Keine Waffen für Völkermord: Wie organisieren wir Palästinasolidarität in deutschen Gewerkschaften?

Jaqueline Katharina Singh/Robert Teller, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die starke Einbindung Israels in den europäischen Wirtschaftsraum verschafft der Arbeiter:innenklasse hierzulande auch einen großen Hebel. Streiks, Boykotte von Warenlieferungen und vor allem Waffen können die Kriegsmaschinerie wirklich treffen. Doch wie kommen wir dazu? Wie durchbrechen wir die Unterstützung der Bundesregierung durch die Gewerkschaftsspitzen?

Welche unmittelbaren Kampfziele sinnvoll sind, hängt angesichts dieses Kräftverhältnisses sicher auch von den jeweiligen Umständen ab. In jedem Fall sollten sie aber mit den dringenden Forderungen der gesamten Bewegung in einen Zusammenhang gestellt werden: nach einem sofortigen Waffenstillstand, dem Ende des Kriegsverbrechens der vorsätzlichen Aushungerung und dem Rückzug des israelischen Militärs aus Gaza. Laut einer aktuellen Umfrage (Statista, 22.03.2024) halten 69 % der deutschen Wahlberechtigten das militärische Vorgehen Israels in Gaza für nicht gerechtfertigt – und es spricht wenig dafür, dass unter Lohnabhängigen oder Gewerkschaftsmitgliedern die Verhältnisse grundlegend anders sind.

Doch eine von dieser Mehrheit getragene Bewegung gibt es derzeit nicht. Um diese aufzubauen, reicht es offenbar nicht, an weitverbreitete Sympathie und Mitgefühl mit den Palästinenser:innen anzuknüpfen, wenn zugleich das gesamte „demokratische Spektrum“ mit schweren moralischen Geschützen aus allen Rohren auf alles schießt, was nur nach Palästinasolidarität riecht. Mit einer starken gewerkschaftlichen Palästinasolidarität wäre es möglich, über den symbolischen Protest auf der Straße hinaus die israelische Kriegsmaschine zu behindern – durch Blockade von militärischen Gütern, die auf dem See- oder Luftweg transportiert werden, Lahmlegung von Produktionsketten, die für Israel produzieren, aber auch Druck auf Universitäten oder Unternehmen, die über Kooperationen mit Israel indirekt an der Unterdrückung der Palästinenser:innen beteiligt sind. Doch in Deutschland scheinen wir davon weit entfernt.

Deutsche Gewerkschaften und Palästina

Entgegen manchen Aktionen internationaler Gewerkschaften veröffentlichte der DGB am 10. Oktober eine Solidaritätsbekundung und offenen Brief an Arnon Bar-David, den Vorsitzenden der Histadrut, unter dem Titel „Solidarität mit Israel“. Dort heißt es unter anderem: „Jede Form von Terrorismus, willkürlichen Tötungen und Verschwindenlassen ist inakzeptabel und wird auf unseren entschlossenen Widerstand stoßen. Die letzten Tage haben uns gezeigt, wie tief Antisemitismus in den Gesellschaften der Welt verwurzelt ist. Wir sind schockiert und besorgt, wie brutal der Antisemitismus auch hier in Deutschland zu Werke ging. ‚Nie wieder’ ist für uns kein leeres Bekenntnis – im Gegenteil. Es ist unsere feste Überzeugung. Wir bekämpfen Antisemitismus hier in Deutschland, aber auch in unseren weltweiten Gewerkschaftsorganisationen. Seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um Sie in Ihrem Kampf zu unterstützen, wir stehen eng an Ihrer Seite.“

Dieses Schreiben wirkt noch gemäßigt im Vergleich mit dem der DGB-Jugend, welches am 18.10. verabschiedet wurde. Der Titel „Solidarität mit unseren Freund*innen in Israel“ sagt  alles. Dabei erweist sich diese Linie der Solidarität mit dem israelischen Staat seither als das, was sie immer schon war: die Unterstützung eines Kriegs gegen die Bevölkerung von Gaza unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“.

Damit nicht genug. Als Gewerkschafter:innen offen die Demonstration „Gaza: Die Waffen müssen schweigen!“ im Januar in Köln unterstützten, war der Apparat bedacht, sehr schnell eine Pressemitteilung herauszugeben und klarzumachen: Der DGB ruft nicht dazu auf. Stattdessen beteilige man sich an der Aktion „Aufstehen gegen Terror, Hass und Antisemitismus – in Solidarität und Mitgefühl mit Israel“. Zwar wird in diversen Stellungnahmen immer mal wieder erwähnt, dass man auch für die Zweistaatenlösung eintrete. Aber darin erschöpft sich schon die „Kritik“ an der israelischen Regierung. Wenige Worte sind für die Situation der Palästinenser:innen reserviert, noch weniger für praktische Initiativen, um wenigstens deren Leid zu lindern. Der Grundton ist klar: Der 7. Oktober sei ein isoliertes, kontextloses Ereignis, dass sich gegen Jüdinnen und Juden richtet – und die Verbrechen der israelischen Besatzung – ob illegaler Siedlungsbau, stetige Gewalt oder Gazablockade werden davon isoliert –, weil schon die Kontextualisierung des 7. Oktober als „Relativierung“ gilt.

Solidarität mit Israel – schon vor dem 7. Oktober

Die einseitigen Stellungnahmen und das aktuelle Schweigen zur Lage der palästinensischen Bevölkerung sind allerdings keine Überraschung. Bereits vor dem 7. Oktober wurden antizionistische Positionen mit aller Kraft in deutschen Gewerkschaften bekämpft: Unter der Schirmherrschaft der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas (SPD), hat der DGB-Jugendausschuss das erste Mal im März 2023 eine Sitzung in Israel abgehalten – und die Resolution „Solidarity forever – Deklaration zur Zusammenarbeit der DGB-Jugend und Histadrut“ verabschiedet. 2021 wurde das Palästinakomittee in Stuttgart vom „Festival gegen Rassismus“ der DGB-Jugend ausgeschlossen. 2017 kam bei der Bundesjugendkonferenz des DGB der Antrag „Boykotte boykottieren“ durch, der sich gegen die Zusammenarbeit mit der BDS-Kampagne und Gruppe FOR Palestine (For One State and Return) richtete. Hinzu kommen regelmäßige Austauschprogramme, wo Gewerkschaftsvertreter:innen Israel besuchen können – während auf die Situation der Palästinenser:innen wenig eingegangen wird. Das sind keine Einzelfälle, sondern eine politische Linie. Aber woher kommt diese?

a) Sozialpartnerschaft und mangelnde Basisstrukturen/Kontrolle

Ein Faktor ist die Sozialpartnerschaft, also die Politik der institutionalisierten Mitverwaltung des Kapitalismus zugunsten kleiner Verbesserungen für die Arbeitenden insgesamt. Deutlich spürbar bei Tarifrunden wie zum TVöD 2023 oder der Politik der Gewerkschaften während der Coronapandemie, führt sie letzten Endes zur Befriedigung von Konflikten. Denn es geht der Gewerkschaftsbürokratie darum, ihre eigene Position als Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit aufrechtzuerhalten – und damit des Kapitalismus. Ein Resultat davon ist ebenfalls – um die eigene Position wahren zu können –, den bürgerlichen Staat und die Außenpolitik des deutschen Imperialismus zu stützen.

Sichtbar wurde dies im Zuge des Ukrainekriegs, als Massenmobilisierungen gegen die im Zuge des Krieges stattfindende Aufrüstung und parallel laufende Einkommensverluste ausblieben. Ein zusätzlicher Faktor, der den Beschluss solcher Resolutionen begünstigt, ist der Aufbau und die Struktur der Bürokratie selbst. Statt Rechenschaftspflicht sowie direkte Wähl- und Abwählbarkeit können sich einmal gewählte oder eingestellte Bürokrat:innen für mehrere Jahre an ihre Posten klammern – ungeachtet ihrer politischen Positionen. Doch beide Punkte alleine reichen nicht aus, um die Situation in Deutschland zu verstehen. Schließlich finden wir sowohl Elemente der Sozialpartner:innenschaft als auch von der Basis losgelöste Strukturen ebenso in anderen Gewerkschaften – die jedoch weitaus progressivere Positionen bezüglich Palästina einnehmen.

b) Rolle der SPD und Zionismus der deutschen Linken

Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die SPD. Nach über 150 Jahren Klassenverrat könnte man hoffen, dass der Einfluss der Sozialdemokratie aus den Gewerkschaften verschwunden sei. Doch ist das letztlich nur eine Hoffnung und nicht Realität. Als bürgerliche Arbeiter:innenpartei ist sie vor allem in der Bürokratie und den Funktionärsschichten vertreten – und prägt auch ideologisch die internationale Politik der Gewerkschaften. Die SPD verteidigte schon früh die Gründung Israels. Neben der außenpolitischen Unterstützung der USA und der Westintegration kam als verstärkendes Moment die Verbindung zum Labourzionismus und zur Kibbuzbewegung hinzu, die als sozialistisches Modell idealisiert wurde. Wenn die SPD in den 1970er Jahren auch mit Vertreter:innen der PLO Beziehungen aufnahm, so standen sie sowie von ihr kontrollierte Jugendorganisationen schon seit den 1960er Jahren für eine starke politisch-ideologische Unterstützung des Zionismus.

c) Unterstützung der USA und Westintegration

Es überrascht also nicht, dass die staatstragenden Spitzen der DGB-Gewerkschaften – fest eingebunden in die als „Sozialpartnerschaft“ institutionalisierte Klassenzusammenarbeit – auch außenpolitisch Patriot:innen sind und ins Horn der Staatsräson tuten. Den gewerkschaftlichen Initiativen für einen Waffenstillstand schlägt daher nicht nur staatliche Repression und mediale Stimmungsmache entgegen, sondern auch der Apparat der eigenen Gewerkschaft. Die meisten Initiativen haben sich daher bislang darauf beschränkt, durch offene Briefe Öffentlichkeit zu schaffen. Oft knüpften sie an einen Solidaritätsaufruf palästinensischer Gewerkschaften vom 16. Oktober an oder nahmen auf andere internationale Initiativen Bezug. Das alles könnte einen dazu veranlassen, den Kampf in den Gewerkschaften für sinnlos zu betrachten. Doch auch wenn dies verständlich ist – richtig ist diese Position keinesfalls.

Eine Solidaritätsbewegung mit Palästina ist erfolgreicher, wenn sie Streik als Mittel einsetzen kann, um den Krieg zu beenden. Zum einen baut Streik ökonomischen Druck auf – was Regierungen wesentlich stärker unter Druck setzt als einfache Demonstrationen. Zudem haben italienische oder belgische Arbeiter:innen gezeigt, dass Waffenblockaden so einfacher durchzusetzen sind. Mehrfach gab es Streikaufrufe, die sich an die Allgemeinheit gerichtet haben. Es ist zwar nachvollziehbar, sich an alle zu richten, gleichzeitig sind sie in der Leere verpufft. Es braucht konkrete Organisationen, die ihre Mitgliedschaft mobilisieren, um das existierende Potenzial zu bündeln. Gleichzeitig ist man so viel mehr gegen Repression geschützt. Der Kampf richtet sich gegen die Interessen des deutschen Imperialismus und seine Sozialpartnerschaft. Bei der Frage einzuknicken, weil „der Gegenwind zu scharf ist“, sorgt dafür, dass dessen Stellung gestärkt wird – was sich negativ auf andere gewerkschaftliche Kämpfe auswirkt. Denn der Kampf gegen Standortborniertheit findet auch an anderen Stellen statt, nicht nur wenn es um internationale Solidarität mit Kämpfen geht.

1. Bundesweite Vernetzung

Wenn die Solidaritätsbewegung mit Palästina erfolgreich sein soll, müssen wir also dafür eintreten, das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften zu ändern. Um handlungsfähig zu sein, ist es wichtig, dass die bereits Aktiven sich bundesweit vernetzen und Teil von Basisstrukturen werden. Ziel muss sein, die bisherigen Aktivitäten nicht nur zu bündeln, sondern auch gemeinsam nächste Schritte anzugehen. Wie genau das passieren kann, wollen wir im Folgenden klären:

2. Breite politische Aufklärungskampagne

Die ständige Verwendung des Antisemitismusvorwurfs gegen propalästinensische Stimmen etwa entfaltet ihre Wirkung nicht nur durch Angst, selbst zur Zielscheibe von Repression zu werden, sondern in der breiten Masse vor allem dadurch, dass die meisten Menschen verständlicherweise eben keine Antisemit:innen sein wollen. Diese Unsicherheit lässt sich nur durch eine bewusste politische Auseinandersetzung auflösen. Die Kolleg:innen müssen selbst verstehen, was Antisemitismus ist (und was nicht), um gegen ungerechtfertigte Angriffe gerüstet zu sein. Hierfür bräuchte es eine politische Aufklärungskampagne. Das heißt: Es braucht verständlich geschriebenes Material, das über die aktuelle Situation aufklärt und gleichzeitig auf die häufigsten Kritikpunkte, die in der Debatte kommen, Gegenargumente liefern. Dieses Material kann ein Ergebnis einer bundesweiten Vernetzung sein.

Hilfreich ist dabei etwa ein Blick unter die Oberfläche der selbstverliebten deutschen bürgerlich-nationalistischen „Erinnerungskultur“, die es erst ermöglicht, die eigenen Verbrechen der Vergangenheit als Legitimation für neue Massaker zu instrumentalisieren. Vermitteln sollten wir auch, dass das Konzept des „jüdischen Schutzraums“ selbst einen rassistischen Charakter trägt, es im Gegensatz steht zur traditionellen Position der Arbeiter:innenbewegung, für die Gleichberechtigung aller Ethnien und Nationen einzutreten und für deren kollektive Verteidigung gegen Angriffe, wo immer sie leben. Keinesfalls sollte die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt, verschwiegen oder kleingeredet werden – sondern wir sollten erklären, dass wir dessen Instrumentalisierung für die außenpolitischen Interessen des deutschen Imperialismus ablehnen und daher auch keine Illusionen in den deutschen Staat schüren, dass dieser den Antisemitismus ernsthaft bekämpft.

Ebenso notwendig ist es, Klarheit zu schaffen über die Kräfte des palästinensischen Widerstandes wie der Hamas. Wir sollten die dämonisierende Hetze gegen diese (und auch gegen den 7. Oktober) als das offenlegen, was sie ist: Chauvinismus, der einen Genozid rechtfertigen soll. Dabei sollten wir aber die politischen Schwächen der palästinensischen Bewegung und unsere Kritik am reaktionären Charakter der Hamas nicht verschweigen, denn dies würde gerade nicht dazu führen, dass Kolleg:innen ihre Position in einem politisch repressiven Klima selbstständig verteidigen können. Um eine gewerkschaftliche Verankerung der Palästinasolidarität zu schaffen, ist es daher auch notwendig, eine breite und offene Debatte um deren Ziele zu führen, um den Charakter des Krieges und um die Interessen, die der eigene Imperialismus hier verfolgt. Dann ist es auch möglich, die Palästinasolidarität auf eine allgemeinere Grundlage der Klassensolidarität zu stellen: Jeder israelische Sieg in Gaza macht auch den deutschen Imperialismus selbstbewusster und aggressiver – nach außen und innen. Er verschärft den Rassismus, schränkt demokratische Rechte ein (und damit auch die politischen Handlungsmöglichkeiten der Arbeiter:innenklasse insgesamt) und bereitet seine eigenen Kriege vor.

Umgekehrt schwächt ein erfolgreicher Widerstand der Unterdrückten gegen ihre Vertreibung, gegen das Morden nicht nur ihren Kampf für nationale Selbstbestimmung. Er schwächt nicht nur den zionistischen Unterdrückerstaat, sondern auch die imperialistische Ordnung im Nahen Osten und weltweit, weil er Mächten wie den USA oder auch der BRD und ihren herrschenden Klassen Paroli bietet und allen Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit zeigt, dass scheinbar unbesiegbare Staaten nicht unverletztlich sind.

3. Konkrete Beschlüsse erkämpfen

Um eine gewerkschaftliche Solidarität aufzubauen, sollten wir uns auch an positiven Beispielen orientieren. Gerade wenn man unter schwierigen Bedingungen kämpft, ist es motivierend zu sehen, was in anderen Ländern erreicht wurde: etwa das „National Labor Network for Ceasefire“, dem über 200 US-Gewerkschaften angehören, oder der Aufruf von 14 spanischen Gewerkschaften, den Waffenhandel mit Israel zu beenden.

Ziel muss es sein, in den lokalen Gliederungen konkrete Beschlüsse zu verabschieden. Inhalt dieser sollte sein: die Ablehnung, deutsche Waffen nach Israel zu schicken sowie den Krieg finanziell zu unterstützen, gegen die Beteiligung deutscher Unternehmen am illegalen Siedlungsbau (wie beispielsweise durch Axel Springer) und stattdessen für eine sofortige, permanente Waffenruhe. Einen entsprechenden Vorschlag findet ihr am Ende des Textes. Die Landesdelegiertenversammlung der GEW Berlin hat beispielsweise Ende November zwei Statements verabschiedet. In einem heißt es: „Ebenso verurteilen wir die unverhältnismäßigen Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Gaza, die bereits Tausende zivile Opfer gefordert haben, die Vertreibung der Bevölkerung und die Blockade des Gazastreifens. Wir fordern die Beendigung der Luftangriffe und der Blockade sowie den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazstreifen. Ein Krieg mit dem Ziel der ‚Vernichtung der Hamas’ (Benjamin Netanjahu) würde viele Tausende Tote unter den Palästinensern in Gaza fordern. Als erster Schritt wäre eine sofortige Waffenruhe erforderlich.“

Die internationalen Aktionen und Aufrufe können nicht nur als positive Beispiele genutzt werden. Es sollte auch in den Debatten aufgezeigt werden, dass der DGB internationale Beschlüsse hat, die er nicht umsetzt und konkret dagegen arbeitet. Wichtig ist dabei, dass es nicht nur darum geht, viele Forderungen oder möglichst lange Texte zu verabschieden, sondern dass man die Kolleg:innen dafür gewinnt, sich in der jeweiligen Gliederung öffentlich zu positionieren und auch aktiv werden zu können.

4. Gemeinsam in Aktion treten

Ob Infoveranstaltungen mit Gewerkschafter:innen aus anderen Ländern, Blöcke auf Palästinasolidaritätsdemonstrationen, Proteste vor Gewerkschaftszentralen oder Betriebsversammlungen zum Thema: Die Palette ist breit, wenn es darum geht, was alles getan werden kann. Ziel ist es, an dieser Stelle mit Kolleg:innen ins Gespräch zu kommen, aber zeitgleich auch eine klare Kante zur bisherigen Politik des Gewerkschaftsapparates zu zeigen –  mit dem Ziel, diesen unter Druck zu setzen, sich zu positionieren und bestenfalls die Mobilisierungen zu unterstützen.

Widersprüche aushalten, Druck ausüben

Wir wollen ehrlich sein: Das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften zu verändern. wird nicht einfach sein. Für Aktivist:innen ist es zentral zu verstehen, dass die Aktivitäten im Wechselspiel zueinander stehen. Einzelne Beschlüsse alleine werden das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften nicht kippen. Deswegen müssen die Aktivitäten Teil einer gesamtgesellschaftlichen, politischen Solidaritätskampagne sein. Ohne diese wird es schwer, etwas in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite kann eine Solidaritätskampagne nur schlagkräftig werden können, wenn es uns gelingt, einen Teil der Gewerkschaftsaktivist:innen für eine internationalistische, fortschrittliche Politik zu gewinnen.

Deswegen muss die Kampagne bewusst Druck auf die Gewerkschaften ausüben und aufzeigen, was die Konsequenzen des Schweigens und der Billigung des Krieges gegen die Palästinenser:innen sind. Sich abzuwenden oder auf den Konflikt nicht einzugehen, führt dazu, der Politik des Burgfriedens das Feld zu überlassen – und schwächt die Bewegung sowie die Arbeiter:innenklasse. Schließlich hat die Berichterstattung im Zuge des 7. Oktober sowohl zum Erstarken des antimuslimischen Rassismus als auch Antisemitismus geführt und droht auf lange Sicht, insbesondere rechte, reaktionäre Kräfte wie die AfD zu stärken.

Für uns als Marxist:innen ist der Kampf in den Gewerkschaften deswegen unerlässlich. Gleichzeitig geht er für uns damit einher, dauerhaftere Strukturen gegen die Politik der Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen – eine klassenkämpferische Basisbewegung, die nicht nur versucht, Posten in der Bürokratie abzugreifen und „links“ zu besetzen, sondern eine kämpferische Opposition gegen diese bildet. Wir halten dies für zentral, nicht nur im Kampf in Solidarität mit Palästina, sondern auch in allen internationalistischen Kämpfen – sei es, um Solidaritätsstreiks zu organisieren für Bewegungen wie im Kongo, Frankreich oder Pakistan, sei es, um politische Angriffe abzuwehren, wie eine Verschärfung des Streikrechts oder den immer weiter voranschreitenden Rechtsruck oder schlicht und einfach, Reallohnverluste bei einfachen Tarifauseinandersetzungen hinzunehmen. Doch so etwas entsteht nicht von heute auf morgen. Lasst uns deswegen gemeinsam Widerstand aufbauen – nicht nur gegen den Krieg in Gaza, sondern gegen die imperialistische Politik, die das ermöglicht und überall auf der Welt tagtäglich ihre Opfer fordert!

Vorschlag: Stopp aller Waffenlieferungen an Israel – sofort!

Die Angriffe der IDF und die Politik der israelischen Regierung haben über 40.000 Menschen in Gaza das Leben gekostet, Hunderttausende obdachlos gemacht und vertrieben, Zehntausenden droht der Tod durch Verhungern. Der drohende Angriff auf Rafah wird diese Katastrophe verschärfen. Vor unseren Augen vollzieht sich ein Genozid am palästinensischen Volk.

Dazu dürfen wir Lohnabhängige, dürfen wir Gewerkschafter:innen nicht schweigen. Wir müssen aktiv werden und alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um das Morden zu stoppen, einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Armee, die Öffnung der Grenzen für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu gewährleisten.

Damit das Morden gestoppt wird, kämpfen wir dafür, dass sämtliche Unterstützung für den Genozid durch Deutschland unterbleibt – das heißt vor allem sofortiger Stopp von Waffenlieferungen an Israel!

Als Gewerkschafter:innen können und müssen wir zusammen mit Schüler:innen und Studierenden die Solidaritätsbewegung auf der Straße unterstützen. Wir müssen aber auch die Solidarität in die Betriebe, in die Abteilungen und Büros tragen. Wir werden gemeinsame Anträge in gewerkschaftliche und betriebliche Gremien einbringen, die folgende Positionen und Forderungen an die DGB-Gewerkschaften beinhalten:

Wir brauchen eine Kursumkehr in den DGB-Gewerkschaften! Wir treten für die Durchführung von Solidaritätsdiskussionen ein, wie sie von den palästinensischen Gewerkschaften seit Monaten gefordert werden.

  • Kein weiteres Schweigen zum Genozid! Schluss mit der Politik der Unterstützung für Bundesregierung und Krieg!

  • Offene und demokratische Diskussion in den Gewerkschaften und Betrieben, wie das Morden gestoppt werden kann!

  • Veröffentlichung, Verbreitung und Einhaltung der Resolutionen der internationalen Gewerkschaftsverbände gegen Krieg, Hunger und Waffenlieferungen durch die Vorstände der deutschen Gewerkschaften!

Wir schlagen gewerkschaftliche und betriebliche Mobilisierungen um folgende grundlegende Forderungen vor:

  • Sofortiger Waffenstillstand, Rückzug der IDF, Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen an die Bevölkerung!

  • Stopp aller Waffenlieferungen an Israel! Abzug aller deutschen Truppen aus dem Nahen Osten!

  • Entkriminalisierung der Palästinasolidarität und aller palästinensischen Organisationen!

  • Verhinderung von Waffentransporten nach Israel durch Massendemonstrationen, Arbeitsniederlegungen, Streiks und Blockaden!



Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive! Gegen Krieg, Kürzungspolitik und rechte Hetze

Aufruf des Klassenkämpferischen Block Berlin zum 1. Mai, Infomail 1251, 16. April 2024

In den letzten Wochen fanden bundesweit zahlreiche Streiks statt, zum Beispiel im Rahmen der Tarifrunde im kommunalen Nahverkehr oder bei der Bahn. Mit der Kampagne „Wir fahren zusammen“ wurde der Kampf gegen die Klimakrise mit dem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV verbunden. Die Verbindung von betrieblichen Kämpfen und politischen Bewegungen ist ein richtiger Schritt hin zu einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung. Mit koordinierten Streikaktionen kann ein viel stärkerer Druck auf die Unternehmen und den Staat ausgeübt werden.

Das ist nötiger denn je: Die Bundesregierung setzt den neoliberalen Kurs mit der Schuldenbremse trotz Rezession weiter durch. Unsoziale Haushaltskürzungen sind die Folgen. Die Forderungen der Unternehmerverbände an die Politik werden immer dreister, sie wollen unter anderem: Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche, die Rente kapitalisieren und Einschränkungen des Streikrechts in der kritischen Infrastruktur. Immer häufiger ertönt der Ruf nach einer Neuauflage der Agenda-Politik. Wir schlagen deshalb Alarm: Die Gewerkschaften und Lohnabhängigen müssen den Widerstand gegen die Kürzungen aufnehmen und sich unmittelbar auf größere Angriffe vorbereiten.

Gewerkschaften wie die IG Metall und die GDL haben eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich in den Tarifkämpfen gefordert. Die GDL konnte nach mehreren kämpferischen Streiks die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeitende durchsetzen, allerdings erfolgt die Umsetzung erst schrittweise bis 2029. Der Acht-Stunden-Tag wurde hierzulande nach harten gewerkschaftlichen Kämpfen am 1. Januar 1919 eingeführt. Mehr als 100 Jahre später arbeiten wir immer noch acht Stunden pro Tag, obwohl die Produktivität längst viel kürzere Arbeitszeiten ermöglichen würde. Dem entgegen stehen die Interessen des Kapitals, die stattdessen die tägliche Höchstarbeitszeit oder Ruhezeiten abschaffen wollen.

Stress, Belastung und Druck am Arbeitsplatz sind massiv gestiegen. Besonders Frauen sind davon betroffen, da sie vermehrt in Bereichen arbeiten, die schlecht bezahlt, ohne Tarifbindung und von miesen Arbeitsbedingungen geprägt sind, wie die Pflege, Reinigung oder Erziehung. Hinzu kommt, dass Frauen nach wie vor den größten Teil der Sorgearbeit übernehmen und Kürzungen im Sozialbereich von ihnen aufgefangen werden müssen.

Auch die Lage von Jugendlichen weltweit hat sich drastisch verschlechtert, denn sie sind den vielfachen Krisen am unmittelbarsten ausgesetzt. Sei es der Verlust einer Perspektive eines Planeten der für alle Menschen, auch in Zukunft noch ein belebbares zu Hause bieten kann, oder dem immer weiter zunehmenden Leistungs- und Konkurrenzdruck, dem sie ausgesetzt sind. Auch Schulen werden dabei zum Schauplatz politischer Kämpfe, wenn Vertreter*innen der Bundeswehr, ihr Podium nutzen um Werbung für sich zu machen. Bundeswehr-Offizier*innen sollen die Militarisierung verstärkt an Schulen tragen. All das darf nicht unbeantwortet bleiben. Jugendliche müssen Seite an Seite mit Gewerkschafter*innen gegen diese Krisen kämpfen.

Bei der Rüstung sind sie fix, für die Bildung tun sie nix

Der ÖPNV, die Krankenhäuser und die Schulen werden seit Jahren kaputtgespart. Gleichzeitig fließen Milliarden in die Rüstung. Vorletztes Jahr wurde bereits ein 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr beschlossen. Die Militärausgaben sollen noch weiter erhöht werden, auf Kosten von Ausgaben für Soziales und Bildung. Clemens Fuest, der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo hat dazu kürzlich gesagt: „Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht. Sondern Kanonen ohne Butter.“ Wir wollen nicht für Krieg und Krise der Regierenden bezahlen und stellen uns der Aufrüstung und den Kriegstreiber*innen entgegen!

Für den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen!

2023 hat Deutschland einen neuen Rekord aufgestellt und Rüstungsexporte im Wert von 11,7 Milliarden Euro genehmigt. Die Waffenlieferungen an Israel haben sich verzehnfacht. Der israelische Staat führt Krieg gegen die Bevölkerung von Gaza. Die israelische Armee hat Zehntausende Zivilist*innen getötet und Städte dem Erdboden gleichgemacht. Schulen, Moscheen und Krankenhäuser wurden bombardiert. Gegen diesen Krieg und die Besatzung ist die internationale Solidarität der Arbeiter*innen notwendig.

Palästinensische Gewerkschaften haben die Arbeiter*innen weltweit dazu aufgerufen Waffenlieferungen an Israel zu stoppen. Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen besetzten ein Werk im südenglischen Kent, das zu Instro Precision gehört, der Tochtergesellschaft eines der größten israelischen Waffenhersteller Elbit Systems. Die belgischen Transportarbeitergewerkschaften haben ihre Mitglieder aufgerufen, sich zu weigern, militärisches Gerät zu transportieren, das nach Israel geschickt wird. Die italienischen Basisgewerkschaften USB und SI Cobas blockierten zeitweise die Abfertigung eines Kriegsschiffes im Hafen von Genua. Die Kampfaktionen zeigen welche Bedeutung die Arbeiter*innenkontrolle über die Produktion gerade für die internationale Klassensolidarität hätte. Während sich der Internationale Gewerkschaftsbund (ITUC) klar für einen Waffenstillstand, für die Menschen- und Arbeiterrechte in den besetzten Gebieten einsetzt und die palästinensischen Schwestergewerkschaften stärkt, schweigt der DGB zu den Menschenrechtsverletzungen dort. Wir setzen uns für einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand ein!

Gemeinsam gegen AfD und rechte Regierungspolitik!

Es besteht die Gefahr, dass die AfD im Herbst in drei Bundesländern mit jeweils über 30 Prozent stärkste Kraft werden kann. In den letzten Wochen haben bundesweit große Proteste gegen Rechts stattgefunden. Teilweise haben sich daran auch Politiker*innen von SPD und Grünen beteiligt, die sich bei den Protesten als antifaschistisch inszenieren, aber selbst zum Teil für eine Politik im Sinne der AfD stehen. Die regierenden Parteien in Bund und Ländern betreiben eine rechte Politik indem sie „im großen Stil abschieben“ (Olaf Scholz) wollen, die zivile Seenotrettung kriminalisieren, Haft-Zentren an den EU-Außengrenzen anstreben und den Schutzstatus geflüchteter Menschen weitgehend abschaffen wollen. Aber auch indem sie mit regressiven Gesetzen und transfeindlicher Hetze, die queerfeindliche AfD kaum unterbieten. Wir kämpfen gegen die AfD, aber genauso stellen wir uns gegen die Parteien der Kriegstreiber*innen und Verantwortlichen für rassistische Gesetze, Abschiebungen und Kürzungen bei Bildung, Gesundheit und Sozialem. Der Kampf gegen das Erstarken der AfD kann nur erfolgreich sein, wenn wir die Proteste gegen die AfD mit dem Kampf gegen die Ampel-Regierung und ihrer neoliberalen Politik verbinden und linke und klassenkämpferische Positionen in der Gesellschaft stärken.

Klimaschutz heißt Klassenkampf!

Hitzewellen, Flut, Trockenheit: Die Klimakrise ist immer deutlicher zu spüren. Doch Im globalen Süden sind die Auswirkungen noch viel gravierender. Millionen Menschen verlieren dort ihre Lebensgrundlage. Die Wachstumslogik der kapitalistischen Wirtschaft, die Konkurrenz und das Streben nach Profit führen zur Klimakatastrophe. Energiekonzerne und die Auto- und Stahlindustrie verursachen einen großen Anteil der Treibhausgas-Emissionen. Um die Zerstörung des Planeten durch die kapitalistische Produktionsweise wirksam aufzuhalten, müssen die Kämpfe der Klimabewegung mit den Arbeitskämpfen der Beschäftigten verbunden werden. Große Unternehmen müssen in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung überführt werden, um alle Arbeitsplätze zu retten und die Produktion auf gesellschaftlich sinnvolle und ökologisch nachhaltige Güter umzustellen. Wir müssen den Kapitalismus überwinden, um Klima und Umwelt zu retten!

Heraus zum 1. Mai 2024!

Gegen die Angriffe auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen können wir nur zusammen und organsiert erfolgreich sein. Dafür brauchen wir eine klassenkämpferische Gewerkschaftsbewegung, die der kapitalistischen Krise solidarische Antworten im Interesse der Lohnabhängigen entgegensetzt. Statt Sozialpartnerschaft und Zugeständnisse an die Unternehmen, brauchen wir kämpferische Gewerkschaften und Widerstand im Betrieb und auf der Straße! Deshalb müssen wir uns als kämpferische Kolleg*innen gegen diesen Kurs in den Gewerkschaften und Betrieben vernetzen und organisieren.

Am 1. Mai wollen wir auch zeigen, dass das Erkämpfen von besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen im Hier und Jetzt wichtig ist, aber nicht ausreicht. Unsere Perspektive ist eine befreite Gesellschaft, die nur mit der Überwindung des Kapitalismus verwirklicht werden kann. Das Ziel ist eine sozialistische Gesellschaft, in der die Produktionsmittel nicht länger das Eigentum Einzelner sind und der Profitmaximierung dienen. Wir kämpfen für eine Welt ohne Ausbeutung, Kriege, Umweltzerstörung und Armut.

Erster Mai in Berlin

1. Mai 2024 | 10 Uhr | U Weberwiese (Karl-Marx-Allee/Pariser Kommune)| Klassenkämpferischer Block auf der DGB-Demo

30. April 2024 | 18 Uhr | Leopoldplatz | Demo „Für Frieden und soziale Gerechtigkeit“

1. Mai 2024 | 16:30 Uhr | Südstern | Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration




Politischer Streik in Deutschland: Wie kommen wir dahin, am 8. März zu streiken?

Ramona Summ, Valentin Lambert, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

„Wenn wir streiken, steht die Welt still“. Dieser Slogan untermalte 2018 den feministischen Generalstreik in Spanien zum Internationalen Frauenkampftag. Die spanischen Frauen haben bezahlte und unbezahlte Arbeit niedergelegt und so ökonomischen und gesellschaftlichen Druck ausgeübt, indem hunderte Züge ausfielen, Straßen blockiert wurden und Schulen sowie Kitas geschlossen blieben. Auch in Deutschland ist diese Parole verwendet worden. Der Unterschied:  Hierzulande wird in der Regel die Arbeit nicht niedergelegt, sondern die Wut über die alltägliche sexistische Unterdrückung durch Demonstrationen und Kundgebungen an die Öffentlichkeit getragen. Diese Aktionen sind wichtig und zeigen, wie viele Menschen auch hierzulande für Frauenforderungen auf die Straße gehen. Doch es wirft auch die Frage auf: Wie kommen wir in Deutschland dazu, dass alles stillsteht? Denn Gründe zu streiken, gibt es allemal.

Was möglich wäre

Erinnern wir uns an die Coronapandemie: Während alle ihr Mitgefühl und Unterstützung durch Klatschen am Fenster oder auf dem Balkon kundtaten, musste das medizinische Personal massive Überstunden zu schlechten Arbeitsbedingungen schieben. Das Gesundheitssystem stand damals vor dem Kollaps und wird seitdem auch nur durch die Bereitschaft des existierenden Personals zusammengehalten. Von der miserablen Versorgung bezüglich Abtreibung sowie Häusern zum Schutz vor Gewalt ganz zu schweigen. Frauen sind die doppelten Krisenverliererinnen und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hat sich weiter verschärft. Kurzum: Die Liste an Missständen ist ewig lang. Doch all das muss nicht so bleiben, sondern sind Dinge, die verändert werden könnten. Demos, Petitionen, vereinzelte Proteste reichen jedoch dafür nicht aus. Um den nötigen Druck zu erzeugen, für feministische Forderungen zu kämpfen, bedarf es eines ökonomischen Stillstandes. Denn erst wenn die Profite des kapitalistischen Systems nicht mehr fließen, wird eine politische Kraft ausgespielt, die die Kapitalistenklasse nicht mehr ignorieren kann.

Stellen wir uns jetzt vor, dass der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) mit seinen 5,6 Millionen Mitgliedern sich dazu entscheiden würde, für einen Streik einzutreten: Es gäbe in tausenden von Betrieben Vollversammlungen, wo man nicht nur über die Forderungen reden könnte, sondern auch Raum hätte, darüber zu diskutieren, wie und wo Sexismus im Betrieb sowie in der Gesellschaft stattfinden. Das würde nicht nur helfen, die Forderungen durchzusetzen, sondern auch einen Beitrag leisten, wie innerhalb der Gesellschaft über antisexistische Themen geredet wird. Wie also kommen wir dahin?

Ein kurzer historischer Abriss

Während in vielen EU-Ländern politische Streiks rechtlich erlaubt sind und wir in den letzten Jahrzehnten Generalstreiks in Belgien oder Frankreich miterleben konnten, ist im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit verankert, dass hier keine politischen Streiks, geschweige denn Generalstreiks, möglich sind. Doch woran liegt das genau? Rechtlich ist ein Verbot von politischen Streiks nicht geregelt. Das Grundgesetz schützt das Recht zu streiken und auch historisch gab es in der deutschen Geschichte immer wieder politische Streiks – wenn auch deutlich weniger als in anderen Ländern. Beispiele dafür sind aus der Vergangenheit der Generalstreik für die Beendigung des 1. Weltkrieges 1918, welcher trotz Verbots Hunderttausende auf die Straßen brachte oder der 1948 für die Demokratisierung und Sozialisierung der Wirtschaft. Doch auch in der neueren Geschichte kam es zu Protesten: 1996 gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder 2007, als die IG Metall zu einer Arbeitsniederlegung aufgerufen hatte, um gegen die Rente mit 67 zu protestieren. 2023 sorgte der Schulterschluss zwischen ver.di und Fridays For Future (FFF) für hitzige Debatten, ob dies denn überhaupt legitim sei oder nicht schon ein politischer Streik. FFF unterstützte mit der Kampagne #wirfahrenzusammen insbesondere die Forderungen des ÖPNV in den Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes und setzte auf Streikkundgebungen Akzente und Forderungen für eine nachhaltige Verkehrswende. Woher kommt also die Annahme, dass politische Streiks verboten sind?

Scheinbares Verbot und Angriffe auf das Streikrecht

Dies leitet sich aus einem Urteil des Freiburger Landgerichts von 1952 ab. Damals streikten Beschäftigte der Zeitungsbetriebe für mehr Rechte im Betriebsverfassungsgesetz. Das Gericht urteilte dabei, dass die Streiks rechtswidrig sind, unterstrich aber ausdrücklich, dass sie nicht verfassungswidrig sind: „Sollte durch vorübergehende Arbeitsniederlegung für die Freilassung von Kriegsgefangenen oder gegen hohe Besatzungskosten oder gegen hohe Preise demonstriert werden, dann könnte dieser politische Streik wohl kaum als verfassungswidrig angesehen werden.“

Das im Grundgesetz festgeschriebene Recht zu streiken ergibt sich aus dem Artikel 9 Absatz 3. Dort wird geregelt, dass Arbeitskämpfe „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ geführt werden können. Ein Grundrecht auf Streik, losgelöst von seiner funktionalen Bezugnahme auf die Tarifautonomie, gewährleistet der Artikel allerdings nicht. Darüber hinaus wurde in den vergangenen Jahrzehnten das Streikrecht immer weiter ausgehöhlt, während zeitgleich die Arbeitsbedingungen sich verschlechterten durch Privatisierung sowie Ausbau des Niedriglohnsektors. Beispiele dafür sind das Gesetz zur Tarifeinheit oder die diversen Schlichtungsvereinbarungen, die dazu genutzt werden, „Ruhepausen“ in Streiks zu erzwingen.

Kurzum: In Deutschland ist Streikrecht Richter:innenrecht. Ein politischer Streik ist faktisch möglich. Er ist nicht explizit verboten, bestehende Gesetze legalisieren jedoch nur Streiks für Tarifverträge. Diese Begrenztheit wird jedoch von der internationalen sowie europäischen Rechtsprechung kritisiert und Jurist:innen wie Theresa Tschenker meinen, dass die Grenzen des Legalen z. B. verschoben werden können. Zu Recht sieht sie in den Tarifkämpfen um Entlastung der Krankenhausbeschäftigten das Manko, dass sie nicht am Finanzierungssystem gerüttelt hätten. Dies ist sicher einer der Gründe, warum diese Bewegung dem Kahlschlag durch die jüngsten Lauterbach’schen Krankenhaus„reformen“ wehr- und hilflos gegenübersteht. Sie fordert: „Man müsste die Rechtsprechung zum Verbot des politischen Streiks herausfordern. Dazu bräuchte es einen bundesweiten Krankenhausstreik … Es müsste klar werden, dass alle Beschäftigten dafür streiken, dass die Finanzierung geändert wird …“ Auch die Beispiele nach 1952 machen deutlich, dass es eher eine Frage der Entschlossenheit bleibt als eine der Rechtslage. Hinzu kommt, dass, objektiv betrachtet, selbst ein existierendes Verbot nicht bedeutet, dass man dieses bei massenhaften Protesten nicht auch kippen könnte – schließlich ist der politische Streik ein notwendiges Mittel, um Druck auszuüben. Als Marxist:innen lassen wir uns nicht von den Gesetzen des bürgerlichen Staates begrenzen und die Rechtsprechung vertritt die Interessen des deutschen Staates und des Kapitals, indem durch Verbot eines Streiks keine Profiteinbußen auf Kosten der Kapitalist:innen anfallen. Natürlich könnten Konsequenzen drohen, aber im Falle einer Bewegung könnten Repressionen mit erneuten Streiks abgewehrt werden. Was also hindert uns daran zu streiken?

Der Unwillen der Gewerkschaften

Eines der häufigsten Argumente ist, dass die Gewerkschaften Schadenersatzforderungen befürchten, wenn sie zu einem Streik aufrufen, der nicht den rechtlichen Kriterien entspricht. Man sollte meinen, dass der DGB sich zu wehren wüsste und seine Mitgliedschaft tatkräftig dagegen mobilisieren könnte. Doch so einfach ist das nicht. Denn in der Realität sehen wir selbst bei bloßen Tarifrunden ein Anbiedern ans Kapital statt kämpferischer Streiks, wie die Beschäftigten bei den den Tarifverträgen TVöD, TV-L , der Post und Bahn am eigenen Leibe gespürt haben. Zehntausende Neueintritte zeigten die enorme Kampfkraft,  stattdessen kam es jedoch zu enttäuschenden Reallohnverlusten bei den Abschlüssen. Mit zahlreichen Trickser- und Zahlendrehereien wird versucht, diese als Erfolge zu verkaufen. Nullmonate und überlange Laufzeiten, die vorher kategorisch abgelehnt wurden, wurden auf einmal akzeptiert. Der Informationsfluss, wie der Abschluss denn zu bewerten sei, läuft einseitig und die Gewerkschaft behält sich hier ein Informationsmonopol vor. Möglichkeiten, sich über den Abschluss auszutauschen und gegebenenfalls weitere Schritte zu diskutieren, gibt es wenig. Der vermeintlich demokratische Prozess zur Befragung aller Gewerkschaftsmitglieder über das Ergebnis ist tatsächlich nicht rechtlich bindend. So verkommen die Tarifrunden zu reinen Ritualen und dienen lediglich der

Abwehr der schlimmsten Verelendung. Aber wieso? Die Verantwortlichen der Misere sind schnell gefunden. Es ist die Gewerkschaftsbürokratie und deren Programm der Sozialpartnerschaft.

Wurzeln der Bürokratie und Sozialpartnerschaft

Die Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmer:innen sorgt für ein vermeintlich harmonisches Miteinander zwischen Arbeiter:inneninteressen und denen des Kapitals gemäß dem Sprichwort „zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig“ und basiert auf der Idee der kapitalistischen Mitverwaltung. Reformistische Politiker:innen in den Führungen der Gewerkschaften, der Betriebsräte in den Großkonzernen, der SPD, aber auch der Linkspartei setzen in ihrer Politik auf die Strategie der Zusammenarbeit mit vermeintlich „vernünftigen“ Teilen der herrschenden Klasse. Letzten Endes versprechen sie an der Regierung, „das größere Übel“, also noch mehr Entlassungen und Sozialabbau, zu verhindern – und bereiten damit nur ebendieses vor, indem sie die Klasse spalten und ihre Kampfkraft schwächen. Die Gewerkschaftsführungen und Betriebsräte spielen dasselbe Spiel in der Hoffnung, dass Lohnverzicht und Kurzarbeit Arbeitsplätze sichern. Doch zeigt es vor allem eins: dass sie Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen haben, wohingegen die objektiven Interessen der Beschäftigten dem diametral gegenüberstehen.

Diese  Politik wird von der Gewerkschaftsbürokratie getragen. Dabei gibt es Momente, in denen sie gezwungen ist, zu mobilisieren und radikal aufzutreten. Denn ihre Position ergibt sich eben daraus, dass sie als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital fungieren kann – im Interesse der Beschäftigten Verbesserungen erkämpfen, aber eben nur so viel, dass es dem Kapital nicht schadet, um „den eigenen Standort“ und die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu sichern. Dabei entwickelt sie als bürokratische Schicht selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Dass sie sich etablieren konnte, ist ein historischer Prozess, den wir an dieser Stelle nicht näher beleuchten können. Gefördert wird das aber durch die Extraprofite und Überausbeutung der halbkolonialen Welt. Auch wenn es sicher Individuen gibt, die es als Gewerkschaftssekretär:innen gut meinen – wir können nicht auf den guten Willen Einzelner  vertrauen – insbesondere nicht, wenn deren Position auf Überausbeitung von Kolleg:innen in anderen Ländern basiert.

Das wirft berechtigterweise die Frage auf: Kann man sein Vertrauen in solche Hände legen? Die klare Antwort lautet: Nein. Doch es hilft nicht, sich komplett von den existierenden Strukturen der Gewerkschaften abzuwenden. Schließlich zeigen die Beispiele aus anderen Ländern, was möglich sein könnte. Deswegen ist es notwendig, die existierenden Tarifkämpfe zu politisieren sowie systematisch gegen Gewerkschaftsbürokratie und Sozialpartnerschaft vorzugehen.

Klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen!

Es steht also an, den existierenden Interessenkonflikt offenzulegen und weiter zu politisieren. Das kann beispielsweiseweise bedeuten, konkret aufzuzeigen, dass unser Geld nicht weg, sondern schlichtweg nach oben umverteilt wurde, wie wir an den Abschlüssen von 2023 sehen. Das Geld, was dem öffentlichen Dienst fehlt, ist nämlich bei den Rüstungsausgaben der Bundesregierung zu finden. Gleiches gilt für antisexistische Forderungen. Doch was bedeutet das in der Praxis?

Während #wirfahrenzusammen zeigt, wie Teile der Umweltbewegung versuchen, ein Bündnis mit den Beschäftigten im ÖPNV zu schließen, bleibt es Aufgabe für die feministischen Strömungen, es ihnen gleichzutun und beispielsweise die Streiks im Caresektor wie der Krankenhausbewegung aktiv zu unterstützen. Bei all den positiven Momenten, wäre es jedoch wichtig, die Fehler der #wirfahrenzusammen-Kampagne nicht zu wiederholen. Das bedeutet, dass man sich nicht von Gewerkschaftsführung & Co abhängig machen darf, um auch klare Kritik üben zu können für den Fall, dass beispielsweise die Abschlüsse so enttäuschend ausfallen wie die 2023:

  • Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden! Keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!
  • Streikleitung den Streikenden: Für flächendeckende Streikversammlungen bei Streiks in den jeweiligen Branchen, die bindend entscheiden, wie ihr Kampf geführt wird!

Doch es darf nicht dabei bleiben, Tarifkämpfe zu kommentieren. Auch innerhalb von Gewerkschaften kommt es zu Sexismus, Rassismus, sowie LGBTIA+-Unterdrückung. Deswegen muss auch  – neben dem Kampf zur Demokratisierung der Gewerkschaften an sich –  darauf eingegangen werden. Neben möglichen Quotierungen ist es essentiell, dafür einzustehen, dass es das Recht auf gesonderte Treffen und eigene Strukturen ohne jede Bevormundung durch den Apparat für gesellschaftlich Unterdrückte gibt. Darüber hinaus müssen aktiv Mechanismen zum Umgang mit, aber auch zur Prävention von Übergriffen und diskriminierendem Verhalten erarbeitet werden – denn bloße Phrasen reichen an der Stelle nicht aus, um den gemeinsamen Kampf zu gewährleisten.

  • Für das Recht auf gesonderte Treffen und eigene Strukturen ohne jede Bevormundung durch den Apparat für gesellschaftlich Unterdrückte: Frauen, Jugendliche, MigrantInnen, trans Personen, Schwule und Lesben! Für den aktiven Kampf zur Organisierung dieser Gruppen und gegen jede rassistische, sexistische oder homophobe Diskriminierung!
  • Für das Recht aller politischen und sozialen Gruppierungen (mit Ausnahme faschistischer und offen gewerkschaftsfeindlicher), sich in den Gewerkschaften zu versammeln, zu artikulieren und Fraktionen zu bilden!

Zusammengefasst bedeutet das, dass wir innerhalb der Gewerkschaften eine klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen müssen, die auch bereit ist, nicht nur als „linke Bürokrat:innen“ Entscheidungen zu treffen, sondern sich gegen die Bürokratie selbst richtet. Deswegen ist es auch zentral, dass man dafür eintritt, dass Streik- und Aktionskomittees in Betrieben, an Unis und Schulen gebildet werden. Diese helfen nicht nur, Proteste stärker im Alltag zu verankern, sie sowie weitere Aktionen zu planen, sondern sollten letzten Endes über die Forderungen des Streiks, die Durchführung dessen und den Fortgang der Bewegung an sich entscheiden, beispielsweise indem Delegierte gewählt werden, die rechenschaftspflichtig sowie wähl- und jederzeit abwählbar sind – anders als in bürokratisierten Gewerkschaften.

  • Für die Wählbarkeit und jederzeitige Abwählbarkeit der Funktionär:innen! Niemand darf mehr verdienen als ein durchschnittliches Facharbeiter:innengehalt!

Kämpfe verbinden und zuspitzen!

Kurzum: Auf den ersten Blick sind die Gewerkschaften nicht die liebsten Bündnispartnerinnen. Gleichzeitig können sie mächtige Kampforgane verkörpern, um die eigenen Ziele durchzusetzen, insbesondere wenn es darum geht, Bewegungen nicht nur anzustoßen, sondern zum Erfolg zu bringen und reale Verbesserungen zu erkämpfen. Das ist jedoch keine Zufälligkeit, nichts, was spontan aus dem Moment heraus passiert, sondern letzten Endes eine Frage der politischen Grundlage. Es ist also an uns, ob wir die Gewerkschaften in Instrumente verwandeln, die der Frauenstreikbewegung dienlich sind.

Gleichzeitig wollen wir als Marxist:innen nicht dabei stehen bleiben, Bewegungen aufzubauen, sondern glauben, dass Klassenbewusstsein nicht innerhalb des kapitalistischen Systems verbleiben darf. Ein Kleinkrieg gegen die Auswirkungen ist nicht ausreichend und wird soziale Unterdrückungen nicht beenden. Stattdessen muss gleichzeitig versucht werden, den Kapitalismus zu zerschlagen. Das ist auch vielen innerhalb der Frauenstreikbewegung klar. Wir treten deswegen  für Forderungen wie Kollektivierung der Sorge-/Carearbeit, finanziert durch die Enteignung der Reichen, ein – also solche, die das kapitalistische System an sich infrage stellen. Unserer Meinung nach kann  mit einem politischen Programm von Übergangsforderungen der Arbeiter:innenklasse eine Strategie und das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution vermittelt werden. Also lasst das Motto „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ auch hierzulande wahr werden! Lasst uns unsere Forderungen in die Frauen- und Bewegung anderer sozial Unterdrückter hineintragen und einen Frauenstreik organisieren, der nicht an Landesgrenzen haltmacht – mit dem Ziel, der Wurzel der Frauenunterdrückung – dem Kapitalismus – den Garaus zu machen!

Anhang: Beispielhaft Streiks

Beispiel 1: Der Kampf gegen die Streichung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1996

1996 verfolgte die Kohl-Regierung den Plan, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen.

Im Kampf dagegen nahmen die Beschäftigten der großen Automobilkonzerne eine Schlüsselrolle ein, indem sie gegenüber den ursprünglichen, zaghaften und halbherzigen Ansätzen der IG-Metall-Spitze vorpreschten und die Arbeit niederlegten. Neben der Wut und Entschlossenheit der Beschäftigten in diesen Betrieben war die Stärke gewerkschaftsoppositioneller Betriebsratsgruppierungen wie bei Daimler Mettingen oder im Bremer Mercedes-Werk wichtig, um diese Kampfbereitschaft zur Aktion zu bündeln und zu führen. Massenaktionen und wilde Streiks brachten das Gesetzesvorhaben schließlich zu Fall.

Beispiel 2: Frauenstreik am 8. März 2017 in Lateinamerika

2017 kam es in Lateinamerikas zu länderübergreifenden Frauenstreiks. Ursprung dieser Massenbewegung war die 2015 entstandene Kampagne „Ni una menos“ („Nicht eine weniger“), die sich gegen misogyne Gewalt, für das Recht auf Abtreibung und für Rechte Indigener Frauen einsetzte. Die Bewegung entstand in Argentinien und breitete sich in den folgenden Jahren in Lateinamerika und darüber hinaus aus. Einen Höhepunkt der Bewegung bildete der länderübergreifende Frauenstreik 2017. Er Streik wies eine breite gesellschaftliche Beteiligung von Akademikerinnen, Arbeiterinnen, Studentinnen und Erwerbslosen auf. Dadurch konnte in Argentinien Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt werden, so dass diese die Forderungen der Frauen übernahmen und zur Arbeitsniederlegung aufgerufen hatten. Aber auch in Mexiko, Chile und Uruguay gab es unter anderem große Streiks, wo Frauen die Arbeit niedergelegt haben. Dies zeigt uns, wie eine breite Beteiligung Druck auf Gewerkschaften ausüben kann, feministische Themen und antirassistische Themen zusammengebracht werden können und ein solcher Kampf auch über Ländergrenzen hinweg geführt werden kann.

Beispiel 3: Un Dia Sin Nosotras – Frauenstreik 2020 in Mexiko

Am 8. März 2020 streikten Frauen in Mexiko unter dem Motto „Un Dia Sin Nosotras“ (Ein Tag ohne uns) aufgrund der steigenden Geschlechtergewalt und Femi(ni)zide im Land. Frauen und Gewerkschaften riefen dazu auf, ihre berufliche und häusliche Arbeit an diesem Tag niederzulegen. Neben den Demonstrationen und Kundgebungen, gab es an dem Tag auch Versammlungen, Veranstaltungen und Diskussionsrunden, bei denen Frauen Ihre Forderungen äußern konnten, was zu einer Förderung des Bewusstseins und der Solidarität beigetragen hat. Durch den Streik zeigten die mexikanischen Frauen die Wichtigkeit ihrer Präsenz und ihrer Arbeit für die Gesellschaft und, wie sie in Form eines Streiks Druck auf den Staat ausüben können.




1848 und die Linke

Martin Suchanek, Infomail 1237, 15. November 2023

Der folgende Text ist ein Redemanuskript, das dem Beitrag bei der von Platypus Leipzig am 2. Oktober durchgeführten Veranstaltung zu „1848 und die Linke“.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (Marx, 18. Brumaire des Louis Bonaparte)

Betrachten wir die Revolution von 1848, so brachten wir sie als Revolutionär:innen vom Standpunkt der Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts, ihre Verwerfungen, Aufgaben – nicht und nie bloß in einer geschichtlichen Rückschau.

Diese Bemerkung erklärt aber, warum ein großer Teil der sog. Linken – inklusive derer, die sich selbst radikal nennen, so wenig Interesse an der Revolution von 1848 und auch anderen Revolutionen der Vergangenheit haben. Nehmen wir nur den Oktober 1923, dessen Niederlage einen weltgeschichtlichen Wendepunkt darstellte.

Die Revolution von 1848 stellt auch einen solchen weltgeschichtlichen Wendepunkt dar, weil sie die Parameter der Klassenverhältnisse und revolutionärer Politik damals und bis heute mitprägt. Worin besteht das, dazu thesenhaft.

1. Die REVOLUTION von 1848 war eine internationale Revolution

Auch wenn sie – wie viele Revolutionen – unvorhergesehen, wenn sie, in Marx Worten, in Frankreich mit einer „Überrumpelung“ beginnt, so breitet sie sich über ganz Europa aus.

Sie ist kein nationales Ereignis, sondern ein internationales, auch wenn es Deutschland und Osteuropa um den die Nachvollziehung der bürgerlichen Revolution geht.

2. Die Revolution von 1848 ist zwar eine gescheiterte bürgerliche Revolution, zugleich aber geht sie schon über diese hinaus und zwar in mehrfacher Hinsicht.

– Erstens verbindet die Entwicklung in England und jene auf dem Kontinent die Frage der sozialistischen mit der bürgerlichen Revolution.

  • Zweitens zeigen alle Revolution und Erhebungen in Europa, dass das Bürger:innentum nicht mehr zu einer entschlossenen, konsequenten Revolution gegen die Dynastien und das alte Regime fähig ist. Die bürgerliche und kleinbürgerlichen Parteien Deutschland, Frankreich, Österreich usw. ziehen letztlich die Niederlage einer zu weit gehenden Revolution vor.

  • – Dies hängt drittens untrennbar mit der Entwicklung des Klassenkampfes und dem Hervortreten der Arbeiter:innenklasse als eigenständiger, unabhängiger revolutionärer Kraft zusammen, vor allem und zuerst in Frankreich. Die Klasse der Lohnabhängigen trägt auch gemeinsam mit den unteren Schichten des städtischen Kleinbürger:innentums die Hauptlast der Revolution.

  • Daher enthalten viertens das Programm der Arbeiter:innenklasse – wie im Kommunistischen Manifest, aber sehr viel genauer in den Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland im März 1848 dargelegt – sehr radikale Eigentumsforderungen und Übergangsforderungen.

  • Die Revolution enthält also fünftens schon wichtige Aspekte der permanenten Revolution, der Revolution in Permanenz, der Verbindung von demokratischen Aufgaben – nationale Einheit, Demokratie und Republik, Landfrage, Abschaffung aller feudalen Überreste – mit Fragen der proletarischen Revolution. Schon im Kampf treten letztlich Proletariat und Bürger:innentum als Kräfte auf, die um die Führung der Revolution im Streit liegen.

  • Die Revolution zeigt die Notwendigkeit der Organisierung der Arbeiter:innenklasse als eigenständige politische Kraft, als Partei, im Gegensatz zu anderen Klassen – auch als Voraussetzung für Taktik und Bündnispolitik gegen die Reaktion.

3. Das Scheitern der Revolution führt Marx und Engels zu einer schonungslosen und nüchternen Neubestimmung der Aufgaben von Revolutionär:innen.

Das schließt natürlich auch ein, dass wir heute in der Politik und Analyse von Marx und Engels auch wichtige Schwächen und Fehler kritisch benennen müssen. Das bezieht sich z. B. auf die falsche Konzeption von historischen und geschichtslosen Völkern, die sie, wie Rosdolsky in „Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen’ Völker“ zeigt, von Hegel letztlich unkritisch übernehmen. Es bezieht sich aber auch auf die Frage der eigenständigen Arbeiter:innenorganisation, deren Wichtigkeit erst mit dem Niedergang der Revolution deutlicher hervorgehoben wird.

Jetzt aber zu den positiven Lehren:

  • Anerkennung der Niederlage der Revolution. Ablehnung der Vorstellung, dass diese künstlich wiederbelebt werden könne.

  • Hinwendung zur tieferen, ökonomischen Analyse der Verhältnisse. Die Niederlage wird nicht einfach aus politischen Fehlern und Verrat erklärt, sondern auch aus einer Unreife der Arbeiter:innenklasse, die ihrerseits durch die Unreife der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in Deutschland, tw. in Frankreich verursacht ist.

  • Zugleich tritt das Proletariat schon so sehr in Erscheinung, dass das Bürger:innentum als revolutionäre Klasse ausfällt, vor dem Kampf zurückschreckt, weil das Proletariat zu weit gehen könnte, den bürgerlich Rahmen der Verhältnisse in Frage stellen könnte. Umgekehrt betrachten Marx und Engels die bürgerliche Revolution nur als Übergangsstadium.

  • Die Konterrevolution kann sich auf die Erschöpfung der revolutionären Klassen stützen – unreifes Proletariat, zögerliche bürgerlich/kleinbürgerliche demokratische Kräfte – aber auch auf „Mittelklassen“ und die Bäuer:innenschaft auf dem Land. Der Sieg der Konterrevolution nimmt eine spezifische Form an, führt zur Etablierung eines bonapartistischen Staatsapparates oder Regimes. Am klarsten in Frankreich, aber auch in Preußen.

  • Die gescheiterte Revolution macht auch deutlich, dass die Arbeiter:innenklasse die bürgerliche, bürokratische Staatsmaschinerie, die mehr und mehr perfektioniert wird, nicht einfach in Besitz nehmen kann für ihre Zwecke. Der bürgerliche Staat muss vielmehr zerschlagen werden, damit eine wirkliche Volksrevolution mit dem Proletariat an der Spitze siegen kann.

4. Warum kräht 2023 kaum jemand nach der Revolution 1848?

Das hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass 175 Jahre ein etwas sperriger Jahrestag sind. Auch die Revolution von 1923 interessiert wenig, ob wir den 100. Jahrestag erleben.

Der Grund ist eine andere. Für Marxist:innen ist die Betrachtung vergangener Revolution untrennbar mit der Betrachtung zukünftiger verbunden. Oder wie Marx formuliert: die soziale Revolution schöpft ihre Poesie auf der Zukunft.

Für eine Linke jedoch, für deren große Mehrheit die Revolution ein toter Hund, eine Utopie, eine bloße Erinnerung an die Vergangenheit geworden ist, gibt es auch keine Lehren aus der Revolution.

Die heutige Linke steht in ihrem Verhältnis zur Revolution von 1848 allenfalls auf dem Standpunkt des radikalen Kleinbürger:innentums von 1848, das die Revolution irgendwie wollte, aber auch nicht zu viel und zu radikal. Heute will man eine entschlossene, transformatorische Reformpolitik, Sozialismus, aber im Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staatsgebäudes.

Nur wenn die sozialistische Umwälzung, nur wenn die Revolution als reale Möglichkeit und Aufgabe unserer historischen Periode begriffen wird – als einzige wirkliche Antwort auf die Krise des Kapitalismus, auf den Krieg, auf die ökologische Zerstörung, auf Rassismus und zunehmende Reaktion in allen Formen – nur dann können überhaupt die Lehren vergangener Revolutionen fruchtbar gemacht werden.




Redefreiheit und die Linke

Lukas Müller. Infomail 1236, 10. November 2023

Im Folgenden geben wir die einleitenden Thesen von Gen. Lukas Müller als Vertreter der Gruppe Arbeiter:innenmacht wieder, die er am 4. November bei einer Podiumsdiskussion in Leipzig vorgestellt hat.

1. These

Das bürgerliche Recht und bürgerliche Freiheiten erscheinen nur auf einer rein formalen Ebene als etwas Neutrales (neutrales Recht, neutrale Freiheiten), sind aber Ausdruck eines bestimmten Klasseninteresses – dem der Kapitalist:innenklasse.

Sie drücken primär ihr Interesse aus und nicht das aller Klassen (also z. B. auch der Arbeiter:innenklasse, auch wenn es so erscheint, als würde das bürgerliche Recht die gemeinsamen Interessen der gesamten Gesellschaft wiedergeben.

Aber solche gemeinsamen Interessen der Gesellschaft, also aller Klassen, gibt es nicht

Denn: Über der kapitalistischen Produktionsweise als ökonomischer, materieller Basis der Gesellschaft erhebt sich deren ideologischer, rechtlicher, moralischer Überbau. Dieser ist also Ausdruck der ökonomischen Basis (Basis und Überbau bei Marx).

D. h., das bürgerliche Recht, die bürgerliche Freiheiten, die bürgerliche Moral usw. entsprechen der kapitalistischen Produktionsweise und reproduzieren diese auf politischer und ideologischer Ebene. Damit dienen sie in erster Linie der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie.

Freiheit des/r einen ist gleichzeitig die Unterdrückung des/r anderen (unternehmerische Freiheit). Die Freiheit der Kapitalist:innen, von ihrer ökonomischen (und damit auch politischen) Macht Gebrauch zu machen, zieht gleichzeitig und unausweichlich die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse nach sich. Es gibt also nicht DIE allgemeine Freiheit, sondern sie muss im Kontext von Klassen gesehen werden

Die Frage nach Freiheit ist die: „Für welche Klasse“?

Wir sind für die Freiheit der Arbeiter:innenklasse und aller Unterdrückten, aber gleichzeitig für die Unfreiheit der Kapitalist:innenklasse (ganz allgemein und plakativ gesprochen).

Jede Person hat das Recht, wählen zu gehen, Demonstrationen anzumelden, Parteien oder Zeitungen zu gründen usw. Aber durch ihre ökonomische Macht verfügt die Kapitalist:innenklasse über einen vielfach größeren Einfluss auf Staat und öffentliche Meinung. Sie ist durch unzählige Fäden mit dem Staat verbandelt, sodass sie dadurch auch zur politisch herrschenden Klasse wird, teils ganz direkt durch das Schreiben von Gesetzen, oft aber auf indirekt Art und Weise.

Letztlich ist in Artikel 14 GG auch das „Recht“ auf Privateigentum Erbschaft, also eine auf Privatbesitz an Produktionsmitteln fußende Gesellschaft, unveränderlich festgeschrieben (und damit der Kapitalismus).

Demokratische Rechte werden den unterdrückten Klassen oft nur deshalb (teilweise) gewährt, um sie ins bestehende System zu integrieren, zur Aussöhnung mit diesem und um der Kaschierung der ökonomischen und damit indirekt auch politischen Herrschaft der Kapitalist:innenklasse willen.

Was selbstverständlich nicht heißt, dass wir demokratische Rechte nicht gegen jeden staatlichen Angriff verteidigen würden! Dazu gleich mehr.

2. These  (damit eng zusammenhängend)

Das bürgerliche Recht und bürgerliche Freiheiten erscheinen auch nur auf einer rein formalen Ebene als für alle gleichermaßen gültig. Nur weil Rechte und Freiheiten formal für alle gleich existieren, heißt das noch lange nicht, dass Staat und Kapitalist:innenklasse diese von allen in gleichem Umfang in Anspruch nehmen lassen.

Das sieht man z. B. aktuell an der massiven Repression gegen Palästinasolidarität. In zahlreichen Städten wurden alle Demonstrationen und Kundgebungen, die in Solidarität mit Palästina stehen könnten, verboten. Hunderte Teilnehmer:innen wurden bundesweit festgenommen. An Berliner Schulen wurden das Tragen der Kufiya, Zeigen von Aufklebern und Stickern mit Aufschriften wie „Free Palestine“ verboten. Auf Demonstrationen, die stattgefunden haben, waren viele Parolen als angeblich „antisemitisch“ verboten, in Berlin z. B. die Parole „Stoppt das Morden, stoppt den Krieg“.  Palästinenser:innen, Araber:innen und Muslim:innen, die keine deutschen Pässe haben, droht die Abschiebung bei propalästinensischer Aktivität.

Palästinasolidarität ist nur ein Beispiel, man könnte viele weitere nennen:

Es gibt keine Neutralität der Richter:innen. Kapitalist:innen können Staranwält:innen bezahlen. Rechte von Geflüchteten (Menschenwürde) usw. usf. werden von diesen nicht vertreten, wenn sie staatlich eingeschränkt werden. Der Staat versucht also, die formal jedem/r garantierten Rechte nach Belieben gesetzlich einzuschränken oder setzt sich schlicht über seine eigenen Gesetze hinweg. Sie sind also mehr Schein als Sein.

Was wie gesagt nicht heißt, dass wir nicht auch formale (also gesetzliche) Rechte und Freiheiten gegen Angriffe verteidigen. Das halten wir sehr wohl für relevant und notwendig.

Unter den Bedingungen der Illegalität ist es selbstverständlich deutlich schwieriger für die Arbeiter:innenklasse, sich zu organisieren, als unter Bedingungen voller demokratischer Freiheiten.  Formale Freiheiten sind also keineswegs völlig irrelevant, weil eh nur das aktuelle Interesse der Kapitalist:innenklasse zählt. Wenn wir formal ein Recht haben, schafft das tendenziell günstigere Bedingungen, dieses auch praktisch durchzusetzen. Daher sind wir allgemein für größtmögliche demokratische Freiheiten.

Es geht aber darum, dass in der kapitalistischen Klassengesellschaft kein Automatismus existiert, welcher allen Menschen die praktische Inanspruchnahme von formalen Rechte und Freiheiten garantiert, zum einen durch ökonomische Macht und Zwänge,  zum anderen durch die Macht des Staates, Rechte einzuschränken, abzuschaffen und zu übergehen.

3. These

Bürgerliche Freiheiten (z. B. Meinungsfreiheit) und demokratische Recht sind für Arbeiter:innen- wie auch Kapitalist:innenklasse kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Sie dienen nämlich der Verteidigung ihrer objektiven Klasseninteressen. Sie haben somit keinen Wert an sich, sondern immer nur Bedeutung, wenn sie ihren Interessen  zu einer gegebene Zeit nutzen.

Daran bestimmt sich auch allgemein unser Verständnis von Recht und Moral oder, wann wir Rechte oder Einschränkungen verteidigen oder was wir selbst vornehmen: „Recht ist, was der proletarischen Klasse nützt“ (Lenin).

Im Eingangstext zur Veranstaltung wurde das Engagement von Marx, Engels und der II. Internationale fürs Recht auf freie Meinungsäußerung angesprochen. Dieses zu erkämpfen, war in der Tat eine wichtige Aufgabe der damaligen Zeit (und bis heute).

Aber Marx, Engels und die II. Internationale kämpften nicht für Recht auf freie Meinungsäußerung als Wert an sich, damit sich halt alle Menschen frei (freier) äußern können, sondern damit SIE und die internationale Arbeiter:innenklasse sich frei äußern und vor allem legal organisieren können mit dem Ziel, diese Freiheiten nutzen zu können, um die Zerschlagung des Kapitalismus und seiner bürgerlichen Staaten vorzubereiten.

Denn zu dieser Zeit gab es die Sozialistengesetze in Deutschland und ähnliche, teilweise noch schärfere Gesetze in anderen Ländern, welche Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen in den Untergrund, die Illegalität und zu Tauenden ins Gefängnis drängten.

Demokratische Rechte allgemein bilden für die Arbeiter:innenklasse eine Art Rahmen, in dem politisches Handeln möglich ist. Wenn diese in spezifischer Situation den Interessen der Arbeiter:innenklasse schaden, ist es legitim und notwendig, diese einzuschränken oder abzuschaffen.

Hitler wurde demokratisch an die Macht gewählt (gleichzeitig gestützt auf eine militante Massenbewegung auf der Straße). Haben Kommunist:innen deshalb die Wahl widerstandslos akzeptiert, aus Hochachtung vor der Demokratie als Selbstzweck? Nein!

Nennen wir als zweites Beispiel  das Verbot der anderen Sowjetparteien durch die Bolschewiki im Bürger:innenkrieg.

Demokratie hat für uns keinen Wert an sich, sondern nur einen, solange sie den Interessen der Arbeiter:innenklasse nützt, und umgekehrt gewährt die Kapitalist:innenklasse demokratische Rechte und Freiheiten nur, solange ihre eigene Klassenmacht dadurch nicht bedroht wird. Sobald sie ihre Interessen durch politische Bewegungen gefährdet sieht, wird sie deren demokratische Rechte übergehen, einschränken, abschaffen.

Das kann sogar darin gipfeln, dass Kapitalist:innen zur Sicherung ihrer ökonomischen Macht (also des Kapitalismus) nicht nur einzelne demokratische Rechte einschränken, sondern die faschistische Karte ziehen und damit grünes Licht geben zur Abschaffung der gesamten bürgerliche Demokratie. So geschehen bei Hitlers Treffen mit der deutschen Großindustrie kurz vor Machtergreifung und danach.

Die Frage von Recht, Freiheit und Demokratie ist schlicht die von Klassenkampf. Wir verteidigen das Demonstrationsrecht gegen staatliche Angriffe, schränken dieses zeitgleich aber selber aktiv für Faschist:innen ein, indem wir ihre Demonstrationen blockieren.

Wir verteidigen das Recht auf freie Meinungsäußerung („Propagandafreiheit“) gegen staatliche Angriffe, reißen Plakate und Sticker von Faschist:innen ab, werfen ihre Flyer, wo sie ausliegen, in den Müll.

So verhalten wir uns allerdings nicht gegenüber gewöhnlichen bürgerlichen Parteien wie CDU, FDP, Grünen oder bürgerlichen Arbeiter:innenparteien wie SPD und Linkspartei. Diese verbreiten zwar bürgerliche Ideologie und damit die der Kapitalist:innenklasse und müssen dementsprechend politisch bekämpft werden.

Allerdings unserer Meinung nach nicht durch Blockieren von Versammlungen oder Zerstören von Wahlplakaten.

1. Weil es gegen so große und mächtige Parteien ziemlich ineffektiv ist diese durch Sabotage bekämpfen zu wollen. Wir müssen vielmehr Arbeiter:innen, welche Illussionen in diese Parteien hegen, durch politisch-inhaltlichen Kampf von diesen lösen und für uns gewinnen;

2. weil von bürgerlichen Parteien keine so direkte physische Gefahr für linke und proletarische Aktivist:innen ausgeht, weil deren Ziel nicht in der Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung selbst besteht;

3. weil wir diesen Parteien, die ja auch z. T. an der Regierung sind, damit einen Vorwand liefern, umgekehrt uns zu sabotieren durch Gesetze, die unsere Rechte einschränken.

Es würde uns schwerfallen, diese demokratischen Rechte dann öffentlichkeitswirksam als politische Minderheit zu verteidigen, wenn wir sie der politischen Mehrheit selbst nicht zugestehen. Es wäre also taktisch einfach unklug und der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, während das Blockieren von Faschisten:innen und anderen Rechten leichter zu begründen ist, weil sie eine unmittelbare Gefahr für die Existenz von zumindest Teilen der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten (Migrant:innen, Geflüchtete) darstellen bzw. die Organisationen der Klasse zerschlagen wollen.

Wir tun das also nicht, weil wir die demokratischen Freiheit an sich so hoch schätzen, sondern wir uns nicht mit taktisch unklugem Verhalten selbst schaden wollen. Taktische Erwägungen sind allgemein von großer Relevanz im Klassenkampf.

Natürlich wird die Kapitalist:innenklasse so oder so unsere demokratischen Rechte einzuschränken versuchen, uns polizeilich und juristisch sabotieren, sobald sie uns als reale Gefahr wahrnimmt. Und da sind wir dann an dem Punkt, wo das Kräfteverhältnis und die öffentliche Stimmung entscheiden, wer sich durchsetzt.

4. These

Das Wahrnehmen bzw. Durchsetzen von Rechten und Freiheiten ist nicht in erster Linie eine juristische, sondern eine Frage des Kräfteverhältnisses.

Ob der Staat es schafft, ein bestimmtes Gesetz zu erlassen, bspw. das Versammlungsrecht zu beschneiden, ist abhängig vom Ausmaß des Widerstands, den wir schaffen, auf der Straße, in Betrieben, an Unis und Schulen zu entfalten. Wenn sich die öffentliche Stimmung dermaßen gegen solche Gesetzesvorhaben dreht oder mit massiven Streiks dagegen zu rechnen ist, kann der Staat davor zurückschrecken und das Gesetz wieder zurücknehmen müssen.

Weiter ist es auch eine Frage des Kräfteverhältnisses, ob und inwieweit wir uns über bestehende Gesetze oder andere staatliche Einschränkungsversuche hinwegsetzen können. Formal mag eine Demonstration verboten sein, aber wenn dennoch Zigtausende kommen, können wir diese womöglich gegen die Einschränkungen durch die Staatsmacht durchsetzen.

Letztlich besteht unser Ziel darin, das Kräfteverhältnis so zu verschieben, dass die Arbeiter:innenklasse selber die Kontrolle darüber übernehmen kann, welche demokratischen Rechte es gibt, was gesagt und getan werden darf, um sie somit massiv auszuweiten. Das heißt, wir treten z. B. dafür ein, dass die Arbeiter:innen der großen Zeitungen, sozialen Medien usw. selber entscheiden, was erlaubt ist und was nicht. In diesem Sinne kann der Kampf für die Verteidigung demokratischer Rechte mit dem für Arbeiter:innenkontrolle und ein Programm von Übergangsforderungen verbunden werden.




Linkspartei: Die Bewegungslinke als Retterin in der Not?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 276, September 2023

Es ist wie ein Unfall, bei dem man nicht wegsehen kann, oder Gossip Girl im Real Life: die Krise der Linkspartei. Seit Beginn des Jahres hat sich die Situation stetig zugespitzt.

Mitte März gab Wagenknecht ein Interview bei ZDFheute, in dem sie erklärte, über die Gründung einer neuen Partei nachzudenken. Nachvollziehbar fand das der aktuelle Parteivorstand weniger unterhaltsam – nach mehreren offenen inhaltlichen Abweichungen von Positionen der Parteitage und nach Veröffentlichung des Buches „Die Selbstgerechten“, was als Gegenprogramm zur eigenen Partei gelesen werden kann.

Es folgte am 25. Juni ein Treffen von Wissler, Schirdewan und Wagenknecht mit Amira Mohamed Ali und Bartsch als Vermittler:innen, bei dem Wagenknecht eine Frist gesetzt wurde.

Dies wurde ihrerseits mit einem weiteren Interview, diesmal für Die Welt, beantwortet. Der Parteivorstand verabschiedete daraufhin Mitte Juni einen Brief mit einem Appell, dass jene, die darüber nachdenken, eine neue Partei zu gründen, ihr Mandat niederlegen sollten. Das ist sicher nachvollziehbar, denn welche Partei will schon die Neugründung ihrer Konkurrenz aus eigenen Mitteln finanzieren? Somit ging die öffentliche Schlammschlacht in die nächste Runde.

Die Fraktionsvorsitzende Mohamed Ali trat Anfang August zurück und Klaus Ernst stellte nach 15 Jahren Mandat fest, dass es Leute in der Partei gibt „deren Kontakt zur Arbeit sich darauf beschränkt, dass sie mal als Schüler oder Student ein Regal bei Aldi eingeräumt haben“. Der Parteivorstand wäre „eine große Truppe politikunfähiger Clowns in der Partei“. Kurzum: Die Grabenkämpfe verschärfen sich und die Stimmen, die nach Einheit rufen wie Gysis oder Pellmanns, wirken nur noch unfreiwillig komisch. Denn es ist mittlerweile klar, dass es so nicht weitergehen kann und ein Parteitag zur „,Verständigung und Versöhnung’ der verschiedenen ‚Lager’“, wie es der Leipziger Verband vorschlägt, nichts richten kann.

Seit der Bundestagswahl haben rund 8.000 Mitglieder die Partei verlassen. Bei einem offenen Bruch der Wagenknecht-Anhänger:innen wird noch ein Teil mitgehen, der sich rund um #aufstehen oder die Populäre Linke formiert hat.

Von den Landtagswahlen in Bayern erhofft man in der Regel nicht viel, daher spielt das Resultat für die Zukunft der Partei keine große Rolle. Doch Hessen konnte in der Vergangenheit auch Wahlerfolge erzielen. Daher kommt den zu erwartenden Verlusten Bedeutung zu. Der öffentliche Zersetzungsprozess hilft natürlich recht wenig im Wahlkampf, zum anderen ist der hessische Landesverband seit dem #linkemetoo ohnedies nicht bestens aufgestellt.

Das Problem ist Folgendes: Auch wenn Schirdewan und Wissler jetzt konsequent erscheinen wollen und harte Kante gegenüber Wagenknecht zeigen, so ist die Partei seit Jahren in einer Krise. Wagenknecht macht dies, Wagenknecht sagt das, Wagenknecht geht – die politischen Debatten um die inhaltlichen Fragen werden dabei medial um sie fokussiert. Das scheint die Debatte zu entpolitisieren. Eine inhaltliche Abgrenzung erfolgt zwar teilweise, aber auch nur indirekt, beispielsweise durch die Vorschläge für die Kandidat:innen zur Europawahl. Trotzdem bleibt es dabei: Darauf zu warten, dass Sahra geht, bedeutet für die, die bleiben, eine Schwächung ihrer eigenen Position. Doch wenn Wagenknecht geht, wird zwangsläufig die Frage aufgeworfen: Was machen die Hinterbliebenen? Und wer bleibt überhaupt?

Wer bleibt?

Denn es gibt sie. Die Leute, die weitermachen wollen. Die glauben, dass die Partei zu retten ist, und Hoffnung hegen. Bisher am deutlichsten dazu bekannt haben sich Anhänger:innen der Bewegungslinken, die seit den letzten beiden Parteitagen auch zahlreich im Vorstand der Partei vertreten sind. Sie planen ihrerseits eine „Zukunftskonferenz“, bei der ganze 350 Leute teilnehmen können. Nach diversen internen Regionalkonferenzen versuchen sie, die Grundlage für einen „Neustart“ in die Wege zu leiten.

Natürlich werden auch die Regierungssozialist:innen bleiben, denn schließlich sind sie – und nicht der Vorstand – neben der Parlamentsfraktion das eigentliche Machtzentrum der Partei. Beiträge zur Debatte liefern sie wenig bis keine. Weder Bodo Ramelow noch Klaus Lederer lassen vernehmen, was sie eigentlich von der Krise der Partei halten und wie beziehungsweise wo sie ihre eigene Zukunft sehen. Das haben sie aber auch nicht nötig, denn ihre Regierungspolitik wird von der Bewegungslinken nicht in Frage gestellt (und sie wurde es auch nicht von den Wagenknecht-Leuten).

So kommt es, dass seit rund 1,5 Monaten die Debattenseiten brodeln und vornehmlich Ideen aus dem linken Flügel diskutiert werden, ob bei luXemburg, Jacobin, dem nd oder den Kommentarspalten der sozialen Medien. Die Ideen sind dabei vielfältig. Da mit der Partei fast nichts möglich scheint, kann auch jede/r eigene Utopien mit zum Besten geben. So formuliert Thomas Goes den Wunsch nach einer neuen ökologischen Arbeiter:innen- und Volkspartei, Ulrike Eifler fordert, dass sich DIE LINKE mehr auf Gewerkschaften zu fokussieren hätte. Thies Gleiss spricht von der Notwendigkeit des Neustarts durch die Einbindung der Basis und Abschaffung von Posten.

Die Linke und der Neustart?

Die beiden bekanntesten Texte sind wohl der erste Aufschlag von Mario Candeias „Linke Krise und Neubeginn“ sowie die Antwort von Ines Schwerdtner und Michael Brie „Für eine konstruktive Erneuerung der Partei DIE LINKE“.

Candeias beginnt damit, dass sich DIE LINKE gesamtgesellschaftlich in der Defensive befindet. Dieser Zustand würde ein Jahrzehnt anhalten und verursacht durch eine „innergesellschaftliche Polarisierung zwischen den Trägern einer grün-liberalen Modernisierung und den autoritären Verteidigern einer fossilistischen Lebensweise“.

Hochgestochene Worte, die nichts anderes heißen als eine Zunahme der Zersplitterung und Fragmentierung innerhalb der Flügel des bürgerlichen Lagers anhand der Klimakrise. So weit so gut. Es ist letztlich eine Stärke des Texts, sich zuerst mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen auseinanderzusetzen, um daraus Schlüsse für die kommende Zeit abzuleiten.

Neben der Fragmentierung des bürgerlichen Lagers, der Defensive der Linken darf die zunehmende Krisenhaftigkeit nicht fehlen. Auch wenn dies alles richtige Punkte sind, so muss man diese eher aus den Thesen herausfiltern. Verloren geht dabei das Verhältnis der unterschiedlichen Problematiken zueinander, was dann letzten Endes dazu führt, dass die Krise der Partei recht unspektakulär in der 2. These heruntergebrochen wird:

„Ursächlich für die Krise der Partei war auch, dass politische Konfliktlinien und Widersprüche sich mit Fragen innerparteilicher Macht und des Kampfes um Ämter und Positionen verwickelten. Es geht um eine Neuordnung des Parteiensystems, sowohl zwischen den Parteien wie auch in ihrem Inneren. Besonders zugespitzt trifft es jene, bei denen der reale Wille zur Macht angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen nicht mehr als Kitt zwischen den Strömungen und Flügeln wirkt. Dann schlägt die mediale Dynamik zu, die eben solche Differenzen zu mächtigen Gegensätzen werden lässt, in denen einzelne sich gegen die Partei profilieren und die Zentrifugalkräfte die Partei auseinandertreiben.“

Diese Aussage bringt gleich mehrere Probleme mit sich. Zum einen stellt sie den Machtkampf zwischen den politischen Flügel um Ämter als Problem besagter Posten dar. Auch wenn die Art und Weise, wie die Ämter in der Linkspartei gestaltet sind, problematisch ist (und sinnvoll durch Thies Gleiss kritisiert wurde), so ist es doch nur logisch, dass jede politische Strömung versucht, den eigenen Einfluss zu stärken.

Das heißt: Das grundlegende Problem besteht viel eher darin, dass die inhaltlichen Differenzen zu groß sind und sich dementsprechend die Partei im internen Machtkampf jahrelang selber blockiert hat. Die Fliehkräfte, die dabei entstehen, werden durch die Medien (und mangelnde Parteidisziplin) verschärft, aber nicht, wie im Folgenden behauptet, erst durch die Medien verursacht.

Nicht sie sind es, die Differenzen zu mächtigen Gegensätzen ausarten lassen, sondern die inhaltlichen Punkte an sich. Denn zwischen Regieren und Nicht-Regieren, offenen Grenzen und Abschottung, Militarismus, Pazifismus und Internationalismus kann man letztlich keine Kompromisse herbeireden und versuchen, ihre friedliche Koexistenz herbeizuzaubern. Spätestens wenn diese Fragen praktisch gestellt werden, fliegt die „Einheit“, die nie eine war, auseinander. Das Problem der Linkspartei ist nicht, dass jetzt Wahlniederlagen und mangelnde Machtoptionen, also Regierungsämter, die Partei auseinandertreiben. Die reformistische Partei war vielmehr schon immer auf der Unvereinbarkeit des Unvereinbaren aufgebaut – Regierung und „Opposition“ gleichzeitig sein zu wollen. Richtig an Candeias’ Bemerkung ist letztlich nur, dass sich die inneren Gegensätze leichter kitten lassen, wenn die Partei elektoral erfolgreich ist, wenn also alle Seiten ihren Anteil am Erfolg und den Pfründen, die damit einhergehen, erhalten können.

Das eigentlich „Neue“ ist letztlich bloß die Einschätzung, dass auf das „linkskonservative Spektrum um Sahra Wagenknecht keine Rücksicht mehr genommen werden (muss) – von ihr selbst erklärt, haben wir bereits eine Situation Post-Wagenknecht.“

Zu wirklichen Ideen der Erneuerung treibt das aber nicht. So heißt es unter anderem in These 2: „Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. Im besten Falle gesellen sich dazu Enklaven eines rebellischen Regierens in Städten und Räumen, in denen es der Linken gelingt, relative Mehrheiten zu organisieren und gesellschaftliche Bewegungen, Organisierung und institutionelle Politik in ein produktives Verhältnis zu bringen.“

Dies ist nichts anderes als Gramscis Konzept des Stellungskrieges, reformistisch neu aufgewärmt, verbunden mit einer klaren Ansage, dass Regieren auf jeden Fall möglich sein sollte. Kritiker:innen fragen sich an dieser Stelle zu Recht: Wo ist dann der Unterschied zur bisherigen Politik und Strategie? Denn die Phrase des rebellischen Regierens wurde auch fleißig in Berlin verwendet, wo dann durch die Berliner Linkspartei der Volksentscheid zu Deutsche Wohnen & Co enteignen erfolgreich verschleppt wurde – aus Angst, die Koalition zu sprengen, die Posten zu verlieren und in Opposition für die Verbesserungen der Klasse zu kämpfen. Besonders viel hat das nicht gebracht. Aber gut, man konnte die Umfragewerte auch immer auf den Zustand der Bundespartei schieben.

Candeias redet auch nicht unmittelbar von der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus, sondern formuliert nur den alten Gedanken des reformistischen Gradualismus neu, indem er den Sozialismus zur weit entfernten Zukunftsvision erklärt:  „Dazu gehört, eine Perspektive offenzuhalten, die an einem Ende des Kapitalismus arbeitet, an einer solidarischen Gesellschaft“. Dazu gehört die langsame Transformation durch „selbstverständliche Dinge“ wie kostenlose Gesundheitsvorsorge, bezahlbaren Wohnraum oder „demokratische Mitsprache, die etwas bewegt“. Die Bewegung ist – wie schon bei Bernstein – alles, das Ziel ein schöner Trost, also nichts.

Die Partei soll dadurch gerettet werden, dass man inhaltlich weitermacht wie bisher. Aber – und das ist jetzt die „Neuerung“ – es brauche eine disruptive Neugründung. Wem der Begriff jetzt nichts sagt, der/die braucht sich nicht dumm zu fühlen. Vielleicht könnte man auch einfach meinen, dass der Begriff an sich nicht sinnvoll gewählt ist. In der Praxis heißt das laut Candeias ein „umgekehrter Weg von #aufstehen, vergleichbar eher mit Momentum in Großbritannien: Es wird eine Struktur für Aktive, Gewerkschafter*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen geschaffen, die nicht Teil der Partei sein wollen (oder können) und sich dennoch in eine verbindliche Unterstützungsstruktur einbringen wollen.“ Denn sobald die „mediale Diskursdynamik“ einsetzt, hat man eh nur zwei Wege: diese Form der Neugründung nach Corbyn oder die Gründung einer neuen Organisation wie Podemos in Spanien. Es geht also nur um einen Imagewechsel, damit man nicht als Verlierer:innen dasteht, wenn Wagenknecht geht. Das ist zwar ein reales Problem, was sich aus der mangelnden Politisierung des Bruchs heraus ergibt, löst aber die Kernprobleme nicht, sondern sorgt allenfalls dafür, dass Aktivist:innen getäuscht und letztlich enttäuscht werden.

Drei Gespenster gehen um

Eine Antwort auf den Beitrag ließ nicht lange auf sich warten. Die wohl bekannteste stammt von Ines Schwerdtner und Michael Brie. Während ihre Kritik an Candeais nur mäßig ist, werfen sie im zweiten Abschnitt ihres Textes zentrale Fragen auf.

Ihr Gegenmodell zur disruptiven Neugründung ist die „konstruktive Erneuerung“. Damit diese erfolgreich ist, müssen ihrer Meinung nach mehrere Fragen diskutiert werden:

„Eine solche konstruktive Erneuerung der Partei DIE LINKE verlangt, dass Richtungsentscheidungen getroffen werden. […] Es geht erstens um Inhalte, zweitens den Politikstil und drittens die Führungsfähigkeit in einer aktiven Mitgliederpartei, es geht um das Was, es geht um das Wie und es geht um das Wer. […] Die erste Entscheidung, die die Partei DIE LINKE treffen muss, ist die nach ihrer Funktion. Was will sie sein: Will sie der soziale Flügel des herrschenden Parteienblocks von Grünen und SPD bis FDP und CDU/CSU sein, oder will sie einen eigenen parteipolitischen Pol einer Politik repräsentieren?“

Diese Feststellungen mögen banal scheinen, doch wer längere Zeit in der Partei oder ihrem Umfeld verbracht hat, weiß, dass das die Fragen sind, die DIE LINKE seit Jahren umtreiben. Ohne klare Aussage zur Regierungsbeteiligung, wer das Subjekt der Veränderung ist, oder zum Verständnis des bürgerlichen Staates kommt es unweigerlich immer wieder zu den Flügelkämpfen, wie oben bereits ausgeführt.

Ebenso der 2. Punkt: „Die zweite Entscheidung betrifft den Typus von Politik. Es geht um das Wie: Soll Politik – und sei es die richtige – verordnet werden oder aus demokratischen Prozessen und der Selbstermächtigung der Betroffenen hervorgehen?“ Kritischer zu sehen ist jedoch die im Anschluss aufgestellte These: „Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die Fragen ausgehend von den Lohnabhängigen zu stellen, ihre Lage, ihre Sichtweisen, ihren Stolz auf die eigene Leistung, ihre Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Die Gewerkschaften sind dabei der wichtigste gesellschaftliche Partner. Zugleich ist linke Politik nur dann möglich, wenn sie dazu beiträgt, dass Klimabewegung, Friedensbewegung, feministische, antirassistische und antifaschistische Bewegungen sich aktiv in die sozialen Kämpfe einbringen und sie gemeinsam prägen. Eine wirklich linke Partei ist vor allem der politischen Vertretung der Lohnabhängigen im weitesten Sinne verpflichtet und hat die Aufgabe, dies mit Projekten des solidarischen Umbaus der Gesellschaft mit sozialistischem Ziel zu verbinden. Das ist radikale, transformatorisch orientierte Realpolitik im Sinne von Rosa Luxemburg.“

Auch hier treten zwei Probleme auf: Während es richtig ist, dass es Aufgabe einer revolutionären Organisation ist, zentrale Fragen seitens der Lohnabhängigen aufzuwerfen, muss auch dazu gesagt werden, dass es ihre Aufgabe ist, eine Perspektive zu zeigen, wie die jeweiligen Fragen positiv beantwortet werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man nicht immer das gegebene Bewusstsein als Ausgangspunkt nehmen kann und auch manchmal Bewegung initiieren muss, wenn es keine gibt. So wäre es beispielsweise notwendig gewesen, während der Coronapandemie nicht nur auf dem Balkon zu stehen und zu klatschen, sondern praktische Initiativen zu setzen wie eine Solidaritätskampagne für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, die im Kern aufzeigt, warum Reproduktionsarbeit im Kapitalismus immer schlechter bezahlt wird. Darüber hinaus kann man vieles über Rosa Luxemburg sagen, sie aber als Ausgangspunkt für „radikale, transformatorisch orientierte Realpolitik“ zu nehmen, stellt eine komplette Verkehrung ihrer Theorie und Praxis dar. Dies wird spätestens da ersichtlich, wo man sich ihr Staatsverständnis anschaut, das nicht darauf hindeutet, dass man sich an realpolitischen Fragen dauerhaft abarbeiten sollte. In ihrer Polemik gegen Bernstein bringt Luxemburg bekanntlich das Verhältnis von Reform und Revolution auf den Punkt:

„Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbuffet nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z. B. Südpol und  Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.“ (Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Luxemburg, Gesammelte Werke 1/1, S. 427f.)

Brie und Schwerdtner hingegen fassen die „Revolution“ letztlich rein reformistisch, als in die Länge gezogene kontinuierliche gesetzliche und soziale Reform auf. Der Klassenkampf zielt nicht auf die revolutionäre Machteroberung der Arbeiter:innenklasse, sondern bildet nur das Druckmittel zur stetigen Reform, die auf wundersame Weise zur Transformation der Gesellschaft führen soll.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch der dritte Punkt Bauchschmerzen hervorruft. „Die dritte Entscheidung, die getroffen werden muss, ist die der Herstellung eines strategischen Zentrums, das zugleich die wichtigsten vorhandenen kooperationswilligen Orientierungen in der Partei zusammenführt und in der Lage ist, die oben genannten zwei Aufgaben des Was und Wie überzeugend anzugehen. Es ist diese Aufgabe, die zuerst gelöst werden muss, um endlich überzeugend das Was und Wie linker Politik anzugehen. Es gibt Anzeichen, dass Kräfte in der Linken zunehmend bereit sind, sich dieser Aufgabe gemeinsam zu stellen, doch sie bedingt eine politische Führung, die konstruktiv integrierend agiert.“

Man könnte auch sagen – zuerst brauchen wir eine Führung, dann ergeben sich Strategie und Taktik. Dass diese Auffassung ernsthaft vertreten wird, verweist aber auch darauf, dass die beiden verbliebenen Flügel der Linkspartei – Bewegungslinke und Regierungssozialist:innen – beide fest auf dem Boden des Reformismus stehen, dass beide mit der Formel des „rebellischen Regierens“ einverstanden sind, wobei die Bewegungslinke das Rebellieren, die Ramelows und Lederer das Regieren übernehmen. Die Aufgabe des „strategischen Zentrums“ besteht dann vor allem darin, die Politik der beiden Flügel, Parlamentarismus und Protestbewegung, zu vermitteln.

Reformismus reloaded?

Aus den Debattenbeiträgen zeichnet sich ab: Es gibt ein Bewusstsein, dass die Krise der Linkspartei weit tiefer geht als Sahra Wagenknecht. Zugleich wird jedoch auch deutlich: Weder bei der „disruptiven Neugründung“ noch bei der „konstruktiven Erneuerung“ geht es im eine grundsätzliche Veränderung der Politik der Linkspartei.

Wenn große Worte wie „Arbeiter:innenpartei“ oder „sozialistische Klassenpolitik“ mehr als Phrasen sein wollen, braucht es eine Bilanz der inhaltlichen Orientierung, der programmatischen Grundlagen und Praxis der letzten Jahre. Während Anhänger:innen der vereinenden Flügel mit den Augen rollen werden, so bleiben die Probleme der Linkspartei weiterhin gleich.

Natürlich ist es nicht ausgeschlossen (wenn auch keineswegs gesichert), dass ein reformistischer Neustart eine Zeit lang gelingt und man sich unter einem Label Linke+ vorübergehend retten kann. Doch selbst wenn er DIE LINKE als Partei retten sollte, so werden die Problem, die zu ihrer aktuellen Krise führten, nur in neuer Form wieder auftauchen.

Man sollt sich daher auch nicht der Illusion hingeben, dass Machtkämpfe verschwinden oder Demoralisierung Geschichte wird. Denn was Candeias wie auch Brie und Schwerdtner vorschlagen, ist nur der gleiche Inhalt neu eingekleidet. Ein bisschen radikaler, ein bisschen direkter. Aber wer keine klare Linie aufzeigt, wird sich früher oder später an einem ähnlichen Punkt wiederfinden wie heute, spätestens wenn es darum geht. mitzuregieren oder die Interessen einer Bewegung praktisch zu erkämpfen.

Was ist also die Aufgabe von Revolutionär:innen und Linken innerhalb und außerhalb der Linkspartei?

Erstens muss die aktuelle Debatte mit Inhalten gefüllt werden. Und das heißt, es muss nach der tiefen Existenzkrise der reformistischen Partei grundsätzlich die Frage gestellt werden, welche Partei wir brauchen? Eine reformistische, also auf dem Boden mehr oder weniger „radikaler“ Reformpolitik verbleibende, bürgerliche Partei – oder eine revolutionäre Kampfpartei, deren Ziele die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse und die sozialistische Weltrevolution bilden?

Diese Grundsatzfrage müssen sich gerade die Sozialist:innen und Kommunist:innen in um die Partei stellen. Denn auch sie haben in den letzten Jahren keine Politik betrieben, in der Partei den Bruch mit dem Reformismus herbeizuführen, sondern das Elend mehr oder weniger mitverwaltet oder, im Falle von marx21, auch mitgestaltet.

Damit diese Frage nicht bloß auf der Ebene eines Bekenntnisses verbleibt, einer bloßen Überzeugung und Gesinnung, braucht es auch eine Diskussion um ein Aktionsprogramm, das zentrale Fragen des gewerkschaftlichen und betrieblichen Kampfes, der Klima- und Frauenbewegung beantworten kann, aber auch gleichzeitig aufzeigt, wie man dem bürgerlichen Staat und dem Reformismus innerhalb der Arbeiter:innenklasse die Stirn bietet. Vor allem aber muss es eine Brücke von den gegenwärtigen Tageskämpfen zum Kampf für den Sozialismus schlagen.

Um dieses lohnt es sich, in der aktuellen Situation klassenkämpferische Aktivist:innen zu sammeln, die Interesse haben, eine solche Kraft aufzubauen – in dem Wissen, dass man nicht alle anderen mitnehmen kann. Klar, es ist schöner, wenn man größer ist. Es ist bequemer und man kann sich selbst der eigenen Wichtigkeit vergewissern. Doch jene, die auf die Notwendigkeit einer breiten, politisch aber in Grundfragen gespaltenen Linken verweisen, weil man sonst so zersplittert und geschwächt ist, sollten auch beantworten, ob ein sich streitender Haufen, der keine Kämpfe für die Verbesserung der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten praktisch anführt, wirklich so relevant ist, dass man daran festhalten muss. Denn eine andere Welt ist möglich, wenn wir einen Plan haben, wie wir den Kapitalismus zerschlagen können.




Wagenknecht: Sackgasse Links-Konservativismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Gründen oder Nicht-Gründen – das ist in der Welt der Sahra Wagenknecht die nun alles entscheidende Frage. Der Bruch mit der Linkspartei steht längst fest, fraglich ist nur, ob im Herbst eine neue Partei gründet wird oder eben nicht.

Für Wagenknecht hängt das im Wesentlichen davon ab, ob sie sich auf Funktionär:innen, Apparat und ein Fußvolk stützen kann, das ihren Ansprüchen von „Politikfähigkeit“ und „Zuverlässigkeit“ genügt. Schließlich will sie sich nicht mit „dubiosen Figuren“ und „Querulant:innen“ abplagen, die eine neue links-konservative Partei nur zu leicht kaputt machen könnten. Programm, mediale Präsenz und innere „Demokratie“ – daran lässt sie keinen Zweifel – müssen auf sie zugeschnitten sein und auf sonst niemanden.

Ob sie ausreichend „prominente“ Unterstützer:innen, kleinere mediale Lichter, die neben Wagenknecht nicht glänzen wollen, und speichelleckende Klatscher:innen findet, die Sahra nicht nur bejubeln, sondern auch noch für sie die organisatorische Drecksarbeit erledigen, wird sich zeigen.

Ganz schlecht stehen die Chancen nicht. Aus dem Bundestag könnte sie sich auf bis zu 10 Abgeordnete stützen, aus der Linkspartei würden wohl einige Tausend Mitglieder samt gewählten Abgeordneten in den Kommunen und Landtagen das sinkende Schiff verlassen und unter neuer Flagge ihr Glück versuchen. Die aufstehen-Reste folgen Wagenknecht mit Sicherheit. Auch DKP und DIDF könnten an Bord sein, müssten sich der großen Führerin aber nach bestandenem Querulat:innen-Check ohne Wenn und Aber politisch unterordnen. Zuzutrauen ist ihnen das jedenfalls.

Wofür steht der Links-Konservativ?

Das Beste an Wagenknechts Partei-Projekt ist, dass niemand auf die formale Gründung oder das Programm warten muss, um zu wissen, wofür die neue Partei steht. Links-konservativ mag ja ein schräger Begriff sein, links ist daran jedoch – nichts!

Allenfalls verbrämen Wagenknecht und ihre Anhänger:innen das Projekt als „links“, weil sie in der Kriegsfrage und im Verhältnis zur NATO nicht so weit rechts stehen wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Das war es aber auch schon, politisch-programmatisch steht sie eindeutig rechts von der Partei DIE LINKE.

Chauvinismus und Rassismus

Seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 werden Wagenknecht und ihre Anhänger:innen nicht müde,  gegen offene Grenzen zu wettern. „Regulierte“ Zuwanderung lautet ihr Motto und sie befinden sich damit ganz auf Linie der Bundesregierung und Unionsparteien. Während die Linkspartei die jüngsten Angriffe auf das Asylrecht als rassistisch und menschenfeindlich bezeichnet hatte und damit einmal wenigstens verbal ein richtiges Zeichen setzte, ergriff Wagenknecht im Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, der Bildzeitung für Spiegel-Leser:innen, die Seite der EU-Staaten. Mit der Kritik an den geplanten Gefängnislagern zur Abfertigung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen dürfe man es sich, so Wagenknecht, nicht „so einfach“ machen, sondern man müsse erst abwarten und sehen, ob diese funktionieren!

Damit setzte sie ein weiteres rechtes Ausrufezeichen. Auch beim Schleifen des Asylrechts macht Wagenknecht gerne mit. Um diesen Scheiß zu rechtfertigen, greift sie einmal mehr in die Mottenkiste rechter Lügenmärchen. Die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen, behauptet Wagenknecht gegenüber „Die Welt“, wären schließlich nicht „die Ärmsten der Armen“, sondern stammten vor allem aus den Mittelschichten. Woher sie das weiß? Ganz einfach. Die „Ärmsten der Armen“ würden es nämlich gar nicht schaffen, Krieg, Hunger, Umweltkatastrophen zu entfliehen. Folglich könnten diese Menschen nur vergleichsweise „Privilegierte“ sein – und die könnten daher auch ebenso gut in Heimatländern wie Syrien und Afghanistan bleiben.

Sicherlich unterstützen nicht alle Anhänger:innen einer zukünftigen Wagenknecht-Partei diese lupenrein rassistischen und anti-demokratischen Positionen. Aber sie nehmen sie billigend in Kauf, wenn sie mitmachen.

Lifestyle-Linke vs. bodenständige Menschen

Mit Forderungen nach offenen Grenzen und einer „überzogenen“ Kritik an Einreisebeschränkungen bildet für diese auf dem rechten Auge Blinden vielmehr einen weiteren Beleg dafür, dass sich die Linke von den „normalen“, hart arbeitenden Menschen entfremdet hätte. Und damit nicht genug. „Übertriebener“ Genderismus,  Veganismus, Ökologismus und Kosmopolitismus seien allesamt Ausdruck desselben Grundproblems. DIE LINKE hätte sich lt. Wagenknecht und ihren Anhänger:innen von ihrer eigentlichen Klientel, den Lohnabhängigen, den Erwerbslosen, aber auch von den Handwerker:innen und vom „Mittelstand“ abgewandt. Sie würde sich auf urbane „Aufsteiger:innenmilieus“, auf Linksliberale konzentrieren.

Wagenknecht greift dabei reale Schwächen und Probleme der Identitätspolitik an – vermischt sie jedoch zu einem populistischen Brei, der auch gleich die Kritik an realer sozialer Unterdrückung, die in ihr zum Ausdruck kommt, entsorgt.

Wagenknecht punktet darüber hinaus, wenn sie den Rechtsruck von Grünen und SPD anprangert. Aber sie verkennt dabei vollkommen deren Ursache. Sie vermag diese Anpassung nicht als Ausdruck veränderter Akkumulationsbedingungen des Kapitals – und damit veränderter Rahmenbedingungen reformistischer, auf einen Klassenkompromiss zielender Politik zu begreifen. Die verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt verengt nämlich den Verteilungsspielraum für sozialpartnerschaftliche Politik, was bei der SPD, aber auch beider Linkspartei zu immer mehr Kompromissen an die uneingeschränkt kapitalistischen „Partner:innen“ führt.

Wagenknecht (und vor ihr Lafontaine) werfen im Grunde der SPD vor, an ihrer traditionellen Politik nicht einfach festzuhalten, weil sie in der Tat glauben, dass der Staat den Kapitalismus zum Wohle aller regulieren könne.

Daher bleibt ihre Kritik letztlich rein moralistisch. DIE LINKEN hätten sich von Sozialstaat und nationalstaatlicher Umverteilungspolitik abgewandt. Hätten sie das nicht getan, so der Umkehrschluss, könnten wir heute noch immer in einem schön funktionierenden Sozialstaat leben, in dem die Armen versorgt, die Arbeiter:innen angemessen entlohnt und die Unternehmer:innen ehrliche Gewinne machen würden.

Die sogenannte Lifestyle-Linke hätte sich jedoch nicht nur dem Neoliberalismus angeschossen, sondern sie würde auch unzumutbare Anforderungen an die Massen stellen, wenn sie ständig ihre Einstellungen und Verhaltensweisen in Frage stelle. Der „normale“ Mensch ist für Wagenknecht kein gesellschaftliches Wesen, die vorherrschenden Gedanken, Einstellungen und familiären Verhältnisse sind kein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern quasi-natürliche, letztlich unveränderliche Eigenschaften „der“ Menschen. „Normale“ Lohnabhängige seien ebenso wie „normale“ Kleinbürger:innen oder Kleinunternehmer:innen eben heimatverbunden, bodenständig, stolz darauf, Deutsche zu sein. Sie lebten mehrheitlich gern in Familien, sind gerne heterosexuelle Männer und Frauen und wollen nicht „ständig gemaßregelt“ werden, wenn sie einen Schwulenwitz machen.

Wagenknecht präsentiert sich dabei gern als Verteidigerin der einfachen Leute. In Wirklichkeit verhält sie sich jedoch paternalistisch und bevormundend, in dem sie darüber bestimmt sagt, was diese einfachen Leute ausmache und was nicht. Ihr Zufolge könnten die Lohnabhängigen „überzogenen“ Erwartungen an Fortschrittlichkeit prinzipiell nicht genügen. Man müsse die Menschen eben so nehmen, wie sie (angeblich) sind – darauf läuft das Kredo von Wagenknecht wie jedes (linken) Populismus hinaus. Ansonsten liefen die Leute zur AfD über. Und um das zu verhindern, müsse man eben auch den Ball flach halten, wenn es um rückständiges Bewusstsein unter der Masse der Bevölkerung geht.

Populismus und Elektoralismus

Das erscheint Wagenknecht und Co. umso zwingender und unproblematischer, weil es in ihrer politischen Konzeption erst gar nicht vorgesehen ist, das Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse zu verändern. Die Überwindung von inneren Spaltungen stellt für sie kein Problem dar, weil die Lohnabhängigen ohnedies nicht als Subjekt zur Veränderung der Gesellschaft begriffen werden. Sie bilden nur eine besonders zahlreiche Wähler:innenschicht unter anderen „Leistungsträger:innen“, die Wagenknecht ständig im Blick hat: Mittelschichten, städtisches und ländliches Kleinbürger:innentum und, als Krönung der deutschen Wirtschaft, nicht-monopolistische Unternehmen. Das Subjekt einer möglichen Veränderung ist nicht die Arbeiter:innenklasse, sondern es geht nur darum, bei den Wahlen möglichst viele Stimmen der einfachen Leute zu erhalten. Das Subjekt der Veränderung ist sie – Sarah Wagenknecht. Damit sie längerfristig Kreuzchen erhält, muss man den Menschen natürlich etwas bieten. Nämlich Ausgleich zwischen den Klassen, Gerechtigkeit, Sicherheit und Ruhe und Ordnung auf dem Boden der „sozialen Marktwirtschaft“.

Zur sozialen Marktwirtschaft zurück

Ludwig Erhard und Willi Brandt sind die Leitbilder der Wirtschafts- und Sozialpolitik einer Sahra Wagenknecht. Dabei sorgt der Staat für den Ausgleich zwischen den Klassen, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Das ginge, so können wir beispielsweise in „Reichtum ohne Gier“ nachlesen, weil gute Unternehmen eigentlich gar nicht auf Profit aus wären. Dieser entstünde auch nicht, wie uns Marx weismachen wollte, in der Ausbeutung im Produktionsprozess, sondern durch die Monopolprofite der Großkonzernen. Echte Unternehmen hingegen bräuchten gar keinen Kapitalismus, wohl aber eine funktionierende freie Marktwirtschaft.

Diesen kleinbürgerlichen Schwachsinn verkauft Wagenknecht – und der gesamte mediale Rummel um sie – allen Ernstes als „Theorie“, als „tiefgehende“ Gesellschaftsanalyse. Links oder gar marxistisch ist darin gar nichts.

Dafür tischt und Wagenknecht wie dereinst auch Oskar Lafontaine das Märchen auf, dass der Staat die Wirtschaft zum Wohle aller regulieren könne. Er müsse nur entschlossen eingreifen. Ansonsten drohten dem armen Deutschland Niedergang und Deindustrialisierung.

Damit der Staat im Inneren „freien“ und gerechten Wettbewerb organisieren könne, müsse er sich der Globalisierung widersetzen. Ansonsten werde er ohnmächtig und schwach. Nur auf Basis eines nationalen Programms könnten Wohlstand für alle und sogar ein gewisser Grad ökologischer Nachhaltigkeit erreicht werden. „Alle“ sind dabei natürlich nur deutsche Staatsbürger:innen und jene Ausländer:innen, die ihr Gastrecht nicht verwirkt hätten. Die anderen Länder der Welt müssten eben selbst eine solche Politik umsetzen – dann wird alles gut, sozial und gerecht auch in der Marktwirtschaft.

Dieses Programm wird von Wagenknecht zwar als klassenübergreifende Wohltat angepriesen. Den Interessen der Arbeiter:innenklasse entspricht es jedoch nicht. Im Gegenteil, es bindet die Lohnabhängigen an eine kleinbürgerliche Utopie, an ein Programm, das vor allem im Interesse des Kleinbürger:innentums und der auf den nationalen Markt orientierten Unternehmen liegt. Sollte sie wirklich mal in eine Regierungsverantwortung kommen, dann darf sie sich bereits an Tag eins nach Dienstantritt tief vor den verfluchten Monopolen verbeugen und sich als erste Vorkämpferin des deutschen Imperialismus beweisen – auch gegen die einfachen Leute. Es ist nicht die einzige Parallele zum Rechtspopulismus. Auch, dass rassistisch Unterdrückte und LGBTIA+ dann besonders mit Angriffen von der großen Führerin rechnen müssen, mit denen sie von ihrer völlig kapitalkonformen Politik ablenken wird (wenn auch gemäßigter und weniger aufgeblasen aggressiv als die AfD), passt dazu.

Starker Staat und sozialer Imperialismus

Die Schwachen, so hatte schon Oskar Lafontaine verkündet, bräuchten einen starken Staat. Dabei bleiben die Schwachen zwar auch weiter schwach – aber sie werden besser, „anständig“ und „ausreichend“ versorgt. Die Starken bleiben natürlich weiter stark, aber sie müssen höhere Steuern zahlen.

Die braucht der Staat schließlich, um weiter zu funktionieren. Damit ist bei Wagenknecht und Co. keineswegs nur (was immerhin richtig wäre) ein Ausbau von Bildung, Gesundheitswesen oder Infrastruktur gemeint.

Auch wenn sich Wagenknecht gern als Pazifistin hinstellt, so ist sie eine realistische „Pazifistin“. Deutschland brauche natürlich eine leistungsfähige, verteidigungsbereite Bundeswehr, erklärt sie in zahlreichen Interviews. Das Problem an der Kriegstreiberei der aktuellen Bundesregierung besteht für sie nicht darin, die eigene Armee aufzurüsten, sondern sich in Kriege zu verwickeln, die Deutschland schaden würden.

Doch mit der Anerkennung der Bundeswehr nicht genug. Wagenknecht fordert Investitionen für alle anderen Repressionsorgane- und Institutionen – für „unsere“ Polizei, „unsere“ Gefängnisse, „unsere“ Frontex-Kräfte und Abschiebebehörden. Racial Profiling von Migrant:innen oder Schikanieren von Jugendlichen durch Cops? All das gibt es in der Welt des Links-Konsverativismus allenfalls als Marginalie. Die Einzelfälle lassen grüßen.

So wie Wagenknecht den von Rassismus, Sexismus oder Transphobie Betroffenen und anderen gesellschaftlich Unterdrückten den Rücken kehrt, so wie sie von der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse durch das gesamte Kapital – inklusive des sog. Mittelstandes – nichts wissen will, so verschwindet für sie auch der Klassencharakter des bürgerlichen Staates.

Für die einstige Marxistin ist dieser längst kein Herrschaftsinstrument des Kapitals mehr, sondern eigentlich der Gipfel menschlicher Zivilisation. Wo der Staat keinen Klassencharakter mehr hat, verschwindet folgerichtig auch der deutsche Imperialismus.

Imperialistisch sind allenfalls die anderen – sicherlich die USA, wohl auch China, vielleicht sogar Russland. Deutschland droht in Wagenknechts Weltsicht unter die Räder zu kommen, ja abhängig zu werden, weil es die eigenen Unternehmen nicht ausreichend fördert und schützt. Während die Großkonzerne Teile der Produktion ins Ausland verlagern und so den Standort schwächen, drohen die „kleinen“, also die Mittelständer:innen, die auch mehrere Tausend Arbeiter:innen ausbeuten, einzugehen.

Wenn Wagenknecht ein düstereres Bild des deutschen Kapitalismus zeichnet, geht es ihr natürlich nicht um dessen Kritik, sondern um dessen Rettung. Die Bundesregierung, so ihr, der AfD nicht ganz ähnlicher Vorwurf, fahre unsere Wirtschaft „an die Wand“. Sie habe versagt, es brauche einen anderen Arzt am Krankenbett der Marktwirtschaft, einen, der Staat, Unternehmen und nebenbei auch noch die Lohnarbeit rettet. Dazu wären Regierung, Unionsparteien, aber auch die AfD nicht imstande. Dazu brauche es Wagenknechts rettende links-konservative Partei.

Deutschland-Retterin im Wartestand

Mehr noch als die reformistische Linkspartei bietet Wagenknecht eine neue links-konservative Partei als Rettung aller Klassen an. Und sie bedient dabei durchaus eine reale Stimmung. Der rechtspopulistischen AfD will sie eine (links)populistische Alternative entgegensetzen. Ob dies gelingt, ist zweifelhaft.

Es ist aber bezeichnend für den Charakter eine möglichen Wagenknecht-Partei, woher ihre potentiellen Wähler:innen kommen würden. In verschiedenen Umfragen wird einer solchen Partei ein Potential bis zu 25 % zugerechnet, was jenen Menschen entspricht, die sich vorstellen könnte, eine solche Gruppierung zu wählen. Ob sie das gegebenenfalls wirklich tun würden, ist eine andere Frage, aber die Herkunft dieses Potentials ist dennoch von Interesse.

Im Artikel „Wo liegt das Potenzial einer Wagenknecht-Partei?“ verweist Carsten Braband auf eine Studie des Instituts Kantar vom Februar 2023. Dieser zufolge kämen 15 % der potentiellen Wähler:innen von Linkspartei, 3 % von den Grünen, 12 % von der SPD, also insgesamt nur 28 %. Die überwältigende Mehrheit des Wähler:innenpotentials rekrutiere sich aus  bürgerlichen und rechten Parteien: FDP: 8 %, CDU/CSU: 22%, AfD 41%!

Diese Zahlen sind zwar auch für DIE LINKE bedrohlich, weil sie angesichts ihres maroden Zustandes das endgültige parlamentarische Aus der Partei herbeiführen könnten. Aber entscheidend ist, dass Wagenknecht in der AfD ihr größtes Wähler:innenreservoir vorfindet, folgt von den Unionsparteien!

Die Anhänger:innen von Wagenknecht betrachten dass als eine Bestätigung ihrer Rolle als Bürgerin und Rechten-Schreck. Doch warum spricht sie gerade diese Wähler:innen an? Ganz einfach. Sie verspricht einerseits eine gewisse soziale Sicherheit, die CDU/CSU und auch die AfD nicht ganz so überzeugend zu vermitteln zu vermögen. Vor allem aber signalisieren ihre Anhänger:innen: Reaktionäre Einstellungen, Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Transphobie – all das ist für Wagenknecht und Co. kein Problem, ja es erscheint ihnen geradezu als Erfolgsgarant. Indem man konservative und traditionelle „Werte“ zu Familie, Ehe, Migration akzeptiert und sich selbst zu eigen macht, würde man die Anhänger:innen der AfD mittels Sozialstaatsversprechen wieder für eine vorgeblich „linke“ Politik zurückgewinnen.

Das ist nicht nur spalterisch gegenüber den Lohnabhängigen und reaktionär, es ist auch dumm und kurzsichtig. Die letzten Jahre haben in zahlreichen europäischen Ländern gezeigt, dass gerade die rassistischen Zugeständnisse gegenüber den Rechten ihnen nicht das Wasser abgegraben haben, sondern diese bestärkt haben. Und so wird es auch hier laufen. Die Ideologie des Links-Konservativismus ist letztlich Wasser auf den Mühlen der AfD – nicht umgekehrt.

Wagenknecht macht hier im Grunde einen ähnlichen fatalen Fehler wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Während sich diese mehr und mehr dem grünen und sozialdemokratischen Parteien anpassen und dabei immer offener die demokratische verbrämte imperialistische Politik Deutschlands verteidigen, passt sich Wagenknecht an die rechten, konservativen und reaktionären kleinbürgerlichen Gegner:innen dieser Politik an. Ihr Programm und ihre Partei sind nicht Teil der Lösung des Krise der Arbeiter:innenbewegung, sondern ein mögliches neues, populistisches Hindernis.




Marx21, DIE LINKE und der Cliffismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 274, Juni 2023

Die Krise und drohende Spaltung der Linkspartei ist auch eine Krise der strategischen Ausrichtung von marx21. Wie keine andere sozialistische oder marxistische Strömung, die in der Partei DIE LINKE agiert, ging sie in der Tagesarbeit des Aufbaus einer reformistischen Partei auf.

2007 gehörte marx21 zu den enthusiastischen Befürworter:innen der Gründung der Partei DIE LINKE. Die Bildung einer linksreformistischen Kraft betrachtete das Netzwerk als einen geradezu historischen Fortschritt für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland.

Den Aufbau einer offen antikapitalistischen Strömung lehnte marx21 von Beginn ab, ja bekämpfte alle Ansätze dazu.

Methode von marx21

Eine solche Politik verfolgte schon die Vorläuferorganisation Linksruck bei Gründung der WASG und in ihr bei der Fusion mit der PDS zur Partei DIE LINKE. In den „7 Thesen zur Diskussion um eine neue Linkspartei“ aus dem Jahre 2004 trat Linksruck für ein „konsensfähiges Reformprogramm“ als programmatische Basis einer neuen Arbeiter:innenpartei links von der SPD ein. Revolutionär:innen sollten sich darauf beschränken, „innerhalb einer solchen Linkspartei um die Erkenntnis der Unreformierbarkeit des Kapitalismus zu streiten“ und „mittel- und langfristig“ dafür einzutreten, dass „der Kampf für Reformen ein Kampf um die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sein wird.“

Das Eintreten für ein revolutionäres Aktionsprogramm wurde als Sektier:innentum angegriffen. Wider besseres Wissen sollten Revolutionär:innen darauf verzichten, den Reformismus grundlegend zu kritisieren. Diese Politik wurde jahrelang von marx21 verteidigt, sämtliche Kritiker:innen daran wurden als mehr oder minder unverbesserliche Sekten abgestempelt.

Über Jahre schien zumindest vordergründig der Erfolg marx21 recht zu geben. Man betrieb schließlich Massenarbeit, das Netzwerk wuchs rasch an und konnte mehr Mitglieder auf sich vereinen. Die Kader von marx21 stiegen in der Hierarchie der Linkspartei auf: Christine Buchholz und andere errangen Bundestagsmandate, Janine Wissler schaffte es zur Fraktionsvorsitzenden im Hessischen Landtag und handelte noch als marx21-Mitglied fast eine rot-grün-rote Landesregierung aus.

Schon damals unterschieden sich die Abgeordneten und die Führungsmitglieder von marx21 in der öffentlichen Wahrnehmung kaum von „normalen“ reformistischen. Die Interviews und Stellungnahmen der heutigen Vorsitzenden der Linkspartei, Janine Wissler, unterschieden und unterscheiden sich bis heute oft kaum von den Erklärungen, die sie noch während ihrer Zeit bei marx21 abgab. Das störte aber im  Netzwerk kaum jemanden. Man bog sich vielmehr diese reformistischer Realpolitik als den Preis, den man für wachsenden Einfluss eben zahlen müsse, zurecht.

Doch je mehr die Linkspartei selbst aufhörte zu wachsen, je mehr sie arbeiter:innenfeindliche und rassistische Maßnahmen in Landesregierungen durchzog, je mehr sie stagnierte oder gar schrumpfte, desto zweifelhafter wurde auch das Narrativ vom eigenen Erfolg.

Reformismusverständnis

Nichtsdestotrotz hielt das Netzwerk auch angesichts des katastrophalen Ausgangs der Bundestagswahl an der eigenen Methode fest. Im Sommer 2022 veröffentlichte der KoKreis von marx21 unter dem Titel „Die Linke in der Krise: Scheideweg“ seine Einschätzung der Lage. Darin wird der Linkspartei ein „insgesamt gutes Wahlprogramm“ attestiert, das jedoch durch ständige Anbiederungen an die SPD als Regierungspartnerin konterkariert worden wäre. Vor allem aber legt marx21 das eigene Verständnis des Reformismus der Linkspartei nieder:

„DIE LINKE trägt als reformistische Partei Widersprüche in sich. Der linke Reformismus unterscheidet sich vom rechten erst einmal dadurch, dass er proletarische Klasseninteressen aufnimmt und bis zu einem gewissen Grad Ausdruck verleiht und für sie mobilisiert. Aber der linke Reformismus trägt latent zwei Potenzen in sich: Entweder er verrät das Aktionsprogramm, für das er antrat, und fällt zurück ins Lager der sozialdemokratischen Kapitulation. Oder er radikalisiert sich und bewegt sich nach links zu einem Programm und einer Praxis des sozialistischen Klassenkampfs. In der LINKEN erleben wir zur Zeit beides, …“

Diese Passage legt die Vorstellungen, aber auch methodischen Fehler offen, die der Politik von marx21 zugrunde liegen. Der „rechte Reformismus“ wird als bürgerliche Politik abgelehnt und in der Linkspartei mit den Regierungsozialist:innen identifiziert. Dem linken Reformismus hingegen wird eine Art Doppelcharakter unterstellt: Er hätte zwei Potenzen – entweder verrät er und wird erst dadurch wieder zu bürgerlicher Politik. Oder er radikalisiert sich hin zum Sozialismus, indem er konsequent für grundlegende Verbesserungen eintritt. Der Kampf für radikale Reformen erscheint damit schon als, wenn auch unbewusster Weg zum Sozialismus.

Anders als in früheren Texten wird allerdings die Bedeutung einer revolutionären Strömung als Korrektiv, gewissermaßen revolutionäres Salz in der reformistischen Suppe, betont: „Es braucht eine LINKE als sozialistische Massenpartei, und es braucht darin eine organisierte revolutionäre Strömung, die die kapitalistischen Zwänge durchbricht und dem Sog der Anpassung standhält. Wir wollen dafür kämpfen, dass eine solche LINKE weiterhin besteht und gleichzeitig neu entsteht.“

Diese Passagen werfen unwillkürlich die Frage auf: Ist DIE LINKE nun eine „sozialistische Massenpartei“ oder muss sie es erst werden?

Da für marx21 jedoch der Linksreformismus schon durch Radikalisierung zum Programm und zur Praxis des Klassenkampfes kommen kann, finden sich lt. marx21 zumindest Teile in der Linkspartei, die schon auf dem Weg dahin sind oder diesen beschreiten könnten (Im Juni 22 wird hier insbesondere die Bewegungslinke angeführt).

Eine grundlegende inhaltliche Scheidung zwischen revolutionärer und reformistischer Politik kennt marx21 in diesen Texten letztlich nicht. Dazu müssten nämlich die Politik und der Klassencharakter einer Partei diskutiert und bestimmt werden. Darin würde sich zeigen, dass auch der Linksreformismus eine Form bürgerlicher Politik darstellt, weil er letztlich auf dem Boden der bestehenden bürgerlichen Verhältnisse stehen bleibt. Das zeigt sich insbesondere bei der Frage des Kampfes um die Macht. Revolutionäre, kommunistische Politik unterscheidet sich von reformistischer nämlich nicht dadurch, dass sie die grundlegende Bedeutung des Klassenkampfes anerkennt, sondern durch die Betonung der Notwendigkeit der revolutionären Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse und der Errichtung ihrer Klassenherrschaft, der Diktatur des Proletariats.

Daher müsste für Marxist:innen eigentlich klar sein, dass es auf Dauer keine gemeinsame Partei von Revolutionär:innen und Reformist:innen geben kann, dass die Arbeit in einer reformistischen Partei allenfalls ein vorübergehendes taktisches Manöver sein kann, um nach links gehende Reformist:innen für ein revolutionäres Programm zu gewinnen.  Das setzt aber voraus, dass man von Beginn an offen für ein solches eintritt.

Ansonsten nährt man unwillkürlich die Illusion, dass die Entwicklung vom kämpferischen Reformismus zum revolutionären Kommunismus eine bloß graduelle darstelle. In Wirklichkeit handelt es sich hier jedoch um einen qualitativen Bruch, einen, der nur bewusst erfolgen kann.

Appell an Einheit

Es ist aber kein Zufall, dass marx21 die drohende Spaltung der Linkspartei und deren Schwächung fürchtet wie kaum eine andere Kraft. Während alle Flügel der Partei an der Spaltung arbeiten, appelliert marx21, genauer dessen Redaktion, an die Einheit:

„Konsequente Opposition statt Spaltung“ fordert Christine Buchholz. Die Linkspartei müsse sich „neu erfinden“ mit „einem klaren Profil gegen Krieg und Establishment“.

Der Untergang der Linkspartei wäre eine Katastrophe für Buchholz: „Doch eine Spaltung der LINKEN zum jetzigen Zeitpunkt würde weder die Krise der Partei beenden noch eine vielversprechende neue Formation entstehen lassen. Im Gegenteil: Es wäre eine Schwächung der gesamtgesellschaftlichen Linken in Deutschland und womöglich der Anfang vom Ende der ersten relevanten politischen Kraft links von der Sozialdemokratie in der Geschichte der Bundesrepublik.“

Wir wollen keineswegs bestreiten, dass der ersatzlose Zusammenbruch der Linkspartei eine Schwächung wäre. Die Frage, die es aber zu stellen gilt, lautet: Ist die Partei dennoch zu retten und mit welcher Politik? Buchholz und marx21 geben hier eine falsche, letztlich perspektivlose Antwort:

„Das bedeutet innerparteilich, die Auseinandersetzung nicht zu scheuen – weder mit Wagenknecht noch mit Lederer, Vogt, Oldenburg und Ramelow. Und nach außen bedeutet das, den Kampf gegen diejenigen aufzunehmen, die die sozialen Interessen der Mehrheit mit Füßen treten; diejenigen, die statt mit dem russischen Diktator mit saudischen Diktatoren Energie- und Waffen-Deals machen; diejenigen, die Deutschland auf die Kriege der Zukunft vorbereiten und für riesige Profite der Rüstungskonzerne sorgen; und gegen diejenigen, die Hass säen und berechtigten Unmut nach rechts lenken wollen.“

Diese Ausrichtung auf eine „Bewegungspartei“ fordert marx21 seit Jahren. Noch nach dem Wahldebakel bei der letzten Bundestagswahl 2021 konnten wir lesen: „DIE LINKE ist in diesen Auseinandersetzungen (gegen Inflation, Krise, Krieg, Umweltzerstörung; Anm. d. Red.) als Sprachrohr, Ort des Austausches und Motor für Organisierung von Widerstand und Gegenmacht gefragt. DIE LINKE hat vor Ort einen breiten Fundus von Erfahrung, wie sich die Partei als Bewegungspartei aufbauen kann. Die guten Erfahrungen in vielen Kreisverbänden in den letzten Jahren sollten die Grundlage für eine ‚Neuausrichtung’ der Partei sein.“ (https://www.marx21.de/page/2/?s=DIE+LINKE)

DIE LINKE mag ja „gefragt“ sein, „Motor für Organisierung von Widerstand und Gegenmacht“ ist sie nicht. Das weiß auch marx21. Aber die Ursachenanalyse für die Krise der Linkspartei greift zu kurz. Für das Netzwerk erscheinen der Populismus von Wagenknecht und deren Opportunismus gegenüber rechts sowie die Fixierung auf Parlamentarismus und opportunistische Politik der Regierungssozialist:innen jedoch nicht als Ausdruck des bürgerlichen Charakters der Partei selbst.

Daher unterstellt die Perspektive für die Linkspartei nicht nur, dass eine Einheit der drei Flügel der Partei möglich wäre, sondern dass sie auch zu einer wirklichen „Bewegungspartei“ werden könnte.

Dies hängt damit zusammen, dass die Wurzeln bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik selbst unzureichend analysiert und benannt werden. Bürgerliches Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse erwächst nämlich, wie im Marx im „Kapital“ zeigt, aus der Lohnform selbst und der gesamte Lohnkampf, also der ökonomische Klassenkampf, bewegt sich noch im Rahmen diese Form. Die reformistische Partei stellt letztlich eine Verlängerung dieser Elementarform des Klassenkampfes auf der Ebene parlamentarischer Reformpolitik dar.

Zweitens findet diese Politik vor allem in den imperialistischen Ländern in den privilegierteren Schichten der Lohnabhängigen, in der Arbeiter:innenaristokratie eine soziale Stütze. Diese stellt die eigentliche Basis der Arbeiter:innenbürokratie sowohl in der Linkspartei wie auch in den Gewerkschaften und der SPD dar. Daher auch die Nähe zur Gewerkschaftsbürokratie, deren Politik letztlich von allen Flügeln der Linkspartei verteidigt wird, aber auch zum Sozialchauvinismus, und die Ausrichtung auf Regierungsbeteiligungen erfolgt letztlich als notwendige Konsequenz aus dieser reformistischen Strategie und ist keine Abweichung.

Marx21 hingegen unterstellt, dass auf den bestehenden politischen Grundlagen der Linkspartei eine Gesundung, eine Abkehr von der Ausrichtung auf Parlamentarismus und Regierungsbeteiligungen möglich wäre, eine bürgerliche Reformpartei wirklich dauerhaft zu einer „Bewegungspartei“ werden könne.

In Wirklichkeit muss jedoch eine Partei nach Regierungsverantwortung streben, die den revolutionären Sturz des Kapitalismus kategorisch ausschließt. Jede Kritik am Reformismus, die nur die Folgen dieser Beschränkung auf den Kampf innerhalb der bürgerlichen Institutionen angreift, nicht aber die Strategie selbst, muss daher zu kurz greifen, ja verbleibt letztlich auf einer rein moralischen Ebene.

Dasselbe trifft logischerweise auf alle anderen Ebenen zu. Jede reformistische Partei muss letztliche eine Realpolitik betreiben, die im Rahmen dessen bleibt, was im bürgerlichen System als „vernünftig“ und „normal“ erscheint. Was das genau sein soll, darüber scheiden sich die Geister.

Die Krise von marx21

Doch das Gespenst der Spaltung treibt nicht nur die Linkspartei um. Es sucht auch marx21 heim. In den letzten Jahren haben sich in Zusammenhang mit der Arbeit in der Linkspartei auch im Netzwerk verschiedene Lager herausgebildet.

Lange setzte marx21 seinen Schwerpunkt auf die „Sozialistische Linke“ (SL) und den Aufbau des SDS. Die Arbeit in der SL brach aber mit deren Hinwendung zum Wagenknecht-Lager ein. Parallel entwickelten SDS-Kader aus marx21 über die Luxemburg-Stiftung und Organizingkampagnen enge Verbindungen zu einem Flügel der Gewerkschaftsbürokratie. Hinzu kommt, dass die Arbeit an der Universität auch mit einer Anpassung an antimarxistische, kleinbürgerliche Ideologien einherging.

In der innerparteilichen Auseinandersetzung der Linkspartei findet sich dieser Flügel besonders in der Bewegungslinken wieder. Eine gewisse Ironie besteht sicher darin, dass auch diese ihre Politik mit ähnlichen Formeln begründet wie marx21 selbst – so wie umgekehrt noch 2022 die Bewegungslinke vom marx21-KoKreis als zentrales Mittel zur klassenkämpferischen Erneuerung der Linkspartei charakterisiert wurde.

So will die Bewegungslinke eine „klassenorientierte“ Politik, in der Identitäts- und Klassenpolitik jedoch keinen Gegensatz bilden sollen. Auch die Bewegungslinke will, dass DIE LINKE eine „Friedenspartei“ bleibt und Nein sagt zu NATO und Auslandseinsätzen, sie für Antirassismus, offene Grenzen und Antifaschismus einsteht, vor allem auf Bewegung und nicht auf Parlamentarismus setzt.

Auch wenn sie eine „kritische“ Bilanz der bisherigen Regierungspraxis zieht, so hindert sie das nicht daran, vom „rebellischen Regieren“ zu phantasieren:

„Der Staat sichert die Eigentumsverhältnisse durch Gewalt und Konsens. Gleichzeitig beinhaltet er historische Errungenschaften. Er ist Kräfteverhältnis und Kampffeld zugleich. Die Aussicht auf linkes Regieren kann für uns nur als rebellisches Aufbegehren gegenüber dem Kapital, dem bürgerlichen Staatspersonal und den Medien gedacht werden.“ (https://bewegungslinke.org/5-2/selbstverstaendnis/)

Auch wenn sich die Ausführungen kritisch gegenüber der bestehenden Politik der Linkspartei geben, so versuchen sie – ganz im Einklang mit den neoreformistischen Transformationsstrategien –, letztlich Beteiligungen an bürgerlichen Regierungen neu zu „begründen“.

Nicht nur auf dieser Ebene stellt dieser Flügel von marx21 damit auch theoretisch und programmatisch die marxistischen Grundpositionen der Strömung in Frage.

Offenkundig ist das der Redaktion von marx21 durchaus bewusst. Zwei Artikel zur Kritik an Nicos Poulantzas (https://www.marx21.de/poulantzas-und-die-frage-der-macht/; https://www.marx21.de/04-05-10-der-staat-und-die-linke/) und dessen Revision der marxistischen Staatstheorie können indirekt als Polemik gegen das „rebellische Regieren“ verstanden werden.

Doch die in vielen Punkten lesenswerte Kritik beinhaltet auch eine wichtige Schwäche. Sie umschifft die Frage, welchen Klassenstandpunkt die Theorie von Poulantzas zum Ausdruck bringt. So zieht Yaak Pabst in „Poulantzas und die Frage der Macht“ eine Bilanz des Scheiterns des Eurokommunismus an der Regierung und folgert:

„Letztlich mussten sich all diese Projekte dem kapitalistischen Sachzwang beugen. Nicos Poulantzas sah diese Gefahr. Allerdings scheute er sich davor, jene Schlussfolgerung zu ziehen, für die so viele revolutionäre Marxistinnen und Marxisten vor ihm eingetreten waren: den revolutionären Bruch mit dem bürgerlichen Staat.“

Dass Poulantzas genau diese Folgerungen nicht ziehen wollte, wirft die Frage nach dem Charakter seiner Staatstheorie auf. Letztlich ist diese nur eine geschmeidigere Begründung für bürgerliche Reformpolitik. Er begründet eine bürgerliche, keine proletarische Klassenpolitik. Eine solche Charakterisierung würde nicht nur die Differenzen zum rechten Flügel von marx21 deutlicher machen, sie würde auch den Klassencharakter der Linkspartei, die ihr Regierungshandeln viel pragmatischer rechtfertigt, und damit den illusorischen Charakter einer dauerhaften Koexistenz von Revolutionär:innen und Reformist:innen in einer Partei hervorheben. Der Verzicht darauf, den gegensätzlichen Klassenstandpunkt auf praktischer wie theoretischer Ebene zu nennen, bedeutet aber nicht nur einen Verzicht auf den theoretischen Klassenkampf, sondern auch auf den Kampf gegen die Grundlagen bürgerlicher Politik in der Linkspartei.

Die Entstehung des rechten Flügels in marx21 hat zwar Genoss:innen wie Yaak Pabst und Christine Buchholz auch zu indirekten Polemiken gegen die Bewegungslinke bewegt, aber so wie sie in der Linkspartei die Einheit unbedingt aufrechterhalten wollen, so wollen sie auch eine Zuspitzung des politischen Kampfes in marx21 vermeiden. Auch dort stellen sie wie bei der Linkspartei die „Einheit“ über alles – eine Einheit um den Preis, dass immer mehr praktische und theoretische Zugeständnisse an reformistische oder kleinbürgerliche Ideologie und Theorie eingegangen werden müssen.

Sie verkennen dabei aber insbesondere, dass gerade das, was am Beginn scheinbar den Erfolg von marx21 begründete, nämlich der Verzicht auf ein eigenes, bestimmtes revolutionäres Programm und auf ein gemeinsames darauf basierendes Handeln, die eigentliche Ursache ihrer Anpassung an nicht-revolutionäre Ideen und der Herausbildung einer eigenen rechten Strömung darstellt.

Bis zu einem gewissen Grad radikalisiert der rechte Flügel von marx21 nur, was das Netzwerk immer schon propagiert hat, nämlich den Verzicht auf einen offenen Kampf um ein revolutionäres Programm, das sich von jeder Spielart des Reformismus abhebt.

Das Zentrum von marx21 betrachtet das „nur“ als eine besonders kluge Taktik, um den Marxismus prozesshaft durch die Verbindung von Kämpfen für Reformen und allgemeine sozialistische Propaganda zu verbreitern, also um Reformist:innen zu Revolutionär:innen zu machen, ohne dass diese bewusst mit ihren bürgerlichen Vorstellungen brechen müssen. Das Problem an der Methode besteht allerdings darin, dass das Programm verwässert wird, dass sich die Revolutionär:innen dem Reformismus anpassen – und nicht umgekehrt.

Der rechte Flügel von marx21 geht jedoch insofern einen Schritt weiter, als er eine politische Konfrontation mit der Bürokratie sowohl in den Gewerkschaften als auch in der Linkspartei ablehnt. Dabei wird der Kampf um eine antibürokratische Basisbewegung in den Gewerkschaften und für eine kommunistische Organisation durch die Fetischisierung von Organizingmethoden ersetzt. Für diesen Flügel von marx21 wird der Bezug auf die Ursprünge der eigenen marxistischen Strömung zunehmend zu einem Hindernis, das eigentlich entsorgt werden muss.

Mit Cliffismus zurück zur revolutionären Politik?

Ein sich formierender linker Flügel des Netzwerks geht hingegen davon aus, dass sich marx21 auf seine theoretischen Ursprünge bei den „International Socialists“ besinnen müsse, um die eigene Organisation wieder revolutionär auszurichten.

Diese Vorstellung mag zwar naheliegen, wir halten sie jedoch für eine Illusion, wie wir im abschließenden Teil des Artikels darlegen wollen. Marx21 entstand aus einer bestimmten Strömung des Nachkriegstrotzkismus, dem Cliffismus, benannt nach dem langjährigen Anführer und theoretischen Gründungskopf. Seit den 1970er Jahren existiert sie auch als internationale Strömung, als International Socialist Tendency (IST).

Wir haben in der Broschüre „The politics of the SWP – a Trotskyist critique“ die Grundlagen dieser Strömung ausführlicher kritisiert. An dieser Stelle wollen wir uns auf ihre theoretische Konzeption zu Klassenbewusstsein und damit zusammenhängend Partei und Programm beschränken, die unserer Meinung nach in der aktuellen Krise von marx21 selbst zum Vorschein tritt.

Den Kern des Problems betrifft die Frage nach Entstehung revolutionären Klassenbewusstseins selbst. Tony Cliff und seine Strömung grenzten sich bei der Herausbildung ihrer eigenen Ideologie grundsätzlich vom Lenin’schen Verständnis ab. In „Was tun?“ zeigt Lenin, dass die revolutionäre Theorie des Marxismus nicht direkt aus dem ökonomischen und politischen Klassenkampf entstand – und auch nicht daraus entstehen konnte.

Das spontane Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse kann vielmehr nur ein bürgerliches sein. Er knüpft damit an Marx und seine Analyse der Lohnform an. „Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Seite 562)

Die Lohnform verschleiert nicht nur das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis, sondern bildet auch den Rahmen, in dem sich nicht nur der ökonomische Kampf, sondern in abgeleiteter Form auch Kämpfe um Demokratie und Gleichberechtigung bewegen.

Dieses grundlegend entfremdete und verdinglichte Bewusstsein ist natürlich wie die gesellschaftliche Basis, auf der es fußt, in sich widersprüchlich – und in den Klassenkämpfen rücken diese Widersprüche auch ins Alltagsbewusstsein. In diesem Sinn treibt er auch zur Infragestellung bestehenden Bewusstseins und zur Entwicklung von Klassenbewusstsein.

Aber wirklich revolutionäres, proletarisches Klassenbewusstsein bedarf zugleich auch einer Kritik, die diese Oberflächenformen durchdringt und so die Möglichkeiten schafft, dass der Klassenkampf bewusst über deren Grenzen hinaustritt und mit einem Programm zur sozialistischen Umwälzung verbunden wird. Daher ist die Verknüpfung mit revolutionärer Theorie unerlässlich. In diesem Sinne muss revolutionäres Bewusstsein von außen in die Klasse getragen werden; ob nun von bürgerlichen Intellektuellen oder zunehmend von Lohnabhängigen, die sich als Theoretiker:innen, Strateg:innen des Kommunismus betätigen, ist an dieser Stelle zweitrangig.

Die revolutionären Partei bildet das Verbindungsglied, die Vermittlung zwischen den spontan kämpferischen und bis zu einem gewissen Grad auch sozialistischen Tendenzen der Arbeiter:innenklasse einerseits und der wissenschaftlichen Theorie andererseits. Das revolutionäre Programm stellt dabei einen Kernbestandteil dieser Vermittlung dar, weil darin wissenschaftliche Analyse der objektiven Lage, die aktuellen und historischen Erfahrungen mit den Aufgaben und Zielen, mit Strategie und Taktiken zu einem in sich schlüssigen Ganzen, zu einem System verbunden werden. Nur so kann es als Anleitung zum revolutionären Handeln überhaupt fungieren.

Die Qualität eines Programms zeigt sich darin, ob es diese Aufgabe erfüllen kann. Für reformistische und kleinbürgerliche Programme stellt sich Frage im Grunde nicht, weil sie weder Anspruch auf eine wissenschaftliche Fundierung erheben noch als verbindliche Richtschnur zur Praxis dienen sollen. Dass z. B. die Linkspartei zentrale Forderungen bei Koalitionsverhandlungen über Bord wirft, wundert niemanden wirklich, auch die Mehrheit ihrer Mitglieder nicht.

Für eine revolutionäre Organisation hingegen stellt das Programm ein unverzichtbares Kernelement ihrer Politik dar, auch wenn das strategische Ziel, die sozialistische Revolution, die Eroberung der Macht der Arbeiter:innenklasse, die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft weit entfernt scheinen mögen. Selbst zeitweiliger Verzicht auf ein solches Programm bedeutet unwillkürlich, das Feld der Bestimmung „linker“ Politik anderen, bürgerlichen Programmen zu überlassen.

Diese essentiellen Bestimmungen zum Verhältnis von Klassenbewusstsein, Partei und Programm stellt Cliff in Frage. Für ihn besteht zwar auch die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation. Doch diese erwächst ihm zufolge aus der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung des spontanen Bewusstseins, also aus der Tatsache, dass das Bewusstsein der Klasse nie einheitlich sein kann, dass in allen Kämpfen bewusstere und rückständigere Teile hervortreten. Die Aufgabe der Partei besteht daher vor allem in der organisatorischen Zusammenfassung der sich im Kampf herausbildenden Avantgardeschichten.

Jede revolutionäre Partei oder jeder Parteibildungsprozess inkludiert zwar auch diese Aspekte. Das beantwortet aber nicht die Frage nach dem Programm, dessen objektiver inhaltlicher Fundierung und innerem Zusammenhang.

Mit den Erfolgen von marx21 wurde jedoch die Vorstellung genährt, dass ein Programm, eine gemeinsame theoretische Grundlage und eine verbindliche, demokratisch bestimmte gemeinsame Praxis ein Hindernis für den raschen und erfolgreichen Aufbau darstellen würden. Dafür sind sicher nicht bloß Cliff oder die IST verantwortlich. Aber ihre falsche Kritik des Leninismus, ihr falsches Verständnis des Klassenbewusstseins und ihre Unterschätzung der Bedeutung des Programms haben diese Entwicklung massiv begünstigt.

Jetzt, wo ein Teil von marx21 dabei ist, auch mit dem Cliffismus und dessen revolutionären Elementen zu brechen, muss sich die Organisation und vor allem ihr linker Flügel die Frage stellen, ob das etwas mit den eigenen vermeintlich korrekten Grundlagen zu tun hat.

Das Problem von marx21 war und ist dabei nicht, dass die Organisation in größeren Bewegungen und Strömungen – in diesem Fall der Linkspartei – gearbeitet hat oder arbeiten wollte. In allen Bewegungen, sozialen Milieus, seien es Schüler:innen, Studierende, bestimmte Schichten der Arbeiter:innenklasse oder reformistische Parteien herrschen bestimmte Formen bürgerlicher Ideologie vor. Die revolutionäre Intervention muss dabei immer darauf zielen, das bestehende Bewusstsein zu verändern, die Aktivist:innen und vor allem deren politisch fortgeschrittenste von der bürgerlichen Ideologie zu brechen und für den Kommunismus zu gewinnen. Dies kann und wird natürlich nicht nur durch Kritik vonstattengehen, aber diese stellte ein unerlässliches Element in dieser Auseinandersetzung, genauer des theoretischen und ideologischen Klassenkampfes dar.

Damit eine revolutionäre Organisation und deren Mitglieder das z. B. in Gewerkschaften, unter der Jugend, in sozialen Bewegungen leisten können, braucht es eben ein gemeinsames Verständnis, eine systematische Diskussion und Bestimmung dieser Politik. Nur so können opportunistische Anpassung wie auch Sektierertum verhindert werden.

Der Verzicht auf eine solche inhaltliche Bestimmung revolutionärer Politik mag zwar sektenhaftem Verhalten vorbeugen. Ganz sicher öffnet man damit aber dem Opportunismus Tür und Tor, wie die Entwicklung von marx21 und besonders des rechten Flügels zeigt.

Hinzu kommt, dass die Vorstellung, revolutionäres Bewusstsein könne direkt aus dem Klassenkampf entstehen, dazu führt, „kämpferisches“ reformistisches Bewusstsein schon als eine Vorstufe zum revolutionären zu begreifen. Die linksreformistische Partei stellt dann keine bürgerliche Kraft, sondern einen möglichen Schritt zur revolutionären Formation dar, die nur weiter nach links getrieben und zur „Bewegungspartei“ vorangebracht werden müsse.

Organisationen wie marx21, aber auch viele andere Linke begreifen das Verhältnis von revolutionärer Klarheit und Intervention nicht als einander bedingendes, wenn auch schwieriges Wechselverhältnis, sondern als einander ausschließenden Gegensatz. Dieser fundamentale Fehler ist im Cliffismus selbst schon angelegt. Die Krise von marx21 erfordert daher nicht nur eine Kritik ihres rechten Flügels, sondern auch eine selbstkritische und offene Diskussion und Überwindung des eigenen theoretischen Erbes.




Krieg in Kampf um soziale Befreiung umwandeln!

Katjuscha Seelig, Infomail 1222, 10. Mai 2023

Am Dienstag, dem 9. Mai 2023, sind wir mit Genoss:innen von REVOLUTION und rund 250 weiteren Menschen in Berlin lautstark gegen Kriegs- und Krisenprofiteur:innen auf die Straße gegangen. Das Bündnis „Rheinmetall entwaffnen“ rief auf zu einer Demonstration unter dem Titel „Rheinmetall entwaffnen — Kriegstreiberei von Grünen & Co stoppen!“ Die Demonstration zog von der Parteizentrale der Grünen über die der FDP zum Brandenburger Tor.

Anlass war die Aktionär:innenversammlung vom deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall, auf welcher die durch den Krieg eingefahrenen Profite ausgeschüttet wurden. Auch wenn die Versammlung seit Beginn der Pandemie rein digital stattfindet, dass sie am Tag des Sieges über den deutschen Faschismus einberufen wurde, ist allein schon zynisch. Dies erfolgt in Ergänzung zu den Einschränkungen des demokratischen Rechts am 8. und 9. Mai, die Fahnen der Siegermächte zu tragen, wie durch das Verbot der russischen Flagge, aber auch der der Sowjetunion deutlich wird. Während also die deutsche Waffenindustrie Rekordgewinne ausschüttet, verbietet sie die Würdigung aller Sieger:innen gegen den deutschen Faschismus. Währenddessen mahnte ein Auszug des Schwurs von Buchenwald am Lautsprecherwagen hängend an: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

In unserer Rede haben wir aufgezeigt, dass der Kampf gegen den Krieg zugleich einer gegen den interimperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt sein muss, mitsamt des Eintretens gegen den neuen Militarismus und seine Profiteur:innen als auch für die Freiheit der Ukraine von jeder imperialistischen Einflussnahme. Das bedeutet sowohl den sofortigen Abzug aller ausländischen Soldat:innen aus der Ukraine als auch die Öffnung sämtlicher Geheimverträge für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes und die sofortige Streichung seiner sämtlichen Schulden.

Lasst uns gemeinsam für eine Bewegung kämpfen, die dem System der Krieg den Krieg erklärt: No War but Class War!

Arbeiter:innenmacht-Rede auf der Demonstration von „Rheinmetall entwaffnen“

Genossinnen und Genossen,

der Krieg in der Ukraine nimmt immer mehr Merkmale eines Abnutzungs- und Stellungskriegs an. Die Masse an eingesetzter Artillerie, Panzern, Drohnen und Munition frisst ganze Industrieproduktionen auf. Ganz zu schweigen von den Menschen, die zu zehntausenden getötet und verwundet werden.

Was für den russischen Imperialismus bereits durch das westliche Sanktionsregime zunahm, kommt jetzt auch für die Nato-Staaten auf die Tagesordnung: Umstellung auf Kriegswirtschaft und goldene Jahre für die Rüstungsindustrie. So haben deutsche und US-amerikanische Rüstungskonzerne bereits neue Standorte ins Leben gerufen. Rheinmetall selbst plant den Bau einer Panzerfabrik auf ukrainischem Boden.

Wir erleben nicht nur einen reaktionären Angriffskrieg des russischen Imperialismus, sondern zugleich auch einen Stellvertreterkrieg zwischen zwei imperialistischen Blöcken. Unsere Aufgabe als Revolutionär:innen muss es sein, diese reaktionäre innerimperialistische Konfrontation zu bekämpfen – und das heißt für uns in Deutschland, dass wir uns klar und deutlich gegen die Kriegsziele der NATO und des deutschen Imperialismus wenden.

Denn es geht es darum, wer der Welt den Stempel aufdrücken kann. Phrasen wie Kampf für Demokratie und Menschenrechte sind nur Maskerade dessen, schauen wir nur auf andere Kriegsgebiete der Nato-Schlächter:innen.

Der Ringtausch, das 100-Mrd.-Euro-Rüstungspaket, die Nato-Stärkung durch den Beitritt Finnlands und die Beitragserhöhungen: Das sind im Hier und Jetzt Schritte, um für den eigenen Platz an der Sonne ein drittes Mal kämpfen zu können.

Die Schulden für die Ukraine sowie die Angriffe auf soziale und Arbeitsrechte: Das sind schon jetzt Mittel, mit denen dieses Land noch mehr den westlichen Staaten und Konzernen unterworfen werden soll. Es ist das Selenskyj-Regime, das bereits jetzt für eine Ukraine kämpft, die zur Handlangerin anderer Imperialist:innen wird. Daher sagen wir: Offenlegung der Geheimverträge für die sogenannte wirtschaftliche Neugestaltung!

Ein echter, dauerhafter Frieden ist nur möglich, wenn wir alle imperialistischen Interessen in der Ukraine bekämpfen. Dazu muss der russische Imperialismus raus aus dem Land, muss das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer:innen, aber auch der Bevölkerung der sog. Volksrepubliken und der Krim anerkannt werden. Dazu müssen wir aber auch der westlichen Sanktions- und Kriegspolitik, der NATO-Osterweiterung und permanenten Aufrüstung den Kampf ansagen.

Unsere Antwort bedeutet, dem System der Kriege den Krieg zu erklären, unsere Antwort heißt Klassenkampf. Ob in Russland oder Deutschland: Der Hauptfeind ist die eigene herrschende Klasse. Lasst uns den Krieg in einen Kampf um soziale Befreiung umwandeln!




Tarifverhandlungen öffentlicher Dienst: Nein zum Abschluss!

Jaqueline Katherina Singh / Martin Suchanek, Infomail 1221, 24. April 2023

„Das ist eine nachhaltige Steigerung der Einkommen, die beachtlich ist“, lobt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke die Tarifeinigung zwischen Gewerkschaften und den sog. Arbeitergeber:innen bei Bund und Kommunen über den grünen Klee. Natürlich, so die Spitzen der Gewerkschaften, hätte der Abschluss auch „schmerzliche“ Seiten, doch das gehöre schließlich zu einem Kompromiss.

In den bürgerlichen Medien wird von „der größten Tariferhöhung seit Jahrzehnten im öffentlichen Dienst“ geschrieben und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) spricht von einem „guten und fairen Tarifabschluss“. Doch wir wissen, dass das nicht stimmt. Denn das Ergebnis ist mehr als bescheiden.

Einigung: Was ist drin?

Die Gewerkschaften und die sog. Arbeitgeber:innenverbände haben somit einen Abschluss erzielt, der faktisch dem Ergebnis der Schlichtung gleichkommt:

  • Inflationsausgleich von insgesamt 3.000 Euro in Teilzahlungen.

  • 1.240 Euro davon sollen bereits in diesem Juni fließen, weitere 220 Euro dann jeweils in den Monaten von Juli bis Februar 2024.

  • Zum 1. März 2024 sollen die Entgelte in einem ersten Schritt um einen Betrag von 200 Euro angehoben werden.

  • In einem zweiten Schritt soll der dann erhöhte Betrag noch einmal linear um 5,5 Prozent steigen. Die Erhöhung soll allerdings in jedem Fall 340 Euro betragen.

  • Die Laufzeit soll sich auf 24 Monate erstrecken.

Konkret bedeutet das: 2023 gibt es einer Nullrunde und es wird versucht, das mit einer Einmalzahlung schönzureden, die über Monate verteilt ankommt, Aber das ist nur einer der Kritikpunkte. Das wohl größte Problem stellt die Laufzeit von zwei Jahren dar. Wird die tabellenwirksame Entgelterhöhung darauf berechnet, so entpuppt sich die „beachtliche“ Einkommenssteigerung als Reallohnverlust.

Kurzum: Politisch stellt das Ergebnis einen Ausverkauf dar und eine Niederlage der Gewerkschaften. Das betrifft einerseits das materielle Ergebnis, d. h. vor allem die lange Laufzeit. Vor allem aber wurde eine weitere Chance vertan, mit einer kämpferischen Tarifrunde und einem unbefristeten Streik eine reale Trendwende durchzusetzen. Außerdem hätte die Auseinandersetzung mit der bei der Bahn und anderen Lohnkämpfen verbunden werden können (z. B. an den Flughäfen).

Ironischer Weise hat Frank Werneke durchaus recht, dass selbst dieser Abschluss nur zustande kam, weil Hunderttausende aktiv die Warnstreiks getragen haben,  Zehntausende ver.di und anderen Gewerkschaften beigetreten sind. Aber sowohl in den Diskussionen wie bei den Arbeitsstreiks wurde deutlich: Nach Jahren des Reallohnverlustes und angesichts von Preissteigerungen, die für Grundbedürfnisse wie Wohnen, Lebensmitteln, Energie weit über der Inflationsrate liegen, wollen die Mitglieder nicht nur einen Ausgleich auf dem Konto, sondern sind dafür auch bereit, in einen zähen, langwierigen Kampf zu treten.

Das betrifft vor allem die kämpferischen Sektoren im öffentlichen Dienst – und zwar nicht nur die traditionellen „schweren Bataillone“ wie Stadtreinigung und Nahverkehr, sondern vor allem auch neue Avantgardeschichten wie in den Krankenhäusern, die sich in den letzten Jahren in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen formiert haben.

Bremsklotz Bürokratie

Diese Entwicklung wird mit dem Abschluss faktisch von der Bürokratie ausgebremst. Eine Streikbewegung hätte nämlich eine weitere Zuspitzung des Klassenkampfes erfordert. Sie hätte zumindest das Potential gehabt, das sozialpartnerschaftliche Tarifritual zu durchbrechen.

Genau das will der sozialdemokratisch dominierte Gewerkschaftsapparat aber nicht. Er zieht einen faulen Kompromiss einer solchen Konfrontation vor. Das ist eine für Revolutionär:innen sicher nicht neue Lehre, die sich aber die kämpferischen Schichten selbst zu eigen machen müssen.

Es reicht daher nicht, den Abschluss zu verdammen. Und es wäre falsch, aus Frust aus den Gewerkschaften auszutreten. Aber es ist unbedingt notwendig, sich klarzumachen, warum die Führung, warum deren Apparat, warum die von ihr kontrollierte Tarifkommission so handeln.

Die reformistische Gewerkschaftsführung und ihre Bürokratie sind nicht einfach bessere oder schlechtere Vertreter:innen der Klasse. Sie hegen ein Eigeninteresse als Vermittler:innen zwischen Belegschaften und Dienstgeber:innen bzw. Unternehmer:innen im ökonomischen Kampf. Sie müssen zwar bis zu einem gewissen Grad auch mobilisieren, um den „Verhandlungspartner:innen“ ihre Stärke zu zeigen – aber sie wollen um fast jeden Preis am sozialpartnerschaftlich regulierten Tarifritual festhalten. Sozialpartnerschaft ist aber nicht nur ein Verhalten, sondern hat einen Inhalt: Die Interessen des deutschen Kapitals und seines Staates im Lande und auch globalen Konflkikten gegen die internationale Konkurrenz zu schützen.

Zur Zeit wollen auch (noch) die Regierung und auch (noch) Spitzen der „Arbeitgeber:innenverbände“ an dieser Partnerschaft festhalten.

Gleichzeitig ist dies jedoch nicht unveränderlich. Denn die Tarifrunde zeigt, dass diese Form der Regulierung des Klassengegensatzes bröckelt, beispielsweise der Unmut bei den Vertreter:innen der Kommunen, die letztlich für eine härtere Gangart des Kapitals insgesamt stehen. Die Absetzbewegung gibt es aber auch bei uns. In den Warn-, Arbeitsstreiks und auch bei den Versammlungen zur Schlichtung wurde eine breite Ablehnung des Ergebnisses durch politisch bewusstere und kämpferischere Schichten sichtbar.

Nein bei der Befragung

Noch vor den Verhandlungen hatte sich die ver.di-Führung verpflichtet, die Mitglieder zum Ergebnis zu befragen. Es geht hier aber nicht um demokratische Entscheidungen. Selbst wenn 100 % mit Nein stimmen würden, wäre die Führung daran nicht gebunden.

Ver.di inszeniert vielmehr ein pseudodemokratisches Stimmungsbild, ein Plebiszit, um sich für den schlechten Abschluss die Legitimation der Mitglieder einzuholen.

Wir brauchen uns hier nichts vorzumachen. Angesichts des medialen Trommelns für den Abschluss und des innerorganisatorischen Informationsmonopols des Apparates ist eine Zustimmung bei der Befragung, die bis zum 14. Mai läuft, faktisch sicher.

Aber alle kritischen und kämpferischen Gewerkschafter:innen sollten die Abstimmung nutzen, um möglichst viele für ein Nein zu gewinnen, denn das Ergebnis wird auch einen Gradmesser für die innergewerkschaftliche Stimmung und bis zu einem gewissen Ausmaß für das Kräfteverhältnis abgeben.

Noch wichtiger als die Abstimmung ist, dass wir die Diskussionen und Versammlungen der nächsten Tage und Wochen nutzen, um das Nein möglichst stark und öffentlich sichtbar zu machen. Dazu braucht es Versammlungen von Streikaktivist:innen, von Betriebsgruppen in den Unternehmen und Abteilungen. Diese sollten nicht nur den Abschluss diskutieren und ihre Kritik artikulieren. Sie sollen auch Beschlüsse fassen, die zum Nein bei der Befragung aufrufen.

Sie sollen außerdem dazu aufrufen, dass Vorstand und Tarifkommission im, wenn auch unwahrscheinlichen, Fall einer Mehrheit gegen den Abschluss an dieses Ergebnis gebunden sein müssen. Sie müssen außerdem dazu aufgefordert werden, in diesem Fall die Urabstimmung einzuleiten und den Kampf für die ursprünglichen Forderungen – also 10,5 % und mindestens 500 Euro für alle bei einem Jahr Laufzeit – einzuleiten.

Solche Beschlüsse sollten öffentlich gemacht werden, um zu verdeutlichen, dass kritische Betriebsgruppen und Versammlungen keine Ausnahmefälle, sondern ganz schön viele sind. Gerade jetzt müssen sich Aktivist:innen dort, wo es noch keine Betriebsgruppen gibt, sich als solche zusammenfinden!

Viele von uns sind enttäuscht. Unsere Perspektive kann aber nicht sein, einfach auszutreten aus Protest. Nein, wir wollen uns praktisch in den Gewerkschaften organisieren und nicht dafür einstehen, dass unsere Kämpfe nicht weiter ausverkauft werden. Also lasst uns gemeinsam zusammenstehen und eine klassenkämpferische Opposition in den Gewerkschaften aufbauen!

Lasst und gemeinsam mit der VKG diesen Protest am Ersten Mai mit Flugblättern, Transparenten, Redebeiträgen und in klassenkämpferischen Blöcken zum Ausdruck bringen! Lasst uns gemeinsam in allen Städten Ortsgruppen der VKG aufbauen!