Erster Palästina-Strafprozess seit dem 7. Oktober: Lollo ist verurteilt, aber seine Integrität ist intakt

Martin Suchanek & Georg Ismael, Infomail 1237, 16. November 2023

Die Mühlen der Justiz mahlen zuweilen schnell, jedenfalls wenn es politisch erwünscht ist. Am 15. November fand der erste Palästina-Prozess im Zusammenhang mit der Kriminalisierungswelle ab Anfang Oktober gegen den Internationalisten und Antifaschisten Lollo am Amtsgericht Berlin Tiergarten statt.

Am 18. Oktober wurde der junge italienische Arbeiter Lollo in der Berliner Sonnenallee festgenommen. Seither befand er sich in Untersuchungshaft. Um zu einer raschen und harten Verurteilung zu gelangen, wurde der Fall im Schnellverfahren geführt. Der Prozess begann nach nur vier Wochen und endete am 15. November mit der Fällung des Urteils.

Lollo wurde zu einer Haftstrafe von 8 Monaten verurteilt, die auf Bewährung für drei Jahre ausgesetzt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte 10 Monate Haft, ausgesetzt auf 3,5 Jahre Bewährung, zuzüglich einer Geldstrafe von 1.000 Euro an das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e. V. gefordert.

Sowohl die Prozessführung, die Anklageschrift wie das abschließende Plädoyer der Staatsanwaltschaft zeigten, dass es hier nicht in erster Linie um einen Steinwurf auf gut ausgerüstete und geschützte Polizeikräfte ging. Es drehte sich darum, ein möglichst hohes Strafmaß gegen einen Internationalisten zu erzwingen. Dieser sollte als Antisemit  diffamiert und dadurch die Polizeigewalt des vergangenen Monats nachträglich gerechtfertigt werden. So sollte ein Präzedenzfall für die harte Verurteilung weiterer Kriminalisierter geschaffen werden, um die ideologische Grundlage für anstehende repressive Gesetzesverschärfungen zu legen.

Die Verhandlung

Verhandelt wurden schwerer Landfriedensbruch, schwere Körperverletzung und tätlicher Angriff auf Polizeibeamt:innen in Tateinheit sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt im zweiten Anklagepunkt. Von Seiten der Staatsanwaltschaft wurde dem Angeklagten zur Last gelegt, im Rahmen von verbotenen – wenn auch ursprünglich friedlichen – Protesten auf der Sonnenallee einen Stein auf einen Polizisten geworfen zu haben.

Zu Beginn der Verhandlung räumte der Angeklagte den Steinwurf ein. Ein Polizist, der getroffen oder verletzt wurde, konnte aber in den vier Wochen seit dem 18. Oktober nicht namhaft gemacht werden. Die als Zeug:innen geladenen Zivilpolizist:innen mussten denn auch eingestehen, dass der getroffene und gut geschützte Polizist der 35. Einheit keine Reaktion auf den Treffer zeigte.

Insbesondere wurde im Verlauf des Prozesses die Frage des Widerstandes gegen die Festnahme verhandelt. Sicher belegt wurde allerdings im Prozess durch ein Video vor allem, wie drei Polizisten mit enormer Brutalität bei der Festnahme vorgingen, die den jungen Mann, dessen Kopf scheinbar vor Sauerstoffmangel rot wurde, am Boden unter Anwendung von Schmerzgriffen fixierten und im weiteren Verlauf schlugen.

Da der Angeklagte kein Deutsch sprach, konnte er auch nicht verstehen, was die Polizei ihm sagte. Eine Person, die sich als Übersetzerin anbot, wurde physisch bedroht. Über seine Festnahme, den Grund dieser und seine Rechte setzte ihn die Polizei allerdings auch auf Deutsch zu diesem Zeitpunkt nicht in Kenntnis. Dafür setzte sie offenkundig auf „handfeste“ Argumente. Die Verhandlung zeichnete sich auch durch eine Reihe von Suggestionen von Staatsanwaltschaft und Richter aus, die den Polizist:innen bereits die Antworten in den Mund legten.

Insbesondere legte sich bei dem Gerichtstermin allerdings die Staatsanwaltschaft ins Zeug. Falls bei irgendjemandem Zweifel bestanden haben sollten, so machte sie gleich zu Beginn deutlich, dass es sich für sie um keinen normalen, sondern einen politischen Prozess handelte. In ihren Augen hätte sich der Angeklagte an antiisraelischen und antisemitischen  Protesten beteiligt. In diesen Zusammenhang müssten die ihm vorgeworfenen Taten eingeordnet und daher auch das Strafmaß, ganz im Sinne der deutschen Staatsraison, erhärtet werden.

Sowohl der Angeklagte wie auch sein Anwalt widersprachen zu Beginn und während des Prozesses dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft, dass der Angeklagte an antisemitischen Aktionen beteiligt gewesen wäre. Lollo wies deutlich und entschieden die Anschuldigung von sich, Antisemit zu sein. Er äußerte seine tiefe Verbundenheit mit antirassistischen und antimilitaristischen Ansichten. Vor allem, so betonte er, ging er gegen den Krieg und für Frieden auf die Straße. Er äußerte seine Betroffenheit darüber, das kriminelle Schweigen bezüglich der Angriffe auf Gaza mithilfe polizeilicher Gewalt durchzusetzen.

Selbst die Polizist:innen mussten feststellen, dass die einprägsamen Slogans in dieser Nacht und in diesen Tagen „Free Palestine“ oder „Free Gaza“ neben dem scheinbar sehr beliebten Spruch „Ganz Berlin hasst die Polizei“ waren. Selbst sie erklärten, auch ohne eine ursprüngliche Gefährdungslage den Protest am 18. Oktober aufgelöst und bereits zu Beginn der Ansammlungen Festnahmen ohne weitere Grundlage getätigt zu haben. Insofern stand Lollos eigene Gewalt der der Polizei nach, die bereits über eine Woche vor dem 18. Oktober und in ebendieser Nacht unter dem Motto „Dienst nach Vorschrift“ wütete. Die Polizeibeamt:innen äußerten, es sei nicht ihre Entscheidung, diese durchzusetzen. Sie würden es aber tun, wenn sie dafür die Befehle erhielten.

Der Verteidiger des Angeklagten betonte daher in seinem abschließenden Plädoyer, dass es bei diesem Prozess um den Zusammenhang ginge, in dem die dem Angeklagten vorgeworfenen Punkte verhandelt wurden: die drastischen Einschränkungen des Versammlungsrechts und grundlegender in der Verfassung verankerter demokratischer Rechte durch die deutsche und Berliner Regierung.

Er berichtete von Palästinenser:innen, die ihn in den vergangenen Wochen verzweifelt anriefen, weil sie Familienmitglieder verloren hatten und aufgrund des wochenlangen Verbots aller propalästinensischen Versammlungen keine Möglichkeit der öffentlichen Trauer zeigen konnten. Er sprach über Iris Hefets, ein Mitglied der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden“, die am 18. Oktober alleine mit dem Schild „Stoppt den Massenmord in Gaza!“ auf dem Hermannplatz protestieren musste, weil jede weitere Person zu einem Verstoß gegen das Versammlungsverbot geführt hätte.

Diese Erläuterungen verdeutlichten, wie ernst und massiv die Angriffe ausarteten, die auf politisch motivierten und rassistischen Verleumdungen seitens der Regierenden beruhten. Indirekt musste dem selbst der Richter stattgeben. Die von der Staatsanwaltschaft zynisch geforderte Geldstrafe, die einem Verein gegen Antisemitismus zugutekommen sollte, fand ihren Weg nicht in die Verurteilung. Hierüber, so können wir zum Zeitpunkt des Berichtes sagen, schwiegen oder hetzten gar die meisten bürgerlichen Journalist:innen, die den Prozess in großer Zahl begleiteten.

Die Stimmen der Anderen

Lollo stand heute als Erster, aber nicht Letzter stellvertretend für hunderte weitere Menschen, die festgenommen wurden und kriminalisiert werden sollen. Mehr als 27 Anzeigen sind bereits bei der Staatsanwaltschaft Berlin anhängig (Stand 14. November). Weitere 1.254 Fälle werden aktuell bei der Polizei vorbereitet (Stand 13. November). Auch hier drohen Urteile und politisch motivierte, erhöhte Strafmaße. Während die Verurteilung Lollos hart ist, so ist es der Staatsanwaltschaft nicht gelungen, ihn als Antisemiten zu diskreditieren und verurteilen.

Dies ist ein Ausdruck der ungebrochenen Solidarität zwischen jüdischen, palästinensischen und anderen in Deutschland lebenden Menschen, die in den vergangenen Wochen Seite an Seite auf die Straße gingen für gleiche soziale und demokratische Rechte und ein Leben in Frieden. Der Richter trug dem insofern Rechnung, als er die politische Einordnung der Staatsanwaltschaft nicht übernahm, sondern „neutral“ blieb. Viel wichtiger ist jedoch, dass Lollos politische Integrität in den Augen ehrlicher Prozessbeobachter:innen intakt blieb.

Was bleibt, ist die notwendige Aussicht auf gemeinsame Kampagnen gegen die Kriminalisierung unserer Bewegung. In den letzten Wochen wurden palästinensische Organisationen wie die Gefangenenhilfsorganisation „Samidoun“ verboten. Gegen weitere werden Verbote auf den Weg gebracht. Ferner werden Gesetze verschärft, die die Solidaritätsbewegung kriminalisieren und Migrant:innen mit zunehmender Aggressivität rassistisch stigmatisieren. Abschiebungen und Ausbürgerungen werden von etlichen Medien gefordert, von Politiker:innen befürwortet. Politische Abschiebungen wurden bereits in mehreren Fällen durchgeführt.

Gegen diese grundlegenden Angriffe auf demokratische Rechte, Verbote und Gesetzesverschärfungen müssen wir uns zur Wehr setzen, indem wir eine Solidaritätsbewegung aufbauen, die zuerst die Motive der Angeklagten sichtbar und ihre Stimmen hörbar macht.




Freiheit für Boris Kagarlitsky!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1229, 29. Juli 2023

Am 25. Juli wurde der russische Marxist, Soziologe und linke Kritiker des Putin-Regimes, Boris Kagarlitsky, vom russischen Geheimdienst FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation; Inlandsgeheimdienst) festgenommen und inhaftiert. Das Gericht in Syktywkar (Hauptstadt der Republik Komi; Nordwestrussland) ordnete eine Untersuchungshaft bis zum 24. September an. Nach Berichten des linken Internetportals Rabkor (Arbeiter:innen-Korrespondenz) wird ihm die Rechtfertigung des Terrorismus und Propaganda für diesen vorgeworfen, wofür ihm bis zu fünf Jahre Haft drohen.

Die Anklage ist an den Haaren herbeigezogen. Sie wirft auch ein grelles Licht auf die Methoden des russischen Regimes, die an die Fabrikationen des Zarismus und Stalinismus erinnern. Als Vorwand für seine Verhaftung dient ein Telegram-Post, das Kagarlitsky am 8. Oktober 2022 nach dem Anschlag auf die Krimbrücke veröffentlicht hatte und wo er das Objekt als strategisch und symbolisch bezeichnet, das die Größe und Macht des Putin-Regimes manifestieren sollte – ein Prestigeprojekt, das die Fähigkeit des russischen Staates zeigen sollte, trotz Ineffektivität, Korruption und Plünderung der Massen „Großes“ zu leisten.

Der Anschlag auf eines der bestbewachten Bauwerke der Welt war daher, so Kagarlitsky, auch ein Schlag, der die Schwächen und Verwundbarkeit des russischen Despotismus offenbarte.

Das reichte als Vorwand für die Festnahme und Anklageerhebung. Es ist kein Zufall, dass einer der wenigen im Land verbliebenen offenen Kritiker:innen des Putin-Regimes und des reaktionären imperialistischen Angriffskriegs jetzt festgenommen wurde. Seit dem Wagner-Putsch verschärft der Staatsapparat die Verfolgung von Oppositionellen aller Richtungen, darunter rechten, monarchistischen, aber auch linken Kräften.

Zweifellos handelt es sich dabei um einen politischen Akt, der nicht nur Boris Kagarlitsky zum Schweigen bringen, sondern die gesamte linke und sozialistische Opposition weiter einschüchtern soll. Kagarlitsky selbst ist nicht nur ein marxistischer Soziologe und Analyst, sondern war auch einer der wenigen bekannten linken Oppositionellen, der sich von Beginn an eindeutig gegen den russischen Angriff auf die Ukraine aussprach und die sog. Spezialoperation Krieg nannte. Er verwies von Beginn an besonders stark auf die

inneren Widersprüche des russischen Kapitalismus, die zum Krieg geführt hätten. Dabei legte er unserer Meinung nach zu wenig Augenmerk auf andere Kriegsursachen, insbesondere auf den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen alten und neuen Großmächten, der sich gerade in der Ukraine manifestierte. Doch das war und ist für das Putin-Regime zweifellos nebensächlich. Ihm gelten alle Kriegsgegner:innen als Vaterlandsverräter:innen.

Anders als viele eher liberal eingestellte russische Linke kritisierte Kagarlitsky 2014 das prowestliche, aus dem Maidan hervorgegangene reaktionäre Regime in Kiew, das sich auf rechte und faschistische Kräfte stützte, scharf. Er solidarisierte sich zu Recht mit den Gewerkschafter:innen, die in Odessa ermordet wurden, wie auch mit dem Widerstand in Donezk und Luhansk. Das macht ihn jedoch nicht blind gegenüber dem reaktionären imperialistischen Angriff Russlands, den er von Beginn an scharf verurteilte.

Genau diese Haltung machte ihn zu einem Ziel des Putin-Regimes – und zwar schon lange vor dem Krieg. 2018 wurde das von ihm geleitete Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen als ausländische Agentur eingestuft. Im April 2022 wurde er persönlich auch vom russischen Staat als „ausländischer Agent“ kategorisiert – und damit seine Arbeit drastisch eingeschränkt.

Auch wenn sich Kagarlitsky nach anfänglichen Sympathien für den Trotzkismus in den 1980er und 1990er Jahren vom revolutionären Marxismus entfernte und die marxistische Staats- und Revolutionstheorie, insbesondere die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, ablehnte, so blieb er immer ein lesens- und überdenkenswerter Analytiker und Kämpfer. Schon unter dem Stalinismus betätigte er sich oppositionell, was noch unter Breschnew zu Festnahmen und Haft führte. Ähnlich erging es ihm unter der Jelzin-Ära. 2021 saß er wegen Protesten gegen die Dumawahl 10 Tage im Gefängnis. Offenkundig schloss er auch mit dem Putin-Regime keinen Frieden.

Die Festnahme und Anklage gegen Boris Kagarlitsky hat zu einer breiten internationalen Solidarisierung geführt, der sich alle linken, kommunistischen, sozialistischen und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung anschließen sollten. Doch nicht nur Boris, die gesamte russische Antikriegsbewegung und insbesondere alle linken Kräfte, die sich gegen die Diktatur Putins, gegen Terror und Repression im Inneren und den Krieg gegen die Ukraine wenden, brauchen unsere Unterstützung!

  • Freiheit für Boris Kagarlitsky! Solidarität mit der russischen Antikriegsbewegung! Freilassung für alle festgenommen Kriegsgegner:innen!

  • Rücknahme aller sog. Antiterrorgesetze und Einschränkungen des Demonstrations- und Versammlungsrechts!



Gericht erzwingt Absage des Bahnstreiks – EVG-Führung knickt ein

Martin Suchanek, Infomail 1222, 14. Mai 2023

Der Vorstand der Deutsche Bahn AG kann auf deutsche Gerichte zählen. Nachdem das Unternehmen die Gewerkschaft EVG und die Beschäftigten weiter mit Scheinangeboten hinhalten wollte, hatte die EVG einen 50-stündigen Warnstreik, beginnend am 14. Mai, beschlossen. So sollte der Druck auf den Konzern und andere Unternehmen im Kampf um die Tarifforderungen – 12 %, mindestens aber 650 Euro monatlich mehr für alle bei einem Jahr Laufzeit – erhöht werden.

Daraus wird nun nichts. Die Bahn AG versuchte am 13. Mai, den Warnstreik per Einlassung vor dem Arbeitsgericht Frankfurt/Main zu verhindern. Mit Erfolg: Die Richterin hatte laut Medienberichten in der Verhandlung mehrfach erklärt, dass sie den Streik für rechtlich problematisch halte. Mit dieser Verbotsdrohung im Raum verband das Gericht den „Vorschlag“ eines verpflichtenden Vergleichs zwischen Bahn AG und EVG. Die Bahn AG müsse, so der Vergleich, auf die Forderung nach Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns für rund 2.000 Beschäftigte eingehen – dafür müsse der Streik vom Tisch und eine intensive Verhandlungsrunde über die „restlichen“ Forderungen starten.

Von diesen Forderungen der EVG ist keine zugesagt. Die Gewerkschaftsführung gab angesichts eines drohenden Streikverbots und der vom Gericht in den Raum gestellten zusätzlichen Drohung, dass im Falle eines Verbots auch Schadenersatzzahlungen für die anderen Warnstreiks in Millionenhöhe auf sie zukommen könnten, klein bei. Sie ließ sich schlichtweg erpressen.

Es gibt nichts zu beschönigen

Die Bahn AG errang einen klaren Sieg, was sie triumphierend auch selbst betont. Für sie hat sich der Gang vor Gericht gelohnt – zahlen sollen dafür die Beschäftigten.

Und die EVG-Spitze? Sie knickt ein. Ein Streik, der ohnedies abgeblasen wird, braucht schließlich nicht verboten zu werden. Sie verzichtet darauf, selbst vor Gericht für das Streikrecht zu kämpfen, sie lässt sich von dessen Drohszenarien einschüchtern – und sie verzichtet erst recht darauf, dessen unverhohlene Parteinahme für die Bahn AG, diesen klaren Akt von Klassenjustiz anzuprangern.

Da die EVG nicht wie eine vorgeführte Papiertigerin dastehen will, macht sie auch noch gute Miene zum bösen Spiel – und es damit noch schlimmer. In einer eigenen Presseerklärung entblödet sie sich nicht, die Niederlage als Erfolg auszugeben. So erklärt ihr Verhandlungsführer Loroch: „Schon die Androhung des Warnstreiks hatte Erfolg. Der Arbeitgeber hatte vor Gericht unmissverständlich erklärt, dass er unsere Forderungen zum Mindestlohn erfüllt. Auf Anraten des Gerichts haben der Arbeitgeber und wir einen Vergleich geschlossen.“

Der/Die Arbeit„geber“:in gibt einer Forderung nach und hält an der Ablehnung aller anderen fest. Dieser „Erfolg“ reicht – und die EVG setzt den Streik „vorerst“ aus.

Für die Beschäftigten bei der Bahn bedeutet das einen herben Rückschlag. Statt ihre eigenen Kräfte für die Tarifrunde und den Kampf gegen die drohende „Reform“ der Bahn zu stärken, knickt die Gewerkschaftsführung ein. Bei den kommenden Verhandlungen droht ein Ausverkauf durch den Apparat. Dazu müssen alle klassenkämpferischen Kolleg:innen jetzt klar und deutlich NEIN sagen. Vor Gerichten und in Mauschelrunden mit der Bahn AG wird nichts zu holen sein. Statt den schrittweisen Rückzug anzutreten und diesen schönzureden, muss von der EVG gefordert werden, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären und die Urabstimmung zur Durchsetzung der Forderungen möglichst rasch einzuleiten.

Darüber hinaus rächt sich die über Jahre von der EVG-Führung besonders intensiv betriebene Politik der Klassenzusammenarbeit mit Unternehmen und Regierung. 2015 unterstützte die EVG gegen andere Gewerkschaften und die Interessen der Arbeiter:innenklasse das Gesetz zur Tarifeinheit, also eine weitere massive Einschränkung des Streikrechts. Jetzt wenden sich genau jene Gerichte gegen die EVG, die ihre Spitze dereinst gegen andere in Stellung bringen wollte. Vertrauen in die Bürokratie ist also fehl am Platz.

Folgerungen

Für die Beschäftigen gilt es, zwei zentrale Schlussfolgerungen zu ziehen, gerade wenn es darum geht, wie der Kampf gegen den Konzern und die Klassenjustiz erfolgreich geführt werden kann:

1. Die bürgerlichen Gerichte stehen auf Seiten des Kapitals. Die gesamte Gewerkschaftsbewegung muss die Erpressung durch das Arbeitsgericht Frankfurt/Main verurteilen und eine Kampagne gegen jede Einschränkung des Streikrechts starten. Am 13. Mai traf es die EVG, morgen kann es jede andere treffen.

2. Müssen sich die kämpferischen Gewerkschafter:innen in der EVG (und auch in der GDL) organisieren und dafür eintreten, dass die Tarifrunde unter Kontrolle der Basis, von gewählten, abwählbaren und rechenschaftspflichtigen Tarifkommissionen und Streikleitungen geführt wird. Die gute Nachricht zum Schluss: Dazu gibt es einen ersten Ansatz: die Bahnvernetzung von Kolleg:innen aus EVG und GDL. Unterstützt die Kolleg:innen oder, noch besser, wenn ihr Bahner:innen seid, schließt Euch ihr an!




Sowjetische Fahne in Berlin verboten – Justiz schlägt zu

Martin Suchanek, Infomail 1222, 9. Mai 2023

Vorweg: Wir verurteilen den reaktionären russischen Angriff auf die Ukraine – und zwar von Beginn an. Wir stehen auf der Seite der russischen Antikriegsbewegung und der ukrainischen Bevölkerung, die die Hauptlast dieses Kriegs trägt.

Wir schicken das vorweg, wohl wissend, dass uns in einem Land der demokratischen Kriegstreiberei und des deutschen NATO-Patriotismus schon allein deshalb der Vorwurf der „Putin-Versteherei“ entgegengehalten wird, weil wir auch die Kriegspolitik und Ziele des Westens bekämpfen.

Und dieser Kampf findet statt – nicht nur mit einem Sanktionsregime und Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch mittels Aufrüstung, Umstellung auf Kriegsproduktion, NATO-Erweiterung. Und er findet natürlich auch auf dem Feld von Ideologie und vor Gerichten statt.

Verbote durch Oberverwaltungsgericht

Die Berliner Justiz setzte am 8. Mai ihrerseits ein Zeichen, dass sie bei dieser Konfrontation nicht abseitsstehen will. Auf Antrag der Berliner Polizei erklärte das Oberverwaltungsgericht das Verbot russischer Fahnen, von St.-Georgs-Bändern und -Fahnen sowie das von Flaggen der Sowjetunion (!) am 8./9. Mai für rechtens.

Zuvor hatte das Verwaltungsgericht das Fahnenverbot noch für rechtswidrig erklärt. Doch die höchste Instanz hob diesen Entscheid auf Antrag der Polizei Berlin auf, weil die Flaggen als „Sympathiebekundung für die Kriegsführung (Russlands; Anm. d. Red.) verstanden werden“ könnten und „Gewaltbereitschaft“ vermitteln würden.

Dass russische Fahnen für einige Träger:innen auch eine Sympathie für Putin zum Ausdruck bringen, mag ja sein. Dass diese Sympathie politisch kritisiert werden darf und soll, ist sicher zutreffend.

Aber ebenso gut gilt die russische Fahne für andere als Symbol der Befreiung vom Faschismus, ganz so wie die US-amerikanische, britische oder französische – und bislang hat noch niemand deren Verbot anlässlich reaktionärer imperialistischer Interventionen gefordert.

Dass es sich bei dem Urteil um einen leicht durchschaubaren, aber nicht minder symbolträchtigen Akt politischer Justiz handelt, zeigt das Verbot der sowjetischen Fahnen. Russland ist anerkanntermaßen Kriegspartei in der Ukraine, das aus dem Zarismus stammende Georgs-Symbol ein imperiales Zeichen. Doch die Sowjetunion? Führt die etwa auch Krieg in der Ukraine? Allenfalls in der Einbildung von Reaktionär:innen, für die der Kalte Krieg nie zu Ende ging, für die es weder einen Bruch zwischen der frühen Sowjetunion Lenins und Trotzkis mit der bürokratischen Diktatur Stalins als auch der neuen imperialistischen Diktatur Putins gibt.

Es ist aber bezeichnend für das Geschichtsbild von Polizei und Justiz, dass sie diese Verknüpfung mit Verbotsantrag und -begründung ebenfalls vorgenommen haben. Russland sei gleich der Sowjetunion – damit entsorgt oder relativiert man symbolisch auch die für den deutschen Imperialismus lästige Tatsache, dass die Rote Armee maßgeblich die Niederlage der Wehrmacht und des Naziregimes herbeigeführt, die Sowjetunion die Hauptlast bei der Befreiung vom Faschismus getragen hat.

Das Verbot der sowjetischen Fahnen stellt nicht nur einen Akt politischer Justiz, sondern einen politischen Skandal, eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer des Faschismus dar.

Nein zu reaktionären Fahnenverboten!

Das aktuelle Verbot stellt leider keinen Einzelfall dar. Schon 2022 hatte die Berliner Polizei ein skandalöses Verbot russischer und ukrainischer Nationalsymbole für Demonstrationen und Kundgebungen am 8. und 9. Mai, zum Tag der Befreiung, durchgesetzt. In diesem Jahr hoben die Gerichte jedoch die Verbote in der ersten Instanz auf – und gegen jene von ukrainischen Fahnen wurde zum Glück nicht geklagt. Es stellte natürlich auch einen Skandal dar, dass ukrainische Geflüchtete 2022 ihre Fahnen ebenfalls nicht tragen durften – trotz aller medial zur Schau gestellten „Solidarität“ der Regierenden.

Doch wir kennen reaktionäre solche Verbote auch zur Genüge gegen Kräfte des antiimperialistischen Widerstandes, seien es PKK-Fahnen und -Symbole, seien es solche von palästinensischen Organisationen.

Es handelt sich dabei um gesetzliche, polizeiliche und gerichtliche Maßnahmen zur Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Und jeder weitere Fall führt zur „Normalisierung“ dieser repressiven Praxis. Jedes weitere Verbot liefert der Polizei einen Vorwand zur Kontrolle und Schikane von Demonstrierenden. Die Angriffe auf das Demonstrations- und Versammlungsrecht sind natürlich kein Zufall, sondern eine Ergänzung zur verschärften imperialistischen Konfrontation, zur Militarisierung, zum Rassismus, zu Preiserhöhungen und zunehmender Verarmung. Und es gehört zur ideologischen Begleitmusik der „demokratischen“ Öffentlichkeit, alle, die die Politik ihres Staates, ihres Imperialismus kritisieren, als „Agent:innen“ der Gegenseite, in diesem Fall als Putin-Versteher:innen zu diffamieren. Davon dürfen wir uns nicht einschüchtern lassen! Daher müssen die Fahnenverbote wie jeder Angriff auf demokratische Rechte kritisiert und bekämpft werden.




USA: Eine Geschichte von zwei Erschießungen

Andy Yorke, Infomail 1172, 5. Dezember

Nach dem Freispruch des rechtsgerichteten Selbstjustizlers Kyle Rittenhouse am 19. November in den USA ist es zu massiven Kontroversen gekommen. Videos zeigen, wie Rittenhouse in Kenosha, Wisconsin, während eines Protests gegen die Polizei am 25. August 2020 zwei Demonstranten erschießt und mindestens einen weiteren verwundet, indem er dem unbewaffneten Schwarzen Jacob Blake sieben Mal in den Rücken schießt und ihn dadurch lähmt. Nach dem angekündigten Freispruch twitterte der ehemalige National-Football-League-Spieler Colin Kaepernik: „Wir haben soeben erlebt, wie ein System, das auf weißer Vorherrschaft aufgebaut ist, die terroristischen Handlungen eines weißen Verteidigers dieser Vorherrschaft bestätigt hat“. Vorhersehbarerweise haben rechtsgerichtete Gruppen und sogar Donald Trump selbst Rittenhouse als Helden bezeichnet.

Erstaunlich und erschreckend ist jedoch, dass einige Linke argumentieren, er sei kein Rassist oder Faschist, sondern habe sich einfach nur verteidigt, und diejenigen, die das Gegenteil behaupten, seien nur in einen angeblichen linksliberalen „Kulturkampf“ verwickelt. Wenn wir den Fall isoliert, sondern im Kontext des Rassismus in den USA, der Polizeigewalt und des Wachstums der extremen Rechten betrachten wird deutlich, dass die Morde und der Freispruch Teil eines rassistischen, rechtsgerichteten Systems sind.

Rittenhouse und die Realität

Nach den Schüssen auf Jacob Blake kam es in Kenosha zu Protesten – eine Fall in einer langen Reihe von Protesten seit Trayvon Martin, die eine breitere und wütendere Bewegung ausgelöst haben, die Gerechtigkeit fordert, die jedoch nur selten kommt. Der 17-jährige Rittenhouse nahm ein ArmaLite-AR-15-Gewehr und stand vor einer Tankstelle neben rechtsextremen Milizen Wache. Die Polizei gab ihnen sogar Wasser und dankte ihnen für ihr Kommen. Sie griff ihrerseits die DemonstrantInnen mit Tränengas und Gummigeschossen an, was zu einer wütenden Reaktion führte, bei der einige Gebäude verwüstet und in Brand gesetzt wurden. Ein völlig unbewaffneter, möglicherweise psychisch kranker Mann, Joseph Rosenbaum, sah Rittenhouse und „griff“ ihn an, möglicherweise um ihn zu entwaffnen. Er wurde von Rittnehouse in den Kopf geschossen, obwohl er wusste, dass Rosenbaum unbewaffnet war.

Andere, die den Mord sahen, identifizierten Rittenhouse als einen rechtsextremen „aktiven Schützen“ und versuchten, ihn zu entwaffnen. Anthony Huber wurde dabei erschossen, nachdem er Rittenhouse mit seinem Skateboard getroffen hatte – kaum eine tödliche Waffe. Gaige Grosskreutz, ein Sanitäter und Rechtsbeobachter der American Civil Liberties Union (Amerikanische Bürgerrechtsunion) auf der Demonstration, trug eine Handfeuerwaffe bei sich und sagte, er habe sich nicht dazu durchringen können, auf Rittenhouse zu schießen, und wurde seinerseits am Arm verwundet. Umstehende wiesen die Polizei auf Rittenhouse als den Schützen hin, der immer noch die Waffe trug, aber die Hände zum Aufgeben erhoben hatte, doch die Polizei fuhr vorbei, ohne ihn zu festzunehmen.

Manche sagen, es gehe nicht um Rassismus, weil er weiße AktivistInnen erschossen habe, die für „Black Lives“ protestierten – „Rassenverräter“ im Sprachgebrauch der extremen Rechten – oder sich nur verteidigt habe. Aber was gab Rittenhouse das Recht, sich zu „verteidigen“? Ist es nicht genauso vernünftig zu sagen, dass die DemonstrantInnen versuchten, sich und ihren Protest vor ihm zu verteidigen? Einige haben versucht, Rosenbaum für seinen eigenen Tod verantwortlich zu machen. Er hatte psychische Probleme und war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, verhielt sich aggressiv und es wurde in Frage gestellt, ob er überhaupt ein Demonstrant war, aber Tatsache ist, dass er niemanden bei der Demonstration angegriffen hat. Wenn Rittenhouse nicht nach Kenosha gefahren wäre, wäre niemand gestorben.

Der Prozess, der von einem rechtsgerichteten Richter geleitet wurde, zeigte, dass die gleiche Voreingenommenheit auch im amerikanischen „Justiz“-System herrscht. Der Richter verbot den StaatsanwältInnen, die drei erschossenen Männer als „Opfer“ zu bezeichnen und irgendetwas aus Rittenhouses Texten in sozialen Medien vor dem Mord zu erwähnen, was gezeigt hätte, dass er ein eifriger Pro-Trump- und Pro-Polizei-online-Aktivist war (er hatte eine Spendenaktion organisiert), der „Blue Lives Matter“ propagierte, die rechte, rassistische Unterstützung für die Polizei gegen „Black Lives Matter“. Ebenso wenig durften die AnwältInnen der Opfer ein Video anführen, an dem sie geltend machten, Rittenhouse habe vor einer CVS-Drogerie (CVS: Einzelhandelsunternehmen der Pharmaziebranche; Anm. d. Red.) zu schwarzen Menschen gesagt: „Junge, ich wünschte, ich hätte mein verdammtes Jagdgewehr und würde euch alle über den Haufen schießen.“ Seine Verteidigung hingegen durfte die Protestierenden als PlündererInnen und RandaliererInnen bezeichnen und damit im erweiterten Sinne auch die Opfer von Rittenhouse diffamieren, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass sie irgendetwas in dieser Richtung getan haben.

Dass Rittenhouse freigesprochen wurde, lag zum Teil an der Voreingenommenheit des Richters, zum Teil an den fast ausschließlich weißen Geschworenen und zum Teil an einem hochkarätigen Verteidigungsteam, das von der Rechten und von Polizeigruppen mit 2 Millionen US-Dollar ausgestattet wurde. Während des Prozesses zeigte er keine Reue gegenüber seinen Opfern. Als er im noch laufenden Verfahren gegen Kaution auf freiem Fuß war, wurde er in einer Kneipe mit Mitgliedern der faschistischen Proud Boys fotografiert, wobei er das auf dem Kopf stehende OK-Zeichen der weißen RassistInnen zeigte (er sagte, er wisse nicht, was es bedeute). Der Richter verbot auch dies, vor Gericht zu erwähnen. Ex-Präsident Trump beglückwünschte ihn und der Fox-Nachrichtensprecher Tucker Carlson verteidigte Rittenhouse und seine Taten und implizit auch jede/n, der/die seinem Beispiel folgt: „Wie schockiert sind wir darüber, dass 17-Jährige mit Gewehren beschlossen haben, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn es sonst niemand tut?“

Fakten oder sozialer Kontext

„Fakten“ haben immer eine soziale Bedeutung, wie die Umkehrung dieser Rollen zeigt. Wenn ein/e junge/r Schwarze/r mit einem automatischen Gewehr auf die Straße und in einen rechten Aufmarsch gegangen wäre und drei TeilnehmerInnen erschossen hätte, wäre er/sie wahrscheinlich von der Polizei getötet worden, noch bevor sich die „DemonstrantInnen“ um ihn/sie kümmern konnten. Wäre diese Person verhaftet worden, hätte sie mit ziemlicher Sicherheit eine sehr lange Gefängnisstrafe oder in einem anderen Staat sogar die Todesstrafe erhalten. Wenn ein/e weiße/r Linke/r das Gleiche getan hätte, wäre er/sie mit Sicherheit viel schlechter behandelt worden als Rittenhouse. Es ist also nicht nur eine Frage des weißen Privilegs, sondern auch der inhärenten arbeiterInnenfeindlichen und gegen Linke voreingenommenen Haltung der „dünnen blauen“ Frontlinie des Staates, der Polizei und des dahinter stehenden Justiz- und Gefängnissystems im Kapitalismus.

Tragischerweise haben wir den Beweis dafür. Am 28. August 2020, drei Tage nach den vielbeachteten Morden in Kenosha, erschoss der antifaschistische Aktivist Michael Reinoehl in Portland, Oregon, den rechtsextremen Gegendemonstranten Aaron Danielson. Danielson war zu diesem Zeitpunkt mit gefährlichem Pfefferspray, einem ausziehbaren Polizeischlagstock und einem Gewehr bewaffnet. Nachdem er tagsüber an einem provokativen Pro-Trump-Konvoi teilgenommen und getrunken hatte, waren Danielson und ein weiterer, ebenfalls bewaffneter Angehöriger der rechtsextremen Gruppe Patriot Prayer absichtlich in eine Antipolizeidemonstration gelaufen. Reinoehl hatte das gleiche „Recht“, sich zu verteidigen wie Rittenhouse, und er erklärte vor und nach der Schießerei, er habe versucht, die DemonstrantInnen vor rechtsextremen Anschlägen zu schützen.

Aber das Ergebnis hätte nicht unterschiedlicher sein können. Bei der polizeilichen Fahndung nach Reinoehl wurde dieser einige Tage später von BundespolizistInnen erschossen, ohne dass ein Versuch unternommen wurde, ihn festzunehmen, wie Zeugen berichten, die auch sagen, dass er seine Waffe nicht gezogen hatte. Trump, der Reinoehl zuvor als „kaltblütigen Mörder“ bezeichnet hatte, sagte unter dem Jubel seiner Fans: „Wir haben ihn erwischt“: „Dieser Mann war ein gewalttätiger Krimineller, und die US-Marschalls haben ihn getötet. Und ich sage euch etwas, so muss es sein. Es muss Vergeltung geben.“

Trump hat wiederholt auf das Schreckgespenst des „linksradikalen Faschismus“ und der Antifagewalt eingehämmert, während er sich weigerte, die tatsächliche organisierte Gewalt der Rechten und der Polizei zu verurteilen, ja Kommentare wie der obige schüren sie sogar noch. Doch Danielsons Tod war die erste aufgezeichnete Tötung durch einen Antifaschisten, verglichen mit 329 Morden durch weiße RassistInnen und andere RechtsextremistInnen, wie aus einem 25 Jahre zurückreichenden Bericht des Zentrums für strategische und internationale Studien (CSIS) hervorgeht. Außerdem wurde festgestellt, dass die Rechte im Jahr 2020 für 67 Prozent der inländischen Terroranschläge und -komplotte verantwortlich war, wobei die Hälfte dieser Gewalt gegen DemonstrantInnen gerichtet war. Darüber hinaus ist die Polizei von weiß-suprematistischen Gruppierungen durchsetzt.

Trump, Fox News und die Rechten stellen die Realität auf den Kopf, indem sie eine ideologische Blase aus Bedrohung und linker Verschwörung aufpeitschen, um die Unterdrückung antirassistischer Proteste durch Polizei und Milizen zu entschuldigen und zu ermöglichen. Letztlich sind sie mitverantwortlich für die Morde Rittenhouses.

„Wir dürfen nicht voreingenommen sein“?

Einige haben behauptet, dass die Linke, wenn die Situation umgekehrt wäre, die Angeklagten verteidigen und ihren Freispruch unterstützen würde. Deshalb müssten wir Rittenhouse anders behandeln.

Die Wahrheit ist, dass Linke nicht auf rechtsextreme Demos schlendern, weil sie gelyncht würden. RechtsextremistInnen tun dies so selbstbewusst, um die DemonstrantInnen einzuschüchtern oder zu provozieren, weil sie wissen, was der Fall Rittenhouse bewiesen hat: Die Polizei, die Gerichte, republikanische PolitikerInnen und ein Großteil der Medien werden sie verteidigen. Trotz der Anwesenheit einzelner DemonstrantInnen mit Handfeuerwaffen ist die Linke im Allgemeinen unbewaffnet. Die kleinen, organisierten bewaffneten Reaktionen, die sich entwickelt haben, sind defensiv, eine schützende Antwort auf rechtsextreme Gewalt, aber auch unzureichend. Die Polizei wird sie angreifen, statt ihnen zu danken. In der Zwischenzeit bilden bewaffnete Mobilisierungen zur Einschüchterung oder zum Angriff auf die Linke und Minderheiten den einzigen Grund für die Existenz faschistischer Milizen.

Beide Ergebnisse, der Freispruch von Rittenhouse und der Polizistenmord an Reinoehl, wurden von der extremen Rechten gefeiert, allen voran von Trump. Ein Proud Boy erklärte, die Gewalt werde erst aufhören, wenn die Leichen der Linken „wie Klafter Holz aufgestapelt sind“. Die Lehre aus dem Fall Rittenhouse lautet, dass die Rechten unsere Demos ungestraft kontrollieren, einschüchtern und unterdrücken können, die aus dem Fall Reinoehl, dass das System sie verteidigen wird, wenn wir uns wehren. Die Urteile werden die Rechten nur ermutigen, die darin einen Freibrief sehen werden, ihre bewaffnete „Sicherheit“ auf unseren Protesten zu verstärken. Die einzige Antwort besteht in organisierter Selbstverteidigung.

SozialistInnen unterstützen das Recht der ArbeiterInnen und Unterdrückten, sich selbst zu verteidigen, von der Streikpostenkette bis zu den „Black Panthers“. Wir stellen uns nicht auf die Seite der Polizei und der Gerichte, wenn sie die Armen verurteilen und kriminalisieren, weil sie nach Polizistenmorden aufbegehren, Polizeistationen niederbrennen, auf denen sie festgesetzt, geschlagen und eingesperrt wurden, oder Geschäfte für die Dinge plündern, die der Kapitalismus anpreist, die sie sich aber nicht leisten können.

Ausschreitungen sind jedoch keine Lösung. Nur eine Massenbewegung, die sich auf Organisationen mit gewählten Delegierten aus Nachbarschaftskomitees, Gewerkschaftsgruppen und Betrieben, Hochschulen und Schulen sowie linken und antirassistischen Organisationen stützt, kann einen anhaltenden Massenkampf für Gleichheit und Gerechtigkeit führen. Dieser Kampf wäre zwar überwiegend politisch, um die Polizei zu entwaffnen und ihnen die Geldmittel zu entziehen und den Gefängnisstaat abzubauen, doch müsste eine solche Bewegung die Verteidigung ihrer Proteste und Gemeinden gegen rechtsextreme oder polizeiliche Gewalt „mit allen notwendigen Mitteln“ organisieren. Als Bewegung der Armen und der ArbeiterInnenklasse könnte sie zwangsläufig dazu beitragen, die Kräfte für die Beseitigung des Kapitalismus selbst aufzubauen, da dies der einzige Weg ist, die Welt von Rassismus und Polizei zu befreien.




Bundesverfassungsgericht kassiert Berliner Mietendeckel, aber der Kampf geht weiter

Karl-Heinz Hermann/Martin Suchanek, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Das Kapital weiß Siege zu feiern. Mit dem Urteil von Karlsruhe verbesserte sich nicht nur die Laue der ImmobilienbesitzerInnen, sondern auch der Aktienkurs von Deutsche Wohnen und Co. Mit einem satten Plus von 2,72 Prozent war der Konzern nicht nur Gewinner vor dem Verfassungsgericht, sondern auch an der Frankfurter Börse.

Kapital in Feierlaune

Der Präsident des Bundesverbands freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen jubelt ob der nunmehr erreichten „Rechtssicherheit“. Nun können Mieten wieder „marktgerecht“ erhöht, erhoben, nachgefordert werden, wie es sich in der freien Marktwirtschaft eben gehört. Die SiegerInnen feiern nicht nur das Verfassungsgericht, das endlich für Recht und Ordnung gesorgt habe, sondern geben den Besiegten vom Berliner Senat und den 1,5 Millionen MieterInnen, denen massive Nachzahlungen drohen, auch noch eine Gratis-Lehrstunde in Sachen Angebot und Nachfrage. Wer gegen dieses heilige, für kapitalistische Freiheit so grundlegende Gesetz verstoße, bräuchte sich über eine Niederlage vor Gericht nicht zu wundern. Diese wäre schließlich nur eine gerechte Strafe für den Versuch, eine zum Naturgesetz verklärte angebliche Spielregel des Marktes aushebeln zu wollen. So betrachtet, erscheint die gesamte Wohnungsnot nicht als Resultat des Wirkens der Gesetze des Kapitalismus, sondern eines Verstoßes gegen diese.

Großzügig stellen einige SiegerInnen von Karlsruhe sogar in Aussicht, auf die Nachzahlung der gedeckelten Miete ganz oder teilweise verzichten zu wollen. So erklärt die Vonovia, mit 42.000 Wohnungen immerhin zweigrößter privater Immobilienkonzern in Berlin, auf eine Nachzahlung der gedeckelten Miete großzügig verzichten zu wollen, dass den MieterInnen „keine finanziellen Nachteile aufgrund getroffener politischer Entscheidungen“ erwachsen sollen. Die „Kosten“ für die soziale Beruhigungspille und Werbemaßnahme in eigener Sache werden 10 Millionen Euro veranschlagt und sind wohl schon bei zukünftigen Mietpreiserhöhungen einkalkuliert. Weniger spendabel gibt sich der Berliner Marktführer Deutsche Wohnen, dem über 100.000 Wohnungen in der Stadt gehören. Auf eine Nachforderung könne man leider nicht verzichten – schließlich würde das „unseren Verpflichtungen gegenüber dem Unternehmen, seinen Mitarbeitern und Eigentümern nicht gerecht werden“.

Altehrwürdiges Gericht

Folgt man den Klagenden in Karlsruhe, so hätte also nicht nur ein Kapitalinteresse, sondern auch gleich die Gerechtigkeit an sich gesiegt.

Zurück geht der Entscheid des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auf eine Klage von 284 Abgeordneten der Bundestagsfraktionen von Union und FDP. Sie hatten vor geraumer Zeit eine Normenkontrollklage gegen das „Gesetz zur Mietbegrenzung im Wohnungswesen“ des Landes Berlin angestrengt. Die Karlsruher RichterInnen durften auch die formale Frage klären, ob Bundesländer überhaupt Mieten regulieren dürfen oder dies allein dem Bund vorbehalten ist – ein Punkt, der auf den Bundesbauminister Horst Seehofer zurückgeht.

Bemerkenswert war schon, dass über das wichtige sozialpolitische Projekt vom Gericht alles andere als üblich ohne Anhörung entschieden wurde. VerfahrensbeobachterInnen fragen sich außerdem, ob das Prozedere im Einklang mit dem Ersten Senat des Gerichts erfolgte, der als Erstes mit dem Thema befasst war, bevor der als konservativer geltende Zweite Senat übernahm. Auch dies verdeutlicht nur, dass es sich bei dem Verfahren auch um eine wichtige Klassenfrage handelte.

Das Urteil verkörpert eine krachende Niederlage für den Berliner Senat, aber v. a. für die MieterInnen von rund 1,5 Millionen Wohnungen in der Bundeshauptstadt, die unter das Gesetz fallen. Demnach ist der Mietendeckel grundsätzlich illegal, eine irgendwie geartete Mietpreisbremse alleinige Bundessache. Juristische Hoffnungen der AnhängerInnen des Gesetzes richteten sich zum einen auf einen Schiedsspruch des Verwaltungsgerichts Berlin, das den Eilantrag eines Vermieters zurückgewiesen hatte, dem das Bezirksamt Pankow eine Mieterhöhung untersagt hatte. Der Mietstopp liege einerseits durchaus in der Gesetzgebungskompetenz des Bundeslandes, andererseits sei eine politisch festgesetzte Preisgrenze eine Ausnahmeregelung, die zeitweilig die Vorschriften des bürgerlichen Rechts überlagere. Wegen ihrer zeitlichen Befristung sei sie aber mit dem Eigentumsgrundrecht vereinbar und den VermieterInnen zuzumuten.

Zum anderen hatte der zuständige Berichterstatter des Zweiten Senats, Peter M. Huber, vor seiner Wahl zum Verfassungsrichter ein Jahr lang CDU-Innenminister in Thüringen, beim Deutschen Juristentag 2004 sich in der damaligen Föderalismusdebatte dafür ausgesprochen, den Ländern die Zuständigkeit fürs Wohnungswesen zu gewähren. Dies sei aufgrund regionaler Unterschiede in diesem Sektor geboten.

Zum Dritten hatte der Erste Senat im März 2020 einen Antrag auf vorläufige Außerkraftsetzung der Bußgeldvorschriften abgelehnt und zumindest keine grundsätzlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Landesgesetzes geäußert.

Diese auf juristische Spitzfindigkeiten gegründeten Hoffnungen sind nun so gründlich zerstoben wie das Laub im Herbststurm: April, April – das BVerfG macht, was es will!

Der Mietendeckel

Das Vertrauen in Justiz und Staat bei der Verteidigung von Reformen erwies sich einmal mehr als naiv und kurzsichtig. Einen Plan B zur Durchsetzung des Gesetzes haben der Berliner Senat und seine Parteien, ob SPD, Grüne oder Linkspartei allesamt nicht vorzuweisen, es sei denn, man hält die Forderung, dass nun „der Bund“ also die Bundesregierung oder eine Parlamentsmehrheit, die gerade die Klage in Karlsruhe unterstützt hatte, für einen Plan.

Wir haben schon im Artikel „Berliner Mietendeckel: Mietenbremse oder Trostpflaster?“ dargelegt, worin die Grenzen und Schwächen des gesamten Reformvorhabens bestanden.

Die Mieten in ca. 1,5 Millionen Wohnungen sind seit Ende Februar 2020 für 5 Jahre auf dem Stand vom 18. Juni 2019 eingefroren, dem Tag der Verabschiedung des Gesetzes. Bei Mietverträgen, die nach diesem Stichtag abgeschlossen wurden, darf höchstens die Vormiete derselben Wohnungen bzw. die niedrigere Mietobergrenze verlangt werden oder im Falle, dass die Vormiete darunter lag, die Obergrenze. Ab 2022 dürfen die VermieterInnen jährlich 1,3 % mehr kassieren. Das nennt sich „atmender“ Mietendeckel.

Ausgenommen vom Gesetz sind Neubauwohnungen, die nach dem Jahr 2014 gebaut wurden und Sozialwohnungen, die besonders bezuschusst werden. Seit vergangenem Herbst durften in einer 2. Stufe sogar überhöhte Mieten abgesenkt werden. Neben den o. a. Ausnahmen stellt das individuelle Antragsverfahren ein weiteres Loch im Deckel dar, denn natürlich erfolgt der Preisstopp nicht automatisch und von Amts wegen – das wäre ja für diesen BeamtInnenstaat zu einfach.

Bei allen Mängeln hat der Deckel natürlich eine, wenn auch viel zu geringe finanzielle Entlastung von immerhin 1,5 Millionen Menschen gebracht.

MieterInnen brauchen eine Perspektive – jetzt!

Diese MieterInnen müssen nun die Folgen des Schandurteils von Karlsruhe ausbaden. Sie müssen nicht nur wieder höhere Mieten zahlen, sondern evtl. auch noch Rückzahlungen in Höhe der Differenz leisten müssen, die den VermieterInnen durch das Berliner Gesetz entstanden sind. Die durchschnittliche Höhe dieser Nachzahlungen wird auf 1000,- Euro pro MieterIn geschätzt. Im schlimmsten Fall verlieren sie die eigene Wohnung aufgrund dieser Forderungen oder überhöhten Preisen. Schätzungen zufolge droht in den kommenden Monaten rund 40.000 Personen die Kündigung.

Der Berliner Senat verspricht zwar Hilfe für alle, die von Nachzahlungen betroffen sein werden. Doch selbst wenn diese unbürokratisch und in vollem Ausmaß erfolgen sollte, stellt sie bestenfalls ein zeitlich befristetes soziales Trostpflaster dar. Mieterhöhung und Preissteigerungen müssen die MieterInnen ab jetzt zu 100 % selbst zahlen.

Angesichts der massiven Wut, die Hunderttausende in Berlin verspüren, angesichts des sozialen Skandals werden wohl Zehntausende mehr die Forderung nach Enteignen von Deutsche Wohnen und Co. unterstützen. Ein Ja zum Volksentscheid im September wäre eine richtige Quittung für die Wohnungsbaulobby, für CDU, FDP und AfD, aber auch alle Volksbegehrens-BlockerInnen im Senat, allen voran die SPD-Rechte.

Die 1,5 Millionen MieterInnen können und sollen aber nicht bis zu den Bundestagswahlen warten. Sie können sich auch nicht auf die Rechtssicherheit einer etwaigen Mehrheit bei einer Volksabstimmung verlassen. Auch ein Volksentscheid in Berlin kann in Karlsruhe kassiert werden, auch wenn es tausende Rechtsgutachten gibt, die ihn für „verfassungssicher“ halten. Es braucht also, nebenbei bemerkt, auch DWE  einen Plan B, will es nicht dasselbe Schicksal wie der Senat erleiden.

Das Urteil von Karlsruhe zeigt nämlich eines. Letztlich sind Fragen wie die Durchsetzung des Mietendeckels oder der Enteignung keine bloß juristischen. Im Rechtsstreit treten soziale und Klassenfragen vielmehr selbst schon in einer für die bürgerliche Gesellschaft regulierten, im Rahmen der Marktwirtschaft verbleibenden Form auf.

Diese können, wie jede errungene soziale Reform verdeutlicht, zeitweilig durchaus zugunsten der Lohnabhängigen, der Masse der MieterInnen verschoben werden. Aber die juristische Auseinandersetzung ist dabei letztlich nur Beiwerk.

Entscheidend ist es, den Konflikt mit den Mitteln des Klassenkampfes auszutragen. Die riesige Demonstration nur wenige Stunden nach dem Urteil von Karlruhe, als sich in Berlin gut 25.000 Menschen versammelten, verdeutlicht, dass das Potential und die Wut für einen solchen Kampf vorhanden sind. Doch um daraus eine Bewegung zu machen, braucht es jetzt klare Schritte im Kampf und zur Organisierung.

Verteidigt den Mietendeckel!

Karlsruhe hat den Mietendeckel zwar kassiert, er sollte aber nicht kampflos aufgegeben werden. Wir schlagen vielmehr vor:

  • Alle MieterInneninitiativen wie Mietenwahnsinn stoppen, Deutsche Wohnen und Co. enteignen, die Berliner MieterInnenverbände, Bündnisse wie Hände Weg vom Wedding, aber auch die Gewerkschaften, Linkspartei und SPD-Verbände fordern wir auf, sich zu einem Aktionsbündnis zur Verteidigung des Mietendeckels und dessen Durchsetzung zusammenzuschließen.
  • Ein solches Aktionsbündnis darf nicht auf Vereinbarungen von SpitzenvertreterInnen der verschiedenen Parteien und Organisationen beschränkt sein, es muss sich vielmehr auf deren Basis, die Masse der MieterInnen in Betrieben, an Unis, Schulen und vor allem auch in den Wohnhäusern stützen. Erst recht  darf die Bildung eines solchen Bündnisses davon abhängig gemacht werden, ob auch die lahmsten Senatsmitglieder oder VertreterInnen der Senatparteien mitmachen oder ob ihnen die Aktionsformen eines solchen Bündnisse harm- und wirkungslos genug erscheinen.
  • Dazu müssen Massenversammlungen in den Stadtteilen und Betrieben organisiert, örtliche oder betriebliche Aktionsbündnissen und Strukturen gebildet, die auf Landesebene gebündelt und koordiniert werden. Daher sollte auch rasch eine Aktionskonferenz einberufen werden, um diese Vorschläge zu diskutieren, lokale Initiativen sowie stadtweite Bündnisse zu koordinieren und zusammenzufassen.
  • Ein Aktionsbündnis sollte um die einfache Forderung gegründet werden: Verteidigt den Mietendeckel! Keinen Cent mehr für die WohnungsbesitzerInnen!
  • Die Nachzahlung und Erhöhungen der Mieten sollten verweigert werden durch einen kollektiven und organisierten Boykott. Von den Senatsparteien ist einzufordern, dass sie eine solche Bewegung für ihren Mietendeckel verteidigen und gegen sie nicht repressiv vorgehen.
  • Auch wenn von SPD, Linkspartei, Grünen gefordert werden muss, dass sie keine Zwangsräumungen durchführen und gegen eine solche Bewegung nicht vorgehen, so dürfen wir uns nicht darauf verlassen. Die Bewegung muss Strukturen und Mobilisierungen gegen Zwangsräumungen, Pfändungen von MieterInnen usw. aufbauen.
  • Dazu muss sie sich auf eigene Strukturen und Aktionen wie Massendemonstrationen stützen. Von den Gewerkschaften im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft muss sie die Organisierung politischer Streiks zur Verteidigung des Mietendeckels und im Kampf gegen jede Repression einfordern.

Eine solche Perspektive ist ohne eine Radikalisierung der Bewegung und den Aufbau von Kampforganen ebendieser nicht zu haben. Wir sind uns im Klaren, dass nicht nur die bürgerlichen Grünen, die rechtssozialdemokratische SPD oder die Gewerkschaftsapparate alles tun werden, um die Entstehung einer solchen Bewegung zu blockieren oder ihr die Spitze zu nehmen. Das trifft letztlich auch auf die Führungen der Linkspartei oder vieler MieterInnenverbände zu.

Aber um eine Massenbewegung aufzubauen, ist es unerlässlich, diese Organisationen und ihre Mitglieder, WählerInnen und AnhängerInnen in Bewegung zu bringen – und das schließt auch ein, Forderungen an sie und ihre Führungen zu stellen, um sie dem Praxistest auch in den Augen ihrer UnterstützerInnen zu unterziehen. Nur im Rahmen realer Kämpfe und deren Radikalisierung wird es möglich sein, diese Bewegung selbst so weit zu treiben, dass sie in der Praxis über die Hoffnung auf Gerichte und bürgerliches Recht hinausgeht. So kann die Verteidigung des Mietendeckels zu einem Schritt werden im Kampf um die entschädigungslose Enteignung der Wohnbaugesellschaften und Immobilienhaie unter Kontrolle der MieterInnen und der ArbeiterInnenklasse!




Gesetze zur Mietenbegrenzung: Von löchrigen Deckeln und zaghaften Bremsen

Lucien Jaros/Jürgen Roth, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Egal ob Mietpreisbremse, Milieuschutz, Wohnraumversorgungsgesetz oder Mietendeckel: Die Mieten in der Hauptstadt sind in den letzten Jahren trotzdem explodiert. Dass die Idee eines Mietendeckels konkrete Formen annahm, war sicher erstmal ein Erfolg, weniger einer sozialen Politik der Regierungsparteien (SPD, Linke, Grüne), sondern des Druckes der MieterInnenbewegung und Projekte wie des Volksbegehrens zur Vergesellschaftung der größten Wohnkonzerne in Berlin (Deutsche Wohnen & Co. Enteignen) auf diese Parteien.

Bevor der jüngst vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kassierte Landesmietendeckel überhaupt in Kraft trat, hatte der Bund im April 2015 durch das landläufig als Mietpreisbremse bezeichnete Mietrechtsnovellierungsgesetz 3 neue Paragraphen (556d, e und f) in das BGB eingefügt.

Mietpreisbremse, Kappungsgrenze, Wohnraumoffensive

Demnach konnten die Landesregierungen bis 2020 „Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten“ für die Dauer von höchstens 5 Jahren festlegen. Dort darf bei Abschluss eines neuen Vertrags der Mietpreis die ortsübliche Vergleichsmiete um max. 10 % übersteigen, falls nicht mit dem/r VormieterIn ein Jahr vor Ende des Mietvertrags eine höhere Miete vereinbart war, die dann die Obergrenze markiert. Die Mietpreisbremse gilt in ca. 300 Gemeinden bzw. Teilen davon, jedoch nicht in allen Bundesländern. MieterInnen müssen gegen eine überhöhte Miete zur Not klagen und eine Senkung beantragen. Oft fehlen ihnen aber schon die Informationen über die Höhe der Vor- oder ortsüblichen Vergleichsmiete. Mehrere Studien belegen, dass die Bremswirkung schwach ist. In Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten wurde bei 60 bis über 90 % der Neuvermietungen der Richtsatz überschritten. Neubauten (ab Oktober 2014) und Modernisierungen blieben zudem ausgenommen.

Am 1.1.2019 trat ein neues Mietrechtsanpassungsgesetz in Kraft mit geringfügigen Verbesserungen: Die Mietpreisbremse wurde bis 2025 verlängert; VermieterInnen müssen Auskunft geben, wenn die Vergleichsmiete um mehr als 10 % überschritten wird; die Modernisierungsumlage wurde auf 8 % (statt 11 %) pro Jahr gesenkt; nach Modernisierung darf die Miete binnen 6 Jahren um max. 3 Euro/m2 erhöht werden; MieterInnen können auf Antrag zu viel gezahlte Miete zurückfordern; in die ortsübliche Vergleichsmiete fließen die letzten 6 (statt 4) Jahre ein.

Die Bundesländer haben mit der Kappungsgrenze ein weiteres schwaches Mittel in der Hand. Sie können Gebiete benennen, in denen Mieterhöhungen binnen 3 Jahren nicht mehr als 15 % betragen dürfen (das BGB erlaubt 20 %). Auch dieses Instrument wird nur in wenigen Bundesländern angewandt und die Gemeinden dürfen es nicht selbstständig beschließen. Es soll zudem in NRW und Schleswig-Holstein wieder abgeschafft werden. Auch hier müssen MieterInnen Anträge stellen. Darüber hinaus gilt die Kappungsgrenze wie die Mietpreisbremse auch nur für Bestandsmieten und diese müssen schon deutlich unter der Vergleichsmiete liegen, weil diese eh nicht überschritten werden darf.

2018 wiederum startete die Bundesregierung eine Wohnraumoffensive mit den Zielen: Fertigstellung von 1,5 Millionen Wohnungen im Lauf dieser Legislaturperiode; Maßnahmen zur altersgerechten und energetischen Sanierung; neue Sozialwohnungen; Stärkung der MieterInnenrechte. Die Gewerkschaft BAU rechnet mit max. 1,2 Millionen Neubauwohnungen bis Ende 2021. Die Zahlen würden außerdem durch einen statistischen Trick aufgehübscht, weil Baugenehmigungen und unfertige Bauten mitzählten. Mit den in der Legislaturperiode ausgegebenen 5 Milliarden Euro für Baukindergeld, von dem nur EigenheimbesitzerInnen profitieren, könnten eigentlich 115.000 Sozialwohnungen errichtet werden. Sozialverband VdK und BAU beklagen außerdem völlig zu Recht, dass Bauen allein nicht reicht. Die Mieten gingen durch die Decke, während alle 12 Minuten eine Sozialwohnung durch Fristablauf aus der staatlich begrenzten Mietpreisbindung herausfiele (60.000 pro Jahr). Zwischen 2002 und 2019 seien 1,2 Millionen Sozialwohnungen verloren gegangen, also die Hälfte des Bestandes seit Anfang des Jahrtausends.

In Memoriam: Berliner Mietendeckel

Die Mieten in ca. 1,5 Millionen Wohnungen waren während der Gültigkeit des Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin – vom Volksmund Mietendeckel getauft – seit Ende Februar 2020 für 5 Jahre auf dem Stand vom 18. Juni 2019 eingefroren, dem Tag der Verabschiedung des Gesetzes. Bei Mietverträgen, die nach diesem Stichtag abgeschlossen wurden, durfte höchstens die Vormiete derselben Wohnungen bzw. die niedrigere Mietobergrenze verlangt werden oder im Falle, dass die Vormiete darunter lag, die Obergrenze. Ab 2022 hätten die VermieterInnen jährlich 1,3 % mehr kassieren dürfen. Das nannte sich dann „atmender“ Mietendeckel.

Kern des Gesetzes war entsprechend eine Tabelle mit Obergrenzen, die sich von Baujahr und Ausstattungsmerkmalen ableiteten und deren Basis der Mietspiegel von 2013 war, als die Mieten schon deutlich anzogen. Die Obergrenzen umfassten dabei lediglich Neuvermietungen in vor 2014 bezugsfertigen Häusern und ließen auch immer noch gewisse Erhöhungen zu. Ein genereller Mietenstopp war der Deckel also nie.

Ausgenommen vom Gesetz waren Neubauwohnungen, die nach dem Jahr 2014 gebaut wurden und Sozialwohnungen, die besonders bezuschusst werden. Seit vergangenem Herbst durften in einer 2. Stufe sogar überhöhte Mieten abgesenkt werden. Ein weiteres klaffendes Loch im Deckel stellte das individuelle Antragsverfahren bei zu hoher Miete dar, denn natürlich erfolgte der Preisstopp nicht automatisch und von Amts wegen.

Das im Gesetz enthaltene Verbot von Möblierungszuschlägen wurde von manchen VermieterInnen umgangen, indem sie die Einrichtung an das Start-up mbly über eine monatliche Ratenzahlung verkauften, das wiederum einen Vertrag mit dem/r MieterIn über das Mobiliar abschloss. Die Berliner Stadtentwicklungsverwaltung beschloss eine neue Ausführungsverordnung im Februar 2021, die solche Praktiken unterbinden sollte.

Dass die Begrenzung der Modernisierungszulage nichts brachte, zeigte die Praxis Vonovias, als diese z.B. den Ersatz 30 bis 50 Jahre alter Fenster, die ohnehin ausgetauscht werden müssten, also eine nicht umlagefähige Instandhaltung, als Modernisierung mit entsprechendem Aufschlag berechneten.

Was dem Deckel völlig fehlte war, dass Obdachlosigkeit durch Verlust des Wohnraums in Folge von Mietpreissteigerung ausgeschlossen wird. Eine Pflicht, einen Teil der Wohnungen für besonders Bedürftige (Obdachlose, Geflüchtete, sexuell Unterdrückte und Jugendliche) bereitzustellen und leicht zugänglich zu machen, fehlte ebenso.

Vergangenheit

Bei allen Mängeln stellte der Deckel natürlich eine deutliche Verbesserung ggü. den bisherigen und immer noch in Kraft stehenden Bundesregelungen dar und hat eine, wenn auch viel zu geringe finanzielle Entlassung von immerhin 1,5 Millionen Menschen gebracht.

Doch selbst dies ist nun Vergangenheit. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Nichtigkeit des Deckels ging dieser in die Geschichtsbücher über – Deckel auf den Deckel, Klappe zu, die Länder hätten im Mietrecht nichts zu entscheiden.

Und was lernen wir daraus? Dass es fatal ist, den Kampf der MieterInnenbewegung auf rein rechtlicher Ebene zu führen, um Gesetze und Parlamentsbeschlüsse, so wichtig diese in Teilen auch sein mögen. Aber ohne die direkte demokratische Kontrolle über den Wohnraum durch MieterInnen und die ArbeiterInnenklasse selbst, z.B. durch Wohnhauskomitees oder Stadtteilräte wird auch der dichteste Deckel durch Staat und Immobilienkonzerne mit Leichtigkeit vom Topf gehoben…

  • Mietenstopp mit absoluten Obergrenzen statt einen löchrigen Mietensieb!
  • Obergrenzen müssen für alle Mietwohnungsarten gelten (auch für öffentlich geförderte, Wohnheime, Sozialwohnungen, WBS-Mieten)!
  • Mietsenkung auf 30 % des Haushaltseinkommens, wenn diese Schwelle trotz Obergrenze überschritten wird!
  • Kontrolle der Mietpreise und diskriminierungfreie Mietvergabe durch Kontrolle durch unabhängige demokratische Organe der MieterInnen und Gewerkschaften!
  • Verwaltung vergesellschafteten Wohnraums und einer Anstalt des öffentlichen Rechts durch MieterInnenräte und VertreterInnen der Beschäftigten!
  • Anpassung der Löhne an die Mietpreiserhöhungen und steigende Lebenshaltungskosten!



Bundesverfassungsgericht kassiert Berliner Mietendeckel, aber der Kampf geht weiter

Karl-Heinz Hermann/Martin Suchanek, Infomail 1146, 16. April 2021

Das Kapital weiß Siege zu feiern. Mit dem Urteil von Karlsruhe verbesserte sich nicht nur die Laune der ImmobilienbesitzerInnen, sondern auch der Aktienkurs von Deutsche Wohnen und Co. Mit einem satten Plus von 2,72 Prozent war der Konzern nicht nur Gewinner vor dem Verfassungsgericht, sondern auch an der Frankfurter Börse.

Der Präsident des Bundesverbands freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen jubelt ob der nunmehr erreichten „Rechtssicherheit“. Nun können Mieten wieder „marktgerecht“ erhöht, erhoben, nachgefordert werden, wie es sich in der freien Marktwirtschaft eben gehört. Die SiegerInnen feiern nicht nur das Verfassungsgericht, das endlich für Recht und Ordnung gesorgt habe, sondern geben den Besiegten vom Berliner Senat und den 1,5 Millionen MieterInnen, denen massive Nachzahlungen drohen, auch noch eine Gratislehrstunde in Sachen Angebot und Nachfrage. Wer gegen dieses heilige, für kapitalistische Freiheit so grundlegende Gesetz verstoße, bräuchte sich über eine Niederlage vor Gericht nicht zu wundern. Diese wäre schließlich nur eine gerechte Strafe für den Versuch, eine zum Naturgesetz verklärte angebliche Spielregel des Marktes aushebeln zu wollen. So betrachtet, erscheint die gesamte Wohnungsnot nicht als Resultat des Wirkens der Gesetze des Kapitalismus, sondern eines Verstoßes gegen dieses.

Großzügig stellen einige SiegerInnen von Karlsruhe sogar in Aussicht, auf die Nachzahlung der gedeckelten Miete ganz oder teilweise verzichten zu wollen. So erklärt Vonovia, mit 42.000 Wohnungen immerhin zweigrößter privater Immobilienkonzern in Berlin, auf eine Nachzahlung der gedeckelten Miete großzügig verzichten zu wollen, dass den MieterInnen „keine finanziellen Nachteile aufgrund getroffener politischer Entscheidungen“ erwachsen sollen. Die „Kosten“ für die soziale Beruhigungspille und Werbemaßnahme in eigener Sache werden auf 10 Millionen Euro veranschlagt und sind wohl schon bei zukünftigen Mietpreiserhöhungen einkalkuliert. Weniger spendabel gibt sich der Berliner Marktführer Deutsche Wohnen, dem über 100.000 Wohnungen in der Stadt gehören. Auf eine Nachforderung könne man leider nicht verzichten – schließlich würde das „unseren Verpflichtungen gegenüber dem Unternehmen, seinen Mitarbeitern und Eigentümern nicht gerecht werden“.

Altehrwürdiges Gericht

Folgt man den Klagenden in Karlsruhe, so hätte also nicht nur ein Kapitalinteresse, sondern auch gleich die Gerechtigkeit an sich gesiegt.

Zurück geht der Entscheid des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auf eine Klage von 284 Abgeordneten der Bundestagsfraktionen von Union und FDP. Sie hatten vor geraumer Zeit eine Normenkontrollklage gegen das „Gesetz zur Mietbegrenzung im Wohnungswesen“ des Landes Berlin (Mietendeckel) angestrengt. Die Karlsruher RichterInnen durften auch die formale Frage klären, ob Bundesländer überhaupt Mieten regulieren dürfen oder dies allein dem Bund vorbehalten ist – ein Punkt, der auf den Bundesbauminister Horst Seehofer zurückgeht.

Bemerkenswert war schon, dass über das wichtige sozialpolitische Projekt vom Gericht alles andere als üblich ohne Anhörung entschieden wurde. VerfahrensbeobachterInnen fragen sich außerdem, ob das Prozedere im Einklang mit dem Ersten Senat des Gerichts erfolgte, der als Erstes mit dem Thema befasst war, bevor der als konservativer geltende Zweite Senat übernahm. Auch dies verdeutlicht nur, dass es sich bei dem Verfahren auch um eine wichtige Klassenfrage handelte.

Das Urteil verkörpert eine krachende Niederlage für den Berliner Senat, aber v. a. für die MieterInnen von rund 1,5 Millionen Wohnungen in der Bundeshauptstadt, die unter das Gesetz fallen. Demnach ist der Mietendeckel grundsätzlich illegal, eine irgendwie geartete Mietpreisbremse alleinige Bundessache. Juristische Hoffnungen der AnhängerInnen des Gesetzes richteten sich zum einen auf einen Schiedsspruch des Verwaltungsgerichts Berlin, das den Eilantrag eines Vermieters zurückgewiesen hatte, dem das Bezirksamt Pankow eine Mieterhöhung untersagt hatte. Der Mietstopp liege einerseits durchaus in der Gesetzgebungskompetenz des Bundeslandes, andererseits sei eine politisch festgesetzte Preisgrenze eine Ausnahmeregelung, die zeitweilig die Vorschriften des bürgerlichen Rechts überlagere. Wegen ihrer zeitlichen Befristung sei sie aber mit dem Eigentumsgrundrecht vereinbar und den VermieterInnen zuzumuten.

Zum anderen hatte der zuständige Berichterstatter des Zweiten Senats, Peter M. Huber, vor seiner Wahl zum Verfassungsrichter ein Jahr lang CDU-Innenminister in Thüringen, beim Deutschen Juristentag 2004 sich in der damaligen Föderalismusdebatte dafür ausgesprochen, den Ländern die Zuständigkeit fürs Wohnungswesen zu gewähren. Dies sei aufgrund regionaler Unterschiede in diesem Sektor geboten.

Zum Dritten hatte der Erste Senat im März 2020 einen Antrag auf vorläufige Außerkraftsetzung der Bußgeldvorschriften abgelehnt und zumindest keine grundsätzlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Landesgesetzes geäußert.

Diese auf juristische Spitzfindigkeiten gegründeten Hoffnungen sind nun so gründlich zerstoben wie das Laub im Herbststurm: April, April – das BVerfG macht, was es will!

Der Mietendeckel

Das Vertrauen in Justiz und Staat bei der Verteidigung von Reformen erwies sich einmal mehr als naiv und kurzsichtig. Einen Plan B zur Durchsetzung des Gesetzes haben der Berliner Senat und seine Parteien, ob SPD, Grüne oder Linkspartei allesamt nicht vorzuweisen, es sei denn, man hält die Forderung, dass nun „der Bund“, also die Bundesregierung oder eine Parlamentsmehrheit, die gerade die Klage in Karlsruhe unterstützt hatte, für eine bundesweite Mietendeckelung eintreten solle, für einen Plan.

Wir haben schon im Artikel „Berliner Mietendeckel: Mietenbremse oder Trostpflaster?“ dargelegt, worin die Grenzen und Schwächen des gesamten Reformvorhabens bestanden.

Die Mieten in ca. 1,5 Millionen Wohnungen sind seit Ende Februar 2020 für 5 Jahre auf dem Stand vom 18. Juni 2019 eingefroren, dem Tag der Verabschiedung des Gesetzes. Bei Mietverträgen, die nach diesem Stichtag abgeschlossen wurden, darf höchstens die Vormiete derselben Wohnungen bzw. die niedrigere Mietobergrenze verlangt werden oder im Falle, dass die Vormiete darunter lag, die Obergrenze. Ab 2022 dürfen die VermieterInnen jährlich 1,3 % mehr kassieren. Das nennt sich „atmender“ Mietendeckel.

Ausgenommen vom Gesetz sind Neubauwohnungen, die nach dem Jahr 2014 gebaut wurden und Sozialwohnungen, die besonders bezuschusst werden. Seit vergangenem Herbst durften in einer 2. Stufe sogar überhöhte Mieten abgesenkt werden. Neben den o. a. Ausnahmen stellt das individuelle Antragsverfahren ein weiteres Loch im Deckel dar, denn natürlich erfolgt der Preisstopp nicht automatisch und von Amts wegen – das wäre ja für diesen BeamtInnenstaat zu einfach.

Bei allen Mängeln hat der Deckel natürlich eine, wenn auch viel zu geringe finanzielle Entlassung von immerhin 1,5 Millionen Menschen gebracht.

MieterInnen brauchen eine Perspektive – jetzt!

Diese MieterInnen müssen nun die Folgen des Schandurteils von Karlsruhe ausbaden. Sie müssen nicht nur wieder höhere Mieten zahlen, sondern evtl. auch noch Rückzahlungen in Höhe der Differenz leisten müssen, die den VermieterInnen durch das Berliner Gesetz entgangen ist. Im schlimmsten Fall verlieren sie die eigene Wohnung aufgrund von Nachzahlungen oder überhöhten Preisen.

Der Berliner Senat verspricht zwar Hilfe für alle, die von Nachzahlungen betroffen sein werden. Doch selbst wenn diese unbürokratisch und in vollem Ausmaß erfolgen sollte, stellt sie bestenfalls ein zeitlich befristetes soziales Trostpflaster dar. Mieterhöhung und Preissteigerungen müssen die MieterInnen ab jetzt zu 100 % selbst zahlen.

Angesichts der massiven Wut, die Hunderttausende in Berlin verspüren, angesichts des sozialen Skandals werden wohl Zehntausende mehr die Forderung nach Enteignen von Deutsche Wohnen und Co. unterstützen. Ein Ja zum Volksentscheid im September wäre eine richtige Quittung für die Wohnbaulobby, für CDU, FDP und AfD, aber auch alle Volksbegehrens-BlockerInnen im Senat, allen voran die SPD-Rechte.

Die 1,5 Millionen MieterInnen können und sollen aber nicht bis zu den Bundestagswahlen warten. Sie können sich auch nicht auf die Rechtssicherheit einer etwaigen Mehrheit bei einer Volksabstimmung verlassen. Auch ein Volksentscheid in Berlin kann in Karlsruhe kassiert werden, auch wenn es tausende Rechtsgutachten gibt, die ihn für „verfassungssicher“ halten. Es braucht also, nebenbei bemerkt, auch für das Bündnis „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ (DWE) einen Plan B, will es nicht dasselbe Schicksal wie der Senat erleiden.

Das Urteil von Karlsruhe zeigt nämlich eines. Letztlich sind Fragen wie die Durchsetzung des Mietendeckels oder der Enteignung keine bloß juristischen. Im Rechtsstreit treten soziale und Klassenfragen vielmehr selbst schon in einer für die bürgerliche Gesellschaft regulierten, im Rahmen der Marktwirtschaft verbleibenden Form auf.

Diese können, wie jede errungene soziale Reform verdeutlicht, durchaus zeitweilig zugunsten der Lohnabhängigen, der Masse der MieterInnen verschoben werden. Aber die juristische Auseinandersetzung ist dabei letztlich nur Beiwerk.

Entscheidend ist es, den Konflikt mit den Mitteln des Klassenkampfes auszutragen. Die riesige Demonstration nur wenige Stunden nach dem Urteil von Karlruhe, als sich in Berlin gut 25.000 Menschen versammelten, verdeutlicht, dass das Potential und die Wut für einen solchen Kampf vorhanden sind. Doch um daraus eine Bewegung zu machen, braucht es jetzt klare Schritte im Kampf und zur Organisierung.

Verteidigt den Mietendeckel!

Karlsruhe hat den Mietendeckel zwar kassiert, er sollte aber nicht kampflos aufgegeben werden. Wir schlagen vielmehr vor:

  • Alle MieterInneninitiativen wie „Mietenwahnsinn stoppen“, DWE, die Berliner MieterInnenverbände, Bündnisse wie „Hände Weg vom Wedding“, aber auch die Gewerkschaften, Linkspartei und SPD-Verbände fordern wir auch, sich zu einem Aktionsbündnis zur Verteidigung des Mietendeckels und dessen Durchsetzung zusammenzuschließen.
  • Ein solches Aktionsbündnis darf nicht auf Vereinbarungen von SpitzenvertreterInnen der verschiedenen Parteien und Organisationen beschränkt sein. Es muss sich vielmehr auf deren Basis, die Masse der MieterInnen in Betrieben, an Unis, Schulen und vor allem auch in den Wohnhäusern stützen. Erst recht darf die Bildung eines solchen Bündnisses nicht davon abhängig gemacht werden, ob auch die lahmsten Senatsmitglieder oder VertreterInnen der Senatsparteien mitmachen oder ob ihnen die Aktionsformen eines solchen Bündnisse harm- und wirkungslos genug erscheinen.
  • Dazu müssen Massenversammlungen in den Stadtteilen und Betrieben organisiert werden und örtliche oder betriebliche Aktionsbündnisse oder Strukturen gebildet werden, die auf Landesebene gebündelt und koordiniert werden. Daher sollte auch rasch eine Aktionskonferenz einberufen werden, um diese Vorschläge zu diskutieren, lokale Initiativen sowie stadtweite Bündnisse zu koordinieren und zusammenzufassen.
  • Ein Aktionsbündnis sollte um die einfache Forderung gegründet werden: Verteidigt den Mietendeckel! Keinen Cent mehr für die WohnungsbesitzerInnen!
  • Die Nachzahlung und Erhöhungen der Mieten sollten verweigert werden durch einen kollektiven und organisierten Boykott/Mietstopp. Von den Senatsparteien ist einzufordern, dass sie eine solche Bewegung für ihren Mietendeckel verteidigen und gegen sie nicht repressiv vorgehen.
  • Auch wenn von SPD, Linkspartei, Grünen gefordert werden muss, dass sie keine Zwangsräumungen durchführen und gegen eine solche Bewegung nicht vorgehen, so dürfen wir uns nicht darauf verlassen. Die Bewegung muss Strukturen und Mobilisierungen gegen Zwangsräumungen, Pfändungen von MieterInnen usw. aufbauen.
  • Dazu muss sie sich auf eigene Strukturen und Aktionen wie Massendemonstrationen stützen. Von den Gewerkschaften im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft muss sie die Organisierung politischer Streiks zur Verteidigung des Mietendeckels und im Kampf gegen jede Repression einfordern.

Eine solche Perspektive ist ohne eine Radikalisierung der Bewegung und den Aufbau von Kampforganen ebendieser nicht zu haben. Wir sind uns im Klaren, dass nicht nur die bürgerlichen Grünen, die rechtssozialdemokratische SPD oder die Gewerkschaftsapparate alles tun werden, um die Entstehung einer solchen Bewegung zu blockieren oder ihr die Spitze zu nehmen. Das trifft letztlich auch auf die Linkspartei, die MieterInnenverbände usw. zu. Aber um eine Massenbewegung aufzubauen, ist es unerlässlich, diese Organisationen und ihre Mitglieder, WählerInnen und AnhängerInnen in Bewegung zu bringen – und das schließt auch ein, Forderungen an sie und ihre Führungen zu stellen, um sie dem Praxistest auch in den Augen ihrer UnterstützerInnen zu unterziehen. Nur im Rahmen einer Bewegung, nur im Rahmen realer Kämpfe und deren Radikalisierung wird es möglich sein, diese Bewegung selbst so weit zu treiben, dass sie in der Praxis über die Hoffnung auf Gerichte und bürgerliches Recht hinausgeht. So kann die Verteidigung des Mietendeckels zu einem Schritt werden im Kampf um die entschädigungslose Enteignung der Wohnungsbaugesellschaften und Immobilienhaie unter Kontrolle der MieterInnen und der ArbeiterInnenklasse!




Nach Kassieren des Mietendeckels – weiter Hoffen auf Rechtssicherheit?

Karl-Heinz Hermann, Infomail 1146, 16. April 2021

Eine Anmerkung zur Pressemitteilung des Bündnisses „Deutsche Wohnen & Co enteignen – Spekulation bekämpfen“ (DWE) scheint uns notwendig. In einer ersten vom 15. April schreibt DWE:

„Das Bundesverfassungsgericht hat den Berliner Mietendeckel (MietenWoG Bln) für ,insgesamt nichtig’ erklärt. Das Urteil fällt damit besonders drastisch aus. Als wesentliche Begründung führt es die abschließende Regelung des Mietrechts durch den Bund an.“

Und weiter:

„Das Scheitern des Mietendeckels ist eine Enttäuschung für alle Mieter:innen in Berlin. Der Deckel hatte der Stadt eine Atempause verschafft, die das Bundesverfassungsgericht jetzt jäh beendet hat. Dieses Scheitern verstehen wir zugleich als weiteren Ansporn: Nur die Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnraum bieten die Perspektive für ein Berlin mit bezahlbaren Mieten – jetzt erst recht,“ ordnet Jenny Stupka, Sprecherin der Initiative, das Urteil ein.

„Wir sind wütend darüber, dass die Berliner:innen den explodierenden Mieten jetzt wieder schutzlos ausgesetzt sind. Die Empörung in der Stadt ist groß und wir sind überzeugt, dass sich nun noch sehr viel mehr Menschen unserer Initiative anschließen werden als ohnehin schon. Alle sind eingeladen, sich an unserer Kampagne zu beteiligen”, fügt Rouzbeh Taheri, Sprecher der Initiative, hinzu.“

Wir möchten die Richtigkeit von Jenny Stupkas Aussage unterstreichen, doch es sei angemerkt:

  • Der Mietendeckel betrifft knapp achtmal mehr Wohnungen als die, um die es im angestrebten Volksentscheid von DWE geht.
  • Die geforderte „Vergesellschaftung“ ist im Grunde eine Verstaatlichung, zudem noch keine entschädigungslose, in Form einer angestrebten Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR).
  • „Enteignung und Vergesellschaftung“, wie DWE sie fordert, ist auf einen kleinen Sektor des Wohnungsmarkts beschränkt.

Was tun?

So unterstützenswert die Initiative trotz ihre Grenzen und politischen Schwächen gerade in der Frage der Entschädigung ist, wirft das Skandalurteil von Karlsruhe auch die Frage auf, wie DWE auf möglich rechtliche Hürden reagieren wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel kassiert, warum soll es dann nicht auch den weitergehenden Eingriff in das Eigentumsrecht zurückweisen?

DWE rief, wie die gesamte MieterInnenbewegung, zur Demonstration, am 15. April 2021 auf. Das war sehr gut und richtig – aber gerade angesichts möglicher rechtlicher Hürden, denen die Initiative selbst ausgesetzt sein wird, fragt sich: Das war’s nun? Wie weiter? Was soll der Senat nach Dafürhalten von DWE unternehmen?

In derselben Pressemitteilung heißt es dazu:

„Die Initiative betont gegenüber dem Mietendeckel-Gesetz die rechtliche Sicherheit ihres Vorschlags. Die gesamte juristische Kommentarliteratur, einschließlich Gutachten der wissenschaftlichen Dienste von Bundestag und Abgeordnetenhaus sowie der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, bestätigt die juristische Zulässigkeit des Enteignungs-Volksbegehrens. Einer unmittelbaren Umsetzung bereitet die Initiative mit der Vorlage eines eigenen Vergesellschaftungsgesetzes den Weg. Diese soll in der ersten Mai-Hälfte der Öffentlichkeit vorgestellt werden.“

Und weiter:

„Die Strategie des Senats, die Preisexplosion durch den Mietendeckel in den Griff zu bekommen, ist gescheitert. Wir erwarten, dass alle Senatsparteien diese Realität anerkennen und die rechtssichere und haushaltsneutrale Alternative unterstützen: die Enteignung und Vergesellschaftung großer Immobilien-Unternehmen.“

„Rechtliche Sicherheit“ seines Vorschlags? Wähnt sich DWE etwa auf dem Trockenen gegenüber der Justiz? Stärkt das Urteil seinen Belang vielleicht sogar? Soll der Berliner Senat „die Realität anerkennen“ und in sich gehen? Wollen sich ihm die juristisch kompetenten Fachkräfte des Bündnisses zukünftig als RechtsberaterInnen anbieten, damit es auch beim BVerfG klappt?

So richtig es ist, vom Senat die Enteignung der Immobilien-Unternehmen zu fordern, so richtig es ist, alle rechtlichen Möglichkeiten für die Enteignung auszuschöpfen, so problematisch ist die der Presserklärung zugrunde liegende Einschätzung des Urteils von Karlsruhe. Der Mietendeckel ist letztlich nicht daran gescheitert, dass er zu wenig „rechtssicher“ gewesen wäre. Vielmehr war es das blinde Vertrauen in die Gerichte, die, für bürgerliche Parteien nicht weiter verwunderliche Vorstellung, dass die Justiz über den Klassen stehe, dass sich in ihr kein bestimmter Klassenstandpunkt – in diesem Fall der Immobilien-Unternehmen und ihrer Parteien – durchsetzen würde.

Es soll daher auch nicht weiter verwundern, dass der Senat – einschließlich der reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien SPD und Linkspartei – über keinen Plan B zur Verteidigung des Mietendeckels verfügt, nachdem dieser höchstgerichtlich gekippt wurde.

Ein ähnliches Problem droht auch DWE, sollte der Volksentscheid erfolgreich sein. Selbst jene, die dies für unwahrscheinlich halten, können diese Gefahr nach dem jüngsten Urteil von Karlsruhe nicht einfach vom Tisch wischen.

Im Gegenteil. Wir können und müssen daraus lernen. Wir brauchen einen Plan B – und zwar nicht erst, falls es im September schiefgeht, falls Senat oder Bund die Verfassungsgerichtskeule auspacken. DWE braucht vielmehr jetzt einen Plan B, weil die UnterstützerInnen, die SammlerInnen und Kiezteams sowie generell die Berliner MieterInnen vorbereitet werden müssen, dass es notwendig werden kann, ja wahrscheinlich wird, dass eine Enteignung der großen Immobilienkonzerne mehr erfordert als jene Mittel, die das enge Korsett der bürgerlichen Rechtsordnung und Öffentlichkeit, also die Institutionen der herrschenden Klasse, zulassen.

Mehr zur aktuellen Perspektive: Bundesverfassungsgericht kassiert Berliner Mietendeckel, aber der Kampf geht weiter



Gegen Klassenjustiz und staatliche Repression! Antifaschismus ist kein Verbrechen!

Berliner Gericht
verurteilt Antirassisten

Stellungnahme von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION, Infomail 1061, 11. Juli 2019

Fast ein Jahr
nach dem Ersten Mai 2018 verurteilte das Amtsgericht Mitte am 30. April 2019 einen
jungen Antirassisten und Genossen zu 6 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung.
Warum? Weil er gemeinsam mit zahlreichen anderen AntifaschistInnen am 1. Mai
2018 gegen ein rassistisches Straßenfest der AfD in Berlin-Pankow protestiert
hatte.

Die
DemonstrantInnen versuchten damals, in Hörweite der rechten Versammlung
möglichst lautstark deren Hetze und Demagogie entgegenzutreten.

Die Polizei
schützte an diesem Tag wieder einmal das Demonstrationsrecht der RassistInnen,
Rechts-PopulistInnen und „natürlich“ auch von FaschistInnen, die sich gern auf
AfD-„Festen“ tummeln.

Demgegenüber
musste das Recht der GegendemonstratInnen wieder einmal zurückstehen. Während
sie versuchten, ihre Versammlung und ihren Protest durch Ketten zu verteidigen,
wurden sie von Polizeikräften abgedrängt, geschubst und angegriffen.
„Natürlich“ wurden diese Menschen dabei auch gefilmt und fotografiert.
Schließlich steht der staatliche Überwachungsauftrag allemal höher als die
Privatsphäre seiner BürgerInnen.

Schließlich kam
es auch zu einigen Festnahmen, darunter der Genosse, der am 30. April vor
Gericht stand. Festgenommen wurde er, weil ein einziger (!) Polizist bemerkt
haben wollte, dass er mit einer Fahnenstange auf einen Polizisten eingeschlagen
haben soll.

Auch wenn die
Festnahme einige Zeit nach der angeblichen Aktion stattfand, so will der Beamte
den Genossen aufgrund seines „markanten Erscheinungsbildes“ erkannt haben und
leitete dann die Festnahme ein. Zu dem eigentlichen Tatvorwurf ließ sich –
abgesehen von der Behauptung dieses einen Polizisten – kein/e weiterer ZeugIn
beibringen. Eine Polizistin wollte zwar einen heftigen Schlag auf den Kopf
eines neben ihr stehenden Kollegen bemerkt haben, ebendieser hatte den
angeblich mit „voller Kraft“ geführten Schlag auf seinen Helm nach eigener
Aussage aber gar nicht bemerkt. Er trug auch eingestandenermaßen keine
Verletzung davon.

Während
stundenlang Video-Material von den Protestaktionen vorlag, so ließ sich partout
keine Aufnahme finden, auf der der behauptete Tatvorgang zu sehen gewesen wäre.
Schließlich, so schon die fast tröstliche Erkenntnis, filmt die Polizei doch
nicht alles. „Kameramann Zufall“ hatte offenkundig gerade dann gepennt, als die
Situation, so der Gerichtsjargon, besonders „dynamisch“ gewesen wäre.

Verurteilung und
Klassenjustiz

All das und so
manche Widersprüche der ZeugInnen beeindruckten weder Staatsanwaltschaft noch
das Gericht. Wegen angeblicher „versuchter gefährlicher Körperverletzung“ und
„tätlichem Angriff auf Polizeibeamte“ wurde er zu sechs Monaten Freiheitsentzug
verurteilt, wobei die Haftstrafe für zwei Jahre auf Bewährung ausgesetzt wurde.
Damit folgte der Spruch der Forderung der Staatsanwaltschaft. Bemerkenswert war
freilich nicht nur das Schandurteil selbst, das einmal mehr der Kriminalisierung
von Antirassismus, Antifaschismus und der ansonsten von der bürgerlichen
Gesellschaft viel beschworenen „Zivilcourgage“ gleichkommt. Bemerkenswert war
auch  seine politische Begründung.

  • Der Verurteilte wurde anscheinend als „Rädelsführer“ ausgemacht. Er hätte andere mit Sprechchören „angefeuert“. Dadurch war die Polizei auf ihn schon einige Zeit vor der angeblichen Tat aufmerksam geworden. Offenkundig sollte so ein Exempel an einem aktiven Antifaschisten statuiert werden. Menschen, die sich durch antirassistisches Engagement deutlich hervortun, sollen offenkundig auch besonders „eingeschränkt“ werden.
  • Offenkundig ging es dabei nicht nur darum, dass der Genosse einfach da war, sondern er sollte auch wegen seiner Unterstützung der revolutionären Jugendorganisation REVOLUTION gleich mit verurteilt werden. Bezeichnenderweise sprach das Gericht über ihn oft nicht als Teilnehmer einer Demonstration, sondern als deren „Mitglied“. Die Aufschrift seiner Fahne hatte der Polizist und Hauptzeuge gut in Erinnerung, während er sich an den Schriftzug auch nur irgendeines Transparentes, das die DemonstratInnen zeigte, nicht erinnern wollte.
  • Das hohe Strafmaß wurde damit begründet, dass der Genosse nicht nur zwei Taten begangen hätte, sondern dass diese im Rahmen des Ersten Mai besonders schwer wiegen würden. An diesem Tag wären Krawalle und Gewalt von Linken angesagt – und in diesem Sinne wäre das Strafmaß auch im Rahmen einer „Generalprävention“ gerechtfertigt. Es geht hier also nicht darum, die angebliche Tat wie jede zu prüfen oder zu beurteilen, sondern es handelt sich offenkundig um ein politisches Urteil zur Abschreckung kämpferischer und aktiver AntifaschistInnen und AntirassistInnen. Die Klassenjustiz lässt grüßen.
  • Das Gericht erklärte außerdem auch, dass der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ in diesem Fall nicht zur Geltung kommen würde, da es erstens keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen gäbe, der sich allenfalls in nachvollziehbare „nebensächliche“ Widersprüche verstrickt habe. Zweitens – und das mache seine Aussage besonders glaubwürdig – wäre die Polizei schließlich unparteiisch, weil „eigentlich“ unbeteiligt und nur auf den „Schutz der Demokratie“ aus, der auch für AfD, NPD und Co. und deren rassistische Hetze gelte.
  • Offenkundig sind manche vor Gericht eben gleicher als andere. Verwundert sollten wir freilich nicht sein, vielmehr manifestiert sich der Klassencharakter des Staates hier im Gerichtssaal. Die Aussage eines Staatsdieners steht über der eines „normalen“ Staatsbürgers, gerade weil der Apparat als über den Klassen stehend erscheint. Diese Ideologie von der „Neutralität“ des bürgerlichen Staates bildet gewissermaßen die Grundlage dafür, dass der Beamte dem Gericht als besonders „glaubhaft“ erscheint, da er die „Neutralität“ des Staatsapparates verkörpere, während der Angeklagte seine eigenen Interessen verfolge. Daher im Zweifel für die Anklage!
  • Schließlich konnte das Gericht auch nicht umhin, seinem Urteil eine ausreichende und präventive „Abschreckungswirkung“ zu attestieren und dem Verurteilten auch noch einige Belehrungen in Sachen Demokratie hinterherzuschicken. Mit „Krawallaktionen“ würde er nicht nur sich selbst, sondern auch seiner Sache schaden und Menschen von der Teilnahme an antirassistischen Aktionen abschrecken. Daher: Antirassismus und Antifaschismus sind eine tolle demokratische Einstellung, solange ihr den Anordnungen von Polizei und Versammlungsbehörden folgt und die Rechten nicht weiter stört!

Das Schandurteil
zeigt also: Auf Polizei und Justiz können wir uns im Kampf gegen den Rechtsruck
nicht verlassen. Sie schützen vielmehr RassistInnen und FaschistInnen;
sie  versuchen, den Widerstand zu kriminalisieren, und AktivistInnen
einzuschüchtern.

So wichtig und
richtig es ist, auch mit juristischen Mitteln gegen solche Verurteilungen
vorzugehen, verlassen dürfen wir uns auf sie nicht! Entscheidend ist vielmehr
die Solidarität mit dem Genossen und allen anderen AntifaschistInnen und
AntirassistInnen, die von Repression betroffen sind. Entscheidend ist es vor
allem, den Kampf gegen Faschismus, Rassismus und Rechtspopulismus mit dem gegen
das kapitalistische System zu verbinden  – organisiert, kämpferisch und
massenhaft!