Nieder mit der Taliban-Diktatur: Befreit die afghanischen Frauen!

Interview mit einer afghanischen Geflüchteten in Pakistan, 15.01.2024, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele davon sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung. Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung zum Elend verschlechtert hat. Sie erkennet, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Im Rahmen unserer bedingungslosen Solidarität mit den mutigen afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora spricht FIGHT mit Roya Afghan Aazad (dokumentierter Flüchtling mit POR-Karte), die in Pakistan lebt, über den Stand der Dinge seither, wobei der Schwerpunkt auf den afghanischen Frauen heute liegt. Die Interviewpartnerin wählte diesen Namen, um ihre Identität zu schützen. Er bedeutet „Traum für ein freies Afghanistan“. Das Interview führt Minerwa Tahir.

FIGHT: Vielen Dank, dass du sich bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen, Roya. Wie würdest du die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan beschreiben? Dürfen sie frei arbeiten? Dürfen sie nur in bestimmten Berufen oder gar nicht arbeiten? Unterscheidet sich das Leben der afghanischen Frauen aus der Mittelschicht heute von dem der Frauen aus der Arbeiter:innenklasse?

Roya Afghan Aazad: Ich habe mehrere Verwandte, die in Afghanistan leben, und dort gibt es ein vollständiges Verbot für die Ausbildung von Frauen an Universitäten. Da Bildung zum Beispiel nur bis zur sechsten Klasse erlaubt ist, versuchen viele Mädchen, sich online weiterzubilden, wenn auch nur informell. Ich habe viele Verwandte, die Medizin und Ingenieurwesen studierten und nun gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen. Infolgedessen treten psychische Probleme auf.

Was die Arbeit anbelangt, so arbeiteten viele Freund:innen in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber nach einiger Zeit wurden alle ihre Stellen gestrichen. Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Das bedeutet, dass es viele Witwen und Waisen gibt. Wenn eine Witwe drei Kinder hat, ist sie die einzige Ernährerin. Wenn ihr Mann gestorben ist, wie soll sie dann ihre Kinder ernähren, wenn nicht durch Arbeit? Verwandte erzählten mir, dass die Situation so schrecklich ist, dass ehemalige Lehrer:innen eines ihrer Kinder verkaufen mussten, um vier andere zu ernähren. Vor allem Frauen wurden in die Armut gedrängt. Aber diejenigen, die männliche oder wirtschaftliche Unterstützung haben, können sich auf diese verlassen. Ich kenne eine Frau, die Managerin war. Jetzt ist sie Witwe und wegen des Beschäftigungsverbots für Frauen arbeitslos. So kommt es zu einer extremen Verarmung der Frauen.

Auch Vergewaltigungen und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten sind weit verbreitet, werden aber nicht gemeldet, weil es keine Medienfreiheit gibt. Die geringe Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass die Frauen in Würde leben, aber die Realität sieht anders aus. Nach 2021 mussten die Menschen ihre Töchter aufgrund der Wirtschaftskrise verkaufen. Zwangsverheiratungen von älteren Männern mit Minderjährigen sind weit verbreitet. Eltern, die arbeitslos sind und Töchter haben, sehen sich gezwungen, ihre Töchter an ältere Männer zu verkaufen, um den Rest der Familie zu ernähren. Die Wirtschaftskrise und die erzwungene Arbeitslosigkeit sind die Hauptursachen dafür.

FIGHT: Du hast psychische Probleme erwähnt. Kannst du bitte beschreiben, über welche Art von Problemen berichtet wird? Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aus?

Roya Afghan Aazad: Viele Studentinnen, die sich in den letzten Semestern befanden, als die Ausbildungsverbote verhängt wurden, sind jetzt mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Sie erhalten nicht einmal Pässe, um ins Ausland zu gehen und sich weiterzubilden. Du kannst dir vorstellen, dass die Taliban den Frauen nicht erlauben, im Land zu studieren, warum sollten sie ihnen dann ermöglichen, sich im Ausland fortzubilden. In ihrn Augen hat es keinen Sinn, Frauen auszubilden, da sie zu Hause bleiben und Kinder gebären und aufziehen sollen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, auch unter meinen Verwandten. Als ich ein kleines Mädchen fragte, was sie nach der sechsten Klasse machen würde, fing sie an zu weinen. „Wir haben keine Zukunft. Wir sitzen fest. Wir können diese Hölle nicht verlassen“, sagte sie mir. […] Ich würde nicht ausschließen, dass viele Selbstmord begangen haben. Was ist der Sinn dieses Lebens? 20 Jahre lang hatten wir Schulen und Sport, und jetzt wird uns das plötzlich weggenommen.

Auch viele afghanische Frauen, die sterben, sterben nicht auf natürliche Weise. Sie sterben bei der Geburt, weil eine Reihe von Krankenhäusern geschlossen wurde und es aufgrund verschiedener von der Regierung aufgestellter Hürden kein weibliches Personal gibt. Das Gesundheitswesen ist der einzige Beruf, in dem einige Frauen arbeiten, aber viele wurden entmutigt. Ich habe einen Cousin in Kabul, der Arzt ist.  Ich habe ihn gefragt: Wird es in Zukunft keine Ärztinnen mehr geben? Wenn schwangere Frauen von Männern betreut werden, wo bleiben dann die so genannte Ehre, die Purdah (Verschleierung) und der Islam der Taliban? Er erzählte mir, dass Ärztinnen zwar offiziell praktizieren dürfen, aber nicht bezahlt werden, und dass der Berufsstand aufgrund dieser Situation generell Arbeitskräfte verliert.

FIGHT: Wie verbreitet ist das Phänomen der Selbstmorde?

Roya Afghan Aazad: Man darf nicht vergessen, dass dies ein Land ist, in dem es keine freien Medien gibt. Es gibt zwar einige Berichte in den sozialen Medien, aber wenn sie über solche Dinge berichten, dann anonym und ohne Ortsangabe zur Sicherheit. In den letzten Tagen hat sogar ein männlicher Journalist Selbstmord begangen, so dass wir uns vorstellen können, wie schrecklich es für Frauen sein muss. In Kabul haben die Menschen Smartphones und Internet. In den ländlichen Gebieten haben die Frauen keinen Zugang zu Informationen. Eine große Anzahl von Verbrechen, die Frauen in diesen Gebieten betreffen, wird überhaupt nicht gemeldet.

FIGHT: Dürfen Frauen und Kinder ihre Häuser ohne männlichen Vormund verlassen?

Roya Afghan Aazad: Sie sind von der Regierung angewiesen worden, einen männlichen Begleiter zu haben, auch wenn es sich um einen Minderjährigen handelt. Letzte Woche habe ich ein Video von einem weinenden Mädchen gesehen. Sie trug eine bodenlange Burka und hatte ein Exemplar des Korans bei sich. Sie sagte, ihre 19-jährige Schwester sei von der Regierung mit der Begründung abgeführt worden, dass sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Und das, obwohl diese Mädchen eine bodenlange Burka trugen.

FIGHT: Das klingt ganz ähnlich wie die Situation im Iran. Gilt dort eine Kleiderordnung? Gilt sie für Frauen und Mädchen jeden Alters oder gibt es Ausnahmen? Und was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für afghanische Frauen, die beruflich als Journalistinnen, Lehrerinnen, Diplomatinnen, Übersetzerinnen usw. tätig waren? Können sich Frauen in Afghanistan politisch organisieren? Können sie ihre Meinung frei äußern? Gibt es Versammlungsfreiheit? Gibt es die Freiheit zu protestieren?

Roya Afghan Aazad: Es ist sehr ähnlich wie im Iran. In Afghanistan gilt die Regel: Burka für alle. Es gibt keine Ausnahmen. Alle Journalist:innen, die ausreisen konnten, haben das Land verlassen. Andere warten darauf, gerettet zu werden. Sie haben keine Arbeit. Als die Taliban die Macht übernahmen, führten sie Razzien durch, um nach allen zu suchen, die mit den USA und NGOs zusammenarbeiteten, egal ob männlich oder weiblich. Es sind grausame Videos aufgetaucht, die zeigen, wie diese Razzien durchgeführt wurden, wobei die Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen abgeführt wurden. Berufstätige Frauen haben es sehr schwer. Diejenigen, die in die Nachbarländer geflohen sind, wurden von ihren ehemaligen Arbeit„geber“:innen mit dem Versprechen, gerettet zu werden, dazu aufgefordert. Einige wurden gerettet, aber andere leiden immer noch, weil sie auf ihr Visum warten. Eine Reihe von Menschen kam mit gültigen pakistanischen Visa nach Pakistan, aber nun sind ihre Visa dort abgelaufen und sie werden als Menschen ohne Papiere betrachtet. Infolgedessen leiden sie unter der Unsicherheit von Nahrung und Unterkunft, da niemand Menschen ohne gültige Papiere eine offizielle Arbeit geben würde. Ihr Leben war in Gefahr, und wenn sie heute keine Dokumente haben, was sollen sie dann tun? Wer wird sich um sie kümmern? Sie werden erbarmungslos gezwungen, zu der Regierung zurückzukehren, vor deren Verfolgung sie geflohen sind. Wohin sollen sie gehen?

Und nein, es gibt keine Freiheit zu protestieren. Als die Taliban an die Macht kamen, gab es in großen Städten wie Kabul, Herat, Masar-e-Scharif, Dschalalabad usw. Proteste. Viele dieser Menschen wurden identifiziert, ihre Häuser wurden später durchsucht und sie wurden verhaftet. Dies wirkt abschreckend auf Formen des Widerstands. Frauen haben dann natürlich Angst vor Verhaftung und Inhaftierung.

(Anmerkung der Interviewerin: Trotz der Unterdrückung durch die Taliban gibt es in Afghanistan weiterhin Proteste. Der jüngste Fall war, als Frauen gegen die Schließung von Schönheitssalons unter dem islamistischen Regime protestierten).

FIGHT: Wie ist die Lage der Frauen, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, in Afghanistan?

Roya Afghan Aazad: Die Hazara sind eine der gut ausgebildeten Gemeinschaften in Afghanistan. Im Vergleich zu anderen Ethnien sind sie nicht konservativ. Sie waren häufig das Ziel von Bombenanschlägen. Erst letzte Woche wurde ein Viertel der Hazara in Kabul angegriffen. Sie wurden angegriffen, als die Taliban noch nicht an der Macht waren, und sie werden auch weiterhin angegriffen, wenn die Taliban an der Macht sind. Das wirft Fragen auf. In jedem Fall werden die Frauen der Gemeinschaft vom Verbot der Bildung betroffen sein. Außerdem sind die Taliban Sunnit:innen, während die Hazara Schiit:innen sind. Die religiösen Aktivitäten der Hazara, wie z. B. das Feiern ihrer Juloos (Geburtstag des Propheten Mohammed) und anderer wichtiger Tage, wurden verboten. Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht. Auch die Sikhs fliehen seit 2021 nach Indien, und nur sehr wenige bleiben im Land.

FIGHT: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es beschleunigte Visaverfahren und Ausnahmeregelungen, und das zu Recht. Leider gilt das nicht für Afghan:innen, obwohl westliche Länder direkt an dem Krieg beteiligt waren, der sie  heute zu Flüchtlingen macht. Was würdest du dazu sagen?

Roya Afghan Aazad: Diejenigen, die vorgeben, Pat:innen der Menschlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzer:innen. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden zeitweise ohne Visum und Pass aufgenommen. Aber wenn es um afghanische geht, wurden sie im Stich gelassen und warten nach zwei Jahren immer noch auf ein Visum. Schließlich sind die Ukrainer:innen die „zivilisierten“ Flüchtlinge. Sie sind nicht wie die Afghan:innen, Syrer:innen und Iraker:innen. Das ist Diskriminierung. Die Nationalität eines Flüchtlings sollte nicht über seinen Anspruch auf Menschenrechte entscheiden. Es gibt niemanden, die/der diese Länder für diese Diskriminierung zur Rechenschaft zieht. Die Afghan:innen sind heute Ihretwegen Flüchtlinge, aber sie sind heute nicht für sie da. Um uns Ich glaube, dass man sich um die Ukrainer:innen kümmern sollte, aber das sollte man auch. Wir sollten nicht als unzivilisiert angesehen werden.

FIGHT: Was würden Sie über die Behandlung sagen, die die pakistanische Regierung den Afghan:innen im Laufe der Jahre zuteil werden ließ?

Roya Afghan Aazad: Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und ich bin hier aufgewachsen. Als ich in der Mittelstufe war (das pakistanische Äquivalent zum Abitur), wusste ich nicht, dass ich ein Flüchtling war. Ich kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Flüchtling. Als mir klar wurde, dass ich ein Flüchtling bin, begann ich mich zu fragen, ob dies nicht mein Heimatland ist, wo es wirklich ist. Ich habe mich darüber informiert und festgestellt, dass Pakistan in den Krieg in Afghanistan verwickelt war. Zuerst habe ich dem Gastland die Schuld gegeben. Aber ich bin Studentin der internationalen Beziehungen und habe einen MPhil der Universität Karatschi. Ich habe mich auch mit den Kriegsherren in Afghanistan befasst und bin zum Schluss gekommen, dass man von außen angegriffen wird, wenn man Außenstehenden die Türen seines Hauses für seine eigenen Interessen öffnet. Ich gebe den Warlords die Schuld für den Ausverkauf meines Landes. […] Eine Reihe von Akteuren ist für meine missliche Lage verantwortlich. Von den Vertretern Afghanistans wie Gulbuddin Hekmatyar, Hamid Karzai und Aschraf Ghani bis hin zu den Mudschahidin, von allen regionalen Nachbarn bis hin zu allen imperialistischen Mächten wie der UdSSR und den USA – alle Länder waren aufgrund ihrer eigenen Interessen beteiligt.

FIGHT: Wie sieht das Leben der afghanischen Flüchtlinge aus, die in die Nachbarländer geflohen sind? Nach dem, was du mir erzählst, scheint es eine hierarchische Abstufung der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu geben. Einige Afghan:innen durften bleiben, während andere pauschal abgeschoben werden müssen. Ist das richtig?

Roya Afghan Aazad: Es gibt Flüchtlinge in Pakistan, aber viele sind auch in den Iran gegangen. Im Iran ist es schlimmer als in Pakistan. Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan wurden einer Kategorisierung unterzogen, und einige dürfen immer noch bleiben. Inhaber:innen einer afghanischen Staatsbürger:innen- und einer POR-Karte besitzen grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, Unterkunft und Gesundheit. Im Iran ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Ich war noch nie im Iran, aber ich berufe mich auf Informationen, die mir Verwandte und Freund:innen von dort gegeben haben. Aber selbst afghanische Flüchtlinge ohne Papiere hatten vor Oktober 2023 Zugang zu niederen Arbeiten, mit denen sie einen Tageslohn verdienen konnten. Sie hatten auch Zugang zur Gesundheitsversorgung in Pakistan. Nach Oktober 2023 erleben wir eine beispiellose staatliche Politik. Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und lebt seither hier. In den Jahren 2015 – 2016 fanden einige Abschiebungen statt. Aber das Ausmaß, das wir heute sehen, gab es nicht. Pakistan behauptet, diese Entscheidung aus Sicherheitsgründen getroffen zu haben. Aber sie hätten auch sehen müssen, dass viele derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeschickt werden, in Lebensgefahr sind. Flüchtlinge sind immer noch Menschen, auch wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hat.

FIGHT: Wie hat sich die Weltgemeinschaft, sowohl die Nachbarländer wie Pakistan als auch die breitere Gemeinschaft, insbesondere der Westen, deiner Meinung nach gegenüber den Afghan:innen verhalten?  Was würdest du über die Herrschaft von Aschraf Ghani und die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Afghanistan sagen?

Roya Afghan Aazad: Unsere unmittelbaren Nachbarländer sind Pakistan und Iran. In den letzten 40 Jahren sind Flüchtlinge aus Afghanistan in diese Länder gekommen, weil die Grenze durchlässig ist, aber auch, weil sich beide Regierungen ihrer eigenen Verwicklung in die Situation in Afghanistan bewusst waren, sei es in Form der Mudschahidin oder des Kriegs gegen den Terror. In Pakistan hat man im Laufe der Jahre auch einige Flüchtlinge registriert. Diejenigen, die nach 2021 nach Pakistan kamen, wurden jedoch nicht registriert, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland flohen, weil ihr Leben bedroht war. Jetzt werden sie abgeschoben. Wie kann man jemanden abschieben, die/der in seinem Herkunftsland in Lebensgefahr ist?

In der Zwischenzeit hat die Weltgemeinschaft auch nicht viel getan. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brach der Krieg in der Ukraine aus. Seitdem sind Ukrainer:innen die Flüchtlinge, um die sich der Westen kümmert, und alle haben die Afghan:innen vergessen. Zwei Jahre lang wurden keine Visa für die Menschen ausgestellt, die in den Ländern Pakistan und Iran festsaßen, obwohl viele Chef:innen ihren afghanischen Mitarbeiter:innen geraten hatten, vorübergehend in Pakistan Zuflucht zu suchen, da dort Visa ausgestellt würden. Nachdem Pakistan mit den Massenabschiebungen begonnen hat, wurden einigen wenigen Personen Visa ausgestellt.

Was die Sanktionen anbelangt, so erhalten die Taliban jede Woche 40 Millionen US-Dollar. Wie kann eine terroristische Organisation zwei Jahre lang überleben? Die afghanische Währung hat sich durch die Hilfe der USA und UN-Organisationen stabilisiert. Aber der US-Dollar ist dort die eigentliche Währung, und deshalb hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aber die ganze Hilfe gelangt in die Hände der Taliban. Als das Erdbeben in Herat ausbrach, haben mir alle meine Verwandten, die dort leben, erzählt, dass die Taliban alles nehmen, was reinkommt, und der einfache Mann bekommt die drittklassige Ware. Die Mehrzahl der Güter geht an die Taliban. Bei der Verteilung werden dann die Hazara, Turkmen:innen und Tadschik:innen diskriminiert. Die Taliban-Kämpfer erhalten die Waren, die als Hilfsgüter eingehen. Dies hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung. Witwen leiden am meisten. Sie sind die Bedürftigsten, aber die Taliban glauben, dass Frauen keine Menschen sind. Nach ihrer Logik bilden Männer die einzige menschliche Ressource im Land.

FIGHT: Was würdest du sagen, sind die wichtigsten Forderungen der afghanischen Frauen heute? Wie können sie heute ihre Freiheit erlangen? Wie sieht der Widerstand in Afghanistan aus? Werdet ihr in irgendeiner Form von afghanischen Männern unterstützt? Wie sieht die Unterdrückung durch den Taliban-Staat aus, wenn Menschen Widerstand leisten?

Roya Afghan Aazad: Das Recht auf Arbeit und Bildung, auf ein Leben in Freiheit und auf Redefreiheit. Journalistinnen, Sängerinnen und andere künstlerische Berufe, Lehrerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen und Bankangestellte sind von ihren Berufen ausgeschlossen. Unser Grundbedürfnis ist das Recht auf Redefreiheit, Arbeit und Bildung. Afghanische Frauen sollten das Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen. Welchem Islam die Taliban folgen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die Frau des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) war ebenfalls Kauffrau. Es war ihr nicht verboten zu arbeiten. Allah sagt, dass der Erwerb von Wissen für alle Muslim:innen Pflicht ist. Muslim:innen sind sowohl Männer als auch Frauen. Die Taliban vergessen das oft, und deshalb berauben sie uns der Bildung.

Wenn die internationale Gemeinschaft und die westlichen Länder Druck auf die Taliban ausüben, anstatt sie zu stärken, dann können die Rechte der Frauen gewährleistet werden. Alle Frauen, die ihre Stimme für ihre Rechte erhoben haben, wurden verhaftet. Es gibt eine Journalistin, die in Deutschland Asyl gefunden hat und deren Familie nun zur Zielscheibe wird. Diese Familie protestierte in Deutschland und forderte, dass die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan anerkennt.

Leseempfehlung

Für uns ist klar: Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Dabei heißt es, klar für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einzustehen. Wir kämpfen überall gegen Abschiebungen, ob nun in Pakistan oder Deutschland. Dabei geht es uns nicht nur darum, dass Geflüchtete bleiben können, sondern auch die gleichen Rechte erhalten – also zu arbeiten, wählen zu gehen und und nicht als Menschen 2. Klasse in den jeweiligen Ländern leben zu müssen.
Mehr zur Lage von Frauen und Widerstand in Afghanistan:




Pakistan: Solidarität mit den afghanischen Flüchtlingen und Massenprotesten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1237, 20. November 2023

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele der 1,7 Millionen sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung.

Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und der Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung miserabel gemacht hat. Sie erkennen, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Darüber hinaus will die Regierung paschtunische Führer:innen und Händler:innen dazu zwingen, künftig Grenzkontrollen durchzuführen. Der Zusammenschluss von Kaufleuten und lokalen Stämmen soll gezwungen werden, Pässe und Visa auszustellen. Doch zumindest bisher haben sie diese Anordnungen abgelehnt. Derzeit beteiligen sich Bauern und Bäuerinnen, Händler:innen, Stammesführer:innen und berufstätige Paschtun:innen verschiedener politischer Parteien an diesem Protest und lehnen die Regierung und ihre Politik ab.

Die Demonstrant:innen lehnen die Zwangsvertreibung von afghanischen Flüchtlingen ab und fordern, dass die Regierung diese unmenschliche Politik zurücknimmt und das Leben der afghanischen Flüchtlinge nicht noch härter und ärmer macht. Ihre Vertreibung wird alles zerstören, was sie in harter Arbeit ein Leben lang und über Generationen hinweg aufgebaut haben. Zurück in Afghanistan gibt es nichts für sie und viele sind ernsthaften Bedrohungen durch das Regime ausgesetzt.

Die geschäftsführende Regierung von Anwaar-ul-Haq Kakar will von der Krise des Systems, der grassierenden Inflation und der Energieknappheit ablenken. Sie macht die Afghan:innen für den Mangel an Ressourcen verantwortlich. Deshalb werden die afghanischen Flüchtlinge zum Sündenbock gestempelt und der Rassismus gegen sie wird angeheizt. In der Tat wird die Bewegungsfreiheit aller Menschen ohne Pass an der Grenze von Chaman in Zukunft vollständig unterbunden.

Der Grenzhandel ist auch in Belutschistan zu einem ernsten Problem geworden. Dort ist die Beschäftigung und der Lebensunterhalt von Millionen von Menschen damit verbunden. Die Politik der pakistanischen Regierung vernichtet diese im Interesse des Großkapitals.

Diejenigen, die bereits Opfer der vom Imperialismus und dem Staat aufgezwungenen Marginalisierung und des Krieges sind, werden um alles gebracht. Daher liegt es in der Verantwortung der Arbeiter:Innen im ganzen Land, auch in Belutschistan, sich mit den afghanischen Flüchtlingen zu solidarisieren. Die pakistanischen Gewerkschaften müssen die Massensitzstreiks und Proteste an den Grenzen unterstützen. Sie müssen in Solidaritätsmobilisierungen und Streiks mit ihren afghanischen Brüdern und Schwestern auftreten und sich in einem gemeinsamen Kampf gegen alle Abschiebungen, für das Recht aller Flüchtlinge, in Pakistan zu leben und zu arbeiten, und gegen die Inflation, die staatlichen Kürzungen, die Diktate des Internationalen Währungsfonds und die kapitalistische Krise, die die wahre Ursache für das Elend der pakistanischen Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der afghanischen Flüchtlinge sind, vereinen.

Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Sie müssen Proteste und Kundgebungen in verschiedenen Ländern organisieren und Solidaritätsbotschaften an die Protestierenden senden!




Hamas: nur eine weitere terroristische Organisation?

Jeremy Dewar, Infomail 1235, 1. November 2023

Die Hamas wird von den USA, Kanada, der EU, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Japan und Australien als „terroristische Organisation“ eingestuft. Andere Länder, vor allem Saudi-Arabien, haben ihren militärischen Flügel verboten.

Die rechte Politikerin und britische Innenministerin Suella Braverman erklärte, die Organisation lebe einen „mittelalterlichen Antisemitismus“ und sei „dem Islamischen Staat (ISIS) ebenbürtig“. Dies wird von der Labour-Partei und sogar von einigen Linken, die die Organisation als „faschistisch“ bezeichnen, aufgegriffen.

Vieles soll die Menschen davon abhalten, sich näher mit der Hamas, ihrer Ideologie und Praxis zu befassen. Insbesondere sollen wir pauschal die Botschaft schlucken, dass die Hamas den Gazastreifen diktatorisch regiert und ihre Beziehung zu den Palästinenser:innen im Gazastreifen einseitig und ausbeuterisch ist.

Die Wahrheit ist vielschichtiger und offenbart eine Massenorganisation mit tiefen Wurzeln in der palästinensischen Bevölkerung.

Ursprünge und Ideologie

Die Hamas geht auf eine Initiative des palästinensischen Ablegers der ägyptischen Muslimbruderschaft zurück, der Anfang der 1980er Jahre zu Zwecken der Bildung, der religiösen Unterweisung und sozialen Wohlfahrt gegründet wurde. Sie wurde im Dezember 1987 gegründet, fünf Tage nachdem die erste Intifada gegen die israelische Besatzung ausbrach. Hamas ist ein Akronym für Islamische Widerstandsbewegung, bedeutet aber auf Arabisch „Begeisterung“.

Die israelischen Behörden duldeten ihre Aktivitäten zunächst als konservativ-religiöses Gegengewicht zu den säkularen nationalistischen und „marxistischen“ Befreiungsbewegungen und Guerillaorganisationen. Sie war bei weitem nicht die erste bewaffnete palästinensische Widerstandsorganisation. Die säkulare Fatah unter Jassir Arafat und die marxistisch-leninistische Volksfront für die Befreiung Palästinas unter der Führung von George Habasch waren zwischen dem Krieg von 1967 und der Intifada von 1987 die dominierenden Kräfte in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Anfang der 1980er Jahre entstand eine weitere islamistische Gruppe, der Islamische Dschihad.

Nachdem ihre Kämpfer:innen 1982 aus dem Südlibanon vertrieben worden waren, gab die PLO den Guerillakampf auf, den sie in den 1960er und 1970er Jahren geführt hatte, und ihr Prestige sank. Sie beteiligte sich an den Abkommen von 1992, erkannte schließlich den Staat Israel an und verurteilte den „Terrorismus“ als Preis für die Gründung der neuen Palästinensischen Autonomiebehörde. Schon bald verstrickte sie sich in Korruption und Zusammenarbeit mit der israelischen Unterdrückung im Westjordanland und im Gazastreifen.

Nachdem Arafat sowohl den bewaffneten Kampf als auch das Ziel eines einzigen säkularen Staates aufgegeben hatte, entschied er sich für den Schatten der Macht in einem zersplitterten Staat im Westjordanland, der immer noch unter israelischer Militärkontrolle stand. Damit überließ er der Hamas den militanten Widerstand als politisches Geschenk.

Dies wurde durch die Tatsache begünstigt, dass die israelischen Unterdrücker:innen weiterhin an der Schraube drehten, auch bei der Palästinensischen Autonomiebehörde. Die jungen Palästinenser:innen verlangten nach einer wirksamen Widerstandsbewegung, die bereit und in der Lage ist, sich mit der Waffe in der Hand gegen die mörderische Unterdrückung der Proteste der Bevölkerung durch die IDF zu wehren.

Die Gründungscharta der Hamas aus dem Jahr 1988 erklärte es zur Pflicht aller Muslim:innen auf der ganzen Welt, den palästinensischen Waqf (heiliges Gebiet) „vom Fluss bis zum Meer“ zu verteidigen und zu befreien. Sie benannte „die Juden/Jüdinnen“ als Feind:innen und erklärte, dass nur eine kleine Anzahl von ihnen bleiben dürfe. Ihr Ziel ist eine islamische Gesellschaft, die religiös und sozial konservativ ist. In dieser Hinsicht stellt ihre Ideologie ein Spiegelbild der zionistischen Hardlinerdoktrin dar.

Somit ist die Ideologie der Hamas eine durch und durch reaktionäre, antisemitische Utopie. Ihre Gründungscharta vertritt alle antisemitischen Verschwörungstheorien, wonach die Juden/Jüdinnen hinter jedem Krieg und jeder Revolution stecken, und führt als Beweis die berüchtigte Fälschung der zaristischen Geheimpolizei, die Protokolle der Weisen von Zion, an. Obwohl sich Sprecher:innen der Hamas davon distanziert haben, wurde es nie aufgehoben und bleibt eine mächtige Waffe in den Händen Israels und seiner Unterstützer:innen.

Denjenigen, die behaupten, die Hamas sei faschistisch und unterscheide sich nicht von ISIS, muss jedoch eine Reihe von Punkten entgegengehalten werden. Erstens ist die Hamas im Gegensatz zu ISIS eine Massenorganisation, die durch ihre Schulen und Universitäten, ihre Krankenhäuser und Wohlfahrtsprogramme und ihre Tausende von Widerstandskämpfer:innen tief in der palästinensischen Gesellschaft verwurzelt ist, insbesondere im Gazastreifen.

ISIS gehört zum takfirischen Zweig des Islamismus, der andere Muslim:innen als Abtrünnige betrachtet, gegen die ein terroristischer Krieg geführt werden kann. Folglich glaubt er daran, den Islam „von oben“ aufzuerlegen, unabhängig von den Wünschen der Bevölkerung. Die Hamas hingegen glaubt an eine Islamisierung „von unten“ und hat bei vielen Gelegenheiten auf die Bedürfnisse und Bestrebungen ihrer Basis reagiert.

In den seltenen Fällen, in denen lokale Hamaskommandeur:innen versucht haben, strenge islamische Bekleidungsvorschriften durchzusetzen, sind diese immer gescheitert und haben fast nie den Segen der Führung erhalten. Vielmehr hat sie ihre Vision als an das historische Kalifat angelehnt beschrieben, in dem christliche und jüdische Gemeinschaften toleriert wurden.

Weder ihr Sozialsystem noch ihre Korruptionsfreiheit sind jedoch der eigentliche Grund für die Unterstützung der Massen. Vielmehr ist es ihr Ruf der „Standhaftigkeit“ bei der Verfolgung der ursprünglichen gemeinsamen Ziele aller palästinensischen Bewegungen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr für alle 1948 und 1967 Vertriebenen und ihre Nachkommen. Dennoch ist ihre Bilanz nicht ganz so kompromisslos, wie es den Anschein haben mag, und der Grund dafür ist ihre Abhängigkeit von verschiedenen Staaten der arabischen und islamischen Welt.

Kompromisse seit Oslo

Natürlich weigerte sich die Hamas, an den Gesprächen teilzunehmen, die zu den Osloer Verträgen führten, weil dies die Anerkennung des Existenzrechts Israels bedeuten würde. Aber schon damals gab es in ihren Reihen und ihrer Führung eine Debatte über die Teilnahme, da die Gespräche von den Palästinenser:innen, die eine Art von Staatlichkeit anstrebten, damals massiv unterstützt wurden. In den folgenden Jahren wurde weiter darüber diskutiert, ob man Israel anerkennen und eine Hudna (Waffenstillstand) auf der Grundlage eines vorübergehenden palästinensischen Staates in den Grenzen von 1948 mit Jerusalem als Hauptstadt, dem Abzug der israelischen Truppen und dem Abbau der Siedlungen vereinbaren sollte.

Obwohl sie sich bei den Präsidentschaftswahlen 2005, die Mahmud Abbas von der Fatah gewann, der Stimme enthielt, kandidierte die Hamas bei den allgemeinen palästinensischen Wahlen 2006 und erlangte eine Mehrheit in der Legislative und die Kontrolle über den Gazastreifen. In ihrem Wahlprogramm verzichtete sie auf die antisemitische Sprache ihrer Charta (ohne sie zu verleugnen) und erklärte den zionistischen Staat Israel und nicht „die Juden/Jüdinnen“ zum Feind. Außerdem erkannte sie ihn faktisch an.

Unmittelbar nach ihrem Wahlsieg stellten die „demokratischen“ imperialistischen Mächte USA und EU die Finanzierung der allgemeinen Palästinensischen Autonomiebehörde ein und leiteten alle Hilfen über das Büro von Abbas weiter. Die Versuche der Hamas, eine Einheitsregierung zu bilden, scheiterten, was zum so genannten Bruderkrieg von 2007 führte, der damit endete, dass die Fatahkräfte aus dem Gazastreifen vertrieben wurden und die Hamas den Streifen beherrschte, den Israel 2005 geräumt hatte, um ihn noch stärker zu blockieren.

Zwei weitere Kriege mit Israel in den Jahren 2008 – 2009 (Operation Gegossenes Blei) und 2014 (Operation Schutzkeil) sowie Einfälle im Jahr 2021 führten zur Zerstörung eines Großteils der Infrastruktur des Gazastreifens. In der Zwischenzeit haben Israels Blockade und das Verbot der Organisation als „terroristisch“ durch den westlichen Imperialismus versucht, die Hamas zu isolieren und ruinieren. Heute sind nur noch der Iran und Katar bereit, ihre Führung aufzunehmen und ihr Hilfe und diplomatische Dienste zukommen zu lassen.

Schlussfolgerung

Der fundamentalistische rechte Flügel Israels, der unter den Regierungen von Benny Gantz und Benjamin Netanjahu gestärkt wurde, bleibt mit der unerschütterlichen Unterstützung durch die USA, sowohl unter Trump als auch unter Biden, die entscheidende Kraft in Israel-Palästina.

Es stimmt nicht, dass die Hamas darauf nur mit Raketen geantwortet hat. In den Jahren 2018 – 2019 kam es zu Massenprotesten entlang der Grenze zum Gazastreifen; israelische Scharfschütz:innen töteten 190 unbewaffnete Demonstrant:innen und verletzten Tausende. Dann, im Jahr 2020, brach die sogenannte Dritte Intifada mit Massendemonstrationen in den Flüchtlingslagern und wichtigsten Städten des Westjordanlandes aus. Natürlich wurde auch diese von den IDF unterdrückt. Im Jahr 2021 kam es zu einem palästinensischen Generalstreik.

Bewaffnete rechte Siedler:innen mit Unterstützung durch die IDF machten das Jahr 2022 zum blutigsten Jahr im Westjordanland seit Jahren, als sie ihre Kontrolle über das Land brutal ausweiteten. Selbst die völlig friedliche BDS-Kampagne wird in westlichen Ländern verboten, während Kritik an Israel unterdrückt oder als „antisemitisch“ stigmatisiert wird.

Kein Wunder, dass der Ruf nach bewaffnetem Widerstand immer lauter wird. Der Aufschwung der Bewegung Löwengrube im Westjordanland in den letzten zwei Jahren (mit Beteiligung der Hamas) spiegelt diese Realität wider. Und deshalb wird der Widerstand auch dann weitergehen und bewaffnet sein, wenn die Infrastruktur der Hamas im Gazastreifen in diesem Krieg zerstört wird.

Der Ausbruch vom 7. Oktober mag den Plan der USA, Israels und Saudi-Arabiens zur „Normalisierung“ der Beziehungen und zur Wiederherstellung eines größeren Einflusses der USA in der Region gestoppt haben, aber das bleibt ihr Ziel. Die Aktion ermöglichte es rivalisierenden zionistischen Parteiführer:innen auch, ihre Reihen zu schließen und die israelische Bevölkerung zu vereinen, gerade als sich die schwersten Spaltungen in der Geschichte des Staates abzeichneten. Schlimmer noch, sie gab den Zionist:innen Deckung für ihre rachsüchtigen Vergeltungsmaßnahmen und lieferte einen Vorwand, um noch mehr Palästinenser:innen im Westjordanland aus ihren Häusern zu vertreiben, ja sogar die gesamte Bevölkerung zu verjagen, was das erklärte Ziel einiger Mitglieder der Regierung Netanjahu ist.

In den Fehlern der Hamas zeigt sich auch der Fehler im Programm des palästinensischen bürgerlichen Nationalismus, ob säkular oder islamistisch. Auch wenn es die dringenden Bedürfnisse der am meisten unterdrückten Menschen zum Ausdruck bringt, ist es als Strategie auf die Unterstützung durch benachbarte Regime angewiesen, die es dann für ihre eigenen Zwecke manipulieren. Im Grunde hat die Hamas die fatale stalinistische Etappentheorie, die sich für die verschiedenen PLO-Fraktionen als Sackgasse erwies, nicht überwunden. Stattdessen hat sie ihr lediglich einen islamistischen Anstrich verpasst und die „Volksfront“ durch eine reaktionäre klerikale Diktatur ersetzt.

Nichtsdestotrotz müssen alle Sozialist:innen und konsequenten Demokrat:innen den palästinensischen Widerstand gegen die IDF unterstützen, sofern sie sich der zionistischen Besatzung und dem Apartheidstaat widersetzt. Aber wir können weder das soziale und politische Programm der Hamas noch ihre Kampfmethoden unterstützen, weder eine elitäre Guerillastrategie noch Massaker an hilflosen israelischen Zivilist:innen.

Echte Solidarität mit Palästina bedeutet, für eine radikal andere Strategie einzutreten, deren Elemente sich in den drei Intifadas gezeigt haben: Mobilisierungen mit bewaffneter Selbstverteidigung und Appelle an die umliegende und internationale Arbeiter:innenklasse, sich gegen Israel und den Versuch des Westens zu erheben, die Hamas von der Landkarte zu tilgen, womit sie jede Form des Widerstands meinen, wenn nicht gar das palästinensische Volk als Ganzes.

Wir fordern die Aufhebung der Gesetze, die die Hamas als terroristische Organisation etikettieren. Israel ist der eigentliche Massenterrorist, wie wir heute sehen können. Die riesigen weltweiten Demonstrationen zeigen die breite Unterstützung der Bevölkerung für Gaza und die palästinensische Sache. Diese Mobilisierungen müssen zu direkten Aktionen übergehen, die den Waffen- und Handelsverkehr mit Israel blockieren, einschließlich Streiks der Gewerkschaften, um die israelfreundlichen Regierungen und Politiker:innen zu zwingen, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen und die Einfuhr von Lebensmitteln, Treibstoff, Unterkünften, medizinischer Ausrüstung und Hilfsgütern zu ermöglichen. Sie müssen die Forderung nach einer dauerhaften Aufhebung der jahrzehntelangen Belagerung des Gazastreifens und dem Abzug nicht nur der IDF, sondern auch der Kriegsschiffe und Flugzeuge der USA und Großbritanniens beinhalten.

Diese unmittelbaren und strategischen Fragen unterstreichen die Notwendigkeit einer internationalen Partei der Arbeiter:innenklasse, die die Kräfte in Palästina, den umliegenden Ländern des Nahen Ostens und innerhalb Israels selbst vereint, egal wie weit entfernt Letzteres im Moment auch erscheinen mag. Bewaffnet mit der Strategie der permanenten Revolution und der Taktik der Massenaktion können Revolutionär:innen damit beginnen, die Führungskrise zu lösen, die so viele Niederlagen und so viel Leid nicht nur in Palästina, sondern in allen umliegenden Ländern verursacht hat.




Zum Todestag von Jina Mahsa Amini: Ein Jahr, das den Iran veränderte

Martin Suchanek, Infomail 1231, 15. September 2023

Am 16. September 2022 starb die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini an den Folgen der Verletzungen, die ihr die sog. Sittenpolizei bei ihrer Festnahme und in der Haft durch brutale Misshandlung zufügte. Doch sie sollte nicht ein weiteres Opfer eines verbrecherischen, despotischen Regimes bleiben, auf dessen Mord durch die Staatsorgane ein zweiter Tod durch das öffentliche Vergessen folgte. Er blieb nicht ungesühnt und auch nicht folgenlos.

Er entfachte eine Welle der Massenproteste und des Widerstandes, wie sie der Iran seit 2009, der sog. grünen Revolution gegen massiven Wahlbetrug des Regimes, nicht gesehen hatte. Nachdem der Tod Jina Mahsa Aminis bekanntgeworden war, gingen in Teheran und zahlreichen anderen Städten Tausende und Abertausende auf die Straße.

Ausbreitung der Bewegung

In den ersten beiden Monaten breitete sich die Bewegung über das gesamte Land und weite Bevölkerungsschichten aus. In den kurdischen Regionen legte sogar ein befristeter Generalstreik das öffentliche Leben lahm. In zahlreichen Städten bildeten die Universitäten ein Zentrum des Widerstandes, mit dem sich die Masse der Bevölkerung, insbesondere auch die Arbeiter:innenklasse solidarisierte. Von Beginn an standen die Frauen und die Jugend im Zentrum der Bewegung, bildeten ihre treibende Kraft, offenbarten den tief sitzenden Hass gegen das Regime. Millionen schlossen sich den Protesten an – trotzten der massiven Repression durch Polizei, Sondereinheiten und paramilitärische Schergen des Regimes.

Doch trotz extremer Brutalität, tausender Festnahmen, Verhaftungen und der Ermordung zahlreicher Demonstrant:innen auch in den ersten Wochen der Protestbewegung ließen sich die Massen nicht einschüchtern. Die Mullahs befanden sich eindeutig in der Defensive. Zu spät und zögerlich wurde eine Auflösung und „Reform“ der verhassten Sittenpolizei ins Spiel gebracht. Vom Regime inszenierte Gegenkundgebungen zu den Protesten blieben viel kleiner als die Massenaktionen der Opposition, offenbarten, wie gering die soziale Basis, wie verhasst die Mullahdiktatur und die politische und soziale Ordnung, die sie mit allen Mitteln verteidigt, waren und sind.

Die Bewegung erschütterte die herrschende Klasse und deren iranische Spielart des Kapitalismus. Aber sie vermochte trotz eines unglaublichen Heroismus nicht, das Regime zu stürzen. Der Staatsapparat und die Repressionsorgane wurden zwar erschüttert, aber ihr innerer Zusammenhalt und ihre Einsetzbarkeit gegen die Bewegung wurden nicht gebrochen. Das betraf nicht nur die direkten, professionellen inneren Repressionsorgane und paramilitärische Stützen des Regimes, sondern vor allem auch die Armee samt ihren rund 220.000 Wehrpflichtigen.

Die Reaktion schlägt zurück

Dies ermöglichte dem Regime, ab Ende 2022 immer massiver und zielgerichteter gegen die Bewegung vorzugehen. Es ertränkte sie geradezu in Blut und Gewalt. Weit mehr als 500 Demonstrierende wurden im letzten Jahr getötet. Insgesamt sollen rund 20.000 Menschen verhaftet worden sein. Außerdem wurden Dutzende aufgrund ihrer Beteiligung an der Bewegung oder als angebliche Rädelsführer:innen in Schauprozessen und Schnellverfahren zum Tode verurteilt und exekutiert. Insgesamt wurden seit September 2022 rund 500 Hinrichtungen vollstreckt. Die sog. Sittenpolizei verblieb in Amt und Würden.

Auch wenn die Bewegung zurückgedrängt und das Regime wieder konsolidiert wurde, so wurde bis heute die alte Ordnung nicht vollständig wiederhergestellt. Noch immer gehen Frauen mit offenen Haaren auf die Straße und brechen öffentlich die reaktionären Bekleidungsvorschriften des Regimes – trotz verschärfter Repression und drakonischer Strafen. Auch wenn diese Heldinnen gewissermaßen die Speerspitze der Entschlossenheit darstellen, so ist es nach wie vor gerade in den Städten kein Randphänomen und ihre Taten werden von vielen in der Bevölkerung mehr oder minder offen unterstützt. Dieser Widerstandswille blieb trotz des Rückgangs der Bewegung ungebrochen.

Doch was sind die Ursachen dafür?

Erstens haben sich die Menschen selbst verändert. Das gilt nicht nur für die Protestbewegung seit dem September 2022, die teilweise vorrevolutionäre Züge annahm. Im Grunde stehen das iranische Regime und die wirtschaftliche Elite seit 2019, dem Beginn einer vor allem von der Arbeiter:innenklasse getragenen ökonomischen und regimefeindlichen Bewegung, immer neuen Mobilisierungen gegenüber. Diese wurden von den Lohnabhängigen, von der städtischen und ländlichen Armut, ja selbst von großen Teilen der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums getragen. 2022 spielten die Frauen eine zentrale Rolle, aber auch die Jugend und die unterdrückten Nationen und Nationalitäten. Viele Aktive aus der Bewegung berichten davon, dass das Bewusstsein für verschiedene Formen gesellschaftlicher Unterdrückung in der Oppositionsbewegung deutlich gestiegen sei.

Hinzu kommt aber auch, dass die Streiks ab dem Jahr 2019 wie auch Massenproteste seit 2022 nicht nur mit Mobilisierungen das Regime erschütterten. Sie führten auch dazu, dass sich eine Schicht von gewerkschaftlich und politisch engagierten Aktivist:innen und Führungskernen bildete, von halblegaler und illegaler Organisation, die einer Bewegung auch in der Repression eine gewisse Kontinuität verleihen können.

Zweitens wurde die Herrschaftsbasis des Regimes dünner. Zweifellos konnten und können sich die Mullahs weiter auf einen aufgeblähten und parasitären Staats- und Repressionsapparat stützen. Sie verfügen auch über ein weitgehendes Monopol über die Medien und mit dem Klerus über einen zusätzlichen zentralen ideologischen Apparat. Sie stützen sich außerdem trotz der ökonomischen Krise nach wie vor auf eine Mehrheit der herrschenden kapitalistischen Klasse, die ihrerseits vom Regime nicht nur begünstigt wird, sondern auf deren parasitäre Sonderinteressen letztlich die Wirtschaftspolitik Teherans ausgerichtet ist.

Doch die Allianz von Bourgeoisie und Theokratie sowie angelagerten Staatsfunktionär:innen und kleinbürgerlichen Schichten, die eng mit dem Staat verbunden sind, verteidigt ihre eigenen Privilegien vor dem Hintergrund einer chronischen Stagnation und Krise, von massiver Inflation, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Massen. Auch wenn Teheran seine internationale Isolierung durch Verbindungen mit China, Russland und das Abkommen mit Saudi-Arabien ein Stück weit durchbrechen kann, so ändert das an der wirtschaftlichen und sozialen Misere wenig. Anders als noch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vermag das Regime längst nicht mehr die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen durch ökonomische Erfolge und Verbesserungen des Konsumniveaus zu befrieden.

Im Gegenteil. Auch das tägliche, „normale“ Leben wird immer schwieriger, immer unerträglicher. Das schlechte Leben fürchten viele mittlerweile mehr als Repression und Todesgefahr. Daher halten so viele trotz der Brutalität des Regimes an ihrem Widerstand oder jedenfalls an ihrer Sympathie dafür fest. Denn nur dieser verspricht Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben.

Diese chronische Krise, ja Sackgasse, in der das politisch-ökonomische Gesamtsystem des Iran steckt, hat zu einer extremen Entfremdung der Mehrheit der Bevölkerung geführt, aller, die nicht über Privilegien, Profite und Klientelismus mit dem Regime verbunden sind. Dessen Herrschaft muss sich mehr und mehr auf Gewalt und Repression stützen. Damit ist auch die nächste Revolte, der nächste gesellschaftliche Ansturm vorprogrammiert. Am Jahrestag der Proteste, die Jina Mahsa Aminis Tod entfacht hat, wird es sicher wieder zu Aktionen und Demonstrationen im ganzen Land kommen. Auch wenn es leider unwahrscheinlich ist, dass diese die Bewegung neu entfachen werden, so sollten wir nicht vergessen, dass zwischen den Massenmobilisierungen 2019 und 2022 nur drei Jahre lagen. Auch wenn wir nicht überoptimistisch sein dürfen und damit rechnen müssen, dass es einige Zeit dauert, bis sich die Aktivist:innen und die Bewegung von 2022 neu und möglicherweise auch um einen neuen Fokus wieder formiert, so ist eine nachhaltige politische, soziale und ökonomische Konsolidierung des Regimes nahezu ausgeschlossen.

Umso wichtiger ist es, die Lehren daraus zu ziehen, warum die Bewegung 2022 das Regime nicht stürzen und ihre Ziele nicht erreichen konnte. Dies ist unerlässlich, wenn wir uns darauf vorbereiten wollen, bei einem nächsten Ansturm erfolgreich zu sein.

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und die Bildung von Soldat:innenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder musste sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit denen ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des westlichen „demokratischen“ Imperialismus). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung gipfelt, entstehen nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Pakistan: Reaktionäre Rechte gegen Rechte von trans Personen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 22. Mai 2023

In einer bahnbrechenden Niederlage für die Rechte sexuell unterdrückter Menschen hat das religiöse Gericht Pakistans am 19. Mai entschieden, dass trans Personen ihr Geschlecht nicht auf eigenen Wunsch ändern können. Dies ist eine Umkehrung der partiellen Errungenschaften, die für den Schutz von trans Personen in Pakistan durch das Gesetz zum Schutz der Rechte von trans Personen im Transgender Persons Act 2018 erzielt wurden, da das Gericht auch bestimmte Klauseln des Gesetzes als schariawidrig (mit den Gesetzen des Islam unvereinbar) erklärt hat.

Dies geschieht zu einer Zeit, in der die demokratischen Rechte in Pakistan generell angegriffen werden, da Hunderte von Anhänger:innen der Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit; PTI) wegen des Angriffs auf Militäreinrichtungen am 9. Mai als „Terrorist:innen“ bezeichnet werden. Sie werden nach dem Armeegesetz und dem Gesetz über Amtsgeheimnisse vor Gericht gestellt, was bedeutet, dass sie vor Militärgerichten und nicht vor zivilen angeklagt werden.

Pakistan ist eine islamische Republik, und das Scharia-Bundesgericht ist ein Verfassungsorgan, das befugt ist, zu prüfen und festzustellen, ob die Gesetze des Landes mit der Scharia vereinbar sind. Dieses Gremium wurde während der Militärdiktatur von General Zia-ul-Haq eingerichtet. Haqs Name ist für die drakonischen Verordnungen in die Geschichte eingegangen. Sein Regime schränkte massiv demokratische Rechte sowie Frauenrechte ein und erließ die Hudood-Verordnungen zur Islamisierung des Rechts. Nun wird sein Erbe von der reaktionären Rechten, sowohl der religiösen als auch der liberalen, in Pakistan genutzt, um die Rechte einer extrem unterdrückten Gemeinschaft zu beschneiden.

Das bestehende Gesetz war nicht besonders fortschrittlich, aber dennoch ein Schritt nach vorn, und als Sozialist:innen sind wir verpflichtet, selbst die minimalen Errungenschaften zu verteidigen, die es bot. Zum Beispiel gewährte das Gesetz trans Frauen oder trans Männern nicht das Recht, sich als Frauen oder Männer zu identifizieren, aber es gewährte ihnen das Recht, sich selbst als ein drittes Geschlecht „X“ zu identifizieren, im Gegensatz zu dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde. So konnte sich beispielsweise eine Person, der bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, als Frau in der Kategorie X identifizieren, die in Pakistan das dritte Geschlecht symbolisiert. Dies galt für Ausweisdokumente. Die X-Klassifizierung wurde auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2009 speziell für die trans Gemeinschaft geschaffen. Das Gesetz verbot auch die Diskriminierung von trans Personen in Bildungseinrichtungen, bei der Beschäftigung, im Handel, im Gesundheitswesen usw. Es verbot auch die Belästigung von trans Personen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hauses auf der Grundlage „ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität und/oder ihres Geschlechtsausdrucks“. Die Regierung wurde verpflichtet, Schutzzentren und sichere Unterkünfte einzurichten sowie medizinische Einrichtungen, psychologische Betreuung, Beratung und Erwachsenenbildung bereitzustellen.

Die Gesetzesänderungen im Detail

Das Religionsgericht hat zwar nur eine Klausel und einen Unterabsatz des Gesetzes für nichtig erklärt, doch wird dies Auswirkungen auf jeden Aspekt des Lebens von trans Personen zeitigen. Die für nichtig erklärte Klausel 2(f) definiert „Geschlechtsidentität“ als „das innerste und individuelle Selbstverständnis einer Person als männlich, weiblich oder eine Mischung aus beidem oder keinem von beiden; das kann dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen oder nicht“. Dies ist eine entscheidende Klausel des Gesetzes, die es trans Personen ermöglicht, sich in ihren Ausweispapieren als trans Mann der trans Frau auszuweisen, anstatt als Mann im Falle von trans Frauen oder als Frau im Falle von trans Männern.

Der andere für nichtig erklärte Unterabsatz, 2(n)(iii), definierte eine trans Person als „einen Transgendermann, eine Transgenderfrau, eine Khawaja Sira oder eine Person, deren Geschlechtsidentität und/oder Geschlechtsausdruck von den sozialen Normen und kulturellen Erwartungen abweicht, die auf dem Geschlecht beruhen, das ihr zum Zeitpunkt ihrer Geburt zugewiesen wurde“. Dies bedeutet, dass die Definition einer trans Person nun auf den Unterabschnitt 2(n)(i) (der sie als „Intersex (Khunsa) mit einer Mischung aus männlichen und weiblichen Genitalmerkmalen oder angeborener Uneindeutigkeit“ definiert) und 2(n)(ii) (der sie als „Eunuch, dem bei der Geburt ein männliches Geschlecht zugewiesen wurde, der sich aber einer Genitalbeschneidung oder Kastration unterzogen hat“ definiert) beschränkt wurde. Dies bedeutet, dass Menschen, die keine kastrierten oder uneindeutigen Genitalien aufweisen, sich nicht mehr als trans einstufen können. Untersuchungen haben gezeigt, wie schwerwiegend die Auswirkungen sein können, wenn Menschen in ein Geschlecht gezwungen werden, mit dem sie sich nicht identifizieren, wobei Selbstmord die extremste Reaktion auf ein unerfülltes und unehrliches Leben darstellt.

Wer steht hinter dem Angriff?

Diese Umkehrung der minimalen Errungenschaften des bestehenden Gesetzes erfolgt auf Betreiben einer seltsamen Kombination aus Klerus und liberaler Intelligenz. Auf der einen Seite steht die klerikale Rechte, vertreten durch den bekannten frauenfeindlichen Heuchler Orya Maqbool Jan, Senator Mushtaq Ahmad Khan von der reaktionären rechtsgerichteten Organisation Jamaat-e-Islami (Dsachama’at-e-Islami) (Islamische Gemeinschaft; im Folgenden als JI bezeichnet) und einige andere von der ebenso, wenn nicht noch reaktionäreren Organisation Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan-Fazl (Vereinigung Islamischer Gelehrter; im Folgenden als JUI-F bezeichnet). Natürlich musste auch die Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf auf den Zug der Reaktion aufspringen.

Ihre Führer:innen schlossen sich dieser bösartigen, hasserfüllten Kampagne in den gesetzgebenden Versammlungen an, was angesichts des frauenfeindlichen Hasses, den der Parteivorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan in seinem Herzen trägt, nur natürlich ist. Auf der anderen Seite stehen die Bigotten der oberen und mittleren Intelligenz, vertreten durch die verachtenswerte Luxusmode-Besitzerin Maria B. Es hätte ihr gut angestanden, weiterhin ihre Selfie-Videos mit der Kamera an der Decke zu drehen, in denen es um Themen geht, die Frauen ihrer Klasse betreffen, z. B. wie man Hausangestellte quält. Leider weitete sie ihren Wirkungskreis aus und tat ihr Bestes, um eine pakistanische Möchtegernkopie von J.K. Rowling, der Autorin der Harry Potter-Romane, abzugeben, mit einer Prise modernen liberalen islamischen Jargons, um es einer pakistanischen Mittelschicht-Unterstützer:innenbasis schmackhaft zu machen.

Gemeinsam ist diesen beiden Seiten der reaktionären Medaille die Befürchtung, dass das bestehende Gesetz es Homosexuellen erlauben würde, die Person zu heiraten, die sie lieben, und dass trans Personen geschlechtsangleichende Behandlungen erhalten könnten und Männer zu Frauen und Frauen zu Männern würden. Es ist bizarr, sich vorzustellen, dass in einem so sexistischen Land wie Pakistan ein Mann seine Rechte als Mann im Erbrecht aufgeben und nur vortäuschen wolle, eine trans Frau werden will. Was würde er davon haben? Trotz aller Antidiskriminierungsgesetze sind die meisten trans Frauen in Pakistan auf drei Tätigkeiten zum Erwerb ihres Lebensunterhaltes beschränkt: Tanzen, Betteln und Sexarbeit. Alle drei sind rechtlich ungeschützt und bieten Männern die Möglichkeit, diese trans Frauen zu belästigen, zu vergewaltigen und, wann immer es ihnen passt, auch zu töten, wenn sie ihr Ego nur ein wenig verletzen. Aber trans Frauen sind gezwungen, diese Berufe zu wählen, um sich zu ernähren und am Leben zu bleiben. Die wirkliche Angst rührt von der Aussicht her, dass eine Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeschrieben wurde, ihr Geschlecht in das von „X“ männlich ändern könnte.

Konservative Parteien wie die JI und die JUI-F bestehen aus Elementen, die historisch gesehen protofaschistische Tendenzen aufweisen. Sie sind auch für ihre extrem patriarchalischen und regressiven Ansichten über Frauen bekannt. Die JI spielte eine zentrale Rolle bei der Einführung drakonischer Gesetze durch den Militärdiktator Zia-ul-Haq. Die JUI-F, deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman noch vor kurzem ein Held der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans war, als die Regierungskoalition des Pakistan Democracy Movement in Opposition zu Imran Khan ins Leben gerufen wurde, ist dafür bekannt, dass sie die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe beschmiert.

Bürgerliche Familie

Die Verfechter:innen der Angriffe auf trans Rechte sind allesamt Vertreter:innen der bürgerlichen Ideologie. Die wahren Ängste liegen in der Bedrohung der bürgerlichen Familie und der dominanten Stellung des Mannes im bürgerlichen Familiensystem, die die bloße Existenz von trans Menschen darstellt. Die Argumente unterscheiden sich nicht von denen der republikanischen und evangelikalen Konservativen in den USA oder der AfD in Deutschland. Im Mittelpunkt stehen Fragen im Zusammenhang mit Kindern, sexuellem Ausdruck, Bedrohungen für Religion und Familienform und vor allem die Vererbung von Eigentum. Wenn eine Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, später in der Kategorie X männlich wird, hat sie Anspruch auf den gleichen Anteil am Erbe wie ihre Brüder. Gemäß der Scharia erhalten Frauen nur die Hälfte des Erbteils ihrer Brüder. Dies stellt eine direkte Bedrohung für das angeblich „natürliche“ Recht „natürlicher“ Männer auf einen doppelten Anteil am Erbe dar. Wie Mushtaq Ahmad Khan letztes Jahr sagte, stellt die Möglichkeit, die eigene Geschlechtsidentität zu wählen, eine „Gefahr für das Familien- und Erbschaftssystem“ dar.

Die Familienform im kapitalistischen Patriarchat ist die obligatorische Norm für die gesellschaftliche Existenz und gewährleistet zwei Hauptziele: erstens, dass sichergestellt wird, dass das Privateigentum in der Familie verbleibt, und zweitens, dass der Staat von den Kosten der Reproduktionsarbeit, wie Kinderbetreuung, Kochen, Waschen, Putzen, entlastet werden kann, die in die Grenzen des Familienhauses verlagert werden können, wo all diese Arbeit kostenlos, vor allem von Frauen, geleistet wird. Die Familienform wird als die natürliche und neutrale Form der sozialen Existenz dargestellt, als ob es nie eine Abweichung von ihr gegeben hätte. In Wirklichkeit ist die heutige Familienform selbst ein historisches Produkt. Diese natürliche Erscheinung der bürgerlichen Familienform wird durch die Institutionen der Religion, der Schule, des Arbeitsplatzes, der Medien usw. aufrechterhalten.

Die geschlechtsspezifischen Rollen, die die kapitalistische Familienform uns als Männern und Frauen auferlegt hat, ergeben sich aus den Bedürfnissen des Kapitals. Diese Rollen sind in Wirklichkeit nur für die herrschenden und mittleren Klassen repräsentativ, in denen es sich die Frau leisten kann, sich nur um das Haus zu kümmern. Für die große Mehrheit der arbeitenden Massen tragen Frauen die Doppelbelastung, sowohl außerhalb des Hauses zu arbeiten als auch die Reproduktionsarbeit kostenlos im Haus zu erledigen. Selbst wenn trans Personen ein anderes binäres Geschlecht annehmen, um sich zu identifizieren, und alle damit verbundenen geschlechtsspezifischen Rollen erfüllen, stören sie den Mythos der Natürlichkeit dieser Rollen. Somit verkörpert ihre bloße Existenz eine Bedrohung für das natürliche Erscheinungsbild der bürgerlichen Familienform.

Die gegenwärtigen Ängste in Pakistan in Bezug auf die Übertragung von Privateigentum und die Bedrohung, die das Gesetz anscheinend für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes ineinandergreifen, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu gewährleisten. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne das Familiensystem einfach nicht weitergehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von Trans Menschen sieht vor, dass eine Person, die sich als trans Mann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine trans Frau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional manipulieren, damit sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich die Ängste vorstellen, die das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“.

Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich. Während diese meist unbegründet sind, sind die Bedrohungen für das Leben und die Sicherheit von trans Menschen gefährlich real. Im Jahr 2021 wurden Berichten zufolge mindestens 20 trans Personen in Pakistan getötet. Das pakistanische Religionsgericht hat am 19. Mai 2023 trans Personen das Recht abgesprochen, so zu sein, wie sie sind. Dies ist ein fundamentaler Angriff auf ihr Selbstverständnis. Das Blut der jungen Menschen, die in den kommenden Tagen Selbstmord begehen, wird an den Händen von Mushtaq Ahmad Khan kleben und ebenso an den luxuriösen Dupatta-Schals und Kronleuchtern der JK Rowling-Imitation, die in Pakistan ihren Tee schlürft.

Kampf für die Rechte von trans Personen

Als Sozialist:innen und Arbeiter:innen sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass dies nicht nur einen Angriff auf die Rechte von trans Menschen ausmacht. Es ist in der Tat ein Angriff auf uns alle. Der heutige Tag ist ein schwarzer Tag und eine große Niederlage für die arbeitenden Massen und unterdrückten Menschen in Pakistan. Das Gericht, das benutzt wurde, um diesen Angriff auf unsere demokratischen Rechte zu inszenieren, trägt das Erbe des Militärdiktators Zia-ul-Haq. Heute haben sie es auf unsere transsexuellen Brüder und Schwestern abgesehen. Morgen werden sie es auf alle Frauen abgesehen haben und uns den Hidschab-Schleier aufzwingen, wie im benachbarten Iran im Namen des Islam. Warum sollte man überhaupt in den Iran gehen? Noch vor einigen Jahrzehnten hat Zia-ul-Haq den Hidschab für Staatsbedienstete vorgeschrieben.

Deshalb appelliert die Liga für die Fünfte Internationale an alle Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, Gewerkschaften, Feminist:innen und fortschrittlichen Menschen in Pakistan, gegen diese dogmatischen Kräfte zu kämpfen. Wir werden es selbst tun müssen, denn die Bourgeoisie wird es eindeutig nicht tun. Mushtaq Khan versuchte 2021, seine hässliche Agenda voranzutreiben, hatte aber keinen Erfolg, da sich Shireen Mazari damals gegen ihn stellte. Die derzeitige Gegenreaktion gegen trans Personen hat es dem herrschenden Regime ermöglicht, mit Hilfe der Medien, der Intelligenz und der Geistlichen Angst in den Köpfen der Massen zu schüren, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den Angriffen auf demokratische Rechte, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Die Jamaat-e-Islami-Partei hat diese Rolle lange gespielt, um das schwächelnde kapitalistische System zu verteidigen. Da die JI nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft an die Macht zu kommen, ist dies in der heutigen Zeit ihre einzige Aufgabe, um sich ihren Anteil am Kuchen zu sichern. Auch wenn ihre soziale Basis überschaubar ist, so kann doch nicht übersehen werden, dass sie sich hauptsächlich aus der Schicht der Kleinunternehmer:innen und Händler:innen, d. h. dem Kleinbürgertum, zusammensetzt. Diese Schichten können mobilisiert werden und wurden in der Vergangenheit auch mobilisiert, um die Arbeiter:innen und ihre Organisationen physisch zu bekämpfen und zu zerschlagen. Deshalb dürfen wir ihnen keinen Erfolg gönnen und müssen uns mit aller Kraft gegen diese patriarchalischen Angriffe der reaktionären Kräfte wehren. Unsere Brüder und Schwestern im Kampf im benachbarten Iran sollten uns dabei ein Vorbild liefern!

  • Fort mit der Aufhebung der Selbstidentifizierungsklauseln im Gesetz zum Schutz von trans Personen jetzt! Freiheit für alle, sich als ihr wahres Ich zu identifizieren!

  • Gleicher Mindestlohn für alle Männer, Frauen und trans Personen!

  • Staatlich finanzierte Schutzräume für trans Menschen, die von trans Personen aus der Arbeiter:innenklasse selbst verwaltet werden!

  • Nein zu jeglicher Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Orientierung, Religion, Rasse!

  • Recht auf gewerkschaftliche Organisierung für alle Berufe!

Wir rufen auch Sozialist:innen und Gewerkschafter:innen auf, Transphobie und andere derartige Missstände innerhalb unserer Bewegung zu bekämpfen. Das bedeutet, dass wir Gewerkschaften aufbauen müssen, in denen auch trans Personen vertreten sind, und dass wir auf ihre spezifischen Probleme eingehen müssen, indem wir ihnen und Frauen das Recht einräumen, sich ohne männliche Anwesenheit zu treffen (Caucus), um ihre Probleme offen und ohne Angst oder Behinderung zu diskutieren und die Entscheidungen und Vorschläge dann in die Gewerkschaften einzubringen. Wir müssen unsere Gewerkschaften stärken und demokratisieren, um unsere Forderungen durch Arbeitsniederlegungen wirksam durchzusetzen. Schließlich müssen wir eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufbauen, die nicht nur für unsere grundlegenden demokratischen Forderungen kämpft, sondern auch für die Macht, diese Forderungen durchzusetzen.




Frauen und die Revolution im Iran

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken.

Über 500 Menschen wurden von den bewaffneten Kräften der Staatsmacht, von Polizei, Geheimdiensten oder den sog. Revolutionswächtern, ermordet. Tausende wurden verletzt, über 20.000 festgenommen. Seit Monaten werden Aktivist:innen der Bewegung und bekannte Oppositionelle nach Schauprozessen öffentlichkeitswirksam hingerichtet, um die Massen einzuschüchtern und die Anhänger:innen des Regimes zu stärken.

Nach Monaten des heroischen Kampfes droht die Bewegung, durch die Konterrevolution der Mullahs zerschlagen zu werden. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, wird dieser „Sieg“ nicht von Dauer sein. Sie können zwar möglicherweise den Protest niederschlagen – die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime, die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Eine Revolution der Frauen

In den letzten Jahrzehnten erschütterten immer wieder Massenproteste den Iran. 2009, bei der sog. grünen Revolution, bildeten vor allem die städtischen Mittelschichten – Intellektuelle, das Kleinbürger:innentum sowie reformorientierte Unternehmerschichten, die ihre Hoffnungen in den damaligen Präsidentschaftskandidaten Chātami setzten – die soziale Basis der Bewegung.

2017 und vor allem 2019 änderte sich die Lage. Die „Unterschichten“, d. h. vor allem die Arbeiter:innenklasse, schwangen sich zur sozialen Trägerin des Kampfes auf. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes waren bei den Massen verflogen. Umso drängender rückten die sozialen Fragen in den Vordergrund.

2022 standen von Beginn an Frauen, Studierende und die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten im Zentrum.

Natürlich wurde dies auch durch den Mord an einer jungen Kurdin, Jina Mahsa Amini, durch die „Sittenpolizei“ befördert. Dass die Protestbewegung vor allem von jungen Frauen und Studentinnen getragen und vorangetrieben, sie mit gewissem Recht als feministische Revolution bezeichnet wurde, verweist auf tiefere gesellschaftliche Ursachen.

Frauen, Arbeit und Bildung

Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft und Unterdrückung ging mit einer widersprüchlichen, teilweise geradezu paradoxen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen, teilweise auch in der Arbeitswelt einher.

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und insbesondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Nach unterschiedlichen Schätzungen leben 35 – 50 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend angesichts von massiver Inflation und ökonomischer Stagnation.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. So liegt der Anteil von Frauen an den Beschäftigten noch immer bei nur 17,26 % (er überstieg in der Islamischen Republik nie 20 %). Auch wenn dies den realen Anteil der Erwerbsarbeit von Frauen nicht reflektiert, weil ein großer Teil der in der Landwirtschaft Beschäftigten (Schätzungen gehen davon aus, dass rund 60 % der Arbeit auf dem Dorf von Frauen erledigt wird) wie auch nicht offiziell registrierte Beschäftigung rausfallen, werden Frauen auf dem Arbeitsmarkt schon nach amtlichen Zahlen massiv diskriminiert.

Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen (https://de.theglobaleconomy.com/Iran/) mit offiziell 18,96 % im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89 %). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21 %. Mit fast 89 % extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen.

Die Anzahl studierender Frauen ist seit Jahren vielen Mullahs an Dorn im Auge. Unter dem erzkonservativen Einpeitscher Ahmadineschād wurde nicht nur auf propagandistischer und ideologischer Ebene gegen diesen „Auswuchs“ angegangen, sondern wurden auch Männerquoten in verschiedenen, vor allem technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen eingeführt. Der „Erfolg“ war mäßig, da selbst regimetreue, sozial-konservative Väter (einschließlich hoher Kleriker) aller reaktionären Gesinnung zum Trotz ihre Töchter an die Unis schicken und gut ausgebildet haben wollten.

Die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nimmt daher viel stärker die Form der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt an.

Für beschäftigte Arbeiterinnen kommt „natürlich“ auch noch Sexismus am Arbeitsplatz hinzu. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist, so dass dieser einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet.

Von der halben Revolution zur ganzen Konterrevolution

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Anders als heute gern von den bürgerlichen Medien vereinfacht dargestellt wird, war die iranische Revolution zu Beginn am Ende der 1970er Jahre keineswegs eine „islamische“.

Im Kampf gegen das Schahregime stellten die Linken, die Arbeiter:innenklasse und auch eine starke Frauenbewegung eine zentrale Kraft dar. Politisch kann die iranische Revolution als Kampf dreier Kräfte betrachtet werden. Erstens das prowestliche despotische Schahregime, das sich auf den Imperialismus, den iranischen Staatsapparat und einen Teil der herrschenden Klasse stützte, zweitens die von liberalen, mehr und mehr aber auch von den lslamist:innen vertretene oppositionelle Bourgeoisie und Mittelklasse.

Schließlich die Arbeiter:innenschaft und bäuerliche Schichten. Sie bildeten nicht nur eine zentrale Kraft beim Sturz des Schah, sondern die Arbeiter:innenklasse errichtete auch Formen der Doppelmacht, vor allem in verstaatlichten Betrieben und auf den Ölfeldern (Schoras = Räte).

Aber die stalinistische Doktrin der iranischen Linken erwies sich selbst als Hindernis für die Revolution. Gemäß ihrer Vorstellung war das Land für eine sozialistische Umwälzung noch nicht reif, vielmehr stünde als nächste Etappe eine antiimperialistische, bürgerliche Revolution an, die die „nationale Bourgeoisie“ zuerst an die Macht bringen müsste. Vor diesem Hintergrund wurden Khomeini und seinen Anhänger:innen als Verkörperung der antimonarchischen, nationalen Revolution betrachtet.

Politisch bedeutete dies, die Interessen der Arbeiter:innenklasse wie aller Unterdrückten – und das hieß vor allem jene der Frauen – denen der „nationalen“ Bourgeoisie und damit den Islamist:innen unterzuordnen.

Dies und die eng mit ihnen verbundenen Sektoren der Kapitalist:innenklasse, insbesondere die in Teheran ansässigen Handelskapitale (Bazaris), hatten ihrerseits längst die Linke und die Arbeiter:innenklasse als unversöhnlichen Gegnerinnen ausgemacht. Das lag nicht zuletzt auch an deren Stärke. Die Eroberung des Flughafens Teheran durch bewaffnete Guerillaeinheiten, die die Armee vertrieben, und die Errichtung von Arbeiter:innenräten beunruhigten alle kapitalistischen und reaktionären Kräfte. Zu Recht fürchteten sie (wie auch die westlichen Regierungen), dass die Revolution auch die Eigentumsverhältnisse in Fragen stellen könnte.

Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass eine solche, ihrem Wesen nach sozialistische Revolution gesiegt hätte. Aber die Unterordnung der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft unter die herrschende Klasse konnte ihrerseits nur zum Sieg der Konterrevolution führen. Khomeini und die islamistischen Kräfte vernichteten alle Kräfte der Arbeiter:innenbewegung und der demokratischen Opposition – einschließlich vieler, die ihn als „Antiimperialisten“ gepriesen hatten. Tausende und Abertausende wurden gefoltert, liquidiert oder „verschwanden“. Die Arbeiter:innenklasse erlitt eine historische Niederlage. Die halbe, im Kampf um die Demokratie stehengebliebene Revolution endete mit einer ganzen Konterrevolution.

Konterrevolution und Entrechtung

Deren Sieg bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft.

Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, as islamische Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage. Hier einige zentrale Folgen für die Frauen:

  • Frauen sind strengen Kleidervorschriften, die u. a. die Zwangsverschleierung umfassen, unterworfen.

  • Frauen sind vor Gericht den Männern nicht gleichgestellt. Ihre Aussage zählt nur halb so viel wie die eines Mannes. In manchen Fällen sind sie erst gar nicht als Zeuginnen zugelassen.

  • Frauen sind von bestimmten Berufen (Armee, Richterinnen) ausgeschlossen.

  • Frauen benötigten für Arbeit, Reisen und Scheidung das Einverständnis ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder.

  • Sie haben faktisch keinen Anspruch auf Sorgerecht.

  • Das Mindestalter für Ehen und die volle Strafmündigkeit wurde bei Mädchen auf neun Jahre heruntergesetzt, Abtreibungen wurden verboten.

  • Männer haben das „Recht“, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau gewaltsam durchzusetzen. Vergewaltigung in der Ehe ist daher legal.

  • Geschlechtertrennung wurde in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens eingeführt, zum Beispiel im Personennahverkehr, beim Sport, in Bildungsinstitutionen und bei der Gesundheitsversorgung.

Die meisten dieser Maßnahmen wurden im Zuge der „kulturellen Revolution“ der Mullahs in den Jahren 1980 – 1983 eingeführt, in einer Art konzertierter Aktion zur Auslöschung aller Errungenschaft der Frauen. Auch wenn einige wenige Gesetze seither etwas gelockert wurden, blieb das System der institutionellen Unterdrückung bis heute intakt und stellt einen Eckpfeiler der klerikalen Diktatur dar.

Diese Form begünstigt Sexismus und Gewalt bis hin zu Femi(ni)ziden in Familien, in der Öffentlichkeit und durch staatliche Repressionsorgane. So sind Folter, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen durch Pasdaran (Iranische Revolutionsgrade), Sittenpolizei und andere Reaktionswächter weit verbreitet. Im Extremfall wurden Vergewaltigungen vor Hinrichtungen sogar durch sog. „Zeitehen“ gegen den Willen der Frauen von Geistlichen legalisiert.

Welche Revolution?

Die Erfahrungen der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen (sowie armen Bauern und Bäuerinnen sowie unterdrückten Nationalitäten) im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nichtmonarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student:innen und Arbeiter:innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen und Mittleren Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden. Und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können.

In einer Situation, in der die Repression immer erdrückender gerät, ist es jedoch schwieriger denn je, eine offene Debatte über Strategien zu führen. Hierbei könnten wohl im Exil Lebende eine wichtige Rolle spielen, doch es bleibt zentral, dass die linken Organisationen vor Ort sich dieser Debatte nicht verschließen. Andernfalls verblasst das Potenzial erneut.

Denn klar ist: Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Von der Verteidigung der Bewegung zur Revolution

Martin Suchanek, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben verbinden seit Monaten Parolen wie „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes. Ihnen ist längst bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Trotz der Repression im Herbst 2022 verbreiteten sich die Proteste wochenlang. Die Aktionen waren auf lokaler, universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet hatten. Aber die Bewegung besaß kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

In den letzten Wochen zeigt sich dieses Problem immer deutlicher. Die Konterrevolution hat die Initiative ergriffen, droht, die Bewegung im Blut zu ersticken.

Um das zu verhindern, braucht sie Kampfformen, die sie vereinheitlichen kann und die das gesamte Land erschüttern können – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Alle Unterdrückten, die Frauen, die Jugend, die nationalen Minderheiten würden darin einen zentralen Platz einnehmen. Die Bewegung würde so auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung geraten.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufrufe an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Übergangsprogramm

Es braucht ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!

  • Volle demokratische Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!

  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!

  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!

  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!

  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!

  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!

  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und alle anderen Unternehmen!Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!

  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assadregimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!

  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!

  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!



Iran: Das Regime droht, die Revolution im Blut zu ertränken

Martin Suchanek, Neue Internationale 271, Februar 2023

Seit Monaten versucht das islamistische Regime, die Massenproteste und -erhebungen, die nach dem Mord an Jina Mahsa Amini das Land erschüttern, im Blut zu ertränken.

Im September 2022 erfasste die Bewegung das gesamte Land und nahm vorrevolutionäre Dimensionen mit Hunderttausenden auf den Straßen, regionalen befristeten Generalstreiks an. Die Frauen aus der Arbeiter:innenklasse standen an der Spitze der Bewegung. Die Universitäten bildeten ebenso Zentren des Widerstandes wie die unterdrückten Nationalitäten, deren Regionen zeitweilig durch lokale Massenstreiks vollständig paralysiert wurden. Immer wieder traten auch wichtige Sektoren der Arbeiter:innenklasse durch Arbeitsniederlegungen und Streikaufrufe massiv in Erscheinung.

Die Losung „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frauen, Leben, Freiheit) war von Beginn weit mehr als die Forderung nach vollen demokratischen und sozialen Rechten für Frauen und andere Unterdrückte, sondern untrennbar mit dem Ziel verbunden, das Mullah-Regime zu stürzen.

Der Ausbruch der Revolution war selbst Resultat der brutalen Repression durch die theokratische Diktatur, ihren Staatsapparat und ihre Scherg;innen. Die reaktionären Bekleidungsvorschriften bildeten so einen Fokus, eine Zusammenfassung eines unterdrückerischen patriarchalen Systems, das zwar weit ältere Wurzeln als die Mullah-Herrschaft aufweist, in denen sich jedoch der Charakter letzterer öffentlich, ideologisch, repressiv, ja mörderisch zusammenfasst.

Zugleich erzeugte die tiefe ökonomische Krise den sozialen Hintergrund der Bewegung. Der islamistische Kapitalismus verwehrt seinen Untertan:innen, allen voran den Frauen und unterdrückten Nationalitäten, nicht nur jede Form der Gleichheit. Er ist immer weniger in der Lage, das Überleben, die Reproduktion der Ausgebeuteten auch nur als Ausgebeutete zu sichern. Seit 2018/19 betrug die Inflationsrate pro Jahr zwischen 30 und 40 %. 2023 soll sie über 40 % betragen. Die Preissteigerungen für Lebensmittel spiegelt das jedoch keineswegs wider. Diese lagen 2022 selbst nach offiziellen staatlichen Angaben bei ca. 100 %.

Repression

Es ist daher kein Wunder, dass das Regime über wenig Spielraum zu Befriedung der Proteste verfügt. Und die wirtschaftlichen Probleme werden auch 2023 nicht geringer werden.

Daher setzt das Regime vor allem auf Repression und ideologische Mobilmachung, verbunden mit kleineren Zugeständnissen. So wurde die besonders verhasste Sittenpolizei, die auch Jina Mahsa Amini umbrachte, als Resultat der Proteste von den Straßen zurückgezogen. Teile des Regimes kündigten sogar die Auflösung der Einheiten an. Ob diese wirklich erfolgt, bleibt jedoch ungewiss.

In jedem Fall ging das Regime, gestützt auf die Polizei, die ultrareaktionären Repressionswächter, Geheimdienste und den Überwachungsapparat mit extremer Brutalität vor.

Seit September 2022 wurden mindestens 520 Demonstrant:innen getötet und mehr als 19.000 festgenommen. Seit Wochen werden Oppositionellen öffentlich Prozesse gemacht und diese medienwirksam zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch wenn einzelne Proteste Verschiebungen von Exekutionen erreichen konnten, so lässt sich seit Wochen eine Stärkung des Regimes beobachten. Öffentliche Prozesse und Hinrichtungen wegen Blasphemie in Kombination mit „Vaterlandsverrat“ erfüllen dabei zwei Funktionen: Einerseits sollen sie die Stärke und Einheit des Regimes, seines Staats- und Repressionsapparates zur Schau stellen und so auch dem reaktionären Anhang, über den die islamistische Diktatur durchaus auch verfügt, Zuversicht und Stärke vermitteln. Zweifelnden und schwankenden Elemente in der Elite oder ihren angelagerten Schichten soll vermittelt werden, dass es sich nicht lohnt, „abtrünnig“ zu werden.

Andererseits soll sowohl der Bewegung als auch ihren Aktivist:innen vermittelt werden, dass sie trotz Massenunterstützung gegen das Regime nicht ankommen und vor die Alternative Tod oder Kapitulation gestellt werden. Symbolträchtige Hinrichtungen wie jene des ehemaligen Vizeverteidigungsministers und britischen Staatsbürgers Akbari sollen deutlich machen, dass wirklich niemand geschont wird. Zudem soll dieser Fall auch suggerieren, dass die Opposition eigentlich von westlichen Geheimdiensten gekauft und kontrolliert werde.

Zweifellos gibt es solche Oppositionspolitiker:innen, zweifellos versuchen proimperialistische, bürgerliche oder auch monarchistische Kräfte, in der Bewegung Fuß zu fassen. Doch insgesamt handelt es sich um eine monströse, reaktionäre Lüge, eine Verleumdung der Millionen Frauen, Arbeiter:innen, Student:innen und der unterdrückten Nationalitäten in Kurdistan oder Belutschistan, die für ihre Freiheit ihr Leben riskieren.

Tausende Inhaftierte und hunderte Ermordete sind heroische Kämpfer:innen, deren einziges „Verbrechen“ darin bestand, gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufzustehen. Bei den inszenierten Prozessen und Hinrichtungen sollen nicht nur einzelne Personen, nur deren Mut und Entschlossenheit ausgelöscht, sondern auch die revolutionären Möglichkeiten und Hoffnungen, die in der Bewegung sichtbar wurden und die Massen erfassten, im Blut ertränkt werden. Die Ordnung, die die Mullahs wieder festigen wollen, ist auf Leichen gebaut.

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Das Schlimmste an der Repression, an den barbarischen Hinrichtungen ist jedoch, dass sie eine wirkliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Regimes ausdrücken. Ein Sieg der Konterrevolution – und mag er auch nur zeitweilig sein – droht, sollte sich die Lage nicht grundlegend verändern.

Angesichts dieser Situation stellen sich zwei, miteinander verbundene Fragen: 1. Warum kam es zu dieser Verschiebung des Kräfteverhältnisses, obwohl Millionen das Regime stürzen wollten? 2. Welche Lehren sind daraus zu ziehen, um bei einem neuen Ansturm besser vorbereitet und erfolgreich zu sein?

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und der Bildung von Soldatenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder muss sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrüclung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nicht-monarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Iran-Proteste: „Anfangs emotional – jetzt politisch“

Interview der Liga für die Fünfte Internationale mit Ali Rezaei, einem Iranischen Sozialisten, Infomail 1205, 18. November 2022

LFI: Wir möchten unser Mitgefühl ausdrücken. Wir wissen, dass viele Menschen, und fast alle Sozialist:innen, im Iran einen geliebten Menschen verloren haben oder um einen solchen fürchten. Wie fühlst Du Dich, wenn Du jetzt Tausende von Menschen siehst, die sich auf den Straßen des Irans wehren?

AR: Das iranische Volk kämpft gegen einen barbarischen Klerus, dessen Brutalität die Jugend, die Frauen, die Arbeiter:innen, die Armen, die Liberalen, die Progressiven, die Sozialist:innen und alle, die einen anderen Standpunkt vertreten, mit Blut getränkt hat. In jeder Stadt, ja in jeder Familie, gibt es Beispiele von Menschen, die nicht nur Unterdrückung und Gewalt, sondern auch den Tod erlebt haben. Der Klerus hat das Leben zu einer Qual gemacht.

Dies ist keine gewöhnliche Bewegung, sondern der Hass gegen den Klerus ist explodiert. Die Ermordung von Jina Mahsa Amini hat eine Revolution ausgelöst, in der Frauen eine zentrale Position eingenommen haben und Student:innen ebenfalls sehr wichtig sind. Sie haben in den Bewegungen der Vergangenheit immer eine entscheidende Rolle gespielt. Die iranische Gesellschaft hat die Herrschaft des Klerus abgelehnt.

Die Ermordung von Mahsa hat die Angst zerschlagen. Ursprünglich war es emotional, aber jetzt ist es politisch, eine Bedrohung für das Regime, das die Massen seit vier Jahrzehnten unterdrückt hat. Die Bewegung hat das einfache Volk geeint. Es scheint, dass das Ende dieses repressiven Regimes möglich ist. Das treibt den Kampf voran und hat Kurd:innen, Belutsch:innen, Araber:innen sowie die Arbeiter:innen und Armen mit einbezogen.

Die Revolte, die sich an Universitäten und Schulen ausgebreitet hat, ist ermutigend. Früher waren es Aktivist:innen, die hofften, dass diese dunkle Nacht ein Ende haben würde. Jetzt wird diese Stimmung von der gesamten Gesellschaft geteilt, die sich weigert, dieses Scharia-System zu akzeptieren. Unterdrückung und Tyrannei werden nicht länger geduldet, die Menschen kämpfen dagegen und für die Freiheit.

LFI: Mahsa ist ein Symbol für die Brutalität der Sittenpolizei und die Unterdrückung des kurdischen Volkes. Jetzt ist sie auch zu einem Band geworden, das den Widerstand wieder zusammengeführt hat. Wie hat sich der Tod von Mahsa auf Dich ausgewirkt?

AR: Ihr richtiger Name ist nicht Mahsa Amini. Im Iran darf man keine kurdischen Namen verwenden. Ihr richtiger Name ist Jina. Das zeigt, wie stark die nationale Unterdrückung im Iran ist. Die Art und Weise, wie Demonstrant:innen nach der Vergewaltigung eines belutschischen Mädchens getötet wurden, zeigt das wahre Gesicht dieser islamistischen Regierung. Ob unter dem Schah oder dem Klerus, in den Gebieten der unterdrückten Nationen kamen immer extreme Formen der Unterdrückung vor, Rückständigkeit und Armut. Aber es gab auch Widerstand, manchmal bewaffnet. Türk:innen, Kurd:innen, Araber:innen und Belutsch:innen sind in dieser Bewegung vereint, und die Slogans gegen die nationale Unterdrückung und das herrschende Regime vereinen die Bewegung.

Für die iranischen Staatsbürger:innen ist das Regime des Klerus seit Jahrzehnten eine Falle. Im Rahmen dieser Bewegung gegen die Ermordung von Mahsa droht vielen jungen Frauen und Student:innen die Inhaftierung. Viele wurden sogar bereits brutal ermordet. Tod der Diktatur! Sie ist eine Blutsaugerin! Die Fundamente dieses Systems stehen in dem Blut, das diese berüchtigte religiöse Diktatur vergossen hat. Wir alle sind Jina. Die Solidarität mit dieser Revolution gibt uns Hoffnung. Ich appelliere an die Frauen und Arbeiter:innen in aller Welt, diesen Kampf gegen die Unterdrückung, die die schlimmste Dekadenz des kapitalistischen Systems und des Imperialismus hervorgebracht hat, weiterhin zu unterstützen.

LFI: Wir hören Berichte über eine neue Generation junger iranischer Frauen, die sich weder dem Staat noch seiner Ideologie beugen.

AR: Die Haltung des klerikalen Regimes war für Frauen schon vor diesem Mord unerträglich geworden. Die Geschichte der Frauenbewegungen im Iran ist bewundernswert. Es gab bereits ein Gefühl der Macht, aber der Tod von Mahsa verwandelte dies in eine Revolution.

Die Frauen akzeptieren den Hidschab und andere Einschränkungen nicht. Jugendliche und Student:innen, die eine wichtige Rolle spielen, sind für die Mullahs schwer zu kontrollieren. Hass und Wut wachsen. Einer der Hauptgründe dafür ist neben den Einschränkungen und der Unterdrückung die Wirtschaftskrise. Der jungen Generation wurde die Hoffnung genommen, und ihre einzige Möglichkeit ist der Kampf.

Die Situation ist jetzt ganz anders. Eine große Mehrheit der Bevölkerung will die Mullahs loswerden. Frauen spielen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung, aber jetzt schließen sich alle Schichten der Bewegung an. Selbst religiöse Menschen hassen diese Regierung jetzt, was bedeutet, dass die Wurzeln des klerikalen Regimes hohl geworden sind und seine Basis sehr schwach ist.

LFI: Kannst du uns etwas über die Mentalität dieser neuen Generation erzählen, von der wir alle hoffen, dass sie der Garant für zukünftige Freiheit sein wird?

AR: Junge Menschen machen mehr als 60 Prozent der iranischen Gesellschaft aus. Sie tragen nicht die Last vergangener Niederlagen und stehen in Kontakt mit der modernen Welt, auch wenn es viele Probleme gibt und die Situation sehr kompliziert ist. Inflation und Arbeitslosigkeit haben jedoch alle Schichten der Gesellschaft erfasst. Auch die Mittelschicht ist davon stark betroffen, und deshalb umfasst die Bewegung verschiedene Schichten.

Andererseits ist die Popularität der Mullahs auf einen Tiefpunkt gesunken, und es wird immer schwieriger, diese Jugendlichen zu kontrollieren. Sie sind wütend über die Demütigung, der sie, insbesondere die Frauen, ausgesetzt sind. Die Gesellschaft liegt bereits so sehr im Würgegriff, aber es werden noch mehr Einschränkungen auferlegt, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Frauen werden nicht nur gedemütigt, sie werden gewaltsam verhaftet und verschwinden, und auch die Familienmitglieder werden gedemütigt. Das ganze System basiert auf Angst und Unterdrückung, und die Jugend akzeptiert es nicht mehr.

LFI: Wie reagieren die Sittenpolizei und das Regime auf diese junge Generation? Kannst Du uns etwas über die Praktiken der Sittenpolizei und das Leid, das sie verursacht, erzählen?

AR: Der iranische Staat und seine Institutionen waren früher in der Lage, jeden Widerstand mit Gewalt zu unterdrücken. Seit 2009 wurden verschiedene Bewegungen durch die brutale Repression, das Verschwinden-Lassen, die Verhaftungen und die Massaker der Welayat-e-Faqih-Bande (Statthalterschaft des Rechtsgelehrten), der mörderischen sogenannten Wächter:innen der Revolution und anderer niedergeschlagen. Die Unterdrückung der Kurd:innen und Belutsch:innen ist besonders extrem.

Schon vor Covid trug die anhaltende Wirtschaftskrise zu einem starken Anstieg von Armut, Inflation und Arbeitslosigkeit bei. Gegenwärtig leben mehr als 40 Prozent der iranischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Die Ermordung von Jina Mahsa Amini löste den allgemeinen Widerstand aus, aber die Ursachen für diese Revolution waren bereits vorhanden. Die Brutalität des Staates hat nicht abgenommen, aber jetzt ist es nicht mehr der Kampf einer einzelnen Schicht. Auch religiöse Menschen wollen ihn loswerden. Die Mehrheit wird dieses System nicht akzeptieren und will einen Ausweg. Die Tapferkeit der Frauen und Studentinnen ist eine Ohrfeige für das Regime. Trotz der Tatsache, dass Massaker, Verhaftungen und das Verschwinden-Lassen von Personen an der Tagesordnung sind, hält dies die Moral der Bewegung aufrecht. Obwohl die vorherige Generation Angst um ihre Kinder hat, gibt ihr Mut auch den Eltern Hoffnung.

LFI: Wir hören von neuen Netzwerken unter radikalen Student:innen und innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Wie effektiv sind sie und welche Rolle haben sie vor Ort gespielt?

AR: Die Protestbewegung brach spontan aus, aber es existiert eine Koordination, die nicht nur durch Internetaufrufe kommuniziert wird. Es besteht auch eine lokale Koordination. Die Menschen sprechen über die aktuelle Situation bei den Protesten und diskutieren auch die Strategie für Aktionen. Student:innen  an den Universitäten unterhalten Netzwerke, die die Autorität der Mullahs ablehnen. Es gibt Organisationen der Arbeiter:innenklasse, die Proteste und Streiks organisieren. Alle diese Organisationen spielen eine wichtige Rolle, aber das Fehlen einer Führung, die einen landesweiten Wandel erzwingen kann, ist jetzt noch deutlicher zu spüren. Die Ermordung von Jina Mahsa Amini hat den Iran geeint, aber es gibt Widersprüche, und wir brauchen eine Strategie, die die Mullahs zurückdrängen und die Revolution weiter voranbringen kann.

LFI: Was bedeutet die Wirtschaftskrise? Wie stehen die Aussichten für die Linke?

AR: Die Wirtschaftskrise hat im Iran Verwüstungen angerichtet, die Preise für die Grundbedürfnisse sind um mehr als 60 Prozent gestiegen. Die Mittelschicht ist ruiniert und die Bedingungen für die Arbeiter:innen sind schrecklich. Berichte über die Korruption der Mullahs stehen auf der Tagesordnung. Fabriken werden geschlossen, in der Ersatzteilproduktion sind 100.000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Die Menschen im Iran haben auch die Nase voll von der Interventionspolitik des Mullah-Regimes in anderen Ländern, die ihr Leben immer weiter von der Welt isoliert. Sie alle beteiligen sich an der Revolution „Frau. Leben. Und Freiheit“. Alle sehen die Lösung der Wirtschaftskrise im Tod der Diktatur. Die Situation ist sehr schwierig, es gibt keine besonders starke Strömung. Begrenzt kommt sogar Unterstützung von Liberalen und Anhänger:innen des ehemaligen Schahs, aber es ist auch Raum geschaffen für sozialistische Ideen. In wirtschaftlicher Hinsicht haben die Sozialist:innen eine Perspektive für das Ende des Mullah-Regimes, die Freiheiten und ein Ende der wirtschaftlichen Unterdrückung bringt.

LFI: Hat die Bewegung auch die industriellen Zentren des Irans erreicht? Schließlich müssen die Inflation und die allgemeine Krise viele Menschen und Familien aus der Arbeiter:innenklasse an den Rand treiben. Welche Forderungen beziehen sich konkret auf die Klassenfrage?

AR: Der Kampf entwickelt sich in der Arbeiter:innenklasse, und sie nimmt an den Protesten teil, aber viele ihrer Anführer:innen wurden verhaftet. Die Arbeiter:innenklasse beteiligt sich in verschiedenen Städten daran, insbesondere die Lehrer:innen sind in dieser Hinsicht sehr aktiv. In Teheran sind die Busfahrer:innen mobilisiert, und die Tankwagenfahrer:innen haben am 19. Oktober in Solidarität mit dem Protest gestreikt. Die Arbeiter:innen der Röhrenwerke, des Stahlkomplexes Neyriz Ghadir, der Mehrschar-Raffinerie, der petrochemischen Gesellschaft und der Raffinerie in Abadan, der petrochemischen Gesellschaft auf der Insel Hengham, der petrochemischen Gesellschaft in Buschehr und des Gaskondensatfeldes in Südparas streiken und protestieren in Solidarität mit den Demonstrant:innen. Die Verhaftung der Anführer:innen hat jedoch zu Schwierigkeiten geführt.

Trotz der Einschränkungen im Internet nehmen die Proteste nicht ab. Die Menschen sind immer noch über verschiedene alternative Quellen miteinander verbunden. Ja, es gibt Schwierigkeiten, aber aufgrund der Widersprüche des Imperialismus eröffnen sich auch Chancen, und viele junge Menschen erstellen Links, die Videos und andere Botschaften verbreiten. Die Regierung greift jedoch immer wieder an. Verschiedene Gewerkschaften haben zum Streik aufgerufen und es kam zu erfolgreichen Arbeitsniederlegungen, aber das generelle Problem dieser Revolution ist immer noch das einer kollektiven Führung. Ein Generalstreik ist wichtig, aber er muss bis zum Ende des Mullah-Regimes andauern. Dies erfordert die Bildung von Fabrik- und Betriebsräten sowie Verteidigungskomitees. Ohne sie ist die staatliche Repression unvermeidlich, und es ist nicht möglich, es mit ihr aufzunehmen.

LFI: Ist es richtig zu sagen, dass alle, die sich an dem derzeitigen Kampf beteiligen, den Sturz des Regimes wollen?

AR: Die Bewegung will mehr als nur Reformen, sie will das Ende des Mullah-Regimes. Es ist ein starker Geist, der die Menschen aktiv hält. Trotz aller Unterdrückung sind die Menschen nicht bereit, sich mit weniger zufriedenzugeben als mit dem Sturz der Regierung. Die Unterdrückung ist jedoch sehr hart. Und die Demonstrant:innen müssen vor den Mörder:innengarden und anderen reaktionären Kräften geschützt werden. Die Demonstrant:innen widersetzen sich diesen Kräften, aber das muss organisiert werden.

Alle wollen das Ende dieser Regierung, aber das Fehlen einer nationalen Führung bedeutet, dass es keine klare Strategie gibt, und das ist eine gefährliche Situation. Wenn die Regierung stürzt, werden die Reformist:innen versuchen, sich als Alternative zu präsentieren, auch wenn sie im Moment wenig Unterstützung genießen. Dann gibt es auch noch die Pahlavi-Anhänger:innen des alten Schah-Regimes. In einer solchen Situation kann es auch zu einer gewissen Unterstützung durch die Bevölkerung kommen, aber das ist nicht die Alternative, für die die Menschen kämpfen. Unserer Meinung nach ist die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung wichtig, die die Arbeiter:innen durch die Bildung von Räten demokratisch vereinen kann, und Wahlen unter deren Kontrolle sind unerlässlich. Das sozialistische Programm ist die einzige Lösung, die der Barbarei der Mullahs ein Ende setzen und auch eine breitere Demokratie bringen kann. Es wendet sich gegen das kapitalistische System und den Imperialismus, was bedeutet, dass die Ressourcen des Irans genutzt werden können, um das Leben des Volkes zu verbessern, anstatt den Interessen der herrschenden Klasse untergeordnet zu werden.

LFI: Was sind die führenden politischen Kräfte in der Oppositionsbewegung? Welche Klasse führt die Bewegung an? Welche Rolle spielt die Arbeiter:innenklasse als politische Kraft?

AR: Dies begann als eine „spontane“ Bewegung. Schon vor der Ermordung von Jina Mahsa Amini waren alle Zutaten vorhanden, aus denen diese Bewegung entstanden ist. Sie umfasst Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, und verschiedene Vereinigungen unterstützen sie. Sie ist auch in den kurdischen und belutschischen Gebieten zu finden und zieht die verwüstete Mittelschicht an. Das Einzige, was sie eint, ist die Opposition gegen die Regierung.

Der Einfluss der Jugend in dieser Bewegung ist sehr groß und vor allem die Studentinnen sind sehr aktiv, trotz aller Unterdrückung, Gewalt und Mordes. Die Liberalen hoffen auf Demokratie. Sie wollen sich wieder mit der Welt verbinden, stehen der Regionalpolitik des Staates kritisch gegenüber und wollen ein freies Leben führen. Ein Leben in Ketten ist für sie nicht akzeptabel. Die reformistische Führung ist nicht dominant, aber viele derjenigen, die Hoffnungen in den Reformismus setzen, sind aktiv.

Es gibt Platz für die Linke und sie ist auch aktiv. Die Gewerkschaften beteiligen sich an den Protesten. Zwar wird gestreikt, doch müssen diese Maßnahmen zu einem landesweiten Streik und dem Sturz der Regierung ausgebaut werden. Es muss eine sozialistische Alternativbewegung geben, denn dieses System hält keine Lösung für die Menschen im Iran parat. Die Möglichkeit der Vorherrschaft der Konterrevolution ist unter diesen Umständen nicht völlig auszuschließen.

LFI: Wie können die Frauen der Arbeiter:innenklasse und die Arbeiter:innenklasse als Ganzes nicht nur in den Vordergrund der Straßenkämpfe treten, sondern die Führung im Kampf für die Nachfolge des Regimes übernehmen? Wie können sie die Vorkämpfer:innen für eine sozialistische Republik werden? Gibt es Kräfte, die versuchen, die beginnende demokratische Revolution dauerhaft zu machen?

AR: Trotz aller Repression und Gewalt sind die Mullahs immer noch nicht in der Lage, die Revolution zu kontrollieren. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass diese Situation nicht ewig andauern kann. Jetzt ist ein unbefristeter Generalstreik notwendig, der deutlich macht, dass die wirkliche Macht in der Gesellschaft bei der Arbeiter:innenklasse liegt und sie das System stoppen kann. Die Linke hat wenig politischen Einfluss auf die Bewegung, aber es gibt viele Möglichkeiten für sie in dieser Revolution. Wenn sie nur der bestehenden Bewegung hinterherlaufen würde, könnte das Ergebnis ins Leere laufen, denn selbst wenn das Regime der Mullahs stürzt, könnte die Macht an jene Kräfte (reformistische, prowestliche, Pahlavi) übergehen, die nichts für die Arbeiter:innen und die Armen des Irans tun werden und auch nicht die vollen Freiheiten für die Frauen und die Demokratie bringen würden.

Wir brauchen eine klare sozialistische Alternative, die eine verfassunggebende Versammlung fordert und eine Arbeiter:innenregierung anstrebt, deren Programm das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung anerkennt. Nur das kann diese Bewegung zum Erfolg führen. Es braucht eine revolutionäre Kraft im Iran, die für die Strategie der Permanenten Revolution kämpft und glaubt, dass das Ende des Mullah-Regimes und der Kampf für demokratische Freiheiten im Iran mit der Befreiung vom Imperialismus und dem Ende des Kapitalismus verbunden ist. Eine solche Kraft befindet sich in einem frühen Stadium, aber sie hat die Möglichkeit, ihr Programm zu präsentieren.

LFI: Was wären die ersten Dinge, die Sozialist:innen umsetzen würden, wenn sie nach dem Sturz des Mullah-Regimes das Sagen hätten?

AR: Die Abschaffung des Hidschabs und aller anderen Gesetze gegen Frauen, vollständige demokratische Freiheiten, das Recht auf Selbstbestimmung für unterdrückte Nationen, die vollständige Trennung des Staates von der Religion und die vollständige Beendigung der Hilfe für religiöse Institutionen, die Beendigung der regionalen Intervention und die Einführung einer Planwirtschaft, so dass das Ziel der Wirtschaft nicht darin besteht, Profite für die Bürokratie und die kapitalistische Klasse zu erwirtschaften, sondern alle Ressourcen für die Verbesserung des Lebens der Arbeiter:innen und armen Menschen zu verwenden. Dies ist im bestehenden Staat unmöglich, daher ist die Abschaffung des bestehenden Staates und die Errichtung eines Arbeiter:innenstaates, der von Arbeiter:innenräten kontrolliert wird, notwendig.




Die iranische Revolution hat begonnen – wie kann sie siegen?

Martin Suchanek, Neue Internationale, November 2022

Die iranische Revolution steht an einem entscheidenden Punkt. Seit Wochen gehen Tausende, ja insgesamt wohl Millionen auf die Straße. In den kurdischen Regionen legten Generalstreiks das öffentliche Leben lahm. Die Universitäten bilden einen Hort des Widerstandes. Und seit Wochen breiten sich auch Streiks im Land aus.

Die Massen zeigen seit Wochen, dass sie nicht mehr leben wollen wie bisher. Ihre Kraft, ihr Heroismus, ihr Widerstand, an dessen Spitze bis heute vor allem junge Frauen stehen, konnte vom Regime bisher nicht gebrochen werden – trotz massiver Repression, trotz hunderter Toter, trotz Tausender Verletzter, Festgenommener und trotz inszenierter regierungstreuer Aufmärsche.

Doch die Bewegung steht auch an einem entscheidenden Punkt. Sie konnte zwar das islamistische Regime erschüttert. Brechen konnte sie es bisher jedoch nicht. Die Mullahs verfügen nach wie vor über einen zentralisierten Staats- und Repressionsapparat. Sie kontrollieren nach wie vor die Reichtümer des Landes, die Medien, die öffentlichen Institutionen, vor allem Hunderttausende in den Polizeikräften, Armeeeinheiten, Geheimdiensten und Milizen wie die Pasdaran und die Basidsch-e Mostaz’afin, die zu jedem Verbrechen bereit sind, um die Massenbewegung in Blut zu ertränken. Unverhohlen drohen die Führer der Reaktion wie der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, mit Worten wie: „Die Demonstranten sollten die Geduld des Systems nicht überstrapazieren.“ Was damit gemeint ist, zeigen Bilder aus Mahabad, wo Kräfte des Regimes am 28. Oktober in die Menge schossen.

Bislang hat die Bewegung trotz der Brutalität des Regimes standgehalten, ja sie hat sich über Wochen ausgeweitet und verbreitet. Doch wir nähern uns täglich einem Punkt, an dem das Regime versuchen wird, die Offensive wieder zu erlangen. Für die Bewegung stellt sich daher die Überlebensfrage: Wie kann die Massenbewegung zu einer organisierte Kraft werden, die selbst den Apparat der Mullahs brechen und zerschlagen kann? Wie kann die Revolution siegen?

Der Funke, der das Pulverfass entzündete

Der Mord an der 22jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini war jener berühmte Funke, der das Pulverfass explodieren ließ. Drei Tage nach der Festnahme durch die sog. Sittenpolizei wegen angeblichen Verstößen gegen die reaktionäre Kleiderordnung verstarb die junge Frau.

Ihr Schicksal war kein Einzelfall. Willkür, Misshandlung und Erniedrigung von Frauen, von nationalen Minderheiten, Unterdrückung der Jugend und die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse gehören zum Sittenbild einer „rechtschaffenen“ Theokratie, deren inszenierte moralische Autorität regelmäßig in Barbarei umschlägt. Dieses Regime fordert jährlich Tausende und Abertausende Opfer, deren Schicksal, deren Namen, deren Angehörige und Freund:innen unter dem Druck von Repression und Unterdrückung in der Anonymität verschwinden. Die Herrschaft des islamistischen Regimes umfasst alle Ebenen des Staates, durchdringt über sämtliche religiösen und andere reaktionäre Institutionen die Gesellschaft und ist eng mit der wirtschaftlichen Elite verflochten.

Doch dieser allmächtige staatliche, klerikale und wirtschaftliche Apparat, dieser Moloch,  der die gesamte iranische Gesellschaft zu ersticken droht, hat seit dem 16. September den Nimbus seiner Allmacht verloren. Die seit Jahren und Jahrzehnten angehäuften Widersprüche der iranischen Gesellschaft treten seither offen zutage.

Heroismus

Täglich riskieren tausende Frauen im ganzen Land ihre Leben, bilden die Speerspitze der Bewegung. Sie legen öffentlich den Schleicher ab, lassen sich ihr Haar schneiden, riskieren ihr eigenes Leben, um ein zukünftiges zu erkämpfen. Dieser Heroismus, diese Entschlossenheit verweisen aber auch auf die Tiefe der gegenwärtigen Bewegung. Sie treffen einen ideologischen und materiellen Kern der islamistischen Diktatur, die geschlechtsspezifische Unterdrückung. Zweitens zeigen sie aber auch, dass die große Mehrheit der iranischen Frauen und der gesamten Bevölkerung nicht mehr bereit ist, weiter so zu leben wie bisher. Viele fürchten ein Leben in Unfreiheit, partriarchaler und klerikaler Unterdrückung mehr als den Tod.

Dieser Heroismus bezeugt sehr viel mehr als Mut, Opferbereitschaft, Kampfeswille und Unbeugsamkeit Einzelner. Dass er zum Massenphänomen wurde, dass er breite Schichten ergriff, verdeutlich das revolutionäre Potential der Massen.

Ausweitung seit September

In den letzten Wochen hat sich die Bewegung gegen das Regime ausgeweitet. In den kurdischen Gebieten hat der Kampf teilweise die Form von lokalen Aufständen angenommen. In Sine (Sanandadsch, Sanandaj) wurden Anfang Oktober Sicherheitskräfte aus Teilen der Stadt zurückgedrängt. Das Regime versuchte, die Bewegung mit brutaler Repression, Einsatz von Kriegsgerät durch die Polizei und willkürlichen Morden niederzuschlagen und die kurdische Bewegung zu einer verfrühten bewaffneten Konfrontation zu provozieren.

Ein entscheidender Grund dafür, dass das Regime bisher die Bewegung nicht brechen konnte, liegt darin, dass sie alle Schichten der Gesellschaft, Frauen, Studierende, die unterdrückten Nationalitäten, vor allem aber auch die Arbeiter:innenklasse ergriffen hat. Deren soziale Lage hat sich über Jahre besonders dramatisch verschlechtert. Seit gut einem Jahrzehnt liegt die offizielle Inflationsrate bei 10 – 20 %. 11,3 Prozent sind offiziell als arbeitslos registriert. Frauen, Jugendliche, aber auch Menschen mit Hochschulabschluss und nationale Minderheiten sind davon besonders stark betroffen.

Schon im Frühjahr und Sommer 2022 fanden im Iran wichtige illegale oder halblegale Streiks der Arbeiter:innen gegen Preissteigerungen, schlechte Arbeitsbedingungen und für die Auszahlung ausstehender Löhne statt. Es ist daher kein Wunder, dass sich die Arbeiter:innenklasse im September rasch hinter die Protestbewegung stellte.

Seither weiteten sich die Streiks und Aktionen rasch aus. Seit dem 10. Oktober ergriffen sie auch die Ölindustrie. So streiken die Arbeitenden der Öl- und Gaswerke in Asaluyeh und Kangan, im South-Pars-Gasfeld, in Buschehr im Süden Irans. Am 19. Oktober befanden sich Beschäftigte von Asalouyeh Petrochemical, Bandar Abbas Petrochemical, Abadan Petrochemical, Bushehr Petrochemical, South Pars Petrochemical, Haft Tappeh Sugar Cane Company, Neyriz Ghadir Steel in Fars im Ausstand.

Der Versuch, auf die Opposition mit eigenen, regierungstreuen, islamistischen Massenkundgebungen zu antworten, erwies sich im September als politisches Eigentor. Die inszenierten Aktionen blieben zahlenmäßig weit hinter der Protestbewegung zurück. Offenkundig können die Mullahs die alte Ordnung bisher nicht einfach wieder herstellen, weder durch massive Repression noch durch inszenierte Zurschaustellung ihrer eigenen Anhänger:innen.

Auch wenn das Regime erschüttert ist, so wird es nicht freiwillig oder aufgrund von Straßenprotesten und unkoordinierten Besetzungen und Streiks weichen. Im Gegenteil: Es sammelt seine Kräfte, reorganisiert sie und verfügt über einen zentralisierten Apparat, der zwar in der Defensive, aber intakt geblieben ist. Es monopolisiert weiter die Medien und öffentliche Propaganda, verfügt über ein Monopol der bewaffneten Kräfte und ist eng mit der herrschenden Kapitalist:innenklasse verbunden.

Die Bewegung wiederum kann nicht ewig auf diesem Stand verharren. Sie muss vielmehr einen entscheidenden Schritt vorwärts gehen, wenn sie die vorrevolutionäre Krise in eine echte Revolution umwandeln, das Regime stürzen will.

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben haben längst Parolen wie „Jin Jiyan Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes verbunden. Ihnen ist längst schon bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Auch anderen Schichten der Unterdrückten ist bewusst, dass sie zur Zeit an einem Scheideweg, vor einer klaren Alternative stehen: Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Diese Frage ist untrennbar verknüpft mit der, welche gesellschaftliche Kraft der Revolution ihren Weg weisen, sie zum Sieg führen und die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen erfüllen kann.

Die gegenwärtige Bewegung erscheint zwar als spontane, doch ihre Aktionen sind auf lokaler, auf universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet haben. In den kurdischen Gebieten existiert auch ein Koordinierungsausschuss von bislang natürlich illegalen Parteien. Doch die Bewegung hat kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

Und eine solche Koordinierung und Zentralisierung kann aus einzelnen lokalen Aktionen, Streiks, Demonstrationen nicht entstehen. Es braucht vielmehr eine die Bewegung zusammenfassende Kampfform, die das gesamte Land erschüttern kann – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Entscheidend ist aber, dass diese auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufruf an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Schon in der iranischen Revolution bestand ein Kernproblem darin, dass die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten die Hauptlast des Kampfes gegen den Schah trugen, aber ihre Interessen jenen des Bündnisses mit anderen Klassen gegen den Thron untergeordnet wurden. Damals führten vor allem die Stalinist:innen die Arbeiter:innenklasse und Frauen dazu, ihre eigenen Befreiungsinteressen, Klassenforderungen zurückzustellen zugunsten eines Bündnisses mit vermeintlich „antiimperialistischen“ Kräften und dem „nationalen“ Flügel der Bourgeoisie. Diese Politik führte dazu, dass die Frauen auf ihre emanzipatorischen Ziele verzichten sollten, damit die Mullahs für ein Bündnis gegen den Schah und den US-Imperialismus gewonnen werden konnten. Diese Politik führte dazu, dass zugunsten einer sog. „demokratischen Etappe“ der Revolution die Arbeiter:innenklasse die Enteignung des Kapitals und den Kampf für eine sozialistische Umwälzung zurückstellen sollte. Diese Politik führte nicht zur „demokratischen“ Etappe, sondern zur islamistischen Diktatur, zur Entrechtung der Frauen und der Arbeiter:innenklasse.

Dieser Fehler darf heute nicht in anderer Form wiederholt werden. So wie die Beschränkung der iranischen Revolution auf eine bürgerlich-demokratische Etappe damals der Konterrevolution zum Sieg verhalf, so dürfen die Lohnabhängigen, die Frauen, die Jugend, die unterdrückten Nationalitäten heute keine Hoffnung in ein Bündnis mit der monarchistischen oder demokratisch-imperialistischen bürgerlichen Opposition hegen.

Programm

Es braucht vielmehr ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuer:innenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!

  • Volle demokratischen Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!

  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!

  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie die Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!

  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!

  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!

  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!

  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und Unternehmen! Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuer:innen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!

  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assad-Regimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!

  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Buern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!

  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!

Revolutionäre Arbeiter:innenpartei

Ein solches Programm wird nicht einfach spontan aus dem Kampf entstehen. Es braucht bewusste, revolutionäre Kräfte, die es weiter ausarbeiten, dafür unter den Arbeiter:innen, Studierenden, den Frauen, den nationalen Minderheiten eintreten und Kräfte sammeln. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen sich alle jene revolutionären und klassenkämpferischen Kräfte, die diese Perspektive teilen, jetzt organisieren, eine neue revolutionäre Arbeiter:innenpartei schaffen, eine Partei, die legale und illegale Arbeit geschickt verbinden muss. Die Zeit drängt in jedem Fall. Die nächsten Tage und Wochen können für Jahre entscheidend sein.

Keine Frage, es wird überaus schwer, in dieser kurzen Zeitspanne eine Partei der Revolution zu schaffen, eine Kraft, die wirklich unter den Massen verankert ist, und diese Arbeiter:innenklasse im Bündnis mit den Unterdrückten zum Sieg führen kann. Allein, es gibt dazu auch keine Alternative.