf das Modell der Massenpsychose zurück. Dieses entwickelte der Psychoanalytiker Ernst Simmel, der, wie Theodor Adorno, einige wichtige massenpsychologische Erkenntnisse zum Verständnis des Antisemitismus beigetragen hat. Allerdings muss schon vorab kritisch darauf hingewiesen werden, dass der Auffassung der sogenannten Kritischen Theorie der Klassenbezug gänzlich fehlt, was wiederum zu einem kulturpessimistischen Defätismus führt. Daher ergänzen wir im Folgenden die Ausführungen Simmels durch notwendige revolutionär-marxistische Perspektiven und werfen im späteren Verlauf nochmals einen kritischen Blick auf die Antisemitismustheorie der Frankfurter Schule.

Nach psychoanalytischer Auffassung der Charakterbildung stellt ein Individuum, was unter einem krankhaft gestörten inneren Gleichgewicht leidet, dieses wieder her, indem es irrationale Ideen mit irrationalen Handlungsimpulsen verbindet.

Diese Theorie überträgt Simmel vom Individuum auf die Gesellschaft, da hier ähnliche Phänomene zu beobachten sind: den irrationalen Ideen in einem Kollektiv (also antisemitische Überzeugungen) folgen irrationale Handlungen (also Angriffe auf das Jüd:innentum). Wir können uns also fragen, ob der kollektive Charakter der Gemeinschaft ebenfalls unter einem pathologisch gestörten Gleichgewicht leidet, weil er die Irrationalität des Antisemitismus hervorbringt – und weiter noch: Was hat diese Störung des Gleichgewichts hervorgerufen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns ansehen, was die Beziehung zwischen Antisemitismus und Zivilisation als kollektivem Charakter ausmacht.

Sowohl die Entwicklung des Einzelnen als auch die der Menschheit als Ganzer ist nach Auffassung einiger Psychoanalytiker:innen begleitet von zwei Haupttrieben: dem destruktiven Verschlingungstrieb des Hasses zur Selbsterhaltung und dem erotischen Liebestrieb zur Arterhaltung.

Im Antisemitismus fällt das Individuum in der Gemeinschaft zurück auf ein früheres primär-narzisstisches Entwicklungsstadium, nämlich das des pathologischen Hasses. Der Hass ist im entwicklungspsychologischen Sinn der Vorläufer der Liebesfähigkeit, denn das Individuum muss erst sein eigenes Überleben sichern, damit es später seine Art erhalten kann.
Dieses Zurückfallen auf vorherige Entwicklungsstadien nennt man in der Psychoanalyse Regression. Regression ist ein Abwehrmechanismus, der eintritt, wenn Betroffene großen Ängsten ausgeliefert sind. Sie kann dabei helfen kritische Lebensereignisse zu meistern, aber ein dauerhaftes Regredieren ist krankhaft.

Wie zeigt sich uns dieser regredierte Hass, der sich sowohl als Folge des mittelalterlich-religiösen Antijudaismus entlädt und viel aggressiver noch im Zuge antisemitischer Anschuldigungen in der Moderne zutage tritt? Er ist vor allem gekennzeichnet durch irrationale Anschuldigungen gegen das Jüd:innentum. Sollen Juden/Jüdinnen früher Christusmörder:innen und Hostienschänder:innen gewesen sein, so sind sie seit Ende des 19. Jahrhunderts einerseits die kommunistischen, andererseits die kapitalistischen Strippenzieher:innen im Hinterzimmer – zwei sich völlig widersprechende Anschuldigungen. Unter anderem an dieser irrationalen Anschuldigung wird übrigens deutlich, weshalb es insbesondere das Kleinbürger:innentum ist, welches damals wie heute besonders empfänglich ist für antisemitisches Gedankengut. Diese Empfänglichkeit ist unter anderem in ihrer Rolle im Produktionsprozess begründet – das Kleinbürger:innentum steht zwischen den beiden Hauptklassen, dem Kapital und der Arbeiter:innenklasse. So ist es stets bemüht, in die herrschende Klasse aufzusteigen, und zugleich der Sorge ausgeliefert, in die Arbeiter:innenklasse abzurutschen, wenn es durch große Kapitalist:innen verdrängt würde. Das Kapital ist also eine reale Bedrohung für das Kleinbürger:innentum. Der Kommunismus würde ihm jedoch ebenso die gesellschaftlich-ökonomische Grundlage entziehen.

Das Ausmaß der Gewalt, die sich gegen Juden und Jüdinnen über die Jahrhunderte immer wieder in Folge dieser Anschuldigungen entlädt, ist stets abhängig von dem Maße, in dem die antisemitischen Vorstellungen ihren Realitätsbezug gänzlich verlieren und von einer bloßen Illusion zu einem Wahn werden. Antisemitische Vorstellungen verlieren in dem Maße ihren Realitätsbezug, in dem sich gesellschaftliche Krisen zuspitzen und sie somit für das innerpsychische Gleichgewicht des Kollektivs und zur Machtsicherung der Herrschenden notwendiger werden. Die folgenreichste Eskalation des antisemitischen Wahns zeigte sich in der Shoa im nationalsozialistischen Deutschland, dem ebenfalls eine tiefe Krise vorangegangen ist. Man denke nur an die Weltwirtschaftskrise von 1929 oder die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg mitsamt ihren Folgen wie dem Versailler Vertrag.
Dieses klinische Syndrom uneingeschränkter, aggressiver Destruktivität im Wahn bei vollständiger Verleugnung der Realität kennen wir aus der Psychopathologie als Psychose, genauer als paranoide Schizophrenie.

Der Psychoanalytiker Ernst Simmel begreift demnach den Antisemitismus als eine Art der Massenpsychose. Um diese These besser nachvollziehen zu können, sehen wir uns nun einmal an, welche psychodynamischen Vorgänge im psychotischen Individuum vor sich gehen und was passiert, damit auch eine Gruppe dem pathologischen Wahn verfallen kann, während der Einzelne in der Gruppe keinen pathologisch irrationalen Symptomen unterliegt. Er wird erst krank, wahnhaft und aggressiv im Kontext der Masse. Das zeigt auch, dass die Masse weitaus mehr ist als die Summe ihrer Individuen. Sie entwickelt ihre eigenen Dynamiken und erhebt sich über die/den Einzelne/n.

Wir können uns mangels Zeit an dieser Stelle nicht auf die Schizophrenie als Ganze beziehen, wohl aber auf die Aspekte, die individuelle und kollektive Psychose miteinander gemein haben. Hierbei soll es nur um das System des Wahns und der ungezügelten Entladung zerstörerischer Aggression, als Teile einer Psychose, gehen.

Wie wir bereits zu Beginn erwähnt haben, ist das Individuum wie auch die Gesellschaft als Ganze sowohl vom erotischen Liebestrieb als auch vom destruktiven Verschlingungstrieb bewegt. Unsere Urahn:innen waren Kannibal:innen und auch wir wollen zu Beginn unseres Lebens als Babys nicht nur Nahrung, sondern auch alles andere verschlingen, was uns unsere Bedürfnisse verweigert. Es ist also ein Vorgang, der sowohl der körperlichen als auch der psychischen Selbsterhaltung dient. Der psychischen Selbsterhaltung dient er insofern, als dass das Verschlingen ein primitiver Vorläufer der Verdrängung ist. Das hört sich erst mal seltsam an, gemeint ist damit aber, dass durch das Verschlingen das Objekt in sich aufgenommen und damit der bewussten Wahrnehmung entzogen wird, also verdrängt werden kann.

Der/Die Psychotiker:in befindet sich im Kampf mit der Realität. Beispielsweise widerfährt ihm/r ein belastendes Lebensereignis wie der Tod einer nahestehenden Person, den er/sie nicht wahrhaben will. Der/Die Psychotiker:in erleidet in diesem Kampf mit der Realität immer eine Niederlage, da man gegen das, was ist, nicht gewinnen kann. Um diese Niederlage zu bewältigen, flüchtet er/sie sich unter anderem in narzisstische Selbstliebe. Die erworbene Fähigkeit des Verdrängens regrediert zurück auf den puren destruktiven Selbsterhaltungstrieb. Wer nicht verdrängen kann, wird seinen Ängsten gänzlich ausgeliefert. Daher muss zur Zerstörung gegriffen werden. Dass das psychotische Individuum nicht mehr in der Lage ist zu verdrängen, ist Ausdruck eines unreifen Ichs. Ein Ich ist nur dann reif, wenn es ihm gelungen ist, im Laufe seiner kindlichen Entwicklung die äußere elterliche Macht als ein effektives Über-Ich zu integrieren. Das Über-Ich hat, wie bereits erwähnt, mehrere Funktionen: Es hilft zum Beispiel bei der Realitätsprüfung, es hilft auch, Handlungsimpulse zu kontrollieren und zwischen äußeren Ansprüchen und inneren Triebkräften zu vermitteln. All das geht sowohl dem/r individuellen Psychotiker:in als auch der Gruppe der Antisemit:innen abhanden. Es findet keine Realitätsprüfung mehr statt, irrationale Anschuldigungen werden übernommen, Handlungsimpulsen, wie dem, Juden/Jüdinnen zu diffamieren, wird ohne Zögern nachgegangen.

Verschlimmert sich die Erkrankung, unterliegt das Über- Ich mehr und mehr dem Es, was wiederum erklärt, warum eine Realitätsprüfung überhaupt nicht mehr stattfinden kann und eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen objektiver Realität und psychischer Wirklichkeit unmöglich wird. Simmel geht davon aus, dass der/die Psychotiker:in in ein Stadium regrediert, in dem es noch kein Über-Ich gab, sondern dieses noch durch die realen Eltern vertreten wurde . Er/sie lagert im Zuge der Regression also sein/ihr Über-Ich wieder aus, und statt sich mit diesem zu identifizieren, wie es der gesunde Lauf der Dinge wäre, greift er/sie zu einer Vorform des Identifizierens und Integrierens, nämlich dem Einverleiben durch aggressives Verschlingen. In der kindlichen Entwicklung sah das so aus, dass man Dinge tatsächlich oral verschlungen hat. Der/Die Erwachsene zerstört, in dem er/sie Waffen und dergleichen nutzt.

Individuum und Krise

Ob ein Individuum psychisch erkrankt, ist von einem komplizierten Wechselspiel bio-/psychosozialer Risiko- und Schutzfaktoren abhängig. Der Antisemitismus als Massenpsychose wird maßgeblich durch rasante negative Veränderungen in der Umwelt ausgelöst. Er trat historisch immer dann auf, wenn die Sicherheit des Individuums und der Gesellschaft durch katastrophale Ereignisse erschüttert wurde. Jüngst konnten wir das während der Coronapandemie beobachten, in der die Gesundheit, der eigene Beruf und familiäre Bindungen plötzlich nicht mehr sicher waren. In Folge dieser Verunsicherung nahm antisemitisches Gedankengut innerhalb der Gesellschaft, auch statistisch gesehen, enorm zu.

Es ist zudem kein Zufall, dass sich die schlimmsten Auswüchse des Antisemitismus zu einer Zeit manifestiert haben, in der sich Deutschland wie das gesamte kapitalistische Weltsystem – in einer imperialistischen Krise sondergleichen befanden.

Die moderne kapitalistische Gesellschaft zwingt insbesondere Lohnabhängige und Unterdrückte, pseudoangepasst über ihre psychischen Verhältnisse zu leben, sprich eine Vielzahl an Entbehrungen hinzunehmen: das Verlangen nach Liebe, Sicherheit, körperlicher Unversehrtheit, Zuwendung und gesehen Werden wird heutzutage nur noch unzureichend befriedigt in Zeiten, in denen sich das Leben immer mehr in die digitale Welt verlagert, Arbeitstage wieder länger und Arbeitsplätze immer unsicherer werden und wir zunehmend vom Wertgesetz dazu gezwungen werden, unsere Ellenbogen auszufahren und unser Einzelkämpfer:innentum zu leben. Schon Marx spricht vom Phänomen der Entfremdung. Hierbei geht es sowohl um die Entfremdung des Menschen zu sich selbst, zu seiner Umwelt, zu seinen Mitmenschen und um die Entfremdung des Menschen zu seiner Arbeit, die ihren Zweck, den Kontakt des Menschen zur Realität zu vermitteln und sich selbst zu erhalten, verloren hat. Diese Realitätsvermittlung durch den Prozess der Arbeit schwindet insbesondere im Kapitalismus dadurch, dass das Arbeitsprodukt nicht mehr der arbeitenden Person gehört. Auch die Arbeitstätigkeit gehört ihr nicht mehr selbst, sondern einem/r anderen – dem/r Kapitalist:in. Es wird also nicht mehr für eigene, sondern für äußere fremde Bedürfnisse gearbeitet.

Die fehlende Erfüllung unserer Bedürfnisse ruft in uns destruktive Strebungen hervor. Im Feudalismus war es die Religion, in deren Bereich sich das aufgestaute Aggressionspotential, was eigentlich den Herrschenden galt, verschoben hat. Hier kam es während seines Niedergang zum erneuten Aufflammen des religiös fundierten Antijudaismus. Aber auch die Religion verliert an Bedeutung und es fehlt zunehmend an Möglichkeiten zur Entladung dieser destruktiven Energien, so Simmel. Auf diesen latenten Zustand andauernder psychischer Entbehrung treffen im Kapitalismus wiederkehrende und tendenziell immer katastrophalere Krisen wie Klima-, Gesundheits-, Finanzkrisen, Kriege und vieles mehr. Die Gesellschaft, ohnehin schon geschwächt, verfällt in Panik, da sie die krisenhafte Realität nicht mehr meistern kann. Das wiederum ist Auslöser für die Zuflucht in eine Gruppe mit antisemitischem Gedankengut, die Orgien von Hass und Zerstörung nach sich zieht. Das Aufgehen des Ichs in einer Masse ist immer der einfachste Fluchtweg vor dem Druck der unerträglichen und unbegreiflichen Realität, so Simmel.

Das Problem ist nicht die Aggression an sich – die in Folge der Entbehrungen und im Rahmen der Selbsterhaltung auftritt, denn diese kann ja in eine positive Richtung gelenkt werden, wenn letztlich das rationale Ich die Kontrolle behält. Problematisch seien, wie der Psychoanalytiker Mario Erdheim richtig anmerkt, die unbewussten Quellen der Aggression, die jede Kontrolle durchbrechen, vom Narzissmus geleitet sind und eine Realitätsprüfung nicht mehr zulassen. Hier zeigt sich deutlich die historische Krise der Führung der Arbeiter:innenbewegung sowie die Verbürgerlichung derselben. Gegenbewegungen wie beispielsweise Gewerkschaften, reformistische Arbeiter:innen-, soziale Bewegungen wie die Frauen- oder Umweltbewegung bilden dennoch einen Gegenpol zu den kapitalistischen Zwängen. Dieser ist jedoch sichtlich unzulänglich. All den angesprochenen Bewegungen, sowie der Führung der Arbeiter:innenklasse, gelingt es nicht, den zunehmenden Unmut der Menschen, die eigentlich danach streben, gegen die Herrschenden, die Verursacher:innen ihrer Entbehrungen vorzugehen und den Kapitalismus zu zerschlagen, in rationale und theoriegeleitete Bahnen zu lenken. Stattdessen sucht sich das kollektive Ich ein Ersatzobjekt, was es bestrafen kann. Selbst die Schuldgefühle für diesen Bestrafungswunsch werden dann durch gesteigerte Aggression gegen das Ersatzobjekt gewendet.

Ebenso wie die individuelle Psychose wird also auch der Antisemitismus durch einen Bruch mit der Realität ausgelöst. Das Besondere am Antisemitismus als Massenpsychose ist es, dass der/die einzelne Antisemit:in kein/e Psychotiker:in ist! Seine/ihre Person scheint weiterhin „normal“. Erst dadurch, dass er/sie sich an eine Gruppe Gleichgesinnter anschließt, verliert er/sie gewisse Eigenschaften, die einen gesunden Menschen ausmachen, und trägt so dazu bei, den Massenwahn zu erzeugen. In dem der/die Einzelne Teil der Masse wird, schwindet seine/ihre Verantwortlichkeit, er/sie hört auf, sich seinem/ihren individuellen Über-Ich zu unterwerfen. Er/Sie wird wieder zu einem Kind, was nur vor den eigenen Eltern Angst haben muss. Da der Massenmensch sich aber im Gruppenverband ebenso mächtig fühlt wie die imaginären ausgelagerten Eltern, fürchtet er keine Strafe mehr und kann, anders als der/die einzelne Psychotiker:in, zur Realität zurückkehren. Nun lässt er/sie seinen/ihren Zerstörungstrieben freien Lauf.

Der antisemitische Massenmensch löst seinen Ambivalenzkonflikt (also zwischen Liebe und Hass) gegenüber seinen Eltern auf, welcher darin besteht, dass er einerseits seine Eltern liebt, sie ebenso aber auch hasst, da sie ihm seine Bedürfnisbefriedigung nicht uneingeschränkt gewähren. Die Auflösung dieses Widerspruchs geschieht, indem er die veräußerlichte Elterngewalt, also das ausgelagerte Über-Ich, spaltet in die Führerperson, die er liebt und die jüdische Person, die er hasst. In der Funktion des Über-Ichs kann die Führerperson darüber bestimmen, wann die Gruppe emotionale Triebentladungen entfesselt oder bremst. Diese, historisch beispielsweise Hitler, bindet die Gruppenmitglieder an sich, indem er ihnen ein äußeres Ziel für ihre aufgestauten Aggressionen bietet, nämlich das Jüd:innentum. Den/Die Juden/Jüdin als ausgelagerten Teil des Über-Ichs kann der/die Antisemit:in bestrafen, ohne zugleich Schuld für seine/ihre Hassgefühle in sich aufnehmen zu müssen, denn der geliebte Teil des Über-Ichs, also die Führerperson, wurde ja nicht angegriffen. Hierzu passend ein Zitat von Simmel: „Jedem Massaker an Juden ging eine Hetzkampagne voraus, in der die Juden eben jener Verbrechen bezichtigt wurden, die der Antisemit im Begriff war, zu begehen.“

Für politische Führerpersonen dient der Antisemitismus unter anderem dazu, die Geführten über den eigentlichen Ursprung ihrer Entbehrungen hinwegzutäuschen. Denn der tatsächliche Ursprung des Elends in der Welt und der wiederkehrenden Krisen liegt selbstverständlich nicht im Judentum, sondern ist in den herrschenden Besitz- und Produktionsverhältnissen zu suchen.

Wir haben nun gehört, welche Dynamiken der individuellen sowie der kollektiven Psychose zugrunde liegen. Nun möchten wir auf das Verhältnis dieser beiden Phänomene zueinander näher eingehen. Der individuelle und der kollektive Wahn teilen gewisse Gemeinsamkeiten, es lassen sich aber auch bedeutende Unterschiede hervorheben:

Wie bereits erwähnt, entsteht die individuelle Psychose aus einem komplexen Wechselspiel individueller Sozialisation, welche bestimmte, für alle Gesellschaften mehr oder weniger gültige, Momente inkludiert. So sind beispielsweise in jeder Gesellschaftsform Menschen zuerst Kleinkinder und befinden sich in einem Verhältnis zu den Eltern oder primären Bezugspersonen. Diese vermitteln dem Kind die jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werte einer bestimmten Epoche, die das Individuum als Über-Ich integriert. Je nach Gesellschaftsform verändern sich auch die dem Individuum zugrundeliegenden Bedingungen und somit auch das Über-Ich, das zwar durch die Eltern personifiziert wird, aber notwendigerweise auch immer die normativen Vorstellungen der Gesellschaft verkörpert. Die Gestalt, die das Über-Ich eines Individuums also annimmt, ist eine klassenspezifische Gestalt. Sie kann geschlechtsspezifisch, mehr oder minder rassistisch in Erscheinung treten. Auch die Art und Weise, wie sich die triebhaften Es-Anteile im Menschen darstellen, sind von der jeweiligen Gesellschaft, in der sich das Individuum bewegt, geprägt.

Strukturen der Gesellschaft und Irrationalismus

Die kollektiven Pathologien hingegen entstehen aus den Strukturen der Gesellschaft selbst. Wie treten aber diese Strukturen zutage? Die Menschen sind zwar Schöpfer:innen ihrer Geschichte, aber dies sind sie nicht aus freien Stücken heraus, sondern stets unter vorgefundenen und ihnen nicht bewussten Bedingungen. Die Dynamik und Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung erscheinen den Menschen als Zwangsgesetze der Konkurrenz, als natürlich und unveränderbar. Sie werden in ihrem Wesen nicht erkannt, sondern in verkehrter und ideologischer Form verstanden, wie schon Marx im ersten Band des „Kapitals“ schreibt. Zu diesem verkehrten und ideologisch aufgeladenen Verständnis gehören unter anderem der Warenfetisch und die Lohnform, in welchen die eigentliche Grundstruktur der kapitalistischen Ausbeutung verschwindet. Die tatsächliche Ausbeutung besteht nämlich in unserem gegenwärtigen System darin, dass sich das Kapital durch Lohnarbeit den geschaffenen Mehrwert fremder Arbeit aneignet. Im Kapitalismus wird jedoch die eigentliche Quelle des Mehrwerts und des Profits notwendig verschleiert. Stattdessen scheint die Quelle des Profits in der Zirkulation des Geldes und im Zins zu liegen, in dem Verkauf der Waren über ihrem Wert, in Preistreiberei und Wucher. Dieser Schein wird zudem dadurch genährt, dass Preistreiberei, Spekulation und dergleichen ja tatsächlich existieren und diese durchgängig mehr Opfer als Gewinner:innen kennen. Aber die eigentliche Quelle kapitalistischen Reichtums sowie die eigentliche Ursache von Krisen erscheinen nicht an der Oberfläche, dringen nicht in das gesellschaftliche Bewusstsein.

Es ist aber genau diese oberflächliche Erscheinung, auf die sich gesellschaftlicher Irrationalismus und Verschwörungstheorien stützen. So werden das „jüdische“ Finanzkapital und das „raffende“ Handelskapital vom industriellen, „schaffenden“ Kapital getrennt. Das industrielle Kapital scheint wie das ehrlich verdiente, da mit ihm die Tätigkeit der Produktion assoziiert wird. In Wirklichkeit bilden letztlich industrielles, Handels- und zinstragendes Kapital nur drei Momente des Kapitalkreislaufes, selbst wenn sich diese gegeneinander bis zu einem gewissen Grad verselbstständigen können. In allen Stadien dieses Kreislaufes wird Mehrwert durch die Aneignung fremder Arbeitskraft durch den/die Kapitalist:in abgeschöpft bzw. umverteilt.

An diese Erscheinungsformen, die die bürgerliche Gesellschaft selbst hervorbringt, knüpft der Antisemitismus an. Handels- und zinstragendes Kapital werden zur Quelle von Profit, Ausbeutung und Diebstahl, also illegitimer Aneignung von Reichtum erklärt und seien hiermit der Ursprung aller Krisen. Darüber hinaus werden Handels- und zinstragendes Kapital personifiziert und mit den Juden und Jüd:innen identifiziert. In unserer vorherigen Folge haben wir historisch materialistisch hergeleitet, warum es zwar häufig Juden und Jüd:innen gewesen sind, die während des Hochmittelalters im Bereich des Handels und des Geldverleihs tätig waren. Hieraus wurde jedoch damals schon ein Feindbild konstruiert, welches eine materielle Grundlage hatte, aber auch schon zu diesem Zeitpunkt inhaltlich falsch gewesen ist. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus hat dieses Feindbild seine reale Grundlage gänzlich verloren und ist im modernen Antisemitismus vollständig zur Projektion geworden.

Antisemitismus assoziiert nicht nur fälschlicherweise das Jüd:innentum mit dem „bösen raffenden Kapital“, er tabuisiert zugleich auch die eigentliche Quelle kapitalistischen Reichtums. Es wird der/die industrielle, zumal deutsche Kapitalist:in zu einem besonders produktiven „arbeitenden Menschen“ verklärt, obwohl dessen/deren Reichtum ausschließlich aus der Aneignung fremder Arbeit entspringt.

Insbesondere in Krisenzeiten, wie bereits erklärt, entsteht für Kleinbürger:innen, die Mittelschicht, sowie Teile der „Eliten“ ein Bedürfnis nach Pseudoerklärungen für das erfahrene Unglück, welches auch Teile der Arbeiterinnenklasse ergreifen kann. Der Antisemitismus bildet so eine reaktionäre, irrationale und persönliche Einstellung, die zudem Ideologie einer ganzen Bewegung wird, welche bis in Pogrom und Faschismus münden kann.

Wie bekämpfen?

Wir sehen also: individuelles und kollektives psychisches Geschehen sind nicht identisch, verbinden sich aber, wie eben beschrieben, und tun dies auch klassenspezifisch.

Da der gesellschaftliche Irrationalismus auf den Grundstrukturen der Gesellschaft basiert und deren notwendige Erscheinungsform darstellt, erweist sich die bürgerlich-aufklärerische Kritik am Antisemitismus als unzulänglich und wirkungslos. Im Zuge der bürgerlichen und rein moralischen Kritik an Populismus, Antielitismus und Pseudoantikapitalismus des Antisemitismus werden die bürgerlichen Verhältnisse selbst verklärt. Es wird verkannt, dass gerade sie es sind, die die Grundlage dafür bilden, dass Antisemitismus zwangsläufig immer wieder aufflammen muss. So wie dem/r Antisemit:in zum Beispiel der deutsche als der eigentliche Mensch erscheint, so erscheint der bürgerlichen Ideologie das bürgerliche Individuum als das eigentliche. Während die Antisemit:innen das Ende der Entfremdung in der Volksgemeinschaft imaginieren, erklärt die bürgerliche Kritik letztlich die Existenz der Entfremdung für unwahr.

Für den Marxismus hingegen geht es darum, die reale Grundlage für antisemitische Ideologie aufzuheben und das heißt, die Bedingungen zu schaffen, wo der Mensch kein „erniedrigtes, […] geknechtetes, […] verlassenes […] Wesen […]“ mehr sein muss, um es mit den Worten von Marx zu sagen. Das heißt aber notwendig auch die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenbewegung, die diese Verhältnisse auch revolutionär überwinden kann. Das Verständnis und die Kritik sowohl reaktionärer wie pseudoradikaler „Lösungen“ bildet einen notwendigen Beitrag zur Herausbildung eine solchen Bewegung.

Auch Leo Trotzki sprach sich für eine psychoanalytische Auseinandersetzung mit den soeben erläuterten Mechanismen aus. Er beschäftigte sich tiefgreifend mit der Massenpsychologie des Faschismus und erkannte, dass es gerade diesem gelinge, dem Wunsch nach Aufstandsbewegungen nachzukommen, die destruktiven Energien aber auf Ersatzobjekte umzulenken. Gleichzeitig gelingt es dem Faschismus sogar, eben diese aggressiven Bestrebungen zur Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung und ihrer demokratischen Errungenschaften zu nutzen, was zu den zentralen Zielen des Kapitals gehört. So schreibt Trotzki, dass der italienische Faschismus direkt aus dem von den Reformist:innen verratenen proletarischen Aufstand erwuchs, also die aufständischen Potentiale „erfolgreich umgelenkt“ wurden. Es sind die Erfahrungen von Niederlagen, Drangsal und Demoralisierung, die viele Arbeiter:innen in Folge der Schwäche ihrer Führung besonders empfänglich machen für nationale und antisemitische Optionen im Kampf gegen ihre Unterdrücker:innen. Eben dieser Klassenkampfbezug fehlt sowohl bei Simmel wie auch bei Adorno. Letzterer geht davon aus, dass die sogenannte Massenkultur, die Vereinzelung und Entfremdung des bürgerlichen Individuums in der Konkurrenz der warenproduzierenden Gesellschaft ausschließlich die Ursache für narzisstische Regression sind, welche den antisemitischen Komplex nach sich ziehe. Er geht sogar noch weiter und stellt die Überlegung an, dass letztlich alle sozialen Bewegungen im Spätkapitalismus zum Faschismus tendieren, da die Verdinglichung so allumfassend und unüberwindbar sei. Doch wohin führt uns diese Behauptung? Das müsste ja bedeuten, dass jeglicher zivilisatorische Fortschritt zwangsläufig ein Zerstörungsprozess ist und es keine Aussicht auf ein Leben in einer besseren, einer befreiten Gesellschaft geben kann. Aus dieser Perspektive heraus kann eigentlich nur noch vor dieser Aufgabe kapituliert werden. Es ist sehr wohl richtig, dass Antisemitismus ein notwendiges Nebenprodukt bisheriger menschlicher Zivilisationen im engeren Sinne (also mit Beginn der geschriebenen Geschichte) ist, da diese stets in Klassengesellschaften lebten. Es ist nicht die menschliche Gesellschaft als solche, die den Antisemitismus hervorbringt. Es sind die Klassenwidersprüche, die die Grundlage für juden-/jüdinnenfeindliche Überzeugungen bilden. Adorno und Simmel blenden jedoch die historische Aufgabe der Arbeiter:innenklasse in ihren Theorien aus. Die These vom Totalitarismus der Verdinglichung nach Adorno zieht in der Praxis verheerende Folgen für viele Linke nach sich, welche die faschistische Gefahr dauerhaft und überall vermuten und somit einen tatsächlichen Rechtsruck, wie er sich seit der Krise 2008/09 vollzieht, verkennen.

Gewiss macht die zunehmende Verdinglichung im Kapitalismus einzelne Individuen besonders empfänglich für rassistischen, nationalistischen oder antisemitischen Hass. Der Auffassung Adornos ist aber unbedingt entgegenzusetzen, dass es das Proletariat selbst ist, welches durch seine Rolle im Produktionsprozess die Möglichkeit besitzt, durch solidarische Selbstorganisation und Herausbildung der Kontrolle über seine Arbeitsprozesse eben gerade diese Verdinglichung zu durchschauen und progressive Alternativen sozialen Zusammenlebens und -arbeitens emotional erfahrbar zu machen. Es sind demnach sehr wohl Massenbewegungen möglich, welche selbstbewusste und kritische Subjekte in einem demokratischen Prozess vereinen. Und nur so kann auch die Arbeiter:innenklasse als Ganze ihre historische Rolle spielen, indem sie das Ausbeutungsverhältnis, aus dem eben die oben genannte Verdinglichung entsteht, überwindet.

Wir hoffen, Euch die psychologische Dimension des Antisemitismus ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn Ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. In unserer kommenden Folge soll es darum gehen, welches Vorgehen gegen das Phänomen des Antisemitismus von einem Standpunkt der Arbeiter:innenklasse ein wirklich wirksames ist und welche Schlussfolgerungen die Unterdrückung eher noch manifestieren.




Wurzeln des Antisemitismus

Teil 1 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 4, Podcasts der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Katjuscha und Lina und der Frage: Wie vollzog sich die Geschichte des Judentums und des Antisemitismus (aus einer historisch materialistischen Perspektive)?

In der heutigen Folge gehen wir den historischen Wurzeln des Antisemitismus auf die Spur und beschreiben die Veränderung vom mittelalterlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus anhand gesellschaftlicher sowie ökonomischer Entwicklungen. In einer weiteren Folge versuchen wir, uns der Massenpsychologie des Antisemitismus zu nähern und gehen auf Zusammenhänge zwischen Psyche und Gesellschaft ein. Wie sich der Antisemitismus heute zeigt und welche Ansätze zum Kampf gegen ihn derzeit existieren und für welche Positionen wir als Gruppe Arbeiter:innenmacht eintreten, wird Gegenstand der letzten Folge unserer Reihe zu Antisemitismus werden.

Unsere Auseinandersetzung mit dem Thema ist sicherlich nicht erschöpfend, aber bietet Ansatzpunkte, um Antisemitismus im Kern verstehen und Ansätze zum Kampf gegen ihn entwickeln zu können.

Aber beginnen wir zunächst mit dem Anfang. Die jüdische Geschichte, deren Ursprung zu großen Teilen hinter Mythen verborgen liegt, ist schon seit vielen Jahrhunderten eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Umsiedlung. In der Antike werden Juden/Jüdinnen durch die römische Eroberung aus Judäa vertrieben. Im europäischen Mittelalter hetzen Kleriker gegen Juden/Jüdinnen und wütende Mobs verfolgen diese. Mit Beginn des Kapitalismus bahnt sich eine vernichtende Form der Verfolgung an, die in die bisher historisch singuläre Katastrophe mündet: dem millionenfachen industriellen Massenmord an Juden/Jüdinnen durch Nazideutschland.

Es ist eine Geschichte von Leid, Schrecken und Grausamkeiten. Dennoch wandeln sich die Formen der Verfolgung, stets eingebettet in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte. Um die Entwicklung von Antisemitismus verstehen zu können, ist es relevant, die Entwicklung der menschlichen Zivilisation von damals bis heute als eine von Klassenkämpfen zu begreifen und die ökonomische Funktion von Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Formen der Klassengesellschaft zu analysieren. Wir wollen also eine historisch-materialistische Analyse der jüdischen Geschichte vornehmen.

Viele Ansätze tun dies nicht. Sie beschreiben jüdische Geschichte aus einer idealistischen Betrachtungsweise heraus. Idealismus begreift die Idee als Ursprung für die Wirklichkeit. Im Gegensatz zum Materialismus, der den Ursprung der Wirklichkeit in der Materie sieht. Also in dem, was den Menschen umgibt und dadurch dessen Bewusstsein formt. Damit sind die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Produktionsverhältnisse gemeint, die das vorherrschende Bewusstsein prägen.

Natürlich gibt es eine beidseitige Wechselwirkung zwischen Ideologie und Materie. Der dialektische Materialismus begreift aber letztere als das Grundlegende.

Das ist jetzt etwas abstrakt, wird aber anschaulich bei der Untersuchung der Frage, wie das Judentum trotz der vielen Widerstände, Vertreibungen und Zerstreuung über so viele Jahrhunderte erhalten bleiben konnte.

Eine gängige Antwort auf diese Frage liefern Erzählungen über die Diaspora. Diese besagen, dass der Ursprung allen Unheils, das über das Juden und Jüdinnentum gekommen ist, in der Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Judäa durch die Römer:innen ab dem 1. Jh. unserer Zeitrechnung, läge.

Tatsächlich konnte sich Judäa, eine Region auf dem Gebiet des heutigen Israels und Palästinas, damals als eigenes Königreich behaupten und existierte über fast einhundert Jahre als jüdisches Reich mit gewisser Unabhängigkeit. Dieses fand ein jähes Ende durch die Annexion als römische Provinz. Es kam zum sogenannten jüdischen Krieg, in dessen Zuge Jerusalem erobert und der Tempel zerstört wurde. Die Unterwerfung unter das römische Reich und die Verwaltung durch einen Statthalter führte zu religiöser Unterdrückung, Aufständen und verstärkter Auswanderung.

Der Mythos der Diaspora lautet: Judäa unterschied sich vor der Zerstörung Jerusalems durch das römische Reich nicht von anderen „Nationen“ (z. B. der römischen oder griechischen). Durch die Kriege zwischen Römer:innen und Juden/Jüdinnen wurden die Juden/Jüdinnen aus ihrer ursprünglichen Heimat (Israel/Palästina) vertrieben und in alle Himmelsrichtungen zersprengt. Juden/Jüdinnen mussten fortan in der Diaspora von Ort zu Ort wandern – zusammengehalten durch das starke Band ihrer religiösen Gemeinschaft und mit der ewigen Hoffnung, in die ursprüngliche Heimat zurückzukehren.

In dieser Beschreibung wird also die „nationale Idee“ und die „Kraft des eigenen Willens“ als Erklärung für den Erhalt des Judentums herangezogen.

Im Gegensatz zu dieser idealistischen Erklärung würden wir die Wirkrichtung in umgekehrter Richtung analysieren und sagen, dass das starke religiöse Band und die kulturelle Verbundenheit der zerstreuten Juden/Jüdinnen aus einer materiellen Notwendigkeit heraus entstand. Also deren Folge ist und nicht deren Ursprung. Aber dazu später mehr.

Hier ist noch anzumerken, dass wir, wenn wir von Nation sprechen, nicht die Nation im heutigen Sinne meinen. Weder Römer:innen, Griech:innen noch Juden/Jüdinnen waren in der Antike eine Nation im modernen Sinne. Diese entstand erst später im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft.

Zunächst mal zur Frage, warum es überhaupt zur Diaspora kommt, was übersetzt nicht nur Vertreibung, sondern auch Zerstreuung bedeutet. Die Übersetzung aus dem Griechischen zeigt bereits, dass es sich hierbei nicht nur um eine erzwungene Vertreibung, sondern auch um eine Auswanderung aus anderen Gründen handeln kann.

Dazu wollen wir uns vorerst genauer die jüdische Geschichte in der Antike ansehen. Es ist sicherlich richtig, dass die Zerstörung des jüdischen Zentrums durch das römische Reich zur verstärkten Auswanderung führte, wobei die Vertreibung vor allem die herrschenden Klassen betraf. Jüdische Bauern/Bäuerinnen wurden demgegenüber unter römischer Herrschaft oftmals zur Assimilierung gezwungen.

Historische Quellen belegen aber vor allem, dass auch schon vor der Niederlage in den jüdischen Kriegen ein Großteil der Juden und Jüdinnen in der Diaspora, verteilt um das Mittelmeer, lebte. Warum? Das historische Judäa liegt in der Region um Jerusalem, besteht hauptsächlich aus Wüste, die sich zwischen Jerusalem und dem Toten Meer erstreckt, und dem Jerusalem umgebenden Bergland. Da das Bergland, was den Juden und Jüdinnen zur Verfügung stand, nicht besonders fruchtbar war, reichte es schlicht nicht aus, um dem Volk die Lebensgrundlage zu sichern. Es ist also anzunehmen, dass Juden/Jüdinnen schon weit vorher darauf angewiesen waren, ihre Existenz anderweitig zu bestreiten.

Ebenso liegt das damalige Judäa im Einflussgebiet zweier zentraler Fernhandelsrouten, die ihren Ursprung lange vor unserer Zeitrechnung haben. Der via maris, welcher vom Nildelta über die israelische Küstenebene nach Damaskus führt, und der Weihrauch- und Königsstraße, welche südlich der Arabischen Halbinsel beginnt und sich durch Jordanien nach Damaskus zieht. Es ist also naheliegend, dass Juden/Jüdinnen seit jeher im Handel tätig waren, um ihre Existenz zu sichern. Sie lebten vom Fernhandel, wo hauptsächlich Luxusgüter wie Metall, Glas, Olivenholz und Edelsteine gehandelt wurden, und vom Regionalhandel, wo es vor allem um Waren des alltäglichen Gebrauchs wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Gewürze, Kleidung ging.

Eine gewisse Zerstreuung der Juden und Jüdinnen ging automatisch mit ihrer Tätigkeit im Fernhandel einher, da Güter, die an einem Ort gekauft wurden, an einen anderen Ort transportiert werden mussten, um sie dort weiter zu verkaufen. Juden/Jüdinnen breiteten sich entlang der Handelswege aus und ließen sich in zahllosen Städten in Europa und Asien nieder. Die Handelsrouten und die Einbindung von Juden/Jüdinnen in den Handel bestanden schon mehr als tausend Jahre vor der römischen Annexion. Der ursprüngliche Grund für die Auswanderung der Juden und Jüdinnen muss zunächst also in den geographischen Gegebenheiten Palästinas gesucht werden.

Die Frage, wie das Juden und Jüdinnentum trotz der großen räumlichen Verteilung über so lange Zeit erhalten bleiben konnte, wurde damit aber noch nicht beantwortet. Dafür muss man genauer untersuchen, wie Fernhandel in der vorkapitalistischen Gesellschaft funktionierte. Im Gegensatz zur heutigen vernetzten und globalisierten Welt war es damals äußerst schwierig, Handel über so weite Distanzen zu organisieren.

Es benötigte spezialisierte Schichten der Bevölkerung, die über Sprachkenntnisse und Wissen über Handelswege verfügten und Beziehungen in andere Städte hatten. Diese Funktion nahmen unter anderem Juden/Jüdinnen ein. Für das Aufblühen der Handelstätigkeit war es förderlich, dass Juden/Jüdinnen über dieselbe Sprache und eine einheitliche Schrift verfügten, um Wissen und Erfahrungen weitergeben zu können. Es ergab also Sinn, dass die ökonomische Funktion des Handels durch eine Bevölkerungsgruppe aus einem Kulturkreis ausgefüllt wurde. Abraham Léon, ein jüdischer Trotzkist, der in Auschwitz ermordet wurde, beschreibt in seinem Buch „Die jüdische Frage“ von 1942, dass hier eine Gesellschaftsschicht von einer Bevölkerungsgruppe gebildet wurde – was nichts Ungewöhnliches für vorkapitalistische Gesellschaften ist.

Léon stellt dar, dass sich in der Diaspora große Teile der jüdischen Bevölkerung aber auch völlig in die vorgefundene Kultur integriert haben. In Nordafrika beispielsweise seien viele Juden und Jüdinnen in der Landwirtschaft tätig gewesen, was zur vollständigen Eingliederung in die dort bestehende Gesellschaft geführt habe. Trotz der zunächst vorhandenen religiösen Unterschiede sei es unter anderem durch Heirat über mehrere Generationen hinweg zu einer kulturellen Anpassung gekommen. Juden und Jüdinnen haben hier aufgehört, eine eigenständige Schicht zu bilden und sind – wie auch die übrige Bevölkerung dort – Bäuer:innen geworden. Ein isoliertes gesellschaftliches Leben sei hauptsächlich in den Städten, in welchen Juden und Jüdinnen mit Handel beschäftigt waren, bestehen geblieben.

Das Weitertragen der jüdischen Kultur und Religion hat also eine bestimmte ökonomische Funktion.

Generell kann man sagen, dass die Handelstätigkeiten in der Antike bis hin ins Mittelalter für viele Juden/Jüdinnen relativen Reichtum brachten.

Trotz Vertreibungen gab es relativ stabile Lebensbedingungen, sodass die jüdische Kultur aufblühen konnte. In unterschiedlichsten Räumen der Welt entwickelten sich verschiedene Ausprägungen jüdischer Religion und Identität. In Europa lebten die Aschkenasim, auf der Iberischen Halbinsel die Sephardim, im arabischen Raum die Mizrachim. Nur eine Minderheit lebte in Palästina und niemand hat im Traum daran gedacht, dorthin zurückzukehren.

Es war aber auch nicht alles rosarot. Die Wurzeln von Judenhass reichen bis in die Antike zurück. Hier keimte Hass auf, der sich später mit Durchsetzung des Christentums zum mittelalterlichen Antijuadismus entwickelte.

Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, wollen wir uns die vorherrschenden gesellschaftlichen Gegebenheiten im Feudalismus des mittelalterlichen Europas genauer anschauen. Ein Großteil der damaligen Bevölkerung lebte von den Erzeugnissen der Landwirtschaft. Die Bauern/Bäuerinnen produzierten alles, was zum Leben nötig war, selbst. Sie verbrauchten den Großteil ihrer Erzeugung, der Rest wurde getauscht. Getreide wird gegen Leinen getauscht, Hosen gegen Stühle und Schuhe gegen Messer. Es gab natürlich schon Geld in Form von Münzen, das zur Erleichterung des Tausches eingesetzt wurde. Es war jedoch wesentlich auf seine Funktion als Tauschmittel reduziert. Abgaben, die die Bauern/Bäuerinnen an die Grundherren abtreten mussten – das so genannte Lehen – wurden zunächst in Natural-, später in Geldform getätigt. Geld spielte aber noch eine untergeordnete Rolle. Generell war es ein mehr oder weniger abgeschlossener Wirtschaftskreislauf, der wenig Fragen aufwarf. Man kennt den Schuster von nebenan und weiß, wo das Getreide gemahlen wird.

Der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ist zunächst auf ihre verbreitete Funktion als Händler:innen zurückzuführen. Die ersten Kaufleute, die unbekannte Waren aus fernen Regionen brachten, wurden immer als Fremde wahrgenommen. Generell stieß jegliche wirtschaftliche Aktivität, die nicht direkt mit Landwirtschaft und der Verarbeitung ihrer Erzeugnisse zu tun hatte, auf Ablehnung. Es war schwierig, diese zu begreifen. Wie können Kaufleute, ohne eigene Produkte herzustellen, ihren Lebensunterhalt bestreiten? Wie ist es möglich, dass sie ohne schwere körperliche Arbeit gewissen Reichtum erwirtschaften können? Woher kommt das Geld? Und warum verarmen Menschen, die in Kontakt mit Geldwirtschaft kommen?

Durch ihre Tätigkeit als Händler:innen wird auf Juden und Jüdinnen schon damals eine Verkörperung des fremden und unheimlichen Geldes projiziert.

Im Verlauf des europäischen Mittelalters veränderte sich die ökonomisch vorteilhafte Situation für Juden und Jüdinnen und mit ihr nimmt die Gewalt gegen sie zu.

Es kommt, vor allem in Westeuropa, zu einer Periode intensiver wirtschaftlicher Entwicklung. Wir sind gerade im 11. Jh. unserer Zeitrechnung und die Landwirtschaft ist nach wie vor der dominanter Wirtschaftszweig. Es kommt zu Innovationen (wie z. B. der Ausbreitung der Dreifelderwirtschaft), die den Ertrag erheblich steigern konnten. Auch in anderen Wirtschaftsbereichen kam es zu Produktivitätssteigerungen wie zum Beispiel im Textilhandwerk durch Verbreitung des Trittwebstuhls. Die günstigen Bedingungen führten zu einem breiten Bevölkerungswachstum. Bauernsiedlungen werden zu Dörfern, Dörfer zu Städten, die Städte zu Handelszentren, in denen die Produkte getauscht werden.

Für Juden und Jüdinnen, die bis dahin ihre Existenz zu großem Teil durch Handelstätigkeit bestritten, bedeutete diese Entwicklung nichts Gutes. Bis dahin hatten sie eine gewisse Sonderrolle mit großer Bedeutung inne. Teilweise waren sie die einzige wirtschaftliche Verbindung zwischen Europa und Asien. Das Entstehen einer städtischen Industrie und das Aufkommen einer einheimischen Handelsklasse führten zu einer verstärkten Konkurrenzsituation. Juden und Jüdinnen wurden aus dem Handel gedrängt und entwickelten sich zunehmend zu einer Randschicht.

Mit dem expandierenden Binnenhandel nahm auch die Bedeutung der Geldwirtschaft stetig zu. Es wurde vermehrt Geld eingesetzt, um den Handel zu organisieren. Zunehmend nicht mehr nur im Fern-, sondern auch im Regionalhandel. Da es Juden und Jüdinnen häufig nicht mehr möglich war, durch Handelstätigkeiten ihre Existenz zu sichern, blieb ihnen die Nische des Geldverleihs. Dieser wurde statt spezialisiertem Handwerk und Handel zur Haupteinnahmequelle.

Dass Geldverleiher:innen, die notgedrungen auch Schuldeneintreiber:innen sind, nicht die beliebtesten Teile der Bevölkerung darstellen, ist naheliegend. Mit dem Verbot seitens der Kirche, das Christ:innen den Geldverleih untersagte – das sogenannte Zinsverbot v. a. aus dem Alten Testament – besaßen Juden und Jüdinnen das Monopol für Kreditgeschäfte und wurden zu gesuchten und gehassten Geldverleiher:innen.

Im Unterschied zum Kapitalismus, wo Kredite bestimmend als Investition in gewinnbringende Produktion gesteckt werden, wurden sie im Feudalismus hauptsächlich zwecks Konsums vergeben. Sie wurden also nicht benutzt, um aus Geld noch mehr Geld zu machen, sondern ausgegeben für Kriegstätigkeiten, Prestigebauten und anderweitigen Konsum der Herrschenden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kredite nicht zurückbezahlt werden konnten, war dabei relativ hoch. Um sich abzusichern, mussten hohe Zinsen verlangt werden, was von den Schuldner:innen als „Wucherzinsen“ wahrgenommen wurde.

In dieser Zeit entstanden Stereotype von „gierigen Juden/Jüdinnen“. Es entwickelte sich das Zunftwesen, das Nicht-Christ:innen von handwerklichen Berufen ausschloss. Für Juden/Jüdinnen blieben nur noch sehr spezifische Handwerkstätigkeiten und der Geldverleih als Einnahmequelle. Ihnen wurde verboten, Waffen zu tragen und bestimmte Ämter auszuführen. Jüdisches Kapital geriet vermehrt in Konflikt mit allen Klassen der Gesellschaft. Es folgte eine Periode grausamster Verfolgungen und blutiger Aufstände.

Die Hetze gegen Juden/Jüdinnen wurde häufig von den Feudalherr:innen selbst initiiert, da diese die Hauptabnehmer:innen der Kredite waren. Adelige und Kleriker waren von Schulden geplagt und teilweise nicht mehr zahlungsfähig. Daher kam ihnen die Vertreibung teilweise sogar gelegen. Von der Kirche wurde die Hetze gegenüber Juden/Jüdinnen legitimiert. Sie wurden als „Mörder:innen Christi“ bezeichnet und als Verräter:innen und Verdammte verleumdet. Mit Beginn der Kreuzzüge kam es in Mitteleuropa auch zu den ersten großen Pogromen, die sich dann in schlimmer Regelmäßigkeit wiederholten. Beim Kreuzzugwahn wurden auch Juden/Jüdinnen zum Teil der Feindeswelt. Mythen über Brunnenvergiftungen, „teuflische“ Rituale und Kinderopfer wurden ausgeschmückt und verbreitet.

Gleichzeitig bestand eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Herrschenden und Juden/Jüdinnen. Die Zentralgewalten benötigten die Kredite zur Finanzierung ihrer Herrschaft. Daher wurden Erklärungen erlassen, die Juden und Jüdinnen unter besonderen Schutz stellten. Solche Schutzprivilegien wurden beispielsweise von den Königen Englands, Frankreichs und vom deutschen Kaiser erlassen. Sie drohten hohe Strafen für Gewalt gegen Juden und Jüdinnen an. Auf der anderen Seite durften sich Juden/Jüdinnen nicht selbst verteidigen und mussten für den Schutz hohe Steuern zahlen.

Die Hetze gegenüber Juden und Jüdinnen wird teilweise von den Herrschenden entfacht und Pogrome werden entfesselt. Auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit bieten diese zeitweise aber auch Schutz. Der mittelalterliche Antijudaismus geht also nicht bis hin zur Forderung der Vernichtung von Juden/Jüdinnen und ist geprägt von religiösen Argumentationen.

Mit dem Aufstreben des Kapitalismus ändert sich die gesamte gesellschaftliche Situation und damit die gesellschaftliche Stellung von Juden und Jüdinnen. Der Hass gegen sie entwickelt eine neue Qualität – den modernen Antisemitismus.

Der bisher vorherrschende christliche Antijudaismus, der auf kulturell-religiöser Tradition aufbaut, ist nicht gleichzusetzen mit dieser neuen Form, die sich mit dem Kapitalismus entwickelt. Das verbindende Element der beiden Formen des Antijudaismus bzw. Antisemitismus besteht darin, dass beide als Ersatzaufstände gegen die jeweils bestehende Herrschaftsform begriffen werden können. Der Wunsch der Unterdrückten, gegen die Unterdrückung aufzubegehren, wird nicht gegen die Herrschenden gerichtet, sondern auf Juden und Jüdinnen projiziert. Das trennende Moment liegt in der Art der Projektion. Im christlichen Antijudaismus wird auf Juden/Jüdinnen die Verkörperung des Teufels projiziert. Sie werden als etwas Teuflisches, in diesem Sinne Antichristliches, dargestellt. Im modernen Antisemitismus werden die schädlichen Seiten des Kapitalismus auf Juden und Jüdinnen projiziert. Sie werden mit dem „raffenden Kapital“ assoziiert. Aber dazu später mehr.

Über die Ersatzaufstände werden wir in Bezug auf Mario Erdheim und die sogenannten Freudomarxist:innen auch im zweiten Teil unserer Podcastreihe noch genauer eingehen.

Zurück zu den gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten zu Beginn des Kapitalismus. Mit der Industrialisierung in Europa beginnt auch ein grundlegender Wandel der bestehenden Klassengesellschaft. Feudale Strukturen sterben ab und neue Klassen entwickeln sich: die Kapitalist:innenklasse und das Proletariat.

Kleine Handwerker:innen werden durch die industrielle Produktion verdrängt. Sie können mit der Konkurrenz durch die Massenfertigung nicht mithalten. Bauern und Bäuerinnen werden von ihrem Land vertrieben und ihres Eigentums beraubt, das zunehmend zentralisiert wird. Diese Entwicklung wird als Bestandteil der ursprünglichen Akkumulation bezeichnet.

Die Bevölkerung wird ihrer Mittel zum Lebensunterhalt beraubt. Menschen verlieren ihre Produktionsmittel. Sie werden von ihrer Subsistenzwirtschaft losgerissen und müssen als freie Proletarier:innen ihre Arbeitskraft in den Fabriken verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Es kommt zu einer Migrationsbewegung vom Land in die Städte, aber auch zur Auswanderung. Die allgemeine Auswanderungsbewegung verbindet sich mit der jüdischen. Denn auch für Juden/Jüdinnen hat die Auflösung feudaler Strukturen weitreichende Folgen. Diese waren – wie wir vorher gehört haben – bisher hauptsächlich im Handel, Kreditwesen oder im spezialisierten Handwerk tätig.

Die zunehmende Bedeutung von Fernhandel und die Entwicklung der europäischen Hafenstädte zu zentralen Umschlagplätzen führt zur Entstehung einer einheimischen Handelsbourgeoisie. Auch erfordert die neue kapitalistische Produktionsweise andere Formen der Finanzierung. In Italien entsteht im 13. Jahrhundert das Bankenwesen, das sich nach ganz Europa ausweitet. Auch im deutschsprachigen Raum tritt mit den Fuggern eine mächtige Bankiersfamilie auf.

Diese Entwicklung stellt eine Bedrohung der Lebensgrundlage und eine zunehmende Konkurrenz für jüdische Kaufleute und Geldverleiher:innen dar. Ihre besondere Rolle in der Gesellschaft beginnt sich zunehmend aufzulösen. Sie integrieren sich in die sich entwickelnden Klassen. Einige Juden und Jüdinnen, die es geschafft haben, eigenen Reichtum anzuhäufen, schaffen es – durch den Erwerb von Produktionsmitteln –, in der Kapitalist:innenklasse aufzugehen. Sie bleiben Kaufleute oder werden zu Industriellen in den großen Industrie- und Handelszentren. Juden und Jüdinnen, die in Folge dieser Entwicklung ihre Lebensgrundlage verlieren oder auch schon vorher verarmt waren, sind gezwungen, gegen Lohn in den Fabriken zu arbeiten. Sie werden Teil der Arbeiter:innenklasse und schuften vor allem in der Konsumgüterindustrie.

Diese Entwicklung läuft keineswegs einheitlich in Europa ab. Während in Westeuropa die Industrialisierung schnell voranschreitet und sich Juden und Jüdinnen in die neue Klassenstruktur einfügen, läuft in Osteuropa die Entwicklung des Kapitalismus stockend. Juden und Jüdinnen finden keinen neuen Platz und verarmen. Gab es zunächst noch eine Migrationsbewegung Richtung Osten, da hier noch länger feudale Strukturen herrschten, führt der wachsende Antisemitismus zu einer Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Osteuropa. Viele wandern nach Westeuropa oder in die noch junge USA aus.

Der aus dem Mittelalter kommende Antijudaismus verbindet sich mit der Krise des Feudalsystems. Der Übergang zum Kapitalismus bringt Hunger, Verarmung und Elend mit sich. Juden/Jüdinnen werden verstärkt zu Sündenböcken für die Krisen der Zeit. Es werden Ursachen für das allgemeine Elend gesucht und in stereotypen Zuschreibungen zu Juden und Jüdinnen gefunden. Diese seien „gierig“ und „beuten das Volk aus“. Es kommt zu schlimmen Pogromen und Verfolgungen. Juden und Jüdinnen werden gezwungen, in Ghettos zu leben und charakteristische Kleidung zu tragen.

Doch woher kommt der neue Antisemitismus? Und worin besteht die neue Qualität des Hasses gegen Juden und Jüdinnen?

Im Vergleich zum Feudalismus ist das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus sehr viel schwieriger zu verstehen. Die mittelalterliche Gesellschaft beruht hauptsächlich auf der Ausbeutung der Bäuer:innen sowie der Abgaben an den Feudalherren. Bäuer:innen bewirtschaften das Land. Das daraus hervorgebrachte Produkt dient zum einen Teil der eigenen Reproduktion. Es wird hauptsächlich selbst konsumiert und ein kleiner Teil gegen andere Dinge (wie Kleidung etc.) getauscht. Ein anderer Teil muss als Grundrente – zunächst als Teil des hergestellten Produkts, später in Form von Geld – an den/die Grundherr:in abgegeben werden.

Dieses Verhältnis wird religiös verschleiert und somit politisch legitimiert. Die feudale Ordnung erscheint als natürlich und göttlich. Der Mensch ist von Natur aus ungleich. Ungleichheit erscheint daher auch als natürlich und gerecht. Trotz dieser religiösen Legitimierung ist das feudale Ausbeutungsverhältnis leichter zu begreifen als das kapitalistische. Einer besitzt Land, der andere muss Abgaben leisten, um dieses bewirtschaften zu dürfen und den Schutz des Lehnsherren zu genießen.

Im Kapitalismus ist alles etwas komplizierter, denn hier ist die Verschleierung des Ausbeutungsverhältnisses eine spezielle. Menschen verschiedener Klassen erscheinen zunächst frei und gleichberechtigt. Arbeiter:innen verkaufen scheinbar freiwillig ihre Arbeitskraft gegen einen scheinbar „gerechten Lohn“. Es besteht aber dennoch ein Ausbeutungsverhältnis. Arbeiter:innen werden nicht durch Androhung körperlicher Gewalt zur Arbeit gezwungen wie beispielsweise bei Sklav:innen. Doch sehr wohl aus ihrer ökonomischen Not heraus. Um zu überleben, müssen sie für Kapitalist:innen schuften, die sich dann einen Teil des erschaffenen Wertes aneignen. Die Arbeiter:innen selbst bekommen nur das, was sie zur Reproduktion Ihrer Arbeitskraft brauchen.

Diese gesellschaftlich-ökonomischen Prozesse werden in der Breite nicht analysiert und das gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnis nicht erkannt. Es wird systematisch verschleiert und erscheint daher auch nicht als Ausbeutung. Das erfahrene Leid wird nicht ursächlich begriffen, bleibt aber bestehen und sucht sich Ventile.

Alle Übel der Welt werden am Geld festgemacht, also rein auf der Zirkulationssphäre begriffen und auf die Zuschreibung von Schuld heruntergebrochen. Antisemitische Propaganda kann leicht an den Alltagserfahrungen der Menschen ansetzen und findet in der Assoziation von Juden/Jüdinnen und Geldwirtschaft eine willkommene Verknüpfung.

Die Unterteilung in Gut und Böse ist ein Instrument, um komplexe und schwer begreifliche Gegebenheiten zu vereinfachen und herunterzubrechen. Dieses Mechanismus’ bedient sich auch der moderne Antisemitismus. Er gibt eine Orientierung in unveränderlich gut („das gute deutsche schaffende Kapital“) und in unveränderlich schlecht („das böse jüdische raffende Kapital“) vor. Der Kapitalismus wird also nicht als Krisen produzierendes Ausbeutungsverhältnis zwischen Klassen verstanden, sondern als grundsätzlich funktionierendes System. Wären da nicht die „gierigen jüdischen Bänker:innen“. Juden und Jüdinnen werden als gierig, hinterlistig und feige dargestellt. Im Vergleich zu den „guten Deutschen“, die loyal, stark und heimattreu seien.

Statt sich gegen das System, also gegen die Kapitalist:innenklasse, zu richten, wendet der moderne Antisemitismus die Wut und Verzweiflung über das erfahrene Leid gegen Juden und Jüdinnen. In ihnen findet das Böse die Personifizierung. Juden und Jüdinnen werden mit dem Teufel assoziiert, dessen Maske man jetzt zu kennen scheint. Ängste und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung werden durch antisemitische Stereotype auf Juden und Jüdinnen projiziert, statt sich gegen das System zu richten. Was die Möglichkeit, tatsächlich Veränderung zu erreichen, vereitelt.

Besonders anfällig für solche Erklärungsansätze sind Teile der Gesellschaft, die vom Kapitalismus profitieren, aber von Krisen und großen Monopolkonzernen bedroht werden. Also vor allem kleine Unternehmen, Selbstständige und Handwerker:innen. Sie haben Ängste, abzusteigen und ihre ökonomischen Grundlagen zu verlieren.

Doch auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse kann Antisemitismus Fuß fassen, wenn die Wut gegen die Unterdrückung sich nicht mehr gegen die herrschende Klasse richten kann. Besonders die regelmäßig wiederkehrenden Krisenzeiten des Kapitalismus und die Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, bieten daher einen besonderen Nährboden für Antisemitismus.

Zugleich kann der moderne Antisemitismus nicht ohne die Entstehung von Nationen und Nationalstaaten verstanden werden, als Ausdruck kapitalistischer Herrschaft. Dafür ein kurzer Definitionsversuch. Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Dieser Begriff der Nation ist nicht deckungsgleich mit jenem der Auslegung der Tora. Hier resultierten das gemeinsame Selbstbewusstsein und die nationale Idee aus dem Glauben. Deutlich wird diese Auffassung durch die Bezeichnung der Juden und Jüdinnen als das Volk Gottes.

Die jüdische nationale Auffassung stand mit der Herausbildung von Nationalstaaten im Widerspruch.

Begriffe wie die des doppelten Nationalismus, wie sie im liberalen Judentum des 18. und 19. Jahrhunderts prägend waren, beispielsweise bei Moses Mendelssohn, waren nicht vereinbar mit dem bürgerlichen Nationalbegriff. Juden und Jüdinnen – mit der Idee der jüdischen Nation – stellten also die Herausbildung der Nationalstaaten in Frage. Nationalismus als dominante Ideologie bürgerlicher Herrschaft hat einen vereinnahmenden Anspruch und duldet kein Nebeneinander. Eine Gleichzeitigkeit von jüdischer Nationalidee und Zugehörigkeit zur bürgerlichen Nation war also nicht möglich.

Hieraus resultierten die Projektionen von Juden und Jüdinnen als „Fremdkörper“ in der Nation. Juden und Jüdinnen wurden als „parasitäres“ Volk im sonst gesunden deutschen Volkskörper verleumdet. Die Verschwörungstheorie der sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, die die angeblichen Pläne der jüdischen Weltverschwörung formulierten, sind Ausdruck einer solchen Stellung von Juden und Jüdinnen. Einerseits im Territorium ansässig, andererseits Fremde. Antisemitismus wird hier von bürgerlichen Kräften bewusst für die eigenen Ziele eingesetzt.

Wir werden an dieser Stelle noch nicht tiefer darauf eingehen, aber bereits in der frühen sozialistischen Bewegung gab es hier einen Richtungsstreit, wie der moderne Antisemitismus zu bekämpfen sei. Eine Perspektive formulierte der jüdische Frühsozialist Moses Hess, der die Notwendigkeit der politischen Emanzipation benannte, also die Gründung eines jüdischen Staates. Die andere stammte von Karl Marx, der die Bedingungen des Endes des Antisemitismus in der sozialen Emanzipation erkannte, also in der Beseitigung des Nationalstaats mitsamt der Klassengesellschaft. Und somit auch der Basis für die falschen Projektionen. Genauer werden wir darauf in der 3. Folge dieser Podcast-Reihe eingehen.

Zu einem schrecklichen Höhepunkt des modernen Antisemitismus kam es in Europa in den 1930er Jahren, als eine massive Krise des Kapitalismus wütete und Arbeitslosigkeit und Inflation den Menschen Hunger und Armut brachten. Die Arbeiter:innenbewegung konnte die Revolution aber nicht bis zum Sturz des Kapitalismus weitertragen, den Nationalstaat samt Klassenstruktur nicht beseitigen. Mit ihrem Niedergang war auch die Möglichkeit, sich zielführend gegen die Bedrohung des Kapitalismus zu wehren, verloren.

Die reaktionäre faschistische Bewegung konnte an den real werdenden Abstiegsängsten ansetzen und baute auf der sich von der Arbeiter:innenklasse abwendenden Klasse des Kleinbürger:innentums auf, um ihre Macht auszubauen. Antisemitismus wird hier bewusst eingesetzt und hat die Funktion, verschiedene Klassen ideologisch in einer Rasse aufgehen zu lassen und die „deutsche Volksgemeinschaft“ zu konstruieren, die sich gegen „innere und äußere Feinde“ verteidigen müsse. Hier sind wir also schon bei der Verschwörungstheorie par excellence angekommen: der Erzählung über die vermeintliche jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung.

Die Konsequenz dieser Ideologie sind Pogrome, Vernichtungsphantasien und Massenmord. Der Hass gegen Juden und Jüdinnen verbindet sich mit vermeintlich wissenschaftlich und biologisch argumentierten Rassentheorien und führt zu einer vernichtenden Form des Antisemitismus. Hier zeigen sich Verbindungslinien zum Rassismus auf, auch wenn beides sicherlich nicht das Gleiche ist. Die moderne Form des Rassismus entwickelte sich im Zuge der Kolonialisierung, um die schrecklichen Gräueltaten der europäischen Kolonialmächte zu legitimieren. Es entstand die Vorstellung eines „biologisch überlegenen Herrenvolkes“, das das „natürliche Recht“ habe, andere Völker zu versklaven. Eine willkommene Legitimierung, die es den Expansionsbestrebungen des europäischen Kapitalismus erlaubte, Menschen in den Kolonien zu unterdrücken und auszubeuten.

Der moderne Antisemitismus dient zwar nicht zur Beherrschung eines Gebietes, fußt aber auf derselben Konstruktion des „weißen Herrenvolkes“.

Auch reicht die „Theorie des reinen Blutes“, welche Faschist:innen benutzen, um ihre Schreckenswerke ideologisch zu legitimieren, bis in die frühe Kolonialzeit zurück. Ferdinand und Isabella, die beiden sogenannten „katholischen König:innen“, die 1492 die gesamte Iberische Halbinsel einnahmen und damit das Ende des muslimischen al-Andalus einleiteten, zwangen alle dort lebenden Juden und Jüdinnen, zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Viele jüdische Gemeinden lebten über mehrere Jahrhunderte weiter im Verborgenen. Diese wurden Ziel grausamer Verfolgungen durch die Inquisition. Es entstanden Erzählungen über die Unterwanderung der Gesellschaft durch Juden und Jüdinnen. Es wurden Abstammungslinien untersucht, um Juden und Jüdinnen zu entlarven. Es entstand die Theorie, dass Menschen „unreinen Blutes“ niemals „echten Glauben“ erlangen können. Die Inquisition fügte dem Antijudaismus also die Verschwörungstheorie der geheimen jüdischen Bünde hinzu und ist die erste europäische Institution, die rassistisch begründete Verfolgung betrieb.

Die beiden waren übrigens später die Geldgeber:innen für Kolumbus. Sie legten also den Grundstein für die spätere spanische Weltmacht und leiteten die Zeit der Kolonialisierung ein.

Aber darauf wollen wir jetzt nicht genauer eingehen und hier erstmal zum Ende kommen.

Wenn ihr Aspekte nochmal genauer nachlesen wollt, empfehlen wir euch unser Theoriejournal „Revolutionärer Marxismus“. Die 51. Ausgabe mit dem Titel „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ war die Grundlage für unsere Folge, ebenso wie der Text „Die jüdische Frage“ von Abraham Léon.

Ansonsten freuen wir uns, wenn ihr bei der nächsten Folge wieder dabei seid. In dieser wollen wir uns die psychische Welt des Antisemitismus genauer anschauen und versuchen, diese mit einer materialistischen Anschauung zu verweben, um zu verstehen, wie sich der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen zur vernichtenden Form des Antisemitismus entwickeln konnte.




Wagenknecht: Sackgasse Links-Konservativismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Gründen oder Nicht-Gründen – das ist in der Welt der Sahra Wagenknecht die nun alles entscheidende Frage. Der Bruch mit der Linkspartei steht längst fest, fraglich ist nur, ob im Herbst eine neue Partei gründet wird oder eben nicht.

Für Wagenknecht hängt das im Wesentlichen davon ab, ob sie sich auf Funktionär:innen, Apparat und ein Fußvolk stützen kann, das ihren Ansprüchen von „Politikfähigkeit“ und „Zuverlässigkeit“ genügt. Schließlich will sie sich nicht mit „dubiosen Figuren“ und „Querulant:innen“ abplagen, die eine neue links-konservative Partei nur zu leicht kaputt machen könnten. Programm, mediale Präsenz und innere „Demokratie“ – daran lässt sie keinen Zweifel – müssen auf sie zugeschnitten sein und auf sonst niemanden.

Ob sie ausreichend „prominente“ Unterstützer:innen, kleinere mediale Lichter, die neben Wagenknecht nicht glänzen wollen, und speichelleckende Klatscher:innen findet, die Sahra nicht nur bejubeln, sondern auch noch für sie die organisatorische Drecksarbeit erledigen, wird sich zeigen.

Ganz schlecht stehen die Chancen nicht. Aus dem Bundestag könnte sie sich auf bis zu 10 Abgeordnete stützen, aus der Linkspartei würden wohl einige Tausend Mitglieder samt gewählten Abgeordneten in den Kommunen und Landtagen das sinkende Schiff verlassen und unter neuer Flagge ihr Glück versuchen. Die aufstehen-Reste folgen Wagenknecht mit Sicherheit. Auch DKP und DIDF könnten an Bord sein, müssten sich der großen Führerin aber nach bestandenem Querulat:innen-Check ohne Wenn und Aber politisch unterordnen. Zuzutrauen ist ihnen das jedenfalls.

Wofür steht der Links-Konservativ?

Das Beste an Wagenknechts Partei-Projekt ist, dass niemand auf die formale Gründung oder das Programm warten muss, um zu wissen, wofür die neue Partei steht. Links-konservativ mag ja ein schräger Begriff sein, links ist daran jedoch – nichts!

Allenfalls verbrämen Wagenknecht und ihre Anhänger:innen das Projekt als „links“, weil sie in der Kriegsfrage und im Verhältnis zur NATO nicht so weit rechts stehen wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Das war es aber auch schon, politisch-programmatisch steht sie eindeutig rechts von der Partei DIE LINKE.

Chauvinismus und Rassismus

Seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 werden Wagenknecht und ihre Anhänger:innen nicht müde,  gegen offene Grenzen zu wettern. „Regulierte“ Zuwanderung lautet ihr Motto und sie befinden sich damit ganz auf Linie der Bundesregierung und Unionsparteien. Während die Linkspartei die jüngsten Angriffe auf das Asylrecht als rassistisch und menschenfeindlich bezeichnet hatte und damit einmal wenigstens verbal ein richtiges Zeichen setzte, ergriff Wagenknecht im Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, der Bildzeitung für Spiegel-Leser:innen, die Seite der EU-Staaten. Mit der Kritik an den geplanten Gefängnislagern zur Abfertigung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen dürfe man es sich, so Wagenknecht, nicht „so einfach“ machen, sondern man müsse erst abwarten und sehen, ob diese funktionieren!

Damit setzte sie ein weiteres rechtes Ausrufezeichen. Auch beim Schleifen des Asylrechts macht Wagenknecht gerne mit. Um diesen Scheiß zu rechtfertigen, greift sie einmal mehr in die Mottenkiste rechter Lügenmärchen. Die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen, behauptet Wagenknecht gegenüber „Die Welt“, wären schließlich nicht „die Ärmsten der Armen“, sondern stammten vor allem aus den Mittelschichten. Woher sie das weiß? Ganz einfach. Die „Ärmsten der Armen“ würden es nämlich gar nicht schaffen, Krieg, Hunger, Umweltkatastrophen zu entfliehen. Folglich könnten diese Menschen nur vergleichsweise „Privilegierte“ sein – und die könnten daher auch ebenso gut in Heimatländern wie Syrien und Afghanistan bleiben.

Sicherlich unterstützen nicht alle Anhänger:innen einer zukünftigen Wagenknecht-Partei diese lupenrein rassistischen und anti-demokratischen Positionen. Aber sie nehmen sie billigend in Kauf, wenn sie mitmachen.

Lifestyle-Linke vs. bodenständige Menschen

Mit Forderungen nach offenen Grenzen und einer „überzogenen“ Kritik an Einreisebeschränkungen bildet für diese auf dem rechten Auge Blinden vielmehr einen weiteren Beleg dafür, dass sich die Linke von den „normalen“, hart arbeitenden Menschen entfremdet hätte. Und damit nicht genug. „Übertriebener“ Genderismus,  Veganismus, Ökologismus und Kosmopolitismus seien allesamt Ausdruck desselben Grundproblems. DIE LINKE hätte sich lt. Wagenknecht und ihren Anhänger:innen von ihrer eigentlichen Klientel, den Lohnabhängigen, den Erwerbslosen, aber auch von den Handwerker:innen und vom „Mittelstand“ abgewandt. Sie würde sich auf urbane „Aufsteiger:innenmilieus“, auf Linksliberale konzentrieren.

Wagenknecht greift dabei reale Schwächen und Probleme der Identitätspolitik an – vermischt sie jedoch zu einem populistischen Brei, der auch gleich die Kritik an realer sozialer Unterdrückung, die in ihr zum Ausdruck kommt, entsorgt.

Wagenknecht punktet darüber hinaus, wenn sie den Rechtsruck von Grünen und SPD anprangert. Aber sie verkennt dabei vollkommen deren Ursache. Sie vermag diese Anpassung nicht als Ausdruck veränderter Akkumulationsbedingungen des Kapitals – und damit veränderter Rahmenbedingungen reformistischer, auf einen Klassenkompromiss zielender Politik zu begreifen. Die verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt verengt nämlich den Verteilungsspielraum für sozialpartnerschaftliche Politik, was bei der SPD, aber auch beider Linkspartei zu immer mehr Kompromissen an die uneingeschränkt kapitalistischen „Partner:innen“ führt.

Wagenknecht (und vor ihr Lafontaine) werfen im Grunde der SPD vor, an ihrer traditionellen Politik nicht einfach festzuhalten, weil sie in der Tat glauben, dass der Staat den Kapitalismus zum Wohle aller regulieren könne.

Daher bleibt ihre Kritik letztlich rein moralistisch. DIE LINKEN hätten sich von Sozialstaat und nationalstaatlicher Umverteilungspolitik abgewandt. Hätten sie das nicht getan, so der Umkehrschluss, könnten wir heute noch immer in einem schön funktionierenden Sozialstaat leben, in dem die Armen versorgt, die Arbeiter:innen angemessen entlohnt und die Unternehmer:innen ehrliche Gewinne machen würden.

Die sogenannte Lifestyle-Linke hätte sich jedoch nicht nur dem Neoliberalismus angeschossen, sondern sie würde auch unzumutbare Anforderungen an die Massen stellen, wenn sie ständig ihre Einstellungen und Verhaltensweisen in Frage stelle. Der „normale“ Mensch ist für Wagenknecht kein gesellschaftliches Wesen, die vorherrschenden Gedanken, Einstellungen und familiären Verhältnisse sind kein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern quasi-natürliche, letztlich unveränderliche Eigenschaften „der“ Menschen. „Normale“ Lohnabhängige seien ebenso wie „normale“ Kleinbürger:innen oder Kleinunternehmer:innen eben heimatverbunden, bodenständig, stolz darauf, Deutsche zu sein. Sie lebten mehrheitlich gern in Familien, sind gerne heterosexuelle Männer und Frauen und wollen nicht „ständig gemaßregelt“ werden, wenn sie einen Schwulenwitz machen.

Wagenknecht präsentiert sich dabei gern als Verteidigerin der einfachen Leute. In Wirklichkeit verhält sie sich jedoch paternalistisch und bevormundend, in dem sie darüber bestimmt sagt, was diese einfachen Leute ausmache und was nicht. Ihr Zufolge könnten die Lohnabhängigen „überzogenen“ Erwartungen an Fortschrittlichkeit prinzipiell nicht genügen. Man müsse die Menschen eben so nehmen, wie sie (angeblich) sind – darauf läuft das Kredo von Wagenknecht wie jedes (linken) Populismus hinaus. Ansonsten liefen die Leute zur AfD über. Und um das zu verhindern, müsse man eben auch den Ball flach halten, wenn es um rückständiges Bewusstsein unter der Masse der Bevölkerung geht.

Populismus und Elektoralismus

Das erscheint Wagenknecht und Co. umso zwingender und unproblematischer, weil es in ihrer politischen Konzeption erst gar nicht vorgesehen ist, das Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse zu verändern. Die Überwindung von inneren Spaltungen stellt für sie kein Problem dar, weil die Lohnabhängigen ohnedies nicht als Subjekt zur Veränderung der Gesellschaft begriffen werden. Sie bilden nur eine besonders zahlreiche Wähler:innenschicht unter anderen „Leistungsträger:innen“, die Wagenknecht ständig im Blick hat: Mittelschichten, städtisches und ländliches Kleinbürger:innentum und, als Krönung der deutschen Wirtschaft, nicht-monopolistische Unternehmen. Das Subjekt einer möglichen Veränderung ist nicht die Arbeiter:innenklasse, sondern es geht nur darum, bei den Wahlen möglichst viele Stimmen der einfachen Leute zu erhalten. Das Subjekt der Veränderung ist sie – Sarah Wagenknecht. Damit sie längerfristig Kreuzchen erhält, muss man den Menschen natürlich etwas bieten. Nämlich Ausgleich zwischen den Klassen, Gerechtigkeit, Sicherheit und Ruhe und Ordnung auf dem Boden der „sozialen Marktwirtschaft“.

Zur sozialen Marktwirtschaft zurück

Ludwig Erhard und Willi Brandt sind die Leitbilder der Wirtschafts- und Sozialpolitik einer Sahra Wagenknecht. Dabei sorgt der Staat für den Ausgleich zwischen den Klassen, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Das ginge, so können wir beispielsweise in „Reichtum ohne Gier“ nachlesen, weil gute Unternehmen eigentlich gar nicht auf Profit aus wären. Dieser entstünde auch nicht, wie uns Marx weismachen wollte, in der Ausbeutung im Produktionsprozess, sondern durch die Monopolprofite der Großkonzernen. Echte Unternehmen hingegen bräuchten gar keinen Kapitalismus, wohl aber eine funktionierende freie Marktwirtschaft.

Diesen kleinbürgerlichen Schwachsinn verkauft Wagenknecht – und der gesamte mediale Rummel um sie – allen Ernstes als „Theorie“, als „tiefgehende“ Gesellschaftsanalyse. Links oder gar marxistisch ist darin gar nichts.

Dafür tischt und Wagenknecht wie dereinst auch Oskar Lafontaine das Märchen auf, dass der Staat die Wirtschaft zum Wohle aller regulieren könne. Er müsse nur entschlossen eingreifen. Ansonsten drohten dem armen Deutschland Niedergang und Deindustrialisierung.

Damit der Staat im Inneren „freien“ und gerechten Wettbewerb organisieren könne, müsse er sich der Globalisierung widersetzen. Ansonsten werde er ohnmächtig und schwach. Nur auf Basis eines nationalen Programms könnten Wohlstand für alle und sogar ein gewisser Grad ökologischer Nachhaltigkeit erreicht werden. „Alle“ sind dabei natürlich nur deutsche Staatsbürger:innen und jene Ausländer:innen, die ihr Gastrecht nicht verwirkt hätten. Die anderen Länder der Welt müssten eben selbst eine solche Politik umsetzen – dann wird alles gut, sozial und gerecht auch in der Marktwirtschaft.

Dieses Programm wird von Wagenknecht zwar als klassenübergreifende Wohltat angepriesen. Den Interessen der Arbeiter:innenklasse entspricht es jedoch nicht. Im Gegenteil, es bindet die Lohnabhängigen an eine kleinbürgerliche Utopie, an ein Programm, das vor allem im Interesse des Kleinbürger:innentums und der auf den nationalen Markt orientierten Unternehmen liegt. Sollte sie wirklich mal in eine Regierungsverantwortung kommen, dann darf sie sich bereits an Tag eins nach Dienstantritt tief vor den verfluchten Monopolen verbeugen und sich als erste Vorkämpferin des deutschen Imperialismus beweisen – auch gegen die einfachen Leute. Es ist nicht die einzige Parallele zum Rechtspopulismus. Auch, dass rassistisch Unterdrückte und LGBTIA+ dann besonders mit Angriffen von der großen Führerin rechnen müssen, mit denen sie von ihrer völlig kapitalkonformen Politik ablenken wird (wenn auch gemäßigter und weniger aufgeblasen aggressiv als die AfD), passt dazu.

Starker Staat und sozialer Imperialismus

Die Schwachen, so hatte schon Oskar Lafontaine verkündet, bräuchten einen starken Staat. Dabei bleiben die Schwachen zwar auch weiter schwach – aber sie werden besser, „anständig“ und „ausreichend“ versorgt. Die Starken bleiben natürlich weiter stark, aber sie müssen höhere Steuern zahlen.

Die braucht der Staat schließlich, um weiter zu funktionieren. Damit ist bei Wagenknecht und Co. keineswegs nur (was immerhin richtig wäre) ein Ausbau von Bildung, Gesundheitswesen oder Infrastruktur gemeint.

Auch wenn sich Wagenknecht gern als Pazifistin hinstellt, so ist sie eine realistische „Pazifistin“. Deutschland brauche natürlich eine leistungsfähige, verteidigungsbereite Bundeswehr, erklärt sie in zahlreichen Interviews. Das Problem an der Kriegstreiberei der aktuellen Bundesregierung besteht für sie nicht darin, die eigene Armee aufzurüsten, sondern sich in Kriege zu verwickeln, die Deutschland schaden würden.

Doch mit der Anerkennung der Bundeswehr nicht genug. Wagenknecht fordert Investitionen für alle anderen Repressionsorgane- und Institutionen – für „unsere“ Polizei, „unsere“ Gefängnisse, „unsere“ Frontex-Kräfte und Abschiebebehörden. Racial Profiling von Migrant:innen oder Schikanieren von Jugendlichen durch Cops? All das gibt es in der Welt des Links-Konsverativismus allenfalls als Marginalie. Die Einzelfälle lassen grüßen.

So wie Wagenknecht den von Rassismus, Sexismus oder Transphobie Betroffenen und anderen gesellschaftlich Unterdrückten den Rücken kehrt, so wie sie von der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse durch das gesamte Kapital – inklusive des sog. Mittelstandes – nichts wissen will, so verschwindet für sie auch der Klassencharakter des bürgerlichen Staates.

Für die einstige Marxistin ist dieser längst kein Herrschaftsinstrument des Kapitals mehr, sondern eigentlich der Gipfel menschlicher Zivilisation. Wo der Staat keinen Klassencharakter mehr hat, verschwindet folgerichtig auch der deutsche Imperialismus.

Imperialistisch sind allenfalls die anderen – sicherlich die USA, wohl auch China, vielleicht sogar Russland. Deutschland droht in Wagenknechts Weltsicht unter die Räder zu kommen, ja abhängig zu werden, weil es die eigenen Unternehmen nicht ausreichend fördert und schützt. Während die Großkonzerne Teile der Produktion ins Ausland verlagern und so den Standort schwächen, drohen die „kleinen“, also die Mittelständer:innen, die auch mehrere Tausend Arbeiter:innen ausbeuten, einzugehen.

Wenn Wagenknecht ein düstereres Bild des deutschen Kapitalismus zeichnet, geht es ihr natürlich nicht um dessen Kritik, sondern um dessen Rettung. Die Bundesregierung, so ihr, der AfD nicht ganz ähnlicher Vorwurf, fahre unsere Wirtschaft „an die Wand“. Sie habe versagt, es brauche einen anderen Arzt am Krankenbett der Marktwirtschaft, einen, der Staat, Unternehmen und nebenbei auch noch die Lohnarbeit rettet. Dazu wären Regierung, Unionsparteien, aber auch die AfD nicht imstande. Dazu brauche es Wagenknechts rettende links-konservative Partei.

Deutschland-Retterin im Wartestand

Mehr noch als die reformistische Linkspartei bietet Wagenknecht eine neue links-konservative Partei als Rettung aller Klassen an. Und sie bedient dabei durchaus eine reale Stimmung. Der rechtspopulistischen AfD will sie eine (links)populistische Alternative entgegensetzen. Ob dies gelingt, ist zweifelhaft.

Es ist aber bezeichnend für den Charakter eine möglichen Wagenknecht-Partei, woher ihre potentiellen Wähler:innen kommen würden. In verschiedenen Umfragen wird einer solchen Partei ein Potential bis zu 25 % zugerechnet, was jenen Menschen entspricht, die sich vorstellen könnte, eine solche Gruppierung zu wählen. Ob sie das gegebenenfalls wirklich tun würden, ist eine andere Frage, aber die Herkunft dieses Potentials ist dennoch von Interesse.

Im Artikel „Wo liegt das Potenzial einer Wagenknecht-Partei?“ verweist Carsten Braband auf eine Studie des Instituts Kantar vom Februar 2023. Dieser zufolge kämen 15 % der potentiellen Wähler:innen von Linkspartei, 3 % von den Grünen, 12 % von der SPD, also insgesamt nur 28 %. Die überwältigende Mehrheit des Wähler:innenpotentials rekrutiere sich aus  bürgerlichen und rechten Parteien: FDP: 8 %, CDU/CSU: 22%, AfD 41%!

Diese Zahlen sind zwar auch für DIE LINKE bedrohlich, weil sie angesichts ihres maroden Zustandes das endgültige parlamentarische Aus der Partei herbeiführen könnten. Aber entscheidend ist, dass Wagenknecht in der AfD ihr größtes Wähler:innenreservoir vorfindet, folgt von den Unionsparteien!

Die Anhänger:innen von Wagenknecht betrachten dass als eine Bestätigung ihrer Rolle als Bürgerin und Rechten-Schreck. Doch warum spricht sie gerade diese Wähler:innen an? Ganz einfach. Sie verspricht einerseits eine gewisse soziale Sicherheit, die CDU/CSU und auch die AfD nicht ganz so überzeugend zu vermitteln zu vermögen. Vor allem aber signalisieren ihre Anhänger:innen: Reaktionäre Einstellungen, Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Transphobie – all das ist für Wagenknecht und Co. kein Problem, ja es erscheint ihnen geradezu als Erfolgsgarant. Indem man konservative und traditionelle „Werte“ zu Familie, Ehe, Migration akzeptiert und sich selbst zu eigen macht, würde man die Anhänger:innen der AfD mittels Sozialstaatsversprechen wieder für eine vorgeblich „linke“ Politik zurückgewinnen.

Das ist nicht nur spalterisch gegenüber den Lohnabhängigen und reaktionär, es ist auch dumm und kurzsichtig. Die letzten Jahre haben in zahlreichen europäischen Ländern gezeigt, dass gerade die rassistischen Zugeständnisse gegenüber den Rechten ihnen nicht das Wasser abgegraben haben, sondern diese bestärkt haben. Und so wird es auch hier laufen. Die Ideologie des Links-Konservativismus ist letztlich Wasser auf den Mühlen der AfD – nicht umgekehrt.

Wagenknecht macht hier im Grunde einen ähnlichen fatalen Fehler wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Während sich diese mehr und mehr dem grünen und sozialdemokratischen Parteien anpassen und dabei immer offener die demokratische verbrämte imperialistische Politik Deutschlands verteidigen, passt sich Wagenknecht an die rechten, konservativen und reaktionären kleinbürgerlichen Gegner:innen dieser Politik an. Ihr Programm und ihre Partei sind nicht Teil der Lösung des Krise der Arbeiter:innenbewegung, sondern ein mögliches neues, populistisches Hindernis.




Nach den Rechten schauen – AfD im Aufstieg

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, dann gewänne die Alternative für Deutschland (AfD) den aktuellen Schätzungen zur Folge 19 % der Stimmen. Sie wäre damit zweistärkste Kraft nach der Union. Das sind knapp 9 Zähler mehr im Vergleich zur letzten Bundestagswahl vom September 2021. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wäre sie aktuell stärkste Kraft. In allen Bundesländern hat sie zugelegt, außer in den Stadtstaaten und Niedersachsen. Und das ist bei weitem nicht auf den Osten des Landes beschränkt, wobei sie dort weiterhin deutlich höhere Stimmanteile hält.

So ist der prognostizierte Stimmzuwachs in NRW beispielsweise einer um 8,8 % von 5,4 % auf 14,2 %. In Hessen ist sie laut Prognosen viertstärkste Kraft, aber erhielte 17,4 %. In Sachsen scheint sie am erfolgreichsten mit 32,5 %. Natürlich sind das Umfragezahlen, die immer eine gewisse Abweichung enthalten; natürlich ist das „nur“ eine Momentaufnahme und natürlich ist das nur ein Auszug der Wirklichkeit, aber eines ist es sicherlich nicht: eine Ausnahme. Die Zahlen stellen uns also vor die Aufgabe, mal wieder nach den Rechten zu schauen.

Gründe und Erklärungen

Gründe dafür gibt es zur Genüge. Zwischen Ampel und Union wird die alte Leier aus der Mottenkiste geholt, ob man sich rhetorisch von der AfD abgrenzen oder dieser angleichen sollte. Am 25. Juni wurde Robert Sesselmann im Kreis Sonneberg (Thüringen) zum Landrat gewählt und ist nun das erste AfD-Mitglied in einem leitenden regierenden Amt, wenn auch regional. Am 2. Juli wurde Hannes Loth in Raguhn-Jeßnitz (Landkreis Anhalt-Bitterfeld, Sachsen-Anhalt) zum ersten hauptamtlichen AfD-Bürgermeister gewählt.

Dabei sah es noch vor einem Jahr aus, als hätte sich die Partei bundesweit relativ fest im niedrigen zweistelligen Bereich eingeordnet, trotz ökologischer Krise, trotz Pandemie und trotz Kriegs um die Ukraine. Nun scheint ein Heizungsgesetz der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Aufgrund massiver Einkommensverluste angesichts der Inflation, die vor allem Lohnabhängige und ärmere Zwischenklassen wie kleine Ladenbesitzer:innen oder selbstständige Handwerker:innen trifft, erscheint oder ist das alles nicht mehr leistbar. Steigende Kreditunsicherheit erhöht das Risiko von Verarmung, Verschuldung und Insolvenz. Ein Risiko, das die Sorge in sich trägt,  dass man den bisherigen Lebensstandard oder bescheidenen „Luxus“ zu verlieren droht, sei es das Auto, das Haus, den Jahresurlaub oder Ähnliches. Die Angst vor dem sozialen Abstieg unterhöhlt das Vertrauen in Staat und Demokratie – und befördert die Suche nach einem politischen Ausweg aus der realen oder gefühlten Bedrohung.

Diese angeführten Punkte zeigen auch, dass es Ängste sind, die in viel höherem Maß den ländlichen Raum treffen. Deutschland ist zwar unter den OECD-Ländern eines mit den höchsten Anteilen an Mieter:innen, aber diese sind ungleich verteilt, ähnliches gilt für den Individualverkehr. Private Eigenheime prägen vor allem die ländlichen Regionen. Dort sind die Menschen auf PKWs angewiesen. Diese Regionen werden außerdem oft von wenigen Unternehmen geprägt. Eine strukturelle Krise dieser macht sich schnell als Strukturbruch in der gesamten Region spürbar.

Es ist auch kein Wunder, dass die AfD im Osten stärker ist. Das hat nichts mit einer gegenüber dem Westen stärkeren „antidemokratischen“ Grundhaltung zu tun, wohl aber damit, dass die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum weniger starke Wurzeln in der bundesrepublikanischen Gesellschaft haben als im Westen.

Politische Krise oder Krisenlösung?

In der gegenwärtigen Lage stellt die AfD die einzige große bundesweite und parlamentarische Kraft dar, die (fast) überall dort, wo die Regierung ein Plus macht, ein Minus setzt. Im Gegensatz zu allen Parteien hegt sie keine unmittelbaren Regierungsabsichten. Auch auf Landesebene scheint das kurzfristig unwahrscheinlich, was der AfD erlaubt, sich als „Systemopposition“ zu gerieren. Die AfD ist also die Partei, die der blinden Not der aktuellen Situation Ausdruck verleihen kann.

Doch wäre es weiterhin verkürzt, bei dieser Darstellung als Protestpartei stehenzubleiben. Denn die aktuelle Politik der Ampel stellt eine klare Perspektive zur Orientierung des deutschen Kapitals dar, deutlicher als es die GroKo in den letzten Jahren tat. Umstellung der deutschen Automobilindustrie, Umbau der Wertschöpfungsketten weg von wirtschaftlicher Verflechtung mit dem russischen Imperialismus, Umbau eines Großteils der Heiz- und Energieinfrastruktur. Die Liste könnte verlängert werden, aber sie drückt eines aus: Während für die einen ökonomische Sicherheiten der letzten Jahre einbrechen, sind für andere Sektoren Milliardeninvestitionen erkennbar (bspw. 10 Milliarden Euro Fördersumme für ein Intel-Chipwerk in Magdeburg bei bis zu 3.000 direkten und insgesamt bis zu 10.000 Stellen). Die AfD stellt bei weitem noch keine Alternative für größere Teile der herrschenden Klasse dar, profitiert jedoch von deren Unruhe.

Entscheidend ist jedoch, dass sie die Ablehnung der verschiedenen Regierungsvorhaben mit einem demagogischen, rechtspopulistischen Angriff auf die „Eliten“, das „System“ verknüpft. In Berlin wäre eine gegen die Deutschen gerichtete „Diktatur“ von Grünen, Gutmenschen, Kriegstreiber:innen, Genderwahnsinnigen und Flüchtlingshelfer:innen errichtet worden. Auch wenn die AfD damit immer auch „Protestwähler:innen“ anspricht, so verbindet sich deren „Protest“ zunehmend mit einer weiter nach rechts gehenden Kraft.

Licht und Schatten

In welchem Kontext findet dieser Aufschwung statt? Er kommt nicht von ungefähr, sondern baut auf der politischen Krise, die angestoßen wurde durch die Weltwirtschaftskrise von 2007/08. Die AfD konnte die Kombination aus politischen Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung und der zunehmenden Gräben zwischen verschiedenen nationalen Bourgeoisien nutzen, um ein gefährliches Amalgam zwischen einer nationalistischen Orientierung für Teile der herrschenden Klasse und einem wütenden Mob in den Onlineforen, den neuen Stammtischen, bilden.

Die weitere Rechtsentwicklung der AfD drohte in den letzten Jahren, dieses giftige Bündnis zu sprengen, das insgesamt als rechtspopulistisch zu charakterisieren ist. Doch die große Spaltung blieb bislang aus, obwohl ihr mehr oder weniger offen faschistoider Flügel in den letzten Jahren stärker wurde. Die Wahlerfolge und -prognosen werden den Frieden und die Einheit der AfD zumindest zeitweise bewahren. Das rhetorische Nach-rechts-Gehen weiter Teile der CDU und die Orientierungslosigkeit primär von kleineren und mittleren Unternehmen wird die AfD weiter stützen. Wir können und müssen daher davon ausgehen, dass die ökonomische Lage, der Krieg, die Politik der Regierung wie von CDU/CSU der AfD Wähler:innen weiter in die Arme treiben wird.

Einen entscheidenden Faktor spielen dabei auf politischer Ebene die reformistischen Parteien SPD und DIE LINKE, aber auch die Gewerkschaften, die in der Not ihre Rettung im „Bündnis der Demokrat:innen“ suchen. Wie die Erfahrung von Sonneberg zeigt, führt dieses jedoch nicht nur zur politischen Unterordnung unter die offen bürgerlichen Parteien, es erlaubt auch der AfD, sich selbst als einzige wirkliche Alternative zu den Träger:innen des Systems aufzuführen.

Alternative

Doch diese Dynamik erfolgte angesichts von Aussichtslosigkeit. Im letzten Jahre sind Zehntausende den Gewerkschaften in den Tarifrunden beigetreten, beteiligten sich auch daran und kämpften für hohe Abschlüsse. Es zeigten sich teilweise neue und kampfbereite Schichten der Klasse der Lohnabhängigen. Dieses Potential einer kämpferischen Erneuerung der Arbeiter:innenbewegung wird zugleich vom  Ausverkauf durch die Gewerkschaftsbürokratie gebremst und konterkariert – sei es von ver.di im beim Abschluss im öffentlichen Dienst und bei der Post, sei es von einer EVG, die sich anschickt, das bei der Bahn zu wiederholen.

Die Gewerkschaften, genauer deren Führungen, hoffen eigentlich auf eine Rückkehr zu den vermeintlich guten alten Zeiten einer „funktionierenden“ Sozialpartner:innenschaft, geraten dabei aber mehr und mehr unter Druck von Seiten des Kapitals wie auch von einzelnen Teilen der Basis.

Eine gewisse Radikalisierung und Suche nach einer Alternative können wir zweifellos auch bei der Umweltbewegung erkennen.

Doch auf der Ebene der politischen Parteien drückt sich diese Dynamik kaum aus. Das liegt nicht nur am Richtungsstreit der LINKEN, sondern an der strategischen Orientierung aller Flügel der Partei, die der Regierungsbeteiligung im Rahmen der Verwaltung des kapitalistischen Krisensystems nicht grundsätzlich abgeneigt sind. Zur Bundestagswahl 2021 hat die Parteiführung mit ihrem Sofortprogramm deutlich gemacht, dass sie für Rot-Grün-Rot ihre Grundsätze aufgeben würde (bspw. NATO-Austritt). Auch kann sie sich in ihrer historischen Hochburg, Ostdeutschland, schon seit Jahren kaum bewähren. Ihre Kritik am Kurs der Regierung wirkt wie reine Sozialkosmetik (SPD-Forderungen plus 2 Euro), gerade angesichts ihrer Politik in unterschiedlichen Landesregierungen.

Was tun?

Wenn man die AfD wirklich stoppen will, so erfordert dies auch, die Ursachen ihres Wachstums zu verstehen. Wer die reaktionären Antworten der Partei bekämpfen will, muss selbst eine Antwort auf die realen sozialen Probleme in Stadt und Land geben. Nur eine Bewegung, die für die sozialen Interessen der Lohnabhängigen, Krisengebeutelten und Unterdrückten kämpft, kann den Aufstieg der AfD nicht nur zeitweise ausbremsen. Gerade angesichts der drohenden Zunahme weltumspannender Krisen und heißer Kriege zeigt sich die Bedeutung dessen. Die beiden Achsen, in die wir diese Diskussion hineinführen müssen, bilden einerseits die Versuche, die Gewerkschafter:innen und sozialen Bewegungen anzusprechen, die mit den Mitteln des Klassenkampfes gegen die Angriffe der Regierung, des Kapitals und der Rechten angehen wollen. Andererseits geht es darum, eine strategische Diskussion um eine revolutionäre politische und programmatische Alternative zu führen, um so die Grundlagen für eine revolutionäre Partei und Internationale zu legen.




Rechte Umsturzpläne: Ein Menetekel an der Wand

Martin Suchanek, Infomail 1206, 9. Dezember 2022

3.000 Polizeibeamte und Spezialkräfte mobilisierte die Bundesanwaltschaft am 7. Dezember beim größten Antiterroreinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik.

In einer koordinierten Aktion wurden 150 Objekte durchsucht, Materialen und ganze Waffenlager beschlagnahmt. Mindestens 50 Personen, die der „Patriotischen Union“ oder deren Umfeld zugerechnet werden, wird die Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Gegen 25 wurde Haftbefehl erlassen. 19 sitzen seither in Untersuchungshaft, weitere dürften folgen.

Das erklärte Ziel der ominösen Gruppe von Verschwörer:innen aus dem Milieu der Reichsbürger:innen ist hinlänglich bekannt: der Sturz der Regierung und die Errichtung einer „Übergangsregierung“ zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1871.

An den mörderischen Absichten der „Patriotischen Union“ besteht kein Zweifel, auch wenn dem Netzwerk um Heinrich Prinz Reuß, der aus einer Thüringer Adelsfamilie stammt und als Heinrich XIII. nach gelungener Machtübernahme zum König von Deutschland ernannt hätte werden sollen, etwas unfreiwillig Clowneskes anhaftet.

Irrationalismus ist nicht harmlos

Dies darf jedoch kein Grund zur Entwarnung oder Verharmlosung sein. Betrachtet man die Äußerungen und Ideologie rechter Putschist:innen und Verschwörer:innen, enthalten diese immer jede Menge Obskurantismus, Wahnwitz, Entrückung und Irrationales. Darin bildet die Truppe um Heinrich XIII. keine Ausnahme. Ihr „Weltbild“, ihre Geisteshaltung erinnert an viele, die am 6. Januar 2021 das US-Capitol stürmten. Verschwörungstheorien wie jene von QAnon begeisterten schließlich auch etliche Mitglieder des „Schattenkabinetts“ des Möchtegernregenten.

Darin liegt nichts Zufälliges. Die gesamte Ideologie solcher Verschwörer:innen stellt eine wilde Mischung aus reaktionären, völkischen, antisemitischen Ideologien, Rückgriffen auf Mystik und Esoterik dar, kombiniert mit übersteigertem Wahn von der vorgeblichen Bedrohung und gleichzeitigen Überlegenheit der eigenen Nation und „Rasse“. Was sie so gefährlich macht, ist die Bereitschaft, für die reaktionäre Sache gewaltsam vorzugehen, weil „ihre“ Nation nur so der Herrschaft „dunkler“ Mächte entrissen werden könne.

Gerade die bekannteren, aus der angeblichen Elite der bürgerlichen Gesellschaft stammenden Führungsfiguren der „Patriotischen Union“ waren vom QAnon-Netzwerk nicht nur inspiriert. Sie waren nicht nur Anhänger:innen der Ideologie von sog. Reichsbürger:innen und Selbstverwalter:innen, denen zufolge die Bundesrepublik eigentlich nicht existiere, sondern nur eine „Firma“ unter Kommando der Alliierten und/oder des „Weltjudentums“ darstelle.

Sie waren wie der Adelige Heinrich Reuß nicht bloß Gutsbesitzer und, wenn auch nur mäßig erfolgreicher, Immobilienmakler, sondern auch aktive geistige Brandstifter:innen. So verbreitet er seit Jahren das Märchen, der Erste Weltkrieg sei Resultat einer Verschwörung der Freimaurer:innen und Juden/Jüdinnen gewesen und die Monarchie bestehe daher noch.

Die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete und Richterin Birgit Malsack-Winkemann, selbst als Innenministerin vorgesehen, hetzt seit Jahren gegen Migrant:innen und Geflüchtete und radikalisierte sich weiter mit den sog. Querdenker:innen und reaktionären Impfgegner:innen.

Reuß und Malsack-Winkemann stehen exemplarisch für einen Teil der „Patriotischen Union“. Dieser stammt aus den sog. gebildeten Schichten Deutschlands, aus einer „Elite“, die den Bestand „ihres“ Staates so weit gefährdet sieht, dass sie sich gegen Regierung und staatliche Institutionen verschwört, den Putsch zur patriotischen „Notwehr“ stilisiert.

Den anderen großen Teil der Verschwörung bilden ehemalige Offizier:innen der Bundeswehr, insbesondere von Spezialeinheiten wie dem KSK, sowie einige alte NVA-Leute, also Menschen aus dem Offizierskorps des deutschen Imperialismus, dessen patriotische Tugenden von „liberalen“ Politiker:innen und „verweichlichten“ Vaterlandsverräter:innen zerstört würden.

Wie weit die Planungen zu einem bewaffneten Umsturz wirklich gediehen waren, ist zwar bislang unklar. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Vorbereitungen zur „Machtübernahme“ eindeutig über das Stadium allgemeiner Absichtserklärung und Wunschvorstellungen hinausgegangen waren. So hatte der Kreis einen leitenden „Rat“, ein „Schattenkabinett“ samt Regenten und zukünftigen Minister:innen sowie Verantwortliche für den Aufbau eigener bewaffneter Einheiten bestimmt. Auch wenn die Verschwörung zu keinem Zeitpunkt Aussicht auf eine erfolgreiche Machtübernahme hatte, so enthielt sie offenbar Pläne zur Entführung des Gesundheitsministers Lauterbach sowie „Neutralisierung“, also Ermordung seines Personenschutzes. Mit der „Patriotischen Union“ bildete sich eine rechtsterroristische Verschwörung, die es in dieser Form seit Jahrzehnten in Deutschland nicht mehr gegeben hat. Allein dies belegt einen massiven Radikalisierungsprozess, der weit über diese Gruppierung hinausgeht.

Bodensatz

Mögen sie als Einzelne noch so obskure Figuren darstellen, so stehen sie für die Entfremdung viel breiterer kleinbürgerlicher und bürgerlicher Schichten vom politischen System. Die ökonomischen, sozialen und politischen Krisen seit 2008 unterminieren deren gesellschaftliche Stellung. Diese Entwicklung wird jedoch subjektiv als Werk fremder Mächte gefasst – als Verschwörung, die zur „Umvolkung“ durch Migrant:innen, zur „Ausblutung“ Deutschlands durch Euro und EU, zur „Durchimpfung“ zwecks Sterilisierung der Weißen, zur Unterjochung des Landes durch die USA und eine „jüdische Weltverschwörung“ führt, in deren Dienst Genderwahn, Feminismus, Antirassismus, Kosmopolitismus usw. stünden.

Der reaktionäre Wahn inklusive einer großen Portion Antisemitismus hat in den letzten Jahren breitere Schichten der Bevölkerung erfasst – im Grunde seit Beginn des Rechtsrucks und der Ausbreitung des Rassismus gegen die Geflüchteten.

Der Aufstieg der AfD, die reaktionäre Bewegung der Querdenker:innen, der deutschen Spielart der Impfgegner:innen, haben den gesellschaftlichen Boden bereitet, auf dem Gruppierungen wie die „Patriotische Union“ und andere Formen des rechten, gewaltbereiten Terrorismus und militante Verschwörungstruppen entstehen.

Sie stützen sich auf verschiedene rechte Milieus und Bewegungen wie jene der Impfgegner:innen, die AfD oder, im extremsten Fall, direkten militanten Naziorganisationen. Die „Patriotische Union“ selbst stand in enger Verbindung mit den sog. Reichsbürger:innen, die während der Pandemie Zulauf erhielten und lt. Verfassungsschutz auf 21.000 angewachsen sein sollen.

Sie bewegen sich selbst zwischen Obskurantismus und Terrorismus. So erklären selbsternannte, rabiate Kämpen ihre Häuser und Gartenlauben zu „unabhängigen Staaten“ oder gar Fürstentümern. Ein Teil der Reichsbürger:innen möchte die Monarchie wiedererrichten, andere träumen von esoterisch-germanischen Landkommunen, die als Selbstversorgerinnen dahinvegetieren, andere wiederum sind Teil der Naziszene oder eng mit dieser verbunden.

Gemeinsam ist dieser Szene, dass sie sich weiter radikalisiert – sei es in immer extremeren Verschwörungstheorien, sei es in völkisch-esoterischen Ideologien oder direkt beim Faschismus.

Der Begriff Szene darf dabei nicht als isolierte, randständige Gruppe verstanden werden. Gerade während der Pandemie haben Irrationalismus und kleinbürgerliche Radikalisierung deutlich zugenommen und auch Teile der Arbeiter:innenklasse erfasst. Vor allem aber drücken sie sich bei den Mittelschichten und im Kleinbürger:innentum aus – und nicht zuletzt im „demokratischen“ Staatsapparat. Es ist kein Zufall, dass die AfD  überdurchschnittlich von Polizeibeamt:innen gewählt wird. Es ist kein Zufall, dass sich in der Bundeswehr trotz ihrer ständigen Beschwörung als demokratisch-humanitärer Truppe rechte Umtriebe mehren. Regelmäßig fliegen bei den bewaffneten Kräften rechte Chatgruppen auf. Doch diese Skandale stellen nur die Spitze des Eisbergs dar. Im Zuge der Krise, aber auch der realen Umstellung der Armee auf verstärkte, wenn auch humanitär verbrämte imperialistische Intervention tendieren Offizierscorps, Berufsoldat:innen wie auch Polizeikräfte überdurchschnittlich nach rechts. Der/Die Berufssoldat:in, der/die zur Verteidigung „unserer“ Werte, also „unserer“ Profite und geostrategischen Ziele an den NATO-Grenzen, in Mali oder am Horn von Afrika rekrutiert wird, muss zuerst „Patriot:in“ sein, bereit, für den deutschen Imperialismus notfalls zu sterben, vorzugsweise aber zu töten.

Heuchelei

Es gehört zur üblichen, üblen Heuchelei und Doppelmoral der bürgerlich-demokratischen Parteien, insbesondere der Grünen und der reformistischen SPD, dass sie nicht sehen wollen, dass die kapitalistische Krise und ihre kapitalkonforme Politik gerade jenen Nährboden schaffen, auf denen Rechtspopulismus, Verschwörungstruppen und letztlich auch der Faschismus gedeihen. Sie wollen nicht erkennen, dass nicht demokratische Heuchelei, sondern der imperialistische Kurs der BRD genau jene Leute im Sicherheitsapparat prägt und erzieht, die für rechte und extrem imperialistische Ideologie besonders empfänglich sind.

Die „Patriotische Union“ darf daher keineswegs als clowneske Truppe verharmlost werden. Sie ist vielmehr ein Menetekel an der Wand, ein Vorbote, eine Warnung vor dem, was noch zu kommen droht. Doch anders als in der biblischen Erzählung ist dieses Menetekel nicht übernatürlichen Ursprungs, sondern vielmehr Resultat menschlichen Handelns, genauer versäumten menschlichen Tuns.

Dass die rechten verschiedener Façon und der Irrationalismus in dieser Gesellschaft solche Wurzeln schlagen können, eine rechte Terrorgruppe zur Vorbotin einer viel gefährlicheren rechten Bewegung werden kann, ist auch auf das Versagen der Arbeiter:innenbewegung, genauer ihrer Führung in der Krise, während der Pandemie und angesichts des Krieges zurückzuführen.

Nicht die Beschwörung der bürgerlichen Demokratie – und erst recht nicht von Polizei oder Staatsanwaltschaft – werden uns im Kampf gegen die rechte Gefahr helfen. Notwendig ist vielmehr, dass die Linke, die Gewerkschaften, alle Parteien der Arbeiter:innenbewegung mit dieser Politik der Unterordnung unter das Kapital brechen und gemeinsam den Kampf gegen Krise, Umweltzerstörung und Krieg aufnehmen, um so den Rechten ihren gesellschaftlichen Nährboden zu entziehen.