Schule muss anders! Aber wie?

REVOLUTION, Neue Internationale 276, September 2023

Warum das Bildungssystem in einer fundamentalen Krise steckt und was wir dagegen tun können

Nach 10 Stunden Frontalunterricht mit mindestens 25 Schüler:innen in einer Klasse kommen wir nach Hause und möchten uns einfach nur noch die Bettdecke über den Kopf ziehen und raus aus dieser Scheiße. Nachdem von den Französischvokabeln, den Anaphern im Goethe-Gedicht und der mathematischen Integralgleichung kaum noch was hängengeblieben ist, scheint wenigstens eins klar zu sein: Dieses Bildungssystem ist genauso marode wie das Schulgebäude, in dem es durch die Decke tropft und in der Umkleidekabine schimmelt.

Leistungsterror als Antwort auf Unterfinanzierung

Obwohl Bildungsstreikbewegungen, Jugendorganisationen und Gewerkschaften schon seit über 10 Jahren davon reden, scheint es nun auch bei der sogenannten Allgemeinheit angekommen zu sein, dass neben Unis und Kitas vor allem auch unsere Schulen in einer fundamentalen Krise stecken. Von FAZ bis taz verdrückt die bürgerliche Presse eine dicke Krokodilsträne nach der anderen darüber, dass immer neue Vergleichsarbeiten bestätigen, dass es den Schüler:innen an elementaren Grundkenntnissen wie Rechnen, Lesen und Schreiben mangelt. Kein Wunder, denn die PISA-Studie hat bestätigt, was wir schon lange wussten: Bildungserfolg hängt in Deutschland vor allem vom Einkommen unserer Eltern ab. Und das in Deutschland in sogar noch stärkerem Maße als in Mexiko, Ungarn oder Polen. Aber anstatt das Problem der massiven Unterfinanzierung unserer Schulen anzugehen, wird uns Schüler:innen eingeredet, wir würden uns halt einfach nicht genug anstrengen und seien demnach auch selber schuld, wenn wir den ganzen Tag nur am Handy „daddeln“ (Boomersprache für „das Handy benutzen“; Boomer: über 50 Jahre alte Person, die sich über das Verhalten der Jugend  aufregt). Aber nachdem nun auch die bürgerliche Presse auf die Probleme in den schulischen Leistungen hingewiesen hat, mussten die Landesregierungen handeln. Anstatt eines Investitionspakets Bildung, der Einstellung neuer Lehrkräfte und der Bereitstellung von kostenloser Nachhilfe hat man sich gedacht: „Wenn die Schüler:innen zu faul zum Lernen sind, müssen wir halt den Druck und die Vergleichbarkeit erhöhen.“ Praktisch bedeutet das für uns eine schärfere Selektion im 3-gliedrigen Schulsystem, die Erhöhung der Anzahl von Prüfungen und eine Verkürzung der Regelschulzeit von 13 auf 12 Jahre im Rahmen des sogenannten „G8“-Abis. Corona hat diesem Prozess noch das Sahnehäubchen aufgesetzt. Der durch die Lockdowns verpasste Lernstoff soll jetzt einfach noch zusätzlich draufgepackt werden. Dieser künstlich erzeugte Leistungsdruck geht auf unsere (mentale) Gesundheit. So ist die Anzahl derer von uns, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, in den letzten 10 Jahren um mehr als das Doppelte angestiegen.

Mit Privatisierung gegen die Bildungskrise?

Obwohl die klassisch neoliberale Antwort „Der Markt wird’s schon lösen“ bereits in der Coronapandemie, der Klimakrise, der Wohnungskrise und der Inflationskrise nicht funktioniert hat, wird sie nun auch in der Bildungskrise versucht, indem auf die „unternehmerische Initiative des freien Marktes“ gesetzt wird. Praktisch heißt das: Privatisierung statt stabiler öffentlicher Ausfinanzierung. Eine Öffnung unserer Schulen für den freien Markt findet heute insbesondere unter den Vorzeichen der „Digitalisierung“ statt. Klingt ja erstmal eigentlich ganz gut, denn während der Coronapandemie haben wir gemerkt, dass weder unsere 70 Jahre alte Mathelehrer:in noch unsere 70 Jahre alte Technik für das Homeschooling bereit waren. Doch unter Digitalisierung versteht der Staat keine flächendeckenden Investitionen in eine auf Open Source basierte digitale Infrastruktur unserer Schulen, sondern eine Öffnung des öffentlichen Sektors für die Privatwirtschaft. Über Sponsoringverträge mit Softwarekonzernen kann eine Schule ein nagelneues Computerkabinett oder eine Schulcloud bekommen, wenn sie sich nur dazu verpflichtet, das Konzernlogo gut sichtbar aufzuhängen und alle weiteren Update- und Softwarepakete von derselben Firma zu erwerben. Wenn sich Schulen weigern, geht’s halt weiter mit dem Mathebuch, mit den Bildern, auf denen die coolen Kids aus den 1990ern Spaß beim Lernen haben. Doch auch die Schulbücher werden nicht vom Staat kostenlos bereitgestellt, sondern wir müssen natürlich dafür zahlen. Für die meisten Familien, die unter inflationsbedingtem Reallohnverlust leiden, ist jedoch am Monatsende kaum noch Geld für Schulbücher da. Dazu kommen dann auch noch die ganzen anderen privatisierten Kosten für Kunstmaterial, Sportzeug, Klassenfahrten, Mensaessen, Arbeitsmaterial usw. Hinzu kommt, dass wir auch mit dem ganzen neu gekauften Kram nicht lernen können, denn entweder gibt es nicht genügend Räume für alle Klassen oder die Klassenräume sind so ekelhaft, dass man lieber raus geht für den Unterricht. Bei speziellen Fachräumen mit besonderem Equipment zum Beispiel für Chemie, Physik, Informatik, Musik und Kunst sieht die Lage noch schlimmer aus. Sportunterricht kann teilweise nicht stattfinden, weil es im Winter keine beheizten Hallen gibt. Ein Grund für den massiven Unterrichtsausfall ist also auch der Mangel an Räumen. Auch wenn Unterrichtsausfall erst einmal immer nach mehr Spaß und Freizeit klingt, heißt das im Umkehrschluss, dass diese ausgefallene Unterrichtszeit privatisiert wird, indem sie nach Hause verlagert wird. Eigentlich praktisch, denn da muss der Staat weder Wasser noch Heizung noch Miete noch Personal bezahlen. Meistens passiert das durch die Berge von Hausaufgaben, die eigentlich nur ins Private verlagerte Unterrichtszeit darstellen. Dasselbe gilt für „Online-Unterricht“, der uns dann auch als Schulung digitaler Kompetenzen schmackhaft gemacht werden soll.

Angriffe auf die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften

Nicht nur aus uns Schüler:innen wird versucht, alles Verwertbare auszupressen, auch aus unseren Lehrer:innen. Diese sollen bei gleichbleibendem Lohn nun immer mehr Schüler:innen in einer Klasse unterrichten und immer mehr zusätzliche Aufgaben wie Inklusion, Digitalisierung, Berufsorientierung und Verwaltung übernehmen. Kein Wunder, dass laut einer Studie der Bildungsgewerkschaft GEW über ein Drittel unserer Lehrer:innen im Laufe ihrer Berufslaufbahn ein Burnout oder Anzeichen dafür entwickeln. Immer weniger Menschen wollen diesen Job machen, so dass es in den letzten 10 Jahren bis zu 14 Prozent weniger Lehramtsstudiumsabsolvent:innen gab. Für uns wird das am massiven Unterrichtsausfall deutlich und daran, dass das Wort „Vertretungsunterricht“ aus dem Stundenplan in die Geschichtsbücher geflüchtet ist. Prognosen nehmen an, dass aktuell bis zu 100.000 Lehrkräfte fehlen. Für unsere Lehrer:innen heißt das, dass sie die Arbeit von den fehlenden 100.000 Lehrkräften zusätzlich tragen müssen und das natürlich zum gleichen Lohn.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte spielt auch die Demographie eine wichtige Rolle: So gehen aktuell die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten „Babyboomer“ in Rente, während die geburtenschwachen Millennials jetzt in das Berufsleben eintreten und zahlenmäßig nicht ausreichen, um die Pensionierungswelle der Boomer auszugleichen. Hinzu kommt, dass die jetzt eingeschulten Jahrgänge wieder angewachsen sind durch stärkere Geburtenraten und Migration aus der Ukraine. Während die Bildungsstreikbewegung und die GEW diese Entwicklung bereits Anfang der 2000er Jahre prognostiziert haben, haben Land und Bund das Problem systematisch kleingerechnet und als „unnötige Panikmache“ abgetan. Das ist nun nicht mehr so leicht möglich. So hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusminister:innenkonferenz (kurz KMK, hier treffen sich die Verantwortlichen für Bildung und Kultur aller Bundesländer) ein Papier veröffentlicht, das bestätigt, dass es einen massiven Lehrkräftemangel in Deutschland gibt. Man könnte jetzt denken, dass die Landesregierungen sich nun Maßnahmen überlegen, wie man wieder an mehr Lehrkräfte kommt, um uns Schüler:innen unser verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf Bildung zu gewähren. Doch die dafür nötigen 100 Milliarden werden für die Bundeswehr gebraucht. Also hat die KMK Vorschläge erarbeitet, nicht wie unsere Schulen an mehr Lehrer:innen kommen (denn das kostet Geld), sondern wie sie mit weniger Lehrer:innen besser zurechtkommen können. Die dort vorgeschlagenen Maßnahmen sind eine dicke Schelle ins Gesicht von uns allen: Die Klassengröße soll erhöht werden, pensionierte Lehrer:innen sollen aus dem Ruhestand zurückgeholt werden, die Pflichtzahl an wöchentlichen Unterrichtsstunden für Lehrkräfte soll erhöht werden und durch Online-Unterricht soll eine Lehrkraft mehrere Klassen gleichzeitig unterrichten können. Und das ist keine dunkle Fantasie einer dystopischen Hölle: In NRW, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt wurden Teile davon sogar schon umgesetzt. In Berlin wird derweil laut darüber nachgedacht, angeblich weniger wichtige Fächer wie Geschichte, Politik, Ethik, Sport, Musik und Kunst einzukürzen.

Lasst uns unsere Schulen zurückholen!

Dass wir in einer tiefen Bildungskrise stecken, müssen wir nicht mehr diskutieren, das sieht mittlerweile auch die FDP ein. Offen bleibt nur, wer die Kosten dieser Krise zahlen soll. Sind es wir Schüler:innen durch mehr Leistungsterror, größere Klassen und schärfere Selektion oder Regierungen und Kapital, die tiefer in die Tasche greifen müssen, um Geld für unsere Bildung lockerzumachen. Ersteres zu verhindern und Zweiteres zu erreichen, stellt den zentralen Kampf dar, den wir führen müssen. Krise heißt ebenso wie beim Klima oder der Wirtschaft auch immer Potenzial für eine Bewegung dagegen.

Einen Ansatzpunkt dafür bietet der Aktionstag von „Schule muss anders“ (SMA) am 23.9.! Wir unterstützen die Hauptforderungen der Initiative nach 1. kleineren Klassen, 2. mehr Investitionen in die Bildung, 3. multiprofessionellen Unterrichtsteams und 4. einer unabhängigen Beschwerdestelle gegen Diskriminierung zu 100 Prozent und schließen uns mit allen unseren Ortsgruppen der Aktion an. Doch gehen uns diese Forderungen noch nicht weit genug. Um die Dynamik des Aktionstages zu nutzen und weitere Schritte im Aufbau einer bundesweiten Bildungsbewegung zu gehen, müssen wir die 4 Forderungen von SMA in unseren Schulen diskutieren und erweitern. Wir brauchen dafür Vollversammlungen der gesamten Schüler:innenschaft und Komitees an den einzelnen Schulen, die weitere Forderungen erarbeiten. Indem wir unsere Forderungen auf Schilder schreiben, auf dem Protesttag lautstark vertreten und vor allem in die Schule durch kleinere Aktionen und Versammlungen hineintragen, können wir verhindern, dass wir auf ewig ignoriert und totgeschwiegen werden. Beispiele für sinnvolle Forderungen in Ergänzung zu SMA könnten die folgenden sein:

  • Kostenloses und ökologisches Mensaessen! Selbstverwaltete Speisepläne von uns Schüler:innen!
  • Bildung eines Kontrollausschusses aus Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen, der eine Maximalgrenze für Hausaufgaben festlegt!
  • Gegen jede Einflussnahme auf und Präsenz der Bundeswehr an unsere/n Schulen!
  • Für die Möglichkeit, den Namen und Geschlechtseintrag in der Schule einfach und unbürokratisch zu ändern! Schluss mit Deadnames auf der Klassenarbeit!
  • Von Schüler:innen selbstorganisierte Freiräume, die in den Pausen für alle frei zugänglich sind, an jeder Schule!
  • Für eine flächendeckende Modernisierung und energetische Sanierung aller Schulgebäude sowie ihrer Heizungs-, Wasser- und Belüftungssysteme! Bezahlt werden soll das von denen, die vom Krieg und den steigenden Energiepreisen profitieren!
  • Für eine demokratische Kontrolle des Lehrplans durch Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und Organisationen der Arbeiter:innenklasse! Wir bestimmen selbst, was wir lernen wollen!
  • Schluss mit dem 3-gliedrigen Schulsystem! Eine Schule für alle und Abschaffung aller Privatschulen!
  • Für den Aufbau einer Schüler:innengewerkschaft und ein volles Streikrecht für Schüler:innen, damit wir Verbesserungen erkämpfen können!

Die Forderungen von SMA sind nur der Ausgangspunkt, von dem aus wir uns fragen müssen, wessen Schulen das eigentlich sind. Es sind unsere Schulen, denn es sind wir und nicht Bettina Stark-Watzinger (Bundesbildungsministerin, FDP), die unter zu großen Klassen leiden. Es sind wir Schüler:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und Schulpsycholog:innen, die diese Bildungskrise ausbaden müssen. Dann sollten wir doch auch darüber entscheiden können, wie viele Schüler:innen in einer Klasse erträglich sind. Wir wollen nicht in einem Geschichtsunterricht sitzen, in dem einfach nicht über deutsche Kolonien gesprochen wird. Wir wollen im Sexualkundeunterricht auch etwas über nicht-heterosexuellen Sex lernen. Wir wollen an einem Ort lernen, den wir auch selbst gestalten dürfen. Und das zusammen mit unseren Friends, auch wenn ihre Eltern Toiletten putzen oder kein Deutsch sprechen.

Dafür gehen wir nicht nur selbst zum SMA-Aktionstag, sondern fordern alle linken Jugendorganisationen von [’solid], den Jusos, bis hin zur SDAJ und Young Struggle auf, sich daran zu beteiligen. Und zwar nicht nur symbolisch mit Fahne, sondern durch die Mobilisierung der kompletten Basis. Die von SMA geforderte Bildungskonferenz bietet einen wichtigen Ansatzpunkt, wo wir unsere Forderungen miteinander diskutieren und weitere Aktionen gemeinsam planen können. Ebenso gilt es, den Schüler:innenprotest mit dem der Lehrer:innen zu verbinden. In Berlin streiken Lehrer:innen bereits seit über einem Jahr für kleinere Klassen und einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz. Diesen Kampf gilt es, durch eine Unterstützung ihrer Streiks gemeinsam zu führen und außerhalb Berlins durch Diskussionen mit der GEW auszuweiten. Ebenso wird im Oktober in der Tarifrunde der Länder über die Höhe des Lehrer:innenlohns verhandelt. Auch bei diesen Streiks im gesamten Bundesgebiet braucht es unsere Solidarität und unsere Initiative, um weitere Aspekte der Bildungskrise und eine volle Ausfinanzierung unserer Schulen in die Debatte zu tragen. Darüber hinaus gilt es, den Protest gegen die Bildungskrise mit den aktuellen Bewegungen rund um die Klimakrise zu verbinden, denn betreffen tun uns beide und ihre kapitalistische Ursache ist dieselbe! Lasst uns gemeinsam für eine Zukunft kämpfen, in der die Schulen uns gehören!




Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Seit ihrer Entstehung bildete die Arbeiter:innenklasse nie eine „geschlossene“ soziale Gruppe, sondern ihre Existenz wird immer von inneren Schichtungen und Differenzierungen gezeichnet. Im Unterschied zum Nominalismus der bürgerlichen Soziologie, die, sofern sie überhaupt auf „Klasse“ rekurriert, diese als Attribut bestimmter Personen fasst (Einkommenshöhe, Berufsstand usw.), kennzeichnet den marxistischen Klassenbegriff, dass er Klassen als Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen begreift. Ohne Kapital keine Lohnarbeit und umgekehrt. Die Wandlung des Kapitals bestimmt dabei wesentlich die Schichtung, Umwälzung, stetige Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen.

Im „Kapital“ entwickelt Marx im Kapitel über das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, dass das Wachstum und der Wandel des Kapitals selbst die Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

„Wir behandeln in diesem Kapitel den Einfluß, den das Wachstum des Kapitals auf das Geschick der Arbeiterklasse ausübt. Der wichtigste Faktor bei dieser Untersuchung ist die Zusammensetzung des Kapitals und die Veränderungen, die sie im Verlauf des Akkumulationsprozesses durchmacht.“[i]

Dabei zeigt er, dass selbst bei unveränderter technischer Grundlage des Produktionsprozesses die Zusammensetzung der Lohnabhängigen, die Zahl der beschäftigten, unterbeschäftigten und erwerbslosen Arbeiter:innen bedingt wird durch die Kapitalbewegung. Da Kapitalismus aber notwendigerweise mit einer ständigen Umwälzung der Produktion einhergeht, prägt er in einem noch viel größeren Umfang die Zusammensetzung der Klasse, ja, ihre gesamte Existenz.

„Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, in fortwährendem qualitativen Wechsel seiner Zusammensetzung, in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteils.“[ii]

Das einzig wirklich Konstante an der Arbeiter:innenklasse ist also ihre ständige Veränderung. In Phasen der Expansion und Prosperität kann dabei die Ausbeutung vergleichsweise dehnbare, „bequeme und liberale“ Formen annehmen. Davon sind wir freilich seit Jahrzehnten weit entfernt. Die gegenwärtige Krisenperiode geht nicht nur mit einer grundlegenden Veränderung der Arbeiter:innenklasse und aller gesellschaftlichen Beziehungen einher, sondern vor allem auch mit einer Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage der Klasse insgesamt. Dies vollzieht sich jedoch keineswegs linear, für alle gleich. Im Gegenteil. Die ungleiche und kombinierte Entwicklung des globalen Kapitalismus manifestiert sich auch in einer globalen Veränderung der Zusammensetzung der Klasse. Bestehende grundlegende Ungleichheiten wie jene zwischen den Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren und in den Halbkolonien werden massiv verschärft. Aber auch die innere Differenzierung, z. B. zwischen der Arbeiter:innenaristokratie einerseits und den unteren Schichten der Lohnabhängigen, den Working Poor, andererseits, wird tendenziell größer.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir daher die wichtigsten Veränderungen skizzieren, um deren Rückwirkung auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten. Im letzten Abschnitt werden wir kurz auf die Frage der revolutionären Politik als Antwort auf diese Krise eingehen:

1.) Eine Darstellung wesentlicher Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode;

2.) die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends;

3.) die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats;

4.) die Verbindung zur Krise der Arbeiter:innenbewegung und zur Führungskrise des Proletariats;

5.) Historische Erfahrungen, strategische und taktische Schlussfolgerungen für den Aufbau revolutionärer Parteien.

1. Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode

Seit Beginn der Globalisierungsperiode, also seit dem Zusammenbruch der ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, macht auch das Proletariat weltweit einen grundlegenden Wandlungsprozess durch. Dies trifft sowohl auf die Jahre vor der Rezession und Krise 2008 – 2010 zu wie auch auf jene bis zur Coronakrise. In mehrfacher Hinsicht traten dabei die Entwicklungen in den Jahren der Globalisierungsperiode nach 2010 noch deutlicher hervor, die Umwälzungen vollzogen sich im beschleunigten Tempo.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir die wichtigsten dieser Veränderungen zusammenfassen, um danach die Rückwirkung dieser Veränderungen auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten.

1.1 Die Verlagerung der industriellen Arbeiter:innenklasse

Bis 2019 ist die Arbeiter:innenklasse weltweit weiter gewachsen. Allerdings haben sich mit veränderter Produktionsstruktur die Zentren der Klasse verlagert, v. a. nach Asien. Das betrifft hauptsächlich das massive Anwachsen des Proletariats in China, aber auch in Indien und anderen Ländern Ost- und Südostasiens. Die gewaltige Umwälzung und das Wachstum der Arbeiter:innenklasse in China bilden letztlich die Basis für die Etablierung einer neuen imperialistischen Macht und deren Expansion. Dabei entstand zugleich eine neue gesellschaftliche, revolutionäre Kraft, die sich allerdings ihrer politischen Möglichkeiten (trotz enormer ökonomischer Kampfaktivität) noch kaum bewusst ist.

Neben China ist die Arbeiter:nnenklasse auch in einer Reihe von Ländern in Ostasien und in Indien gewachsen. Länder wie Brasilien erlebten diesen Proletarisierungsschub schon in den 1980er Jahren, städtische Zentren wie der Großraum Sao Paulo gehören seither zu den konzentriertesten Industriegebieten der Welt mit Millionen Lohnabhängigen. Die Erfahrungen der Tigerstaaten Asiens (Indonesien, Südkorea) infolge der Währungskrise Ende der 1990er Jahre zeigten jedoch schon damals, wie fragil der industrielle Aufschwung und die Kapitalbildung in solchen, letztlich von einer oder mehreren imperialistischen Mächten dominierten, im Weltmarkt untergeordneten Staaten sind.

So bedeutsam das Anwachsen der Arbeiter:innenklasse in Ländern wie Brasilien, Vietnam, Indonesien, Indien oder auch der Türkei ist,  handelt es sich letztlich um die Formierung eines Proletariats in halbkolonialen Ländern, dessen Entwicklung in letzter Instanz vom Fluss des imperialistischen Anlagekapitals abhängt (was keineswegs ausschließt, dass sich in diesen Staaten auch weltmarktfähige einzelne Großkapitale bilden).

An dieser Stelle müssen wir genauer zwischen verschiedenen Ländern und ihrer ökonomischen Entwicklung im XI. Weltmarktzyklus nach dem Zweiten Weltkrieg (2010 – 2019) differenzieren. China und Indien durchliefen einen lang anhaltenden, expansiven Zyklus. Verglichen mit dem Jahr 2007 verdoppelte sich das preisbereinigte BIP in China bis 2016 und in Indien bis 2017. Diese Entwicklung spiegelt natürlich nicht direkt das Anwachsen der Profitmasse und auch nicht der beschäftigten Lohnarbeit wider, aber es reflektiert kapitalistisches Wachstum in einem gigantischen Ausmaß – inklusive des massiven Wachstums der Arbeiter:innenklasse in beiden Ländern.

Diese Entwicklung kontrastiert extrem mit der anderer BRICS-Staaten, deren Wachstum im Vergleichszeitraum 2007 – 2017 bescheiden ausfällt: Südafrika (plus 19 %), Brasilien (plus 16 %), Russische Föderation (plus 12 %). In bereinigten BIP-Größen ausdrückt, verblieben sie damit entweder auf dem Niveau der G7-Staaten oder, im Falle Russlands, deutlich darunter. Hinzu kommt, dass viele sog. Schwellenländer ab Mitte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts selbst in verstärkte Krisen geraten sind, darunter auch solche wie die Türkei, die unmittelbar nach der großen Rezession als ökonomisch recht dynamisch erschienen. Der Grund dafür liegt wesentlich in den Bewegungen des globalen Finanzkapitals begründet und der Antikrisenpolitik der USA und der EU, die zu einem Abzug von Kapital aus vielen Halbkolonien führten und Währungen sowie ganze Volkswirtschaften unter Druck setzten. Das äußert sich auch in viel instabileren, rasch nach oben und unten ausschlagenden Konjunkturbewegungen dieser Länder.

Auch wenn sich Russland z. B. als imperialistische Macht neu etabliert hat, so entspricht der Anteil der produktiven Arbeit (Arbeit, die Mehrwert für das Kapital schafft) zahlenmäßig nur einem Bruchteil der Arbeiter:innen in der früheren Sowjetunion. Der Anteil an der Industrieproduktion ist historisch gering, während die Sowjetunion noch bis zu ihrem Zusammenbruch die zweitgrößte Industrienation der Welt war.

In den tradierten imperialistischen Zentren (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien) können wir schon vor dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Verringerung des industriellen Proletariats feststellen. Der Anteil der „Dienstleistungen“ ging generell nach oben, auch wenn die bürgerliche Statistik den Trend systematisch übertreibt, weil etliche Dienstleistungen durchaus Formen produktiver Arbeit darstellen und Mehrwert für das Kapital schaffen. Hinzu kommt darüber hinaus eine große Ungleichheit in der Entwicklung unter den verschiedenen lange etablierten, westlichen imperialistischen Mächten. Japan und Deutschland haben sich bis heute eine vergleichsweise stärkere industrielle Basis (und einen industriellen Exportsektor) erhalten. Das industrielle Kapital – und damit auch die industrielle Arbeiter:innenklasse – spielen eine vergleichsweise größere Rolle als in den USA oder Britannien. Frankreich und Italien wiederum kämpfen damit, dass ihr nationales

Kapital in der Konkurrenz dem deutschen strukturell unterlegen ist.

1.2 Vertiefte Unterschiede

Die letzten Jahrzehnte und besonders die Krise 2008 – 2010 haben auch hier die Unterschiede enorm vertieft. In den meisten „alten“ imperialistischen Staaten brach infolge der Krise die Industrieproduktion ein und erreichte über Jahre nicht das Niveau der Phase vor 2007. Wenn wir April 2008 als Bezugspunkt nehmen – also den Beginn der globalen  Krise –, so erreichte die Industrieproduktion in Frankreich bis November 2013 nur 85 Prozent dieses Niveaus, jene Britanniens 87,3 Prozent und jene Japans 85,1 Prozent. Nur die USA hatten zu diesem Zeitpunkt das Niveau des Jahres 2008 übertroffen – um ein Prozent. Deutschland hatte es fast erreicht und lag nur 1,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008.[iii]

Die Entwicklung in den USA, Deutschland und Kanada im XI. Weltmarktzyklus unterscheidet sich signifikant von jener Britanniens, Italiens, Frankreichs und Japans, wenn wir die Jahre 2007 – 2017 vergleichen. Die USA profitieren davon, dass sie mehr als andere Nationen die Kosten der Krise auf den „Rest der Welt“ abwälzen konnten und weiter der größte und wichtigste Binnenmarkt der Welt sind. Deutschland konnte sich einigermaßen schadlos halten, weil sein Exporterfolg auch auf der Dominanz über seine Konkurrent:innen in der Eurozone basiert.

Jedenfalls durchlaufen die USA, Deutschland und Kanada nach der großen Rezession einen zyklischen Aufschwung, was auf andere Konkurrent:innen nicht oder nur eingeschränkt zutrifft.[iv]

Die massive Verlagerung der produktiven Arbeit im Weltmaßstab geht mit einer Entwicklung einher, die wir schon seit Jahren beobachten können: Das Schrumpfen des industriellen Proletariats bis hin zur weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Länder. In Südeuropa hat sich, v. a. in Griechenland, der Prozess rasant fortgesetzt. Bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse sind langfristig arbeitslos oder unterbeschäftigt. Solche Länder folgten damit dem Beispiel Osteuropas, wo nach 1990 ein großer Teil der Industrie vernichtet wurde. Anders als der Süden Europas erlebten jedoch einzelne Länder oder industrielle Branchen dort eine Stärkung als Zulieferer:innen oder Vorproduzent:innen von westlichen, v. a. deutschen Konzernen.

Außerhalb Europas entwickelte sich die Lage noch weitaus dramatischer, besonders in Afrika. Hier sind ganze Länder praktisch seit Jahrzehnten deindustrialisiert oder davon bedroht. Dasselbe gilt für einige Länder der arabischen Welt (also jene, die nicht im Golfkooperationsrat vertreten sind).

Im Extremfall hat sich in diesen Staaten – insgesamt die am härtesten getroffenen Opfer imperialistischer Ausplünderungen oder „Neuordnungsversuche“ (siehe Irak, Afghanistan) – die gesellschaftliche Krise vertieft und verstetigt. Es existiert kaum eine Industriearbeiter:innenschaft, ja, die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und damit selbst die eines staatlichen Gebildes und gesellschaftlicher Klassen ist in Frage gestellt. Die Gesellschaften und Staaten zerfallen: Sie zeigen in extremis, was immer größeren Teilen der Menschheit bei einem Fortschreiten der Krise droht.

1.3 Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats

Während die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, nahmen die Differenzierungen, die Schichtungen und Unterschiede im Proletariat weiter zu. Natürlich stellt dies keine ungebrochene Tendenz dar. Gerade die zunehmende Verschlechterung der Lebenslage der Mehrheit der Lohnabhängigen hat auch eine nivellierende, vereinheitlichende Wirkung. Eindeutig ist jedoch der Unterschied zwischen der Lebenslage der „oberen“, bessergestellten Schichten der Klasse und dem wachsenden Anteil „prekärer“, überausgebeuteter Teile größer geworden.

In praktisch allen imperialistischen Ländern sind seit den 1980er Jahren immer größere Teile der Klasse von Unterbeschäftigung, von „prekären“ Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit usw. betroffen und bilden ein wachsendes Segment der Lohnabhängigen, das von „Niedriglohn“ leben muss. Darunter ist nicht einfach „schlechte Bezahlung“ zu verstehen. Ein immer größerer Teil der Arbeiter:innenklasse wird gezwungen, seine Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen.

In den meisten imperialistischen Ländern (wie auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst einigen Halbkolonien) hatten sich in der Nachkriegsperiode Verhältnisse etabliert, die ab den 1950er, spätestens jedoch in den 1960er und auch 1970er Jahren (also grob gesagt bei einer ganzen Generation) den Eindruck erwecken konnten, dass die nächste Generation der Lohnabhängigen materiell besser gestellt wäre als ihre Eltern.

Doch dies war an historisch außergewöhnliche Bedingungen geknüpft: die Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Erneuerung des Produktionsapparates in zahlreichen Ländern, die Möglichkeit, „überschüssiges“ US-Kapital zum Aufbau auf der ganzen Welt zu nutzen, bei gleichzeitiger Wiederbelebung und Expansion wichtiger imperialistischer Rival:innen (v. a. Deutschlands und Japans), die enorm gesteigerte Ausbeutungsrate der Arbeiter:innenklasse während des Krieges in den faschistischen und demokratischen Ländern, die Etablierung der USA als klare Führungsmacht unter den imperialistischen Staaten und damit des US-Dollars als Weltgeld und die Öffnung der Kolonialmärkte Britanniens und Frankreichs (was letztlich die Abschaffung des Kapitalismus in Osteuropa und China kompensieren konnte).

So konnten Akkumulationsbedingungen geschaffen werden, die es für mehrere Konjunkturzyklen ermöglichten, die Steigerung der Profitmasse mit einer Erhöhung des Konsums der Arbeiter:innenklasse zu kombinieren – nicht zuletzt, weil die vorherrschende Form der Erhöhung des Mehrwerts die Produktion des relativen Mehrwerts war. Das Proletariat wuchs enorm, und zugleich war die Nachkriegsperiode auch von einer weit größeren Bedeutung der Konsumgüterindustrie geprägt.

Die „neoliberale Wende“ mit historischen Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse unter Reagan und Thatcher und der Umstrukturierung in Lateinamerika änderte das. Der Zusammenbruch der bürokratischen Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas verschärfte das noch dramatisch, schuf eine industrielle Reservearmee und eröffnete neue Ausbeutungsgebiete. Die Rekapitalisierung Russlands, Osteuropas und Chinas ging mit einer grundlegenden Veränderung des globalen Kräfteverhältnisses am Beginn der 1990er Jahre einher, was den USA die zeitweilige Festigung einer hegemonialen Vorherrschaft erlaubte, die seit den 1970er Jahren schon mehr und mehr erodiert war.

Alle diese Veränderungen haben bezüglich der Neuzusammensetzung der Klasse zu zwei grundlegenden Erscheinungen geführt: erstens der Entstehung eines permanenten Sockels von Langzeitarbeitslosen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert werden können. Selbst in den Perioden des Aufschwungs verschwindet er längst nicht mehr. D. h., ein beachtlicher Teil des Proletariats kann seine Arbeitskraft nicht verkaufen, droht ins Sub- oder gar Lumpenproletariat abzusinken.

Laut ILO waren Ende 2013 199,8 Millionen Lohnabhängige arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit um 30,6 Millionen größer als vor der großen Krise und wurde v. a. in den „Industrieländern“, also, grob gesprochen, den imperialistischen Staaten, kaum abgebaut.[v] Der aktuelle Bericht der ILO vom Januar 2023 spricht von rund einer halben Milliarde Lohnarbeiter:innen, die entweder als statistisch erfasste Arbeitslose oder als „permanent“ aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschiedene dem Markt entzogen sind.[vi]

Zweitens hat sich in allen lang etablierten imperialistischen Ländern eine bedeutende Schicht von Arbeiter:innen gebildet, die unter ihren Reproduktionskosten entlohnt werden, „Working Poor“, Billigjobber:innen, „Prekariat“. Diese oft weiblich, jugendlich und migrantisch geprägten Teile der ArbeiterInnenklasse machen z. B. in Deutschland mittlerweile rund ein Viertel der Lohnabhängigen aus, in vielen anderen Ländern sogar mehr.

In den Halbkolonien hat diese Entwicklung noch weit extremere Formen angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit „Megastädte“ gebildet – einschließlich erbärmlicher Wohn- und Lebensverhältnisse für Abermillionen Proletarier:innen. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt.

2013 müssen rund 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar/Tag ihr Auskommen fristen; geschätzte 2 Milliarden (also fast ein Viertel der Weltbevölkerung) leben heute von 2 US-Dollar/Tag oder noch weniger. Dazu zählen natürlich große Teile der Landarmut, von Bauern/Bäuerinnen, Landlosen, Flüchtenden usw. –, aber eben auch Abermillionen Einwohner:innen dieser riesigen städtischen Ballungszentren. Von den LohnarbeiterInnen der Welt leben lt. ILO geschätzte 447 Millionen von einem Einkommen unter 1,25 US-Dollar/Tag.[vii]

Dabei speist sich die Verstädterung aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits sind v. a. in Asien (davor aber auch in Brasilien) Städte gewachsen, teilweise regelrecht aus dem Boden gestampft worden, die zu riesigen industriellen Zentren auswuchsen, samt einer überausgebeuteten Industriearbeiter:innenschaft. So hatten die Wanderarbeiter:innen – die weltweit größte Welle der Arbeitsmigration – einen enormen Anteil am chinesischen „Wirtschaftswunder“.

Ähnlich der Entwicklung des Frühkapitalismus wurde „überschüssige“ Landbevölkerung, die ihrerseits keine oder kaum noch Existenzmöglichkeiten auf dem Land hatte, von industriellen Investor:innen angezogen und folgte ihnen. Etliche der chinesischen Städte, die heute Millionenstädte sind, waren noch vor einigen Jahrzehnten Kleinstädte oder gar Dörfer. Manche mögen auch mit dem „Weiterziehen“ des Kapitals im nächsten Zyklus wieder schrumpfen.

Entscheidend ist jedoch, dass sich bei dieser Form der Migration zur Stadt eine neue, produktive Arbeiter:innenklasse samt aller möglichen weiteren Bevölkerungsgruppen, die zu Großstädten gehören, bildet. Auch wenn diese Lohnabhängigen als extrem ausgebeutete, entrechtete, oft auch „illegale“ Arbeitskräfte beginnen, so entwickeln sie mehr oder weniger „spontan“ Formen des ökonomischen Kampfes und beginnen früher oder später, für höhere Einkommen zu kämpfen, um ihre eigene Reproduktion zu sichern.

Das Anwachsen von Megastädten führt aber auch zu einer anderen Tendenz, die für bestimmte Ballungszentren geradezu typisch ist. Millionen werden vom Land vertrieben, weil sie dort kein Auskommen finden, was natürlich oft noch durch Kriege, sozialen Niedergang, klimatische Katastrophen verschärft wird. Doch in den städtischen Zentren werden sie auch als Lohnabhängige nicht gebraucht. In immer mehr Halbkolonien bilden sie eine wachsende Masse von Menschen, die sich abwechselnd als Gelegenheitsarbeiter:innen, kleine „Händler:innen“, Kriminelle, Paupers usw. verdingen muss. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Existenz selbst als extrem ausgebeutete und marginalisierte Schichten kaum sichern können. Der Kapitalismus hat für sie sogar als billigstes Ausbeutungsmaterial keine oder nur gelegentliche Verwendung.

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreiben Marx und Engels eindrücklich, dass die Krisen im Kapitalismus einen solchen Zustand hervorrufen, der die Reproduktion des/der Lohnsklav:in als solche/n immer prekärer macht.

„Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden.“[viii]

Für Milliarden Menschen ist heute das Leben als Pauper oder an der Grenze zum Pauperismus Realität – und nur Phantast:innen können davon träumen, dass der Kapitalismus für diese eine bessere Zukunft bieten kann.

Neben den Wanderungsbewegungen in städtische Zentren ist die Migration von der „Peripherie“ in die Zentren des Weltkapitalismus ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche, v. a. der letzten Jahrzehnte. Die Verheerungen des globalen Kapitalismus haben Millionen in Mexiko und anderen zentralamerikanischen Ländern oder in Osteuropa weiter entwurzelt, „überflüssig“ gemacht. Das gilt ebenso für zahlreiche Länder des arabischen Raums, Afrikas oder Asiens. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und Arbeitsmigrant:innen versucht dabei, die eine Lebensperspektive versprechenden Zentren Nordamerikas oder Westeuropas zu erreichen. Die meisten scheitern an den rassistisch abgeschotteten Außengrenzen. Zehntausende krepieren beim Versuch, „illegal“ in die Zentren des Weltimperialismus zu gelangen.

Dort drohen ihnen Abschiebung und entwürdigende Behandlung als Bittsteller:innen. Bestenfalls werden sie als passgerechte Arbeitskräfte mit weniger oder gar keinen sozialen Rechten, geringeren Löhnen, als Menschen zweiter Klasse verwendet. „Integration“ ist trotz ihrer permanenten Beschwörung letztlich nicht gewünscht. Daher werden auch Menschen der zweiten und dritten Generation, also die Kinder von Migrant:innen, bis heute als „Ausländer:innen“ behandelt, als „Gastarbeiter:innen“, die nach getaner Arbeit möglichst wieder verschwinden sollen.

Dieses System findet sich in fast noch extremerer Form in manchen Halbkolonien, v. a. in den arabischen Golfstaaten oder Ländern wie Libyen, deren Nationaleinkommen sich im Wesentlichen aus der Grundrente speist und wo ein Großteil der Arbeit von Migrant:innen geleistet wird.

Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Lebensaspekt der weltweiten Arbeiter:innenklasse geworden. Ein immer größerer Teil ist gezwungen, Grenzen zu überschreiten – oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Diese mit unendlichem menschlichen Leid verbundenen Wanderungsbewegungen haben aber auch einen enorm revolutionierenden Aspekt. Sie stellen lokale oder nationale „Traditionen“ in Frage, untergraben den oft jahrzehntelang etablierten Konservatismus der „einheimischen“ Arbeiter:innen (einschließlich früherer Generationen von Migrant:innen), schaffen länder- und sprachübergreifende Verbindungen.

Die Integration der Migrant:innen und Flüchtlinge in die Arbeiter:innenbewegung kann dabei letztlich nur über den gemeinsamen Klassenkampf erfolgen – sie ist folglich eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen Periode. Sie kann nur durch einen unversöhnlichen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch „mildere“ Formen der Bevormundung und des unkritischen Verteidigens der „eigenen“ etablierten „Arbeiter:innen“kultur (in der Regel ohnedies nur als eine unter den Lohnabhängigen etablierte Form der bürgerlichen Kultur) bewältigt werden.

Abschließend wollen wir die globale Expansion der unteren Schichten des Weltproletariats noch an einigen Zahlen aus dem Jahr 2019, also vor der Coronapandemie und der damit verbundenen Rezession, illustrieren.

Lt. Berechungen der ILO[ix] waren 2019 2 Milliarden Arbeiter:innen im informellen Sektor beschäftigt oder rund 60 % aller Beschäftigten. D. h., die Masse der lohnabhängig Beschäftigten betrug rund 3,33 Milliarden, was nicht mit der Gesamtgröße der Arbeiter:innenklasse gleichgesetzt werden darf, da diese auch nicht-erwerbstätige Angehörige (zumeist Frauen), Kinder und nicht-beschäftigte Jugendliche, nicht mehr Arbeitssuchende und Rentner:innen inkludiert. Zweitens verbergen sich hinter dem Verhältnis enorme Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen der Welt.

Dies zeigt ein Vergleich der „informality rate“ (Prozentsatz der informellen Arbeit) in verschiedenen Regionen im Jahr 2021:

Region Gesamt Männer Frauen
Afrika 82,9 80,0 86,6
Nordamerika 19,1 19,1 19,1
Lateinamerika und Karibik 56,4 56,2 56,7
Arabische Staaten (Gesamt, ohne Nordafrika) 60,2 61,1 55,6
Ostasien (inklusive China und Japan) 50,9 52,3 48,8
Südostasien und Pazifik 69,1 69,4 68,5
Südasien (Indien, Pakistan, Bangladesch) 87,6 87,2 89,3
Süd-, Nord- und Westeuropa 17,5 16,1 19,1
Osteuropa (inkl. Russland) 21,7 23,3 19,8
Zentral- und Westasien 45,1 43,3 47,7

Quelle: ILO, World Econmic Outlook 2021, Tabelle selbst erstellt

Obige Tabelle spiegelt natürlich nicht direkt die Verteilung der Arbeiter:innenklasse wider. Informelle Arbeit ist beispielsweise nicht identisch mit Löhnen, die unter den Reproduktionskosten liegen (das kann einerseits auch im „formellen“ Sektor vorkommen, andererseits erstreckt sich die informelle Beschäftigung in manchen Ländern, z. B. in Indien, auch auf höher qualifizierte Berufe und kann in solchen Fällen auch ein Einkommen über den Reproduktionskosten schaffen). Darüber hinaus sind die statistischen Zahlen in einigen Ländern sehr unzuverlässig und auch die Vergleichbarkeit der Erhebungen ist schwierig. Aber diese Zahlen bieten einen Indikator für die globale imperialistische Ausbeutung.

Auch wenn in den imperialistischen Zentren der informelle Sektor in den letzten Jahrzehnten massiv zugelegt hat, so liegt er dort bei 20 % oder darunter. China hat zweifellos einen für eine imperialistische Macht vergleichsweise großen informellen Sektor, und die Zahlen bedürfen sicher einer gesonderten Analyse. Sie verweisen aber auf die große Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung in diesem Land, die sich in einem großen informellen Sektor und einem enorm gewachsenen Gegensatz von Stadt und Land äußert.

Auch die geschlechtliche Zusammensetzung verweist zwar auf ein Übergewicht von Frauen, keinesfalls jedoch in allen Regionen. Das hängt sowohl mit der Struktur der Ökonomie zusammen als auch mit dem Arbeitsregime. So ist eine Ursache des relativ hohen Anteils informeller männlicher Arbeit in den arabischen Staaten in der Arbeitsmarktstruktur der Golfstaaten zu finden. Die beschäftigten Staatsbürger:innen arbeiten dort in der Regel nicht im informellen Sektor. Die Masse der produktiven Arbeiter:innenklasse besteht wiederum aus Migrant:innen, wobei bestimmte informelle Sektoren fast ausschließlich männliche Arbeitskräfte umfassen (z. B. Bauwirtschaft).

Grundsätzlich können wir sagen, dass die Zentren der globalen informellen Arbeit in den halbkolonialen Ländern liegen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Osteuropa) beträgt der Anteil des informellen Sektors praktisch überall 50 % oder mehr. Extreme Formen der Ausbeutung der Lohnarbeiter:innenklasse sind für die Mehrheit des Proletariats seit Jahrzehnten die Regel.

Die Zentren der informellen Arbeit finden wir in Afrika (und hier noch einmal besonders südlich der Sahara) und in Südasien. Dort kann der Anteil informeller Arbeit von Lohnabhängigen nur noch durch weitere Proletarisierung nicht-lohnabhängiger Schichten gesteigert werden. Die hohen Anteile an informeller Arbeit in beiden Weltregionen dürfen jedoch auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf sehr unterschiedlichen Quellen beruhen. In Afrika, und vor allem südlich der Sahara, ist der Anteil industrieller Arbeit (mit Ausnahme Südafrikas) sehr gering. Diese Region ist seit einer ganzen Periode für die imperialistischen Staaten im Wesentlichen wegen der Plünderung von Rohstoffen (extraktive Industrie, teilweise Landwirtschaft) interessant. Im Gegensatz dazu wird ein beträchtlicher Teil der informellen Arbeit in Südasien, und hier wiederum v. a. in Indien, auch im produzierenden Gewerbe beschäftigt, also zur Produktion industriellen Mehrwerts genutzt.

Es ist in dem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass der Anteil informeller Arbeit in Ost- und Südoststasien relativ geringer ausfällt. Dies wird natürlich auch dadurch bedingt, dass sich dort auch wichtige imperialistische Ökonomien befinden, die den Schnitt drücken. Es handelt sich zweitens auch zum Teil um relativ entwickelte Halbkolonien mit einer starken industriellen Basis (Südkorea, Taiwan) sowie auch ärmere Halbkolonien, die zu wichtigen Produktionsstandorten für globale, auch industrielle, Wertschöpfungsketten mitierten.

Die Verbreitung industrieller Produktion im großen Maßstab führt dabei nicht nur zu einem Wachstum der Arbeiter:innenklasse, sie begünstigt früher oder später auch ökonomische Kämpfe zur Einschränkung extremer (informeller) Formen der Ausbeutung.

In diesen Ländern haben wir es in der Globalisierungsperiode, generell betrachtet und im Gegensatz zu den alten imperialistischen Zentren, aber auch in Afrika und Lateinamerika, mit einer extrem rasch wachsenden industriellen Arbeiter:innenklasse zu tun.

Diese agierte generell unter extremen Bedindungen – seien es direkt diktatorische oder despotische Regime oder Demokratien mit extremen bonapartistischen Tendenzen. Dennoch ist in vielen dieser Länder nicht nur eine neue Klasse von Lohnabhängigen, sondern auch eine Arbeiter:innenbewegung entstanden.

Während sie in den Jahren vor der Pandemie vor allem unter den Bedingungen der kapitalistischen Expansion kämpfen musste/konnte, muss sie seit 2020 unter den Bedingungen einer kapitalistischen Krise agieren, die sowohl durch globale Probleme bedingt ist als auch durch die zyklische Bewegung des eigenen Kapitals (Überakkumulation).

1.4 Alte und neue Arbeiter:innenaristokratie

Nicht nur die unteren und mittleren Schichten des Proletariats, sondern auch die bessergestellten Teile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert.

Schon im 19. Jahrhundert, beim Übergang zur imperialistischen Epoche, hatte Friedrich Engels bei der Analyse des britischen Imperialismus festgestellt, dass sich im Kerngebiet des Empire eine relativ privilegierte Schicht der ArbeiterInnenklasse – die Arbeiter:innenaristokratie – abzusondern begann und so zu einer erweiterten sozialen Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in den Reihen der Klasse der Lohnabhängigen geworden war.[x] Engels leitete die Entstehung einer solchen Schicht von „bessergestellten“ Arbeiter:innen aus der vorherrschenden Stellung des britischen Imperialismus, aus dessen Weltmarktmonopol, ab und aus der starken ökonomischen Stellung dieser Arbeiter:innenschichten in der großen Industrie.

Lenin griff den Gedanken auf und erkannte, dass die imperialistische Epoche die Grundlage für die Entstehung und Reproduktion einer ganzen Schicht der Arbeiter:innenaristokratie in allen dominierenden kapitalistischen Staaten schuf. Britannien bildete nicht länger eine Ausnahme:

„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848–1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit in mehreren Ländern die Oberhand behalten könnte.“[xi]

Gegen Lenins Theorie der Arbeiter:innenaristokratie sind in den letzten hundert Jahren viele Einwände erhoben worden – insbesondere auch, indem ihm aus einzelnen Zitaten eine recht primitive „Bestechungstheorie“ unterstellt wurde. Unter „Bestechung“ dürfen wir uns keineswegs ein quasi kriminelles „Kaufen“ der oberen Schichten der Klasse vorstellen (wiewohl es das auch gibt).

Die Entstehung der Arbeiter:innenaristokratie vollzieht sich vielmehr wesentlich über den ökonomischen, gewerkschaftlichen Kampf, der für die Lohnabhängigen in zentralen Industrien und strategischen Sektoren ermöglicht, dauerhaft relativ gute Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu erringen (im Gegensatz nicht nur zu den Arbeiter:innen in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten, sondern auch zu den unteren Schichten und zum Durchschnitt der Klasse). Kurzum, diese Schichten sind in der Lage, die Ware Arbeitskraft über eine längere Periode über ihrem Wert zu verkaufen, was nichts daran ändert, dass sie weiter Lohnarbeiter:innen bleiben und ihre Ausbeutungsrate extrem, ja sogar höher als die anderer Lohnabhängiger ausfallen kann.

Darüber hinaus bedeutet die Zugehörigkeit zur Arbeiter:innenaristokratie keineswegs, dass diese Schichten immer weniger Kampfbereitschaft zeigen würden als andere. Im Gegenteil, unter bestimmten historischen Bedingungen können sie sogar Kernschichten der Avantgarde umfassen. So bildeten z. B. die Revolutionären Obleute in der Novemberrevolution eindeutig einen Teil der Arbeiter:innenaristokratie.

Wichtig für uns ist jedoch, dass Lenin erkannte, dass die Bildung einer Arbeiter:innenaristokratie und deren Reproduktion zu einem Kennzeichen aller imperialistischen Staaten wurde. Inmitten des Ersten Weltkriegs konnte er realistisch mit einer objektiven Aushöhlung der Stellung dieser Schicht und damit auch der bürgerlichen Arbeiter:innenpolitik und der dominierenden Stellung „bürgerlicher Arbeiter:innenparteien“ rechnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Arbeiter:innenaristokratie in den imperialistischen Ländern jedoch in einem bis dahin nicht dagewesenen Maße und konnte sich als solche über eine historisch außergewöhnlich lange Periode  reproduzieren. Mehr noch, solche Formen der Bildung einer, wenn auch zahlenmäßig deutlich kleineren, „Aristokratie“ lassen sich auch in den halbkolonialen Ländern, v. a. in den industriell fortgeschritteneren, wie, historisch betrachtet, auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten finden.

Mit dem Ende des „langen Booms“ und v. a. mit der Wende zum Neoliberalismus wurden auch Kernschichten der Arbeiter:innenaristokratie (z. B. die Bergarbeiter:innen und Docker:innen unter Thatcher, die Fluglots:innen unter Reagan) zu Angriffszielen, ja, teilweise zu bevorzugten. Deren Niederlagen zogen unmittelbar demoralisierende Auswirkungen auf die große Masse der Lohnabhängigen nach sich, denen so deutlich gemacht wurde, dass ihr Widerstand erst recht zwecklos sei.

In jedem Fall haben wir in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Beschleunigung des Wandels der Arbeiter:innenaristokratie beobachten können. Erstens wurden diese Schichten aufgrund von technischem Wandel, Verlagerungen und Niederlagen massiv geschwächt. Die „traditionelle“ Aristokratie ist im Schrumpfen begriffen.

Zweitens sind aber auch neue Schichten der Arbeiter:innenaristokratie infolge der Proletarisierung von lohnabhängigen Mittelschichten, der realen Subsumtion ihrer zuvor oft nur formell dem Kapital unterworfenen Arbeit, entstanden.

Zum Dritten ist in neuen imperialistischen Ländern (v. a. China) und in einigen wirtschaftlich stärkeren Halbkolonien, z. B. den BRICS-Staaten, eine neue Arbeiter:innenaristokratie entstanden oder im Entstehen begriffen.

1.5 Restrukturierung des Produktionsprozesses

Die Jahrzehnte seit Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland, Osteuropa und China haben zu einer massiven Ausdehnung des Weltmarktes geführt. Der Welthandel ist dabei deutlich stärker gewachsen als die Produktion selbst. Dies hat zugleich die Arbeiter:innenklasse selbst zu einer Klasse gemacht, wo wachsende Teile der Lohnabhängigen in den globalen Austausch integriert sind. Ihre Arbeit ist in sehr unmittelbarem Sinn Arbeit, die auf eine globale Vergesellschaftung bezogen ist.

Das betrifft zum einen die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen für globale Märkte. Diese Entwicklung wird jedoch ergänzt und vertieft durch die Etablierung international integrierter Produktionsketten. Die Planung in den großen Monopolen findet heute oft länderübergreifend statt, unmittelbar bezogen auf den Weltmarkt (bzw. dessen zentrale Märkte). Das hat auch dazu geführt, dass z. B. in der Autoindustrie ein globaler industrieller Zyklus etabliert wurde, so dass über den nationalen Rahmen hinaus eine Tendenz zur Bildung einer globalen Durchschnittsprofitrate für einzelne Industrien entsteht.

Heute arbeiten Hunderte Millionen Lohnabhängige in multinationalen Konzernen, deren Produktionsstätten weltweit vernetzt sind, wo praktisch globale Planung – wenn auch für die bornierten Zwecke eines Einzelkapitals – erfolgt.

Kapitalexport, die globalen Geldströme und spekulative Anlagen – kurz, sämtliche Operationen von Kapital in Geldform – haben in den letzten Jahrzehnten gigantische Ausmaße angenommen, was selbst zu einer enormen Veränderung der Struktur des Produktionsprozesses, der Eigentumsstruktur geführt hat. Mehr und mehr Kapital ist in privater Hand und der des imperialistischen Großkapitals konzentriert.

Das ist die andere, im imperialistischen System unvermeidliche, Seite des „kapitalistischen Internationalismus“.

Das Niederreißen von Handelsschranken und Hemmnissen für den „freien Kapitalverkehr“ zwischen den einzelnen Ländern – wobei „Niederreißen“ für die kapitalistischen Zentren höchst selektiv ist – ist ein Moment, das diesen Prozess massiv beschleunigt, zum Teil erst möglich gemacht hat. Das andere waren Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die die Durchsetzung dieser Umstrukturierung erlaubten.

Diese Form der Internationalisierung geht freilich einher mit zunehmender Konkurrenz. Der Nationalstaat gerät letztlich zu einem Hindernis für die weitere Durchdringung der Weltwirtschaft, weil er einerseits zwar Instrument der kapitalistischen Globalisierung, andererseits aber der nationalen Kapitale (und als imperialistischer Staat dementsprechend dominierender Finanzkapitale ist), so dass diese Entwicklung der Internationalisierung im Nationalstaat eben auch ihre Schranke findet – eine Schranke, die auf kapitalistischer Basis nicht überwunden werden kann.

Wir müssen daher damit rechnen, dass die zunehmende Konkurrenz vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation der Weltwirtschaft früher oder später auch zu Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Einbrüchen der heute so vernetzten Weltwirtschaft führen wird, dass die „Open Door“-Policy mehr und mehr durch die Bildung von Blöcken abgelöst werden wird.

Für die Arbeiter:innenklasse hat die Internationalisierung der Produktion, die Ausdehnung des Weltmarktes, der immer raschere Transfer des Kapitals von einem Land, einem Anlage- oder Spekulationsobjekt zum anderen enorme Probleme mit sich gebracht, insbesondere, weil ganze Gruppen von Arbeiter:innen, ganze „Standorte“, ja, ganze Klassen gegeneinander direkt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Andererseits hat diese Entwicklung auch die Möglichkeit direkter international koordinierter Aktionen geschaffen. Die Verschlankung der Produktion und die Reduktion der Lagerhaltung haben auch die Konzerne anfälliger gemacht für die Aktionen selbst relativ kleiner Gruppen von Lohnabhängigen.

Während die Gewerkschaften und die tradierten Organisationen der Arbeiter:innenklasse noch dabei sind, sich auf die Neuzusammensetzung des Kapitals und der Klasse einzustellen, zeichnet sich für die Zukunft freilich eine neue, katastrophale Entwicklung ab.

Seit 2020, also mit Beginn der synchronisierten Rezession, die durch die Coronapandemie ausgelöst wurde, aufgrund der Erschütterungen globaler Wertschöpfungs- und Lieferketten und infolge der massiven Zunahme der imperialistischen Konkurrenz bis hin zum Ukrainekrieg und den damit einhergehenden Turbulenzen der Weltwirtschaft nähern wir uns jedoch einem Punkt, wo die Internationalisierung des Kapitals in ihr Gegenteil umzuschlagen beginnt. Zweifellos kann dieser Moment hinausgeschoben werden, können die führenden Mächte dem bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Aber auf dem Boden des Imperialismus und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist ein solcher Umschlag letztlich unvermeidlich. Seit 2020 befinden wir uns in einer Situation, in der diese Tendenz immer stärker wird – z. B. auch in Form der Rückholung bestimmter, vormals ausgelagerter Produktion.

Mit dem Produktionsprozess wurden in den letzten Jahren auch die Reproduktionsbedingungen der Klasse umgekrempelt. „Soziale Absicherung“ gab es für große Teile der Lohnabhängigen dieser Welt ohnedies nie. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden die von der Arbeiter:innenklasse erkämpften oder von der herrschenden Klasse zugestandenen sozialen Sicherungssysteme, Versicherungen, staatliche Vorsorge, Bildungs- und Sozialleistungen, Renten usw. massiv zurückgefahren und oft privatisiert. Dasselbe gilt generell für staatliche Dienstleistungen. Einerseits wurden auf diese Weise Anlage suchenden Kapitalien Investitionsmöglichkeiten geboten zur mehr oder weniger sicheren, raschen Bereicherung. Andererseits geht es v. a. darum, die Reproduktionskosten der Klasse zu senken. Vorher über Steuern finanzierte Leistungen müssen nun zunehmend aus dem Nettolohn bestritten werden. Insgesamt findet so eine Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft statt.

1.6 Reproduktionsprozess

Zugleich hat die Minderung der Reproduktionskosten enorme Auswirkungen auf Frauen, die Jugend, Kranke und Rentner:innen. Die Lage der proletarischen Frauen war im Kapitalismus schon immer durch die Doppellast von Ausbeutung als Lohnabhängige und privater Hausarbeit gekennzeichnet. Die Reorganisation des Reproduktionsbereiches unter dem Neoliberalismus hat diese Doppelbelastung noch erhöht. Die Kürzung bzw. Verteuerung von Sozialleistungen bedeutet für Millionen und Abermillionen proletarischer Frauen, dass sie diese Dienste nun zusätzlich und „kostenlos“ zu verrichten haben – und verstärkt aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Mit dem Ende des langen Booms und der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mitprägen, wird auch die Widersprüchlichkeit der Reproduktion deutlicher, gerät sie in eine Krise.

Für die Arbeiter:innenklasse und vor allem für die proletarischen Frauen bedeutet das:

Reproduktionsarbeit im staatlichen, kommunalen, öffentlichen Bereich, die nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausgedehnt wurde, wird seit vielen Jahrzehnten faktisch zurückgedrängt. Dies führt generell zu einer Kürzung des Soziallohns, also faktisch zur Reduktion des Lohnfonds der gesamten Klasse.

Dieses Rollback geht oft mit einer Privatisierung vormals öffentlicher/staatlicher Reproduktionsarbeit oder zumindest mit der Einführung kapitalistischer Rechnungsführung in formal staatlichen oder genossenschaftlichen Institutionen einher.

Im fürs Kapital günstigsten Fall soll die Reproduktionsarbeit Profit für Eigentümer:in/Investor:in erwirtschaften. Die Dienstleistung (Gesundheit, Pflege, Bildung, Jugendbetreuung) wird durch Privatisierung zum Selbstzweck, unproduktive Arbeit zu produktiver fürs Kapital.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt das eine Katastrophe dar, vor allem für Frauen, Jugend, Alte und die unteren Schichten des Proletariats. Die Verschlechterung öffentlich geleisteter Reproduktionsarbeit geht Hand in Hand mit der Ausdehnung von Billiglohn, prekären Verhältnissen, Kürzungen bei Renten, Verteuerung von Gesundheit, Kitas einher. Für die Lohnabhängigen bedeutet das, dass größere Bestandteile ihres Einkommens für diese Reproduktionsarbeiten aufgewendet werden müssen – oder dass sie diese Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen können.

Die Folge davon ist eine tendenzielle Ausweitung der privaten Reproduktionsarbeit, v. a. in den Halbkolonien und bei den einkommensschwachen und unterdrückten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Nur rund die Hälfte der globalen Arbeiter:innenklasse von rund 4 Milliarden Menschen verfügt über irgendeine Form sozialer Absicherung.[xii]

Für Millionen, wenn nicht Milliarden Lohnabhängige (und auch große Teil der verbliebenen Kleinbauern und -bäuerinnen) bedeutet dies, dass sie ihre Arbeitskraft nicht voll reproduzieren können.

All dies verstärkt die Ungleichheit und die reaktionären Tendenzen im Proletariat und in der Gesellschaft. Lohnabhängige Frauen werden verstärkt in Familien oder Ehen gezwungen; Kinder länger an diese gebunden, Alte ebenfalls.

Ebenso wie beim tendenziellen Abbau etablierter Formen international vernetzter produktiver Arbeit haben wir es auch hier mit einer offenkundigen Tendenz zur gesellschaftlichen Regression zu tun, mit einem globalen Zurückfallen hinter den zuvor erreichten Stand der Entwicklung.

Doch diese Entwicklungen laufen keineswegs ohne Widersprüche ab. Die Entstehung einer neuen Frauenbewegung (Frauen*streiks) und die Betonung der Frage der Reproduktion reflektiert diese Entwicklung. Zugleich wird sie jedoch von den vorherrschenden Strömungen des linken Feminismus[xiii] (Feminism for the 99 %) falsch ideologisiert, faktisch auf den Kopf gestellt. Die aktuelle Entwicklung der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus zeigt schlagend, wie sehr die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion von der Produktion bestimmt wird.

Wie die Frauen sind auch andere sozial Unterdrückte besonders von Kürzungen, der Umstrukturierung des Reproduktionsprozesses betroffen: MigrantInnen, Jugendliche, RentnerInnen sowie alle, die aus dem Produktionsprozess wegen Krankheit ausscheiden müssen.

2. Die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends

Nachdem wir oben auf einige zentrale Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der gesamten Globalisierungsperiode eingegangen sind, wollen wir uns näher mit den Auswirkungen der Rezession 2020 und 2021 befassen. Sie sind enorm und, was die Lage der Weltarbeiter:innenklasse betrifft, einschneidender als die jeder anderen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind in vieler Hinsicht deutlich größer als die Folgen der Krise 2008 – 2010, weil diese (a) weit weniger synchronisiert war, (b) mit keinem zeitweiligen Zusammenbruch globaler Produktions- und Vertriebsketten einherging und (c) die imperialistischen Staaten vergleichsweise einheitlicher, koordinierter agierten.

Im Folgenden wollen wir hier kurz einige der wichtigsten Auswirkungen auf die Arbeiter:innenklasse betrachten.

Die weltweite Wirtschaftskrise ging mit einem massiven Verlust an geleisteten Arbeitsstunden einher. 2020 wurden im Vergleich zu 2019 weltweit 8,8 % weniger geleistet. Das entspricht der Gesamtarbeit von 255 Millionen voll beschäftigten Arbeiter:innen pro Jahr bei einer 48-Stunden-Woche. 2021 waren es immer noch 125 Millionen Vollzeitjobs weniger als 2019. Zum Vergleich dazu: Während der Krise 2008/2009 stieg die Zahl der global geleisteten Arbeitsstunden, wenn auch nur um vernachlässigbare 0,2 %. Dies zeigt den synchronisierten Charakter der Rezession 2020 und die zeitweilige, erzwungene Einstellung bedeutender Teile der weltweiten Produktion. 2008 bis 2010 waren hingegen keineswegs alle Länder in gleichem Maße betroffen, und China konnte schon rasch als Lokomotive der Weltwirtschaft agieren. Die ILO rechnet damit, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zwar 2022 weiter zunimmt, insgesamt aber selbst 2023 das Niveau von 2019 noch nicht erreicht werden wird (selbst unter der Annahme, dass der Krieg und die Sanktionen um die Ukraine beendet, die Inflation erfolgreich bekämpft und eine globale konterzyklische Politik in Gang gesetzt werden).

Der Rückgang der global geleisteten Arbeitsstunden entfällt 2020 zu etwa gleichen Teilen auf, teilweise staatlich finanzierte, Kurzarbeit (Äquivalent von 131 Millionen Vollzeitjobs) oder auf das direkte Anwachsen von Arbeitslosigkeit (124 Millionen). Die globale Rate von Bevölkerung zu Beschäftigung (global employment-population-ratio) fiel 2020 gegenüber 2019 um 2,7 % (im Vergleich dazu lag der Fall 2008 – 2009 bei 0,7 %). Insgesamt stieg die registrierte Arbeitslosigkeit in der Krise 2020 und 2021 auf rund 220 Millionen Menschen. Auch wenn sie 2022 etwas absank, lag sie noch immer deutlich über den 186 Millionen registrierten Arbeitslosen 2019. Darüber hinaus sind diese Zahlen außerdem wahrscheinlich sehr geschönt, weil von einigen Ländern kaum oder nur sehr verspätet Daten eintreffen. Außerdem inkludieren sie nur Menschen, die aktiv nach Arbeit suchen, nicht solche, die aus dem Arbeitsmarkt „dauerhaft ausgeschieden“ sind. Die Verteilung zwischen (keineswegs immer bezahlter) Kurzarbeit und direkter Arbeitslosigkeit von 50 % zu 50 % lässt sich lt. ILO in den meisten Ländern konstatieren, außer in den einkommensstärksten. In diesen bestand die vornehmliche Antwort auf die Krise in der Kurzarbeit, was auch bedeutete, dass diese auf ein Ende der Pandemie oder deren Einschränkungen rascher und besser reagieren konnten. Die Erholung des Arbeitsmarktes fiel in den reicheren Ländern daher auch weit stärker aus.

Die Krise hat zu enormen Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse geführt. Das globale Lohneinkommen (also die staatlichen Transfers nicht eingerechnet) sank 2020 um 3,7 Billionen US-Dollar (8,3 %) gegenüber 2019. Dieser Trend hielt im ersten Quartal 2021 an (1,3 Billionen US-Dollar). Die ILO schätzt, dass die Anzahl der Arbeiter:innen in extremer (bis zu 1,9 US-Dollar pro Haushalt und Tag) oder „moderater“ Armut (1,9 – 3,2 US-Dollar je Haushalt und Tag) um 100 Million anwuchs. Damit wurden faktisch alle von den Vereinten Nationen im letzten Jahrzehnt proklamierten „Erfolge“ in der Armutsbekämpfung zunichtegemacht.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verteilung von extremer und „moderater“ Armut von Lohnarbeitenden in den Jahren 2019 und 2020. Die Zahlen beziehen sich dabei auf Haushalteinkommen mit mindestens einer/m beschäftigen Lohnarbeiter:in.

  Extreme Armut (weniger als 1,90 US-Dollar/Tag in PPP) Moderate Armut (1,90 US-Dollar/Tag – 3,20 US-Dollar/Tag in PPP
Region 2019 2020 2019 2020
Afrika   31,8 % 145 Mil 34 154 24,1 110 26,2 119
Lateinamerika und Karibik 3,0 8,8 3,8 9,9 5,0 14 6,8 18
Arabische Staaten (Nicht-Golfstaaten, ohne Nordafrika) 17,6 4,5 Mil 18,7 4,7 14,9 3,8 17,0 4,2
Ostasien 0,5 5 0,8 7 2,9 29 3,9 34
Südostasien und Pazifik 2,6 9 3,9 13 11 38 14 47
Südasien 6,7 45 9,8 62 26,7 178 35,9 225
Zentral- und Westasien 1,6 1,1 1,9 1,3 6,1 4,3 7,4 5,0

Auch in den imperialistischen Ländern dürfen die Auswirkungen der Reallohnverluste keineswegs unterschätzt werden. Generell hat die Krise jedoch die Arbeiter:innenklasse in den halbkolonialen Staaten weit mehr getroffen.

Das hat mehrere Gründe. Erstens war der Anstieg der Arbeitslosigkeit viel größer als in den westlichen, imperialistischen Zentren. Zweitens waren die Kurzarbeitsschemata knapper, weniger dauerhaft und auch weit häufiger nicht oder nur zu sehr geringen Teilen bezahlt. Drittens bedeutete die Dominanz informeller und ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse, dass die Arbeiter:innen in den meisten Halbkolonien über keine Sicherung und Reserven verfügten. Viertens traf die Rezession den informellen Sektor besonders hart, weil in vielen Halbkolonien hunderttausende kleine Unternehmen pleitegingen und, im Gegensatz zu den imperialistischen Ländern, staatlich nicht gestützt werden konnten oder sollten. Fünftens wurden in den Halbkolonien seit der Krise neue Jobs im Wesentlichen in Sektoren mit geringer Arbeitsproduktivität geschaffen. So schätzte die ILO (2021), dass die durchschnittliche globale Arbeitsproduktivität von ohnedies schon mageren +0,9 % in der Periode 2016 – 19 in der 2019 – 2022 um 1,1 % sinken wird. Auch das ist ein untrügliches Zeichen von Stagnation und faktischem Niedergang.

Generell lässt sich sagen, dass die Krise die Arbeiter:innen in den Halbkolonien, die Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen weit härter traf als den Durchschnitt. Das trifft auch auf das Verhältnis von gelernten und ungelernten, von unqualifizierten, Arbeiter:innen mit mittlerer Qualifikation und akademisch ausgebildeten Kräften zu. Letztere waren am wenigsten von der Krise betroffen, konnten deutlich schneller und dauerhafter zum Homeoffice wechseln und erlitten deutlich geringere Job- und Einkommensverluste, zumal wenn sie in größeren Unternehmen arbeiteten oder staatlich Beschäftigte waren.

Die Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiter:innenklasse wollen wir nur an einzelnen Zahlen illustrieren. 2020 sank die Beschäftigung von Frauen um 5 %, jene von Männern um 3,9 %. Hinzu kommt, dass geschätzt 90 % (!) dieser Arbeiterinnen, die ihre Jobs verloren, dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Dies ist das Resultat (a) geschlechtlicher Diskriminierung und Unterdrückung am Arbeitsplatz und (b) besonders hoher Jobverluste in einigen Berufen mit hohem Frauenanteil oder (c) besonders hoher Gesundheitsrisiken in bestimmten Bereichen (Einzelhandel, Gesundheitswesen). Vor allem aber hängt es damit zusammen, dass Frauen in die private Carearbeit gezwungen wurden und werden, sei es, weil sie staatliche Einrichtungen (Kindergarten, Schule, Gesundheit, Altersvorsorge) nicht mehr bezahlen können oder diese gar nicht existieren. Die massive Verarmung der unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse befördert zudem auch die Zunahme von Kinderarbeit in einigen Halbkolonien.

Ebenso sind Jugendliche besonders betroffen in Form von Arbeitslosigkeit, Jobverlusten, überproportional hohem Anteil von befristeten Arbeitsverhältnissen (faktisch die Regel für junge Arbeiter:innen).

Dies betrifft ebenso migrantische Arbeiter:innen und rassistisch Unterdrückte. Im Fall migrantischer Arbeiter:innen hat deren Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit auch massive Auswirkungen auf ihre Angehörigen in ihren Ursprungsländern, sei es, weil sie teilweise in diese mit Zwang zurückgeschickt wurden, sei es, weil sie keine oder deutlich weniger Lohnbestandteile an ihre Angehörigen schicken konnten, was zusätzlich die Verarmung der Arbeiter:innenklasse in den Ursprungsländern vergrößert.

Die Lage in den Halbkolonien wird zusätzlich durch das massive Anwachsen der Schulden verschlimmert. In den Jahren 2020 und 2021 setzten Kreditgeber:innen wie der IWF die Schuldenrückzahlung etlicher Halbkolonien aus, so dass diese die Krise etwas abfedern, zeitweise sogar kurzlebige konjunkturelle Feuerwerke entfachen konnten. Damit ist jetzt Schluss. Seither müssen die Schulden, teilweise mit zusätzlichen Auflagen verknüpft, zurückgezahlt werden.

Hier kommt ein weiteres mit der Rezession und Pandemie einhergehendes Phänomen hinzu. Seit 2020 können wir massive Preissteigerungen auf dem Weltmarkt für agrarische Rohstoffe beobachten. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine explodierten sie geradezu. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022. Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

Die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien trifft das besonders hart, weil sie einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben muss (50 – 100 %, verglichen mit 12 bis 30 % in den Industrieländern). Kein Wunder also, dass Millionen, auch Arbeitenden, Hunger droht.

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärfen die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leiden an Mangelernährung.

Zusammen mit der Inflation der Nahrungsmittelpreise trifft die Erhöhung der Energiepreise, der für Wohnraum und eine generelle Erhöhung der Preise die Massen mit voller Wucht. Der Krieg um die Ukraine und die Sanktionen wirken hier als Katalysatoren. In vielen Halbkolonien tritt außerdem zur Schulden- eine veritable Währungskrise.

Schließlich wird die drohende ökologische Katastrophe auch weitere Millionen in die Flucht zwingen. Diese ist eng verbunden mit einer Krise des gesamten Agrarsektors und seiner Abhängigkeit vom imperialistischen Finanzkapital.

Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls nachlassen. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen und erst recht angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Prognosen

Gegenüber dem Jahr 2020 brachte die Wende des Jahres 2021/22 eine gewisse Entspannung. So wuchs die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten im Jahr 2022 lt. ILO um 2,3 %. Für das laufende Jahr wird ein Wachstum von einem Prozent vorhergesagt.[xiv]

Die Ursachen dafür sind direkt Resultat der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre. Schon während der Pandemie wurden globale Lieferketten unterbrochen. Das schrumpfende Angebot führte schon damals zu signifikanten Steigerungen der Lebensmittelpreise für die Masse der Weltbevölkerung.

Angesichts der düsteren ökonomischen Aussichten können wir in den kommenden Jahren mit einer Stagnation der Größe der Arbeiter:innenklasse rechnen, wenn auch mit großen regionalen Unterschieden.

Für die arabischen Staaten (d. h. in erster Linie in den reicheren Ländern) und Teile Afrikas wird eine Ausdehnung der Beschäftigung prognostiziert. Rohstoffreichtum begünstigt dabei vor allem die Rentierökonomien in den arabischen Staaten und einige Länder Afrikas. Bei den Prognosen für Afrika muss außerdem die große Ungleichheit, vor allem aber das schlechte Ausgangsniveau mit in Rechnung gestellt werden. Aufgrund des Wachstums der Bevölkerung und damit der Arbeitssuchenden werden die Arbeitslosenraten deshalb kaum zurückgehen.

In Asien, Lateinamerika und der Karibik wird von einem Beschäftigungswachstum von maximal einem Prozent ausgegangen – ein Wachstum, dem jedoch ein noch größeres der Bevölkerung in vielen Ländern entgegensteht. In den USA und Kanada rechnet die ILO 2023 mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit, für Europa und Zentralasien sagt sie ein Schrumpfen der Anzahl der Beschäftigten voraus. In etlichen Ländern (auch Deutschland) wird das jedoch durch einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter konterkariert, was die Arbeitslosenraten relativ gering hält, ja, in etlichen Sektoren mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht.

Eine stagnierende Weltwirtschaft wird also begleitet von einem Arbeitskräftemangel in den technologisch fortgeschritteneren Sektoren der Produktion wie auch im Bildungs- und Gesundheitswesen. Das betrifft auf den ersten Blick vor allem die reicheren, entwickelteren Volkswirtschaften. Obwohl hier das Bildungs- und Ausbildungsniveau weiter über dem globalen Durchschnitt liegt, fehlt es an Fachkräften. Das hängt nicht nur mit einer veränderten Altersstruktur zusammen, sondern auch mit massiven Einsparungen (z. B. im Gesundheitswesen) und einem seit Jahren aufgebauten Mangel.

Global betrachtet, stellt sich das Problem noch viel schärfer. Die Kürzungen im Ausbildungssektor betreffen die Halbkolonien noch weit mehr als die imperialistischen Länder. Generell ist in den letzten Jahren der Anteil junger Menschen, die sich in Arbeit, Ausbildung oder Bildung befinden, nach Jahrzehnten der Zunahme rückläufig. 2022 waren lt. ILO 289 Millionen junge Menschen ohne Arbeit, Ausbildung und Schulbildung.[xv] Davon waren zwei Drittel junge Frauen. Generell liegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung unter jungen Lohnabhängigen deutlich höher als bei älteren.

Grundsätzlich wurden die Bildungskosten für die nächste Generation von Lohnabhängigen massiv reduziert, weil diese vom kapitalistischen Standpunkt aus Abzüge vom Gesamtprofit, „unnütze“ Kosten für das Einzelkapital bedeuten. Für dieses stellt eine Reduktion der Bildungskosten für die Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar, dem Fall der Profitrate durch Erhöhung der Ausbeutungsrate entgegenzuwirken. Allerdings mit einer fatalen, langfristigen Folge: Es werden nicht mehr ausreichend Arbeitskräfte mit der geforderten Qualifikation ausgebildet. Die imperialistischen Ländern haben dabei noch eher die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, weil sie erstens über größere Reserven für Ausbildungs- und Bildungsinvestitionen verfügen, zweitens auf einen größeren Pool von ausgebildeten verrenteten Arbeiter:innen zurückgreifen können und drittens mittels einer selektiven Migrationspolitik vor allem qualifiziertere Lohnabhängige aus ärmeren Ländern mit geringeren Lohnniveaus anziehen können (ohne einen Cent für deren Bildungskosten auszugeben).

Insgesamt schätzt die ILO, dass 2022 3,6 Milliarden Menschen lohnabhängig beschäftigt waren. Die Beschäftigungsrate (Labour Force Participation Rate) an der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt bei 60 % und somit unter dem Niveau von 2019. Für die Jahre 2023 und 2024 wird ein weiterer, leichter Rückgang prognostiziert.

Von den 3,6 Milliarden waren 2 Milliarden informell beschäftigt. 2022 gab es zudem weltweit 473 Millionen Jobsuchende (davon 213 Millionen Arbeitslose). Auch nach der Pandemie und in der kurzen „Erholung“ 2021/22 setzten sich die globalen Ungleichheiten weiter fort. Frauen sind nicht nur weiterhin auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Die Krise hat auch insofern zu einer Verschlechterung geführt als 80 % der Frauen, die 2021/22 wieder Arbeit fanden, dies im informellen und in schlechter bezahlten Sektoren der Wirtschaft taten, was ihre abhängige Rolle weiter verstärkt.

Von den 3,6 Milliarden Beschäftigten verfügen 2 Milliarden über keine Form der sozialen Absicherung, sei es durch den Staat oder durch Versicherungsleistungen. Betrachten wir die gesamte Weltbevölkerung, so beläuft sich diese Zahl auf rund 4 Milliarden, also praktisch die Hälfte aller Bewohner:innen dieses Planeten. Wie die Pandemie, Inflation und Klimakatastrophen zeigen, verfügen diese Menschen kaum über Reserven – und die kommenden Jahre werden ihre Lage tendenziell noch prekärer machen.

2022 sanken im globalen Durchschnitt die Arbeitseinkommen und blieben unter den Inflationsraten. Diese Entwicklung betrifft vor allem die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo der Reallohnverlust durchschnittlich 2,2 % betrug.[xvi] Allerdings spiegeln die Inflationsraten nur sehr unzureichend die Veränderung der Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen, so dass es erscheinen mag, dass die Arbeiter:innen in den imperialistischen Ländern stärker als jene in den Halbkolonien betroffen wären. Das ist aber falsch. In den Halbkolonien müssen die Arbeitenden einen weitaus größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse aufwenden, da die Preissteigerung für Nahrungsmittel und anderer für die Lohnabhängigen essentieller Güter oft deutlich über der Inflationsrate liegt.

Alle oben beschriebenen Entwicklungen wurden durch den Krieg um die Ukraine verschärft, der seinerseits Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist. Er geht mit einem offenen Wirtschaftskrieg zwischen den westlichen Mächten und Russland einher, der aber letztlich nur einen Faktor einer weit größeren Konfrontation mit China darstellt. Diese Konkurrenz drängt zur Bildung von politischen und ökonomischen Einflusssphären der verschiedenen Blöcke, zu einer Fragmentierung des Weltmarktes und damit verbunden auch zu einer Veränderung globaler Produktions- und Lieferketten. Der Krieg um die Ukraine führt außerdem auch zur massiven Forcierung der Rüstungsproduktion. Das wird sich in den kommenden Jahren weiter fortsetzen, selbst wenn es zu einer (zeitweiligen) Befriedung in der Ukraine kommen sollte.

All dies wird damit einhergehen, dass die Nahrungsmittelpreise weiter hoch bleiben. Gerade in den Halbkolonien wird das auch auf die Energiepreise zutreffen, sei es, weil die Streichung staatlicher Preisstützungen für die Massen zu den Grundbedingungen der IWF-Maßnahmen gehören, in die mehr und mehr Länder des globalen Südens aufgrund von Schulden- und Währungskrisen gezwungen werden, sei es aufgrund geringer Versorgungssicherheit und Knappheit. Inflation wird für die Arbeiter:innenklasse dieser Welt also weiter ein zentrales Problem bleiben.

Zu diesen aus der verschärften Konkurrenz und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt kommenden Faktoren tritt die ökologische Krise. 2022 verdeutlicht die enorme Gefahr, die der Weltbevölkerung droht, vor allem und zuerst im globalen Süden. Die Weltlage verschärft dieses Problem, das der Kapitalismus ohnedies schon unfähig ist zu lösen. Extremwetterlagen und Fluten wie 2022 in Pakistan, als rund ein Drittel der Bevölkerung von der Katastrophe direkt betroffen war, werden sich in den kommenden Jahren wiederholen. Für die Arbeiter:innenklasse bedeutet dies vor allem in den halbkolonialen Ländern eine dauerhafte, ja sich verschärfende Ernährungskrise, eine dramatische Zerstörung von Wohnraum. Die Folgen sind Hungersnöte und Massenflucht von Abermillionen.

Schon die Coronapandemie und die Wirtschaftskrise in den Jahren 2020 und 2021 haben weltweit zu Millionen von Toten, massiven Einkommensverlusten und einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbeiter:innenklasse geführt. Aufgrund von Rezession, Gesundheitskrise und Krieg sind die Rücklagen (sofern sie überhaupt welche hatten) der Masse der Lohnabhängigen im globalen Süden, aber auch der unteren und ärmeren Schichten in den imperialistischen Ländern aufgebraucht. Dabei stehen wir längst nicht am Ende, sondern mitten in einer weiteren Welle von Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse.

3. Die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats

Nationaler Schulterschluss und Klassenkollaboration

Seitens der Gewerkschaften, sozialdemokratischen, stalinistischen, linkspopulistischen und linksreformistischen Parteien und Organisationen gab es wenig bis gar keinen organisierten Widerstand gegen die Angriffe der Jahre 2020 – 22. Stattdessen suchten die Führungen der Massenorganisationen in den meisten Ländern in den ersten beiden Jahren der Pandemie die nationale Solidarität mit der herrschenden Klasse und verfolgten eine Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen effektiv denen des Kapitals unterordnete. Sie unterstützten eine inhärent widersprüchliche und halbherzige Pandemiepolitik der herrschenden Klasse, die, von wenigen Ausnahmen wie in China abgesehen, zwischen einer Strategie der Abflachung der Kurve (d. h. der Begrenzung der Pandemie auf ein Niveau unterhalb des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems) und Durchseuchung schwankte. Obwohl die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, hat sich in den meisten Ländern letztere Strategie, einschließlich der dauerhaften Inkaufnahme von gesundheitlichen Folgeschäden, durchgesetzt.

Die Politik des nationalen Schulterschlusses trug maßgeblich zu massiven Einkommensverlusten für die Arbeiter:innenklasse, die in den vorhergehenden Abschnitten dargestellt wurden, bei. In den imperialistischen Staaten und einigen Halbkolonien wurden diese zwar durch staatliche Interventionen und Kurzarbeit abgefedert, an der grundlegenden Entwicklung ändert das aber nichts. Die Gewerkschaften und auch die reformistischen Parteien fungierten in den imperialistischen Kernländern als Co-Managerinnen der Krise. Die meisten von ihnen sicherten den industriellen und gewerkschaftlichen Frieden. In vielen Ländern wurden im Gegenzug für (unzureichende) staatliche Rettungspakete und Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen und zur Begrenzung von Einkommensverlusten die gewerkschaftlichen Kämpfe faktisch ausgesetzt und Tarifverhandlungsrunden verschoben.

Das bedeutet nicht, dass wir in dieser Phase gar keine erlebten. Vielmehr wurden diese in Ländern wie Italien und Spanien zu Beginn der Pandemie organisiert, um Gesundheitsschutzmaßnahmen und Fabrikschließungen überhaupt erst durchzusetzen.

In den meisten Ländern suchten die etablierten Führungen der Arbeiter:innenbewegung (Sozialdemokratie, Labour, viele „kommunistische Parteien“, linksreformistische Parteien, Gewerkschaftsführer:innen und Linkspopulismus) in der Regel ein Bündnis mit dem „vernünftigen“ Teil der herrschenden Klasse und versuchten, (informelle) Koalitionen unter dem Banner der nationalen Einheit und Sozialpartnerschaft zu bilden. Dies geschah entweder in Form einer direkten Regierungsbeteiligung oder politischen Unterstützung der „demokratischen“ bürgerlichen Parteien (US-Demokrat:innen, Liberale, Grüne). Diese Politik der offiziellen Führungen der Arbeiter:innenbewegung trug ihrerseits wesentlich zum weiteren Aufstieg der Rechten bei, was wiederum als weitere Legitimation für eine Politik der Klassenkollaboration herhalten sollte.

Diese Politik wird in vielen Ländern im Grunde bis heute fortgesetzt – nur diesmal unter dem Vorzeichen der notwendigen Zurückhaltung zugunsten der Unterstützung der Bourgeoisie im neuen Kalten Krieg und insbesondere in der Sanktionspolitik gegen Russland. Faktisch unterstützen im Krieg um die Ukraine sowohl alle großen sozialdemokratischen Parteien, die Führungen der meisten Gewerkschaftsverbände als auch zahlreiche Linksparteien die Kriegsziele des westlichen Imperialismus. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die dortigen staatsnahen Gewerkschaften verteidigen derweil den Angriffskrieg und die Eroberungen des russischen Imperialismus.

Gewerkschaften

Insgesamt hat die Politik der Klassenzusammenarbeit seit Jahren den anhaltenden Trend eines sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades weiter verschärft. Natürlich wird dieser nicht nur durch die falsche bürgerliche Politik der Führung bedingt, sondern ist  selbst eine Folge der Umstrukturierung des Kapitals und der damit verbundenen Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse. Die Gewerkschaften unter Führung der Bürokratie haben aber darauf keine Antwort gefunden. Vielmehr hoffen sie, die verlorene Organisationsmacht durch Korporatismus und Integration in ein System der Klassenkollaboration auszugleichen. Dies wird zum Teil auch mit aktivistischen Kampagnen (z. B. Organizing) verknüpft, die aber die Kontrolle der Bürokratie nicht in Frage stellen sollen (und können). Teilweise gelingt es den Gewerkschaftsapparaten in einigen Staaten noch, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und Verhandlungsmacht auch in gewerkschaftlich schwach organisierten Bereichen aufrechtzuerhalten. Doch dies stellt nur ein Nebenprodukt ihrer Stellung im nationalen Gefüge von Korporatismus und Sozialpartner:innenschaft dar (und steht und fällt mit der Fähigkeit, diese aufrechtzuerhalten).

Dies wird aber immer schwieriger. Denn grundsätzlich schwächt die Politik der Klassenkollaboration die etablierten Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen. Sie werden reduziert auf Schichten der Arbeiter:innenaristokratie oder Beschäftigte im staatlichen Sektor. Auch dort findet diese Politik eine gewisse soziale Basis – allerdings eine, die tendenziell schrumpft, was zu einer Schwächung der Bürokratie, aber auch der Organisationen selbst führen könnte.

Die unmittelbare, sehr kurzlebige, Erholung und der Aufschwung nach der Rezession 2020/21 führten in einigen Ländern zu einer Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Militanz und zu teilweise sehr beeindruckenden Kämpfen um die Organisierung zuvor nicht organisierter Sektoren. Doch diese neue Schicht von Gewerkschaftsaktivist:innen wird sich nun unter veränderten Bedingungen massiver Preissteigerungen bewähren müssen. Die Auseinandersetzungen haben zwar kleinere oder größere Schichten von Aktiven und Kampferfahrungen hervorgebracht, aber die Kontrolle der bürokratischen Apparate nicht wesentlich in Frage gestellt (in einigen Fällen sogar gestärkt). In der Regel sind sie nicht über die Ebene der wirtschaftlichen Klassenkämpfe oder von der Bürokratie kontrollierten Mobilisierungen hinausgegangen.

Dies gilt auch für die massiven Streikbewegungen in Indien, die Hunderte von Millionen mobilisierten – allerdings letztlich für begrenzte eintägige Aktionen ohne weitere Kampfperspektiven.

Auch in Europa erlebten wir trotz Krieges gegen die Ukraine einen Aufschwung von politischen und gewerkschaftlichen Abwehrkämpfen (Britannien, Spanien, Frankreich und sogar in Deutschland). Diese führen zweifellos zur Politisierung neuer Schichten. Die Strategie der Gewerkschaftsführungen stellt aber ein zentrales Hindernis im Kampf dar, so dass sowohl den Millionen, die im Kampf gegen die Rentenreform Macrons mobilisiert wurden, als auch den Tarifkämpfen in Britannien und Deutschland Ausverkauf und Niederlagen drohen.

Insgesamt befindet sich die Gewerkschaftsbewegung in einer tiefen Krise – einer Krise, die allerdings in den einzelnen Ländern unterschiedliche Formen annimmt.

Zugleich ist die Arbeiter:innenklasse in allen Ländern mit gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen und Einschränkungen des Streikrechts konfrontiert. Aber diese fallen sehr unterschiedlich aus. In den meisten europäischen Ländern unterstützt die Bürokratie diese Gesetze nicht nur stillschweigend, sondern nutzt sie auch, um ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu festigen. In den USA hingegen ist die Machtposition der Gewerkschaften in der Gesellschaft wesentlich schwächer, so dass auch der Kampf um ihre Anerkennung eine größere Rolle einnimmt.

In diesen Ländern (aber auch in vielen lateinamerikanischen) stützen sich die Gewerkschaftsbürokratien entweder auf „ihre“ sozialdemokratischen Arbeiter:innenparteien oder auf ihre Verbindungen zu den Demokrat:innen oder populistischen Parteien, um auf nationaler Ebene jene Gesetze durchzusetzen, die ihnen einen branchen- und betriebsübergreifenden Gestaltungsspielraum für das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ermöglichen. Im Gegenzug sind sie bereit, als soziale Stütze der Regierungen zu fungieren. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaftsführungen betreiben aktiv eine Politik der Klassenkollaboration (die sich mitunter auch auf Arbeit„nehmer“:innenschichten stützen kann, insbesondere in den Großbetrieben).

Insgesamt ist auch eine weitere Zersplitterung der Gewerkschaften zu beobachten, deren Kehrseite die eher willkürliche Verschmelzung verschiedener Branchengewerkschaften darstellt. In den Halbkolonien ist diese Zersplitterung noch viel stärker ausgeprägt.

Wenn sich die Gewerkschaftsapparate und mit ihnen auch die Gewerkschaften selbst dem bürgerlichen Staat annähern (entweder direkt oder vermittelt über reformistische, populistische, nationalistische oder linksbürgerliche Parteien), wird umgekehrt der Spielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse kleiner. Zwar haben die Pandemiekrise und teilweise die Kosten des Ukrainekrieges dazu geführt, dass staatliche Hilfsmaßnahmen über Schulden finanziert und damit auch als Verhandlungserfolg der Gewerkschaftsbürokratie dargestellt werden konnten, doch droht die Inflation, dies nun aufzufressen, und die herrschende Klasse wird über kurz oder lang ihren finanzpolitischen Kurs ändern, was verstärkte Angriffe nach sich ziehen wird.

In den Halbkolonien hat dies alles längst viel dramatischere Formen angenommen. Dort findet zwar auch Korporatismus statt, aber auf einer viel schmaleren wirtschaftlichen Basis. Daher ist der Organisationsgrad im Allgemeinen niedriger, manchmal sogar extrem niedrig (weniger als 5 % der Klasse), und die Gewerkschaftslandschaft ist gleichzeitig viel stärker zersplittert. Zahlreiche kleine Gewerkschaften, die oft nur auf betrieblicher und regionaler Ebene existieren, verfügen über keine wirkliche Kampfkraft.

In diesen Ländern stellt die Organisierung der Unorganisierten und die Reorganisation der Gewerkschaften in Branchengewerkschaften (Industriegewerkschaften) auf einer demokratischen, klassenkämpferischen Basis ein zentrales, unmittelbares Kampfziel dar.

In Ländern, in denen die Gewerkschaften unter diktatorischen Bedingungen arbeiten müssen, stehen wir einem weiteren, anders gelagerten Problem gegenüber. Auch dort stellt sich zwar das Problem der Einbindung staatlich anerkannter Gewerkschaften ebenso wie der Versuch des Staates, korporatistische Betriebsstrukturen für die Beschäftigten zu schaffen und damit Konflikte institutionell zu regeln. Verschärft wird dieses Problem jedoch durch die Illegalität bzw. eingeschränkte Legalität der politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, sogar der mit reformistischem Charakter.

Schließlich konfrontiert die aktuelle Situation die Gewerkschaften und betrieblichen Aktivist:innen mit politischen Fragen (Krieg, Pandemiepolitik), der tieferen wirtschaftlichen und sozialen Spaltung der Klasse und dem Verhältnis zum Staat und den bürgerlichen Institutionen.

Politische Organisationen

Dabei verbinden die Gewerkschaftsbürokratien den Ökonomismus mit bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik. Dies geschieht entweder in Form eines Bündnisses mit offen bürgerlichen Parteien oder mit dem Linkspopulismus als deren linkester Variante.

Auch wenn der Linkspopulismus oft ähnliche Forderungen wie sozialdemokratische oder stalinistische Parteien vertritt, ist das Verhältnis von reformistischen und populistischen Parteien zur Arbeiter:innenklasse grundlegend verschieden. Reformistische Parteien stützen sich organisch auf die Arbeiter:innenklasse und sind durch einen inneren Widerspruch zwischen der proletarischen sozialen Basis und der bürgerlichen Politik gekennzeichnet. Die populistischen Parteien hingegen, die sich auf ein Bündnis verschiedener Klassen stützen, die zum „Volk“ ideologisiert werden, sind letztlich Volksfronten in Parteiform.

Die Tatsache, dass sich in der gegenwärtigen Periode verschiedene Zwischen- und Übergangsformen, einschließlich linkspopulistischer (oder sogar liberal-bürgerlicher) Flügel, in reformistischen Parteien bilden, dass einige linkspopulistische Formationen noch keinen festen Rückhalt in Teilen der Bourgeoisie haben, bedeutet, dass an der gesellschaftlichen Oberfläche der Unterschied zwischen linkspopulistischen Parteien und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verschwinden scheint. Hinzu kommt, dass sowohl populistische als auch reformistische Parteien klassenübergreifende Blöcke und Bündnisse in Regierungen anstreben und daher auch als Teile einer bürgerlichen Koalitionsregierung oder einer Volksfront auftreten.

Diese direkte Suche nach Koalitionsregierungen mit dem „linken“ oder „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie, die Tendenz zur Volksfrontpolitik entspricht der Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaften und markiert einen weiteren Rechtsruck der traditionellen reformistischen Parteien. Dies geht oft mit deren Niedergang und manchmal auch mit internen Tendenzen einher, die organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse zu lösen.

All dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hinwendung oder der Wandel zum Populismus eine weitere Entwicklung weg von einer Politik bedeutet, die auf organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse beruht. So stellt das Schrumpfen des Reformismus zugunsten des Linkspopulismus eine allgemeine Schwächung der Arbeiter:innenklasse dar, auch wenn dies, wie z. B. das Wachstum der frühen „Grünen“ auf Kosten der Sozialdemokratie (und des Stalinismus), oberflächlich betrachtet, als Linksentwicklung erscheinen mag. Das kleinbürgerliche oder populistische Strohfeuer entpuppt sich regelmäßig als ein Weg nach rechts.

Im Grunde ist der Vormarsch klassenübergreifender Ideologien wie des Populismus Ausdruck der Niederlagen der Arbeiter:innenklasse und eine Folge der verräterischen Politik der Führungen von Gewerkschaften und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.

Gleichzeitig ist der Vormarsch von Populismus, Identitätspolitik und Formen des bürgerlichen Individualismus (Queertheorie) nicht nur in der politischen und ideologischen Krise der Arbeiter:innenklasse begründet, sondern auch in der veränderten Situation der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und auch der Kleinunternehmer:innen in der Krise. Unter stabilen Bedingungen fungieren sie eigentlich als Stütze der bürgerlichen Ordnung und Demokratie.

In der Krise allerdings entdecken sie ihre „Unabhängigkeit“. Sie kritisieren die „Elite“, indem sie zwischen „guten“ und „schlechten“ Strömungen des Kapitals unterscheiden; aber sie gerieren sich auch „radikal“ und fordern einen Bruch mit der „traditionellen Klassenpolitik“ oder dem, was Sozialdemokratie und Stalinismus daraus gemacht haben. Im linken Spektrum äußert sich diese kleinbürgerliche Strömung ideologisch auf unterschiedliche Weise: als linker Populismus, Identitätspolitik, Queertheorie, Befreiungsnationalismus, Postkolonialismus und in vielen anderen Schattierungen. Philosophisch-methodologisch stehen sie in engem Zusammenhang mit der Postmoderne und, vermittelt durch diese, mit den reaktionärsten, oft subjektiv-idealistischen und irrationalistischen Strömungen der westlichen Philosophie.

Die gegenwärtige Krise wird auch weiterhin einen Nährboden für diese kleinbürgerlichen Ideologien bieten – natürlich nicht nur in ihren linken, sondern vor allem auch in ihren rechten Spielarten – zumal einige dieser Ideologien bereits tief in die organisierte Arbeiter:innenbewegung und die politische Linke eingedrungen sind.

Kleinbürgerliche Ideologien stellen schon längst eine besonders wichtige und prägende Kraft in der Frauen*streikbewegung und im zeitgenössischen Feminismus dar, aber auch in klassenübergreifenden Massenbewegungen (Ökologie, Antirassismus). Das Beispiel der Gilets Jaunes in Frankreich veranschaulicht die Gefahr, wenn Populismus zur führenden politischen Ideologie einer Massenbewegung wird. Die Gefahr, dass die radikale Rechte diese Bewegung auf elektoraler Ebene wie überhaupt im politischen Raum für sich vereinnahmt oder eine dominante Rolle ausübt, spiegelt einen weiteren Rückgang des sozialen Gewichts der Arbeiter:innenklasse wider.

Der Populismus und andere kleinbürgerliche Ideologien sind jedoch nicht die einzigen, die versuchen, die Krise der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien auf der Linken zu lösen.

In den letzten Jahren ist auch eine neue Strömung des linken Reformismus entstanden – zum Beispiel in Teilen der europäischen Linksparteien, im Corbynismus in der Labour Party oder auch in Teilen der DSA in den USA. Das Scheitern Corbyns zeigt deutlich die Grenzen dieser Strömung, ist aber keineswegs mit ihrem Ende zu verwechseln.

Zeitschriften wie „Jacobin“ oder die Stiftungen der ELP (Luxemburg Foundation) haben in den letzten Jahren begonnen, eine „neue“ reformistische Strategie zu etablieren und versuchen, sie als Alternative zur alten Sozialdemokratie, zu den „Grünen“ und zum Linkspopulismus zu verbreiten. Unter dem Titel „Transformationsstrategie“ berufen sie sich auf Theoretiker wie Kautsky, Gramsci, Poulantzas, um eine antibolschewistische, „sozialistische“ Strategie zu rechtfertigen, die den revolutionären Sturz der herrschenden Klasse und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats durch einen langwierigen Kampf um die „Hegemonie“ und eine „schrittweise Transformation“ von Staat und Gesellschaft ersetzen will. Dieser „neue“ Reformismus ist natürlich nicht neuer als seine historischen Vorbilder im marxistischen Zentrum der II. Internationale, dem Austromarxismus oder dem Eurokommunismus. Aber die Theoretiker:innen und Ideolog:innen dieser Strömung stellen ihn als Versuch dar, einen „neuen Marxismus“ zu begründen, der den Gegensatz von Reform und Revolution versöhnt. In Wirklichkeit entpuppt sich das als wieder aufgewärmter Revisionismus.

Die „radikale“ Linke und der Zentrismus

Im Allgemeinen konnte die „radikale“ Linke wenig oder gar nicht von den politischen Krisen des Reformismus und der Anpassung der Gewerkschaftsführungen an Kapital und Staat profitieren. Im Gegenteil, sie erlebt einen weiteren politischen Niedergang.

Die Linke aus „postmarxistischen“ und (post)autonomen Bewegungen schwankt zwischen einer opportunistischen Anpassung an andere Kräfte (kleinbürgerlich geführte Bewegungen oder auch den linken Apparaten in Gewerkschaften und reformistischen Parteien) einerseits und einer romantisierenden Rückkehr zu ultralinken Formen von „Militanz“ andererseits. Beiden gemeinsam ist eine Fetischisierung von Formen des spontanen Prozesses, die je nach ideologischer Ausrichtung durch Teile der Klimabewegung, Organizing-Kampagnen in den Gewerkschaften, „Nachbarschaftsarbeit“ oder direkte Aktionen verkörpert werden. Diese Fetischisierung der Form ersetzt jede systematische Entwicklung eines Programms, einer Strategie und Taktik.

Auch wenn diese Strömungen theoretisch und programmatisch in einer Sackgasse stecken und vor allem keine Antwort auf die Kriegsfrage und die zunehmende imperialistische Blockkonfrontation geben, können wir keineswegs ausschließen, dass sie – ähnlich wie verschiedene Spielarten des Anarchismus – Anziehungskraft auf sich radikalisierende Teile der Jugend und kämpferische Arbeiter:innen entwickeln können, gerade weil sie eine einfache Antwort auf den Niedergang des Reformismus und die Krise der Arbeiter:innenbewegung zu liefern scheinen.

Diese Formen des kleinbürgerlichen Linksradikalismus müssen von zentristischen Kräften unterschieden werden, also solchen, die zwischen Reform und Revolution, zwischen bürgerlicher und revolutionärer Arbeiter:innenpolitik schwanken. Der Zentrismus ist im Grunde ein kurzlebiges politisches Phänomen, denn ein länger andauerndes Pendeln zwischen diesen Polen im Klassenkampf ist für eine Partei, die bedeutende Teile der Klasse führt, unmöglich.

In den letzten Jahren, ja, sogar Jahrzehnten, hat sich keine zentristische Massenpartei gebildet, die mit der Partido dos Trabalhadores (PT = Arbeiter:innenpartei) bei ihrer Gründung oder der USPD im Ersten Weltkrieg vergleichbar wäre. Einem solchen Phänomen am nächsten kam die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA = Neue antikapitalistische Partei), die es aber aufgrund ihrer inneren Widersprüche nie vermochte, über das Stadium einer großen Propagandaorganisation hinauszuwachsen und wirklich eine Partei zu werden.

Wir haben es heute entweder mit zentristischen Wahlfronten zu tun, wobei die erfolgreichste und größte zweifellos die Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad (FIT-U = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) in Argentinien darstellt, oder mit rechtszentristischen Strömungen innerhalb reformistischer Formationen (z. B. in Teilen der Democratic Socialists of America, DSA).

Es ist jedoch keineswegs auszuschließen, dass solche zentristischen Formationen in der nächsten Zeit eine größere Anhänger:innenschaft gewinnen werden. Solche können natürlich nicht nur aus sozialdemokratischen Formationen oder trotzkistischen Kräften entstehen, sondern auch aus linksstalinistischen oder politischen Differenzierungen innerhalb von Massenbewegungen. Wo diese Kräfte zu einem Phänomen werden, das bedeutende Teile der Avantgarde umfasst, müssen Revolutionär:innen in diesen Prozess eingreifen und für eine wirklich revolutionäre Ausrichtung kämpfen.

Im Allgemeinen befinden sich die trotzkistisch-zentristischen Organisationen jedoch in einer tiefen Krise. Mehrere Strömungen – allen voran das Vereinigte Sekretariat, das sich vor einigen Jahren ironischer Weise in Vierte Internationale umbenannt hat – sind nach rechts gerückt und haben Sektionen und Mitglieder verloren. Andere, wie die International Socialist Tendency (IST = Internationale Sozialistische Tendenz), treten kaum noch als internationale Strömungen in Erscheinung. Das Committee for a Workers International (CWI = Komitee für eine Arbeiter:inneninternationale) hat sich in zwei etwa gleich große Teile gespalten. Das Gleiche gilt für die Partido Obrero (PO = Arbeiter:innenpartei) und ihre internationale Strömung.

Unter den größeren zentristischen Strömungen haben sich die aus dem Morenismus hervorgegangenen (Liga Internacional dos Trabalhadores, LIT; Unidad Internacional de Trabajadoras y Trabajadores, UIT) konsolidiert, wenn auch mit einer abenteuerlichen Politik, die zwischen Opportunismus und Sektierertum schwankt. Nur zwei große internationale Strömungen sind gewachsen oder befinden sich im Wachstum: Die International Marxist Tendency (IMT = Internationale Marxistische Tendenz), die sich als eine eher „orthodoxe“ Form des Marxismus mit einer starken propagandistischen Ausrichtung präsentiert, und die Fraccíon Trotskista (FT) mit der argentinischen Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) als größter Sektion.

IMT und FT/PTS (wie letztlich auch LIT und UIT) versuchen, sich als orthodoxe Kräfte zu präsentieren, die eine marxistische oder klassenunabhängige Alternative zum Reformismus und verschiedenen kleinbürgerlichen Strömungen darstellen. Ihre Stärke liegt zweifellos in einer umfangreichen propagandistischen Tätigkeit und, insbesondere im Fall der FT, in einer sehr systematischen Nutzung der sozialen Medien. Die Frage der Neuformulierung des revolutionären Programms stellt sich bei beiden nicht wirklich (ebenso wie bei UIT und LIT). Beide sind ironischer Weise durch ein Abgleiten in Richtung Ökonomismus und Spontaneität und eine Ablehnung von Lenins Konzeption der Entstehung von Klassenbewusstsein (und damit des Kerns der leninistischen Parteitheorie) gekennzeichnet.

Beide Strömungen könnten in naher Zukunft weiter wachsen. Allerdings sind die inneren Widersprüche, die die jeweiligen Organisationen in eine Krise stürzen können, sehr unterschiedlich. Die IMT lebt von der Isolierung ihrer Mitglieder vom „Rest“ der Linken in einer höchst sektiererischen Weise. Es ist die Konfrontation mit der Realität des Klassenkampfes und verschiedenen anderen Strömungen, die das Weltbild der IMT-Anhänger:innen erschüttern kann und wird, wie bei früheren Abspaltungen dieser Strömung.

Die Widersprüche der PTS/FT-Strömung ergeben sich aus ihrer theoretischen Hinwendung zu Gramsci (und weg von Marx‘ Ideologiebegriff und Lenins Verständnis von Klassenbewusstsein), den methodischen Schwächen ihres Imperialismusverständnisses (und der damit verbundenen Fehlcharakterisierung Chinas und Russlands), ihrem Missverständnis von Reformismus und Einheitsfronttaktik sowie den inneren Widersprüchen der FIT in Argentinien.

Wir müssen die Entwicklung sowohl der krisengeschüttelten als auch der wachsenden zentristischen Strömungen genau verfolgen und unsere Kritik vor allem an ihren inneren Widersprüchen und programmatischen Schwächen ansetzen.

Die Krise des Zentrismus hat auch zur Entwicklung kleinerer linksgerichteter Organisationen und Gruppen geführt, die als Opposition innerhalb bestehender internationaler Tendenzen agieren oder eine revolutionäre Umgruppierung vorantreiben wollen (so die International Trotskyist Opposition, ITO, oder die Internationale Revolutionäre Tendenz, TIR, oder der linke Flügel der NPA). Natürlich gibt es auch mit diesen Gruppen wichtige programmatische und methodologische Unterschiede. Aber ihre Entwicklung verweist darauf, dass sich in der kommenden Periode auch Gruppierungen nach links entwickeln oder in eine Krise geraten können, die eine Möglichkeit für revolutionäre Umgruppierung schafft, für den Aufbau einer größeren revolutionären Tendenz, die viel effektiver in den Klassenkampf weltweit eingreifen und sich auf eine neu entstehende Avantgarde beziehen kann, denn die aktuelle Krise wird alle Strömungen und Ideologien auf die Probe stellen.

Die „radikale“, subjektiv nicht-reformistische Linke war und ist dabei gezwungen, auf die Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse und deren Organisationen zu reagieren. Das betrifft insbesondere auch die politische Neuformierung der Klasse. Auch wenn sie zahlenmäßig und politisch schwach sein mögen, so hat auch die Intervention (oder das Unterlassen ebendieser) von linken, antikapitalistischen Strömungen und Gruppierungen einen wichtigen Einfluss auf die Neuformierung der Klasse in den letzten Jahren gehabt. Allerdings hat diese Intervention keineswegs zur Realisierung des Potentials für eine revolutionäre Neuformierung der Klasse auf allen Ebenen geführt, sondern leider oft genug zum Gegenteil. Es macht daher Sinn, sich wichtiger Lehren der revolutionären Arbeiter:innenbewegung zu besinnen, wie aus dem Zustand der Schwäche, ja, Marginalisierung eine Stärke der revolutionären Kräfte möglich ist, ohne in Sektierertum oder Opportunismus abzugleiten.

4. Historische Lehren

Schließlich stellt sich für alle Strömungen der „extremen Linken“ die Frage, wie sie mit ihren geringen Kräften in einen Prozess der historischen Neuformierung der Klasse, der grundlegenden Erschütterung ihrer bestehenden Organisationen, der raschen Bildung „neuer“ politischer Kräfte und ihres oft ebenso raschen Niedergangs intervenieren sollten.

Wir müssen unsere Taktik dabei nicht mit Blick auf die mehr oder weniger radikale Linke, sondern vor allem in Hinblick darauf bestimmen, wie wir die reale Avantgarde in ihrer gewerkschaftlichen, sozialen und vor allem politischen Neuformierung beeinflussen, an ihrer Seite arbeiten und sie für ein revolutionäres Programm und den Aufbau einer revolutionären Partei gewinnen können.

Wir tun dies als sehr kleine Propagandagesellschaft. Anders als revolutionäre Parteien, die wenigstens einige tausend, wenn nicht zehntausende Kader zählen und signifikante Teile der Arbeiter:innenklasse anführen können, müssen kleine revolutionäre Gruppierungen v. a. auch versuchen, Wege und Taktiken zu entwickeln, wie sie überhaupt in größere Veränderungen der Klasse eingreifen können.

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Trotzkismus von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg für unsere heutige Situation von enormer Bedeutung. Bis zur Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse gegen den Faschismus hatten die Trotzkist:innen als „externe Fraktion“  für eine Reform der Kommunistischen Internationale gekämpft. Die Losung einer neuen Internationale wurde bis dahin von den Gruppierungen der „Internationalen Linksopposition“, also den „Trotzkist:innen“, vehement abgelehnt, da es ihrer Meinung nach v. a. darum ging, den Kampf um eine politische Kursänderung der Kommunistischen Internationale zu führen, die sich noch auf Millionen revolutionäre Arbeiter:innen stützen konnte. Die Avantgarde der Klasse war damals im Großen und Ganzen in diesen Parteien zu finden.

Die Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse offenbarte aber auch das komplette Scheitern der Komintern-Strategie und der ultralinken Politik der „Dritten Periode“. Die KPD hatte ganz in diesem Sinne jahrelang die Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie abgelehnt und so den reformistischen Führer:innen die Ablehnung der Einheitsfront mit den Kommnist:innen erleichtert und somit die Einheit der Klasse gegen die Faschist:innen und die Gewinnung der sozialdemokratischen Arbeiter:innen massiv erschwert. All das führte dazu, dass die Arbeiter:innenklasse den Faschismus nicht stoppen konnte und für den offenen Verrat der Sozialdemokratie und die fatale, ultralinke Politik der KPD (garniert mit reichlich Nationalismus) mit der schwersten Niederlage des 20. Jahrhunderts zahlen musste.

Die Komintern und die KPD wurden zu diesem Zeitpunkt von Trotzki und der Linken Opposition nicht als reformistisch, sondern als zentristisch, genauer als „bürokratischer Zentrismus“, charakterisiert. Trotzdem drängte Trotzki nach der Niederlage darauf, dass die Linke Opposition nunmehr ihren Kurs auf eine „Reform“ der Komintern aufgeben müsse, weil sich die KPD wie die Komintern als unfähig erwiesen, selbst nach dieser historischen Niederlage, ihre Fehler zu analysieren. Im Gegenteil, die KPD und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale bestätigten nach der Machtergreifung Hitlers, dass der Kurs grundsätzlich richtig gewesen wäre, ja man ging noch davon aus, dass Hitler rasch „abwirtschaften“ würde und dann die KPD die Macht ergreifen könne. Gegen diesen Kurs regte sich in der Komintern nicht nur an der Spitze, sondern auch in den Sektionen kein offener Widerstand – auch wenn sich Arbeiter:innen mehr oder weniger demoralisiert von ihr abwandten.

Daraus zog Trotzki den Schluss (zuerst hinsichtlich der KPD, dann gegenüber der gesamten Komintern), dass eine „Reform“ der stalinistischen Parteien für die Zukunft auszuschließen  und daher auch eine Neuausrichtung der Linken Opposition notwendig geworden sei, die sich fortan „Internationale Kommunistische Liga“ nannte. Das Ziel war nunmehr der Aufbau einer neuen revolutionären Internationale. Die Entwicklung einer recht kleinen Propagandagruppe hin zu einer Kaderpartei kann freilich nicht ohne entschlossene taktische Manöver im Parteiaufbau bewerkstelligt werden – Manöver, die auch in den 1930er Jahren zu vielen sektiererischen Einwänden wie zu opportunistischen Fehlern führten. Hinzu kommt, dass die Fragmente der Vierten Internationale diese Taktiken nach dem Zweiten Weltkrieg pervertierten und ihres revolutionären Gehalts beraubten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Entrismustaktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich einen opportunistischen Charakter erhielt.

Wir haben uns an anderer Stelle ausführlich mit den verschiedenen Taktiken auseinandergesetzt. Für uns geht es hier darum, die grundlegenden Methoden, die Trotzki in den 1930er Jahren angewandt und entwickelt hat, zu skizzieren, da wir sie für unsere heutigen Aufgaben für besonders interessant halten. Wir können dabei drei zentrale politische Taktiken/Methoden unterscheiden, die wir im Folgenden darstellen wollen: a) Die „Blocktaktik”, b) Entrismus und c) die ArbeiterInnenparteitaktik.

Die Blocktaktik

Vor allem nach der Niederlage gegen den Faschismus orientierte sich Trotzki auf die Einheit mit nach links gehenden zentristischen Organisationen, die sich von Sozialdemokratie oder Stalinismus abgespalten hatten. Entscheidend für Trotzki war dabei, diese Organisationen für einen klaren organisatorisch-politischen Bruch mit den bestehenden Zweiten und Dritten Internationalen zu gewinnen und für einen Aufbau einer gemeinsamen neuen Internationale.

Das brachte ihn einerseits in scharfen politischen Gegensatz zur Mehrheit der „Zwischengruppen“ zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie, die sich einerseits formierten (Pariser Konferenz 1933, Gründung des „Londoner Büros“), andererseits das Hintertürchen zu einer zukünftigen Einheit mit den Reformist:innen oder Stalinist:innen offen halten wollten.

So unterzeichneten schließlich vier Organisationen im August 1933 die „Erklärung der Vier“. Diese beinhaltet auf einigen Seiten eine gemeinsame Einschätzung des Scheiterns von Stalinismus und Sozialdemokratie, die grundsätzliche Notwendigkeit, deren politische Abweichungen zu bekämpfen und eine eigene revolutionäre Alternative auf Grundlage der Anwendung der politischen Grundsätze und Prinzipien von Marx und Lenin aufzubauen.

Die beteiligten Organisationen waren die IKL sowie drei zentristische Gruppierungen: die SAP aus Deutschland, RSP und OSP aus den Niederlanden. Sie einigten sich außerdem auf die Einsetzung einer Kommission: „a) mi der Ausarbeitung eines programmatischen Manifests als der Geburtsurkunde der neuen Internationale; b) mit der Vorbereitung einer kritischen Übersicht über die gegenwärtigen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung (Kommentar zum Manifest); c) mit der Ausarbeitung von Thesen zu allen Grundfragen der revolutionären Strategie und Taktik des Proletariats; …“[xvii]

Auch wenn der Block letztlich auseinanderbrach, weil sich die SAP rasch wieder nach rechts hin zum „Londoner Büro“ entwickelte, so brachte er sehr wohl einige Erfolge. OSP und RSP fusionierten rasch und bildeten eine gemeinsame Organisation und spätere Sektion der IKL in den Niederlanden.

Vor allem aber bestimmten die IKL und der Trotzkismus ihre grundlegende Herangehensweise an den Zentrismus, an „Vereinigungsprojekte“. Programmatische Einheit war dabei von entscheidender Bedeutung, insbesondere die Konkretisierung der Programmatik, auf die jeweiligen aktuellen Ereignisse bezogen. Trotzki weist darauf hin, dass es überhaupt keinen Wert habe, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ anzuerkennen, wenn es kein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit der Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die faschistische Gefahr gebe. Das trifft auch auf entscheidende Taktiken zu. So reicht es offenkundig nicht aus, dass die Einheitsfronttaktik „allgemein“ anerkannt wird, wenn zugleich nicht konkretisiert wird, an wen sie sich zu richten hat, ob an die Basis und Führung der Massenorganisationen oder, ob sie praktisch nur eine Spielart der Einheitsfront von unten darstellt.

Hinsichtlich der konkreten Hinwendung zu einer bestimmten Gruppierung ist nicht die formelle Ähnlichkeit des Programms entscheidend, sondern die Bewegungsrichtung der vorgeblich revolutionären Organisation. Trotzki verdeutlicht das mit dem Verweis darauf, dass sich der stalinistische Zentrismus der „Dritten Periode“ aus dem Bolschewismus entwickelte und zu einer dogmatischen, ultralinken Doktrin (einschließlich etlicher rechter Schwankungen) degenerierte. Das bedeutete auch, dass die „offizielle“ Kommunistische Internationale als dem Marxismus näherstehend erscheinen konnte, da sie sich selbst militanter oder kämpferischer inszenierte und für einen ganz und gar nicht bolschewistischen Inhalt noch immer die Terminologie des Bolschewismus verwandte. Die aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Strömungen erschienen demgegenüber oft weicher, tendierten zur Fetischisierung der „Einheit“ und waren auch stärker durch deren Mentalität geprägt. Entscheidend war daher für Trotzki die Bewegungsrichtung – nicht die formelle Nähe.

Das bedeutete auch, dass Blöcke die Möglichkeiten zu größerer revolutionärer Einheit boten und nur für begrenzte Zeit notwendig waren. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die zentristische Organisationen und ihre Führer:innen nach links stießen, sind in einer Krisenperiode oft nur von kurzer Dauer. Eine neue Wendung der Ereignisse kann leicht zu einem Kurswechsel der Zentrist:innen führen. So waren der Zulauf des Faschismus in Frankreich und die Niederlage des österreichischen Proletariats 1934 Faktoren, die zu einer Linksentwicklung der Sozialdemokratie insgesamt führten, bis hin zu „zentristischen Anwandlungen“ ganzer Parteien. Viele linke Zentrist:innen der 1930er Jahre verleitete das jedoch zu einem Rechtsschwenk, gewissermaßen, um den nach links gehenden Sozialdemokrat:innen auf halbem Wege entgegenzukommen.

Falsch war daran nicht, sich auf die politischen Erschütterungen dieser Parteien zu orientieren, wohl aber, sich an sie programmatisch anzupassen.

Bei der taktischen Zusammenarbeit und der Bildung von Blöcken mit ihrem Wesen nach zwischen Reform und Revolution schwankenden Organisationen und deren Führer:innen muss deren Schwanken also in Rechnung gestellt werden. Das heißt, es darf keine politischen Zugeständnisse geben und ist notwendig, die unvermeidlichen Zickzacks der Partner:innen zu kritisieren. Zugleich ist es aber auch notwendig, sich auf organisatorischer Ebene überaus flexibel zu verhalten. In „Der Zentrismus und die Vierte Internationale“ fasst Trotzki die Lehren aus dem Block der Vier zusammen:

„Wir können unsere Erfolge in relativ kurzer Frist ausbauen und vertiefen, wenn wir:

a) den historischen Prozess ernstnehmen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen, was ist;

b) uns theoretisch Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Situation, die in der gegenwärtigen Epoche nicht selten den Charakter von schroffen Wendungen annehmen;

c) aufmerksam auf die Stimmung der Massen achten, ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbsttäuschung, um, aufgrund einer richtigen Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb des Proletariats, weder dem Opportunismus noch dem Abenteurertum zu verfallen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurückzuwerfen;

d) uns jeden Tag und jede Stunde fragen, welches der nächste praktische Schritt sein soll; wenn wir diesen sorgfältig planen und den Arbeitern auf der Grundlage lebendiger Erfahrung den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Bolschewismus und all den anderen Parteien und Strömungen klar machen;

e) die taktischen Aufgaben der Einheitsfront nicht mit der grundlegenden historischen Aufgabe – der Schaffung neuer Parteien und einer neuen Internationale – verwechseln;

f) für das praktische Handeln auch den schwächsten Bündnispartner nicht geringschätzen;

g) die am weitesten ‚links‘ stehenden Bündnispartner als mögliche Gegner kritisch beobachten;

h) jenen Gruppierungen größte Aufmerksamkeit widmen, die tatsächlich zu uns tendieren; mit Geduld und Feingefühl auf ihre Kritik, ihre Zweifel und Schwankungen reagieren; ihre Entwicklung in Richtung auf den Marxismus unterstützen; keine Angst vor ihren Launen, Drohungen und Ultimaten haben (Zentristen sind immer launisch und mimosenhaft); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen;

i) und, noch einmal sei es gesagt, nicht scheuen auszusprechen, was ist.“[xviii]

Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorischer Anschluss

Die Frage revolutionärer Taktik, der Schwerpunkte für den Aufbau, ist notwendigerweise immer mit einer Einschätzung verbunden, wo sich zu einem bestimmten konkreten Zeitpunkt die wichtigsten politischen Veränderungen in der Avantgarde der Klasse bemerkbar machen.

Unter bestimmten Umständen kann sich eine solche Krise sowohl innerhalb bestehender politischer Parteien der Klasse ausdrücken als auch in Neuformierungen. Die Voraussetzung dafür ist in der Regel eine politische Erschütterung (Krise, Entwicklung der Reaktion, historischer Angriff, Revolten, …), die den tradierten Führungen und Organisationen nicht mehr erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Oft sind Niederlagen oder drohende Niederlagen Katalysatoren für solche Entwicklungen. So waren sicher der Sieg des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Österreich 1934 neben der innenpolitischen Lage in Frankreich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für den Entrismus in die dortige Sozialdemokratie, die SFIO, entstanden, das „klassische Modell“ für diese Taktik.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass der Entrismus, also der Eintritt einer gesamten Organisation in eine bestehende Partei, keine „Neuerfindung“ des Trotzkismus ist.

Schon Marx und Engels hatten erkannt, dass Kommunist:innen unter Umständen auch in nicht-revolutionären oder sogar in nicht-proletarischen Parteien arbeiten können, um so überhaupt erst die Grundlagen zur organisatorischen Formierung des Kommunismus, zur Gewinnung erster Mitstreiter:innen zu legen.

In etlichen asiatischen Ländern entstanden die Kommunistischen Parteien aus ideologischen und organisatorischen Absetz- und Abspaltungsbewegungen aus bürgerlich-nationalistischen Parteien (China) oder gar aus islamistischen Parteien (Indonesien).

Lenin hatte der britischen KP in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ nachdrücklich die Unterstützung von Labourkandidat:innen bei Wahlen empfohlen. Im Jahr 1920 und auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale spricht er sich darüber hinaus ausdrücklich für den organisatorischen Anschluss an die Labour Party aus. Labour hatte damals noch einen relativ föderalen Charakter, der auch den Beitritt von Organisationen ermöglichte (nicht ganz unähnlich wie Syriza bis 2013).

Er trat dafür ein, dass sich die KP als Organisation anschließen solle, also nicht „nur“ die Mitglieder individuell beitreten sollten. So sollte die kleine Kommunistische Partei nicht nur näher an die damals wachsende Labour Party und deren Arbeiter:innenbasis herankommen, es sollte so auch vor den Augen der Massen der Anspruch der Labour Party einem Test unterzogen werden, die gesamte Arbeiter:innenklasse zu repräsentieren: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter:innenklasse bewahrt.”[xix]

Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunist:innen eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“[xx]

Diese Zitate zeigen die Ähnlichkeit in der methodischen Herangehensweise zur Entrismustaktik, wie sie von Trotzki in den 1930er Jahren entwickelt und in etlichen Ländern zu verschiedenen Perioden angewandt wurde.

Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der französischen Bolschewiki-Leninist:innen (wie die Trotzkist:innen sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Aber er erkannte, dass die fortgeschrittensten Arbeiter:innen angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nicht nur die Einheitsfront mit der KPF forderten, sondern die SFIO nach dem Bruch mit ihrem rechten Flügel und unter dem Druck der Ereignisse auch zum Attraktionspol für die Klasse und deren Avantgarde wurde. Hinzu kam, dass sich auch die KPF nicht mehr länger der Einheitsfront entziehen konnte, einen Schwenk weg von der „Dritten Periode“ machte (allerdings auch den Übergang zur Volksfront vorbereitete). Trotzki machte nicht nur auf die Möglichkeiten dieser Lage aufmerksam, er erkannte auch die Gefahr für die französische Sektion, nämlich praktisch von der Bildung einer Einheitsfront gegen die Rechte und den politischen Debatten in der Klasse ausgeschlossen zu werden.

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“[xxi]

Die Taktik brachte etliche Probleme mit sich. Ein Teil der Sektion verweigerte zu Beginn den Eintritt, um dann, als er mehr und mehr in die Selbstisolation geriet, nachzufolgen. Das änderte nichts an den großen Gewinnen, die die Bolschewiki-Leninist:innen erzielten, v. a. unter der Jugend. Aber der Erfolg führte auch dazu, dass ein Teil der Sektion die Prinzipien über Bord warf und den Entrismus als langfristige Taktik aufzufassen begann, die Kritik an der Parteiführung und v. a. an der versöhnlerischen Haltung der Zentrist:innen in der SFIO abschwächte. Es kam daher um die Frage des Austritts zur Spaltung der Sektion und einer längeren Krise. All das führte Trotzki dazu, die „Lehren des Entrismus“ folgendermaßen zusammenzufassen:

„1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben Gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) (…) fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“[xxii]

Die Entrismustaktik war keineswegs nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde in etlichen Ländern ausgeführt: In Britannien in die „Independent Labour Party“ (1933 – 1936) und später in die Labour Party, in die Socialist Party in den USA (1936/37) unter sehr schwierigen Bedingungen des Fraktionsverbotes, in die belgische Arbeiter:innenpartei oder in die POUM in Spanien.

Neben dem Eintritt in zentristische oder reformistische Parteien sprach sich Trotzki außerdem auch für die Fraktionsarbeit in den linken Flügeln von bürgerlichen Parteien aus. So forderte er in „India faced with imperialist war“ die Arbeit in der Congress Socialist Party, dem linken Flügel der Kongresspartei, der damals von Jawaharlal Nehru und Chandra Bose geführt wurde.

„Anders als selbstgefällige Sektierer müssen die revolutionären Marxisten aktiv an der Arbeit der Gewerkschaften, der Bildungsvereinigungen, der Congress Socialist Party und grundsätzlich in allen Massenorganisationen teilnehmen.“[xxiii]

Propagandagesellschaft und Avantgarde

Trotzki schlägt hier die Arbeit in einer Fraktion einer bürgerlich-nationalistischen Partei vor. Auf den ersten Blick scheint das – so argumentierten Sektierer:innen damals wie heute – „prinzipienlos“. Revolutionär:innen würden, so argumentierten z. B. viele gegen den Entrismus in die SFIO, ihre organisatorische Unabhängigkeit aufgeben. Trotzki antwortete damals folgendermaßen:

„Für formalistische Köpfe schien es in absolutem Widerspruch zu stehen. für eine neue Internationale und neue nationale revolutionäre Parteien aufzurufen und in Verletzung des Prinzips, dass eine revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit aufrecht erhalten müsse; manche betrachteten es als einen Verrat an den Prinzipien, andere argumentierten taktisch dagegen. […] Unabhängigkeit war ein Prinzip für revolutionäre Parteien, aber dieses Prinzip konnte nicht für kleine Gruppen gelten. […] Es bedurfte taktischer Flexibilität, um Gebrauch von den hervorragenden Bedingungen zu machen und aus der Isolation herauszubrechen.“[xxiv]

Vor ähnlichen Bedingungen stehen wir auch heute und werden wir in der kommenden Periode immer wieder stehen. Die Notwendigkeit von Taktiken wie Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorische Angliederung folgt im Grunde immer daraus, dass die kommunistische Organisation noch keine Partei ist, sie nur als ideologische Strömung oder als kämpfende Propagandagruppe existiert. Einer solchen Gruppierung ist es unmöglich, sich direkt an die Masse des Proletariats zu wenden, ja die meisten von ihnen, die nur Hunderte Mitglieder zählen, können auch nur kleine Teile der Avantgarde der Klasse erreichen.

Die Avantgarde der Klasse ist dabei, solange es keine Kommunistische Partei gibt, selbst nur bedingt Avantgarde, sprich, sie ist nicht zu einer Partei formiert, die die politisch bewusstesten Teile der Klasse auf Basis eines wissenschaftlichen, kommunistischen Programms organisiert. Es gibt keine kommunistische Avantgarde im Sinne des Marxismus, wie sie im Kommunistischen Manifest bestimmt ist, also jene proletarische Partei, die sich durch ihr Bewusstsein der allgemeinen Interessen, Aufgaben, Ziele und des Werdegangs der proletarischen Bewegung auszeichnet, die als Strategin der Klasse handeln und diese führen kann.

In diesem Sinn gibt es heute auf der ganzen Welt keine oder nur eine auf kleine Gruppen reduzierte proletarische Avantgarde. Aber im weiteren Sinne gibt es natürlich eine Avantgarde der Klasse, so wie sich in jedem Kampf, in jeder Auseinandersetzung fortgeschrittenere und rückständigere Teile formieren.

Über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Avantgarde der Klasse in Teilen der Gewerkschaften, oft in starken Industriegewerkschaften wie den Autoarbeiter:innen in Deutschland oder bis in die 1980er Jahre die Bergarbeiter in Britannien, formiert. Diese „ökonomische Avantgarde“ hat sich in den letzten Jahren natürlich auch verändert. So führten z. B. die Kämpfe der Krankenhausbewegung in den letzten Jahren auch zur Bildung neuer Avantgardeelemente.

Entscheidend für uns ist dabei, dass die bloße Führung und größere Militanz in einzelnen Kämpfen diese noch nicht zur Avantgarde für eine ganze Klasse macht. Ein solches Verhältnis wird über längere politische Entwicklungen etabliert und wirkt dann nicht nur im Sinne einer kämpferischen Vorhut, sondern kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen. So kann z. B. die geringe Aktivität der etablierten Avantgarde den Effekt haben, dass auch die anderen Sektoren der Klasse für eine ganze Periode relativ wenige Kämpfe führen. Eine solche negative Rolle spielte z. B. die IG Metall mit dem „Bündnis für Arbeit“ und v. a. seit dem Ausverkauf des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten.

Die „wirtschaftliche“ Avantgarde ist oft eng verbunden mit einer bestimmten politischen Strömung in der Klasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Rollen sozialdemokratische und stalinistische Parteien für sich monopolisiert. In manchen Ländern gab es nicht einmal solche reformistischen Parteien. Hier bildete sich über die ökonomische Sphäre hinaus gar keine Avantgarde. Allenfalls fand sich diese in Strömungen des kämpferischen Syndikalismus oder in kleinen reformistischen (einschließlich solcher, die auch in populistischen Parteien anzutreffen sein können).

Die Krise des Reformismus hat dazu geführt, dass die Bindung der kämpferischeren Schichten an die Gewerkschaften schwächer wurde, dass es oft v. a. die politische Tradition und der Apparat sind, die diese Bindung noch herstellen und reproduzieren. Ganz offenkundig hat diese Entwicklung auch die Form angenommen, dass linksreformistische Parteien Teile der Avantgarde der Klasse organisieren oder anziehen. In Ländern wie Griechenland repräsentiert Syriza einen wichtigen Teil deren (neben der KKE).

Diese Entwicklung macht Trotzkis Bemerkungen zum Verhältnis von Klassenbewegung, Parteikeim und „Unabhängigkeit“ heute brandaktuell. Revolutionär:innen, die diesen Veränderungen in der Klasse keine Aufmerksamkeit schenken und die Notwendigkeit einer Intervention negieren oder kleinreden, sind keine. Sie sind letztlich eine Mischung aus Sektierer:innen und Ökonomist:innen.

Arbeiter:innenparteitaktik

Das trifft auch auf die Frage der Arbeiter:innenparteitaktik zu. Ursprünglich wurde diese von Trotzki für die USA mit einigem Zögern entwickelt, da er eine opportunistische Anwendung dieser fürchtete. Trotzki befürchtete, dass diese als Forderung nach einer reformistischen, nicht-revolutionären Partei interpretiert werden könne oder gar nach einer klassenübergreifenden Partei wie der politisch falschen Losung der „Arbeiter:innen- und Bäuerinnenpartei“.

Die Entwicklung in den 1930er Jahren zeigt andererseits nicht nur verschiedene Initiativen zur Schaffung einer Arbeiter:innenpartei in den USA im Gefolge des Wachsens der Arbeiter:innenbewegung. Die Losung hat auch einen enormen Wert, um die Klasse und die Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei (sei sie nun demokratisch, liberal, populistisch oder nationalistisch) zu lösen.

1938 kam er schließlich zu den entscheidenden, methodischen Schlussfolgerungen:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z. B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiter:innenklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiter:innenklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.”[xxv]

In der gegenwärtigen Periode besitzt die Losung der Arbeiter:innenpartei in einer Reihe von Ländern auch eine enorme Bedeutung. Wo sie angemessen ist, sollten Revolutionär:innen diese aktiv propagieren und von Beginn an dafür kämpfen, dass diese Partei eine revolutionäre wird, und ein Aktionsprogramm als deren Basis vorschlagen. Sie dürfen das aber keinesfalls zur Bedingung ihrer Teilnahme am Kampf für eine solche Partei machen. Dies wäre ein sektiererischer Fehler, der im Grunde die ganze Taktik, also eine Form der Einheitsfront gegenüber anderen, nicht-revolutionären Teilen der Klasse, v. a. gegenüber den Gewerkschaften, zunichtemachen würde.

Schlussfolgerungen

Dieser kurze Überblick über Taktiken der kommunistischen Bewegung zeigt, wie fruchtbringend sie heute auch für die Intervention in die Neuformierung der Arbeiter:innenklasse sind.

Natürlich erschöpft sich die Frage der Neuformierung nicht in der der politischen Organisation, in Taktiken zum Parteiaufbau. Aber zweifellos muss jede kommunistische Organisation, jede Organisation, die eine neue antikapitalistische Kraft in der Klasse werden will, darauf grundlegende Antworten und Vorschläge liefern.

In den Gewerkschaften und auf betrieblicher Ebene steht heute unbedingt der Kampf gegen jede Einschränkung der Organisationsfreiheit und des Streikrechts, für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften, strukturiert nach Branchen und Wertschöpfungsketten, im Zentrum.

Für eine solche Politik braucht es nicht nur die organisierte revolutionäre Tätigkeit (revolutionärer Gewerkschaftsfraktionen und Betriebsgruppen), sondern auch die Sammlung aller antibürokratischen, klassenkämpferischen Kräfte, die Schaffung einer Basisbewegung, die für eine klassenkämpferische Führung kämpft.

Auf der Ebene des Abwehrkampfes treten wir für die Bildung von Aktionskomitees in Betrieben, an Schulen, Unis, in den Stadtteilen und Kommunen ein, die nach den Grundsätzen der Arbeiter:innendemokratie organisiert sein sollen. Sie sollen auf Massenversammlungen von ihrer Basis gewählt, dieser gegenüber rechenschaftspflichtig und von ihr abwählbar sein.

Der Klassenkampf erfordert heute intensive internationale Zusammenarbeit, d. h., es geht darum, dass wir auch internationale Koordinierungen schaffen, die real Aktionen verabreden und gemeinsam durchführen, sei es gegen imperialistische Interventionen, gegen soziale Angriffe oder rassistische Abschottung.

So wie wir in den Gewerkschaften und Betrieben die existierenden Organisationsformen umkrempeln müssen, so wirft die Krise neben der Frage von Einheitsfronten gegen Rassismus, Faschismus und Angriffe auf demokratische Rechte auch die nach Massenbewegungen der gesellschaftlich Unterdrückten auf. Das betrifft v. a. den Kampf für eine revolutionäre Jugend- und eine proletarische Frauenbewegung.

All diese Kampfbereiche, alle politischen und organisatorischen Antworten zur Reorganisation und Revolutionierung der Arbeiter:innenklasse bilden einen unverzichtbaren Bestandteil kommunistischer Aktivität.

Aber es gibt einen Grund, warum wir die Frage der politischen Neuformierung der Klasse ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Das größte Problem der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer genuin kommunistischen Partei und erst recht einer solchen Internationale – und das in einer Periode, die objektiv die Alternative „Sozialismus oder imperialistische Barbarei“ aufwirft.

Natürlich gibt es auch ohne revolutionäre Partei revolutionäre Krisen, Situationen, ja auch Revolutionen – aber keine siegreichen. Ohne revolutionäre Führung bleiben sie auf halbem Wege stecken und enden, wie die Arabische Revolution gerade zeigte, früher oder später unvermeidlich mit dem Sieg der Konterrevolution.

Natürlich werden in den aktuellen Kämpfen und erst recht in vorrevolutionären oder revolutionären Krisen neue Schichten aktiviert und politisiert. Das trifft sicher auch auf die Arabischen Revolutionen, auf den kurdischen Kampf, auf den Iran, auf China oder Lateinamerika zu. Aber allein aus diesen Kämpfen entwickelt sich keinesfalls spontan eine politische Alternative oder gar eine bewusste revolutionäre Kraft.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung um die Lösung der Führungskrise der Klasse bilden die politischen Neuformierungsprozesse. Aus den ökonomischen und sozialen Kämpfen, aus Bewegungen können nur Impulse zur Suche nach einer politischen Alternative entstehen, kann die Notwendigkeit einer solchen bewusst werden, und zwar nicht als direkte „Verlängerung“ dieser Kämpfe, sondern aufgrund der Schranken, auf die sie in ihrer eigenen Entwicklung gestoßen werden.

Bei all ihren Mängeln, bei aller notwendigen Kritik an den (neo)reformistischen, kleinbürgerlichen oder zentristischen Fehlern findet dort die Auseinandersetzung um die politische Neuformierung der Klasse statt. Hier werden die Kämpfe um die zukünftige politische Ausrichtung, Strategie und Taktik, um die Programmatik der Klasse ausgefochten. Die Reformist:innen versuchen natürlich, dem Ganzen einen bürgerlichen Charakter zu verleihen bzw. die bestehende politische Dominanz bürgerlicher Ideen und Programme, wenn auch vielleicht in neuer Form, zu verteidigen.

Ob es sich nun um eine „Neuformierung“ der antikapitalistischen Linken, einen Kampf in  einer nach links gehenden reformistischen Partei oder den Bruch mit einer bestehenden handelt – auf jeden Fall bilden diese Formationen den Rahmen für einen politischen und ideologischen Klassenkampf, dessen Ausgang entscheidend für die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiter:innenklasse werden wird.

So wie sich von Land zu Land die Form dieser Entwicklung unterschiedlich gestaltet, so werden unterschiedliche Taktiken oder auch eine Kombination dieser notwendig sein, um möglichst effektiv in diese Auseinandersetzung eingreifen zu können. Mögen die Taktiken auch unterschieden sein – das aktive, offensive Eingreifen ist eine strategische Notwendigkeit zur Überwindung der Führungskrise des Proletariats.

Die Fetischisierung einzelner Formen oder gar das Fernbleiben vom politischen Kampf in Massenparteien oder „Umgruppierungsprojekten“ mit der Begründung, dass diese ja reformistisch wären, hat nichts mit dem „Kampf gegen den Reformismus und Zentrismus“ zu tun, sondern bedeutet nur, ihnen das Feld zu überlassen. Natürlich werden angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses die meisten dieser „Neuformierungen“ und auch der Projekte zur „revolutionären Einheit“ mit dem Sieg der Reformist:innen oder Zentrist:innen oder gar Populist:innen wie bei Podemos enden. Ihr Potential mag dann rasch erschöpft sein.

Doch den Kampf um eine revolutionäre Ausrichtung mit dem Argument abzulehnen, dass er wahrscheinlich ohnedies nicht gewonnen werde, ist der „Realismus“ von Passivität und vorweggenommener Kapitulation.

Als Liga für die Fünfte Internationale haben wir uns dazu entschieden, dass unsere Sektionen aktiv an den Umgruppierungen der Klasse teilnehmen, weil, unabhängig vom konkreten Ausgang dieses oder jenes Projekts, sich in diesen politischen und ideologischen Kämpfen die Kader einer zukünftigen kommunistischen Bewegung bewähren, lernen können und müssen, ihre Politik und ihr Programm auf der Höhe der Zeit zu vertreten.


Endnoten

[i] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, MEW 23, Berlin/DDR 1971, S. 640

[ii] A. a. O., S. 657

[iii] OECD, World Economic Report 2014, http://dx.doi.org/10.1787/persp_glob_dev-2014-en

[iv] Vergleiche Krüger, Stephan: Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft, Hamburg 2019, S. 218/219

[v] ILO, World Work Report 2014, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/world-of-work/2014/lang—en/index.htm, S. 2

[vi] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/weso/WCMS_865387/lang—en/index.htm, S. 12

[vii] ILO, World Work Report 2014, a. a. O., S. 6

[viii] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Berlin/DDR 1959, S. 473

[ix] World Economic and Social Outlook, 2021, https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2021/10/12/world-economic-outlook-october-2021

[x] Siehe Engels, Friedrich: England 1845 und 1885, MEW 21, Berlin/DDR 1975, S. 191 – 198

[xi] Lenin, W. I.: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in LW 23, Berlin/DDR 1972, S. 113

[xii] Siehe ILO Bericht 2023, a. a. O.

[xiii] Z. B. in Arruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser, Nancy: Feminismus für die 99 % Berlin 2019. Zur Kritik siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/04/feminismus-fuer-die-99-prozent/

[xiv] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, a. a. O., S. 13

[xv]  Ebenda, S. 30

[xvi] Ebenda, S. 42

[xvii] Trotzki, Leo: Die Erklärung der Vier, in: Ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, Köln 2001, S. 460

[xviii] Ders.: Der Zentrismus und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, a. a. O., S. 530

[xix]  Lenin, V. I.: Collected Works, Bd. 31, S. 199

[xx] Ebenda

[xxi] Trotsky, Leon: Writings, Supplement 1934-40, New York 2004,  S. 565/566

[xxii] Ders.: The Crisis of the French Section, (Die Krise der französischen Sektion), New York 1996, S. 125/126

[xxiii] Ders.: Writings 1939-40, New York 1973, S. 36

[xxiv] Ders: „The Crisis of the French Section“ (Die Krise der französischen Sektion), a. a. O., S. 20 (Vorwort)

[xxv] Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale), Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, Berlin 2012, S. 156




Trash TV – harmlose Unterhaltung oder pure Ideologie?

Von Leonie Schmidt, ursprüngliche veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1222, 5. Mai 2023

Wer kennt es nicht: Nach einem anstrengenden Tag in der Schule, Uni oder auf Arbeit mal eben auf der Couch entspannen und etwas anschauen, was keine große Denkleistung erfordert und Unterhaltung verspricht. Und zufälligerweise ist auch gerade die neue Staffel einer Datingshow im Fernsehen angelaufen. Das passt ja eigentlich perfekt! Doch den meisten Zuschauenden wird an einigen Stellen auffallen, dass manche Sachen, die in solchen Sendungen passieren, irgendwie komisch bis problematisch sind. Was das für Elemente sind und weswegen Trash TV trotzdem so erfolgreich ist, wollen wir in diesem Artikel näher betrachten.

Was ist überhaupt Trash TV?

Starten wir erst mal mit den Grundlagen; Trash TV ist kein eigenes Genre, sondern ein Oberbegriff, für Sendungen, die man grob in Scripted-Reality-Sendungen wie „Mitten im Leben“, Dating Shows wie „Der Bachelor“ und Castingshows wie „Germany’s Next Topmodel“ einteilen kann. Es gibt aber auch noch andere Formate, wo sich vor allem Z-Promis gegenseitig die Köpfe einschlagen, wie bspw. „Promis unter Palmen“. Sie alle haben gemeinsam, dass sie möglichst realistisch wirken sollen, auch wenn es in den meisten Fällen mindestens ein grobes Script, Anregungen durch die Produktionsfirma oder einen Schnitt gibt, der Sachen in ein ganz anderes Licht rücken soll. Diese vermeintliche Realität ist also ziemlich gekünstelt und wird dem Drameneffekt entsprechend zurechtgebogen. Viele können das auch nicht erkennen und so fällt es ihnen dann auch schwer, zwischen den Teilnehmer:innen einer Show und ihnen als Privatperson zu unterscheiden. Und auch den Darsteller:innen fällt das auf die Füße, wenn sie für meist wenig Geld ziemlich entwürdigende Sachen tun müssen (es sei denn, sie sind Promis mit hochdotierten TV-Verträgen und Agenturen).

Trash TV gibt es in der deutschen Fernsehgeschichte noch nicht so lange, denn nach dem 2. Weltkrieg und der Zweiteilung Deutschlands wurde im BRD-Fernsehen eher ein Fokus auf „Erziehung zur Mündigkeit“ gelegt, weswegen es hauptsächlich ernsthafte Formate gab, in denen auch in vielen Fällen Wissen vermittelt wurde. Erst mit der Einführung der Privatsender wie z. B. RTL in den 1980er Jahren wurde ein neuer Fokus deutlich: Es ging auf einmal um Einschaltquoten (und Werbeeinnahmen), denn anders konnte man sich nicht gegen die gefestigten Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durchsetzen. So gab es bspw. Shows wie „Tutti Frutti“, eine Erotik-Spielshow in den 1990er Jahren auf RTL. Klares Vorbild: das US-amerikanische DayTime TV. Gerne wurden hier vor allem Talkshow-Formate mit skandalträchtigen Dramen als Anregung übernommen. Diese waren besonders in den späten 1990ern bis zu den frühen 2000ern angesagt, zum Beispiel „Britt – der Talk um eins“. Aber auch heute noch kann festgestellt werden, dass alle Trash-TV-Formate ein Art Äquivalent im englischsprachigen Raum haben, sei es nun „Love Island“ oder „Too hot to handle“.

Medienwissenschaftler:innen sehen die Vorläufer außerdem in Freakshows und französischem Kasperletheater: Mit anderen Worten, reißerische Inhalte, Fremdscham und seichte Unterhaltung prägen die Sendungen und sind auch deren Erfolgsrezept. Denn ja, natürlich wollen wir sehen, wie 10 Singles gegen ihren Sexdrive ankämpfen und uns darüber lustig machen, dass sie es wirklich nicht 14 Tage aushalten können wie bei „Too hot to handle“. Wenn die Einschaltquoten stimmen, klingeln natürlich auch die Werbeeinnahmen im Portemonnaie (oder wie bei Netflix die Einnahmen aus den Abogebühren). Aber der Fokus auf Geld und Aufmerksamkeit ist mitnichten das einzige Problem, das die beliebten Shows haben. Sie lenken uns ab von den wichtigen Themen des Lebens, lassen uns abstumpfen, haben also eine Art Zerstreuungseffekt, der uns vom Leben während kapitalistischer Krisen ablenken soll. Außerdem vermitteln sie auch in vielerlei Hinsicht falsche Werte und Bilder über bestimmte Personengruppen.

Klassismus und der Hass auf Hartz-IV-Empfänger:innen

Besonders sieht man das zum Beispiel in Scripted-Reality-Sendungen wie „Mitten im Leben“, „Familien im Brennpunkt“ oder im Doku-Format „Hartz aber herzlich“, umgangssprachlich auch als „Asi-TV“ bezeichnet, in welchen Stereotypen über Menschen, welche in Armut leben, vermittelt werden. Oft soll es so wirken, als hätten diese selbst Schuld an ihrer Lage, seien faul, egoistisch, drogen- und alkoholabhängig, schlechte Eltern mit viel zu vielen Kindern, aus denen auch nie etwas werden wird. Auch werden sie auffällig oft als besonders dick mit krass ungesunder Ernährung dargestellt, die den ganzen Tag nur auf der Couch sitzen und fernsehen. Das alles passiert, während in Deutschland Hartz-IV-Empfangende Sanktionen hereingedrückt bekommen und in Maßnahmen gezwungen werden, wollen sie nicht ohne das Minimum an Lebensstandard dastehen.

Laut Armutsforscher Christoph Butterwegge wird durch diese Darstellung einerseits Angst angeheizt, ebenso wie Dome & Co. im Plattenbau zu landen. Den Zuschauenden fällt es aber auf Basis der Stereotypisierung und extremen Überspitzung umso leichter, sich zu distanzieren und zu erheben und sich auch im realen Leben als etwas Besseres zu fühlen.

Diese These lässt sich gut daran bekräftigen, wie die Sendungen in sozialen Netzwerken kommentiert werden. Hier wird gefordert, den Frauen in Armut ihre Kinder wegzunehmen. Es wird darüber gelästert, dass sie es wagen, von ihrem Hartz IV nicht nur Lebensmittel einzukaufen, sondern auch mal Zigaretten oder sich die Nägel machen zu lassen. Wer arm ist, verdient nur das Allernötigste, so der Tenor.

Allerdings sei an dieser Stelle gesagt, dass die Herabwürdigung der Armen in den letzten Jahren eher subtiler geworden ist, als es vorher noch üblich war, und der Blick vermeintlich differenzierter wirkt. Aber die Distanzierung und der Argwohn bleiben natürlich trotzdem bestehen. Denn nicht immer ist das Gefühl der Zuschauenden, etwas Besseres zu sein, ausschließlich reine Arroganz. Manchmal zeigt es sich auch eher in der Hinsicht, dass man sich denkt, dass man es im Vergleich zu „denen“, doch eigentlich ganz gut hat und sich nicht beschweren kann.

So wachsen Vorurteile und Hass. Es kommt zu einer Entsolidarisierung und Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse, was natürlich besonders schlimm ist, wenn es aufgrund der Krise wieder Sozialkürzungen gibt und die geeinte Solidarität gegen diese umso notwendiger wird.

Den Traumprinz in 10 Folgen finden?

Aber im Trash TV geht es nicht immer nur um Armut und Elend. Oft genug werden auch Datingshows produziert, die meistens an exotischen Orten spielen, wo alle Teilnehmenden halbnackt am Pool flanieren, Party machen und ab und zu ein paar „anstrengende“ Challenges bewerkstelligen oder auf Einzel- und Gruppendates gehen. Was das Ziel ist, ist eigentlich klar: Hier soll der/die Traumpartner:in gefunden werden. An dieser Stelle wird also ein bestimmtes Ideal von romantischen, hetero- und cis- normativen Beziehungen vermittelt, die auch schön monogam zu sein haben. Denn wer es wagt, bei den Datingshows nicht nur eine Person im Visier zu haben, wird unter Garantie mit Drama oder, je nach Format, sogar mit dem Ausschluss konfrontiert.

Doch so romantisch das Ideal einer Zweierbeziehung auch wirken mag, oberflächlicher als in diesen Shows geht es eigentlich gar nicht. Der Fakt, dass es insbesondere in Shows wie „Der Bachelor“, wo es einen Hauptcharakter und um ihn konkurrierende Teilnehmende gibt, darum geht, jemanden von sich in ca. 10 Folgen zu überzeugen und die restlichen Kandidat:innen auszuschalten, klingt nicht nach einem Rahmen, in welchem sich eine zwischenmenschliche Beziehung, basierend auf Gemeinsamkeiten, Kommunikation und Nähe entwickeln kann. Konkurrenz zwischen potentiellen Love Interests, wie wir es aus der Realität von Datings Apps kennen, wird hier noch einmal zugespitzt und durch symbolische Interaktionen wie die Rosenübergabe untermauert. Die Oberflächlichkeit dieser Beziehungen zeigt sich auch an ihrer Dauer, die meistens kaum den Zeitraum von Produktion und Ausstrahlung überschreitet.

Auch wird in den meisten dieser Sendungen Sexualität zwar konstant durch Anspielungen angedeutet, aber es wird immer auf den „richtigen“ Moment gewartet oder gleich klargemacht, dass sie im Rahmen der Sendungen keinen Raum einnehmen darf und bis nach dem Finale gewartet werden muss, wobei vorher das Höchste der Gefühle schlabbrige Zungenküsse sind. Auch das entspricht der bürgerlichen Sexualmoral, dass man, wenn man es mit jemandem ernst meint, nicht gleich drauflosvögeln darf und Intimität aufgespart werden muss (was natürlich in extremer Form auf das Warten bis zur Hochzeitsnacht zurückzuführen ist).

Des Weiteren haben viele, vor allem männliche Teilnehmer, ein sehr rückschrittliches Geschlechterbild. Frauen werden als passive Objekte gesehen, die „klargemacht“, „abgeschleppt“ oder überredet werden müssen, die ruhig sein sollen, wenn der Mann spricht, kein Drama machen und sich ganz einfach unterordnen sollen. Der Mann hingegen tritt als klassischer, aktiver Macho und Eroberer auf, der sich nimmt, was ihm vermeintlich zusteht. Auch werden sie schon nach einer kurzen Kennenlernphase oder auch, wenn sie gerade mal ein Auge auf den oder die Angebetete geworfen haben, ziemlich schnell besitzergreifend.

Das alles basiert natürlich auf der Rollenverteilung, die uns allen im Kapitalismus auferlegt wird, um die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die doppelte Ausbeutung der Frau durch unbezahlte Reproduktions- und Lohnarbeit zu legitimieren. Ebenso basiert darauf das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, mit all seinen Einschränkungen, aus dem sich auch die hier reproduzierte bürgerliche Sexualmoral ergibt.

Aber wer macht da eigentlich alles mit?

Wenn wir uns die Anforderungen anschauen, im Bikini oder in der Badehose am Pool zu lungern, wird schnell klar: vor allem normschöne Menschen, die auch als Models und Influencer:innen tätig sein könnten oder dies bereits spätestens nach Ausstrahlung sind. Die Männer sind durchtrainiert und sollen teilweise durch Tattoos noch männlicher wirken. Die Frauen kommen mit langen Haaren, makelloser Haut und schlanken Kurven daher. Personen abseits dieser Ideale sieht man so gut wie gar nicht. Vor allem im Format „Love Island“ wird auch oft in der Villa trainiert und über Ernährung philosophiert. Außerdem geben viel Teilnehmende in den Interviews an, dass ihre Partner:innen durchtrainiert, schlank und bloß nicht dick sein sollten. So wird auch das Bild zementiert, dass nur normschöne Personen es verdient haben, geliebt zu werden. Und für alle anderen gibt es dann Datingshows, in denen ausschließlich Plus-Size-Personen auftreten, sie sich also nur „unter ihresgleichen“ umsehen dürfen.

Außerdem sind die meisten, die dabei sind, weiß und stehen auch offenkundig auf weiße, blonde Frauen, wie Onyi, Teilnehmerin der aktuellen Staffel „Too hot to handle Germany“, kritisiert. Netflix hatte sie zwar als Diversity Bonus gecastet, aber es war klar gewesen, dass die meisten anderen Teilnehmenden ganz andere Präferenzen haben. Das hat sie als Außenseiterin dastehen lassen, wie sie selber und andere auf TikTok kritisierten. Das ist natürlich alles andere als gute Repräsentation in dieser Show und es ist verständlich, dass dieser Umgang mit einer WOC (Woman of Colour; farbige Frau) im TV dem Selbstbewusstsein von Rassismus-Betroffenen nicht gerade guttut, sondern sogar schadet.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht sollten sich die Produktionsfirmen überlegen, ob sie sich Diversität wirklich auf die Fahne schreiben sollten. Grundsätzlich wird nämlich immer davon ausgegangen und die Sendungen sind auch so aufgebaut, dass alle hetero sind und eine binäre Geschlechtsidentität haben. Denn die Einteilung in Mann und Frau spielt eine große Rolle in Challenges oder Auswahlverfahren bzw. Pärchenbildungen bspw. bei „Love Island“. Außer in der aktuellen Staffel von „Too hot to to handle Germany“, wo Bisexualität aber auch eher eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es keine gleichgeschlechtlichen Verpaarungen, es sei denn, es ist ein explizit homosexuelles Datingformat.

Dasselbe in Regenbogenfarben oder alles besser bei Prince(ss) Charming?

Explizit queere Datingformate gibt es in Deutschland für Schwule mit Prince Charming seit 2019, mit Princess Charming für Lesben seit 2021. Alleine, dass es so lange gebraucht hat, ist schon ein Witz, die ersten Heterofolgen von „Der Bachelor“ gab es bereits erstmals 2003 in der deutschsprachigen Version!

Aber so gut, wie es gemeint ist, so schlecht ist es auch umgesetzt. Werfen wir einmal einen Blick auf Princess Charming. Vor allem in der ersten Staffel gab es einiges an „Problemen“, was fast noch beschönigend ausgedrückt ist. Die Teilnehmer:innen konnte man queeren bzw. lesbischen Stereotypen geradezu zuordnen, vielleicht mit einigen Ausnahmen. Wer da nicht reingepasst hat, wurde unter den Teppich gekehrt, denn auch hier wurde bspw. Bisexualität nicht ernst genommen, denn in der Show geht es ja „nur um Frauen, die auf Frauen stehen“. Realistische Repräsentation sieht anders aus. Ebenso, dass immerzu von lesbischen Frauen gesprochen wurde, obwohl sich unter den Teilnehmenden auch eine nicht-binäre Person, nämlich Gea, befand. In einer Folge wurde sogar über their nicht-binäre Identität gesprochen und they musste einer anderen Kandidatin alles genaustens erklären. Die Sendung ist also auch ziemlich cis-normativ.

Weitere Kritikpunkte sind der unbegrenzte Zugriff und der damit zusammenhängende Konsum von Alkohol. Im Prinzip sieht man die Teilnehmer:innen ständig mit einem Glas Sekt in der Hand und natürlich werden auch so die eigenen Hemmungen fallengelassen. Einerseits trägt das natürlich zur gesamtgesellschaftlichen Normalisierung dauerhaften Alkoholkonsums bei, auf der anderen Seite kam es (unter anderem, aber natürlich nicht nur deswegen) auch mehrfach zu übergriffigem Verhalten am Set. So gab es zum Beispiel einen Outcall wegen sexualisierter Gewalt gegenüber der Influencerin Wikiriot durch Jo, eine andere teilnehmende Person. Besonders in der Kritik steht hier neben der Täterin auch die Produktionsfirma, die sich nicht zu den Vorkommnissen äußern will und ein An-die-Öffentlichkeit-Treten für die betroffenen Personen durch eine Verschwiegenheitsklausel erschwert hat. Auch in der zweiten Staffel kam es zu bedrängenden Szenen während einer Party mitsamt aufgezwungenen Küssen, obwohl vorher Grenzen aufgezeigt wurden. Statt, dass die Produktionsfirma hier eingreift und verantwortungsvoll handelt, wurde das sogar in die Dramaturgie mit eingebaut!

Wir sehen also: Nur weil LGBTIA+ draufsteht, ist leider nicht alles perfekt, im Gegenteil. Denn natürlich werden auch diese Sendungen im Kapitalismus produziert und sind somit den gesellschaftlichen Zwängen und Einschaltquoten unterworfen. So positiv, wie höhere Diversität erst einmal scheinen mag, zeigen diese Beispiele doch einmal mehr, dass Unterhaltung, welche auf Basis von Kapitalinteressen erstellt wird, nicht derartig progressiv sein kann, wie wir uns das vielleicht erhoffen.

Daher fordern wir:

  • Gegen unterdrückerische Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen, … ) genauso wie Google, Instagram und Co.!

  • Für organisierte Medienarbeit durch Räte aus Zuschauer:innen, Arbeiter:innen und Kreative ohne die Reproduktion von Unterdrückung!

  • Für eine internationale, proletarische antisexistische Bewegung!



Konversion der Autoindustrie – eine Frage des Plans

Leo Drais, Neue Internationale 273, Mai 2023

Von der Fläche her ist es die größte Fabrik der Welt – das VW-Werk bei Wolfsburg. Ursprünglich gebaut von den Nazis, finanziert mit Geld, das die NSDAP von den verbotenen Gewerkschaften raubte. Nach dem Krieg wurde aus dem Kraft-durch-Freude-Wagen der Volkswagen. Außer dem geänderten Namen sah der VW Käfer genauso aus wie in Hitlers Massenmotorisierungsträumen. Wirklichkeit wurde das, was mal als Größenwahn galt – jedem Mann ein Auto, das Land zerschnitten von Asphalt – spätestens ab den 1960er Jahren, Nachkriegswestdeutschland beerbte Nazideutschland.

Geerbt wurde ein zerbombtes Land. Die Städte in Schutt und Asche boten Gelegenheit, gründlich aufzuräumen. Straßen breit machen, weg mit den lästigen Schienen und ab damit unter die Erde. Die Straßenbahn wurde zur U-Bahn, der Platz für die autofreundliche Stadt war frei. Die Kinder zäunte man ein, wo sie den zum Dosenfleisch gewordenen deutschen Mann der 1960er Jahre bei seinen PS-Spielen nicht störten. Der Spielplatz war geboren und wo sonst noch etwas Grün frei war, da passte doch viel besser ein Parkhaus hin.

Der Käfer wurde zum Symbol des Wiederaufbaus und machte das Vergessen leichter. Wer denkt schon an Auschwitz, wenn man so wunderbar gedankenverloren durch die grünen Wälder braust?

Auch das war Hitlers Erbe, der die Idee von Ford geklaut hatte: Man kette den Menschen ans Fließband, wo er sich für den Konzern oder den Staat abrackert, aber nach Feierabend darf er in seinem in Raten abzuzahlenden Automobil allen Frust auslassen, alles vergessen, Spaß haben, Freude am Fahren, ein bisschen den Wind schnuppern, der ihn glauben lässt, er sei frei.

Ideologisiertes, mystifiziertes – Blech

Dabei ist diese Freiheit doch eigentlich nur auf den rechten Fuß beschränkt, der auf das Gaspedal steigt und dessen Besitzer:in bei 180 auf der Autobahn orgiastisch denkt: „Danke FDP!“ („Danke Union, Danke AfD.“) Außerhalb dessen ist sie für die meisten Fiktion, weder wo die Arbeiter:innenklasse lebt (zur Miete oder im „Eigenheim“ der Bank), noch wo sie arbeitet (am Fließband oder Bildschirm), ist sie frei. Es ist eine gefakte bürgerliche Freiheit, die sonst eigentlich nur für die Bosse und Reichen existiert.

Heute gibt es in der BRD fast 50 Millionen PKW, aber keineswegs 50 Millionen Autobesitzer:innen. Zweit- und Drittwagen verzerren die Statistik. In keinem anderen europäischen Land sind Wohlstand und Individualität, und seien sie auch nur scheinbar, ideologisch so sehr mit dem Auto verbunden. Das „Wirtschaftswunder“, das nichts anderes war als die Erneuerung des deutschen Kapitalismus dank der Zerstörungen des Krieges, bedeutete eine Neuausrichtung des deutschen Kapitals. An der militärischen Eroberung der Welt war man gescheitert, starke Bankkonzerne hatte man im Vergleich zu den USA oder Großbritannien nicht, aber wo man mitspielen konnte, war in der Industrie. Die Fabriken waren zerstört. Während die USA, Frankreich und Großbritannien mit veralteten Maschinen im Rückstand waren, hatten deutsche Konzerne bitter ironisch den Vorteil des Neustarts. Das Know-how erbte man aus den Kriegsfabriken und von der Konkurrenz.

Politisch hatte man als Verlierer des Krieges und als gespaltenes Land nichts zu melden, aber für den Neustart des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt war das Auto wie gemacht. Es war ein Massenkonsumgut, Produktion und Produkt ständig und hochgradig technisch revolutionierbar, Letzteres damit prädestiniert für hohe immer neue Profite.

Von Anfang an ist dieses neue Flaggschiff der deutschen Industrie aufs Engste mit dem Staatsapparat verschränkt. Immerhin ist im imperialistischen Stadium des Kapitalismus die Konkurrenz der Konzerne auch die der Staaten. Immerhin muss das Produkt unter das Volk gebracht werden, muss Deutschland der Welt zeigen, wie Wiederaufbau geht. Am offensichtlichsten ist diese Verbindung natürlich an der Entwicklung des Fernstraßennetzes und dem Freiräumen der Städte für das Auto ablesbar (und an der Verstümmelung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs auf der Schiene). Darüber hinaus profitiert die Autoindustrie aber bis heute und bis zum Abwinken von massiven staatlichen Subventionen, die sich nur in Namen und Programm unterscheiden. Mal heißen sie Abwrackprämie, mal Umweltbonus (für E-Autos, die dann mit Kohlestrom fahren).Entsprechend war und ist jeder Verkehrsminister (bisher alles bekennende Cismänner) diesen Konzernen nicht nur verpflichtet, sondern stets selbst ein leidenschaftlicher Autofahrer gewesen. Volker Wissing peitscht 144 Autobahnprojekte durch, die Grünen kriegen als Trostpflaster Solaranlagen neben die Fahrbahn gestellt.

Vernunft am Steuer?

Und da sind wir, in der Gegenwart einer verkehrspolitischen Dystopie, in der die Stadt stinkt und lärmt und vollgestopft ist mit Blech, in der das Land vernarbt ist von Asphalt und der Bahnhof von Mittelnirgendwo stumm vor sich hin verfällt. Völlig unzureichende Klimaziele werden weit verfehlt. Die Mobilitätswende ist in allen Mündern, passiert aber nicht in der Realität.

Denn für die Autoindustrie und ihren Verkehrsminister bedeutet sie: Erneuerung der Fahrzeugflotte durch übergewichtige E-Autos, E-Fuels in den SUV. VW (Volker Wissing) fährt nach Brüssel und dem EU-Verbrenner-Aus in die Karre. VW plant ein E-Autowerk auf dem Acker gleich hinter der heutigen (Alb-)Traumfabrik. Sie sind die, über die Macht verfügen. Wenn wir als Klimabewegung, linke Gewerkschafter:innen oder Antikapitalist:innen ernsthaft über eine Verkehrswende sprechen, müssen wir uns überlegen, wie wir diese brechen können.

Das wird entscheidend sein. Die fossilen Kapitale und ihre politischen Vertreter:innen beweisen jeden Tag, dass sie kein Interesse an einer echten Verkehrswende hegen. Sie können es auch gar nicht und heucheln es nicht einmal vor. Eine echte Verkehrswende hätte so wenig wie möglich, so viel wie nötig die Schiene als Rahmen. Im Kapitalismus ist das unmöglich. Selbst eine relevante Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene fände doch immer noch unter der Voraussetzung permanenter Ausweitung der Produktion, des Wachstums statt. Schon jetzt sind die Hauptgüterkorridore des Schienenverkehrs in Deutschland überlastet. In einem Gesellschaftssystem, dass sich stärker als jemals zuvor in der Konkurrenz verwirklicht, kann Vernunft keine Rolle spielen. Was gesamtgesellschaftlich völlig irrational ist – z. B. die Verkehrspolitik der letzten 100 Jahre – macht nur Sinn für die Bosse, Aktionär:innen und Politiker:innen VWs, Daimlers und BMWs. Eine echte Verkehrswende umzusetzen, wäre ihr Klassenverrat. Es würde bedeuten, die größte Profitquelle und damit Machtbasis Deutschlands zu ersticken, ihren eigenen Reichtum zu gefährden.

Enteignung und …

Ihre Macht zu zerbrechen, heißt, ihnen ihren Besitz wegzunehmen, über den die größten Aktionär:innen nach Belieben kommandieren, die Welt mit Autos bewerfen können. Es heißt, Quandt, Porsche, die Qatar Holding und so weiter entschädigungslos zu enteignen und die riesigen industriellen Kapazitäten der Autofabriken für sinnvolle Zwecke zu verstaatlichen. Das ist natürlich leicht gesagt und weit weg und mit heutigen legalen Mitteln gar nicht zu verwirklichen. Der Staat schützt Eigentum. Die Freiheit für Privatbebesitzen ist doch die eigentliche bürgerliche Freiheit.

Durch einen äußeren Druck der Klimabewegung alleine wird so eine Verstaatlichung kaum passieren, wie das Beispiel Ende Gelände zeigt, das die Enteignung RWEs fordert. Wir sehen die Möglichkeit realistischer in den Fabriken selbst. Wenn die Beschäftigten von VW sagten, wir bauen diese Masse an Autos nicht mehr, sie dafür streikten, dann würde sie auch nicht mehr gebaut werden.

Anlässe für die Arbeiter:innen in den Autowerken, ihre Arbeiten selbst in die Hand zu nehmen, gibt es genug. In jedem Warnstreik steckt das schon als winziger Keim. Zudem sind die Jobs in der Autoindustrie keineswegs auf ewig sicher. Durch Produktivitätssteigerung, Standortverlagerungen und E-Auto werden sie sowieso immer neu in Frage gestellt. Zudem wird für einen übersättigten Markt produziert. Die Geschichte von Opel Bochum beweist, wie schnell die Tore für immer zugesperrt werden können, ebenso die vielen Werksschließungen von Zulieferbetrieben in den letzten Jahrzehnten, etwa GKN Zwickau oder Mahle Alzenau.

Im Kampf gegen diese Schließungen, aber auch schon in jeder Nulltarifrunde offenbart sich dann auch immer die zweifelhafte Rolle der IG Metall, genauer ihrer Führung. Seit Jahrzehnten ist sie eine aus selbstgefälligen, privilegierten Eigeninteressen getriebene treue Partnerin der Autobosse. Werksschließungen werden mit abgewickelt, Leiharbeiter:innen zugunsten der Kernbelegschaften ausverkauft, Tarifrunden lieber abgebrochen bevor sie mit unbefristeten, flächendeckenden Erzwingungsstreiks eskalieren. Sie will die Kontrolle nicht verlieren. Mit dem etablierten Teil der Umweltbewegung inszeniert sie unverbindliche Klimapolitik in der Ampeltraumfabrik. Vor den radikaleren Teilen der Bewegung warnt sie, statt ihre Forderungen positiv aufzugreifen.

Sie ist eines der größten Hindernisse für eine schnellstmögliche soziale, ökologische Konversion der Autoindustrie. Wenn die Klimabewegung die Autoarbeiter:innen gewinnen will, muss sie die Rolle der IG-Metall-Bürokratie verstehen und sich daran beteiligen, eine Opposition gegen sie aufzubauen – für eine demokratische Reorganisation der Gewerkschaften, für Arbeitskämpfe die von den Belegschaften selbst kontrolliert werden, für politische Streiks und für Betriebsbesetzungen – für Konversion statt Werkschließungen, für die Verteilung der Arbeit auf alle ohne Lohnverlust.

 … demokratische Planwirtschaft!

Es ist alles eine Frage der Kontrolle. Wer hat das Sagen in der IG Metall? Eine abgehobene Führung, die mit im Aufsichtsrat sitzt, oder aus der Belegschaft heraus gewählte Kolleg:innen, die sich vor dieser rechtfertigen müssen? Der Kampf um Opel Bochum zeigte Funken von dieser Selbstermächtigung. Ihm fehlten jedoch die betrieblichen Organe wie Streikkomitees, um daraus ein Feuer zu entfachen, ganz zu schweigen davon, dass die Solidarität aus anderen Fabriken fehlte, die fest in den Händen der IG-Metall-Bürokrat:innen lagen.

Aber auch: Wer hat die Kontrolle über das, was produziert wird? Auch wenn VW und Co. enteignet und verstaatlicht sind, stellt sich diese Frage. Die Deutsche Bahn beispielsweise gehört komplett dem Staat und ist trotzdem unzuverlässig, außer wenn es um Gehaltserhöhungen für den Vorstand geht. VW gehört zu zwanzig Prozent dem Land Niedersachsen.

In der Idee der demokratischen gewerkschaftlichen Selbstkontrolle liegt auch die der Arbeiter:innenkontrolle über die Produktion, die Planwirtschaft der Konzerne selbst in die Hand zu nehmen. Denn nicht anders produzieren sie intern. Unternehmen in der Größe von VW und Co. können gar nicht anders, als sich eine langfristige Strategie zurechtzulegen.

Das Problem dabei ist nicht der Plan, sondern, dass er unter dem Gesichtspunkt maximaler Profite geschrieben wird, ebenso wie das Problem mit der DDR-Planwirtschaft darin bestand, dass sie diktatorisch den Interessen der Honeckerclique unterworfen war.

Eine demokratische Planwirtschaft bedeutet demgegenüber die Möglichkeit einer ökologischen Kreislaufwirtschaft, also möglichst so zu produzieren, dass Produkte lange halten und am Ende ihrer Lebenszeit komplett wiederverwertet werden können (während heute einem Unternehmen die Ware egal ist, sobald sie verkauft ist … bis auf, dass ein Auto nicht ewig halten soll, irgendwann soll ja wieder ein neues verkauft werden). Sie bedeutet, dass die, die heute in der Autoindustrie arbeiten, gemeinsam mit der gesamten Arbeiter:innenklasse die Entscheidungbefugnis darüber bekommen, was und wie viel produziert wird: Straßenbahnen und Busse statt Autos, ohne den Arbeitsdruck einer 40-Stundenwoche oder eines drakonischen 5-Jahres-Plans von oben.

Im Gegensatz zum Zerrbild des real existierenden Sozialismus, der sich doch immer nur im Wettbewerb zum kapitalistischen Westen begriff, würde ein wirklich demokratischer – eine lebendige Rätedemokratie – in ihrem Plan die Idee verfolgen: so wenig wie möglich, so viel wie nötig, damit die Bedürfnisse befriedigt werden, was auch für Mobilität und Verkehr gilt. Die Zeitersparnis durch neue Maschinen würde weniger Arbeitszeit für alle bedeuten. An die Stelle der individualistischen Freiheit des Gaspedals könnte eine kollektive Freiheit treten: Selbst entscheiden, was produziert wird, wie man so leben will, dass es für alle Sinn macht, auch für die Generationen, die es noch gar nicht gibt, deren Chance auf ein gutes Leben die Autoindustrie von heute sabotiert.

Alles utopisch?

Es mangelt in der Klimabewegung nicht an Fantasie, wie die Welt anders, solidarischer aussehen könnte. Viele haben in den letzten Jahren die Erfahrungen von gemeinsamen Aktionen und riesigen Demos gemacht, in Waldbesetzungen erlebt, wie ein anderes Zusammenleben sich anfühlen könnte. Allein die Macht von Staat und Kapital war so nicht zu brechen. Unter den Arbeiter:innen der Autoindustrie wiederum ist ein Potential – ein Know-how – darüber vorhanden, wofür diese Fabriken besser genutzt werden könnten, wie die Produktion umgebaut werden kann.

Zudem haben sie – wenigstens von ihrer Position her – tatsächlich die Möglichkeit, die Herrschaft der Autobosse, Wissings und Autodeutschlands in Frage zu stellen, zu brechen. Wenn Umweltaktivist:innen diese Potentiale erkennen und zusammen mit den fortschrittlichsten Kolleg:innen in der Verkehrsindustrie ein Programm entwickeln würden, das einen Weg zu einer ökologischen, sozialen – also  antikapitalistischen – Konversion zeichnet, dann könnte aus dieser Allianz heraus vielleicht wirklich gegen die Wissings, Zetsches und Blumes gewonnen, aus Träumen eine konkrete Utopie werden ohne Zukunftsangst, Asphaltwüsten und in Blech verpackte Menschen, und an ihrer Stelle eine Freiheit treten, die nicht Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen und unseren Lebensgrundlagen bedeutet.




Welches Programm für den KI-Kapitalismus?

Felix Ruga, REVOLUTION, Infomail 1220, 20. April 2023

Künstliche Intelligenz gab es in primitiverer Form schon lange. Doch mit dem Projekt „ChatGPT“ ist eine Welle von Verblüffung bis Begeisterung durch die digitale Welt gegangen: Krass, was auf einmal geht! Dinge, die noch vor wenigen Jahren wie Science Fiction gewirkt haben, sind jetzt öffentlich zugänglich. Weniger bekannt ist die neuere Version „ChatGPT 4“: Im Gegensatz zu ChatGPT 3, welches eigentlich nur bekannte Informationen gezielt und clever remixen und ausgeben kann, wird bei der neuen Version argumentiert, dass diese Formen tatsächlicher Intelligenz aufweise. Das heißt: Probleme lösen, deren Antwort(en) zu äquivalenten Problemen nicht eingespeist wurde/n. Dieser Fortschritt ist innerhalb weniger Jahre geschehen und vor allem viel früher, als alle erwartet haben. Daneben stehen auch einige andere Bereiche, die ebenfalls auf maschinelles Lernen zurückgreifen, in den Startlöchern: künstliche Produktion von Bildern und Videos, autonomes Fahren und die Verwendung von „Big Data“ in den Naturwissenschaften.

Als Reaktion darauf kam schon von selbsternannten Expert:innen wie Elon Musk, dass die Technologie so fieberhafte Fortschritte an den Tag lege, dass man für eine Weile die Notbremse in den Entwicklungsstudios ziehen müsse, um rechtliche, ethische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen herzustellen. Zum einen kann das wieder ein cleverer Werbetrick sein und ist letztendlich wahrscheinlich nur schwer umsetzbar, zum anderen macht das aber schon einen richtigen Punkt: Für den Kapitalismus kann die ganze Angelegenheit tatsächlich weiterreichende Änderungen mit sich bringen. Die Rahmensetzung sollten wir aber nicht allein der herrschende Klasse überlassen. Es muss die Aufgabe der Arbeiter:innenbewegung sein, darauf programmatische Antworten zu liefern! Diese würden wir an der Stelle grob in zwei Teile unterteilen: die staatlichen und die wirtschaftlichen Änderungen.

Social Credits und Drohnen

Aus Filmen und Videospielen kennen wir die dystopischen Zukunftsszenarien, in denen sich künstliche Intelligenz mit autoritären Staaten mischt: ein allmächtiger Staat, der mittels automatisierter Überwachung und Bestrafung die Bevölkerung kontrolliert, ohne dass dafür echte Menschen ihre Moral dazwischenschalten können. Erhebungen können mit Drohnen und bewaffneten Robotern zerschlagen werden. Kriege werden nicht durch Menschenhand geführt, aber dennoch sind es die Menschen, die darunter leiden.

Das sind natürlich arg einseitige und künstlerische Darstellungen, aber dennoch muss uns klar sein, dass im Zweifelsfall und in zugespitzten gesellschaftlichen Situationen alle Technologien gegen die Arbeiter:innen verwendet werden können. Das ist sicherlich auch eine Angst, die viele momentan mit künstlicher Intelligenz verbinden, und auch eine, die Kommunist:innen unbedingt ernst nehmen sollten, worauf sie eine Antwort formulieren müssen, ohne in fortschrittsgläubigen Spott zu verfallen.

Die zentrale Losung sollte dabei sein, dass die Entwicklung und Verwendung vor allem von fortgeschrittener künstlicher Intelligenz unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt und dafür die jeweiligen Techunternehmen enteignet werden müssen. Das ist die einzige Möglichkeit, um wirklich zuverlässig zu erreichen, dass diese nicht dazu eingesetzt wird, um automatisierte Unterdrückung und massenhaftes Leid zu produzieren, sondern um die progressiven Elemente wirklich herauszuschälen: Entlastung und Befreiung von Teilen der entfremdeten Arbeit. Außerdem hätte künstliche Intelligenz in einer demokratischen Planwirtschaft ein besonderes Potential, wenn es um die Erhebung von Bedürfnissen und Verteilung von Gütern geht. Dazu wollen wir demnächst noch einen Artikel am Beispiel von „Cybersyn“ in Chile veröffentlichen.

Klar sollte sein: Halten wir diese Technologie nicht auf, sondern integrieren sie in ein Programm für mehr Freizeit und Freiheit! Doch wie sieht hier die wirtschaftliche Ebene aus?

Roboterarme und schmutzige Hände

Die kapitalistische Epoche wird begleitet von vielen „technologischen Revolutionen“. Und seien es nun die Dampfmaschine, die Elektrizität oder die Digitaltechnik: Jedes Mal war die Befürchtung groß, dass diese dazu führen, dass die Menschen nun ein für alle Mal überflüssig gemacht werden und die Arbeitslosigkeit riesig sein wird. Doch letztendlich ist es doch alles etwas anders gekommen, indem zwar viele Arbeitsstellen überflüssig geworden sind, aber die Arbeitskraft selbst nicht. Wird das bei der künstlichen Intelligenz genauso laufen?

Ein entscheidender Unterschied könnte sein, dass vorherige Technologien nicht so leicht kopierbar, sondern immer an „Materie“ geknüpft sind. Für Maschinen und Elektrizität braucht man eben Rohstoffe und Arbeit, um mehr Menschen damit zu versorgen. Dadurch kommt es vor allem in Halbkolonien dazu, dass selbst bei vorhandenem Know-how keine Technisierung durchgeführt wird, weil selbst der ineffizienteste Einsatz von Arbeitskraft immer noch günstiger ist, als eine Maschine anzuschaffen.

Je weiter nun die Technisierung fortschreitet, desto mehr Arbeitskraft wird frei und sie damit insgesamt billiger, was wiederum die Technisierung ausbremst. Deswegen werden bis heute so viele Tätigkeiten weiterhin per Hand und unter scheußlichsten Bedingungen durchgeführt. Das ist eines der vielen Argumente dafür, dass der Kapitalismus in Wirklichkeit technologischen Fortschritt aufhält, statt ihn zu beschleunigen.

Doch dieses Mal könnte es anders sein: Künstliche Intelligenz kann, wenn sie erst mal entwickelt ist, relativ leicht skaliert werden und damit einen großen Teil der Kopfarbeit ersetzen. Selbstverständlich stecken dahinter immer auch ein materieller Rechner, der irgendwo stehen muss, und eine Internetverbindung dorthin. Das ist aber selbst jetzt schon sehr weit verbreitet. Und die Effizienz von künstlicher Intelligenz wird in den nächsten Jahren schnell anwachsen. Die Vermutung liegt also nahe, dass sich in Zukunft Informatiker:innen, Designer:innen, Ingenieur:innen und Berater:innen aller Art darauf gefasst machen müssen, einer künstlichen Intelligenz Aufträge zu erteilen, anstatt selbst die Arbeit des Programmierens, Designs, Entwickelns oder Beratens auszuführen.

Das würde aber viele Berufe doch wieder überflüssig machen, wenn das nicht durch kräftiges Wirtschaftswachstum aufgefangen wird. Leider droht auch das Szenario, dass das deren Arbeitskraft entwerten könnte und sie wieder in ersetzbare Handarbeit oder in nutzlose Bullshitjobs treibt. Aber wie bereits gesagt wurde: Künstliche Intelligenz hat genauso wie alle anderen technologischen Fortschritte das Potenzial, Menschen von unnötiger und ermüdender Arbeit zu befreien.

Um das zu erkämpfen, müssen Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien die alte, aber ungeahnt aktuelle Forderung aufgreifen: Verteilung der Arbeit auf alle Hände! Das bedeutet konkret: Wir verkürzen die Arbeitszeit radikal, während der ausgezahlte Lohn erhalten bleibt. Arbeiter:innen sollen sich kostenlos umschulen dürfen, während der Staat die Löhne weiterzahlt. Das wird finanziert durch massive Besteuerung der Reichen, die durch diesen technologischen Fortschritt sicherlich profitieren werden.

Falls wir diesen Kampf nicht aufnehmen, wird es dazu führen, dass wieder vor allem die Kapitalist:innen davon profitieren und die bürgerliche Staaten ihre Macht stärken. Wir müssen der herrschenden Klasse die schillernde Zukunft abringen, die uns der technische Fortschritt verspricht!

Wir fordern also:

  • Enteignet die Techunternehmen und stellt sie unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Offenlegung aller Codes und Algorithmen, auf deren Basis KI arbeitet und Entscheidungen trifft, um rassistische und andere unterdrückerische Muster zu erkennen und zu bekämpfen!

  • Sensibilisierung und Schulung von Entwickler:innen für die ethischen Herausforderungen dieser neuen Technologie, z. B. in der Einspeisung diskriminierender Datensätze!

  • Flächendeckende Bildungsangebote im Bereich des Codings und digitaler Kompetenz in allen Schulen!

  • Deckung des enormen Strombedarfs der Server durch erneuerbare Energien!

  • Arbeitszeitverkürzung und kostenlose Umschulung bei gleichem Lohn!

  • Massive Besteuerung der Reichen!



European Gas Conference

REVOLUTION Austria, Infomail 1220, 14. April 2023

5.000 Menschen, darunter Genoss:innen des Arbeiter*innenstandpunkt und von REVOLUTION Austria, demonstrierten am 28. März in der Wiener Innenstadt gegen die European Gas Conference. Aufgerufen hatte ein breites Spektrum von Organisationen der Umweltbewegung, antirassistischen Kräften, linken Gruppierungen und Parteien links von SPÖ und Grünen.

Die Demonstration war begleitet von einer Gegenkonferenz, kleineren Blockaden und Aktionen um den Kongress des „fossilen“ Kapitals. Arbeiter*innenstandpunkt und REVOLUTION organisierten außerdem am 31. März eine Podiumsdiskussion zur weiteren Strategie der Bewegung. Im Folgenden spiegeln wir einen Artikel von REVOLUTION Austria, der vor der Konferenz veröffentlicht wurde und auf ihre Bedeutung verweist.

European Gas  Conference

Seit Jahren sind Klimaaktivist*innen in den Medien und lenken die öffentliche Aufmerksamkeit auf das wichtigste Thema unserer Zeit: die Klimakrise. Auch am 28. März wird es wieder eine Großdemonstration gegen den fossilen Energiesektor geben. Es versammeln sich nämlich die relevantesten Energiekonzerne in Wien, um unter anderem die Perspektive von Gas zu diskutieren. Eine Eintrittskarte kostet 3.000 Euro und es werden hier Entscheidungen angekündigt und getroffen, die das Untergehen unserer Zukunft zementieren werden.

Die fossile Industrie und ihr Kongress

Für die European Gas Conference verschlägt es vom 27. bis zum 29. März Vertreter:innen aller wichtigen Energiekonzerne nach Wien, darunter Total Energy, Shell, BP, RWE und Eni sowie die OMV. Gesponsort wird der Gipfel von Finanzunternehmen wie BlackRock und der Raiffeisenbank.

Mit hundert privaten Meetings mit Konzernvertreter:innen und Politiker:innen sowie den Vorträgen von sogenannten Expert:innen, die allesamt leitende Personen innerhalb der Energiekonzerne sind, verspricht die Konferenz das wichtigste Lobbytreffen des Jahres dieser Industrie zu werden.

Die Botschaft der einzelnen Vorträge und des Gipfels als Ganzem ist dabei klar: Erdgas ist ein Rohstoff der Zukunft, der eine grünere Alternative zu Öl und Kohle aufgrund seiner saubereren Verbrennung mit einem niedrigeren Ausstoß an Treibhausemissionen darstellt. Es sei von der Politik also sicherzustellen, dass es auch in den kommenden Jahrzehnten einen fixen Platz im Energiemix einnimmt. Schon jetzt zeigen die Bemühungen der Industrie erste Erfolge, denn von der EU wurde Erdgas kürzlich bereits als umweltverträglicher Rohstoff eingestuft.

Außerdem seien neue Investitionen in die entsprechende Infrastruktur notwendig, um Europa für die nächsten Jahrzehnte politisch und wirtschaftlich abzusichern, nicht zuletzt wegen des Ukrainekrieges, aufgrund dessen kein Erdgas mehr von Russland gekauft werden kann. In diesem Sinne werden auf der Konferenz neben der Trans Adriatic Pipeline vor allem Projekte in Afrika und Asien beworben.

In den Broschüren der verschiedenen Zusammenschlüsse der Industrie wird damit geprahlt, dass gerade in verarmten Gebieten der Anschluss an das Gasnetz sehr positive Auswirkungen auf die Luftqualität und Gesundheit der lokalen Bevölkerung hat. Eine Investition in diesem Bereich sei also nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern ein regelrecht selbstloses Sozialprojekt.

Unverzichtbar sei der Rohstoff auch in der Produktion von Dünger und Wasserstoff.

Grünes Erdgas?

Die tatsächlichen ökologischen Konsequenzen der Erdgasindustrie werden während der ganzen Konferenz nicht behandelt. Die Förderung und Verwendung von Erdgas erzeugt rund 25 % der weltweiten Treibhausgase. Speziell die absichtliche wie unabsichtliche Freisetzung von Methan in die Atmosphäre bei Produktion und Transport wird von den Konzernen seit Jahrzehnten de facto ignoriert.

Jede neue Investition in Infrastruktur für die Unternehmen wie Total Energy oder BP, die heute getätigt wird, sorgt dafür, dass die weltweiten Emissionen der Industrie für die nächsten 50 Jahre nicht nur auf dem derzeitigen hohen Stand bleiben, sondern auch noch weiter anwachsen. Der Ausbau festigt weiter unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und der Ausbau bindet außerdem Ressourcen, die für eine schnelle Energiewende dringend gebraucht werden.

Was die Konferenz versteckt, ist, dass sämtliche vertretende Unternehmen nicht nur Produzenten von Erdgas sind, sondern auch von Kohle und Erdöl. Sie sind nicht nur die wichtigsten Verursacher des Klimawandels, sondern profitieren auch am meisten von der weltweiten Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Ihr objektives Interesse am Erhalt der derzeitigen Energieversorgung drückt sich unter anderem dadurch aus, dass die Energiekonzerne ihre enorme politische Macht dafür nutzen, staatliche Programme zur Umstellung von fossilen Energieträgern, für z. B. Heizen und Kochen, auf erneuerbare zu verhindern.

Aber warum wird das getan? Ist Erdgas wirklich die einzige Lösung in der Energie- und Umweltkrise? Was sind unsere Alternativen? Wir müssen die Frage von der anderen Seite beantworten: Wir können uns nicht mehr leisten, immer wieder auf umweltschädliche fossile Energien zurückzugreifen. Was können wir also tun? Dafür ist wichtig zu betonen: Wer trifft denn momentan die Entscheidung, wie viel Energie wofür zur Verfügung steht? Der mit Abstand höchste Energieverbrauch findet in Produktion und Verkehr statt, und zwar in faktisch jedem Land. Verkehr ist hierbei auch stark verknüpft mit Logistik. Die Entscheidung, wie diese stattfindet, liegt bei den Unternehmen und ist damit nicht demokratisch legitimiert. Ähnlich wie bei der Gaskonferenz kommen hier Leute zusammen, die kein Entscheidungsrecht haben, entscheiden für uns, wie, was und warum produziert wird, und behaupten dann, dass es leider nur mit fossilen Brennstoffen geht, damit „unsere“ Bedürfnisse nach Energie gedeckt werden.

Wir wollen stattdessen gemeinsam entscheiden, wo und warum Energie genutzt wird. Die umweltfeindlichsten Bereiche, die, wo es möglich ist, sowieso abgeschafft werden müssen, sind auch die, die häufig den höchsten Energieverbrauch haben. Statt riesigen Leuchtreklamen und Just-in-time-Autotransporten könnten wir uns demokratisch für einen Ausbau des Schienennetzes und erneuerbarer Energie einsetzen, wenn wir die demokratische Macht dazu hätten, dies zu entscheiden.

Deshalb kämpfen wir für eine bedingungslose Enteignung und politische Kontrolle über Entscheidungen des Energiesektors.

Fossile Energie und der europäische Imperialismus

Für Jahrzehnte war Russland für Europa ein wichtiger Lieferant für fossile Energieträger. Nach der erneuten Eskalation des Krieges in der Ukraine kam es zu einer verstärkten Blockbildung zwischen Russland auf der einen Seite und der EU sowie den USA auf der anderen, die zu einer Einstellung des Handels mit Erdgas führte. Der europäische Imperialismus ist daher auf der Suche nach einer anderen Bezugsquelle für Erdgas und Erdöl, die am besten möglichst kontrollierbar und billig ist.

Ein Beispiel für jene Entwicklung ist die bereits 2020 fertiggestellte Transadriatische Pipeline, die Erdgas aus Aserbaidschan, einem engen westlichen Verbündeten, über die Türkei nach Griechenland und Italien liefert. Ebenfalls in Planung ist die Transsahara Gaspipeline, die Erdgas aus Nigeria durch Niger bis an die algerische Mittelmeerküste bringen wird. Ob der Bau, wie von den drei beteiligten Ländern vorgesehen, wirklich ohne Beteiligung ausländischer Unternehmen erfolgen wird, bleibt abzuwarten.

Die Bemühungen der Energiekonzerne um die Erschließung neuer Quellen für fossile Brennstoffe beschränken sich nicht nur auf Erdgas, sondern inkludieren auch Erdöl. So wird derzeit eine neue Pipeline für Rohöl in Ostafrika vom französischen Unternehmen Total Energy gebaut, das ebenfalls auf der Konferenz in Wien vertreten ist. Sie soll die Ölfelder in Uganda mit dem Hafen von Tanga in Tansania verbinden. Das Projekt führte bereits zu mehreren rücksichtslosen Umsiedelungen von Gemeinschaften, durch deren landwirtschaftliche Flächen die Pipeline führen wird, und bedroht die wirtschaftliche Lebensgrundlage und Wasserversorgung der Bevölkerung. Es wird davon ausgegangen, dass das Victoriaseebecken besonders stark durch Wasserverschmutzung und Erosion geschädigt werden wird.

Die Gewinne aus der Anlage gehen größtenteils an den Konzern Total Energy und zu einem kleineren Anteil an staatliche Ölkonzerne von Tansania und Uganda. Man kann nicht erwarten, dass die geschädigte Bevölkerung vor Ort jemals etwas von den Milliarden an Gewinnen aus der Unternehmung sehen wird.

Wir müssen international kämpfen, weil wir in den imperialistischen Ländern Druck aufbauen müssen, damit die ökonomische Abhängigkeit in halbkolonialen Ländern geschwächt wird. Die Menschen dort, die am stärksten unter der Klimakrise leiden, können dadurch effektiver dafür kämpfen, dass sie selbst in der Lage sind, Energieprojekte in einer nachhaltigen Art und Weise zu managen.

Wir kämpfen deshalb unter anderem für die Streichung aller Schulden, die halbkoloniale Länder an imperialistische Länder zu zahlen hätten.

Gewinner der Energiekrise auf unsere Kosten

Die Konzerne im Öl- und Erdgassektor haben nicht nur ihre klimaschädlichen Geschäfte und politische Einflussnahme zu verantworten. Die Firmen konnten in der derzeitigen Gaskrise ihre Profite enorm steigern, vor allem auf Kosten von Lohnabhängigen, die sich die gestiegenen Heizkosten kaum noch leisten können. Keine einzige europäische Regierung ist gewillt, dem Wucher durch Preisobergrenzen oder Vergesellschaftungen ernsthaft Einhalt zu gebieten, denn man möchte ja nicht die Profitraten einer so wichtigen Klientel wie der Erdölindustrie einschränken. So beschränken sich staatliche Hilfen für die Arbeiter:innenklasse auf kleine Einmalzahlungen, die keine wahre Entlastung schaffen. Die jetzige Inflation, die von den Energiepreisen getrieben wird, trifft vor allem die Haushalte, die nicht in der Lage sind zu sparen und die Kosten, die jetzt auf sie zukommen, nicht wirklich abfangen können.

Auch die Menschen, die in nicht nachhaltigen Bereichen arbeiten, haben in diesen Branchen keine Zukunft. Wir brauchen ihre Expertise und ihr Können für eine nachhaltige Umstellung der Wirtschaft. Sie sind diejenigen, die ein tatsächliches Interesse daran haben, ihre Unternehmen und Konzerne umzugestalten und zu nutzen, was zu nutzen ist und aufzugeben und zu verhindern, was die Klimakrise weiter anheizt.

Wieder einmal sehen wir alle nur zu gut, warum sich Arbeiter:innen und Jugendliche nur auf sich selbst verlassen können. Hoffnungen auf Preisobergrenzen und finanzielle Hilfen werden vergebens sein, wenn sie nicht durch Streiks und Besetzungen erzwungen werden. Keine Profite mit Heizen und Miete! Vergesellschaftung der Energiekonzerne unter Arbeiter:innenkontrolle ohne Entschädigungen!

Eine neue Klimabewegung

Im deutschsprachigen Raum haben die Proteste gegen die Räumung von Lützerath in Deutschland sowie die Besetzung der Baustellen für die Stadtautobahn in Wien zu einer klaren Radikalisierung der Klimabewegung geführt. Gerade die Erfahrungen mit Polizeigewalt und die absolute Unwilligkeit der Grünen in beiden Ländern, bei ihren Versprechen für mehr Klimaschutz zu bleiben, hat viele junge Aktivist:innen zum Umdenken bewegt. Doch dieses beschränkt sich oft nur auf eine höhere Stufe an „Radikalität“ bei den eigenen Aktionen wie den Unibesetzungen von End Fossil: Occupy! oder dem Festkleben an Straßen durch die Gruppe Letzte Generation. Nicht geändert hat sich aber, an wen diese Forderungen gerichtet werden und wer die Klimakrise lösen soll: bürgerliche Regierungen und deren Staatsapparat.

REVOLUTION sieht sich als Teil der Klimabewegung und wir stehen solidarisch zu allen Gruppen, die sich an diesem entscheidenden Kampf beteiligen. Jedoch sehen wir, dass das Unterfangen, die Klimakrise durch Appelle an ein Parlament oder besonders radikale Einzelaktionen zu bekämpfen, nicht zu verwirklichen ist. Daher schlagen wir einen neuen, klassenkämpferische und internationalistischen Weg vor.

Klasseninteressen in Zeiten der Klimakrise

In der Klimakrise sitzen nicht alle im gleichen Boot. Wie auch die Erzeugnisse des kapitalistischen Wirtschaftssystems national und international sehr ungleich verteilt werden, so werden auch die Lasten des Kapitalismus von manchen Menschen stärker getragen als von anderen. Besonders betroffen sind Jugendliche und Arbeiter:innen sowie Menschen außerhalb der imperialistischen Zentren. Sie profitieren kaum von der erhöhten Produktivität durch die rücksichtslose Ausbeutung der Umwelt und haben meist nicht die Möglichkeit, vor den schlimmsten Folgen des Klimawandels wie Überflutungen, Luftverschmutzung und Dürre zu fliehen. So ist es Menschen mit großen finanziellen Mitteln möglich, ihre Häuser zu klimatisieren oder einfach in weniger stark betroffene Gebiete umzusiedeln.

Für Kapitalist:innen, also Menschen, die Kontrolle über Produktionsmittel wie z. B. Fabriken ausüben, verspricht jedoch jedes Jahr ohne Klimaschutz höhere Gewinne. Auch verfügen sie über die notwendigen Ressourcen, um gegebenenfalls den Folgen ihres eigenen zerstörerischen Handelns aus dem Weg gehen zu können.

Sogar wenn sich einzelne Unternehmer:innen gegen ihr eigenes objektives Interesse für härtere Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Betrieb entscheiden, würden sie aufgrund der dadurch stärkeren Konkurrenz schnell an Bedeutung verlieren.

Das Kapital als Klasse stellt sich also nicht aufgrund von Unwissenheit gegen stärkeren Umweltschutz, sondern aufgrund des eigenen materiellen Interesses und des ökonomischen Zwangs, auf dem Weltmarkt profitabel und wettbewerbsfähig zu bleiben. Da die Kapitalist:innenklasse als Ganze die meisten Mittel für Lobbying und Propaganda zur Verfügung hat, werden die Interessen des Kapitals auch in Fragen des Klimaschutzes von den bürgerlichen Regierungen jeder Art rücksichtslos durchgesetzt. Daran ändert auch eine Regierungsbeteiligung der Grünen nichts.

Der Kampf gegen den Klimawandel ist immer einer gegen das Kapital. In der Klimakrise teilen sich die Interessen von Menschen also nicht nach Bildungsgrad oder dem persönlichen Wissen über den Klimawandel, sondern nach der Klassenzugehörigkeit. Als Klimabewegung ist es unsere Aufgabe, stets den Kontakt zu den Massen an Jugendlichen und Arbeiter:innen zu suchen, die das größte objektive Interesse (weil es um ihr Überleben geht) an einer konsequenten Klimapolitik hegen. Diese Gruppen müssen wir für den gemeinsamen Kampf für unsere Zukunft mobilisieren. Genauso wie wir es nicht schaffen, die Klimakrise durch unser persönliches Konsumverhalten abzuwenden, reicht es auch nicht aus, mit isolierten Aktionen und Aktivismus einer kleinen Szene Aufmerksamkeit zu generieren. Wir wollen eine Bewegung werden und dafür müssen wir den Kampf für einen Systemwechsel in die Schulen und Unternehmen tragen.

Als Aktivist:innen innerhalb des imperialistischen Kerns sollten wir die Kämpfe von Arbeiter:innen und Jugendlichen gegen Ausbeutung und Klimawandel in den Halbkolonien als unsere eigenen sehen. Nur eine breite, internationale, antikapitalistische Bewegung wird in der Lage sein, die Produktionsverhältnisse weltweit ökologisch und sozial zu gestalten. Diese Aufgabe ist weder den eigenen Parlamenten noch irgendeiner parlamentarischen Partei anzuvertrauen, da jene Institutionen in der Vergangenheit schon zu oft gezeigt haben, dass sie sich stets dem Willen der Kapitalist:innen beugen werden.

Unsere Forderungen sollen nicht den Anschein erwecken, dass kapitalistische Staaten diese tatsächlich eines Tages umsetzen könnten. Aber sie geben uns einen klaren Weg vor, um erfolgreich zu sein, und zeigen auf, welche Schritte notwendig sind, um die jetzige Krise zu überwinden. Forderungen sollten aber auch immer versuchen, eine Brücke zwischen dem derzeitigen Bewusstsein der Menschen und diesen notwendigen Maßnahmen zu spannen.

Daher sagen wir: Nein zu neuer Infrastruktur von Erdgas! Nein zur Ausbeutung von Rohstoffen in den Halbkolonien durch imperialistische Staaten! Nein zu Treffen zwischen Industrie und Politik, die immer nur der Maximierung des eigenen Profits dienen! Ausstieg aus allen fossilen Energieträgern, auch Erdgas! Keine Profite mit Heizen und Miete, die Lasten der Wirtschaftskrise sollen nicht von Arbeiter:innen und Jugendlichen getragen werden. Enteignung der Energiekonzerne unter Arbeiter:Innenkontrolle!

Klimaschutz heißt Klassenkampf: Vernetzung von Klimabewegung und Gewerkschaften! Es gibt keinen grünen Kapitalismus, Klimaschutz muss antikapitalistisch und internationalistisch sein! Kein Vertrauen in bürgerliche Staaten und Parteien!




Skizze der Weltlage

Emilia Sommer, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Nach der Pandemie Luft holen? Kaum möglich. Das letzte Jahr bot ein breites Repertoire an kapitalistischen Krisensymptomen. Angefangen mit dem noch immer anhaltenden Krieg in der Ukraine über große Aufstände wie im Iran oder in Sri Lanka, die mit massiver und gewaltsamer Repression bekämpft wurden und immer noch werden, bis hin zur Inflation und damit einhergehenden massiven Preissteigerungen. Als ob das nicht genug wäre, so merken wir schon jetzt sehr deutlich die Auswirkungen des Klimawandels wie beispielsweise bei der Flut in Pakistan, die im Spätsommer 2022 ein Drittel der Landesfläche überflutete. Es scheint, als würde eine Krise die nächste jagen, und dazwischen gibt es keine Zeit zum Aufatmen. Doch warum ist das so? Woher kommt das und wie wirkt es sich auf die ohnehin prekäre Lage von Frauen aus?

Es herrscht Krise – aber warum?

Ökonomische betrachtet, besteht der zentrale Grund für die gegenwärtige Krisenperiode darin, dass die Ursachen der Finanzkrise 2007/08 nie gelöst wurden. Die Regierungen haben nur deren Auswirkungen im Zaum gehalten. Im Kapitalismus erfordern Krisen eigentlich die Vernichtung von überschüssigem Kapital, um einen neuen Wachstums- und Expansionszyklus einzuleiten. Doch das hätte auch die Vernichtung von industriellem und Finanzkapital aus den imperialistischen Metropolen in großem Stil erfordert.

Stattdessen wurden sie mit der Politik des „billigen Geldes“ und massiven Schulden gerettet. Die Krisenkosten wurden durch soziale Kürzungen, steigende Preise und die Ausdehnung prekärer Arbeit (wie zum Beispiel Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse) auf den Rücken der Arbeiter:innenklasse abgewälzt – und natürlich auch auf die bäuerlichen Massen im globalen Süden.

Die Niedrigzinspolitik, die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, eine massive globale Verschuldung und viele weitere „Maßnahmen gegen die Krise“ schafften es nicht, eine neue ökonomische Dynamik zu entfachen, und die Wirtschaft stagnierte. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass nun der Spielraum, die aktuelle Situation abzufedern, wesentlich geringer ist.

Durch die Coronapandemie wurde die sich vorher schon anbahnende erneute Wirtschaftskrise ausgelöst und massiv verschärft. Denn durch das Virus haben sich die Finanz- und die Gesundheitskrise synchronisiert. Im Zuge dessen stieg die Verschuldung auf das Dreifache des Welt-BIP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder). Die Verwertung des Kapitals stagniert und es kommt zu einer zunehmenden Blasenbildung (Ausdehnung des spekulativen und fiktiven Kapitals).

Das Ergebnis: massiv steigende Konkurrenz zwischen imperialistischen Kräften im Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Denn niemand verfolgt das Interesse, als „Krisenopfer“ von anderen übertrumpft zu werden. In diesem Zusammenhang muss auch die reaktionäre russische Invasion in der Ukraine betrachtet werden. Die Karten der internationalen Beziehungen werden neu gemischt und zugleich haben sie erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung.

Dabei konnte die NATO unter Führung der USA ihre eigenen Interessen stärken und beispielsweise den Block der EU dazu bringen, die Wirtschaftsbeziehungen gegenüber dem russischen Imperialismus auf Eis zu legen. Durch den Krieg sowie die Sanktionen der G7 sind die Folgen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung weit über Europa spürbar. Insbesondere die Inflation befeuert die aktuelle Lage.

Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES), internationalen Wirtschaftsexpert:innen, bis 2026 anhalten könnte. Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. In 50 asiatischen und afrikanischen Ländern ist die Ernährungssicherheit gefährdet. Infolge der erneut gestiegenen Lebensmittelpreise sind Hungersnöte und Hungerkrisen neben Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse weltweit zu erwarten, was wiederum Regierungskrisen wie in Sri Lanka befeuert.

Konkrete Verschlechterung

Wie bereits geschrieben, hat die Coronapandemie  eine weltweite Krise ausgelöst, die die Situation der Frauen massiv verschlechterte. Dabei haben sie beispielsweise in  informellen Beschäftigungsverhältnissen schon während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Weltweit ging die Beschäftigung von Frauen zwischen 2019 und 2020 um 4,2 % zurück, während sie bei Männern um „nur“ 3 % sank, so ein Kurzbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2021. Darüber hinaus haben die Doppelbelastung durch Carearbeit und die Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen.

Das Problem an der aktuellen Lage besteht darin, dass vielerorts der Stand vor der Pandemie nicht wieder erreicht worden ist. Der Krieg in der Ukraine, der die Preissteigerungen befeuert, verschärft also die Situation erneut. Der Zustand einzelner Bereiche wie die Belastung in der häuslichen Carearbeit hat sich zwar gebessert, dennoch gibt es viele, in denen es zu einer Überlappung der Krisenfolgen kommt oder die Auswirkungen sich erst später bemerkbar machen wie beispielsweise bei der Frage der Altersarmut.

Beschäftigung und Armut

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gibt in ihren Trends für 2023 an, dass Frauen und junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter dastehen als der Durchschnitt der Lohnabhängigen. Weltweit lag die Erwerbsquote der Frauen im Jahr 2022 bei 47,4 Prozent, während sie bei den Männern 72,3 Prozent betrug. Dieser Unterschied von 24,9 Prozentpunkten bedeutet, dass auf einen nicht erwerbstätigen Mann zwei nicht erwerbstätige Frauen kommen. Konkret bedeutet das, dass mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden und nun einen schwereren Einstieg haben.

Längerfristig verstärkt dies die kaum verwunderliche Tendenz, dass weltweit Frauen  häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Hinzu kommt eine generelle verstärkte Altersarmut bei Frauen, die dadurch begünstigt wird, dass sie weniger im gleichen Beruf verdienen, durch Schwangerschaften teilweise aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und danach meist für weniger Geld wieder integriert werden und generell häufiger in Teilzeitbeschäftigung gedrängt werden und somit weniger verdienen, um die Reproduktionsarbeit im Haushalt verrichten zu können.

Inflation und Energiepreise

Die aktuelle Lage mit der Teuerung von Lebensmitteln sowie Energiepreisen bedeutet, dass Frauen zum einen verstärkter in Armut leben. Im April 2022 publizierten die Vereinten Nationen den Bericht „Global Gendered Impacts of the Ukraine Crisis on Energy Access and Food Security and Nutrition“. Hieraus geht eindeutig hervor, dass der Ukrainekrieg global die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie massiv verschlechtert hat. Dies liegt an der Schlüsselrolle Russlands und der Ukraine auf den globalen Märkten für Energie und Grundnahrungsmittel.

So sind die Lebensmittelpreise seit Januar 2022 um über 50 Prozent gestiegen, während Rohöl um über 33 Prozent teurer geworden ist. Über 90 Prozent des Weizens in Armenien, Aserbaidschan, Eritrea, Georgien, der Mongolei und Somalia wurden aus Russland und der Ukraine importiert. Dadurch sind diese Länder in hohem Maße von Ernährungsunsicherheit bedroht. Außerdem bildet die Ukraine eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm (WFP), das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt. Dabei ist zu betonen, dass dieser Engpass langfristig auftreten wird. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 Prozent der ukrainischen landwirtschaftlichen Flächen aufgrund des Krieges nicht mehr nutzbar sind. Hinzu kommen schlechtere Ernten durch fehlende Kapazitäten, Felder instand zu halten, was die Situation perspektivisch verschärfen könnte.

Carearbeit – bezahlt und unbezahlt

Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegesektor ein wichtiges Beschäftigungsfeld für Frauen dar. Das wird auch deutlich, wenn man sich die Studie der ILO „The gender pay gap in the health and care sector: A global analysis in the time of COVID-19” aus dem Jahr 2022 genauer ansieht. Ihr zufolge liegt der Anteil der Arbeitskräfte im Gesundheits- und Pflegesektor an der weltweiten Gesamtbeschäftigung bei 3,4 % und ca. 67 % aller Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Herauszustreichen ist dabei, dass der Durchschnittsverdienst in diesem Sektor niedriger ausfällt als in anderen Segmenten des Arbeitsmarktes. Hinzu kommt, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle mit 24 % im Durchschnitt höher ist als in anderen Sektoren, was darin begründet liegt, dass auch hier Frauen wesentlich stärker in den schlecht bezahlten Bereichen arbeiten sowie miesere Bedingungen für den Wiedereinstieg nach einer Schwangerschaft vorfinden. Betont sei, dass die Pandemie die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Situation in Krankenhäusern spitzt sich weiter zu.

Ebenso angespannt war sie bezüglich der unbezahlten Reproduktionsarbeit. Besonders betroffen waren hierbei Eltern sowie jene, die Angehörige zu Hause pflegen, durch den Wegfall von Schulen, Kitas und weiteren Unterstützungsangeboten. Dabei gaben  Mütter fast dreimal so häufig wie Väter an, dass sie den Großteil oder die gesamte zusätzliche unbezahlte Betreuungsarbeit aufgrund Schließung von Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen übernommen haben: 61,5 % der Mütter von Kindern unter 12 Jahren geben an, dass sie den größten Teil oder die gesamte zusätzliche Betreuungsarbeit übernommen haben, während nur 22,4 % der Väter tun. So ist es kaum verwunderlich, dass besonders diese Mütter die Gruppe verkörpern, die zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem dritten Quartal 2020 im Durchschnitt der OECD-Länder am ehesten von der Erwerbstätigkeit in die Nichterwerbstätigkeit wechselten. Zwar hat sich die Situation unmittelbar durch die Öffnung der Betreuungsangebote wieder erholt. Doch die Pandemie hat die bereits existierende Kluft in der unbezahlten Reproduktionsarbeit verstärkt und durch die schlechtere Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig verschlechtert.

Warum eigentlich?

Wie wir an diesen Beispielen sehen, trifft es Frauen in Krisensituation wesentlich stärker. Denn gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Diese Arbeiten sind zwar gesellschaftlich notwendig und letztlich auch für die Reproduktion des Gesamtkapitals erforderlich, aber sie werfen meistens keinen Profit für Einzelkapitale ab. Daher drängen diese darauf, dass die staatlichen Kosten dafür als erste gekürzt oder Leistungen ausgelagert und privatisiert werden. Diese werden also „eingespart“ oder teurer und somit für die ärmeren Schichten unerschwinglich.

Statistisch trifft dies daher Frauen besonders, da sie häufiger prekäre Arbeitsplätze wie Leiharbeits- und Teilzeitstellen besetzen oder im informellen Sektor arbeiten und so Schwankungen des Arbeitsmarkts stärker ausgesetzt sind. Dies findet häufig unter dem Deckmantel von mehr Zeit für die Familie statt. In Wirklichkeit nehmen Frauen aber häufiger diese Angebote an, da sie weniger Geld als ihr Partner verdienen. und wenn es dann darum geht, wer zu Hause bleibt und Reproduktionsarbeit verrichten soll, ist das praktische Ergebnis, dass es den Part trifft, der weniger verdient. So wird die geschlechtliche Arbeitsteilung weiter reproduziert, bedeutet aber auch, dass Frauen stärker von Krisen getroffen werden.

Die Ursache des Problems liegt also in der unbezahlten Reproduktionsarbeit, die versucht wird, ins Private hineinzudrängen, sowie in der geschlechtlichen Arbeitsteilung an sich. Das Sinnbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren Stereotypen verkörpern der Mann, als Hauptverdiener und Versorger; die Frau, die sich um die Kinder kümmert.

Perspektiven

Die aktuelle Weltlage spitzt sich immer weiter zu, die Krise breitet sich aus, die Fronten der imperialistischen Mächteblöcke verhärten sich und das offene Aufrüsten derer lässt vermuten, dass sich auch in Zukunft kriegerische Auseinandersetzungen häufen könnten. Die Ausbeutung und Unterdrückung halbkolonialer Länder nimmt stetig zu und die Klimakrise scheint mit aktuellen Taktiken der Regierungen unabwendbar. Damit einhergehend verstärken sich die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und damit auch allen voran auf Frauen. Die Auswirkungen der Krise, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückung der Frau, stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich teils gegenseitig. Um gegen kommende Krisen kämpfen zu können, braucht es ein Antikrisenprogramm, mit welchem in aktuelle ökonomische und soziale Kämpfe interveniert werden muss. Doch der Kampf gegen Frauenunterdrückung, Krisen und für die Umwelt kann nur Hand in Hand mit dem gegen den Kapitalismus erfolgen.




Zur politischen Ökonomie der Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer / Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Die gegenwärtige Krise ist auch eine der sozialen Reproduktion. Die Angriffe auf das Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung und Altersvorsorge und die damit verbundene Ausdehnung privater, nach wie vor allem von Frauen geleisteter privater Hausarbeit rücken auch ins Zentrum des Klassenkampfes. Beschäftige in den Krankenhäusern, Erzieher:innen und Lehrer:innen streiken, spielen eine größere, mitunter sogar eine Vorreiter:innenrolle im Klassenkampf. Millionen gehen gegen Angriffe auf die Renten auf die Straße. Die Frauen*streiks der letzten Jahre thematisieren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Kein Wunder also, dass die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von kapitalistischer Mehrwertproduktion und Reproduktionsarbeit auch wieder ins Zentrum theoretischer Diskussion und Theoriebildung gerückt ist. Im Folgenden wollen wir grundlegende Momente einer marxistischen Analyse darlegen.

Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird vom radikalen wie auch sozialistischen Feminismus als wunder Punkt der Marx’schen Theorie angesehen. Marx und Engels hätten dazu allenfalls Ansätze geliefert, wären aber letztlich blind für die  Unterdrückung der Frauen sowie andere Unterdrückungsverhältnisse gewesen. Seit der zweiten Welle des Feminismus beschäftigen sich verschiedene Theoretiker:innen mit der Reproduktionssphäre und sie versuchen dabei, Alternativen aufzuzeigen, die Marx vernachlässigt hätte.

Feministische Kritiken

So bestimmen Mariarosa Dalla Costa und Selma James das Verhältnis der proletarischen Frau zum proletarischen Mann als Ausbeutungsverhältnis. Die unbezahlte Arbeit im Haushalt betrachten sie als produktive Arbeit, als Produktion von Mehrwert, womit sie auch ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit begründen.

An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie anknüpfend, betrachteten die Autorinnen der Bielefelder Schule (Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof) Haus- und Subsistenzarbeit als fortdauerndes Äußeres der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Hausfrauen und Bäuerinnen wird für sie zur Voraussetzung für die Kapitalakkumulation selbst. Daher erscheinen nicht die Lohnarbeiter:innen, sondern die in diesen „Produktionsweisen“ Tätigen, die Opfer einer permanenten ursprünglichen Akkumulation, als das revolutionäre Subjekt. Bis heute fließt diese Vorstellung in die feministische Diskussion ein, z. B. bei Silvia Federici, die einen Teil ihrer theoretischen Grundlagen aus dieser Tradition, vor allem von Maria Mies, übernimmt.

Diese Konzeptionen blieben innerhalb der marxistisch orientierten Frauenforschung und selbst im sozialistischen Feminismus keineswegs unwidersprochen. So weisen z. B. Ursula Beer in „Geschlecht, Struktur, Geschichte“ oder Lise Vogel in „Marxismus und Frauenunterdrückung“ nach, dass viele der radikal- und sozialistisch feministischen Kritiken den Marx’schen Kategorien einen anderen Sinn unterschieben – und diesen dann kritisieren – oder überhaupt nicht erst versuchen, an der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich anzuknüpfen.

Autor:innen wie Lise Vogel versuchen hingegen, eine „einheitliche Theorie“ der Produktion und Reproduktion zu entwickeln. Sie gehen dabei mit Marx davon aus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise geschichtlich wie logisch die Produktion die Reproduktion bestimmen muss. Ihre Theorie scheitert dabei nicht am Bezug auf Marx, wohl aber an ihrer strukturalistischen Lesart des Marxismus und damit einhergehend an Zugeständnissen an die Vorstellung einer klassenübergreifenden Bewegung aller Frauen, der proletarischen, kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen.

Die von Vogel mitbegründete Social Reproduction Theory (Theorie der sozialen Reproduktion) stellt heute einen wichtigen Begründungszusammenhang für den linken Flügel des Feminismus dar, wie z. B. die Autorinnen von „Feminismus der 99 %“ (Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser). Im Vergleich zu Vogel leisten sie auf theoretischem Gebiet allerdings Rückschrittliches. Wie frühere Autor:innen werfen sie dem Marxismus vor, die Bedeutung der Reproduktion zu unterschätzen.

Ihm wird ein angeblich verkürzter Klassenbegriff unterschoben. Zugleich wird die Sphäre der Reproduktion (im Gegensatz zu Vogel) faktisch als eigene Produktionsweise begriffen, die als gleichwertig oder sogar übergeordnet zum Verhältnis Kapital – Arbeit aufgefasst wird. Wie schon bei früheren feministischen Kritiken fällt diese begrifflich oft sehr unpräzise und moralisierend aus (z. B. wenn es um die Bestimmung von notwendiger und Mehrarbeit oder produktiver und unproduktiver Arbeit geht).

In früheren Beiträgen in der Zeitschrift Fight und im Revolutionären Marxismus haben wir uns mit oben genanten Theorien beschäftigt. Im Folgenden wollen wir, an Marx anknüpfend, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion analysieren, seine historische Entwicklung nachzeichnen und auf die aktuellen krisenhaften Tendenzen der Reproduktion eingehen.

1. Wert- und gebrauchswertseitige Vermittlung der Reproduktionsarbeit

Insbesondere in den Kapiteln über den Akkumulationsprozess im Kapital Band I verweist Marx darauf, dass in jeder Gesellschaftsformation Produktion und Reproduktion eng verzahnt sind, sie im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen.

„Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z. B., verbrauchten Produktionsmittel, d. h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird.“ (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 591)

Marx bestimmt hier einerseits grundlegende Bedingungen der Reproduktion, die für alle Gesellschaftsformationen gelten, nämlich dass Arbeit verrichtet werden muss, um Produktionsmittel (PM) zu erneuern und die Arbeitskraft (AK) wiederherzustellen. Wollen wir jedoch die jeweiligen Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion verstehen, reicht es nicht, bei dieser abstrakten, allgemeinen Vorstellung zu verbleiben, sondern es muss das Verhältnis betrachtet werden, das diese beiden Sphären in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen annehmen. Marx betrachtet Reproduktion dabei von zwei Seiten:

a) Reproduktion des Kapitals (Kapitalkreislauf)

Alle Bedingungen der Produktion (PM und AK) müssen als Waren gekauft werden.

Im Produktionsprozess P werden sie genutzt, um neue Ware (W‘) herzustellen. Dabei übertragen die PM einen Wertanteil an das Produkt, die Arbeitskraft konsumiert die PM, indem es sie in Bewegung setzt und umformt. Sie verrichtet Arbeit und überträgt dabei nicht nur Neuwert auf das Produkt, das dem Wert der Ware AK entspricht, sondern zusätzlichen Wert – Mehrwert –, den sich der/die Kapitalist:in aneignet. Die AK produziert und reproduziert also im Akkumulationsprozesses das Kapital.

In der von Marx zuerst betrachteten einfachen Reproduktion eignet sich der/die Kapitalist:in den Mehrwert zur Gänze an und verausgabt ihn für seine/ihre eigenen Bedürfnisse, also unproduktiv, weil er nicht zur Vermehrung das Kapitals verwendet wird.

Der eigentlich typische Fall für den kapitalistischen Produktionsprozess ist natürlich, dass möglichst viel Mehrwert angeeignet wird, um als zusätzliches Kapital verwertet zu werden, die sog. erweiterte Reproduktion. Dieser Prozess kann als Kreislauf des Kapitals dargestellt werden, als dessen Produktions- und Reproduktionsprozess, weil am Ende das in Geldform G in den Prozess eingetretene Kapital diesen erneut und auf erweiterter Stufenleiter, als G’, durchlaufen kann:

G – W (PM/AK) – P – W‘ – G‘

Legende: AK: Arbeitskraft; PM: Produktionsmittel; W: Ware; W´: Neue, im Produktionsprozess geschaffene Ware; C: Kapital (konstantes + variables); M: Mehrwert; P: Produktion bzw. Produktionsprozess, G: Geld

Arbeit, die in einem solchen Prozess verwertet wird, also einen Mehrwert fürs Kapital schafft, nennt Marx produktive Arbeit (im Gegensatz zur unproduktiven). Sie ist produktiv, weil sie nicht nur bestehenden Wert ersetzt, sondern Mehrwert für ein Kapital schafft, also zu einer erweiterten Reproduktion beiträgt.

b) Doppelte Art der Konsumtion der Arbeitskraft

Marx verdeutlicht, dass das Kapital im Produktionsprozess die Arbeitskraft konsumiert. Dabei wird das Kapital beständig reproduziert als Produkt der entfremdeten, vom Kapitalist angeeigneten Arbeit. Zugleich wird so beständig auch die Arbeitskraft produziert.

„Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23, S. 596)

Mit anderen Worten: Sobald sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat, müssen die Lohnarbeiter:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überhaupt die Mittel für ihre Reproduktion kaufen zu können. Geschichtlich geht dem ein gewaltsamer, blutiger Prozess der ursprünglichen Akkumulation voraus, indem Verhältnisse durchgesetzt werden, die den Lohnsklav:innen jede andere Form der Sicherung ihrer Existenz verunmöglichen. Doch einmal etabliert, bringt das Kapitalverhältnis auch die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse hervor, während Männer wie Frauen der herrschenden Klasse von der Ausbeutung der Arbeit anderer leben. Daher unterscheidet sich auch ihre Reproduktion grundlegend von der der lohnabhängigen Klasse. Die Reproduktionsarbeit für die herrschende Klasse muss nicht von den Frauen dieser Klasse erledigt werden, sondern wird von Frauen (oder auch Männern) aus der Arbeiter:innenklasse verrichtet.

Jedenfalls ist die Konsumtion des/der Lohnarbeiter:in doppelter Art:

1. Produktive Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert im Produktionsprozess Produktionsmittel und produziert so Mehrwert, vermehrt das Kapital.

2. Individuelle Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert Lebensmittel, die mit dem Arbeitslohn gekauft werden.

In der Analyse betont Marx zuerst die Verschiedenheit der beiden Prozesse. Betrachten wir nämlich die beiden Formen der Konsumtion als individuelle Verhältnisse zwischen Arbeiter:in und Kapitalist:in, so scheint es sich um sehr verschiedene, voneinander getrennte Bereiche zu handeln:

„In der ersten handelt er (der Arbeiter; Anm. der Redaktion) als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (MEW 23, S. 596 f.)

Marx geht aber weiter. Die Sache sieht sehr viel anders aus, wenn wir nicht einzelne Kapitalist:innen – Arbeiter:innen, sondern das Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten.

Betrachten wir die individuelle Konsumtion vom Standpunkt Einzelner, so erscheint diese als gänzlich verschieden von der produktiven Konsumtion. In der Produktion muss die Arbeitskraft für andere schuften, im privaten Bereich, der individuellen Konsumtion, kann sie frei über ihr Geld verfügen, scheinbar kaufen, was sie will. Es herrscht Freiheit. Dies wird durch die Geldform des Arbeitslohns, im Grunde durch den Geldfetisch, noch zusätzlich verstärkt, weil es so scheint, als ob’s eine beliebige, freie Entscheidung des einzelnen Arbeiter/der einzelnen Arbeiterin wäre, ob er/sie dies oder jenes für sein/ihr Entgelt kauft.

Betrachten wir jedoch den Gesamtprozesse, so erweist sich dies als Ideologie, als Fiktion, wenn auch eine sehr wirkmächtige Apologie der verallgemeinerten Warenproduktion.

In Wirklichkeit reproduziert jene Freiheit selbst noch das Kapitalverhältnis. Betrachten wir nämlich die individuelle Konsumtion in ihrer Gesamtheit, also als Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit, so erweist sich die Reproduktion der Arbeitskraft als sich ständig reproduzierender Teil des Gesamtprozesses der Produktion und Reproduktion des Kapitals.

Dies ist unvermeidlich, weil Letztere immer über den Kauf/Verkauf von Waren vermittelt und so an den Akkumulationsprozess des Kapitals gebunden und diesem untergeordnet bleiben muss.

„Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht.“ (MEW 23, S. 597)

Ferner: „Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ (MEW 23, S. 597 f.)

An dieser Stelle setzt die feministische Kritik ein, weil Marx diesen Aspekt nicht weiter ausgeführt hätte. Das stimmt zwar zu einem gewissen Grad. Die Kritik verkennt jedoch, dass Marx hier nicht etwas abbricht, sondern vielmehr zu einer Schlussfolgerung kommt, die sich aus dem Obigen und den Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft ableitet.

Die Arbeiter:innen sind zur eigenen Reproduktion gezwungen, weil sie selbst Lohnarbeiter:innen sind, ihre Arbeitskraft aus „Selbsterhaltungstrieb“ verkaufen müssen. Das Kapital kann daher getrost die Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft externalisieren.

Die Reproduktion kann als „frei“ erscheinen, was durch die „freie“ Arbeit, Arbeitskontrakt usw. bestärkt wird. In Wirklichkeit ist diese Freiheit jedoch gesellschaftlicher Schein, Ideologie. Oder in Marx’ Worten:

„Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebenso Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“ (MEW 23, S. 598)

Es ist also ein Fehler, dabei stehen zu bleiben, die produktive und individuelle Konsumption nur aus individueller und nicht aus gesellschaftlicher Sicht zu betrachten. Das führt nämlich unweigerlich zu einer mechanischen, unvermittelten Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre, die so nicht existiert.

c) Produktions- und Reproduktionskreislauf

Die Unterordnung von Konsum/Reproduktionskreislauf der Arbeitskraft unter den des Kapitals wird auch deutlich, wenn wir diese einander gegenüberstellen. Erinnern wir uns zuerst an den Produktionskreislauf des Kapitals:

G – W (PM, AK) – P – W‘ – G‘

Dieser stellt das Wesen, weil Zweck der Produktion im Kapitalismus dar. Es findet also Anhäufung von Kapital, von kapitalistischem Reichtum statt; der Zweck der Produktion besteht in der Produktion von Mehrwert.

Die Reproduktion der Arbeitskraft lässt sich knapp so darstellen:

G (Arbeitslohn in Geldform) – W (Konsumgüter) – Reproduktion – W’ (AK) – G

Der Arbeitslohn, den die Arbeitskraft als Geld erhält, muss in Waren W (Konsumgüter, Mittel zum Lebensunterhalt ausgegeben werden). Es wird sodann konsumiert, verzehrt (inkl. stofflicher Umwandlung durch Hausarbeit wie Kochen, … ). Am Ende wird die Ware W’ (Arbeitskraft) reproduziert, die wieder zu ihrem Wert/Preis verkauft wird.

Es entsteht hier kein zusätzlicher Wert, sondern es werden nur Wertbestandteile reproduziert. Die Arbeitskraft geht durch den Reproduktionsprozess und verlässt ihn so, wie sie in ihn hineintritt, um wieder ihre Haut zu Markte tragen zu können, um also erneut die Summe G, die ihren Reproduktionskosten entspricht, erhalten zu können. Die Reproduktionsarbeit (ob nun private Hausarbeit oder öffentliche Arbeit wie an Schulen) erhält nur die Arbeitskraft, sie schafft aber unter diesen Bedingungen keinen Mehrwert.

Das trifft auch auf die Arbeiter:innenklasse insgesamt zu, denn der gesamte Lohnfonds (Gesamtsumme aller Löhne wie auch aller staatlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen, des „Soziallohns“, usw.) entspricht im Grunde nur den Reproduktionskosten der Gesamtklasse, also aller ihrer Mitglieder (lohnarbeitende Männer und Frauen, Teilbeschäftigte, im Haushalt Tätige, Kinder, Rentner:innen, Kranke, … ).

Bei der Bestimmung des Werts der Ware Arbeitskraft betrachtet Marx auch alle diese Personen als Teil der Gesamtklasse. Allein das zeigt, wie albern die Kritik an ihm ist, dass er nur die produktiven Arbeiter:innen in der Fabrik betrachten würde. Der gesamte Lohnfonds inkludiert wie die Preisbestimmung der Ware Arbeitskraft selbst (im Unterschied zu anderen Waren) auch eine historische, „moralische“ Komponente, die selbst vom Klassenkampf modifiziert wird.

Wichtig ist aber, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit/-kosten dazu da ist, die Arbeitskraft zu erhalten (gesamtes Gesundheitswesen, Kosten, Wohnung, Heizung, … ). Während diese relativ konstant bleiben, so erhöhen sich mit Entwicklung des Kapitalismus die Bildungskosten, also Kosten zur Erhöhung des Arbeitsvermögens der Arbeitskraft, so dass diese statt Träger einfacher gesellschaftlicher Arbeit zu sein, auch solche zusammengesetzter, komplizierter wird.

Arbeiten im öffentlichen Reproduktionsbereich gehen natürlich in den Durchschnittswert der Ware Arbeitskraft ein. Die Kosten für Gebäude, Arbeitsmittel usw. sowie für die Bezahlung der Arbeitskräfte in diesem Bereich führen zu einer Erhöhung oder Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft (z. B. wenn die Kosten für Erziehung, Bildung, Lebensmittel usw.) steigen oder fallen. Aber im staatlich/öffentlich organisierten Reproduktionssektor wird keine Mehrarbeit verrichtet, die sich das Kapital in Form von Mehrwert aneignet. Erst recht findet das nicht in der privaten Hausarbeit statt.

Anders verhält es sich, wenn Teile des Reproduktionsprozesses privatkapitalistisch organisiert werden, beispielsweise wenn Krankenhäuser oder Schulen privatisiert und zum Zweck der Profitmaximierung, als stinknormales Geschäft betrieben werden. Lassen wir einmal die Probleme beiseite, den Wert der Waren genau zu bestimmen, festzulegen, wie verschiedene „Produkte“ im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor vergleichbar und bepreist werden können, so besteht nun der entscheidende Zweck der Reproduktionsarbeit für den/die Kapitalist;in darin, Profit zu erwirtschaften, was, wie wir alle aus Erfahrung wissen, bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitkraft (z. B. von Patient:innen) steht.

Doch zurück zur Wertbildung der Arbeitskraft und zu deren Reproduktion.

Jede Arbeitskraft, die im privaten Haushalt oder im staatlichen Caresektor reproduktiv tätig wird, muss ihrerseits reproduziert, erhalten werden. Das heißt, diese Kosten gehen wie die zur Herstellung jeder anderen Arbeit in den Wert der Arbeitskraft ein.

D. h., auf die private Hausarbeit bezogen, geht diese im gesellschaftlichen Durchschnitt in den Wert der Ware Arbeitskraft ein (resp. auch in den Wert zukünftiger Arbeitskraft und die Reproduktion des gesamten Haushaltes).

Die Erhaltungskosten zur Reproduktion gehen ebenso in die Reproduktionskosten der Arbeitskraft ein wie die Kosten der Lebensmittel, der Haushaltsgeräte usw. Das heißt umgekehrt auch, die Reproduktionskosten für die Hausarbeit (ob nun mehr oder minder gerecht verteilt oder auf die Frau abgewälzt) müssen bestritten werden. Ebenso trifft das auch auf die (noch) nicht arbeitenden Familienmitglieder zu.

Der entscheidende Unterschied zum Kapitalkreislauf besteht darin, dass hier kein Mehrprodukt, damit auch kein Mehrwert geschaffen wird, den sich jemand außerhalb der Familie aneignen würde.

Im Grunde trifft das auch zu, wenn größer werdende Teile der Reproduktionsarbeit staatlich oder gesellschaftlich organisiert werden („Soziallohn“), also für staatliche Schulen, Kitas, Unis, Krankenhäuser, Altersheime. Solange die für diese Tätigkeiten aufgewandten Mittel nicht als Kapital fungieren, also nicht investiert werden, um Profit abzuschöpfen, sondern als staatlicher/sozialer Dienst, werden sie aus Lohnbestandteilen (z. B. Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) oder über Steuern (mit historisch wechselnden Anteilen verschiedener Klassen), also staatlich finanziert.

Dem Kapital erscheint daher diese gesellschaftlich notwendige Arbeit immer als faux frais, als überschüssige Kosten der Produktion, als Abzug vom Gesamtprofit. Sie können nie knapp genug bemessen sein. Genau genommen ist dies der Standpunkt des konkurrierenden Einzelkapitals.

Vom Standpunkt der Gesamtkapitals und seiner Reproduktionsbedingungen sind sie keineswegs unnütz, ja essentiell. Das wissen auch einzelne Kapitalist:innen, wenn ausnahmsweise die Arbeiter:innen in einer günstigen Position sind oder wenn Mangel an Arbeitskraft droht. Dann wird nach Maßnahmen zur Überwindung solcher Arbeitsmarktkrisen gerufen.

In jedem Fall sind die Reproduktionskosten der Gesamtklasse bei einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus für ein bestimmtes gesellschaftliches Gesamtkapital mehr oder weniger gegeben.

d) Erweiterte Reproduktion

Ihre Entwicklung ist grundsätzlich bestimmt von der Akkumulationsbewegung des Kapitals.

Diese beinhaltet aber nicht nur eine Bestimmung für eine Phase der Entwicklung, sondern auch ein dynamisches Element.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals bedeutet schließlich nicht einfach eine quantitative Erweiterung, sondern geht, vermittelt über die Konkurrenz, mit einer stetigen Erneuerung des Produktionsapparates, eine Revolutionierung der technischen Basis der Produktion einher. Diese führt nicht nur zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einem tendenziellen Fall der Profitrate.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals wirkt auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurück, sobald und sofern der Wert der Konsumgüter der Arbeiter:innenklasse infolge von Produktivitätssteigerungen sinkt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln oder Haushaltsgeräten und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs (Elektronik), die Verringerung von Transportkosten oder Massenverkehrsmitteln führen zur Reduktion des Werts der Ware Arbeitskraft. Infolge von Wertsenkungen der Konsumgüter ermöglichen sie in bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung (z. B. im sog. langen Boom), dass die Menge der Gebrauchswerte/Güter, die die Arbeiter:innen konsumieren können, konstant bleibt oder sogar zunimmt, obwohl der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt.

Diese Form der Erhöhung des (relativen) Mehrwerts und ihre Verstrickung mit den Reproduktionskosten verdeutlichen, dass die Bestimmung der Reproduktion durch die Produktion nicht nur ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus darstellt, sondern diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung auch immer mehr um sich greift, immer totaler wird.

Zugleich führt diese Verbindung dazu, dass, historisch betrachtet, auch die Reproduktionsarbeit immer mehr vergesellschaftet wird, wenn auch für private, bornierte Zwecke. In Krisen gestaltet sich dieser Prozess insofern prekärer, als erreichte Stadien von Vergesellschaftung selbst in Frage gestellt werden, also sich eine Tendenz zur Regression manifestiert.

e) Reproduktion und geschlechtliche Ungleichheit

Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann dabei nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt werden. Sie muss grundsätzlich aus der historischen Entwicklung begriffen werden, wo die kapitalistische Produktion ihr vorausgehende Formen der Unterdrückung der Frau aufgreift und funktional, dem Wertgesetz unterworfen, umformt.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung natürlich mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden, also dem biologischen Fakt, dass nur sie Kinder auf die Welt bringen können. Damit entsteht auf der einen Seite eine Form der Reproduktionsarbeit, die nicht auslagerbar oder auf Männer übertragbar ist, andererseits schafft es auch einen Widerspruch. Schwanger sein ist notwendig für die Reproduktion der Menschheit, hat aber auch den Nachteil, dass die Arbeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten phasenweise eingeschränkt wird. Speziell im Kapitalismus mit seinem Fokus auf Profitmaximierung mündet das in sehr bestimmten Arten der Organisierung von reproduktiver Arbeit und reproduziert diese.

Für die kapitalistische Produktionsweise folgt grundsätzlich die Scheidung von produktiver Konsumtion und individueller Konsumtion der Arbeiter:innenklasse aus der Scheidung von Arbeitsprodukt und Arbeitenden, der Trennung von Arbeitskraft und Produktionsmitteln (Eigentumsmonopol des Kapitals). Das Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion nimmt eine neue, historisch spezifische Form an. Hier sieht man auch den Unterschied zur feudalen Ausbeutung, die Marx hervorhebt, in der Produktion und Reproduktion wesentlich weniger getrennt waren. Es gab zu dieser Zeit eine viel stärkere Einheit im bäuerlichen Haushalt, wo Produktion und Reproduktion zugleich stattfanden und die Familie genauso Produktions- wie Lebenseinheit war.

Die vorgefundene Unterdrückung der Frau führt zur Herausbildung und Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, in der der Mann als „Oberhaupt“ und Ernährer tätig, die Frau für die Hausarbeit zuständig ist (sofern sich ein proletarischer Haushalt überhaupt herausbilden kann).

Im Lohn der männlichen Arbeitskraft werden daher die Reproduktionskosten des Haushalts mit gesetzt, daher die höhere  Bezahlung der männlichen Arbeitskraft (es gibt daraus resultierend auch eine historisch-moralische Einwirkung auf den Arbeitslohn).

Im privaten Haushalt wird dadurch eine vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung reproduziert und produziert. Die historisch moralischen Einwirkungen sind unter anderem struktureller Sexismus, der abseits von dieser besseren Entlohnung für Männer auch ideologisiert, dass die Arbeit von Frauen generell weniger wert ist als die von Männern.

Die bürgerliche Familie entspricht diesem Reproduktionszusammenhang, sie erscheint als Reich der „Freiheit“, des Rückzugs, des privaten Glücks und der Selbstbestimmung gegenüber der Fabrik, der Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Despotie des Kapitals.

Individuell betrachtet, scheint sich der Mensch in der Privatsphäre zu verwirklichen, auch wenn diese, wie Marx zeigt, letztlich vom Kapital bestimmt ist. Aber der/die Warenbesitzer:in der AK scheint hier wirklich sich zu gehören (resp. auch seine/ihre Familie).

Die Familie, Partnerschaft (selbst in ihrer patriarchalen Form) scheint daher ein Rückzugsraum, eine sicherer Hafen vor der Unbill der Arbeit in der Fabrik, im Produktionsprozess. Aber dies ist weitgehend Fiktion, wie Marx hervorhebt:

„Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert.“ (MEW 23, S. 591)

2. Historische Entwicklungsdynamik der Reproduktionsarbeit

Nachdem wir Grundzüge des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion umrissen haben, wollen wir uns dessen historischer Entwicklung zuwenden. So wie das Lohnarbeitsverhältnis keineswegs „rein“ hervortritt, sondern geschichtliche Modifikationen durchläuft wie auch aufgrund der imperialistischen Weltordnung sehr verschieden in imperialistischen und halbkolonialen oder kolonialen Ländern in Erscheinung tritt, so durchläuft auch die kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeitskraft Entwicklungsstufen. Diese dürfen dabei keineswegs als strenge Abfolge betrachtet werden, die für alle Länder gleichermaßen gelten würde. Vielmehr gilt auch dafür das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, wo im Rahmen einer reaktionären imperialistischen Ordnung relativ weit vergesellschaftete Formen der Produktion und Reproduktion gleichzeitig und verwoben mit extrem rückständigen auftreten, ja diese im Rahmen eines globalen Ausbeutungsverhältnisses sogar immer wieder hervorbringen.

Im Folgenden wollen wir grob einige Entwicklungsphasen skizzieren – und wir sehen dabei auch, dass Formen, die zuerst im Frühkapitalismus entstehen, heute noch in extrem ausgebeuteten Ökonomien weit verbreitet, ja prägend sein können.

a) Übergang, Entstehung des Kapitalismus

Die Fesselung der Frau an den Haushalt hat der Kapitalismus nicht erfunden, wohl aber die Trennung von Produktion und Reproduktion. Um kapitalistische Verhältnisse auch in der Reproduktion zu erzwingen, muss also einerseits die Fesselung an den Haushalt aufrechterhalten, andererseits dieser als Produktionseinheit (die die Güter ihrer eigenen Reproduktion ganz oder in wesentlichen Teilen herstellt) zerschlagen werden.

D. h. die Arbeiter:innenklasse muss gezwungen werden, ihre Lebensmittel als Waren bei Dritten (kapitalistischen Produzent:innen oder Händler:innen) gegen Geld (Arbeitslohn) zu kaufen.

Dies ist funktional wichtig und muss gewaltsam hergestellt werden, weil, ansonsten die Arbeitskraft selbst nicht in vollem Maß zum Verkauf als Ware gezwungen wäre.

Hier zeigt sich zugleich, dass es – trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der Subsistenz- und der kleinen Warenproduktion – im Grunde irreführend ist, die private Hausarbeit als eine eigene Produktionsweise zu bestimmen. Dies verschleiert vielmehr den spezifisch kapitalistischen Charakter der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse. Wir haben es bei der (privaten) Reproduktion im Haushalt nicht mit einer oder gar mehreren Produktionsweisen außerhalb des Kapitals zu tun, sondern mit einer – so unsere These – spezifisch kapitalistischen Form der Reproduktion im Kapitalismus.

Gerade in ihrer Bestimmtheit durch die Produktion liegt ihr Wesenskern. Dass dies leicht anders erscheinen mag, hängt mit verschiedenen Faktoren, die zu einer ideologischen Fetischisierung führen, zusammen.

1. Erscheint der Haushalt, die Privatsphäre als Gegenteil der betrieblichen, sachlichen Despotie (selbst die Despotie des Haustyrannen ist unterschieden, weil wesentlich persönlich, patriarchal, Herrschaft des Vaters, im engen Wortsinn).

2.  Kapitalistische Reproduktion existiert nicht rein, sondern in mehr oder weniger krassen Hybridformen.

Davon einige wichtige:

  • Die Haushaltsformen des Kleinbürgertums (z. B. der Bauern-/Bäuerinnenschaft) setzen die Einheit von Produktion und Reproduktion fort.

  • In den halbkolonialen Ländern dauert der Prozess der ursprünglichen Akkumulation an. Dies führt zur Bildung von wichtigen, prekären Formen der Reproduktion für beachtliche Teile der Bevölkerung des globalen Südens.

  • Für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist, global betrachtet, bis heute eine „normale“ Reproduktion in der Familie nicht oder nur bedingt möglich. Die Ausweitung der Teile der Klasse, die unter ihren Reproduktionskosten Lohnarbeit verrichten müssen, bedeutet auch, dass der proletarische Haushalt seine Reproduktionsfunktion nicht oder jedenfalls nicht voll erfüllen kann.

  • Umgekehrt wird aber der „Rückzug“ zu einer vorkapitalistisch funktionierenden Form der Reproduktion verunmöglicht.

  • Umso stärker wird die Tendenz zur Barbarisierung der Verhältnisse im Haushalt (Hunger, Armut, Aufteilung des Mangels, aber auch Gewalt gegen Frauen und Kinder).

Für die frühe kapitalistische Entwicklung wie auch für bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse stellt die Familie keineswegs eine historische Selbstverständlichkeit dar. Im Gegenteil! Die Überausbeutung verunmöglichte diese weitgehend für die neue entstehende Klasse (siehe auch urspr. Akkumulation, Ausdehnung des Arbeitstages, Sklaverei, … ).

Für deren unterste Schichten nimmt soziale Vorsorge – sofern vorhanden – die Form des Armenhauses, von Waisenhäusern samt despotischem Regime an. Die Kriminalisierung anderer Einkommensarten (Betteln, Verbot des Zugriffs auf vormaliges Gemeineigentum) stellen unerlässliche Mittel dar, den Zwang zur Lohnarbeit durchzusetzen. Dieses Regime muss gewährleisten, dass die „Armenversorgung“ unter dem Niveau des extrem geringen Arbeitslohns liegt. Daher auch die fast ungebrochene Tendenz zur absoluten Verelendung im Frühkapitalismus – eine Tendenz, die wir in der halbkolonialen Welt, teilweise sogar unter den marginalisierten (oftmals zugleich migrantischen und/oder rassistisch unterdrückten) Schichten der Klasse auch in den imperialistischen Zentren vorfinden.

b) Entstehung und Durchsetzung der proletarischen Familie

Die „klassische“ bürgerliche Familie (Vater als Ernährer, Frau als Hausfrau, Kinder) ist in der Arbeiter:innenklasse auch immer ein zwiespältiges historisches Produkt. Ihre Verwirklichung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Der Arbeitslohn des Mannes muss die Reproduktionskosten der gesamten Familie real abdecken können (Frau, Kinder, Alte), damit die Frau Hausfrau sein kann, die Kinder nicht gegen Lohn arbeiten müssen und die Alten versorgt werden können. Daher müssen auch der Ausbeutung gewisse Schranken gesetzt werden, also Grenzen der absoluten Mehrwertabpressung durchgesetzt werden. Um diese Reproduktionsfähigkeit der Familien überhaupt herzustellen, müssen die Löhne dem Wert der Arbeitskraft (A) entsprechen, muss der Arbeitstag begrenzt werden, müssen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit und staatliche Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Dies ist nur möglich auf Basis von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, die reale Errungenschaften durchsetzen (z. B. den 10-Stundentag). Diese werden oft auch begünstigt dadurch, dass ein Teil der herrschenden Klasse (bzw. deren politischen Personals) erkennt, dass eine gewisse Grenze der Ausbeutung notwendig ist, um die Reproduktion des Ausbeutungsmaterials zu sichern (ob dies aus Einsicht oder Furcht vor Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse erfolgt, ist hier zweitrangig).

Die Bildung der proletarischen Familie setzt also eine gewisse materielle Besserstellung der Klasse voraus. Wenigstens signifikante Teile müssen in der Lage sein, den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu oder über ihren Reproduktionskosten durchzusetzen.

Dies stellt gegenüber dem Frühkapitalismus oder extremen Formen der Ausbeutung eine Errungenschaft der gesamten Klasse, von Mann und Frau dar. Aber sie geht zugleich einher mit einer Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeiter:innenklasse. Die Frau kann jetzt auch „nur“ Hausfrau, der Mann kann real alleiniger „Ernährer“ der Familie sein. Für die Frau bedeutet dies aber zugleich eine Fessel, eine Befestigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, den Zwang, die Hausarbeit zu leisten, die keinen Mehrwert generiert, die Festigung der Abhängigkeit vom Mann (als Einkommensquelle) und ihrer Vereinzelung und Unterdrückung. Damit einher geht auch die Entstehung des proletarischen Haushaltes (eigene, kleine Mietwohnung, eigener Herd, … ).

Die Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstärkt darüber hinaus durch rechtliche Ungleichheit und reaktionäre Ideologien und Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse die soziale Unterdrückung.

Ökonomisch wird diese zusätzlich befestigt, indem der Lohn des Mannes als Familienlohn gesetzt ist. Der Wert der Arbeitskraft ist wesentlich der der männlichen. Der Wert der weiblichen Arbeitskraft wird so auf einen Bruchteil der männlichen fixiert, da ihre Reproduktionskosten in diesem System geringer sind, weil das Lohneinkommen der Familienmitglieder vom Mann, nicht der Frau bestritten werden soll/muss.

Wir haben es hier also mit einer systematischen Ungleichheit des Werts der Arbeitskraft zu tun, die das spezifisch kapitalistische System der Reproduktion schafft bzw. von diesem geschaffen wird.

Dies drückt sich einerseits in der Last der Hausarbeit aus, die den Frauen aufgebürdet wird. Zweitens aber auch in einer beruflichen Arbeitsteilung. Frauen werden aus industriellen Branchen verdrängt (oder erst gar nicht reingelassen), auf zeitweilige, schlechter bezahlte Tätigkeiten verwiesen.

Dieses „Modell“ wird zum vorherrschenden in den kapitalistischen Zentren mit Expansion des Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der imperialistischen Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird auch auf Halbkolonien mit der Expansion des Kapitalverhältnisses und der Entstehung einer, wenn auch kleineren Arbeiter:innenaristokratie ausgeweitet, aber verbleibt dort bis heute eine Form, die nie die gesamte Klasse umfasst.

Nicht minder wichtig ist, dass dieses Modell bis heute, wenn auch modifiziert und, was die Frage der Lohndifferenzen betrifft, etwas gerechter die vorherrschende ideologischen Form darstellt.

Bei den erzreaktionären bürgerlichen Kräften tritt das ganz klar und unverhüllt hervor. Aber auch dem Liberalismus, dem Mainstreamfeminismus und dem Reformismus liegt dieses Modell zugrunde. Es wird jedoch seiner „unschönen“ Seiten bereinigt. Die gleiche Verteilung der Hausarbeit und gleiche Löhne/Einkommen werden propagiert. Ein mehr oder weniger großer privater, quasi familiär organisierter Teil der Reproduktionsarbeit wird aber als erstrebenswert oder unverzichtbar und eigentlich menschlich betrachtet. (Dies kann natürlich auch auf gleichgeschlechtliche oder Transpartner:innenschaften erweitert werden, gewissermaßen als flexiblere, anpassungsfähigere Formen der bürgerlichen Familie).

Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion gerät aber mit dieser engen Form der kapitalistischen Reproduktionsarbeit in Widerspruch bzw. Letztere stellt auch eine Schranke für die Expansion des Kapitals ab einer bestimmten Stufe dar.

c) Ausdehnung der Lohnarbeit der proletarischen Frauen

Das zeigte sich zuerst im Ersten Weltkrieg. Aber die Ausdehnung der Frauenarbeit in der Produktion für diesen Krieg war nur vorübergehend, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, der Zerrüttung des Weltmarktes, der Massenarbeitslosigkeit und der ungelösten Probleme der globalen Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten.

Anders im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frauen kehren nicht in den Haushalt zurück. Dies hat zwar auch historisch spezifische Gründe in manchen Ländern (Mangel an männlicher Arbeitskraft wegen Kriegsgefangenschaft und toter Soldaten). Vor allem aber erfordern die veränderten, günstigen Akkumulationsbedingungen (Zerstörung und Ersetzung von Kapital, massive Ausdehnung der Produktion und hohe Profitraten, Ablösung des Kolonialsystems und Ausdehnung des Weltmarktes, USA als Demiurgin des Weltmarktes, Dollar als Weltgeld, Erhöhung des relativen Mehrwerts erlaubt hohe Profite und gleichzeitige Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse) auch eine massive Expansion der weiblichen Lohnarbeit.

Proletarische Frauen (wie die gesamte Klasse) werden als Konsumentinnen wie als Lohnarbeiterinnen wichtiger. Die Expansion weiblicher Lohnarbeit wird außerdem am Beginn durch Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern begünstigt. Frauen werden als billigere, oft nur „vorübergehende“ Arbeitskraft in bestimmen Sektoren massenhaft beschäftigt. Männer gelten am Beginn weiter als Vollzeitarbeiter. Dies entspricht einem geschlechtlich extrem segregierten Arbeitsmarkt, auf dem in der ersten Phase der Nachkriegsperiode Männer- und Frauenberufe klar getrennt sind.

In dieser ersten Phase der Expansion geht diese noch ohne große Erschütterung der proletarischen Familien wie des Oberhaupts der Familienform mit ihrer ideologisierten Selbstverständlichkeit einher. Diese wird am Beginn sogar eher stabilisiert, auch weil das Proletariat ab Mitte der 1950er Jahre stetige ökonomische Verbesserungen verspüren kann. Politisch-ideologisch sind die 1950er und frühen 1960er Jahre restaurativ, extrem miefig, reaktionär. Es ist daher auch kein Wunder, dass von einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen in den meisten Ländern nicht die Rede sein kann.

Zugleich entwickeln sich jedoch die inneren und gesellschaftlichen Widersprüche.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit, die Ausdehnung des Bedarfs an qualifizierter Arbeitskraft und höhere Lebenserwartung erfordern auch eine Ausdehnung der Reproduktion, die gesellschaftlich geleistet wird und nicht privat. Das wiederum bedarf eines Ausbaus des Bildungswesens und sozialstaatlicher Leistungen (Gesundheitssystem, Altersvorsorge) sowie von Einrichtungen, die Frauen Vollzeitarbeit ermöglichen (Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeheime).

Mit der Expansion geht außerdem auch eine Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit im Bereich Bildung und Gesundheit einher.

Die Expansion macht aber auch die fest etablierte Ungleichheit, die patriarchalen Verhältnisse in Ehe und Familie immer fragwürdiger, ja unhaltbarer. Ihre gesellschaftliche Legitimation erodiert zusehends.

All das legt auch die Grundlage für die 2. Welle der Frauenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Das Auftreten des radikalen und sozialistischen Feminismus führt dazu, dass Forderungen der Bewegung von der Gesellschaft insgesamt aufgegriffen oder jedenfalls zu einem Kampffeld für Millionen Menschen werden.

Es ist auch kein Zufall, dass die Frage der Hausarbeit/Reproduktion und der politischen Ökonomie mehr Beachtung findet in dieser Zeit und zu einem wichtigen Gegenstand der Diskussion in der Linken und Frauenbewegung gerät.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit ist in praktisch allen Ländern enorm, v. a. in imperialistischen Staaten, oft noch mehr in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten, aber auch in vielen Halbkolonien.

Mit der Ausdehnung einer gesellschaftlich organisierter Reproduktionssphäre, die über Steuern, Sozialabgaben, also über Lohnbestandteile oder die Revenue des Kapitals finanziert wird, verringert sich tendenziell das reale Lohndifferential zwischen Männern und Frauen, zwischen besser und schlechter bezahlten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Ein größerer Bestandteil des Lohnfonds insgesamt wird über staatliche Leistungen oder Sozialversicherungen umverteilt und kommt so als Anspruch auch weniger hohe Steuern oder Beiträge zahlenden Lohnabhängigen zugute.

Das Lohndifferential (Gender Pay Gap) sowie die geschlechtsspezifische Struktur der Arbeitswelt verlieren ihre offizielle gesellschaftliche Legimitation, werden ihres scheinbar natürlichen Charakters entkleidet.

Dennoch wirken sie massiv fort, ebenso die ungleiche Verteilung der privaten Hausarbeit und der überproportionale Anteil von Frauen an der Reproduktionsarbeit.

Die Ausdehnung des Soziallohns sowie der Druck der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung wirken bei aller Zähigkeit auf eine Angleichung der Löhne/Entgelte von männlicher und weiblicher Lohnarbeit.

Die Ausdehnung der weiblichen Lohnarbeit, also direkte Beteiligung der Frau an wenn auch indirekter, „blinder“ vergesellschafteter Produktion drängt auch auf eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit.

Dieser Prozess stößt aber im Kapitalismus an innere Grenzen wegen des Warencharakter der Arbeitskraft, der inneren Anarchie der Produktionsweise und der bornierten, kapitalistischen Zwecke der Produktion. Zugleich bleibt die Familie weiter ein wichtiges bürgerliches Integrations- und Herrschaftsinstrument, so dass sie aus gutem Grund von konservativer und reaktionärer Seite auch dann besonders eifrig verteidigt wird, wenn sie eigentlich gesellschaftlich ersetzbar wäre. Hinzu kommt, dass sie gerade während und wegen ökonomischer Krisen weiter eine wichtige Rolle spielt: Denn gesellschaftliche Reproduktion ist wesentlich unproduktive Arbeit fürs Einzelkapital, daher Abzug von seinem Profit, tritt als unnötige Kosten in Erscheinung, die möglichst reduziert werden müssen.

3. Krise, Klassenkampf, Vergesellschaftung

Mit dem Ende des langen Booms und Einsetzen der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mit prägt, wird auch diese Widersprüchlichkeit deutlicher. Die Sphäre der Reproduktion stürzt selbst in eine tiefe Krise.

Deren Hintergrund und Ursache bildet die strukturelle Überakkumulation. Das Kapital stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, eine ausreichend hohe Profitrate aufrechtzuerhalten, weil die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und der Mehrwert schaffende Teil des Kapitals (also das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten) immer kleiner wird. Es gibt also nicht nur einen Drang dazu, sich andere Anlagesphären (und -gebiete) zu suchen, sondern auch, die Ausbeutungsrate zu erhöhen (also die Kosten fürs variable Kapital zu senken). Das bedeutet auf der einen Seite, dass es zu mehr Privatisierungen des Caresektors kommt, um neue Bereiche zu erschließen. Es heißt aber auf der anderen auch, dass Menschen (vor allem Frauen), die stark in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, zusätzlich auch wieder stärker in die Lohnarbeit gedrängt werden, ohne sie von der Zusatzarbeit zuhause zu entlasten.

Vor allem in imperialistischen Ländern ist viel Reproduktionsarbeit staatlich geregelt. Sie stellt zwar einen essenziellen Beitrag zum Erhalt des Systems dar, wird aber aufgrund ihrer nicht Mehrwert schaffenden Rolle immer stärker eingespart. Viele der Probleme in unseren jetzigen Gesundheitssystemen ergeben sich aus Rentabilitätskalkülen. Nachdem ein System niedergespart wurde, kommt oft ein guter Moment für Privatisierungswellen. Die organische Zusammensetzung in diesen Bereichen liegt oft unter dem Durchschnitt und es gibt einen leichten Eintritt in den Markt, wenn die Leistungen des öffentlichen Sektors nicht mehr mithalten können (solange staatlich keine Regelungen dagegen getroffen werden). Damit wird also die vorher „nichtproduktive“ (nicht Mehrwert schaffende) zu profitmaximierender Arbeit oder zumindest darauf vorbereitet.

Je teurer dann aber wiederum privatisierte Institutionen werden und je mehr an Löhnen in krisenhaften Situationen gespart wird, umso mehr werden Leistungen der Reproduktionsarbeit (Kindergarten, Krankenhäuser usw.) unbezahlbar für die Arbeiter:innenklasse oder jedenfalls für die schlechter entlohnten Teile. Das wiederum drängt Leute wieder zurück in die Familie, um reproduktive Aufgaben vermehrt selbst zu übernehmen. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur bei Privatisierungen, sondern auch staatlichen Angeboten, die nicht kostenlos oder an viele Bedingungen geknüpft sind (z. B. Staatsbürger:innenschaft) oder eine bestimmte Familienkonstellation). Es nimmt aber nicht dasselbe Ausmaß an. Speziell trifft diese Dynamik auf Halbkolonien zu.

Kürzungen beim Soziallohn, also dem Anteil an Sozialabgaben und damit der Finanzierung von reproduktiven Leistungen, bedeuten auch einen Rückgang im gesamten Lohnfonds. Diese Unterfinanzierung steht für mehr soziale Ungleichheit und führt damit zu immer reaktionäreren Tendenzen. Mit zusammenbrechenden Sozialsystemen, verschärfter Ungleichheit und einem Zurückdrängen von reproduktiven Arbeiten in Familie und Haushalt erfolgt eigentlich ein gesellschaftlicher Rückschritt. Obwohl die technischen und organisatorischen Möglichkeiten da wären und auch das Kapital davon profitiert, über Arbeiter:innen zu verfügen, die voll ausbeutbar sind, führen inhärente Tendenzen des Kapitalismus zu einer barbarischen Situation. Diese zementieren auch die bürgerliche Kleinfamilie und ketten sowohl Frauen als auch Kinder und alte Menschen noch heftiger an sie als ohnehin schon.

Doch diese Entwicklungen passieren nicht ohne Widersprüche. Streiks in Bereichen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind (Pflege, Kindergarten, etc.), handeln immer wieder neu aus, wie die Reproduktionsarbeit organisiert wird, und in vielen Ländern bilden sich dabei auch neue kämpferische Sektoren der Arbeiter:innenklasse.

Die krisenhaften Entwicklungen im Reproduktionsbereich dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es nur eine Tendenz weg von der wenn auch naturwüchsigen Vergesellschaftung hin zur privaten Hausarbeit gebe.

Im Gegenteil, für bedeutende Sektoren der lohnabhängigen Mittelschichten wie auch der Arbeiter:innenklasse können wir ein Fortschreiten einer wenn auch privatkapitalistisch organisierten Vergesellschaftung der Hausarbeit konstatieren.

Wir wollen das am Beispiel der sog. Plattformökonomie verdeutlichen. In den letzten Jahren erleben wir eine große Ausbreitung von Dienstleistungen, die über solche Onlinedienste Teile von Reproduktionstätigkeiten anbieten. Das umfasst Lieferdienste für Essen und Nahrungsmittel, die mittlerweile von fast allen Schichten der Arbeiter:innenklasse zumindest gelegentlich genutzt werden.

Für größere Teile der Lohnabhängigen werden diese zum Standard für ihre Reproduktion. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass die ständige Intensivierung der Arbeit, deren Verdichtung, die durch Homeoffice oft noch einen neuen Schub erhält, die Menschen während der Arbeit so sehr auslaugt, dass sie kaum noch die Kraft haben, für sich selbst zu kochen oder zu putzen.

Daher bietet die Plattformökonomie längst mehr als Mahlzeiten oder Fertiggerichte. Darüber werden auch Reinigungskräfte, Pfleger:innen oder Kinderbetreuung vermittelt.

Diese Inanspruchnahme von privat angebotenen und über größere Kapitale organisierten Diensten, die nun auch Teil der produktiven, Mehrwert schaffenden Arbeit werden, ist natürlich nicht für die gesamte Arbeiter:innenklasse möglich und erfordert, um unter den gegenwärtigen Konkurrenzbedingungen profitabel funktionieren zu können, dass die Beschäftigten der über die Plattformökonomie organisierten Lieferdienst oder Caresektoren selbst für geringe, unterdurchschnittliche Löhne und unter ungesicherten Arbeitsbedingungen tätig sind. Pointiert könnte man sagen, dass bei diesen Unternehmen vor allem jene Arbeiter:innen angestellt werden, die sich diese Dienste nicht oder nur gelegentlich leisten können. Hinzu kommt, dass, solange diese Dienste vergleichsweise billig angeboten werden, sie auch zu einer Erhöhung des relativen Mehrwerts führen.

Natürlich gibt es ähnliche Phänomene auch im bislang ganz oder halbstaatlich organisierten Reproduktionsbereich – bei Krankenhäusern, Schulen, Kitas, … Diese sind bereits, wenn auch zum Zweck der Reproduktion des Gesamtkapitals, vergesellschaftet. Nun werden bereits gesellschaftlich organisierte Bereiche der Reproduktion zerlegt, privatisiert oder im ersten Schritt einer privaten, profitorientierten Kostenrechnung und Kalkulation unterworfen.

Neben Tendenzen zur Privatisierung finden wir also auch in der aktuellen Krise solche zur Vergesellschaftung. Doch diese folgen keinem bewussten gesamtgesellschaftlichen Plan, sondern finden auf privater Basis oder durch den Staat statt. Das Zurückdrängen der Hausarbeit in die Familien und Abwälzen auf die Frauen bildet also nur eine Tendenz in der aktuellen Krisenperiode. Diese wird durch eine andere, nämlich die Ausdehnung privat organisierter Reproduktionstätigkeit ergänzt.

Während in der Phase der Ausdehnung des Reproduktionssektors in den 1960er und 1970er Jahren diese mit einem weitgehend allgemeinen Zugang zu Grundleistungen einherging, so geht die aktuelle Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit damit einher, dass verschiedene Schichten der Arbeiter:innenklasse weit unterschiedlicheren Zugang zu diesen haben als bisher.

So wie die inneren Differenzen der Klasse in einem Land und erst recht international zunehmen, wie die Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen Arbeiter:innenaristokratie, der Masse der Klasse und der wachsenden Schicht der prekär Beschäftigten größer werden – und dies noch viel mehr auf globaler Ebene – , so werden auch die Reproduktionsbedingungen unterschiedlicher, vergrößert sich die Kluft innerhalb der Arbeiter:innenklasse.

Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass diese Tendenzen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen, so dass Frauen von der Krise des Reproduktionssektors besonders stark betroffen sind.

Wir können aus all diesen Gründen ihre „Lösung“ nicht dem bürgerlichen Staat oder dem Markt überlassen. Der Kampf um die Verteidigung bestehender Errungenschaften um die Reorganisation der Reproduktionsarbeit bildet zugleich ein zentrales Feld des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode. Die widersprüchlichen Tendenzen zur Vergesellschaftung, zur Privatisierung und zur Ausdehnung der privaten Hausarbeit sind im Kapitalismus letztlich unlösbar, zumal die Erhöhung der Mehrwertrate ein zentrales Element der Krisenbewältigungsstrategien der herrschenden Klasse bildet, ja bilden muss.

Im Sinne eines Programms von Übergangsforderungen gilt es, an bestehenden Kämpfen anzusetzen und diese mit dem für eine planmäßige Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle zu verbinden:

  • Ausbau und Einführung von Großkantinen und Restaurants unter Arbeiter:innenkontrolle als Alternative zu isolierter Hausarbeit. Entschädigungslose Enteignung der großen Handelsketten und Lieferdienste unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Kommunalisierung aller Kindergärten und Schulen. Diese müssen kostenlos und für alle zugänglich sein. Für ein massives Investitionsprogramm zur Erneuerung und zum Ausbau und zur Einstellung fehlender Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und anderer Beschäftigter zu vollen tariflichen Löhnen. Kontrolle über die Einrichtungen durch Ausschüsse von Beschäftigten, Schüler:innen und Eltern!

  • Enteignung von Wohnungskonzernen und von Grund und Boden. Kontrolle der Mieten durch Ausschüsse der Mieter:innen und Gewerkschaften.

  • Verstaatlichung und Ausbau des gesamten Caresektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient:innen, und Gewerkschaften, finanziert durch die Besteuerung des Kapitals und der Reichen!

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse auf 30 Stunden pro Arbeitswoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, damit die Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit. Gleichmäßige Aufteilung der übrig bleibenden privaten Tätigkeiten unter Männern und Frauen!

Die Vergesellschaftung der Hausarbeit kann im Kapitalismus nie vollständig erreicht werden, ganz so, wie die planmäßige und bewusste Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht durchgeführt werden kann, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschaft prägt. Daher ist der Kampf um sie mit dem für die Enteignung des Kapitals, mit der sozialistischen Revolution untrennbar verbunden.




Internationaler Frauenkampftag: Vereint die Kämpfe der Frauen mit denen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1216, 8. März 2023

Frauen standen im letzten Jahr an der Spitze der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und für Demokratie.

  • Im Iran bildeten sie die erste Reihe eines Massenaufstandes gegen Unterdrückung und die Herrschaft der klerikalen Diktatur.

  • In den USA und vielen anderen Ländern wehrten sie sich gegen Angriffe auf Abtreibungsrechte.

  • In der Ukraine und in Russland stehen sie an vorderster Front im Kampf gegen die imperialistische Invasion Putins.

  • In Großbritannien, Deutschland und Frankreich stehen sie im Mittelpunkt von Streiks für Lohnerhöhungen zur Bekämpfung der steigenden Inflation und von Massenmobilisierungen zur Verteidigung des Gesundheitswesens und der Rentenansprüche.

  • Frauen formieren sie sich im Zentrum des Kampfes gegen rechtsextreme und reaktionäre populistisch-bonapartistische Regime wie die von Bolsonaro in Brasilien und Modi in Indien.

  • In der halbkolonialen Welt haben sie sich gegen Armut, Hunger, Klimakatastrophen, reaktionäre Kriege und die Verweigerung ihrer Grundrechte mobilisiert.

Oft sind es junge Frauen, Studentinnen, Frauen aus der Arbeiter:innenklasse und der armen Bevölkerung, die in Massen auf die Straße gehen und den Kern dieser Bewegungen bilden. Es ist nicht verwunderlich, dass Frauen bei solchen Kämpfen an vorderster Front stehen. Oft sind sie am stärksten von den zahlreichen Krisen betroffen, die unser Leben in den letzten Jahren heimgesucht haben.

In vielerlei Hinsicht scheint sich die Situation im Vergleich zu vor einem Jahr kaum verändert zu haben: Der Krieg in der Ukraine hat den Konflikt zwischen den Weltmächten verschärft und eine neue Phase im Kampf um die Neuaufteilung der Welt eingeleitet. Der Krieg und die von beiden Seiten verhängten Sanktionen haben weltweit eine neue wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst mit einer Inflation, wie sie in den imperialistischen Zentren seit 50 Jahren nicht mehr aufgetreten ist, und einer Hyperinflation, die den globalen Süden wie ein Tsunami trifft.

Die sich entwickelnde Katastrophe

Die Pandemie beherrscht nach wie vor alle Aspekte der Herausforderungen für Frauen. Ihre Auswirkungen haben zu einem Anstieg der Krankheits- und Sterblichkeitsraten der Menschen weltweit geführt. Für die Frauen bedeutet dies im besten Fall eine mehrfache Belastung durch Haus- und Sorgearbeit, im schlimmsten Fall den Verlust ihrer Existenz. Sie haben oft ihren Arbeitsplatz und die damit verbundene elementare Sicherheit verloren. Schließungen ohne funktionierendes soziales Sicherheitsnetz führten dazu, dass Frauen gezwungen waren, sich um ihre Familien zu kümmern und von ihren Arbeitsplätzen verdrängt wurden. Die häusliche Gewalt gegen Frauen hat deutlich zugenommen und vor allem ärmere Teile der Arbeiter:innenklasse mussten ihre mageren Ersparnisse aufbrauchen, um zu überleben.

In halbkolonialen Ländern führt dies zu noch schlimmeren Folgen. Da das Gesundheitswesen für die Menschen nicht leicht zugänglich ist und die imperialistischen Länder Impfstoffe und Medikamente horten, war die Zahl der Todesopfer viel höher als in den imperialistischen Zentren.

Abgesehen von den direkten Auswirkungen von Krankheiten und Kriegen werden die Rechte der Frauen in einer Vielzahl von Ländern ständig angegriffen. Der Eingriff in die reproduktiven Rechte in den USA und der Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention über Gewalt gegen Frauen sind offensichtliche Beispiele dafür. Das Gleiche gilt für die Aufdeckung von Morden, Vergewaltigungen und Frauenfeindlichkeit, begangen durch Polizeibeamte in Großbritannien.

Dies alles wurde 2022 durch den massiven Anstieg der Inflation und den Beginn eines weiteren wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. Dies ergab sich nicht nur aus den Problemen, die dem Produktionsanstieg nach der Pandemie folgten. Lieferketten- und Ressourcenprobleme bleiben weiterhin ungelöst. Auch die Energiekrise infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der westlichen Sanktionen trug ihren Teil zur Erschwerung der Lage bei. All dies trifft die Frauen am härtesten, zeigt aber auch, dass Fortschritte bei den Frauenrechten weder unvermeidlich noch unumkehrbar sind. Wir müssen unermüdlich und kontinuierlich kämpfen, um unsere Errungenschaften zu verteidigen, nicht nur gegen die unverhohlenen Attacken von rechts, sondern gegen die dem kapitalistischen System insgesamt innewohnenden Tendenzen.

Kämpfe rund um die Welt

Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini durch die sog. Sittenpolizei im September 2022 befindet sich der Iran in Aufruhr. Millionen von Menschen sind auf die Straße gegangen, um für die Emanzipation der Frauen von den grausamen Einschränkungen und damit gegen das Regime der Mullahs selbst zu protestieren. Die Regierung hat mit verschiedenen Formen der Unterdrückung hart reagiert. Es wurden nicht nur mehr als 20.000 Personen verhaftet, sondern auch über 500 Menschen getötet. Das Regime hat damit begonnen, Menschen hinzurichten, um eine Ausbreitung der Proteste zu verhindern und die Bewegung insgesamt zu unterdrücken. Doch trotz dieser massiven Repression hat der Kampf im Iran einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, um das Regime zu schwächen und den Kämpfen der Frauen in der ganzen Welt neue Impulse zu geben.

Auch im Widerstand gegen den russischen Krieg in der Ukraine spielen Frauen eine besondere Rolle. In Russland versucht der feministische Antikriegswiderstand, unter äußerst repressiven Bedingungen Unterstützung gegen Putins Invasion zu mobilisieren. In der Ukraine hingegen stellen Frauen rund 20 % der Streitkräfte, sorgen für die Unterstützung der Flüchtlinge und die Aufrechterhaltung der notwendigen Infrastruktur.

Auch in Afghanistan kommt es nach der Machtübernahme durch die Taliban zu einer zunehmenden Unterdrückung der Frauen. Junge Frauen protestieren dort gegen das Verbot ihrer Ausbildung, und ihre Proteste müssen illegal organisiert werden. Dies könnte der Beginn eines ernsthaften Widerstands gegen das Regime sein, auch wenn die Medienberichterstattung im Westen „weitergezogen“ ist und die Aufmerksamkeit vernachlässigt hat.

In Ländern auf der ganzen Welt kommt es immer wieder zu Streiks im Gesundheitssektor. Die Krise war schon seit einiger Zeit bekannt, trat aber mit der Pandemie in den Vordergrund. In Großbritannien und Deutschland gibt es erhebliche Streiks des Gesundheitspersonals – ein Sektor, der überwiegend von Frauen getragen wird.

Internationaler Frauenkampftag

Am 8. März dieses Jahres ist es umso wichtiger, den weltweiten Kampf für die demokratischen Grundrechte der Frauen zu unterstützen und die unterschiedlichen Auseinandersetzungen miteinander zu verbinden. Ob mit Protesten, Flashmobs oder Frauenstreiks, wir müssen uns einig sein in unserem Ziel, den Kapitalismus zu beenden. Das heißt, wir müssen an der Seite der internationalen Arbeiter:innenklasse kämpfen, gleich welchen Geschlechts, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig ist es wichtig, den Kampf mit national oder rassistisch unterdrückten Menschen zu verbinden.

Am Internationalen Frauenkampftag ist es wichtig, die Menschen nicht zu vergessen, die unter Sexismus, Homophobie und der Auferlegung patriarchalischer und binärer Geschlechterrollen leiden. Nicht-binäre Menschen, Transmenschen im Allgemeinen sowie andere Menschen aus der LGBTQIA+-Gemeinschaft leiden vielleicht nicht genau unter der gleichen Unterdrückung, aber es ist sonnenklar, dass ihr Einsatz für ihre Rechte Teil desselben Kampfes ist. Wenn wir den Sexismus überwinden und eine Gesellschaft haben wollen, in der jeder in Frieden und als der Mensch leben kann, der er/sie ist, müssen wir den Kapitalismus stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Es ist kein Zufall, dass die extreme Rechte in vielen Ländern Themen wie die Ablehnung der Homoehe und der Transrechte aufgreift.

Doch während wir die Notwendigkeit der kämpferischen Einheit, des gemeinsamen koordinierten Handelns betonen müssen, müssen wir uns auch der Tatsache stellen, dass die internationalen Frauenmobilisierungen seit einigen Jahren in einer Strategie- und Richtungskrise stecken. Die Massenstreiks der Frauen, inspiriert durch die Bewegungen in Lateinamerika gegen häusliche und institutionelle Gewalt, die Frauenbewegung in den USA und die Streiks von Millionen von Arbeiterinnen in Ländern wie Spanien waren eine Inspiration und der Beginn einer neuen internationalen Bewegung. Den bisherigen Höhepunkt stellt der revolutionäre Kampf im Iran dar.

Programm und Strategie

Jeder Kampf, der an den Grundlagen der Frauenunterdrückung im Kapitalismus rüttelt, steht auch vor der Frage, wie der Kampf weitergeführt werden kann. Dies zeigt, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung, gegen patriarchale Strukturen und Sexismus kein vom Klassenkampf getrennter Prozess sein kann. Er muss ein integraler Bestandteil davon sein.

Im Fall des Iran hat der Kampf der Frauen gezeigt, dass das islamistische Regime nur durch eine Massenbeteiligung der Arbeiter:innenklasse erfolgreich gestürzt werden kann – kurz gesagt, durch einen Generalstreik, der auch für die Masse der arbeitenden Frauen ein fortschrittliches Ergebnis bringt. So ist der Kampf gegen die Unterdrückung und die Mullahs mit dem entschlossenen Eintreten für eine sozialistische Revolution und deren Ausbreitung auf die gesamte Region verbunden.

Das Gleiche gilt nicht nur für die wirtschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen, sondern auch für die Kämpfe gegen nationale Unterdrückung, Imperialismus, Umweltzerstörung, Krieg und wachsenden Militarismus, Rassismus, Faschismus und Diktaturen.

Daher stehen wir vor zwei miteinander verknüpften Aufgaben. Erstens müssen wir uns für eine internationale Bewegung einsetzen, für eine koordinierte Aktion rund um eine Reihe von brennenden Forderungen und Themen, die die große Mehrheit der Frauen betreffen. Wir müssen alle Frauenorganisationen sowie die Gewerkschaften und die Parteien der Arbeiter:innenklasse auffordern, sich an einer solchen gemeinsamen Aktion zu beteiligen. Und wir müssen diese Notwendigkeit am Internationalen Frauenkampftag zur Sprache bringen.

  • Gleiche Rechte für Frauen! Abschaffung aller frauenfeindlichen und diskriminierenden Gesetze! Volles Recht auf Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben!

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Dies sind nur einige der Forderungen, die die Bedürfnisse der Frauen weltweit ansprechen. Sie sind wichtig, um Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bäuer:innenschaft, der Armen, junge und alte Menschen weltweit zu vereinen. Um den Kampf zu gewinnen, müssen die Frauen der Arbeiter:innenklasse an vorderster Front stehen, aber sie müssen von allen Lohnabhängigen aufgegriffen werden.

Wir müssen uns auch mit der Frage der Richtung, der Strategie und dem Ziel der Frauenbewegung auseinandersetzen, die wir aufbauen müssen. Soll es einfach nur ein Netzwerk und ein loses Bündnis sein – oder eine Einheitsfront, die auf Einigkeit und Engagement für die Verwirklichung vereinbarter gemeinsamer Ziele beruht? Soll es eine klassenübergreifende Bewegung sein, die effektiv von Frauen aus der Mittelschicht, der Intelligenz und einigen wohlwollenden bürgerlichen Frauen geführt wird – oder eine Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse?

Um einer globalen Frauenbewegung eine Führungsrolle zu geben, brauchen die Frauen der Arbeiter:innenklasse ihr eigenes Programm, ihre eigene Strategie – ein Aktionsprogramm, das die Kämpfe für die Befreiung von der Unterdrückung der Frauen mit dem  für eine globale sozialistische Revolution verbindet. Dafür benötigen wir eine internationale proletarische Frauenbewegung und eine neue, revolutionäre Fünfte Internationale, die für diese Rechte kämpft, nicht nur für heute, sondern als Schritt in eine Zukunft, in der sie nicht länger der scheinbar unveränderlichen Profitlogik des kapitalistischen Systems ausgeliefert sind.




OnlyFans – Sexarbeit ohne Zwänge?

Meret Martowa, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Ein paar Bilder hochladen und schnell reich werden? So stellen sich viele die Arbeit von Sexarbeiter:innen auf OnlyFans vor. Doch ist es wirklich so einfach? Und bringt OnlyFans eine Demokratisierung der Pornobranche mit sich? Das wollen wir im Folgenden klären.

Was ist OnlyFans?

OnlyFans existiert seit 2016 und ist eine Internetseite, auf der vor allem erotische und pornografische Bilder und Videos von einzelnen Creator:innen hochgeladen werden. Theoretisch kann aber auch jeder Inhalt draufgestellt werden. Der starke Fokus auf sexualisierte Inhalte kam durch den Einstieg vom Haupteigentümer der Website MyFreeCams.com, Leonid Radvinsky, der 2018 rund 75 % von OnlyFans aufkaufte und damit die Ausrichtung der Seite nachhaltig veränderte. Die Inhalte werden zum Beispiel auf der Instagramseite der darstellenden Personen beworben und dann kostenpflichtig in Form eines Monatsabos, auf „Pay per view“-Basis oder in privaten Chats auf OnlyFans bereitgestellt. Dabei tummeln sich auf der Plattform neben Stars der Pornobranche auch Influencer:innen und viele, die es  werden wollen. Sie stellt quasi einen niedrigschwelligen Eintritt in die Sexarbeit dar. Während der Coronapandemie erlebte OnlyFans einen enormen Zuwachs, den sie trotz aufkommender und bestehender Konkurrenz wie BestFans, Patreon oder auch Pornhub noch ausbauen konnte.

Wachstumsspritze Pandemie

Waren es vor dem weltweiten Beginn der Coronapandemie mit ihren Ausgangsbeschränkungen und anderen sozialen Einschränkungen im März 2020 noch etwa 62 Millionen Besuche auf der Website, verdoppelte sich die Zahl im April 2020 bereits auf ca. 117 Millionen Besucher:innen. Die Konsument:innen sind dabei überwiegend Männer (Schätzung similarweb.com: 79,77 % männlich) aus den „westlichen“ imperialistischen Zentren im Alter von 18 bis 34 Jahren. Inzwischen halten sich die Besucher:innenzahlen recht konstant bei über 300 Millionen pro Monat (similarweb.com: Jan 2023, 346 Millionen Visits) und damit ist OnlyFans unter den Top 50 der meist besuchtesten Websites der Welt. So ist auch möglich, dass der Eigentümer von OnlyFans monatlich eine Dividende (= Gewinnbeteiligung der Aktionär:innen) von 45 Millionen US-Dollar auszahlen lassen soll. Doch wie kann ein Typ so viel Geld auszahlen?

Das geht hier durch die Ausbeutung von rund 1,5 Millionen Creator:innen der Plattform. Denn das Geld, welches die Konsument:innen bezahlen, geht dabei nicht allein an diese. 20 % der Einnahmen beansprucht OnlyFans für sich. Bisher gibt es keine einsehbaren Statistiken über die Demographie der Creator:innen. Sie können individuelle Sexarbeiter:innen sein, die quasi selbstständig sind und sich selbst um Vermarktung, Produktion, Auswahl der Konsument:innen und anderes  kümmern. Es kann sich aber auch um Agenturen und Pornohersteller:innen handeln, bei denen es u. a. auch durch Zwangsprostitution zur Erstellung der pornographischen Inhalte kommt.

Konkurrenz zum traditionellen Angebot?

Es zeichnet sich aber nicht ab, dass OnlyFans anderen Pornoseiten wie Pornhub den Rang abläuft. XVideos und Pornhub liegen mit ihren kostenfreien pornographischen Inhalten weit vorne in der Kategorie der „Erwachsenen“-Websites und kommen von aller besuchten Seiten sogar unter die ersten 15 im Ranking. So hatte etwa XVideos weltweit ca. 3 Milliarden Besucher:innen allein im Januar 2023! Was man schon mal festhalten kann, OnlyFans ist dennoch enorm etabliert und erwirtschaftet viel Kohle auf Kosten von oft jungen Sexarbeiter:innen, egal ob durch eigene Entscheidung, ökonomischen Zwang oder sogar Zwangsprostitution.  Das führt uns zur Frage: Hilft OnlyFans, den Pornographiemarkt zu demokratisieren?

Bessere Bedingungen?

OnlyFans hat seine Beliebtheit bei eigenständigen Sexarbeiter:innen dadurch erlangt, dass es zum einen überhaupt möglich gewesen ist, pornografische Inhalte hochzuladen, und zum anderen die zu zahlende Provision relativ gering ist. Ebenso bietet die „eigene Vermarktung“ die Möglichkeit, klarer eigene Vorlieben und Interessen in den Vordergrund zu stellen. Das ist auch einer der Gründe, warum OF teilweise einen feministischen Anstrich hat. Dabei muss klar gesagt werden: Creator:innen, die bereits berühmt sind oder zumindest über eine andere Plattform wie Instagram eine gewisse Anzahl von Follower:innen besitzen, haben es wesentlich leichter. Denn das eine ist es, die Inhalte für OnlyFans zu generieren. Das andere ist es, Nutzer:innen zu finden, die beständig zahlen. Es ist also entgegen der Vorstellung vieler nicht einfach, schnell „ein paar Bilder hochladen“, sondern bedeutet auch, regelmäßig auf anderen Kanälen aktiv zu sein und sich eine Community aufzubauen. In dem Sinne es nicht groß anders als andere Influencertätigkeiten.

Gleichzeitig sind die Chancen für Erfolg – oder ein stetiges Nebeneinkommen –  davon abhängig, wie man sich vermarktet – und damit eben auch abhängig vom existierenden gesellschaftlichen Bewusstsein. Klar, kann sich jede/r so geben, wie er/sie will und Sexarbeiter:innen, die bestimmte Nischen abdecken, haben es leichter, sich zu vermarkten und Abnehmer:innen zu finden, vor allem, da man sich weltweit vermarkten kann. Leichter werden es dennoch jene haben, die in das vorherrschende, weiße Schönheitsideal passen und OnlyFans wird dies nicht ändern.

Die Darsteller:innen, die nicht anderweitig angestellt sind, werden letzten Endes zu Scheinselbstständigen – und abhängig von der Plattform selbst. Diese ist jedoch gar nicht so frei, wie sie sich gerne gibt. So gab es im August 2022 kurzzeitig die Meldung, dass die Plattform alle pornographischen Inhalte bannen wollen würde, da Mastercard & Co die weitere Zusammenarbeit aufkündigen wollten. Darüber hinaus gibt es eine Liste mit ca. 150 Wörtern, die weder in Beschreibungstexten noch privaten Nachrichten benutzt werden dürfen. Eingeführt wurde diese Maßnahme, um sicherzustellen, dass die Richtlinien der Seite eingehalten werden und bspw. Kinderpornographie verhindert wird. Deswegen sind Wörter wie Kind, minderjährig oder „meet“ (eng. „sich treffen) nicht verfügbar. Aber eben auch „AdmireMe“, eine alternative Bezahlseite für sexuelle Dienstleistungen, oder Worte wie „menstruieren“ oder „Cervix“. Sieht man sich die ganze Liste an, so erscheint es als plumper Versuch, mittels künstlicher Intelligenz Grenzüberschreitungen zu verhindern. Diese kann einfach umgangen werden durch Synonyme oder alternative Schreibweisen, während es gleichzeitig eine Einschränkung gibt, wie über Sexualität geredet wird.

Zusammengefasst heißt das: Ja, insbesondere für bessergestellte Schichten von Sexarbeiter:innen stellt OnlyFans eine Verbesserung dar und hat es geschafft, während der Pandemie ein Angebot zu schaffen, der Arbeit trotzdem nachzugehen. Man sollte die Plattform jedoch nicht zur Selbstbefreiungsmöglichkeit erklären. Denn letzten Endes ist sie eine sehr stark individualisierte Lösung, die die prekären Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter:innen weiter manifestiert. Denn was passiert im Krankheitsfall oder bei Übergriffen? Wer kontrolliert das, was gezeigt und gesagt wird?

Was braucht es also?

Statt dass Eigentümer und Aktionär:innen von OnlyFans massiv Kohle  auf dem Rücken der Creator:innen scheffeln, braucht es die Enteignung von OnlyFans unter Kontrolle der Beschäftigten. Um dies umzusetzen – nicht nur für OnlyFans, sondern auch für die gesamte Erotikbranche – braucht es eine Gewerkschaft, die deren Interessen in der Branche vertritt sowie eine politische Vertretung darüber hinaus. So können die Probleme in der Branche effektiv angegangen werden:

1. Die effektivsten Maßnahmen gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel sind nicht etwa das Verbot von Sexarbeit, Prostitution oder Pornographie. Es sind offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle, sowie ein Mindesteinkommen gekoppelt an die Inflation.

2. Gegen Übergriffe seitens sexistischer Freier (die auch im digitalen Raum stattfinden können) oder den Druck von Zuhältern braucht es Meldestellen unabhängig von der Polizei sowie demokratisch organisierte Selbstverteidigungsstrukturen von Sexarbeiter:innen und der Arbeiter:innenbewegung.

3. Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Berufsfreiheit statt Opferrolle! Statt Stigmatisierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung seitens des Staates werden flächendeckende, kostenlose und anonyme gesundheitliche Vorsorgeuntersuchungen sowie kostenlose psychologische Angebote benötigt!

4. Statt Flatratebordellen und Preisdumping bedarf es der Kontrolle der Beschäftigten selber:  Mindestlohn ist das Minimum. Darüber hinaus sollte es Preiskontrollkomitees durch die Beschäftigten geben. Ebenso bedarf es Komitees, bei denen Unterdrückte durch Rassismus, Sexismus oder LGBTIA+-Diskriminierung miteinbezogen werden, um einen Umgang mit diskriminierenden Darstellungen zu finden!

Doch wie gehen wir als MarxistInnen mit Sexarbeit generell um?

Einige Teile des liberalen Feminismus werfen die These in den Raum, dass Sexarbeit grundsätzlich „empowernd“, selbstermächtigend sei, während Teile des Radikalfeminismus die Ansicht vertreten, dass jede Sexarbeit Zwangsprostitution wäre, das Patriarchat direkt unterstützen würde und somit zu unterbinden sei. Beide Annahmen ignorieren die Realität von Sexarbeitenden. Denn natürlich ist sie nicht grundsätzlich empowernd, nur weil sich die Person freiwillig dazu entscheidet und der ökonomische Zwang ignoriert wird. Grundsätzlich sind im Kapitalismus überhaupt keine Lohnarbeit und Form der Ausbeutung selbstermächtigend. Auf der anderen Seite ist auch nicht jede Form der Sexarbeit Zwangsprostitution, nur weil ökonomischer Druck herrscht, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen. Denn das trifft im Kapitalismus auf alle zu, die der Arbeiter:innenklasse angehören, und ist etwas, das sie auszeichnet. Das nennt man auch den „doppelt freien Charakter der Ware Arbeitskraft“. Man ist frei, seine Arbeitskraft zu verkaufen – oder eben auch frei zu verhungern.

Als Marxist:innen muss uns bewusst sein, dass es unterschiedliche Formen der Tätigkeiten innerhalb der Branche gibt, die – wie sonst in der Gesellschaft auch – von Klassen geprägt sind. Dabei muss klar gesagt werden, dass nur kleiner Teil der in dem Bereich Arbeitenden sich die Beschäftigung ausgesucht hat. Meist haben sie auch andere Berufsabschlüsse, theoretisch die Möglichkeit, Freier abzulehnen, und einen kleinbürgerlichen Hintergrund.

Weltweit gesehen kommt der Großteil hingegen durch Zwangsverhältnisse in die Branche. Doch wie bereits oben aufgeführt, wird sich ihre Stellung nicht dadurch ändern, indem man Verbote ausspricht.  Es ist notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, für Aus- und Weiterbildungen sowie für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Langfristig muss das Ziel von Marxist:innen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Da Prostitution und Sexarbeit Ergebnis der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft sind, lassen sie sich auch nicht so ohne weiteres abschaffen. Der Kampf gegen Zwangsprostitution muss deswegen über die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gehen.  Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher Sexarbeiter:innen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.