Zan Zendegi Azadi Frauen! Leben! Freiheit!

Resa Ludivien, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Was will Frau mehr?

Freiheit mich zu kleiden, wie ich will

Freiheit zu glauben, was ich will

Freiheit zu sein, wer ich will

Die Freiheit in Sicherheit zu sein.

Eine Frau ist tot. Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini wurde nur 22 Jahre alt. Die „Sittenpolizei“ verhaftete sie zunächst, weil sie angeblich die falsche Kleidung trug. Im Iran müssen Frauen ihren Kopf bedecken und bis zur Hüfte eine Art Mantel tragen, der Konturen und Arme bedeckt. Jina starb in Polizeigewahrsam, nachdem sie ins Koma gefallen war, ermordet durch die Polizei. Vermutlich war es ein Schädelbruch, so heißt es in Oppositionskreisen. Die Polizei kontert mit einem Video, das zeigen soll, wie Jina von selbst fiel.

Proteste und Repression

Doch im Grunde ist das nebensächlich. Die Menschen sind nicht mehr bereit, dem zu glauben und der Idee zu folgen, es sei gerechtfertigt, ein junges Mädchen zu verhaften, weil es in den Augen des Staates falsch gekleidet war. Die Bestürzung ist groß, denn es hätte so viele andere ebenso treffen können. Diese Wut, Trauer und Angst tragen Frauen und Männer auf die Straße. Ihre Rufe richten sich gegen die Diktatur. Bisher sind in zahlreichen Städten Proteste bekannt geworden – und es werden trotz der brutalen Repression mehr. Als deren und der Solidarität Zeichen nahmen Frauen, nicht nur im Iran, ihre Kopfbedeckung ab und schnitten sich die Haare kürzer. Bereits zwischen 2017 – 2019 gab es Proteste gegen die Kleiderordnung im Iran, die in erster Linie Frauen einschränkt.

Die Reaktion des Staates darauf: aggressiv, brutal, despotisch. Auf Videos sind im Netz Wasserwerfer und bewaffnete Polizeitrupps zu sehen, die auch bereit sind, auf Menschen zu schießen. 36 Menschen sollen bis um 23. September bei Protesten bereits getötet worden sein. Die Regierung hingegen versucht, schnell wieder zum „business as usual“ überzugehen, mobilisiert reaktionäre regimetreue Demos und hetzt gegen die Demonstrant:innen. Präsident Raisi reist zur UN-Versammlung und hat als einzige Antwort auf den Mord zu sagen, dass man diesen aufklären würde. Die Massenproteste denunziert er als Werk von „Chaot:innen“. Unverhohlen drohen auch Militär und Geheimdienst den „Feinden“ und „illegalen Versammlungen“.

Krise und Unterdrückung

Längst geht nicht nur um den Mord an Jina Amini. Es geht bei den Protesten um so vieles mehr. Die wirtschaftliche Lage im Land ist verheerend. Neben den seit Jahren anhaltenden Sanktionen, die sich bspw. auch in der Coronapandemie und der Impfstoffbeschaffung auswirkten, trifft die Menschen seit Jahren eine massive Inflation. Sie wird für dieses Jahr nach offiziellen Angaben auf mindestens 50 % geschätzt. Auch wenn das Regime nach Protesten von Arbeiter:innen und Rentner:innen im Sommer diesen Jahres Löhne und Renten erhöhte, so ist das wenig mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein nach Jahren des Einkommensverlustes – und nachdem alle wissen, dass die Preissteigerungen jede Erhöhung rasch wieder auffressen. Ähnlich wie jetzt die demonstrierenden Frauen und solidarische Männer denunziert werden, wurden im Juni diesen Jahres Demonstrant:innen, die für höhere Einkommen auf die Straße gingen, als „ausländische Feind:innen“ gebrandmarkt.

Zusätzlich kommt der Wunsch vieler Iraner:innen nach mehr Freiheiten, der sich in Protesten junger Menschen immer wieder zeigt. In Jinas Fall kommt noch dazu, dass Kurd:innen national unterdrückt und jene aus anderen Ländern zumeist nur geduldet werden. Einher geht diese Duldung oft mit Schikane und noch schnellerer Gewaltausübung des Staates.

Herrschaft der Ajatollahs = finsterste Frauenunterdrückung

Seit der Iranischen Revolution 1979, die sich schnell zu einer Konterrevolution entwickelt hatte, regieren die erzkonservativen islamischen Ajatollahs. Der Sturz des Schah bedeutete auch, dass die USA einen zentralen politischen Vasallen in der Region verloren und das Nachfolgeregime auf ihre erbitterte Feindschaft, aber auch die seitens Regionalmächten wie dem Irak (unter Saddam Hussein), Saudi-Arabien und Israel traf. Diese Konfrontation nutzt das islamistische Regime bis heute, um seine Diktatur als eine Art „alternativen Entwicklungsweg“ jenseits imperialistischer Kontrolle zu präsentieren. Die „Kritik“ am imperialistischen System wurde zur Kritik am „Westen“ oder gar der „Moderne“ mit mehr Gleichberechtigung verkürzt.

Natürlich entstand die Unterdrückung der Frau allein aus einer Religion noch erst durch die Mullahs. Die systematische Unterdrückung stützt sich vielmehr auf Jahrtausende einer patriarchalen Gesellschaftsordnung, die die bürgerliche Herrschaftsform übernimmt und ins Kapitalverhältnis integriert, umformt und zugleich reproduziert. Es macht daher unerlässlich, nicht nur gleiche demokratische Rechte zu erkämpfen, sondern auch die Produktionsverhältnisse zu ändern, um eine endgültige Gleichheit der Frauen in der Fabrik, Familie und Gesellschaft zu erzielen.

Massenproteste Millionen mutiger Frauen und solidarischer Männer stellen einen ersten Schritt dar, um dieses System ins Wanken zu bringen, die Kleiderordnung und die Regierung in Frage zu stellen. Sie werfen zugleich die Frage nach einer weiteren Perspektive auf, wie der Ruf nach dem Sturz des Mullahregimes bei den Aktionen zeigt, wenn wütende Protestierende staatliche Institutionen und Gebäude stürmen und sich Straßenschlachten mit den Repressionskräften liefern.

Kampfperspektiven

In den letzten Jahren hat es immer wieder Proteste und auch Streiks der Arbeiter:innenklasse gegeben. Der Kampf für die Rechte der Frauen könnte zum Funken werden, der die Flamme eines neues Aufstandes entzündet und diese Bewegungen zusammenführt.

Um den Widerstand gegen die reaktionäre Kleiderordnung und die Unterdrückung der Frauen mit jenem gegen die Preissteigerungen und Verelendung der Arbeiter:innenklasse und der Masse des Volkes zu verbinden und zum Erfolg zu führen, müssen die Proteste aber auch in den Betrieben und Büros Wurzeln schlagen. Ein Massenstreik im Land könnte eine Kraft entfalten, die das Mullahregime nicht nur erschüttern, sondern auch stürzen kann, eine Kraft, die den Apparat der „Sittenpolizei“ und sämtlicher Repressionskräfte zerbricht. Ein solcher Streik und massive Proteste müssten durch Streik- und Aktionskomitees koordiniert und durch Selbstverteidigungsorgane geschützt werden. Zugleich könnten diese die Basis für Machtorgane einer neuen Gesellschaft abgeben, die mit dem Mullah-Regime aufräumt und sich nicht vor den Karren westlicher, imperialistischer Kräfte spannen lässt, sondern mit dem iranischen Kapitalismus selbst Schluss macht, das Kapital enteignet und die sozialen und ökonomischen Probleme durch einen Notfallplan angeht, der von Arbeiter:innenräten kontrolliert wird.

Natürlich kann dieser Kampf in einem Land allein nicht zu einer anderen, sozialistischen Gesellschaft führen. Aber die Bewegung im Iran könnte einen wichtigen Schritt in diese Richtung setzen. Daher braucht sie die Solidarität der gesamten internationalen Arbeiter:innen-, Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung und der gesamten Linken!

  • Für volle Gleichberechtigung der Frau, Abschaffung aller religiösen Zwangsgesetze! Trennung von Staat und Religion!
  • Verbindung mit dem Kampf gegen Inflation und Armut! Aufbau von Aktionskomitees und Selbstverteidigungsorganen!
  • Nieder mit der islamischen Diktatur im Iran! Nieder mit dem Imperialismus!
  • Keine Einmischung des westlichen Imperialismus! Schluss mit den Sanktionen, denn sie schaden vor allem der Bevölkerung!
  • Solidarität mit den kämpfenden Frauen und Arbeiter:innen im Iran!



Frauen und Afghanistan: Widerstand gegen Islamismus und Imperialismus

Minerwa Tahir (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

Die Niederlage und der schmachvolle Abzug der imperialistischen Besatzungstruppen in Afghanistan haben die Taliban wieder an die Macht gebracht. Die Niederlage der USA, der NATO und ihrer Verbündeten wie der Bundesrepublik offenbarte nicht nur den reaktionären Charakter dieser Herrschaft – sie offenbarten zugleich auch, dass es sich bei deren angeblichen Fortschritten weitgehend um Fiktionen handelte. Das Regime Ghani verfügte im eigenen Land über keine wirkliche Machtbasis. Die imperialistische Besatzung, die weitere 20 Jahre Bürger:innenkrieg brachte und Zehntausenden Menschen durch US- und NATO-Bombardements das Leben kostete, stützte sich im Wesentlichen auf Besatzungstruppen, einen korrupten Staatsapparat und eine Allianz mit reaktionären Eliten und Warlords.

Kein Wunder, dass diese Herrschaft von der Masse der Afghan:innen, insbesondere der ländlichen Bevölkerung immer als das empfunden wurde, war sie war: ein Besatzungsregime.

Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Lage jedoch längst nicht stabilisiert. Unter US-Herrschaft wurde die Wirtschaft des Landes im Wesentlichen von westlichen Geldgeber:innen am Leben gehalten. Den einzigen profitablen Exportsektor des Landes stellte der formell illegale, faktisch jedoch immer tolerierte Drogenhandel dar. Dessen Profite eigneten sich natürlich nicht die Bauern/Bäuerinnen und Landarbeiter:innen auf den Mohnfeldern, sondern Mittelsmänner und Warlords an.

Nachdem die westlichen Besatzer:innen zum Abzug gezwungen worden waren, überließen sie das Land den Taliban. Die Geld- und Devisenreserven des Landes beschlagnahmten jedoch die USA, um so ein Milliarden US-Dollar schweres Druckmittel gegenüber dem neuen Regime zu behalten und dieses ökonomisch zu destabilisieren, nachdem sie die Kontrolle über das Land verloren hatten.

Damit trägt der westliche Imperialismus selbst bis heute wesentlich zum faktischen Zusammenbruch der afghanischen Wirtschaft bei und zu einer humanitären Katastrophe, die für Hundertausende, ja Millionen Afghan:innen eine tödliche Gefahr darstellt und sie mit dem Hungertod oder Erfrieren bedroht. Mit der Wirtschaft und der Versorgung lebensnotwendiger Güter brach zugleich das Gesundheitssystem zusammen. Millionen sind zur Flucht in die Nachbarländer gezwungen, vor allem nach Pakistan und in den Iran.

Dabei könnten die USA und ihre Verbündeten, die für die gesamte Katastrophe wesentlich verantwortlich sind, durch die Freigabe von Milliarden US-Dollar die Hungersnot und den Mangel an lebenswichtigen Gütern seit Monaten lindern. Für sie sind Millionen afghanische Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und selbst die Mittelschichten jedoch nur Marionetten, deren Leben nichts zählt, wenn es um geostrategisches Kleingeld geht und darum, den Taliban Zugeständnisse bei der Neuordnung des Landes abzuringen. Auch China und Russland halten sich, wie nicht anders zu erwarten, mit humanitärer Hilfe vornehm zurück. Millionen Afghan:innen werden so in die Flucht getrieben, sei es im eigenen Land, sei es in Nachbarländer wie Pakistan oder den Iran. Der Westen nimmt allenfalls einige Tausend ehemalige Beschäftigte der Besatzungsarmeen auf – und selbst diese werden zumeist im Stich gelassen. Für die Masse der Afghan:innen gibt es keinen Weg nach Europa oder in die USA. Und wer es dennoch schaffen sollte, dem/r droht die Abschiebung.

Die ökonomische Krise bedeutet jedoch, dass die Taliban bis heute ihre Herrschaft im Land nicht vollständig etablieren und durchsetzen konnten. In etlichen Regionen und Provinzen müssen sie sich auf traditionelle Eliten und Strukturen stützen. In manchen wird ihre Macht von noch reaktionäreren islamistischen Kräften herausgefordert, die dem sog. Islamischen Staat politisch-ideologisch nahestehen.

Frauen sind von der ökonomischen Krise besonders hart betroffen, weil sie in der Öffentlichkeit weniger bewegen und bis auf wenige Bereiche faktisch von der Lohnarbeit ausgeschlossen sind.

Unterdrückung und Widerstand

Doch viele Frauen sind selbst unter der Herrschaft der Taliban nicht bereit, sich als Opfer widerstandslos zu fügen. Im Gegenteil. Sie widersetzen sich unter diesen Bedingungen und trotz zügelloser Repression, die das eigene Leben kosten kann. Proteste ohne Genehmigung der Regierung werden verboten und Journalist:innen festgenommen, von denen viele schwer verprügelt wurden, sodass sie ins Krankenhaus mussten. Und dies sind nur einige gut dokumentierte Fälle der Repression.

Die Taliban behaupten zwar, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen, aber alle, mit Ausnahme derjenigen im öffentlichen Gesundheitswesen, wurden aufgefordert, nicht zu arbeiten, bis sich die Sicherheitslage verbessert habe. Die gleiche Ausrede wurde in den 1990er Jahren benutzt, um Frauen von der Teilnahme am öffentlichen Leben fernzuhalten. Außerdem haben die Taliban den Frauen erneut eine strenge reaktionäre Kleiderordnung auferlegt, die das Tragen von Kopfbedeckungen und Gesichtsschleiern wie Hidschab und Niqab vorschreibt. Weiterführende Schulen für Mädchen wurden geschlossen. Längere Wege dürfen nur in männlicher Begleitung zurückgelegt werden.

Als Reaktion auf die zunehmende Zahl von Protesten haben die Taliban erklärt, dass Demonstrantinnen nicht nur eine Genehmigung des Justizministeriums einholen, sondern die Sicherheitsdienste auch Ort und Zeit des Protests und sogar die Verwendung von Transparenten und Slogans genehmigen müssen.

Frauen, die gegen die Talibanherrschaft protestieren, wurden angehalten, mit Peitschen geschlagen und mit Elektrostöcken geprügelt. Mit scharfen Salven, die angeblich über Menschenmengen in die Luft geschossen wurden, sind bereits im September 2021 drei Menschen getötet worden. Die Frauen wurden nicht nur mit Namen beschimpft, deren Wiederholung sie als beschämend empfinden, sondern es wurde ihnen auch gesagt, sie sollten nach Hause gehen, weil dies „ihr Platz“ sei. Dennoch protestieren die Frauen weiter, und zwar nicht nur gegen die Taliban, sondern oft auch gegen ihre Familien.

Bisher wurden die meisten Proteste von jungen Frauen und auch Männern angeführt, die vor allem aus der Mittelschicht stammen und beschäftigt sind/waren. Sie zeigen, wie sich die Urbanisierung unter der imperialistischen Besatzung auf Afghanistan ausgewirkt hat. Die 20 Jahre der Besatzung und des Krieges haben es einem Teil der jungen Afghan:innen ermöglicht, das Leben in den Städten mit gewissen Freiheiten zu erleben. Für sie würde die Herrschaft der Taliban bedeuten, dass sie in eine Gesellschaft gezwungen werden, die sie nie gekannt haben und in der sie die begrenzten „Privilegien“ verlieren, zu arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Insbesondere junge Frauen, die in den Städten aufgewachsen sind, sind dazu nicht bereit.

Dies wurde von Mitgliedern der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) bei einer Protestaktion in Balkh (Balch; Nordafghanistan) am 6. September mit Plakaten deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir gehen nicht zurück!“ und „Frauen werden nicht zurückgehen!“

Trotz Repression gingen die Proteste in den letzten Monaten weiter. So organisierten Frauen in mehreren Städten öffentliche Proteste am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, und am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte mit Losungen wie: „Fundamentalism + Imperialism = Barbarism!“ Auch gegen die im Dezember beschlossene Einschränkung der Bewegungsfreiheit gingen Frauen in Kabul auf die Straße.

In der Erklärung der RAWA zur Machtübernahme durch die Taliban wurde ihr Standpunkt klar und deutlich dargelegt: „In den letzten 20 Jahren war eine unserer Forderungen ein Ende der US/NATO-Besatzung und noch besser wäre es, wenn sie ihre islamischen Fundamentalisten und Technokrat:innen mitnehmen und unser Volk selbst über sein Schicksal entscheiden lassen würden. Diese Besatzung hat nur zu Blutvergießen, Zerstörung und Chaos geführt. Sie haben unser Land in den korruptesten, unsichersten, von Drogenmafiastrukturen durchsetzten und gefährlichsten Ort verwandelt, vor allem für Frauen.“

Dies unterstreicht den progressiven Charakter der Demonstrationen. Im Moment mag es ihnen an starker, landesweiter Unterstützung fehlen, aber zwei Faktoren könnten das drastisch ändern. Erstens: Die Abwertung der afghanischen Währung und die steigende Inflation führen dazu, dass die meisten AfghanInnen darum kämpfen, überhaupt Brot auf den Tisch bringen können, was die Aufrechterhaltung der Ordnung von Tag zu Tag schwieriger macht. Zweitens nehmen die Angriffe auf die demokratischen Freiheiten in dem Maße zu, in dem die Taliban mehr Kontrolle über das Land erlangen. Das führt dazu, dass immer mehr Schichten der Gesellschaft in den Widerstand gezogen werden, wodurch Raum für den Klassenkampf geschaffen wird, der das derzeitige reaktionäre Regime wirksam stürzen kann.

Kontrolle

Da es unter der Herrschaft der Taliban zu Protesten kommen konnte, zeigt sich auch, dass sie das Land noch nicht vollständig unter Kontrolle haben. Ihre Verbote werden trotz strenger Repressionen weiterhin missachtet. Infolgedessen organisierten die Taliban eigene Gegenproteste, bei denen verschleierte Frauen in Universitäten Talibanfahnen trugen, um deren Herrschaft zu verteidigen. Dies zeigt, dass die neuen Herren zumindest derzeit nicht mehr so regieren können wie in den 1990er Jahren. Diese inszenierten Gegenproteste sind ein Versuch, eine soziale Rechtfertigung für die Durchsetzung der Reaktion zu schaffen, anstatt einfach jede Opposition mit brutaler Gewalt zu unterdrücken.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Loyalität der lokalen Warlords. Sie mögen die Talibanherrschaft vorerst akzeptiert haben, aber solche Loyalitäten werden sich in Zeiten widerstreitender Interessen ändern. Auch die Kämpfe innerhalb der Talibanfraktionen sollten nicht außer Acht gelassen werden. Das Ausmaß, in dem diese Faktoren ihre Herrschaft schwächen und destabilisieren könnten, hängt weitgehend von der Rolle Chinas ab. Der chinesische Imperialismus hegt mit seiner „Neuen Seidenstraße“-Initiative ein eigenes Interesse daran, die Beziehungen zu den Taliban aufrechtzuerhalten. Der Rückzug der USA ermöglicht es ihm, zu einem noch mächtigeren Akteur in der Region zu geraten.

Die Liga für die Fünfte Internationale erklärt sich uneingeschränkt solidarisch mit der entstehenden Frauenbewegung in Afghanistan. Diese aufkeimende Bewegung ist derzeit noch fragmentiert und schwach und trägt einen klassenübergreifenden Charakter mit der unbestreitbaren Präsenz einiger proimperialistischer und Mittel- und Oberschichtelemente. Dennoch bietet sie Hoffnung für die Millionen kriegsgeschüttelter Afghan:innen, die der imperialen Besatzung überdrüssig sind, aber auch die Politik der ehemaligen Ghaniregierung und die Reaktion der Taliban ablehnen. In einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, ist eine solche Bewegung das Gebot der Stunde.

Revolutionär:innen in Afghanistan müssen diese Bewegung aufbauen und ihre fortgeschrittensten und bewusstesten Schichten für das Programm der permanenten Revolution gewinnen. Im Kampf für demokratische Grundfreiheiten wie das Recht auf Arbeit und Sozialleistungen für Frauen treten wir für den Aufbau von Organisation der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen ein, die nicht nur die Taliban besiegen, sondern auch diese Rechte garantieren können und um die Macht kämpfen.

Die afghanischen Revolutionär:innen müssen sich auf der Grundlage eines revolutionären Programms organisieren, das keine Illusionen in eine imperialistische Macht, seien es die USA, China oder Russland, schürt. Dies wird entscheidend sein für die Intervention bei den aktuellen Protesten oder bei künftigen Bewegungen in dem Land. Die wirklichen Verbündeten der Arbeiter:innen, der armen Bauern und Bäuerinnen, der Frauen und der nationalen Minderheiten sind nicht die imperialistischen Mächte.

Es sind die Arbeiter:innen Pakistans, Irans, Turkmenistans, Tadschikistans, Usbekistans und Chinas, die in ihren jeweiligen Ländern für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge kämpfen müssen. Es sind die britischen, amerikanischen, deutschen und französischen Lohnabhängigen, die sich nicht nur für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge einsetzen müssen, sondern auch dafür, dass ihre Regierungen keine Sanktionen gegen Afghanistan verhängen und Reparationen für den Wiederaufbau des Landes zahlen.

Die Arbeiter:innen in der ganzen Welt müssen ihre Solidarität mit unseren afghanischen Brüdern und Schwestern, die schon viel zu lange unter dem Krieg leiden, in Aktionen organisieren. Es lebe die internationale Solidarität! Lang lebe der Kampf gegen die Taliban und den Imperialismus in Afghanistan!




Afghanistans Wirtschaft im freien Fall

Martin Suchanek, Neue Internationale 260, November 2021

Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Ökonomie des Landes faktisch zusammengebrochen. Sein BIP soll nach Prognosen des IWF um bis zu 30 % schrumpfen – und dies, nachdem die Wirtschaft faktisch schon seit Jahren am Boden liegt.

Schon vor dem Sturz des westlichen Marionettenregimes Ghani und dem Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten prägten Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Armut das Leben der Massen auf dem Land und in den städtischen Slums. Zwei Drittel der Bevölkerung lebten unter der Armutsgrenze. Dies war eine direkte Folge des Beharrens der USA und ihrer Verbündeten auf dem „Freihandel“, der das Land für eine Flut billiger Waren öffnete, mit denen die heimische Wirtschaft nicht konkurrieren konnte. Dies galt insbesondere für die Landwirtschaft, was zu einer Flucht in die Städte führte, während das Land weiterhin unter der Kontrolle der traditionellen Führer blieb.

Doch nun droht eine humanitäre Katastrophe. Ein Drittel der Bevölkerung – also rund 12 der 37 Millionen – leidet unter Hunger und Unterernährung. Ohne rasche und massive Hilfe droht Millionen der Tod.

Ursache: Imperialismus

Für die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind die ehemaligen Besatzungsmächte zu einem großen Teil verantwortlich. Nach dem Abzug der US/NATO-Truppen und dem Sieg der Taliban wurden die westlichen Hilfsgelder mit einem Schlag gestoppt.

Dabei waren es jene Finanzmittel, die in den letzten Jahrzehnten das Land überhaupt am Laufen hielten. Unter der Herrschaft der USA und ihrer Verbündeten wurden rund 40 % des afghanischen Bruttoinlandsproduktes aus internationalen Hilfsgeldern bestritten, 60 – 70 % der Staatsausgaben finanzierten die Geberländer aus dem Westen oder dem Arabischen (Persischen) Golf. Nach der Machtübernahmen der Taliban kamen diese Quellen zum Erliegen. Außerdem froren die USA und andere westliche Staaten die Reserven Afghanistans ein. Den größten Teil davon, rund 7 Milliarden US-Dollar, kontrolliert seither die US-amerikanische Notenbank, die Federal Reserve. Die Regierung Biden hat sich faktisch den größten Teil der Geldreserven angeeignet und verfügt über diese seither als Mittel zur Erpressung des Regimes in Kabul.

Mit verheerenden Folgen für die afghanische Wirtschaft! Der drastische Einbruch des BIP geht mit einem Zusammenbruch des Bankensystems, der Geldzirkulation und einer rasenden Inflation einher. Kein Wunder, dass alle, die irgendwie konnten, in den letzten Monaten ihre Bankkonten leerten, was wiederum die Geldkrise zusätzlich verschärfte. Geschäfte, Restaurants und die öffentliche Verwaltung sind zu größten Teilen geschlossen, Staatsbedienstete erhalten keine Löhne, weil der Staat faktisch pleite ist.

Da Afghanistan kaum über industrielle Produktion verfügt und die Landwirtschaft infolge von Krieg, Besatzung sowie klimatischer Veränderungen und zunehmender Dürren am Boden liegt und die eigene Bevölkerung nicht ernähren kann, droht nun eine Hungerkatastrophe. Die Inflation und der Zusammenbruch der Geldzirkulation bedeuten auch, dass auch viele Waren unerschwinglich werden – vor allem Lebensmittel, Brennstoffe für die Heizungen und auch Geld für die Miete. Mit dem Winter droht also auch das Frieren.

Die Politik des westlichen Imperialismus und vor allem der USA folgt einem menschenverachtenden zynischen Kalkül. Sie nimmt Elend, Hunger und Kälte bewusst in Kauf und nutzt sie als politische Druckmittel. Nachdem die Taliban militärisch gesiegt haben, sollen sie durch finanziellen Druck – einschließlich des zumindest zeitweiligen Raubes ihrer Devisenreserven – gefügig gemacht werden.

Das Sperren von Hilfsgeldern durch die NATO, die USA oder auch die Bundesrepublik wird hierzulande gern als Akt der Unterstützung der Bevölkerung dargestellt. In Wirklichkeit ist es Teil eines zynischen Spiels, um Einfluss auf die Zukunft des Landes zu sichern. Selbst wenn es zu „humanitären“ Abkommen mit den Taliban und einigen Hilfsgeldern kommen sollte, werden die westlichen Staaten darauf bestehen, dass sie oder mit ihnen verbundene NGOs die Verteilung der Gelder kontrollieren.

Wirtschaftlich befindet sich das Regime in Kabul in einer prekären Lage. Als Alternative zum Westen hoffte das Taliban-Regime auf den globalen Gegenspieler der USA, auf China, sowie auf bessere Beziehungen zu Pakistan, Iran und Russland.

Doch auch China und die anderen Mächte in der Region verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen. Falls Peking den Taliban finanziell unter die Arme greifen sollte, so nur im Austausch für politische und wirtschaftliche Zugeständnisse. Dies würde erstens die Ausschaltung von ISIS-Chorasan, einer ultrareaktionären Dschihadisten-Truppe, die im Land gegen die Taliban kämpft und auch von China als Bedrohung betrachtet wird, der Ostturkestanischen Islamischen Bewegung (separatistische Strömung unter den chinesischen UigurInnen) und aller anderen islamistischen Gruppierungen betreffen, die als Sicherheitsrisiko für die Ordnung in benachbarten Staaten und die Neue Seidenstraße betrachtet werden. Zweitens würde es bedeuten, dass China ein privilegierter Zugriff zu den reichen, wenn auch bislang nicht erschlossenen Bodenschätzen des Landes gewährt wird. Im Gegenzug könnte Afghanistan Hilfsgelder erhalten, die das Land am Laufen zu halten.

Brandbeschleuniger Taliban-Regime

Neben der erpresserischen Politik der verschiedenen imperialistischen Mächte darf der zweite Faktor nicht vergessen werden, der die aktuelle Misere noch verschärft: die theokratische Diktatur der Taliban selbst. Als Organisation verfügen die Taliban nicht über die Voraussetzungen, um das Land zu regieren. Ihre Fähigkeit, im ganzen Land Kräfte gegen die verhassten BesatzerInnen zu mobilisieren und sich dabei vor allem auf lokale Führer und Geistliche zu stützen, hat keine nationale Verwaltung geschaffen, auch nicht auf militärischer Ebene. Nun droht der Zerfall, die vorhandenen zentralen Stellen zu untergraben.

Natürlich hätten jede Gesellschaft und jedes politische Regime bei einem Wegfall eines Drittels des BIP und von zwei Dritteln des Staatshaushaltes mit einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe zu kämpfen.

Aber den Taliban geht es zuerst um die Sicherung ihres neuen, islamistischen Regimes. So forcieren sie seit der Machtübernahme den Ausschluss der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und gehen daran, deren begrenzte Rechte durch Repression, öffentliche Angriffe, Erniedrigung bis hin zur Verfolgung von Vorkämpferinnen für die Rechte der Frauen zu beschneiden. Vor allem aber sollen Frauen aus vielen Berufen verdrängt, ausgeschlossen oder auf eng umrissene Bereiche beschränkt werden, vor allem aus der öffentlichen Verwaltung, dem kulturellen Leben, dem Gesundheitswesen, den Universitäten und Schulen.

Die frauenfeindliche, reaktionären Politik bedeutet zugleich, dass qualifizierte Fachkräfte am Arbeiten gehindert werden, dass das wirtschaftliche und soziale Leben weiter zerrüttet wird.

Was auf die systematische geschlechtliche Unterdrückung zutrifft, lässt sich auf allen anderen Gebieten des gesellschaftlichen und politischen Lebens finden – der Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse, der BäuerInnenschaft, der Intelligenz, nationaler und religiöser Minderheiten wie der Hazara.

Die despotische Politik der Taliban, die Angst vor Unterdrückung und Verfolgung bis hin zum Mord treibt ebenso wie der Hunger Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht. Schon jetzt leben rund 3 Millionen allein in Pakistan und im Iran. In den kommenden Wochen werden die Lager in den Grenzregionen dieser Länder und in Tadschikistan weiter anwachsen. Die meisten, die Repression, Hunger und Not entkommen wollen, sind jedoch Binnenflüchtlinge. Und die Zahlen steigen.

Was tun?

Die Verhinderung der unmittelbar drohenden humanitären Katastrophe, der Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen infolge von Armut, Hunger und Kälte zum Opfer zu fallen drohen, muss unmittelbar im Zentrum jeder fortschrittlichen und internationalistischen Politik stehen.

Das bedeutet vor allem in den westlichen Staaten, die über Jahrzehnte Afghanistan besetzt und kontrolliert haben, dafür zu kämpfen, dass die US-Regierung und ihre Verbündeten nicht weiter ihre finanziellen Ressourcen als Mittel zur politischen Erpressung nutzen können. Die USA muss zur Herausgabe der Reserven ohne jegliche Bedingungen gezwungen werden. Wir müssen außerdem die Freigabe von Hilfsgeldern zur Sicherung des Überlebens in Afghanistan wie in den Flüchtlingslager fordern sowie die Öffnung der Grenzen zur EU, in die USA oder nach Britannien für alle Geflüchteten, die in diese Länder wollen.

So wenig wie einer der imperialistischen Machtgruppierungen die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgeldern anvertraut werden kann, so wenig Verlass ist auf das Regime in Kabul, solche Gelder und Güter gerecht zu verteilen.

Aufgrund der despotischen, brutalen Herrschaft der Taliban und ihrer Unterdrückungsmaschinerie kann ein Kampf um die Verteilung der Hilfsgüter von Gewerkschaften, Linken und demokratischen Frauenorganisationen nur unter Bedingungen der Illegalität geführt werden. Dennoch besteht die unmittelbare Priorität darin, soweit wie möglich lokale, demokratisch kontrollierte Organisationen zu bilden, die die Verteilung der beschaffbaren Hilfsgüter überwachen.

Die heroischen Demonstrationen von Frauen um ihr Recht auf Arbeit im September zeigen jedoch, dass die Herrschaft der Islamisten noch nicht voll konsolidiert ist. Die aktuelle, sich vertiefende Krise erschwert die Festigung der Taliban-Herrschaft zur Zeit und eröffnet einen Spielraum zur Mobilisierung um Fragen der Versorgung der Bevölkerung und die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern und knappen Ressourcen. Das Aufgreifen der Überlebensfragen von Millionen erlaubt zugleich, den Kampf gegen das Taliban-Regime zu entfachen.

Lehren

Für diese Perspektive sind zwei politische Lehren von zentraler Bedeutung: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben.

Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet; mit Organisationen, die bei einer Zuspitzung des Klassenkampfes zu Organen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung geraten können.




Afghanistan: Der Sieg der Taliban und seine internationale Bedeutung

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 18.8.2021, Infomail 1159, 20. August 2021

Der Sieg der Taliban und der Sturz der Regierung Ghani sind eine demütigende Niederlage von globaler Bedeutung für die USA und ihre westlichen Verbündeten. Das Bild der Hubschrauber, die fliehende DiplomatInnen vom Dach der US-Botschaft heben, erinnert stark an den Fall von Saigon im Jahr 1975. Aber der Unterschied ist noch wichtiger. Damals war die einzige globale Rivalin der USA, die Sowjetunion, selbst schon eine schwindende Macht. Heute ist China ein kräftiger Imperialismus, der durch sein eigenes Wachstum veranlasst ist, seine Macht und seinen Einflussbereich auf Kosten der USA auszuweiten.

Trumps Entscheidung, den Rückzug der USA mit den Taliban in Doha zu vereinbaren, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, die Regierung in Kabul zu konsultieren, war nicht nur eine persönliche Laune eines exzentrischen Präsidenten. Sie war Ausdruck der zunehmenden Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen und es besser ist, sich zurückzuziehen und zu verschwinden. Diese Schlussfolgerung wurde nicht nur von vielen Mitgliedern der Republikanischen Partei geteilt, sondern auch von Joe Biden, der sich als Vizepräsident gegen Obamas „Eingriff“ ausgesprochen hatte.

In Doha stimmte eine neue Generation von Taliban-Führern, die von jenen Teilen des pakistanischen Staates, die sie im Exil unterstützt hatten, beraten, wenn nicht gar gelenkt wurden, taktisch einem Abkommen zu, das eine Art Machtteilung in einer künftigen Regierung vorsah. Während dies für die USA gesichtswahrend war, wussten die Taliban, dass sich die sozialen Verhältnisse im größten Teil ihres Heimatlandes nicht geändert hatten und das gesamte Regime vollständig von der US-Präsenz abhängig war. Eine fortschrittliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung hätte den Sturz der landbesitzenden Klasse erfordert, was unter den USA oder ihren HandlangerInnen in Kabul niemals geschehen würde.

Die Taliban haben vielleicht nicht mit der außergewöhnlichen Geschwindigkeit gerechnet, mit der sie das ganze Land erobert haben, aber sie waren immer zuversichtlich, dass das Regime und seine Truppen zusammenbrechen würden, sobald die imperialistischen Besatzungstruppen abgezogen sind, was die harte Wahrheit ans Licht bringt, dass die Regierung keine wirklichen sozialen Wurzeln in der afghanischen Gesellschaft hatte.

Nach 20 Jahren Besatzung, Hunderttausenden von Toten und 7 Millionen Flüchtlingen, die der lange asymmetrischen Krieg hervorgebracht hat, wurde das Land von seinen BesatzerInnen in einem Zustand der Verwüstung zurückgelassen. Rund 80 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos oder unterbeschäftigt, und 60 Prozent der Kinder leiden an Hunger und Unterernährung.

Die Kombination aus Armut und Krieg trieb nicht nur Millionen von Menschen aus dem Land, die oft von den Taliban rekrutiert wurden, sondern auch in die Städte. Hier haben sich die sozialen Beziehungen verändert, vor allem für die Frauen, aber auch in Bezug auf Arbeitsplätze und ein gewisses Maß an politischer Demokratie. Wie das Regime selbst sind jedoch auch diese stark von den Ressourcen abhängig, die von den USA und ihren Verbündeten bereitgestellt werden.

Pakistan

Die Tatsache, dass die Taliban in der Lage waren, nicht nur gegen den mächtigsten Staat der Welt zu überleben, sondern auch so weit zu wachsen und sich zu entwickeln, dass sie innerhalb weniger Wochen das ganze Land übernehmen konnten, hing offensichtlich nicht nur von der Rekrutierung verarmter Flüchtlinge ab. Der Schlüssel dazu war die Unterstützung Pakistans, insbesondere des Geheimdienstes ISI, der Afghanistan seit langem als potenziellen Faktor in seiner Fehde mit Indien ansieht.

Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan, als das halbkoloniale Pakistan ein williger Verbündeter der USA war, spielte der ISI eine wichtige Rolle beim Aufbau der reaktionären Mudschahidin-Guerilla und sammelte wertvolle Erfahrungen und Fachkenntnisse bei der Kanalisierung der US-Hilfe für ihre GuerillakämpferInnen. Doch die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Loyalitäten. Die zwanzig Jahre der US-Besatzung Afghanistans waren auch die Jahre des Aufstiegs Chinas, das heute die wichtigste Quelle wirtschaftlicher Hilfe für Pakistan verkörpert und für das letzteres im Rahmen von Pekings Neuer Seidenstraße eine strategische Bedeutung einnimmt. Zweifellos gibt es im pakistanischen Staatsapparat immer noch prowestliche Elemente, aber die Geschwindigkeit, mit der Premierminister Imran Khan den Sieg der Taliban begrüßt hat, deutet darauf hin, dass die prochinesische Fraktion jetzt die Oberhand gewonnen hat.

Die globale, vielleicht historische Bedeutung des Sieges der Taliban liegt darin, dass die US-Invasion, wie auch die anschließende im Irak, nicht nur der Demonstration der US-Macht diente, sondern auch der Konsolidierung dieser Macht, indem sie den gesamten Nahen und Mittleren Osten unter ihre Kontrolle brachte. Damit sollte der Boden für das neue amerikanische Jahrhundert bereitet werden, das durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Globalisierung eingeläutet wurde.

Der barbarische und reaktionäre Angriff auf die Zwillingstürme in New York diente als Vorwand, als Rechtfertigung für den „Krieg gegen den Terror“, in dem Washington das Recht beanspruchte, überall dort militärisch zu intervenieren, wo es seine Interessen bedroht sah. Heute, nach den militärischen Niederlagen im Irak und in Afghanistan und der Wirtschaftskrise von 2008/9, steht diese ganze Weltsicht in Frage. Die USA stellen zweifelsohne immer noch einen sehr mächtigen Staat dar, aber sie sind kein unangefochtener Hegemon mehr.

Das veränderte Kräftegleichgewicht wird nicht nur die rivalisierenden Imperialismen China und Russland, sondern auch regionale Mächte wie Pakistan, Iran, die Türkei und Indien dazu ermutigen, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. Auch Länder, die die Unterstützung der USA als selbstverständlich angesehen haben, wie Taiwan, müssen sich fragen, was die Zukunft bringt. Selbst EU-Imperialismen wie Deutschland und Frankreich werden abwägen, wie weit sie von den Prioritäten der USA abweichen sollen.

In Afghanistan selbst wird die Wiedereinsetzung einer Taliban-Regierung eindeutig nicht den Weg zu Frieden und Wohlstand eröffnen. Zwanzig Jahre Exil in Pakistan und den Golfstaaten, die Entwicklung neuer Führungspersönlichkeiten, die Herausforderung, ein Regierungssystem in einem stark veränderten Land zu bilden, und die Möglichkeit von Spannungen zwischen den zurückkehrenden ExilantInnen und denjenigen, die die Organisation im Land unter der Besatzung aufrechterhalten haben, werden wahrscheinlich zu internen Spannungen führen, denn der Sieg trennt immer die SiegerInnen.

Taliban-Regime

Auf seiner ersten Pressekonferenz verkündete der Vertreter des neuen Regimes eine Generalamnestie für alle, die für die vorherige Regierung gearbeitet hatten, und versicherte den Frauen, dass ihre Rechte auf Bildung, Arbeit und Teilnahme am öffentlichen Leben garantiert würden, sofern die islamischen Normen eingehalten würden. Es wurde betont, dass die Taliban keine Rache wollen und sich bemühen werden, andere in die Verwaltung des geplanten theokratischen Emirats einzubeziehen. Es erging eine Aufforderung, wieder normal an die Arbeit zurückzukehren.

Zweifellos ist ein solch pragmatischer Ansatz für eine Bewegung, die über keinen eigenen zivilen Verwaltungsapparat verfügt, praktisch sinnvoll und war der Ratschlag ihrer potenziellen internationalen UnterstützerInnen. Die Zeit wird zeigen, ob dies von Dauer sein wird oder die reaktionärsten Strömungen im Lande bereit sind, solche Zugeständnisse zu tolerieren, nachdem sie zwanzig Jahre lang für die Rückkehr zu den von ihnen bevorzugten Normen gekämpft haben. Klar ist, dass es derzeit keine Kräfte wie politische Parteien oder Gewerkschaften gibt, die mobilisieren könnten, um einen Rückschritt zu verhindern.

Auf internationaler Ebene sollten die VerfechterInnen der demokratischen Rechte der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Afghanistan alles in ihrer Macht Stehende tun, um Racheakte der besiegten ImperialistInnen zu verhindern. Alle Versuche, Sanktionen zu verhängen oder der jetzigen De-facto-Regierung des Landes die Anerkennung zu verweigern, müssen abgelehnt werden, da sie das bereits erlittene Elend und die Armut nur noch vergrößern können.

Für die Massen in Afghanistan brechen dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban wird alle demokratischen, Frauenorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Kräfte in die Illegalität treiben. Gleichzeitig werden aber, wie in allen theokratischen Regimen zu beobachten, die sozialen Widersprüche keineswegs verschwinden. Klassengegensätze und andere soziale Konflikte sind früher oder später unvermeidlich. Die Jugendproteste in Dschalalabad sind ein erstes Anzeichen dafür. Darauf müssen sich die RevolutionärInnen in Afghanistan organisatorisch, politisch und programmatisch unter den Bedingungen der Illegalität, der konspirativen Arbeit vorbereiten.

Partei

Zwei Lehren werden von zentraler Bedeutung sein: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben. Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet, die mit der Zeit zu TrägerInnen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung geraten können, mit anderen Worten: die Strategie der permanenten Revolution.

Der Aufbau einer solchen Organisation ist zweifelsohne eine langfristige Angelegenheit. Unmittelbar sind Millionen Menschen von brutaler politischer Unterdrückung bedroht. Andere versuchen, in Nachbarländer oder nach Europa zu fliehen. Die Linke und die internationale ArbeiterInnenbewegung müssen einen gemeinsamen Kampf für die bedingungslose Öffnung der Grenzen führen und sich für die Beschaffung materieller Mittel für die Flüchtlinge einsetzen, die in den Nachbarländern Afghanistans bleiben.

Die dramatischen Ereignisse in Afghanistan bestätigen, dass wir in einer Zeit zunehmender zwischenimperialistischer Rivalität leben, einer Zeit, in der ökonomische Konkurrenz zu Handelskriegen führen kann, Sanktionen zu Blockaden werden und regionale Konflikte zu größeren Kriegen führen können. Die für das zwanzigste Jahrhundert typischen wirtschaftlichen und territorialen Reibungen entfalten sich nun im Kontext der sich entwickelnden Klimakatastrophe, die naturgemäß die Notwendigkeit einer internationalen Lösung bestätigt. Voraussetzung dafür ist eine internationale Organisation, eine internationale Partei – das ist die Hauptaufgabe der RevolutionärInnen in aller Welt, der Aufbau einer Fünften Internationale!




Der Sieg der Taliban – die Frucht von 20 Jahren imperialistischer Besatzung

Martin Suchanek, Infomail 1158, 17. August 2021

Nach 20 Jahren Besatzung durch die USA und ihre Verbündeten haben die Taliban Kabul und das Land wieder eingenommen. 20 Jahre Besatzung und Krieg – wofür? Die westlichen imperialistischen Mächte haben keines ihrer Kriegsziele erreicht, weder die vorgeschobenen noch die realen ökonomischen und geostrategischen. Nach zwei Jahrzehnten hinterlassen sie ein verwüstetes Land.

Verwüstetes Land

Während der Besatzung starben rund 250.000 AfghanInnen – rund 70.000 Angehörige der Sicherheitskräfte, etwa 100.000 wirkliche oder vermeintliche Taliban und über 70.000 ZivilistInnen. Sieben von rund 38 Millionen AfghanInnen wurden zu Flüchtlingen, davon rund 4 Millionen im eigenen Land. Die anderen 3 Millionen entflohen nach Pakistan, Iran oder in den Westen.

Auch wenn unter US-Besatzung einige demokratische Reformen auf dem Gebiet der Frauenrechte für die Intelligenz eingeführt wurden, so waren diese beschränkt und erstreckten sich im Wesentlichen auf städtische Zentren und Mittelschichten.

Für die Masse der AfghanInnen bedeutete die Besatzung weiter Willkür – nicht nur durch die Taliban, sondern auch durch Warlords, GrundbesitzerInnen und traditionelle Eliten in den von Regierung und westlichen Mächten kontrollierten Gebieten. Vor allem auf dem Land war und ist die wirtschaftliche Lage katastrophal, die Agrarproduktion am Boden. Die Ausbeutungsbedingungen sind extrem, sofern die Menschen überhaupt als Bauern/Bäuerinnen ihre Produkte verkaufen oder als LandarbeiterInnen Arbeit finden. Während Millionen auf der Flucht und Suche nach Beschäftigung in die Städte flohen, so fanden sie auch dort keine Einkommen und keine oder nur prekäre und befristete Arbeit. 80 % aller AfghanInnen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. 60 % der Kinder leiden unter Unterernährung. Ein großer Teil der Arbeitssuchenden wie überhaupt der urbanen Bevölkerung lebt in städtischen Slums.

All dies verdeutlicht, warum die Demokratie in Afghanistan unter imperialistischer Besatzung eine Farce war und sein musste. So schrecklich und bedrohlich die Rückkehr des Taliban-Regimes auch für viele – vor allem Frauen, demokratische Kräfte, SozialistInnen und die schwache ArbeiterInnenbewegung – sein wird, sind Millionen und Abermillionen AfghanInnen schon während der 20 Jahre Besatzung und Pseudodemokratie verarmt, verelendet, marginalisiert, entrechtet und demoralisiert. Die traditionellen Arbeitsbeziehungen sind nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges, angefangen mit dem reaktionären Krieg der mit dem Westen verbundenen Mudschahidin, weitgehend zerstört, ohne dass neue soziale Beziehungen an ihre Stelle getreten wären. Imperialistische Besatzung und Bürgerkriege haben zur Deklassierung weiter Teile der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft und selbst des KleinbürgerInnentums geführt.

20 Jahre Besatzung haben diese Verhältnisse ständig reproduziert und verschlechtert. Allein das bezeugt den reaktionären Charakter der imperialistischen Besatzung, die auch nicht nachträglich besser wird angesichts der drohenden theokratischen Diktatur der Taliban, des Verdrängens der Frauen aus dem öffentlichen Raum, der Einführung des islamischen Rechts durch die Taliban.

Dass all dies droht, wenn die Dschihadisten gewinnen sollten, war bekannt. Doch warum konnten diese das Land in den letzten Wochen so rasch einnehmen, obwohl allein die USA 2,2 Billionen US-Dollar in die Besatzung und Kriegsführung gesteckt haben? Mehrere Großoffensiven unter Bush und Obama kosteten zwar zehntausenden ZivilistInnen das Leben, das Land befrieden konnten sie jedoch nicht. Faktisch war spätestens 2016, nach der letzten gescheiteren Großoffensive mit über 130.000 US-Soldaten klar, dass eine militärische Lösung unmöglich war. Sicherlich spielte dabei auch die Tatsache eine wichtige Rolle, dass Pakistan, obwohl langjähriger US-Verbündeter, auch eine Schutzmacht der Taliban darstellte und nie aufhörte, als solche mehr oder weniger offen zu agieren.

Kein Problem gelöst

Vor allem aber war das imperialistische Besatzungsregime selbst dafür verantwortlich. Keines der fundamentalen sozialen und demokratischen Probleme des Landes wurde wirklich angepackt. Die Landfrage, eine Kernfrage jeder grundlegenden Veränderung, war faktisch tabu, sollten doch die besitzenden Eliten auf dem Land wichtige Verbündete gegen die Taliban darstellen. Allein die Tatsache, dass etliche von diesen einmal mehr überliefen und, im Gegenzug für ihren Loyalitätswechsel, nun unter den Taliban ihre führende Stellung behalten sollen, verdeutlicht die Logik jeder reaktionären, imperialistischen Besatzungspolitik. Sie setzt auf die Reichen und Besitzenden. Die Lage der Bauern/Bäuerinnen verschlechterte sich so, dass sie keinen Unterschied zwischen der „Demokratie“ unter imperialistischer Herrschaft und dem Emirat der Taliban zu erkennen vermögen. Hunger, Entrechtung und Überausbeutung ändern sich nicht – und die Taliban versprechen wenigstens islamische Wohlfahrt, Almosen für die Armen, während die US-Besatzung dem Land mehrere Strukturanpassungsprogramme des IWF und die Öffnung der Agrarmärkte gegenüber westlicher Konkurrenz aufzwang (was auch zu einem Ruin zahlreicher afghanischer AgrarproduzentInnen führte).

Dasselbe gilt bezüglich der Rechte nationaler Minderheiten, der LohnarbeiterInnen in den Städten. Nicht zuletzt war die afghanische Demokratie wenig mehr als als ein Kampf der mit den USA verbündeten Eliten um die Beute, um die Kontrolle über den Staatsapparat und die Pfründe, die er zu bieten hatte. Milliarden verschwanden in diesen Kanälen – und noch viel mehr in den Taschen der Rüstungs- und Sicherheitskonzerne in den USA und anderen westlichen Ländern. Eine soziale Basis in der Gesellschaft vermochte sich die afghanische Regierung nie aufzubauen. Ihre Stütze war im Grunde über zwei Jahrzehnte die Besatzungsmacht, die ihrerseits keinen Spielraum für ein anderes Regime bot. Ohne US- und NATO-Truppen brach die Regierung innerhalb weniger Wochen zusammen.

Scheitern der imperialistischen Ziele

Doch die USA und ihre Verbündeten vermochten nicht nur ihr vorgeschobenen Versprechen nicht einzulösen. Indem sie sich als unwillig und unfähig erwiesen, das Land selbst ökonomisch und sozial zu stabilisieren und ihm eine gewisse Perspektive zu erlauben, scheiterte auch die Verwirklichung ihrer realen, wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele.

Der Einmarsch und die rasche Eroberung des Landes durch die US-geführte Allianz, der sich 2001 fast alle Staaten der Welt offiziell anschlossen, wurden von den USA als Akt der Selbstverteidigung

nach dem reaktionären Anschlag auf die Twin Towers am 11. September 2001 präsentiert. In Wirklichkeit sollten die Eroberung Afghanistans ebenso wie der Krieg gegen den Irak und andere Interventionen die nahezu unangefochtene Hegemonie der USA nach dem Kalten Krieg und während des ersten Jahrzehnts der kapitalistischen Globalisierung verewigen. Von dieser „neuen Weltordnung“, für deren Errichtung die Kontrolle Eurasiens und die Verhinderung des Aufstiegs neuer imperialistischer Rivalen als zentral angesehen wurde, ist der US-Imperialismus heute weiter denn je entfernt. Auch wenn er noch immer die größte Ökonomie und die stärkste politische und militärische Macht darstellt, so offenbart der Rückzug der US- und NATO-Truppen vor allem den Niedergang der Hegemonialmacht. Am Ende konnten sie nicht einmal eine Machtteilung zwischen dem Vasallenregime Ghani und den Taliban durchsetzen.

Auch der „Krieg gegen den Terror“, diese ideologische Allzweckwaffe, die über zwei Jahrzehnte als Vorwand für so ziemlich jede Intervention herhalten sollte, hat sich abgenutzt. Geblieben sind nackte Interessenpolitik, die mehr oder weniger offene Verfolgung der eigenen imperialistischen Ziele im globalen Konkurrenzkampf, Islamophobie und antimuslimischer Rassismus in den imperialistischen Zentren als Ideologien zur Rechtfertigung der Unterdrückung im Inneren und zur Intervention nach außen.

Der Zusammenbruch des Vasallenregimes in Kabul bezeugt daher vor allem den Niedergang des US-Imperialismus. Er belegt, wie sehr sich die Weltlage in den beiden letzten Jahrzehnten grundlegend verändert hat. Auch wenn es schwer absehbar ist, ob und wie andere Mächte das Vakuum füllen können, das die USA in Afghanistan hinterlassen, so stehen die VerliererInnen fest. Die USA und ihre westlichen Verbündeten erlitten eine Niederlage von enormer internationaler Bedeutung. Sie erwiesen sich als unfähig, die Welt nach ihren Vorstellungen zu „ordnen“. Nach 20 Jahren endete der asymmetrische Krieg in einer Niederlage, deren globale Bedeutung der in Vietnam nicht nachsteht. Selbst einen „geregelten“ Übergang, eine Machtteilung der Regierung Ghani mit den Taliban vermochten sie nicht mehr auszuhandeln. Die größte Weltmacht wie der gesamte Westen wurden weltpolitisch vorgeführt.

Kampfloser Fall

Der kampflose Fall Kabuls besiegelte die Niederlage des afghanischen Regimes unter Präsident Aschraf Ghani. Nachdem die USA-Besatzungstruppen und ihre NATO-Verbündeten überhastet und frühzeitig abgezogen waren, entpuppte sich die afghanische Regierung samt ihrer nach offiziellen Angaben 300.000 Mann starken Verteidigungskräfte als Papiertigerin.

Innerhalb von nur wenigen Wochen konnten die Milizen der Taliban das Land erobern, obwohl sie zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch als unterlegen galten. Nachdem Anfang Mai, am Beginn des Abzugs der US/NATO-Truppen, noch der größere Teil des Landes von der Regierung kontrolliert wurde, veränderte sich die Lage bis Anfang Juli dramatisch. Rund die Hälfe des Territoriums hatten die Taliban eingenommen, oft ohne auf großen militärischen Widerstand zu stoßen. Zu diesem Zeitpunkt nahmen sie jedoch vor allem ländliche, oft relativ dünn besiedelte Regionen und kleinere Städte ein. Doch bald begannen sie auch, erste größere Provinzhauptstädte zu umzingeln und einzunehmen, mitunter nach längeren Gefechten mit den Regierungstruppen oder mit ihnen verbündeten Milizen von Landlords, also lokaler, oft auf Clanstrukturen basierenden Kriegsherren.

Mit jeder Niederlage der Regierungstruppen, die sich ihrerseits von ihren ehemaligen Schutzmächten, den USA und schwächeren imperialistischen Mächten wie Deutschland im Stich gelassen fühlten, schwanden die Hoffnungen, den Talibanvormarsch aufhalten zu können.

Mehr und mehr Großstädte wurden kampflos übernommen. Teile der lokalen Sicherheitskräfte liefen über, andere verkauften ihre Waffen an die Taliban, flohen mit ihrem Gerät in andere Regionen oder ins Ausland oder desertierten, um unterzutauchen.

Die Kampfmoral war offenkundig schon weitgehend gebrochen, als der Vormarsch der Taliban begann. Überraschend war sicher nicht der Umstand selbst, wohl aber das Ausmaß der Demoralisierung, die die Regierung und ihre westlichen Schutzmächte überraschte, wahrscheinlich aber auch die Taliban.

Mit dem US- und NATO-Abzug, ja im Grunde mit Donald Trumps Ankündigung aus dem letzten Jahr war schließlich längst klar, dass das afghanische Regime nicht einfach weiterregieren können würde. Die westlichen imperialistischen Mächte, aber auch Russland und China sowie regionale Player wie Pakistan, Iran und die Türkei strebten eine Machtteilung der Regierung Ghani mit den Taliban an, die vor allem am Verhandlungstisch errungen werden sollte.

Doch die Unterredungen stockten, auch weil die Regierung Ghani ihre Karten überreizte und hoffte, dass im schlimmsten Fall die USA und ihre Verbündeten doch mehr Truppen und Personal im Land lassen würden. Dabei verkalkulierte sie sich offenkundig.

Die USA, die NATO und sämtliche westlichen Besatzungsmächte rechneten damit, dass die Regierung wenigstens die größten städtischen Zentren und deren Umland halten würde können. Umgekehrt gingen im Mai und Juni wahrscheinlich auch die Taliban nicht davon aus, dass sie bis Mitte August ganz Afghanistan weitgehend kampflos erobern könnten. Länder wie Pakistan, während des gesamten Kriegs nicht nur Verbündeter der USA, sondern auch eine Art Schutzmacht der Taliban, sowie China und Russland setzten aus geostrategischen und ökonomischen Interessen auf eine Verhandlungslösung, die ihnen am Verhandlungstisch größeren Einfluss auf Kosten der USA gebracht hätte.

Doch die Kampfmoral der Verteidigungskräfte und deren innerer Zusammenhalt waren offenbar so gering, dass sie sich nach anfänglichen verlorenen Gefechten im Juli nur noch auf dem Rückzug befanden. Nicht nur Desertion und Kapitulation waren verantwortlich. Die Armeeführung war offenbar nicht in der Lage, Nachschub und Ersatzkräfte zu sichern. Warum also sollten die SoldatInnen ihr Leben angesichts der Taliban-Erfolge riskieren, wenn sich ihre Regierung als vollkommen unfähig erwies, sie zu unterstützen, und nachdem sie ihre imperialistischen Verbündeten faktisch aufgegeben hatten? Während die USA und NATO ihre Truppen überhastet abgezogen hatten, ohne die lokalen Einheiten der afghanischen Armee über die Modalitäten des Rückzugs zu informierten, sollten diese weiter für die Marionettenregierung in Kabul als Kanonenfutter agieren.

Das hindert US-Militärs und PolitikerInnen bis hin zum Präsidenten Biden natürlich nicht daran, die Verantwortung für die schmähliche militärische Niederlage den afghanischen Vasallen in die Schuhe zu schieben. Feige und inkompetent, käuflich und unzuverlässig wären diese gewesen. Dabei haben die NATO-Staaten die afghanischen Sicherheitskräfte selbst zwei Jahrzehnte lang ausgebildet und immer wieder von enormen Fortschritten berichtet. Bei den Kampfhandlungen ließen 70.000 dieser ihr Leben, während nur rund 3.500 NATO-SoldatInnen fielen (davon rund 2.500 aus den USA).

Doch in typisch imperialer Herrenmanier erklären nun westlichen Militärs und PolitikerInnen, dass die edle Mission nicht an ihnen, sondern an rückständigen, unzuverlässigen und schwachen afghanischen Verbündeten gescheitert wäre. So schiebt der Imperialismus die Niederlage auch noch seinen Marionetten zu, die nicht richtig nach seiner Pfeife getanzt hätten. Dabei schaffen es die USA, Deutschland und andere BesatzerInnen allenfalls, einen Teil der direkt als ÜbersetzerInnen, KundschafterInnen, Personal aller Art beschäftigten HelferInnen und deren Familien aus dem Land zu bringen. Auch wenn westliche PolitikerInnen ihre Sorge und Betroffenheit über deren Schicksal medienwirksam zur Schau stellen, so darf diese niemanden täuschen. Das Schicksal der ehemaligen HelferInnen und Verbündeten interessiert die imperialistischen BesatzerInnen wenig. Die Krokodilstränen für die Hunderttausende, die vor den Taliban Richtung Iran und Türkei auf der Flucht sind, erweisen sich als pure Heuchelei, sobald es darum geht, den Menschen die Flucht nach Europa zu ermöglichen und die Grenzen der EU zu öffnen.

Was droht?

Für die AfghanInnen kommt der Sturz des Regimes Ghani wie ein Wechsel von Pest zur Cholera. Während die imperialistischen BesatzerInnen das Land verlassen haben und gerade noch dabei sind, ihre letzten Truppen, Tross und Gerätschaft außer Landes zu fliegen, geht die Macht an die Taliban über.

Im Land selbst steht ihnen zur Zeit keine organisierte, kampffähige Kraft gegenüber. Die Armee ist zerfallen, nach ihr das Regime, deren Mitglieder sich jetzt gegenseitig die Hauptschuld an der Niederlage zuschieben.

Ein Übergangsregime, eine Machtteilung kommt für die Taliban nicht in Frage. Sie werden in den nächsten Tagen vielmehr ihre eigenen Regierung einsetzen, die einem Gottesstaat, einem Emirat vorstehen soll. Auch wenn die Sieger zur Zeit versprechen, die Zivilbevölkerung zu schonen, so besteht am reaktionären, unterdrückerischen Charakter des Regimes, das sie errichten wollen, kein Zweifel. Für die Frauen, für oppositionelle demokratische und sozialistische Kräfte, für die ArbeiterInnenbewegung brechen finstere, despotische Zeiten an. Auch wenn deren genaues Ausmaß nicht präzise vorherbestimmt werden kann, so werden die Taliban gerade auf dem Gebiet erzkonservativer Familien- und Moralvorstellungen und gegenüber allen Regungen des sozialen oder politischen Aufbegehrens von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen keine Gnade kennen. Das trifft auch auf die demokratische Intelligenz sowie auf unterdrückte Nationalitäten und Glaubensgemeinschaften zu. Wahrscheinlich wird es auch zu Schauprozessen gegen Angehörige der gestürzten Regierung und KollaborateurInnen mit den Besatzungsmächten kommen.

Doch die Taliban können sich nicht nur auf die repressive Sicherung ihre Herrschaft und ihre Moralvorstellungen beschränken. Sie müssen auch eine marode kapitalistische Ökonomie irgendwie am Laufen halten und wiederbeleben, sie müssen ein zerfallendes Land regieren und zusammenhalten. Dazu werden sie nicht wenige ParteigängerInnen des alten Regimes, BürokratInnen, lokale Landlords, Wirtschaftstreibende, wenn auch unter „islamischen“ Vorzeichen in ihr Regime zu integrieren versuchen.

Daher auch die ständigen Versicherungen, dass die Talibankämpfer nicht plündern würden, dass das Geschäftsleben möglichst rasch weitergehen solle, dass niemand willkürlich enteignet werde. Auch die Scharia respektiert das geheiligte Privateigentum. Um ihre Herrschaft sozial zu stabilisieren, werden sie eventuell auch auf Wohlfahrtsprogramme für die Armen setzen, auch wenn unklar ist, woher diese Mittel kommen sollen.

Selbst wenn die Taliban im Inneren kurzfristig kaum eine/n politische/n oder militärische/n GegnerIn zu fürchten haben, so regieren sie ein geschundenes, desintegriertes Land, das wirtschaftlich und sozial am Boden liegt. Diese Hinterlassenschaft der alten Regierung, von Jahrzehnten Bürgerkriegen und vor allem von imperialistischer Besatzung und Plünderung lastet auch auf den Taliban.

Cui bono?

Das Schicksal des Landes wird daher auch unter den Taliban nicht selbstständig in Kabul entschieden werden. Während die westlichen BesatzerInnen fluchtartig das Land verlassen haben, brauchen die Taliban neue Verbündete und Schutzmächte, die wesentlich die Zukunft des Landes (mit)bestimmen werden.

Pakistan drängt sich hier als eine erste Macht auf. Im Unterschied zu allen anderen Ländern unterhielt es immer diplomatische Beziehungen zu den Taliban, die auch während des Krieges gegen den Terror ihre Büros in Pakistan weiter offenhalten konnten. Vor allem aber dienten die Grenzregionen als Rückzugsgebiete für Talibankämpfer und Logistik. Teile des pakistanischen Geheimdienstes und des Militärs unterhielten seit Gründung der Taliban enge Beziehungen mit diesen, bilden diese faktisch aus. Das erklärt auch, warum sie eine schlagkräftige und zentralisierte Armee aufbauen konnten.

Pakistan hat schon jetzt erklärt, dass es eine neue Regierung als erstes Land anerkennen will, und unterstützt offen deren Bildung als konstruktiver Vermittler, um die nächste Administration auf eine breite und inklusive Grundlage zu stellen. Dazu finden zur Zeit erste Konsultationen von VertreterInnen der pakistanischen Regierung und der Taliban in Islamabad statt.

Der Präsident des Landes Imran Khan kritisierte dabei offen die USA als verantwortlich für die Lage in Afghanistan, setzt auf ein gemeinsames Vorgehen von Regierung, Militär und Geheimdienst. Kurz gesagt, auch wenn Pakistan wahrscheinlich selbst eine längere Übergangsphase gewünscht hätte, so sieht es zur Zeit die Chance gekommen, sich als Regionalmacht zu stärken und einen dominierenden Einfluss auf die weitere Entwicklung in Afghanistan zu nehmen.

Natürlich sind der pakistanischen Regierung die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten dieses Unterfangens klar. Daher sucht sie auch, weitere PartnerInnen mit ins Boot zu holen. Vor allem geht es dabei um China und den Iran. China wurde in den letzten Jahren die dominierende imperialistische Macht in Pakistan. Zugleich verfolgt Peking sowohl ökonomische Interessen (Abbau von Rohstoffen in Afghanistan), geostrategische (Neue Seidenstraße) wie auch innenpolitische (Abwendung von Unruhen der UigurInnen). Falls Pakistan vermitteln kann und die Taliban garantieren, dass sie sich in innere Angelegenheiten Chinas nicht einmischen werden, steht guten Beziehungen zu einer neuen Regierung in Kabul wenig im Wege. Ähnliches mag für den Iran gelten, der seinerseits schon seit Jahren regelmäßige Konsultationen mit China und Pakistan durchführt.

Zu diesen dreien gesellt sich die Türkei. Imran Kahn hat bereits die Initiative ergriffen, Erdogan in die Gespräche über die Zukunft Afghanistans einzubeziehen. Und schließlich wird auch Russland direkt und als Schutzmacht der ehemaligen Sowjetrepubliken, die an Afghanistan grenzen, mit im Boot sitzen. Während die USA und die europäischen Länder ihre Botschaften geschlossen und ihren diplomatischen Stab abgezogen haben, agiert die russische Botschaft weiter. Russland und China haben bereits angekündigt, die neue Regierung anzuerkennen. Beide wollen das politische Vakuum füllen, das der Westen hinterlassen hat.

Auch das verweist auf eine Veränderung der Verhältnisse, die nur wenig mit den Taliban, aber viel mit der Entwicklung der Weltlage seit 2001 zu tun haben.

Auch wenn die USA und die EU weiter versuchen werden, Einfluss in Afghanistan auszuüben, wenn sie mehr oder weniger heftig mit Sanktionen und Abbruch diplomatischer Beziehungen drohen, sollten die Taliban das internationale Recht nicht respektieren, so wirken diese Drohungen wenig furchteinflößend. Der Abzug der westlichen Militärs, Botschaften, von JournalistInnen und Geschäftsleuten ist der schlecht verhüllte Abzug von VerliererInnen.

Auch wenn es unklar ist, ob und wie neue Mächte die veränderte Lage in Afghanistan nutzen werden, so wird dessen Neuordnung keinesfalls nur ein innere Angelegenheit der Taliban bleiben. Ironischer Weise werden sich diese reaktionären Pseudobefreier selbst wahrscheinlich rasch als Vasallen größerer Mächte und von deren wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen erweisen.

Perspektive

Für die Massen in Afghanistan brechen hingegen dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban wird faktisch alle Ansätze von demokratischen, von Frauenorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Kräften in die Illegalität treiben. Zugleich werden jedoch – wie in allen theokratischen Regimen – die gesellschaftlichen Widersprüche keineswegs verschwinden. Ausbrüche von Klassengegensätzen und anderen sozialen Konflikten – teilweise sogar eruptive – sind früher oder später unvermeidlich. Darauf müssen sich RevolutionärInnen in Afghanistan organisatorisch, politisch und programmatisch unter Bedingungen der Illegalität und der konspirativen Arbeit vorbereiten. Das bedeutet aber auch, sich klar zu werden über die wesentlichen Schwächen und Fehler der afghanischen Linken, die zumeist aus moskau- oder maostalinistischer Tradition kommen und in den letzten Jahren stark von sozialdemokratischen und liberalen Ideen beeinflusst wurden.

Zwei Lehren werden dabei zentral sein: Erstens muss der Kampf für demokratische und soziale Forderungen immer mit dem gegen imperialistische Besatzung verbunden werden. Zweitens und damit verbunden dürfen der Kampf für demokratische und soziale Verbesserungen und der für eine sozialistische Umwälzung nicht als Gegensatz oder gar als zeitlich und strukturell getrennte Etappen verstanden werden. Vielmehr verdeutlicht die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass die afghanische Revolution eine permanente im Sinne Trotzkis sein muss. Nur durch die Errichtung einer revolutionären ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung können die bis heute unerfüllten demokratischen Aufgaben im Rahmen einer sozialistischen Umwälzung gelöst werden. Wenn es die afghanische Linke, die fortgeschrittensten Teile der ArbeiterInnen-, der Frauenbewegung und der demokratischen Intelligenz vermögen, in der Illegalität eine solche revolutionäre Partei zu schaffen, dann können sie in der Lage sein, die nächste Krise des Landes im Interesse der ArbeiterInnenklasse und Bauern/Bäuerinnenschaft zu lösen.

Solidarität mit den Geflüchteten!

Die Entwicklung einer solchen Organisation stellt zweifellos eine langfristige Perspektive dar. Unmittelbar droht Millionen brutale politische Unterdrückung. Andere versuchen, in benachbarte Länder oder nach Europa zu fliehen.

Die imperialistischen Besatzungsmächte, die fluchtartig das Land verlassen haben, lassen nicht nur die meisten ihrer HelferInnen zurück. Vor allem wollen sie keine afghanischen Geflüchteten aufnehmen. Eine „Flüchtlingswelle“ soll verhindert werden. Wenn die Menschen schon vertrieben werden, sollen sie in angrenzenden Staaten wie Pakistan, Iran, Usbekistan oder der Türkei ausharren. Dabei ist die Verantwortung des Westens in kaum einem anderen Land so deutlich, sind imperialistischer Krieg und Besatzung so offenkundig Fluchtursachen. Umso zynischer ist es nun, für jene Menschen die Festung Europa dichtzumachen, deren Land von europäischen Truppen besetzt und verwüstet wurde. Doch damit nicht genug. Einige EU-Staaten wie Österreich sondieren sogar schon, wann sie die Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge wieder aufnehmen können.

Die Linke und die ArbeiterInnenbewegung müssen sich ohne Wenn und Aber für die Öffnung der EU-Grenzen für die Geflüchteten aussprechen. Wie die EU-Kommission oder die Regierung Merkel deutlich gemacht hat, wird das nur durch massive Mobilisierungen möglich sein. Die Aufnahme aller Geflüchteten, offenen Grenze und volle StaatsbürgerInnenrechte für alle sollte daher auch eine zentrale Forderung der Demonstrationen von #unteilbar am 4. September und darüber hinaus bilden.

Die zweite unmittelbar Lehre aus dem Afghanistankrieg muss lauten: Rückzug aller SoldatInnen der Bundeswehr und aller anderer imperialistischer Staaten nicht nur aus Afghanistan, sondern von allen Einsätzen – sei es unter UNO-, NATO- oder EU-Leitung! Nein zur Aufrüstung der Bundeswehr! Keinen Cent für Armee und Militarismus!




Afghanistan: 20 Jahre Krieg, Intervention, Besatzung

Martin Suchanek, Infomail 1157, 30. Juli 2021

Am 29. Juni zogen die letzten Kommandos der Bundeswehr nach fast 20 Jahren aus Afghanistan ab. Nachdem die USA den Rückzug ihrer Besatzungstruppen verkündet und vorverlegt hatten, hielt auch die deutsche Armee und die anderen NATO-Truppen nichts mehr im Land. Nach 20 Jahren Krieg und Besatzung hinterlassen sie – nicht als erste Invasionsmacht – ein ausgeblutetes Land.

Verbittert beklagen die Verbündeten des Westens den überhasteten Rückzug der NATO-Staaten. Sie fürchten, von den Taliban überrollt zu werden – und das, obwohl deren „endgültige“ Vertreibung und Vernichtung in den letzten 20 Jahren immer wieder versprochen worden war. Diese Ankündigungen der westlichen imperialistischen Mächte erwiesen sich wie zahlreiche andere vollmundige Reden über den Aufbau eines „demokratischen“ Afghanistan als leere Worte. Ernst gemeint waren sie ohnedies nie.

Vorwand

Als die USA und ihrer Verbündeten im Oktober 2001 Afghanistan angriffen, erfolgte diese Mission unter dem ideologischen Vorwand des „Krieges gegen den Terror“. Nach dem Angriff auf die Twin Towers (World Trade Center) in New York am 11. September 2001, bei dem rund 6.000 Menschen ums Leben kamen, machten die USA rasch Osama bin Laden und sein islamistisch-terroristisches al-Qaida-Netzwerk als Schuldige aus.

Da sich bin Laden zu diesem Zeitpunkt in Afghanistan aufhielt, wurde die Taliban-Regierung selbst für den Angriff mitverantwortlich gemacht und das Land zu einem Rückzugsraum für den Terrorismus erklärt.

Diese – nebenbei bemerkt sogar völkerrechtswidrige – Rechtfertigung sollte dafür herhalten, dass die USA nicht nur von al-Qaida, sondern auch von den Taliban angriffen worden wäre, was sie zu einem legitimen Ziel für einen Angriff der USA und ihrer Verbündeten machen würde.

Innerhalb weniger Tage und Wochen nutzten die US-Regierung unter Bush Jr. und seine neokonservativen BeraterInnen und StrategInnen das Entsetzen der amerikanischen Massen wie auch der internationalen Öffentlichkeit, um einen Angriff auf Afghanistan zu legitimieren, eine breite internationale Koalition zu bilden, der sich auch die rot-grüne deutsche Regierung ohne Zögern anschloss. Es gelang den USA damals, die Unterstützung fast aller Länder der Welt offen oder stillschweigend zu organisieren. Der Angriff der USA und ihrer Verbündeten wurde selbst von Ländern wie Russland und China akzeptiert. An Afghanistan angrenzende Länder (außer dem Iran) stellten Luftraum und Militärbasen zur Verfügung.

Die Kriegsziele beschränkten sich nicht auf die Vernichtung der Basen des „Terrorismus“. Der Sturz des Taliban-Regimes sollte auch eine neue Ära der Demokratie, der Menschenrechte, der Zivilgesellschaft, der Befreiung der Frauen … einläuten. Afghanistan sollte einen Regimewechsel erleben, der den Menschen auch materielle Verbesserungen und Demokratie bringen sollte.

Bis auf einige Ansätze demokratischer Verbesserungen trat nichts davon ein – und es war auch nie wirklich zu erwarten, dass diese Versprechungen erfüllt würden. Warum auch? Schließlich waren die USA und ihre westlichen Verbündeten selbst bereit gewesen, die ultrareaktionären Gotteskrieger der Mudschahedin im Kampf gegen die Regierung der Afghanischen Volkspartei und gegen die Sowjetunion zu unterstützen. Auch damals galten Demokratie und Frauenbefreiung nichts. Warum also sollte es unter US/NATO-Besatzung und einem mehr oder minder willfährigen „demokratischen“ Marionettenregime anders sein? Auf welche anderen Kräfte denn auf reaktionäre Taliban-GegnerInnen und Warlords, die selbst für Jahrzehnte von Bürgerkrieg und Verwüstung des Landes verantwortlich waren, sollte sich die westliche Besatzung im Inneren stützen?

Es gehört zu den Lebenslügen praktisch aller imperialistischen Interventionen – zumal der von westlichen Demokratien – den reaktionären und kollaborationsbereiten politischen und sozialen Kräften im Land die ausschließliche Verantwortung dafür in die Schuhe zu schieben, dass der demokratische und rechtsstaatliche Aufbau nicht so recht vorankommen will.

Grundsätzlich ging es beim Krieg den Terror auch nie darum. Die Formel diente vor allem zur Rechtfertigung von Interventionen der USA und ihrer Verbündeten, um einem umfassenderen Ziel näher zu kommen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion, in Osteuropa und China schien ein neues Zeitalter der USA-Hegemonie in Reichweite. US-StrategInnen wie Zbigniew Brzeziński formulierten das Ziel des US-Imperialismus, eine anhaltende „neue Weltordnung“ zu etablieren, in der dauerhaft das Auftauchen neuer RivalInnen um die globale Vorherrschaft verhindert werden sollte.

Diese Strategie ist, wie wir heute wissen, mit dem Aufstieg Chinas gescheitert. In den 1990er Jahren und am Beginn des 21. Jahrhunderts schien sie jedoch greifbar nahe. Die US-StrategInnen hatten in ihren Erwägungen die Kontrolle des eurasischen Raums als einen Schlüssel zur dauerhaften Vorherrschaft auf dem Globus ausgemacht. Diesem Ziel dienten der Angriff und die Invasion in Afghanistan (wie später auch Krieg und Besatzung des Irak).

Die USA und ihre Verbündeten verfolgten also in erster Linie geostrategische Ziele, die aus der Lage Afghanistans erwuchsen – nahe an den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und an China. Hinzu kamen auch wirtschaftliche Interessen im Land (Rohstoffe wie seltene Erden) und die Kontrolle über damals geplante Pipelines, die Öl aus den ehemaligen Sowjetrepubliken durch Afghanistan transportieren sollten.

Der Angriff war also Teil der US-Strategie zur Errichtung einer neuen Weltordnung. Die militärischen Angriffe wurden dabei pseudodemokratisch (Kampf für Menschenrechte) und rassistisch legitimiert als ultrareaktionärer, neokonservativer „Kampf der Kulturen“.

Damit war auch der Boden für eine staatlich forcierte Zunahme antimuslimischen und antiislamischen Rassismus bereitet, die nicht nur zur nationalistischen Mobilisierung im Inneren, sondern auch zur Rechtfertigung imperialistischer Angriffskriege und Besatzung beitragen sollte und beitrug.

Was westliche Verbünde der USA wie die Bundesrepublik betrifft, so beteiligte sie sich am Krieg und an der Besatzung natürlich auch nicht aus humanitären oder selbstlosen Gründen. Vielmehr wollten sie und die sich formierende EU bei der Neuordnung und Neuaufteilung der Welt auch ein Wörtchen mitreden – und das erforderte auch militärische Präsenz, den Aufbau und das Training einer kampfkräftigen Armee. Deutsche Interessen sollten, so der SPD-Verteidigungsminister Struck, auch am Hindukusch behauptet werden – und er verwies damit, wenn auch ungewollt, auf die neue, weltweite Ausrichtung des BRD-Imperialismus.

Rasche Eroberung – zähe Befriedung

Die USA und ihre Verbündeten konnten Afghanistan rasch erobern und teilten das Land faktisch in Besatzungszonen im Rahmen der Mission „Enduring Freedom“, die von 2001 bis 2014 dauerte. Die Die ISAF (International Security Assistance Force fungierte) als Besatzungstruppe. 2015 wurden „Enduring Freedom“ und ISAF unter dem Namen „Resolute Support Mission“ weitergeführt, deren offizielles Ziel darin bestand, die afghanischen Streitkräfte aufzubauen, zu schulen und zu befähigen, das Land ohne Besatzungstruppen zu kontrollieren.

Bestand das ursprüngliche Ziel darin, die Taliban vollständig zu vernichten, so erwies sich dies bald als unmöglich – nicht zuletzt, weil sie auch einen Rückzugsraum in Pakistan fanden und dort von Teilen des Staatsapparates gestützt wurden, der darin ein Mittel sah, selbst zu einem wesentlichen Faktor in Afghanistan zu werden.

Ab 2005/6 vermehren sich wieder Angriffe und Operationen der Taliban. Aus diesem Grund verstärkte Barack Obama in den ersten Jahren seiner Amtszeit noch einmal die Truppen und Kriegsanstrengungen der USA.

In diesen Jahren waren bis zu 130.000 Mann reguläre US-Truppen plus noch einmal so viele Sicherheitsdienste im Land stationiert, flankiert von anderen NATO-Kontingenten, darunter über 5.000 der Bundeswehr.

Barbarische Kriegsführung

Dass die Taliban nicht besiegt werden konnten, lag zwar auch daran, dass sie Rückzugsraum im unwegsamen Gelände und in Pakistan fanden. Vor allem aber lag es an zwei anderen Faktoren: a) der verheerenden, barbarischen Kriegsführung der imperialistischen Mächte; b) der Unfähigkeit und Unwilligkeit, das Land wirtschaftlich zu stabilisieren und aufzubauen.

In den 20 Jahren Krieg und Besatzung starben rund 240.000 AfghanInnen im Land oder bei Bombardements und Operationen in Pakistan.

Während die NATO-Besatzungsmächte insgesamt rund 3.500 Tote zu beklagen hatten – davon rund 2.500 die USA und 59 die Bundeswehr – so kamen rund 70.000 afghanische Sicherheitskräfte, rund 70.000 ZivilistInnen und 100.000 wirkliche oder vermeintliche KämpferInnen der Taliban um.

Wie barbarisch der Krieg geführt wurde – und zwar keineswegs nur oder in erster Linie von den Taliban – bezeugen die regelmäßigen Flächenbombardements und Luftangriffe auf wirkliche und vermeintliche Stellungen von TerroristInnen. Letztere – Angriffe auf eigentlich ZivilistInnen – ziehen sich wie ein roter Faden durch den Krieg, natürlich auch mit Beteiligung der Bundeswehr.

Den traurigen Höhepunkt solcher Schlächtereien unter nachweislicher Beteiligung deutscher Armeeangehöriger bildete der Luftangriff auf einen Tanklaster bei Kundus im September 2009, dem 142 ZivilistInnen zum Opfer fielen, weil der deutsche Oberst Klein diese irrtümlich für TerroristInnen gehalten hatte. Für dieses Kriegsverbrechen wurde bis heute niemand zur Rechenschaft gezogen. Klein wurde im April 2013 zum Brigadegeneral befördert.

Diese Art der Kriegsführung, der Tausende und Abertausende AfghanInnen zum Opfer fielen, verdeutlicht mehr als tausend Erklärungen den imperialistischen, barbarischen Charakter der Besatzung – und warum das ganze Gerede von Menschenrechten unglaubwürdig war und sein musste.

Verwüstetes Land

Auch wirtschaftlich erwies sich die westliche Besatzung als unfähig, das Land voranzubringen oder auch nur ein ökonomisch einigermaßen stabiles Vasallenregime zu errichten. Die Besatzung hat vielmehr die Rückständigkeit des Landes perpetuiert und seine Abhängigkeit verschärft.

  • Das betrifft die neoliberale Öffnung der Ökonomie für Investitionen und Gewinntransfers für ausländisches Kapital, die Einführung eines 20 %igen Flatrate-Steuersatzes und die Verdrängung einheimischer Produktion durch die ausländische Konkurrenz.
  • Die zivile Zusammenarbeit wurde zudem eng an militärische Vorgaben geknüpft, was etliche NGOs kritisierten. Faktisch kontrollierten Militärs auch die zivile und wirtschaftliche Zusammenarbeit; damit war ziviler Aufbau auch in die Besatzung integriert und verhasst.
  • Die Ökonomie stagnierte faktisch (und war schon vorher nach Jahrzehnten von Bürgerkriegen am Boden). Die Importabhängigkeit führte außerdem zu einem massiven Handelsbilanzdefizit und einer Zunahme der Auslandsverschuldung.
  • Alles dies mündete in dauerhafter und extremer Armut: Von den 38 Millionen EinwohnerInnen sind 80 % arbeitslos oder gehen einer Arbeit nach, die nicht existenzsichernd ist. Rund 60 % der Kinder leiden unter Mangelernährung. Wie zur Zeit der Taliban-Herrschaft lebt heute etwas die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Nur rund ein Viertel der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser.
  • Krieg und Verfall der Agrarproduktion führten zu einer massiven Flucht- und Migrationsbewegung vom Land in die Städte. Das Wachstum der Städte ist v. a. eines der Slums, wo heute geschätzte 86 % der urbanen Bevölkerung leben.
  • Der Krieg machte rund 7 Millionen zu Geflüchteten, davon 4 Millionen Binnenflüchtlinge. Die 3 Millionen, die ins Ausland flohen, leben zur Zeit vor allem in Pakistan und im Iran. Die westlichen Demokratien verweigern den meisten Menschen den Zugang oder schieben sie gar weiter ab.
  • Die „Demokratie“ steht naturgemäß auf wackeligen Beinen. Sie ist wenig mehr als eine Form der Aufteilung der Pfründe zwischen nationalistischen, reaktionären Eliten und Warlords. Staatliche Institutionen, Armee, Sicherheitskräfte werden von diesen Kräften dominiert, kassieren deren Beute.
  • Seit 2014 stellt die Besatzungspolitik im Grunde die Verwaltung eines Desasters dar.

Abzug

Der Abzug unter Biden, dem sich auch alle anderen Besatzungstruppen anschlossen, kommt letztlich nicht überraschend. Überraschend war nur seine überhastete Art.

Finanziell erwies sich die gesamte Operation als kostspielig und Fass ohne Boden. Allein die USA kosteten die Besatzung, die militärischen Operationen und damit verbundene Ausgaben in den letzten 20 Jahren rund 2.261 Milliarden (=2,2 Billionen) US-Dollar. Deutschland hat nach offiziellen Zahlen 12,5 Milliarden Euro für den Bundeswehreinsatz verbraten. Die Gesamtkosten dürften aber deutlich höher liegen.

Für die NATO-Mächte geht es jedoch vor allem um die politische Bilanz des Krieges. Und die ist negativ. Der Abzug der USA und ihrer Verbündeten ist der gescheiterter imperialistischer Mächte. Er stellt eine Niederlage dar, auch wenn die US-Regierung unter Biden und ihre Verbündeten das gern beschönigen wollen. Für die Bundeswehr und die Bundesregierung bleibt unterm Strich immerhin das zweifelhafte Plus, dass die Streitkräfte fitter für imperialistische Interventionen, für Kampfeinsätze und für das Töten geworden sind – also vorbereitet für weiter Auslandseinsätze wie z. B. in Mali.

Insgesamt bedeutet der Rückzug eine Niederlage in mehrfacher Hinsicht:

  • Er verdeutlicht, dass die USA und ihre Verbündeten nicht in der Lage waren, Afghanistan in ihrem Interesse neu zu ordnen. Sie konnten die Marionettenregierung nicht stabilisieren und auch keine Machtteilung mit den Taliban organisieren. Natürlich werden vor allem die USA, ihre Marine, ihre Luftwaffe und Spezialkräfte weiter eine Rolle spielen – aber letztlich keine dominierende.
  • Ob die Taliban das gesamte Land einnehmen oder zu einem Kompromiss mit der Regierung kommen, hängt natürlich nicht nur vom militärischen Kräfteverhältnis ab, sondern auch davon, wie andere Mächte – vor allem China und Russland, aber auch wichtige regionale Player wie Pakistan oder Iran und die Türkei – agieren.
  • Für sie bietet der Abzug der USA eine Chance – andererseits fürchten auch sie eine weitere Destabilisierung des Landes und einen Zerfall. Vor allem China hat den „überhasteten“ Abzug der USA kritisiert, weil es die wirtschaftlichen und politischen Unwägbarkeiten der Lage fürchtet. Für sein Projekt der „Neuen Seidenstraße“ kann China keinen Bürgerkrieg brauchen und auch keine reine Tabilan-Herrschaft, zumal diese auch Verbindungen zu den national unterdrückten UigurInnen unterhalten. Pakistan kommt somit als vom chinesischen Imperialismus mehr und mehr dominierter Halbkolonie eine wichtige Rolle für eine etwaige Neuordnung des Landes zu – wobei jedoch verschiedene Kräfte im pakistanischen Staatsapparat unterschiedliche Ausrichtungen im Land verfolgen.
  • Auch wenn die Zukunft des Landes schwer genau vorhersehbar ist, so können wir von weiterer Instabilität ausgehen, die ihrerseits selbst eine Folge der reaktionären Besatzung sein wird, die keines der Probleme des Landes zu lösen vermochte.

Was tun?

Die Besatzung hat zu einer Situation geführt, die für die afghanischen Massen als hoffnungslos erscheint. Es droht eine Machtübernahme und brutale Diktatur für die ArbeiterInnen, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die Intelligenz, alle säkularen Kräfte, vor allem für Frauen, aber auch ethnische, nationale und religiöse Minderheiten.

Die Kriegsführung, die räuberische Plünderung des Landes wie auch die Form des Abzuges, das Fallenlassen der ehemaligen Beschäftigen der NATO-Kräfte wie der Bundeswehr zeigen, dass sich die afghanische Bevölkerung auf diese „westlichen FreundInnen“ nicht verlassen darf. Sie hat schon jetzt einen viel zu hohen Preis für falsche Hoffnungen in diese bezahlt.

Ebenso wenig sollte sie freilich anderen Mächten wie China und Russland oder Pakistan vertrauen. Auch für diese geht es nur um ökonomische und geostrategische Interessen.

Schließlich sollten die Massen auch keine Hoffnungen in die Regierung oder in den Präsident Ghani hegen – auch ihnen dienen Demokratie oder Frauenrechte allenfalls als Verhandlungsmasse mit den Taliban.

Es gibt jedoch eine städtische ArbeiterInnenklasse – vor allem ein riesiges Subproletariat –, eine Bauern-/Bäuerinnenschaft, eine lohnabhängige Intelligenz, Ansätze von Gewerkschaften, Frauenorganisationen, die ihr Schicksal auch unter diesen Umständen in die eigenen Hände nehmen können und müssen.

Dazu müssen sie die Bewaffnung der Massen, vor allem der ArbeiterInnen, der Bauern und Bäuerinnen, der Frauen, der Minderheiten fordern; sie müssen von einfachen SoldatInnen fordern, Soldatenkomitees zu bilden, die dies unterstützen und mithelfen, das zu erzwingen.

In den Städten und auf dem Land müssen Aktionsräte gebildet und koordiniert werden, die die Verteidigung gegen Angriffe der Taliban, aber auch gegen andere reaktionäre Kräfte organisieren.

Auf diesem Weg können Organe der Selbstorganisation der Massen aufgebaut werden, die auch eine Alternative zum bestehenden korrupten, reaktionären und repressiven Staatsapparat und zur herrschenden Klasse des Landes darstellen. So wichtig dabei Fragen der Selbstverteidigung, der Sicherung und Ausweitung demokratischer Rechte sind, so müssen diese mit sozialen Fragen und der Kontrolle der Verteilung knapper Güter in Stadt und Land verbunden sein. Die Kontrolle über Hilfsgelder, über die Rohstoffe, die bestehende Produktion und die Umsetzung eines Notplans zur Versorgung der Bevölkerung sind unmöglich ohne die Enteignung aller kapitalistischen Großunternehmen, aller ausländischen InvestorInnen (ob aus den USA, Europa oder China), ohne Streichung der Auslandschulden.

Diese Forderungen müssen auch alle InternationalistInnen, alle linken, demokratischen und ArbeiterInnenorganisationen weltweit und vor allem in den Ländern erheben, die Afghanistan über Jahrzehnte ruiniert und verwüstet haben. Die USA, Deutschland und die anderen NATO-Staaten müssen gezwungen werden, die Kosten für den Wiederaufbau zu zahlen – und zwar ohne Bedingungen. Zugleich müssen die Lohnabhängigen, die Frauen, die Bauern-/Bäuerinnenschaft in Afghanistan kontrollieren, wofür diese Mittel verwendet werden. Diese Kontrolle kann letztlich nur dann von Dauer sein kann, wenn Selbstverteidigungsorgane und Räte selbst die Macht übernehmen und eine auf diese gestützte ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung bilden. Nur so kann das Land aus dem Teufelskreis von Reaktion und imperialistischer Besatzung und Plünderung gerissen werden.




Afghanistan: USA verlassen ein verwüstetes Land

Dave Stockton, Infomail 1156, 21. Juli 2021

Kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag der Erklärung von George W. Bushs Krieg gegen den Terrorismus verkündete der jetzige US-Präsident Joe Biden den endgültigen Abzug der verbliebenen 2.500 US-Truppen aus Afghanistan. Die US-Streitkräfte verließen Bagram, den riesigen, befestigten Luftwaffenstützpunkt, ohne die afghanischen Regierungstruppen auch nur zu benachrichtigen, woraufhin die PlünderInnen anrückten. Biden hat sich bei seinem Rückzug als überstürzter und bedingungsloser erwiesen als Obama oder Trump, die beide darauf erpicht waren, aus dem afghanischen Sumpf herauszukommen.

Zynismus

Wenn irgendetwas mit der Zerstörungskraft der „humanitären“ Invasionen und Besetzungen der USA konkurriert, dann sind es die Nachwirkungen ihres Rückzugs. Die Taliban, das Ziel von Bushs und Blairs vermeintlichem Befreiungskrieg, versuchen nun die Kräfte des korrupten und inkompetenten Regimes aufzurollen.

Biden, mit atemberaubendem Zynismus, lieferte das endgültige Urteil über Amerikas längsten Krieg: „Wir machen kein Nation Building“. In der Tat! Nach den Ergebnissen der Invasion in Afghanistan und im Irak und der Bombardierung Libyens und Syriens können Sie das wieder sagen, Herr Präsident.

Zu Beginn des Krieges gegen den Terror prahlte der gerade verstorbene ehemalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nach der erfolgreichen Invasion des Iraks: „Ich lege keine Sümpfe an“. Aber er tat es!

Heute, auch wenn „Stiefel“, also Truppen auf dem Boden zu teuer und kontraproduktiv geworden sind, wird Biden wohl kaum die Bomben- und Drohnenangriffe stoppen, die von den großen US-Basen auf der arabischen Halbinsel oder der 5. Flotte im Golf gestartet werden, sofern es seiner Meinung nach eine „reale und akute Gefahr“ für die strategischen und wirtschaftlichen Interessen der Klasse gibt, die er vertritt. In der Tat macht der neue Kalte Krieg mit China und Russland, der bereits im Anfangsstadium ist, dies zu einer Gewissheit.

Für den Moment ist jedoch klar, dass die US-AmerikanerInnen ihren Krieg gegen die Taliban verlorengegeben haben. Obwohl in Doha gerade ein weiteres Waffenstillstandsabkommen vereinbart wurde, wird es, selbst wenn es hält und in ein vollständiges Friedensabkommen umgewandelt wird – und das ist ein großes WENN –, zu den Bedingungen der Taliban zustande kommen. Ein Aufgebot von Welt- und Regionalmächten versucht, jede Einigung zu beeinflussen, und keine von ihnen wird sich als humanitärer oder befreiender erweisen als die scheidenden „demokratischen Imperialismen“.

Seit dem 1. Mai haben die Taliban die Zahl der von ihnen kontrollierten Bezirke verdoppelt und wichtige Zollposten wie Spin Boldak an der pakistanischen Grenze übernommen, über die Heroin im Wert von Milliarden von US-Dollar in die Hafenstadt Karatschi gelangt, was einen großen Beitrag zu ihrer Kriegskasse leistet. In der Nähe von Herat haben sie auch den Grenzübergang Islam Qala eingenommen, und im Norden Afghanistans belagern sie praktisch die sechstgrößte Stadt des Landes, Kundus.

Misserfolg

Trotz der US-NATO-Siege in Afghanistan 2001 und im Irak 2003, trotz der späteren Zerstörung des ISIS-„Kalifats“ im Nordirak und in Syrien und der Tötung von Osama Bin Laden in seinem Versteck in Abbottabad war demnach der Krieg gegen den Terrorismus ein gigantischer, wenn auch zerstörerischer Misserfolg. Er hat die Städte und die Infrastruktur dieser Länder verwüstet und Millionen von Menschen ins Ausland oder intern in elende Lager vertrieben.

Was den „internationalen Terrorismus“ betrifft, so haben sich in den letzten Jahren dschihadistische Gruppen wie Boko Haram in den Staaten des subsaharischen Afrika ausgebreitet. Lokale Ableger von al-Qaida, ISIS und anderen Gruppen führen weiterhin regelmäßig Guerillakriege und verüben Terroranschläge und inspirieren „einsame Wölfe“ zu Anschlägen in Europa.

Die Zahl der verlorenen oder zerstörten Leben ist hoch. Seit 2001 wurden mehr als 775.000 US-amerikanische SoldatInnen nach Afghanistan geschickt, viele von ihnen zu wiederholten Einsätzen. Viele sind seelisch vernarbt und brutalisiert nach Hause gekommen. 2.300 wurden im Einsatz getötet und 20.589 schwer verwundet (Zahlen des US-Verteidigungsministeriums). Dies hat das Land 2,26 Billionen US-Dollar gekostet.

Natürlich musste die afghanische Bevölkerung einen noch höheren Blutzoll zahlen. Die Zahl der Todesopfer der Regierungstruppen liegt bei über 70.000 und die der Taliban wird auf 51.000 geschätzt. Noch höher sind die Verluste an zivilen Opfern. Mehr als 71.000 sind während des Konflikts im afghanisch-pakistanischen Kriegsgebiet gestorben.

Der Höhepunkt des Engagements der USA und der NATO lag zwischen 2010 und 2012 unter Obama, der mit dem Versprechen gewählt wurde, den Krieg zu beenden, dann aber einen militärischen Vorstoß mit dem unglaublichen Namen Operation Enduring Freedom (Operation Dauerhafte Freiheit) startete, begleitet von massiven Drohnenbombardements sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan, mit hohen zivilen Opfern. Dies wie auch Bushs Bemühungen, die Taliban zu unterdrücken, scheiterten zum Teil daran, weil sie die nicht so geheime Unterstützung von Elementen der pakistanischen Sicherheitskräfte hatten.

Unter Obama, Trump und Biden haben diese fruchtlosen Kosten, menschlich und materiell, die permanente militärische und politische Elite der USA eindeutig davon überzeugt, dass das Engagement in Afghanistan sinnlos und im Vergleich zu ihrer wachsenden Konzentration auf China nicht mehr von großer geostrategischer Bedeutung ist.

Hier müssen sie vielleicht vorsichtig sein: Afghanistan könnte ein wichtiges Bindeglied in Xi Jinpings „Belt and Road“-Projekt sein, der sog. neuen Seidenstraße. Die ChinesInnen verhandeln darüber schon lange sowohl mit der afghanischen Regierung als auch mit den Taliban. Es wäre eine Erweiterung des 62 Milliarden US-Dollar schweren Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridors, CPEC. Obwohl sich die fortgesetzte Unterdrückung der UigurInnen als Hindernis erweisen könnte, ist China bereits ein Akteur der neuesten Ausformunen im großen Machtspiel.

Der pakistanische Geheimdienst ISI wird weithin dafür verantwortlich gemacht, dass nicht nur die Mudschahidin, die die Sowjets in Afghanistan bekämpften, sondern auch die Taliban entstanden sind. Seitdem hat er bei kritischen Gelegenheiten hinter den Kulissen interveniert. Jetzt sieht der ISI Afghanistan als strategischen Stützpunkt gegen seinen großen Rivalen Indien.

Selbst wenn die Verhandlungen in Doha dazu führen, dass die Taliban die wichtigsten Städte nicht einnehmen (Kabul, Kandahar, Herat, Masar-e Scharif, Kundus, Jalalabad), wird die Zukunft der städtischen Bevölkerung, der Frauen und der nationalen und religiösen Minderheiten düster sein und die Zahl der Flüchtlinge wird zweifellos steigen.

Es ist offensichtlich, dass, obwohl die vom westlichen Imperialismus unterstützten Regierungen das Bildungswesen für Frauen wieder geöffnet und erweitert und sich Frauenbefreiungsbewegungen, StudentInnen- und ArbeiterInnenorganisationen entwickelt haben, all dies wieder einmal wie in früheren Perioden auf ausländischer Vorherrschaft beruhte und keine Wurzeln in der Mehrheit der Bevölkerung schlagen konnte. Ohne die Umgestaltung des ländlichen Lebens und die Einführung einer direkten Demokratie für alle, die in den Häusern, auf den Feldern und in den Fabriken arbeiten, bleiben selbst beschränkte Fortschritte anfällig für einen sozialen und politischen Rückschritt. Eine Revolution von oben ruht immer auf dem schwächsten aller Fundamente.

Lehren

Jahrhundertelang kamen die intervenierenden Mächte – das britische Raj (Britisch-Indien von 1858 – 1947), die Sowjetunion, die USA und morgen vielleicht China – aus ihren eigenen geostrategischen Gründen und nicht aus irgendeiner Art selbstloser Förderung von Modernisierung, Demokratie oder Frauenbefreiung. Nur wenn die Intelligenz, die ArbeiterInnen und die arme Dorfbevölkerung des Landes mit einer revolutionären Partei die Kontrolle über ihr Schicksal übernehmen, kann der Kreislauf aus von außen aufgezwungenen korrupten Regimen, reaktionären terroristischen Aufständen und Stammeskriegsherren durchbrochen werden.

In der Zwischenzeit können fortschrittliche Kräfte mit größerer Repression rechnen, was auch immer bei einer „Friedensregelung“ in Doha herauskommt. Afghanistan hat eine bedeutende linke Tradition, wenn auch eine, die vom Stalinismus in seiner sowjetisch-russischen oder maoistischen Version mit ihrer Etappentheorie und Perspektive des Sozialismus in einem Land dominiert wird. Ihre AnhängerInnen wurden in die sowjetische Intervention/den Rückzug im späten Kalten Krieg hineingezogen.

Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass kleine Teile der linken Tradition die Fragen des Programms neu überdenken und sich mit Trotzki und der Theorie der permanenten Revolution und der Taktik, die sie zum Ausdruck bringt, auseinandersetzen. Sie verdienen sicherlich jede mögliche ideologische, materielle und moralische Unterstützung, um die vor ihnen liegende Probezeit der Illegalität zu überstehen.

In den Ländern, die den langen Krieg gegen Afghanistan angezettelt haben, in erster Linie die imperialistischen NATO-Staaten, muss die internationale ArbeiterInnenbewegung auf die Aufnahme jeder neuen Flüchtlingswelle und ihre Versorgung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen drängen. Schon jetzt sind viele AfghanInnen dem harschen Empfang der Festung Europa im Mittelmeer und Einreiseverboten in die USA ausgesetzt. In Pakistan stehen fortschrittliche Kräfte vor ähnlichen (in bestimmten Fällen genau denselben) Problemen und werden es gut verstehen, die Solidarität auszuweiten.

Nicht zuletzt muss die Linke in den imperialistischen Staaten ein genaues Auge auf „unsere eigenen Imperialismen“ werfen, die auf einen ausgewachsenen Konflikt mit den „neuen“ Imperialismen und ihren regionalen Verbündeten beschleunigt zusteuern. Auf ihrem Höhepunkt mobilisierte die Antikriegsbewegung 2001 – 2003 weltweit Millionen auf den Straßen gegen die NATO-Invasion und die Besatzungen, aber ihre reformistischen FührerInnen hielten die ArbeiterInnenbewegung von direkten Massenaktionen zur Beendigung des Krieges ab und trugen damit eine Mitverantwortung für die Schrecken der letzten 20 Jahre. In einem direkten Zusammenstoß zwischen den Imperialismen werden diese Schrecken ans Tageslicht kommen.

Hier sollten wir uns an die Betonung des Internationalismus erinnern, mit der Marx die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1864 enden lässt:

„Wenn die Emanzipation der Arbeiterklassen das Zusammenwirken verschiedener Nationen erheischt, wie jenes große Ziel erreichen mit einer auswärtigen Politik, die frevelhafte Zwecke verfolgt, mit Nationalvorurteilen ihr Spiel treibt und in piratischen Kriegen des Volkes Blut und Gut vergeudet? Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heroische Widerstand der englischen Arbeiterklasse gegen ihre verbrecherische Torheit bewahrte den Westen Europas vor einer transatlantischen Kreuzfahrt für die Verewigung und Propaganda der Sklaverei. Der schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord des heroischen Polen und der Erbeutung der Bergveste des Kaukasus durch Rußland zusahen; die ungeheueren und ohne Widerstand erlaubten Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf zu St. Petersburg und deren Hand in jedem Kabinett von Europa, haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig zuvorzukommen, sich zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen.“

In einer Zeit der sich verschärfenden Rivalität zwischen imperialistischen und regionalen Mächten mögen Zusammenstöße an „fernen Orten“ für die ArbeiterInnenbewegungen der älteren imperialistischen Mächte keine offensichtliche Sorge darstellen, außer vielleicht, wenn sich Flüchtlingsströme ihren Grenzen nähern. Tatsächlich berühren sie aber die Lebensinteressen der internationalen ArbeiterInnenklasse. Der überstürzte Rückzug der Westmächte wird von Versuchen begleitet sein, ihre Verantwortung für die neuen Gräueltaten zu tilgen, die ein BürgerInnenkrieg und die Restauration der Taliban mit sich bringen werden.

Außerdem leben in vielen imperialistischen Staaten beträchtliche Massen migrantischer  ArbeiterInnen und von Flüchtlingen, die aus Ländern stammen, in die ihre HerrscherInnen einst einmarschiert sind oder die sie besetzt haben, und die eine wichtige Rolle beim Aufbau einer internationalen ArbeiterInnenbewegung in Solidarität mit fortschrittlichen Kräften in ihren Heimatländern spielen könnten. Sie können ein wichtiger Teil einer neuen, einer fünften Internationale sein; einer, die helfen kann zu verhindern, dass auch die ArbeiterInnen der halbkolonialen und imperialistischen Länder in weitere Kriege mit unvorstellbarer Zerstörung hineingezogen werden.




Pakistan: Klerikalfaschismus erhebt wieder sein hässliches Haupt

Minerwa Tahir, Infomail 1147, 25. April 2021

Die Kräfte des klerikalen Faschismus, verkörpert durch die Tehreek-e-Labbaik Pakistan (Bewegung „Ich bin da, Pakistan“; TLP), haben ihre wachsende Stärke mit Massendemonstrationen in ganz Pakistan geltend gemacht. Die Situation stellt eine potenzielle Gefahr für die Organisationen und Kämpfe der arbeitenden Massen, der Frauen, geschlechtlichen und nationalen Minderheiten sowie aller anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft dar.

Reaktionäre Mobilisierung und Staat

Im Zentrum der reaktionären Mobilisierungen steht die Forderung, dass Pakistan den französischen Botschafter ausweist, weil die französische Regierung nicht gegen die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ vorgegangen ist, als diese Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlichte. Im vergangenen November, nachdem die TLP zu Massendemonstrationen mobilisiert hatte, versprach Premierminister Imran Khan, das Parlament innerhalb von drei Monaten in die Lösung der Situation einzubeziehen.

Als die Frist näher rückte, hatte die Regierung nichts unternommen. Das pakistanische Kapital hat eindeutig kein Interesse daran, die Beziehungen zu den imperialistischen Staaten zu kappen, und Khan hatte das sogar ganz offen gesagt. Der Hauptanführer der TLP, Saad Rizvi, veröffentlichte ein Video, in dem er seine AnhängerInnen aufrief, sich auf einen „langen Marsch“ gegen die Regierung vorzubereiten. Am 12. April schlugen die Behörden zurück und verhafteten Rizvi. Innerhalb weniger Stunden begannen im ganzen Land Sitzstreiks. In allen größeren Städten kam es zu schweren Ausschreitungen des Mobs, bei denen mehrere Menschen, darunter auch PolizistInnen, getötet wurden. TLP-Mitglieder blockierten viele wichtige Auto- und Eisenbahnen und unterbrachen den gesamten Reiseverkehr von und zu den wichtigsten Städten.

Die Regierung ging daraufhin dazu über, die TLP zu verbieten, ein Schritt, der von weiten Teilen der liberalen Intelligenz beklatscht wurde. Polizei und paramilitärische Truppen gingen hart gegen die TLP vor, und es wurde berichtet, dass mehr Menschen getötet wurden. Die TLP behauptete: 45. Die Regierung unterbrach auch die Internetverbindung in größeren Städten, darunter Lahore. Als Reaktion darauf mobilisierte die TLP ihre Massenunterstützung und nahm 11 PolizistInnen als Geiseln, nachdem sie eine Polizeistation in Lahore gestürmt hatte. Das Ausmaß der Mobilisierung, die das Land tatsächlich zum Stillstand brachte, unterstreicht die Anziehungskraft und die breite Unterstützung der TLP.

Der Druck auf die regierende rechtsgerichtete PTI-Partei (Tehreek-e-Insaf Pakistan; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) wuchs, als andere religiöse Parteien den Aufruf zu einem landesweiten Streik gegen die Regierung unterstützten. Auch die Tehreek-e-Taliban Pakistan (Bewegung der pakistanischen Taliban) bot der TLP ihre Unterstützung an. Einer ihrer Führer begrüßte die Geste nicht nur, sondern kündigte an, an der Seite der Taliban zu den Waffen zu greifen, falls ihre Forderungen nicht erfüllt würden.

Auch innerhalb der PTI kam es zu Spannungen, als ein Minister damit drohte überzulaufen, wenn das Verbot gegen die TLP nicht aufgehoben würde. Angesichts dessen beschloss die Regierung, in Verhandlungen einzutreten, und der Premierminister selbst verkündete im Fernsehen, dass seine Regierung und die TLP das „gleiche Ziel“ hätten, die Blasphemie auf der ganzen Welt zu bekämpfen, nur ihre Methoden seien unterschiedlich. Khan glaubt weiterhin, dass eine geeinte Haltung der weltweiten muslimischen Ummah (Gemeinschaft) die imperialistischen Zentren rational davon überzeugen könnte, keine religiösen Gefühle zu provozieren, indem sie heilige Figuren des Islam respektlos behandeln. Er versteht entweder nicht, oder er entscheidet sich dafür, die Rolle solcher islamfeindlichen Aufwiegelungen in Ländern wie Frankreich zu ignorieren, wenn deren rechte Regierungen sich unter dem Druck sozialer Bewegungen wiederfinden.

Teilsieg der TLP

Die Verhandlungen zwischen der PTI-geführten Regierung und den klerikalen FaschistInnen waren schließlich „erfolgreich“, als die TLP zustimmte, die Proteste abzubrechen, im Austausch für die Zustimmung der Regierung, in der pakistanischen Nationalversammlung eine Resolution gegen die französische Regierung einzubringen. Die Regierung stimmte auch zu, einige Anklagen gegen TLP-Mitglieder zurückzuziehen.

Imran Khan und seine Regierung mögen gedacht haben, dass ihre rechtspopulistische Rhetorik ihre Unterstützung in der Bevölkerung stärken würde, aber die wahrscheinlichste Folge ihres Rückzugs wird sein, dass sie die Kräfte des klerikalen Faschismus ermutigen werden. Sie mögen zugestimmt haben, ihre Proteste vorerst einzustellen, aber sie werden sicher nicht vergessen, dass sie das ganze Land innerhalb weniger Stunden zum Stillstand gebracht haben. Die Geschichte des Faschismus zeigt, wie er immer klein anfängt und durch solche Siege ermutigt wird.

In diesem Szenario ist auch die Rolle der sogenannten Opposition in Pakistan nicht fortschrittlich. Sowohl die Pakistanische Muslimliga – Nawaz, PML-N, die Partei des ehemaligen Premierministers Nawaz Sharif, als auch der Vorsitzende der Pakistanischen Demokratiebewegung, einer Allianz der Mainstream-Oppositionsparteien, Maulana Fazl- ur-Rehman, haben den Schritt zur Ausweisung des französischen Gesandten offen unterstützt. Die Illusionen der liberalen Linken verflüchtigen sich, während die vermeintlich fortschrittliche bürgerliche Opposition weiterhin dem vorherrschenden rechten Bewusstsein und Druck nachgibt.

Sozialer Hintergrund

Die Proteste der TLP fanden nicht in einem Vakuum statt, sondern in einer Zeit der verschärften Wirtschaftskrise, in der verschiedene Schichten der ArbeiterInnenklasse, Frauen sowie nationale und andere Minderheiten tapferen Widerstand geleistet haben. Im Jahr 2019 wandte sich die PTI-geführte Regierung an den Internationalen Währungsfonds IWF, um ein Rettungspaket zu erhalten, aber natürlich war der Deal an Bedingungen geknüpft.

Die Krise verschärfte sich im darauffolgenden Jahr noch weiter, da die globale Pandemie die ArbeiterInnenklasse, die unteren Mittelschichten sowie die Armen in den Städten und auf dem Land schwer traf. Die einfachen Massen sterben ohne einen Zugang zu qualitativ hochwertiger medizinischer Behandlung oder zu Impfstoffen, während ganze Familien der bürgerlichen Elite in ihren klimatisierten Salons geimpft werden. Diejenigen, die nicht an der Pandemie gestorben sind, werden von Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit hart getroffen. Der Lebensstandard bricht zusammen, da extrem hohe Inflationsraten mit einer Kürzung aller Subventionen dank der „Strukturanpassungen“ des IWF einhergehen.

Währenddessen verteilte die neoliberale Regierung milliardenschwere Hilfspakete an das Großkapital. Sie behauptete, sie könne nicht die Grundbedürfnisse des Lebens für die arbeitenden Massen garantieren, aber sie hatte genug, um die ohnedies immens Reichen zu versorgen.

Da die Klassenungleichheiten immer krasser werden und die ArbeiterInnenklasse keine revolutionäre Partei hat, die ihre Interessen verteidigt, können die Kräfte der Reaktion an die Gefühle der einfachen Massen appellieren, die nach einem Ausweg aus dem Wahnsinn der verfallenden Wirtschaft suchen. Im Jahr 2017, als die Sharif-Regierung mit einer ähnlichen sozialen Krise kämpfte und als auch die TLP mobilisiert hatte, tauchte die PTI als Alternative nicht nur für Teile des Kapitals auf, sondern auch als Antwort auf die Frustrationen großer Teile der Mittelklassejugend und junger ArbeiterInnen, die einen Ausweg aus dem Elend von Arbeitslosigkeit und Armut suchten.

Die damalige Popularität der PTI kann nicht nur als eine Verschwörung verstanden werden, die von mächtigen Teilen des Staates inszeniert wurde. Sie war eine Kombination, die Unterstützung aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft anzog, die sich von der PML-N und der PPP (Pakistanische Volkspartei) abwandten. Auch die Militärelite brauchte etwas Neues, um die Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten – eine Aufgabe, bei der die PML-N und PPP zunehmend versagten. Die PTI versprach Arbeitsplätze für die wachende Bevölkerung. In Kombination mit Khans Opposition gegen die US-Drohnenangriffe präsentierte sich die PTI als eine Partei, die Pakistan unabhängig von der US-Außenpolitik aufbauen wollte.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Wahlen 2018 durch beispiellose Manipulationen getrübt wurden. Aber es wäre falsch zu bestreiten, dass die Massen die PTI als Alternative zur Herrschaft der PML-N/PPP sahen. In Ermangelung einer revolutionären Partei der ArbeiterInnenklasse ist es keine Überraschung, dass die werktätigen Massen von der einen oder anderen „neuen“ bürgerlichen Alternative beeinflusst werden. Da solche Parteien natürlich nicht die Interessen der Lohnabhängigen und Unterdrückten vertreten, leiden sie weiterhin unter jeder neuen Regierung und die Verzweiflung wächst. Eine Ausrichtung der Klasse auf ihre eigenen Interessen kann nur erreicht werden, wenn die heranreifenden objektiven Bedingungen von einem auch ideologisch revolutionären subjektiven Faktor begleitet werden.

Die aktuelle soziale Krise zeigt deutlich einen Rechtsruck, der durch staatliche Gewalt, die, von bürgerlichen Liberalen fröhlich gefeiert, weiter angeheizt wurde. Dieser Rechtsruck hat begonnen, das Bewusstsein nicht nur von Teilen der Mittelschichten und des Lumpenproletariats zu beherrschen, sondern auch der am meisten unterdrückten Schichten der ArbeiterInnenklasse.

Basis der TLP

Was die klerikalfaschistische TLP betrifft, so ist klar, dass es für diese Partei angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der sunnitischen Barelvi-Sekte der Hanafi-Schule nicht schwer ist, auch jene Schichten der Mittelschichten und des Lumpenproletariats zu mobilisieren, die noch nie organisiert waren. Alles, was sie tun muss, ist, mit der Erzählung von der Gefahr, die dem Islam angeblich droht, hausieren zu gehen. Auch hier gilt: Ohne eine revolutionäre Alternative sorgen die bestehenden Bedingungen in einem verarmten halbkolonialen Staat wie Pakistan dafür, dass die Religion die Massen beherrscht.

Die Tatsache, dass der Faschismus sogar zur Ideologie von rückständigen ArbeiterInnen werden kann, sollte nicht überraschen, insbesondere unter den spezifischen Bedingungen Pakistans, die die anhaltende Herrschaft der Religion mit einer anhaltenden sozialen Krise verbinden. Wie Trotzki in Bezug auf Mussolinis Italien feststellte: „Die faschistische Bewegung in Italien … ging aus dem Kleinbürgertum, dem Slumproletariat und sogar bis zu einem gewissen Grad aus den proletarischen Massen hervor.“

MarxistInnen sind keine Liberalen, weshalb wir bei der Definition von Faschismus Vorsicht walten lassen. Nicht jede kapitalistische Reaktion ist faschistisch. Um den Faschismus zu verstehen, müssen wir seine soziale Basis, seine Form, die Klasseninteressen, denen er dient, und seine spezifischen Merkmale betrachten. Wir müssen den Aufstieg des Faschismus als einen Prozess analysieren und nicht als ein einmaliges Ereignis. Man wacht nicht plötzlich eines Tages auf und stellt fest, dass man unter Faschismus lebt. Wir müssen ihn in seiner Entwicklung verstehen.

Die Art und Weise, wie die TLP in der Lage war, Massen zu mobilisieren, die Gewalt des Mobs zu entfachen, verzweifelte KleinbürgerInnen und Lumpenproletarier an Waffen auszubilden und sogar dazu überzugehen, Polizeikräfte anzugreifen, ist ein Grund zur Sorge. Noch besorgniserregender ist jedoch, welchen Klasseninteressen sie dient. Im Namen des Islam nivelliert der Klerikalfaschismus Klassenunterschiede und ruft zu einer Einheit zwischen verschiedenen sozialen Klassen mit antagonistischen Beziehungen auf. Eine solche Verflachung bedeutet notwendigerweise, die Interessen einer Klasse über die der anderen zu stellen. Wie man in vielen Kämpfen sehen kann, sind es nie die Interessen der arbeitenden Massen, die diese Kräfte verteidigen. Tatsächlich bestand, wie Trotzki betonte, das Hauptziel des Faschismus in der Geschichte in der Vernichtung von ArbeiterInnenorganisationen und der „Vereitelung der unabhängigen Kristallisation des Proletariats“, wodurch es auf eine amorphe, atomisierte Masse reduziert wurde.

Ein wesentliches Merkmal des Faschismus ist sein tiefes Eindringen in die Massen, um diese unabhängige Kristallisation des Proletariats zu vereiteln. Wie könnte das in Pakistan aussehen? Die klerikalen FaschistInnen haben in den Slums, den „katchi abadis“, in verschiedenen Städten und Kleinstädten, besonders in der Provinz Punjab, stark Fuß gefasst. Wenn sie anfangen sollten, den Eintritt von SozialistInnen in diese Viertel zu kontrollieren, wäre das ein Hindernis für die ArbeiterInnen, sich durch gemeinsame Aktionen zu einer Klasse zu kristallisieren.

Natürlich würden die objektiven Bedingungen die große Mehrheit dieser Bevölkerungen immer noch ausbeuten und unterdrücken, aber ihr Elend würde ihnen entweder als Strafe für ihre eigenen oder die Sünden der Gesellschaft und ihren Mangel an Religiosität erklärt werden oder als Prüfung ihrer Geduld und Dankbarkeit gegenüber Gott, für die sie im Jenseits eine Belohnung erhalten werden. Die einfachen Massen würden auf hilflose AnbeterInnen reduziert, die um Vergebung oder Verbesserung der Bedingungen beten müssen, anstatt aktive AgentInnen der sozialen Veränderung gegen die Klassenherrschaft zu werden. In der Zwischenzeit würde jede sozialistische Organisation, die versuchen würde, in diese Wohnviertel einzudringen, mit Schikanen, wenn nicht sogar mit körperlichen Angriffen und realen Bedrohungen ihres Lebens konfrontiert werden. Dies würde effektiv bedeuten, dass SozialistInnen (oder, was das betrifft, jede Art von sozialen AktivistInnen) die katchi abadis und andere Viertel, die von den klerikalen FaschistInnen kontrolliert werden, nicht betreten könnten.

Ausmaß der Gefahr und die Linke

Faschismus an der Regierung ist eine Form der Klassenherrschaft, die der Gesellschaft aufgezwungen wird, wenn „normale“ Regierungsformen nicht in der Lage sind, die Widersprüche der Gesellschaft einzudämmen. Er ist die Folge der Unfähigkeit der ArbeiterInnenklasse, sich selbst am Steuer des Geschehens zu platzieren. Gegenwärtig glauben wir nicht, dass das Großkapital, weder das lokale noch das imperialistische, eine TLP-geführte Regierung will, weshalb ihre Chancen, eine solche Macht zu erlangen, gering sind. Solange solche Kräfte jedoch ArbeiterInnen- und Frauenmobilisierungen unterdrücken, Streikpostenketten durchbrechen und die wirklich demokratischen Kämpfe der PaschtunInnen und vieler anderer Minderheiten angreifen können, handeln sie im Interesse des Großkapitals. Die TLP ist eine faschistische Kraft, die wächst und ihre Macht ausbaut. Ihr Ziel ist es, die kleinbürgerlichen, lumpenproletarischen und politisch rückständigen Massen zu mobilisieren, um die verbliebenen demokratischen Rechte des Volkes im Allgemeinen und der ArbeiterInnenklasse im Besonderen zu zerstören.

Die linken Gruppen in Pakistan haben entweder keine Analyse der aktuellen Situation zu bieten (ein Blick auf die Website der Awami Workers‘ Party, AWP, liefert den Beweis) oder sie spielen deren Bedeutung als konspirativen „Start“ einer reaktionären Partei herunter, wie Adam Pal von der International Marxist Tendency, IMT, es ausdrückte. Ihm zufolge genießt die TLP keine Unterstützung in der Bevölkerung, und ihre Führung hat versagt, die Massen zu mobilisieren. Es scheint, dass der Genosse seine Analyse mit geschlossenen Augen geschrieben hat. Andere denken, sie könnten getrost und selbstgefällig zusehen, wie der Staat einige dieser antisozialen Elemente tötet. Imran Kamyana, ein führendes Mitglied von „The Struggle“, schrieb zum Beispiel auf Facebook: „Wenn Faschismus mit Faschismus kollidiert, ist es nicht notwendig, dass man mit dem Opium der eigenen Gewaltlosigkeit eingreift. Manchmal kann man auch schweigen.“

Diese „AnführerInnen“ erkennen nicht, dass staatliche Gewalt in solchen Fällen nur zur Popularität der klerikalfaschistischen Kräfte beiträgt. Noch wichtiger ist, dass solche staatlichen Antworten oft ein Vorwand für die staatliche Verfolgung seiner wahren FeindInnen sind, wie wir an der rassistischen Behandlung von PaschtunInnen im Namen der Bekämpfung der Taliban-TerroristInnen gesehen haben. Es gibt bereits Berichte über sunnitische Männer im Punjab, die vom Staat aufgegriffen werden.

Die Art von Mobgewalt, die die TLP ausübte, indem sie die vollstreckende Gewalt des bürgerlichen Staates herausforderte, zeigt deutlich, dass sie nicht einfach eine andere reaktionäre Organisation ist. Sie ist eine Partei, die aus der Verherrlichung von Mumtaz Qadri hervorging, einem Polizeischutzmann, der den Gouverneur des Punjab, Salmaan Taseer, erschoss, weil er eine fälschlicherweise der Blasphemie beschuldigte Christin verteidigte. Hätten ArbeiterInnen das Chaos verursacht, das die TLP in den letzten Tagen angerichtet hat, wären sie sicherlich innerhalb weniger Minuten niedergeschossen worden. Die Gefahren, die durch den Aufstieg der klerikalen FaschistInnen der TLP entstehen, sind sehr real. Sie stellen eine unmittelbare, physische Bedrohung für die Interessen und Organisationen der ArbeiterInnen und armen Bauern und Bäuerinnen sowie der Frauen und nationalen und sozialen Minderheiten dar.

Antifaschistische Einheitsfront

Wir können uns nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen, um diesen Kräften zu begegnen, wir müssen uns auf unsere eigene Stärke und Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse verlassen. Doch dabei müssen wir jedoch die Realitäten vor Ort anerkennen. Das Lage ist, gelinde gesagt, nicht rosig. Aber den Kopf in den Sand romantischer Vorstellungen über die ArbeiterInnenklasse zu stecken, hilft niemandem.

Die erste Aufgabe aller Kräfte der ArbeiterInnen- und fortschrittlichen Bewegungen, die den Aufstieg des Klerikalfaschismus stoppen wollen, liegt darin, die politische Alarmglocke zu läuten. Man darf angesichts der unmittelbaren und zukünftigen Gefahr nicht selbstgefällig sein. Die zwischen der TLP und der Regierung getroffenen Abmachungen werden die Moral der Rechten stärken. Dies wird zukünftige organisierte Angriffe auf den Straßen fördern und neue Kräfte aus dem verzweifelten Kleinbürgertum, dem Lumpenproletariat und sogar rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse anziehen.

Diese Gefahr ist besonders groß, weil die wirtschaftliche, soziale und politische Krise, die diese Kräfte hervorgebracht hat, weiter andauern wird und sich die Lebensbedingungen von Millionen noch weiter verschlechtern werden. Die KlerikalfaschistInnen werden versuchen, sich als pseudoradikale Alternative zu den Regierungsparteien und der bürgerlichen Opposition zu präsentieren. Die Massenbewegungen der national Unterdrückten und die aufstrebende Frauenbewegung werden in der kommenden Periode die Hauptziele der Rechten markieren. Das Gleiche wird für die kämpfenden ArbeiterInnen gelten, sobald ihre Forderungen und Streiks als „antiislamisch“ gebrandmarkt werden.

Deshalb dürfen die Gewerkschaften, die linken Parteien und Organisationen, die Frauenbewegung, die StudentInnen und die Jugend, die Bewegungen gegen nationale Unterdrückung keine Zeit verlieren: Sie müssen jetzt mit dem Aufbau einer antifaschistischen Einheitsfront beginnen.

Vor diesem Hintergrund rufen wir die Organisationen der ArbeiterInnen, der StudentInnen, der Frauen und der geschlechtlichen Minderheiten, der armen Bauern und Bäuerinnen sowie der nationalen und religiösen Minderheiten auf, ein antifaschistisches Bündnis auf der Grundlage einer gemeinsam vereinbarten Aktion zu bilden. Dies wäre ein erster Schritt in Richtung Bildung einer antifaschistischen Einheitsfront.

Eine Informationskampagne über die aktuelle Gefahr wäre eine zentrale Aufgabe dieses Bündnisses, in der die wahren Pläne der KlerikalfaschistInnen vor den einfachen Massen erklärt und bloßgestellt werden. Noch wichtiger ist, dass es ein Bündnis zur Verteidigung der Organisationen der ArbeiterInnenklasse und deren Wohnviertel, der Frauen, der sozial und national Unterdrückten durch die Bildung von Organisationen zur Selbstverteidigung verkörpern muss.

Für ihren Erfolg und ihre Entwicklung ist es jedoch entscheidend, eine solche Einheitsfront als Teil des allgemeinen Klassenkampfes zu verstehen, um ihre Wirksamkeit zu gewährleisten. Um den Aufstieg des Klerikalfaschismus zu stoppen, müssen die ArbeiterInnenklasse und ihre Verbündeten auch die soziale Krise, das wirtschaftliche Elend und die politische Unterdrückung im Lande angehen, sie müssen den Kampf gegen den Faschismus mit dem gegen die kapitalistische Krise und Ausplünderung verbinden.

Deshalb denken wir, dass wir neben dem Aufruf an die bestehenden Organisationen eine Strategie entwickeln müssen, um unsere zahlenmäßige Schwäche zu überwinden, indem wir aktiv Massenorganisationen der ArbeiterInnen und eine revolutionäre Partei der ArbeiterInnenklasse aufbauen. Die soziale Krise in Pakistan stürzt die ArbeiterInnenklasse und die unterdrückten Schichten der Gesellschaft immer wieder in spontane Aktionen. Dieser fehlt jedoch die Fähigkeit, die Kräfte zu bündeln und zum Kampf um die Macht vorzubereiten. Um den Kapitalismus und damit den Aufstieg des Faschismus wirksam zu besiegen, brauchen wir jedoch die Macht der ArbeiterInnen. Und um die Verwirklichung dieses Sieges der einzigen revolutionären Klasse über die Bourgeoisie sicherzustellen, brauchen wir eine revolutionäre Partei, die über eine klare Strategie und ein entsprechendes Aktionsprogramm verfügt.




Wir werden nie wieder schweigen! Solidarität mit Pakistans Frauenbewegung!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1142, 17. März 2021

Gewalt gegen Frauen und Fälle von Vergewaltigungen in Pakistan hatten sich in den letzten sechs Monaten des Jahres 2020 verdoppelt. Fälle von Kindesmissbrauch hatten sich gar verdreifacht. Dabei müssen wir bedenken, dass das pakistanische System notorisch dafür bekannt ist, sich durch extrem hohe Dunkelziffern auszuzeichnen. Opfer zögern oft, Anzeigen zu erstatten, da sie weiteren Missbrauch durch Polizei, RichterInnen und die Öffentlichkeit fürchten. Darüber hinaus muss in vielen solcher Fälle mit Rache oder Ehrenmorden seitens der eigenen Verwandtschaft gerechnet werden, da wie in Deutschland die meisten Missbrauchsfälle in der Familie stattfinden.

Unter diesen Umständen gingen im vierten Jahr Tausende von Frauen in den urbanen Zentren Pakistans auf die Straße, um beim so genannten Aurat March (Frauenmarsch) ihre Stimme zu erheben. Die Liga für die Fünfte Internationale sieht sich als Teil dieser Bewegung und verteidigt sie bedingungslos gegen jeden Angriff von rechts.

In der Tat war der diesjährige Frauentag eine Demonstration der Stärke und des Stolzes.  Unsere Genossinnen und Genossen, ob männlich, weiblich oder nicht-binär, nahmen überall dort teil, wo Märsche stattfanden. Der Protest war eine Bestätigung dafür, dass der Aurat March „gekommen ist, um zu bleiben“. Trotz der anhaltenden Pandemie hatten sich Tausende versammelt, um demokratische, soziale und individuelle Rechte zu fordern. Diese Forderungen beschränkten sich nicht nur auf die Frauenbewegung. Sie berührten auch die Kämpfe unterdrückter nationaler, religiöser und sexueller Minderheiten.

Selbstbestimmung!

Seit dem letzten Jahr hatten die DemonstrantInnen begonnen, den Slogan mera jism, meri marzi (Mein Körper, meine Entscheidung) zu popularisieren, einen Slogan, den wir aus tiefster Überzeugung unterstützen. Denn wir glauben, dass es die Entscheidung jeder Frau ist, ja die Entscheidung jeder einzelnen Person, einer körperlichen oder geistigen Interaktion zuzustimmen oder sie abzulehnen. Jeder Mensch muss das Recht haben, informierte Entscheidungen in Bezug auf seinen eigenen Körper und seine Handlungen zu treffen, solange sie nicht die Freiheit eines anderen einschränken. Durch die Hervorhebung dieses einfachen Konzepts der Selbstbestimmung ist der Slogan bestens geeignet, um gegen Missbrauch, Belästigung und Vergewaltigung zu kämpfen.

Denn einfach nur ein Ende des Missbrauchs zu fordern, ist zwar völlig richtig, aber eine eingeschränkte Forderung. In diesem Szenario steht immer noch die Beschneidung der Möglichkeiten des/r Missbrauchenden, in die Freiheit einer anderen Person einzugreifen, im Mittelpunkt. Der/die Missbrauchende, meist ein „Er“, bleibt das primäre Subjekt. Mera jism, meri marzi hingegen bringt klar zum Ausdruck, dass Frauen, ja alle, die mit Missbrauch konfrontiert sind wie Kinder, sexuelle Minderheiten und die Unterdrückten im Allgemeinen Subjekte in ihrem eigenen Recht sind. Nur eine Gesellschaft, die dies akzeptiert, wird Frauen als die gleichberechtigten Menschen behandeln, die sie sind. Nur eine Gesellschaft, die sich dieses Verständnis zu eigen macht, kann eine der Voraussetzungen für die Verwirklichung des vollen Potenzials der Menschheit erfüllen. Mera jism, meri marzi ist also eine zentrale demokratische Forderung. Denjenigen, die diese erheben, die Unterstützung oder den Schutz zu verweigern, stellt daher auch den demokratischen Charakter jeder Partei oder staatlichen Institution in Frage, die sich dazu entschließen sollte.

Dies ist der wahre Kontext, in dem sich der diesjährige Backlash gegen den Aurat-Marsch entfaltet hat. Pakistans rechte Mullahs, was auch immer sie behaupten, stehen Frauen keine vollen Menschenrechte zu. In ihrem Gefolge entfalteten rechte JournalistInnen und PolitikerInnen eine schändliche Hetzkampagne. Sie haben gezeigt, dass sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen und obendrein ideologisch bankrott sind.

Reaktionäre Angriffe

Anders als in den Vorjahren unterzogen sie sich in vielen Fällen nicht einmal der Mühe, reaktionäre Positionen gegen die wirklichen Argumente und Forderungen des Marsches zu formulieren. Sie starteten eine Kampagne, die in erster Linie auf Fake News und der Erstellung falscher Inhalte mit Hilfe von Deep-Fake-Technologie basierte.

Erstens: Sie behaupteten, die DemonstrantInnen hätten in Islamabad die französische Flagge getragen. Tatsächlich bezogen sie sich dabei auf die der Women Democratic Front, der Hauptorganisatorin des Aurat-Marschs in der Hauptstadt. Die Farben der Organisation sind rot, weiß und lila und stehen für Sozialismus, Frieden und Feminismus. Die Intention der Rechten war es, die Bewegung so als eine ausländische Verschwörung darzustellen.

Die Wahrheit ist jedoch, dass patriarchale Unterdrückung ein einheimisches Problem ist. Gleichzeitig ist es aber natürlich eines, das sich nicht nur auf Pakistan beschränkt. Frauenunterdrückung ist ein globales Problem und Teil des patriarchalischen Kapitalismus. Deshalb kämpfen und protestieren Frauen auf der ganzen Welt schon seit mehr als einem Jahrhundert gemeinsam gegen ihn. Das Datum des internationale Frauentags, der 8. März, geht einerseits auf einen Streik der von New Yorker Textilarbeiterinnen im Jahr 1857 zurück. Andererseits erhielt dieses Datum wegen der Februarrevolution internationale Bedeutung, nachdem russische Frauen im Jahr 1917 eine Revolution gegen Imperialismus, Ausbeutung und Krieg begonnen hatten. In den folgenden Jahren wurde der Frauentag, der bereits 1911 zum ersten Mal international begangen wurde, immer am 8. März gefeiert.

Die demokratischen Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten sind also keine westliche Verschwörung, wie es die Rechten in Pakistan darstellen. Sie sind hart erkämpfte Zugeständnisse, die den Händen der gleichen Art von mächtigen Männern und den herrschenden Klassen im Westen  entrissen wurden, die auch in Pakistan Frauen unterdrücken. Unsere Bewegung sollte nicht defensiv mit dieser Tradition des Internationalismus umgehen. Stattdessen müssen wir sowohl uns selbst als auch die pakistanische ArbeiterInnenklasse und Frauenbewegung über unsere stolzen Traditionen aufklären.

Wenn die Rechten jedoch die „ausländische“ Karte spielen, nutzen sie auf demagogische Weise  reale Gefühle des Leidens unter vergangener und gegenwärtiger imperialistischer Herrschaft aus. Dennoch wird ihre Heuchelei sofort offensichtlich, wenn wir das Schweigen dieser selbsternannten „AntiimperialistInnen“ zu Fragen des tatsächlichen Imperialismus betrachten. Diese FundamentalistInnen erhielten ihre Waffen in den 1980er Jahren von den US-Geheimdiensten, beziehen ihre Gelder von saudischen Aristokraten, schweigen zu der heutigen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorherrschaft des chinesischen und US-amerikanischen Kapitalismus in Pakistan und verteidigen gleichzeitig lauthals Gesetze wie Abschnitt 377, die von den britischen KolonialherrInnen auf den Subkontinent gebracht wurden (Red.: Abschnitt 377 ist das so genannte „Sodomie-Gesetz“). Für sie bedeutet „Antiimperialismus“, demokratische Rechte vorzuenthalten und Frauen in Fesseln zu legen.

Die Wahrheit ist also, dass die imperialistische Herrschaft durch kein rechtsnationalistisches Konzept überwunden werden kann. Dessen Politik ist immer dazu verdammt, im besten Falle antiimperialistisch in Worten zu sein, während seine tatsächliche Politik in Abhängigkeit von dem einen oder anderen imperialistischen Lager verbleibt. Der Imperialismus kann nur durch einen internationalistischen Kampf der Unterdrückten weltweit überwunden werden. In diesem Kampf spielt die pakistanische Rechte eine zerstörerische Rolle und faktisch dem Imperialismus in die Hände.

Zweitens behaupteten die Mullahs, dass die Ausstellung eines roten Tuchs mit der Aufschrift „Ich war neun, er war fünfzig. Ich wurde zum Schweigen gebracht, seine Stimme ist heute noch in der Moschee zu hören“ ein Akt der Blasphemie sei. Dies, so sagen sie, sei eine Anspielung auf den Propheten (Friede sei mit ihm) und seine (dritte) Frau Aisha. Dies ist jedoch eine Lüge. Das genannte Tuch bezog sich auf einen Qari (Red.: Schriftgelehrter), der ein junges Mädchen belästigt hatte, das zum letztjährigen Aurat March kam. Es war Teil einer Protestaktion in Lahore, bei der Opfer von Missbrauch, Belästigung und Vergewaltigung gebeten worden waren, Hemden aufzuhängen oder auf roten Schals über ihre Erfahrungen zu schreiben.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass eine große Zahl von Mullahs in Pakistan ihre Machtposition ausnutzt, um Kinder psychisch, physisch und sexuell zu missbrauchen. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von den überwiegend männlichen Geistlichen in anderen Ländern oder anderer Konfessionen. Dies ist keine Frage des Glaubens. Es ist eine Frage von mächtigen Männern, die das Vertrauen, das eine abhängige Gemeinschaft in sie setzt, ausnutzen und verletzen. Wenn jemand eine Sünde begangen hat, dann sind es diese Männer, die ihre eigenen Verbrechen gegen die Gemeinschaften, die sie zu vertreten vorgeben, zu vertuschen suchen, indem sie falsche Informationen herstellen oder verbreiten.

Drittens war ein Video des Marsches in Karatschi mit Bearbeitungsprogrammen gefälscht worden. Wo DemonstrantInnen in Wirklichkeit „Mullahs müssen auch zuhören“ riefen, hieß es nun „Allah muss auch zuhören“. Dies ist ein weiterer Versuch, die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Schuldigen abzulenken. Was der Aurat March fordert, ist, dass auch Mullahs zur Verantwortung gezogen werden müssen. Sie sind Menschen wie der Rest von uns und dürfen keine besonderen Privilegien genießen. Dass sie es wagen, sich der Rechenschaftspflicht zu entziehen, indem sie ihren Namen mit dem Allahs, subhanahu wa ta-ala, gleichsetzen, ist beschämend, geschmacklos und respektlos gegenüber den muslimischen Gemeinschaften, die sie zu vertreten vorgeben.

Doch wo Worte nichts mehr nützen, kommt Gewalt ins Spiel. Und das ist es, was diese Rechten im Sinn haben. Das ist der Grund für die Todesdrohungen der pakistanischen Taliban gegen die OrganisatorInnen des Aurat March. Unfähig, die tägliche Gewalt in ihren Häusern weiter zu verbergen, die durch die Enthüllungen, Slogans und Forderungen des Marsches offengelegt wird, drohen sie nun damit, die Gewalt auf die Straße zu bringen. Dass dies die Wahrheit ist, zeigte ein Angriff auf Mitglieder der Progressive Youth Alliance durch den fundamentalistischen Studentenflügel Islami Jamiat-e-Talaba, nur weil erstere einen Stand gegen sexuelle Übergriffe auf einem Campus in Karatschi organisiert hatten.

Perspektiven und Aufgaben

Hier müssen wir für einen Moment innehalten. Womit drohen sie uns eigentlich? Sie drohen uns, damit wir die Gewalt wieder im Geheimen ertragen. Das bedeutet aber unweigerlich, dass diese weitergeht. Das ist keine Option für uns! Wir werden nie wieder zum Schweigen gebracht werden.

Damit eröffnet sich aber ein wichtiges Szenario. Es zeigt, dass sich diese Kräfte einerseits ernsthaft bedroht fühlen. Und in der Tat, auch wenn der Aurat March heute kein sozialistisches Programm vertritt, hat es die Bewegung erfolgreich geschafft, ein wachsendes kollektives Bewusstsein von Frauen für patriarchale Unterdrückung quer durch alle Klassen zu schaffen. Dies ist eine echte Errungenschaft, die niemand leugnen kann.

Dennoch ist die Bewegung eindeutig nicht auf eine direkte Konfrontation mit rechten Kräften vorbereitet. Der ideologische Einfluss, den der Aurat March hat, ist groß, aber er muss genährt werden. Währenddessen sind die realen organisatorischen Kräfte keinesfalls vergleichbar mit jenen der Rechten. Wir dürfen zwar keine Position aufgeben, müssen aber sozusagen die Schützengräben sichern.

Praktisch bedeutet das, sich auf die Umwandlung der wachsenden Sympathien von Frauen aus der ArbeiterInnenklasse und den unterdrückten Klassen in echte Unterstützung, Beteiligung und schließlich Führung der Frauenbewegung zu konzentrieren. Das wird natürlich bedeuten, die aufgebauten Verbindungen zu den Gemeinden und Organisationen der ArbeiterInnenklasse zu vertiefen. Aber mehr als das, es wird auch bedeuten, die Probleme, Forderungen und Strategien der arbeitenden Frauen in den Vordergrund zu stellen. Aktuelle Bewegungen wie die der Gesundheitsarbeiterinnen im Punjab sind es, mit denen wir uns auseinandersetzen und letztlich verbinden müssen.

Einige haben kritisiert, dass der Aurat March nur eine eintägige Veranstaltung ist. Und ja, das ist ein Problem. Aber wir müssen diese Frage pro-aktiv begreifen. Als SozialistInnen glauben wir nicht, dass uns Kritik allein weiterbringen wird. Stattdessen rufen wir alle, die eine Bewegung arbeitender Frauen aufbauen wollen, dazu auf, unsere Kräfte, Erfahrungen und bereits bestehenden Versuche zu bündeln. Denn die einzige Kraft, auf die wir letztlich vertrauen können, ist die unsere.

Aufgrund unserer eigenen heutigen Schwäche ist es verständlich, dass Führungspersönlichkeiten und Personen des Aurat March, die zur Zielscheibe von Todesdrohungen durch die pakistanischen Taliban geworden sind, den Staat um Schutz gebeten haben. Wir erkennen an, dass sie jedes Recht haben, um rechtlichen und persönlichen Schutz zu bitten. Ebenso denken wir, dass Eröffnung von Verleumdungsklagen gegen TäterInnen, die Fake News verbreiten, um Lynchmorde zu provozieren, eine berechtigte Taktik sein kann. Nicht primär deswegen, weil so in der Zukunft derartige gestoppt werden können. Vielmehr deswegen, weil ein solcher Prozess genutzt werden kann, um der gesamten Nation medienwirksam alle Fakten darzulegen, inklusive der größten Wahrheit, dass die rechten Mullahs Lügner sind.

Wir müssen jedoch davor warnen, dass der pakistanische Staat selbst für Frauen der oberen Mittelschicht bestenfalls ein wankelmütiger Freund ist. In der Tat ist er für die breite Masse der Frauen überhaupt kein Freund. Auch wenn sich viele dessen bewusst sind, ist es wichtig, dies vollständig zu verstehen, es wirklich zu verinnerlichen, damit unsere Bewegung die richtigen Prioritäten setzen kann. Und manchmal ist das Einzige, was uns die Kraft gibt, das Richtige zu tun, uns einer beängstigenden Situation bewusst und mit aller Klarheit zu stellen.

Ungeachtet dessen ist Moral von großer Wichtigkeit. Oft entscheidet sie über den Ausgang einer Auseinandersetzung. Gemeinschaft und Solidarität zu erleben, ist das, was so vielen unserer Kämpfe Leben einhaucht. Aus diesem Grund appellieren wir an die Frauen- und ArbeiterInnenbewegung der ganzen Welt, sich mit unserer Bewegung zu solidarisieren. Wir bitten Euch, Diskussionen über unseren Kampf zu führen, Artikel über unsere Kämpfe zu veröffentlichen, Proteste zu organisieren und Botschaften der Solidarität zu senden.

Die größte Stärke unserer Bewegungen war es immer, gemeinsam zu kämpfen, in Solidarität voneinander zu lernen in unseren gemeinsamen Kämpfen gegen Unterdrückung, Kapitalismus und Imperialismus. Wir werden nicht zulassen, dass die pakistanische Rechte uns unserer größten Stärke beraubt. Wir werden nie wieder schweigen!




Terroranschlag in Wien

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1125, 10. November 2020

Am 2. November, dem letzten Tag vor der Einführung nächtlicher Ausgangsbeschränkungen, hat sich in Wien der erste größere Terroranschlag seit Jahrzehnten ereignet. Ein Anhänger des sogenannten Islamischen Staats (IS) hat am Abend im ersten Bezirk, in der Gegend des Schwedenplatzes, vier Menschen ermordet, viele weitere verletzt und die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Darüber hinaus hat er wieder einmal den reaktionären Charakter des Dschihadismus offenbart, der eine kulturelle und religiöse Spaltung provoziert und in dieser Nacht unschuldige ArbeiterInnen getroffen hat.

Hintergründe

Wie mittlerweile bekannt, handelt es sich bei dem 20-jährigen Angreifer, der von der Polizei erschossen wurde, um einen in Österreich aufgewachsenen Jugendlichen. Kein „importierter Terrorist“, wie es spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise von den Medien und den rechten Parteien immer geheißen hatte. Er hatte sowohl die österreichische als auch die mazedonische StaatsbürgerInnenschaft. Die Tatsache, dass der Täter in Österreich aufgewachsen ist und die österreichische StaatsbürgerInnenschaft besitzt, scheint den meisten etablierten Parteien sauer aufzustoßen. Jetzt sollen Menschen, die sich terroristischen Vereinigungen anschließen, zu „AusländerInnen“ gemacht werden, indem ihnen die österreichische StaatsbürgerInnenschaft entzogen wird. Diese Forderung stellt in der jetzigen Situation die SPÖ auf – eine Forderung, die letztes Jahr noch von der FPÖ kam, und von der Sozialdemokratie damals abgelehnt wurde.

Die genauen Hintergründe der Tat sind noch nicht gänzlich aufgeklärt. Es wirkt so, als ob sich der Anschlag in Wien in eine Reihe von anderen Attacken international einreihen würde. Was alle diese gemein hatten, war, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zentral vom Islamischen Staat geplant und durchgeführt wurden wie noch die Terroranschläge vor einigen Jahren (Charlie Hebdo, Bataclan, LKW-Amokfahrt in Nizza etc.), was in erster Linie daran liegen dürfte, dass der Islamische Staat seine Machtbasis in Syrien und dem Irak verloren hat.

Rassismus und Antirassismus

Die Reaktionen auf das Attentat in Wien waren sehr gemischt. Auf der einen Seite gab es den zu erwartenden antimuslimischen Rassismus von Seiten der FPÖ. Auch die Identitäre Bewegung bzw. ihre Tarnorganisation versuchte, die Tat für sich zu nutzen, und veranstaltete am 5. November einen Miniaufmarsch, der aber von aktiven AntifaschistInnen teilweise blockiert und verzögert werden konnte.

Die Regierung versuchte hingegen, eine Stimmung der nationalen Einheit und des nationalen Zusammenhalts zu beschwören. Während wir gegen jegliche Spaltung der Gesellschaft nach Religion oder Herkunft auftreten, kann es für uns keine Einheit mit dem Kapital und seiner Regierung geben, die die kapitalistische Ausbeutung und die imperialistische Abhängigkeit aufrechterhält und täglich für den Tod von Menschen im Mittelmeer verantwortlich ist. Insbesondere im Zuge des verheerenden (Nicht-)Managements der Coronavirus-Pandemie und der kürzlich verschärften Beschränkungen kam ihr der Anschlag vermutlich durchaus gelegen, um von ihrem Versagen abzulenken. Gleichzeitig ist wahrscheinlich, dass von Seiten der Regierung, insbesondere von Innenminister Nehammer, die Situation genutzt wird, um weitere Eingriffe in demokratische Freiheiten umzusetzen. Von Seiten der EU wurde kürzlich schon angekündigt, dass in Zukunft verschlüsselte Kommunikation verunmöglicht werden soll, indem Plattformanbieter wie WhatsApp, Signal oder Telegram dazu gezwungen werden sollen, sogenannte Generalschlüssel zur Verfügung zu stellen, die den Zugang zu verschlüsselter Kommunikation für die Geheimdienste sicherstellen sollen. In Österreich wird auch wieder über Sicherungshaft gesprochen, die ursprünglich geplant war, um „gefährliche Asylsuchende“ ohne besonderen Grund wegzusperren – also Freiheitsentzug ohne Tatverdacht. Dies scheiterte bis jetzt, da sich ein Widerspruch zur Verfassung ergab, wo das Recht auf persönliche Freiheit einen relativ hohen Rang genießt.

Als linke Kräfte müssen wir uns entschieden gegen beide dieser Vorschläge stellen. Abgesehen davon, dass zweifelhaft ist, ob diese Maßnahmen wirklich zum stärkeren Verhindern von Anschlägen führen, fallen sie negativ auf alle zurück, die Opposition gegen dieses System zeigen wollen – also auch auf uns.

Neben diesen reaktionären Gesetzesvorschlägen gab es aber in Wien auch eine Welle der Solidarität, des Antirassismus und der positiven Hervorhebung von migrantischen bzw. muslimischen HelferInnen von Verwundeten. Diese klare Positionierung weiter Teile der Bevölkerung, die genau nicht die Mehrheit der MuslimInnen in Wien und in Österreich mit der Tat identifizieren, ist wichtig und richtig. Denn nicht nur ist es einfach falsch, MuslimInnen mit Terror zu identifizieren, es ist eben auch genau der Wunsch des IS, durch seine Terroranschläge den Rassismus gegenüber MuslimInnen zu verstärken, um leichter AnhängerInnen zu rekrutieren.

Behördliches Versagen

Schon kurze Zeit nach dem Anschlag musste die Story der Regierung und insbesondere von Innenminister Nehammer, dass die Behörden so brillant agiert hätten und der Angreifer das Deradikalisierungsprogramm perfide getäuscht hätte, in Zweifel gezogen werden. Doch dazu noch kurz die Vorgeschichte. Der IS-Sympathisant hatte 2018 versucht, über die Türkei nach Syrien einzureisen, wurde aber von ersterer verhaftet und nach Österreich zurückgestellt. In Österreich wurde er wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen und terroristischen Organisation zu 22 Monaten Haft verurteilt. Er wurde Ende 2019 aus der Haft entlassen. Die Rufe, die jetzt laut werden und meinen, dass die frühzeitige Haftentlassung der zentrale Fehler gewesen wäre, verkennen dabei, dass er auch ohne diese im Juli diesen Jahres regulär entlassen worden wäre.

Sehr bald nach dem Anschlag wurde dann bekannt, dass die Slowakei Österreich im Oktober gewarnt hatte, dass der Täter dort Munition kaufen wollte. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) hatte aber mit diesen Informationen offensichtlich nichts veranlasst und auch die zuständigen Personen aus dem Deradikalisierungsprogramm sowie die Justiz nicht informiert. Zusätzlich dazu gab es auch schon im Juli eine Warnung an das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) von deutschen Behörden, die meldeten, dass der Wiener IS-Anhänger von amtsbekannten deutschen KollegInnen besucht worden wäre. Von Innenminister Nehammer wird das ganze auf Kommunikationsprobleme zurückgeführt. Die genauen Hintergründe dafür sind noch nicht bekannt.

Die Antwort auf den Terror in Wien kann aber nicht ein allmächtiger Repressionsapparat des kapitalistischen Staates sein, der sich letztlich auch gegen die revolutionäre ArbeiterInnenbewegung richten wird. Die Antworten müssen lauten: antirassistischer Klassenkampf, internationale Solidarität und Antiimperialismus!