Nordirland: Sinn Feins historischer Sieg wird vom unionistischen Veto blockiert

Bernie McAdam, Infomail 1190, 1. Juni 2022

Sinn Fein hat bei den Wahlen zur Nordirischen Versammlung einen historischen Sieg errungen. Die Partei, die der politische Flügel der Provisional IRA (Provisorische Irische Republikanische Armee) war und von der britischen Regierung sechs Jahre lang mit einem Sendeverbot belegt wurde, ist jetzt die größte Partei im Stormont, dem Parlament. Zum ersten Mal in der Geschichte des nordirischen Staates hat eine Partei, die sich für ein vereintes Irland einsetzt, mehr Sitze gewonnen als die größte Partei der Unionist:innen. Nach hundert Jahren unionistischer Dominanz in der Regierung hat eine nationalistische Partei nun das Recht, den Ersten Minister (First Minister) in der neuen Exekutive mit geteilter Macht zu benennen. Berechtigt ist jedoch nicht ermächtigt!

In Wirklichkeit hat sich die größte unionistische Partei, die Democratic Unionist Party (DUP), geweigert, einer solchen Exekutive beizutreten, wodurch die wichtigste Institution des Karfreitagsabkommens (GFA) zusammengebrochen ist. Die DUP möchte, dass das Nordirland-Protokoll, das Abkommen zwischen dem britischen Vereinigten Königreich und der EU, das eine Wirtschaftsgrenze entlang der Irischen See gezogen hat, aufgehoben wird, bevor sie einer neuen Exekutive oder Versammlung beitritt. Die Parteien haben bis zu 24 Wochen Zeit, um eine neue Exekutive zu bilden, andernfalls müssen Neuwahlen abgehalten werden.

Unnachgiebigkeit der Unionist:innen

Der DUP-Führer Jeffrey Donaldson sagt, er werde das Wahlergebnis akzeptieren (so?!), aber selbst wenn er nicht den Vorwand des Protokolls hätte, die Exekutive zu sabotieren, hätte die DUP es immer noch demütigend genug gefunden, einen nationalistischen Ersten Minister zu akzeptieren. Das zeigt, dass der Unionismus nicht weniger überheblich und bigott ist als der sektiererische Staat im Norden, den er seit über einem Jahrhundert verteidigt.

Der Nordstaat kann nur durch die Rolle Großbritanniens bei der Teilung Irlands im Jahr 1921 und der Schaffung eines willkürlichen Stücks Land mit einer unionistischen Mehrheit unter dem Namen „Nordirland“ verstanden werden. Der entstehende Staat wurde aufgebaut und konzipiert, um die nationalistische Minderheit niederzuhalten, mit systematischer Diskriminierung und Unterdrückung, die in den späten 60er Jahren zum Kampf für Bürger:innenrechte führte.

Die Unionist:innen wehrten sich gegen die Forderung nach gleichen Bürge:innenrrechten und reagierten durch Unterstützung der nachfolgenden britischen Regierungen mit verstärkter Repression. Als sich die nationalistische Minderheit gegen loyalistische Pogrome und staatliche Repressionen zur Wehr setzte, kam es zu einem Massenaufstand, der in einen bewaffneten Kampf zur Vertreibung der britischen Truppen und gegen die Teilung mündete. Sinn Fein und die IRA führten diesen Kampf an, und ihre Unterstützung ist noch heute ein Erbe ihrer Beteiligung an diesem berechtigten Widerstand.

Die Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens war der krönende Abschluss des Friedensprozesses, bei dem Unionist:innen und Nationalist:innen zum ersten Mal die politische Macht teilten. Die DUP wurde schreiend zu dieser Übung gezerrt, aber eigentlich hatte sie wenig zu verlieren, schließlich hatte Sinn Fein/IRA ihre Waffen außer Dienst gestellt und entgegen den republikanischen Grundsätzen ein Veto der unionistischen Mehrheit gegen ein vereinigtes Irland akzeptiert. Selbst nach einem solchen Einlenken wurde es von den Hardliner-Unionist:innen immer noch als Machtteilung mit dem Feind angesehen.

Nichtsdestotrotz teilten sich die DUP und Sinn Fein die Macht. Sie waren sich beide einig, den Staat und die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, sie und ihre Anhänger:innen waren beide Nutznießer:innen einer sektiererischen Mittelzuweisung, und sie stimmten beide, zusammen mit allen anderen großen politischen Parteien, der Umsetzung der Sparpolitik der britischen Regierung in Westminster zu, die die öffentlichen Dienstleistungen bis auf den Grund kürzt. Die Versammlung/Exekutive wurde zum Hauptinstrument der britischen Herrschaft im Norden.

Seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 wurde der Nordstaat mit einem dezentralisierten Parlament kosmetisch verschönert und einige der schädlichsten Formen der Diskriminierung wurden beseitigt, was einer kriegsmüden Bevölkerung viel Hoffnung gab. Doch die versprochenen wirtschaftlichen Vorteile des Friedens blieben aus, und es gab keine wirklichen Fortschritte beim Abbau des Sektierertums. Vielmehr kam es immer wieder zu einer Verschärfung der sektiererischen Spannungen, vor allem dann, wenn die DUP es für nötig hielt, den loyalistischen Eifer anzufachen. Die Rolle der DUP bei den „Flaggenkrawallen“ im Jahr 2013 ist ein typisches Beispiel dafür.

Sinn Fein hat sich verpflichtet, die Macht mit der DUP zu teilen, einer der reaktionärsten Parteien Europas, einer Partei, die sich kompromisslos gegen Abtreibungsrechte, die gleichgeschlechtliche Ehe, die Rechte der irischen Sprache usw. stellt. Das Karfreitagsabkommen basiert auf der Anerkennung eines Vetos der Unionist:innen in der Grenzfrage – eine Grenze, die seit ihrer Entstehung im Jahr 1921 die Gemeinden und das wirtschaftliche Hinterland vollständig geteilt hat, was mit sozialer Benachteiligung einherging.

Alle, von der EU, den USA, der Irischen Republik und den britischen Regierung bis hin zu allen großen politischen Parteien im Norden, schwören auf dieses Abkommen. Sie alle sind daran beteiligt, die Teilung zu veredeln, aber das Karfreitagsabkommen kann das Demokratiedefizit im Herzen des Nordstaates nicht beheben. Die Teilung der Macht ist ein geschickter Weg, dies zu verbergen, zumindest für eine gewisse Zeit. Aber der Widerspruch wird immer zum Vorschein kommen, der Widerspruch, eine britische Grenze in Irland zu haben, eine Grenze, die dem irischen Volk als Ganzes das Recht verweigert, über seine eigene Zukunft zu entscheiden.

Brexit

Der nächste Schritt war der Brexit, der diesen Widerspruch einer britischen Grenze auf der irischen Insel ausnutzte und verschärfte. Der britische Austritt aus der EU war in Irland überwältigend unpopulär. Im Norden stimmte eine Mehrheit dagegen, abgesehen von einer unionistischen Minderheit unter Führung der DUP, die nun meint, sie habe das „demokratische“ Recht, ein Veto gegen die Mehrheit einzulegen.

Als Mitglieder der EU hatten sowohl die Republik Irland als auch Nordirland eine offene Grenze und einen gemeinsamen Markt. Durch den Brexit drohte eine harte Grenze zwischen den beiden Staaten mit allen daraus resultierenden Kosten und Unannehmlichkeiten für beide Seiten. Die britische Regierungspartei der Tories scheinen die Folgen ihrer Pläne für Irland nicht bedacht zu haben.

Die Befürworter:innen des Brexit der DUP haben heuchlerisch gegen eine harte Grenze gewettert, aber warum dann für den Austritt aus der EU stimmen? Was erwartet man, wenn man eine Freihandelszone verlässt? Das Protokoll wurde von den Tories und der EU vereinbart, um die nachteiligen Auswirkungen einer harten Grenze zu umgehen. Anstelle von Kontrollen an der irischen Grenze, der einzigen Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, würde es Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland geben, wobei sich Nordirland bereit erklärt, die EU-Vorschriften für Produktstandards zu befolgen.

Die DUP und die Traditional Unionist Voice (Traditionelle Unionistische Stimme TUV) halten diese Grenze an der Irischen See für inakzeptabel, da sie den Platz von Norirland im Vereinigten Königreich untergräbt, daher muss das Protokoll weg. Die Tatsache, dass die Wirtschaft des Teilstaates vom Verbleib auf dem EU-Markt profitiert, wird geflissentlich übersehen. Obwohl die neue Versammlung eine pro-Protokoll-Mehrheit hat, wird die DUP/TUV ihr unionistisches Veto nutzen, um das Wahlergebnis zu kippen, das Donaldson angeblich akzeptiert hat!

Dies zeigt einmal mehr die paranoide Angst vor einem vereinigten Irland, das jeden ihrer Schritte bestimmt, selbst um den Preis einer harten Grenze zwischen Nordirland und der EU. Die Reaktion darauf erklärt zum Teil das schnelle Wachstum der Alliance Party zur drittgrößten Partei. Die Entwicklung dieser liberalen, wirtschaftsfreundlichen und EU-freundlichen Mittelschichtspartei könnte die Wirtschaft in Nordirland von ihrer traditionellen Loyalität zu den Unionist:innen abbringen, doch die Befürwortung der Alliance für die britische Union steht nicht zur Disposition.

Das anhaltende Brexit-Dilemma des britischen Premier Boris Johnson besteht darin, wie er das Protokoll so ändern kann, dass es die DUP und die EU zufriedenstellt. Zweifellos wird er dies in den kommenden Wochen mit seinen charakteristischen Lügen und Täuschungen tun, da das Parlament bereits über ein Gesetz zur Aufhebung des Protokolls beraten wird. Die EU und die USA haben ihn bereits vor solchen einseitigen Maßnahmen gewarnt, die ein Handelsabkommen mit den USA gefährden könnten. Außerdem würde dies die Gefahr eines Handelskriegs mit der EU erhöhen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Wirtschaft mit einer drohenden Rezession konfrontiert ist.

Es wird also ein interessantes Rätsel sein, inwieweit Johnson die Unionist:innen beschwichtigen kann. Es wird jedoch mehr als deutlich, dass der Brexit für Irland, im Norden wie im Süden, immer eine Katastrophe sein würde. Das Protokoll soll die Auswirkungen bis zu einem gewissen Grad abmildern, aber die Unnachgiebigkeit der Unionist:innen wird die Wahrscheinlichkeit einer harten Grenze nur erhöhen.

Eine neue Ära?

Die Vorsitzende von Sinn Fein im Norden, Michelle O’Neill, sagt, der Sieg läute „eine neue Ära“ für Nordirland ein. Er wird auch südlich der Grenze den politischen Schwung der Partei verstärken. Aber kommt Sinn Feins Vision eines vereinten Irlands dadurch näher? Sicherlich hat die Debatte über ein vereinigtes Irland seit dem Brexit zugenommen, aber die Verwirklichung ist nicht in greifbare Nähe gerückt.

Die Strategie von Sinn Fein besteht darin, sowohl in der nördlichen als auch in der südlichen Regierung politische Macht zu erlangen – kein unwahrscheinliches Szenario – um Druck auf Großbritannien auszuüben, eine Grenzabstimmung abzuhalten. Sie weisen darauf hin, dass Großbritannien nach den Bestimmungen des Karfreitagsabkommens berechtigt ist, eine Grenzabstimmung anzusetzen, sofern eine Mehrheit für ein vereinigtes Irland wahrscheinlich ist. Ihre Vorsitzende Mary Lou McDonald geht von einem Zeitrahmen von 5 bis 10 Jahren aus.

Diese Entscheidung liegt jedoch nicht bei Sinn Fein, sondern kann nur vom britischen Außenminister getroffen werden, und zwar auf der Grundlage dessen, was die britische Regierung bei einem Referendum für wahrscheinlich hält. Es gibt keinen Mechanismus, der die Regierung zum Handeln zwingt. Das irische Volk hat hier kein Mitspracherecht!

Es überrascht nicht, dass Johnson dies bereits „für eine sehr, sehr lange Zeit“ ausgeschlossen hat, und Keir Starmer von der Labour-Partei ist nicht besser, da er glaubt, dass ein Referendum nicht in Sicht ist, und selbst wenn es eines gäbe, würde er sich gegen ein vereinigtes Irland einsetzen. Sinn Fein macht sich also der Illusion schuldig, dass die Grenzabstimmung in greifbare Nähe gerückt ist und im Falle ihrer Durchführung eine Mehrheit finden würde, was jedoch nicht unvermeidlich ist, wenn man den Meinungsumfragen glauben darf.

Eine weitere Illusion besteht darin, dass Großbritannien als „neutraler“, „desinteressierter“ Akteur die Einheit fördern und alle Bestimmungen des Karfreitagsabkommens in gutem Glauben umsetzen würde. Doch die britische Präsenz ist das Hauptproblem. Nicht umsonst haben aufeinanderfolgende britische Regierungen einen 30-jährigen Krieg gegen diejenigen geführt, die die Grenze abschaffen wollten. Großbritannien könnte sich zwar prinzipiell für ein vereinigtes kapitalistisches Irland erwärmen, aber zu britischen Bedingungen, was in naher Zukunft höchst unwahrscheinlich ist.

Man kann sich nicht auf das Abkommen verlassen, das sich ohnehin auflöst, oder auf die Forderung nach einer Grenzabstimmung, um Irland zu vereinen. Die Tatsache, dass eine Abstimmung im Norden gefolgt von einer Abstimmung im Süden stattfinden müsste, ist eine Parodie dessen, was geschehen sollte. Die konsequente demokratische Position ist eine gesamtirische Wahl zu einer gesamtirischen Versammlung, in der das irische Volk als Ganzes über seine Zukunft im Norden entscheidet.

Die Sozialist:innen sollten sich für die Selbstbestimmung als Teil einer Strategie zum Aufbau einer Arbeiter:innenrepublik einsetzen. Die Teilung hat die Arbeiter:innenklasse in Irland schon zu lange gespalten. Da das Ausmaß des Elends und der Entbehrungen im gegenwärtigen Klima in die Höhe schießt, ist es unerlässlich, dass eine kämpferische Arbeiter:innenbewegung aufgebaut wird, um die Arbeiter:innenklasse in ganz Irland zu verteidigen. Eine Massenbewegung auf der Straße und direkte Aktionen sind der Weg, um die Interessen der Arbeiter:innenklasse voranzubringen und dem imperialistischen Staat nördlich der Grenze die Kontrolle ebenso zu entreißen wie dem kapitalistischen Staat im Süden.

Der Kapitalismus ist entschlossen, die Kosten für seine zahlreichen Krisen auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen. Die Arbeiter:innen müssen darauf mit Arbeitskämpfen und dem Aufbau demokratischer Arbeiter:innenräte reagieren, die sich selbst verteidigen und den Kapitalismus letztendlich zerschlagen können. In Irland muss eine revolutionäre Partei aufgebaut werden, die für diese Strategie kämpfen kann – eine Strategie, die auf der permanenten Revolution basiert, in der die Arbeiter:innenklasse die uralte nationale Frage durch den Kampf für eine Arbeiter:innenrepublik löst.




Irland: 50. Jahrestag des Bloody Sunday

Bernie McAdam, Workers Power, Infomail 1177, 29. Januar 2022

Am 30. Januar jährt sich der Bloody Sunday (Blutsonntag) zum 50. Mal. An diesem Tag im Jahr 1972 ermordete das britische Fallschirmjägerregiment 13 unbewaffnete BürgerrechtsdemonstrantInnen in Derry. Ein vierzehntes Opfer erlag kurz darauf seinen Verletzungen, und es gab weitere 15 Verletzte. Die Northern Ireland Civil Rights Association (Nordirische BürgerInnenrechtsvereinigung) hatte zu einem Protest gegen die Internierung aufgerufen, und der Marsch wurde auf Empfehlung der britischen Armee untersagt.

Das Massaker räumte endgültig mit dem Mythos auf, dass die britische Armee „den Frieden bewahrt“ und zwischen zwei sich bekriegenden Gruppierungen stehe, „um sie auseinanderzuhalten“. Es war ein entscheidender Moment, der die gesamte nationalistische Gemeinschaft im Norden Irlands entfremdete und ihnen bestätigte, dass Großbritannien es nicht ernst meinte mit der Reform des sektiererischen Gebildes des sechs Grafschaften umfassenden unionistischen Staates.

Nach dem Bloody Sunday nahm der Massenwiderstand im Norden zu. Katholische ArbeiterInnen in Hunderten von Fabriken traten in den sechs Grafschaften in den Streik und veranstalteten spontane Proteste. Die Provisional IRA (Provisorische Irisch Republikanische Armee) verstärkte ihre bewaffnete Kampagne und verzeichnete einen enormen Anstieg der Rekrutierung. In der Republik Irland kam es zu beispiellosen Protesten mit dreitägigen Streiks und Demonstrationen in Dörfern, Städten und Gemeinden auf der ganzen Insel. Die Proteste wurden häufig von den Gewerkschaftsräten organisiert, und es nahmen ganze Betriebskontingente an den Märschen teil. Die Aktionen gipfelten in einem Generalstreik am dritten Tag, an dem 12 der 13 Opfer vom 30. Januar begraben wurden.

Die britische Botschaft in Dublin wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und die Abgeordnete Bernadette Devlin, die auf einer BürgerInnenrechtsliste gewählt worden war, schlug dem Innenminister Reginald Maudling im Unterhaus ins Gesicht. Irische BauarbeiterInnen legten auch in London und Birmingham die Arbeit nieder. Auf internationaler Ebene gab es Proteste in vielen Städten, darunter New York, wo John Lennon als Unterstützer der irischen Bewegung zugegen war, San Francisco, Paris, Montreal und Neapel, um nur einige zu nennen. Zwei New Yorker GewerkschaftsführerInnen, die Transport- und HafenarbeiterInnen vertraten, kündigten einen Boykott britischer Exporte an.

Die britische Reaktion

Das diskreditierte Widgery-Tribunal, das unmittelbar nach dem Bloody Sunday stattfand, bildete 38 Jahre lang die Grundlage für die Reaktion der britischen Regierung. Der Bericht sprach die britischen Soldaten von jeglichem Fehlverhalten frei und behauptete, sie seien unter Beschuss geraten. Die Angehörigen der Ermordeten führten eine lange und entschlossene Kampagne, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. 2010 wurde schließlich eine neue Untersuchung, der Saville-Bericht, durchgeführt, der den Angehörigen Recht gab und die Tötungen für „ungerechtfertigt und nicht zu rechtfertigen“ erklärte.

Nach 12 Jahren Untersuchung und 38 Jahre nach den Ereignissen bestätigte der Saville-Bericht die Unschuld der Opfer und bestätigte lediglich, was die Menschen in Derry bereits wussten. Aber es stellte einen Sieg für sie dar, dass Großbritannien endlich sein Verbrechen eingestehen musste. Sogar David Cameron, der Premierminister der Tories, sah sich gezwungen, sich im Unterhaus zu entschuldigen.

Der Saville-Bericht stellt fest, dass die Truppen nicht gewarnt haben, dass sie schießen würden, und: „Trotz der gegenteiligen Aussagen der Soldaten sind wir zu dem Schluss gekommen, dass keiner von ihnen als Reaktion auf Angriffe oder drohende durch Nagel- oder Benzinbomben geschossen hat.“ Der Befehl zum Schießen hätte nicht gegeben werden dürfen. Einige der Opfer waren vor den Militärs weggelaufen und wurden in den Rücken geschossen. Einige waren sogar dabei, anderen Verletzten zu helfen, und keine/r von ihnen war bewaffnet. In dem Bericht heißt es außerdem, dass die Soldaten bei den Ermittlungen „wissentlich falsche Angaben“ gemacht hätten.

In den Pressemitteilungen der Armee am Abend des Massakers wurde behauptet, die Soldaten seien unter schwerem Beschuss gestanden, was jedoch eindeutig eine Lüge war. Hauptmann Michael Jackson, der an diesem Tag als zweiter Befehlshaber fungierte, wurde für seinen Vertuschungsbericht belohnt, indem er schließlich den höchsten Posten in der Armee übernahm. Seine „Schussliste“ entpuppte sich als Fälschung, da keine der darin beschriebenen Schussabgaben mit den tatsächlich abgegebenen Schüssen übereinstimmte.

Ein paar faule Eier?

Der Saville-Bericht hat die Unschuldigen entlastet, auch wenn er nicht die offensichtliche Schlussfolgerung zog, dass es sich um eine unrechtmäßige Tötung oder einen Mord handelte. Zwölf Jahre später und immer noch keine strafrechtliche Verfolgung dieser Soldaten! Es überrascht nicht, dass der Saville-Bericht die britische Regierung freisprach, denn er fand keine Verschwörung in der Regierung oder in den höheren Rängen der Armee, um tödliche Gewalt gegen DemonstrantInnen in Derry anzuwenden. Oberstleutnant Wilford, der für die Fallschirmjäger, die in die Bogside eindrangen (1. Bataillon des Regiments), verantwortlich war, wurde dafür kritisiert, dass er über seine Befehle hinausging, und die Studie kam zu dem Schluss, dass einige in den Einheiten die Selbstkontrolle verloren hatten, so dass für Saville alles auf ein paar faule Eier hinauslief!

Diese verlogene Theorie lenkt von der Rolle ab, die hochrangige VertreterInnen der Armee und der Regierung am Bloody Sunday und im gesamten Norden Irlands in dieser Zeit gespielt haben. Der Bericht hörte, wie Generalmajor Ford, Kommandeur der Landstreitkräfte im Norden, drei Wochen vor dem Blutsonntag ein Memo an General Tuzo schrieb: „Ich komme zu dem Schluss, dass das Minimum an Gewalt, das zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung erforderlich ist, die Erschießung ausgewählter RädelsführerInnen unter den jungen Hooligans von Derry ist, nachdem klare Warnungen ausgesprochen wurden.“

Premierminister Ted Heath erklärte vier Tage später gegenüber seinem Kabinett: „Eine Militäroperation zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung wäre eine große Operation, die zwangsläufig zahlreiche zivile Opfer fordern würde.“ Offensichtlich hatte die britische Regierung bereits vor dem Bloody Sunday über den BürgerInnenrechtsmarsch und ihre Reaktion ein Memorandum an ihre Botschaft in Washington geschickt, in der sie vor feindseligen Reaktionen warnte, sollte es in Derry zu Unruhen kommen. Darüber hinaus hatte dasselbe Fallschirmjägerregiment seine mörderischen Absichten bereits im August des Vorjahres kundgetan, als elf unbewaffnete ZivilistInnen, darunter ein Priester, im Ballymurphygebiet von Belfast im Rahmen einer Operation getötet wurden, bei der Hunderte von NationalistInnen ohne Prozess interniert wurden. In einem Bericht des Gerichtsmediziners aus dem Jahr 2021 wurde festgestellt, dass alle ZivilistInnen in dem als „Ballymurphymassaker“ bekanntgewordenen Fall unschuldig waren und „ohne Rechtfertigung“ getötet wurden.

Warum Bloody Sunday?

Der Bloody Sunday war also kein einmaliger Vorfall oder eine Abweichung in der Politik, geschweige denn eine Frage von ein paar faulen Eiern in einer ansonsten großartigen Armee. Er kann nur im Zusammenhang mit der Besetzung eines Teils Irlands durch Großbritannien und dem sektiererischen Staat, den es seit 1921 mit aufgebaut und gestützt hat, verstanden werden. Der „nordirische“ Staat konnte nur durch die systematische soziale Unterdrückung der KatholikInnen überleben, die auf allen Ebenen diskriminiert wurden, auch bei der Vergabe von Wohnungen und Arbeitsplätzen sowie bei Wahlen. Im Jahr 1968 sagten die KatholikInnen schließlich, dass sie genug haben, und gingen in Scharen auf die Straße, um für BürgerInnenrechte und Gleichberechtigung zu kämpfen.

Sie wurden von der  Polizeitruppe Royal Ulster Constabulary (RUC) und LoyalistInnen brutal attackiert. Die überwiegend protestantische RUC wurde im August 1969 aus dem nationalistischen Bogsidebezirk in Derry vertrieben. Britische Truppen wurden stationiert, um die Kontrolle wiederherzustellen. Als die Truppen zunehmend auf die Straße gingen, wurde allen, die für BürgerInnenrechte kämpften, klar, dass die Armee und ihre Vorgesetzten in Whitehall keine ernsthaften Reformen des Staates zulassen würden, sondern dass ihre Priorität darin bestand, jeglichen Widerstand gegen ihn zu brechen.

Im August 1971 wurde die Internierung ohne Gerichtsverfahren eingeführt, um der Protestbewegung den Kopf abzuschlagen. Als Armee und Polizei rund 350 Personen festnahmen, wurden mehrere Fälle von Folter bekannt, insbesondere die 14 „Kapuzenmänner“, die in das „Folterzentrum“ der Armee in Ballykelly gebracht worden waren. Der Massenwiderstand wuchs. 8.000 ArbeiterInnen traten in Derry in einen eintägigen Streik. In der gesamten katholischen Gemeinde wurde ein Miet- und Gebührenstreik organisiert und es kam zu Tausenden von Angriffen auf Soldaten und PolizistInnen.

Die Internierung war nicht das einzige Mittel, das Großbritannien einsetzte. Die britische Armee verhängte Ausgangssperren, riegelte ganze Gebiete ab, führte Massenrazzien durch und schoss natürlich auch. Ballymurphy und der Blutsonntag waren Teil dieser allgemeinen Strategie der Unterdrückung, die sowohl von den Tory- als auch Labour-Regierungen betrieben wurde. Natürlich schickte Labour die Truppen und war ebenso eifrig wie die Tories, um den korrupten und bigotten Oranierstaat zu stützen.

Raus mit Britannien!

Die Armee spielte also keine neutrale Rolle, sondern wurde von der britischen Regierung zur Zerschlagung des Widerstands gegen den Nordstaat eingesetzt. Der künstlich geschaffene Charakter des Staats, der der Minderheit der UnionistInnen im Nordosten der Insel zugutekommen sollte, konnte ohne ständige militärische Unterstützung und drakonische repressive Gesetze wie den Special Powers Act (Sonderermächtigungsgesetz), das vom südafrikanischen Apartheidsystem so bewundert wurde, nicht bestehen.

Die Teilung war Großbritanniens Antwort auf den Unabhängigkeitskrieg von 1921. Der damals gegründete Nordstaat wurde zu einem Gefängnis für KatholikInnen. Ein wesentlicher Bestandteil seiner Existenz bestand in der systematischen sozialen Unterdrückung einer Minderheit aufgrund ihrer Identifikation mit dem irischen Nationalismus und einem geeinten Irland. Jede Anfechtung dieser institutionalisierten Diskriminierung würde unweigerlich einen nationalen Kampf auslösen. Der Bloody Sunday hat diesen Kampf beschleunigt und verschärft.

Heute, wo wir des Bloody Sundays als einer weiteren britischen Gräueltat gedenken, für die nie Gerechtigkeit geübt wurde, sind wir immer noch mit einem dysfunktionalen Staat konfrontiert, der durch britische Gewalt gestützt wird. Der permanente Krisenzustand Nordirlands, die rapide schwindende, wenn nicht sogar schon verschwundene Mehrheit der UnionistInnen, die anhaltende Farce einer Democratic Unionist Party/Sinn Fein-Exekutive und das Auflösen des Brexit auf einer Insel, die ihn nie gewollt hat, haben die Frage nach dem britischen Rückzug und einem vereinten Irland erneut aufgeworfen.

Der Kampf für eine ArbeiterInnenrepublik ist der beste Weg, um die mutigen BürgerInnenrechtsdemonstrantInnen zu rächen und ihrer zu gedenken, die an jenem schändlichen Tag in Derry von der britischen Regierung und ihrer Armee niedergemetzelt wurden. Das ist auch der einzige Weg, wie wir ein vereinigtes Irland aufbauen können, frei vom britischen Imperialismus, frei von kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden und im Besitz und unter Kontrolle der irischen ArbeiterInnen.




Britannien: Die Krise des Ulster-Unionismus vertieft sich

Bernie McAdam, Infomail 1154, 26. Juni 2021

Der Ulster-Unionismus, eine politische Richtung, die die Zugehörigkeit Nordirlands zu Großbritannien vertritt, befindet sich gerade in einer tiefen Krise. Die größte unionistische Partei, die Democratic Unionist Party (DUP) befindet sich nach der brutalen Absetzung von Arlene Foster und der Wahl eines neuen Vorsitzenden, Edwin Poots, im Krieg mit sich selbst. Es dauerte genau drei Wochen, bis Poots zurücktrat, nachdem er die Unterstützung der DUP auch wieder verloren hatte.

Poots’ Entscheidung, seinen Kumpel Paul Givan als Ministerpräsidenten zu nominieren, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dies folgte auf das Beharren der Partei Sinn Féin, die die Aufhebung der Teilung Irlands befürwortet, dass die Wiederernennung von Michelle O’Neill als Co-Regierungschefin, eine Vorbedingung für die Bildung der Exekutive, nur dann stattfinden würde, wenn die Gesetzgebung zur irischen Sprache, die bereits im New Decade, New Approach Deal (Abkommen zur Wiedereinsetzung der nordirischen Exekutive) vom 9.1.2020 vereinbart wurde, später im Jahr umgesetzt werden würde.

Poots stimmte der Umsetzung zu, aber nicht dem Zeitplan. Sinn Féin bat daraufhin die britische Regierung, die Gesetze stattdessen in Westminster einzuführen. Deren Nordirlandminister Brandon Lewis kam der Bitte nach. Vermutlich fühlte sich Poots dadurch von jeglicher Verantwortung entbunden und stimmte der Bildung einer neuen Exekutive auf dieser Basis zu.

Die VertreterInnen der DUP waren über diese einseitige Entscheidung ebenso empört, wie sie die Einmischung von Westminster geißelten. Dies demonstrierte einmal mehr die sektiererische Abneigung der UnionistInnen gegen alles Irische und jedes Zugeständnis an es als einen Schritt auf dem schlüpfrigen Weg zu einem vereinten Irland. Das Narrativ, mit dem jetzt hausieren gegangen wird, ist, dass Lewis in der Tasche von Sinn Féin steckt und die UnionistInnen im Regen stehen gelassen werden. Was ist der Sinn der Dezentralisierung, ja des Karfreitagsabkommens (GFA) selbst, wenn Westminster die Versammlung mit Füßen tritt?

Der neue Vorsitzende, Jeffrey Donaldson, wird vor einer Mammutaufgabe stehen, die Einheit der UnionistInnen zu fördern. Die DUP hat bereits mehrere Abgeordnete an ihre Rivalin, die Ulster Unionist Party (UUP), verloren. Sie hat auch an die größere Hardlinerin, Traditional Unionist Voice (TUV) auf der rechten Seite, und an die eher liberalen Pro-EU-UnionistInnen der Alliance Party verloren.

Sollte sich dieser Trend bei den nächsten Wahlen zum nordirischen Parlament (Stormont) fortsetzen, würde Sinn Féin die größte Partei werden und damit den Posten des/r PremierministerIn in der neuen Exekutive einnehmen. Das würde ein breites Meinungsspektrum der UnionistInnen ebenso entsetzen wie diejenigen, die sich immer noch nicht damit anfreunden können, die Macht mit NationalistInnen zu teilen.

Wenn Donaldson mit der Teilung der Macht weitermacht, was nicht sicher ist, dann wird er das GFA mit Sicherheit als Verhandlungsinstrument benutzen, um das Nordirlandprotokoll zu beseitigen. Sein Hauptziel ist die Abschaffung des Protokolls, das er als „die größte Herausforderung für den Unionismus“ bezeichnet. Er wäre bereit, das GFA über Bord zu werfen und die Versammlung/Exekutive zum Einsturz zu bringen, höchstwahrscheinlich indem er sich weigert, an der Nord-Süd-Kooperation festzuhalten.

Das Protokoll

Die irische Sprache ist eine „geschmacklose“ Sache für die UnionistInnen, aber das Protokoll ist eine ganz andere. Nach der Erzählung der UnionistInnen gefährdet das Nordirlandprotokoll grundsätzlich die Integrität des Vereinigten Königreichs durch eine Grenze in der Irischen See und bringt ein vereinigtes Irland näher. Der Einsatz könnte für die UnionistInnen nicht höher sein und die kommenden Monate werden zeigen, wie sich dies auf der Straße auswirkt.

Das Protokoll, das nun internationales Recht ist, hält Nordirland innerhalb des EU-Binnenmarktes für Waren. Dadurch werden eine harte Landgrenze, Zollkontrollen usw. zwischen Nordirland und der Republik Irland vermieden. Es bedeutet auch, dass HerstellerInnen aus Nordirland einen besseren Zugang zum EU-Markt haben als die in Großbritannien. Angesichts der Mehrheit, die für den Verbleib in der EU im Norden ist, scheint dies vorteilhafter zu sein, selbst wenn man die jüngsten Störungen in den Häfen von Nordirland in Bezug auf Lebensmittel aus Großbritannien berücksichtigt. Offensichtlich gäbe es überhaupt keine Probleme dieser Art, wenn der Brexit nicht stattgefunden hätte, aber es scheint, dass UnionistInnen nicht ganz verstehen können, dass Konsequenzen folgen, wenn man den Binnenmarkt verlässt!

Das Protokoll wurde von Großbritannien und der EU unterzeichnet, so dass sich in der Gemeinschaft der UnionistInnen/LoyalistInnen ein Gefühl des tiefen Verrats gegenüber der Johnson-Regierung breitgemacht hat. Ein Teil des Problems der DUP ist, dass sie bereitwillig mitgemacht hat, als sie von Johnson über den Tisch gezogen wurde. Der Versuch, dieses Image auszugleichen, wird dazu führen, dass sie den LoyalistInnen in die Hände spielt und ihre langjährigen Verbindungen zu den paramilitärischen Gruppen der LoyalistInnen zementiert.

Der loyalistische Rat der Gemeinden (Ulster Vigilance Force/UVF, Ulster Defence Association/UDA, etc.) hat bereits seine Unterstützung für den GFA zurückgezogen, nicht dass er ihn jemals vollständig begrüßt hätte, und provozierte kürzlich Krawalle, um gegen die Grenze zur Irischen See zu protestieren. Diese Krawalle wurden nicht stark unterstützt, aber die aktuelle Marschsaison der AnhängerInnen der kolonialen Unterdrückung der irischen Bevölkerung wird genutzt, um ihre Kampagne aufzubauen. Zwei kürzlich durchgeführte illegale Märsche mit 800 TeilnehmerInnen in Portadown und etwa 3.000 auf der Shankill Road (in Belfast) werden von vielen weiteren gefolgt werden. Wenn die Geschichte irgendetwas zeigt, dann werden unweigerlich katholische/nationalistische Gebiete die Ziele sein und deren Selbstverteidigung wird lebenswichtig sein. Die nächsten Monate werden entscheidend sein, wenn es darum geht, die Versuche der UnionistInnen/LoyalistInnen zu beobachten, eine einheitliche Antwort auf das Protokoll auf den Straßen zu finden.

Die DUP mag zwar vom britischen Premierminister Johnson über den Tisch gezogen worden sein, aber er wird trotzdem versuchen, die UnionistInnen zu beschwichtigen, indem er den Anschein erweckt, eine harte Verhandlung mit der EU bezüglich des Protokolls zu führen. Ein bisschen spät vielleicht, da es bereits Gesetz ist, aber er hat angekündigt, dass die Gnadenfrist für aus Nordirland importierte Lebensmittel verlängert wird, vermutlich bis die Marschsaison der LoyalistInnen vorbei ist und die Gewaltandrohung nachlässt.

Dies ist ein Notbehelf. Entweder er respektiert die Politik des US-Präsidenten Biden, die EU und internationales Recht und stellt sich den LoyalistInnen oder riskiert eine Landgrenze mit weitaus größerem wirtschaftlichen Chaos als Folge und politischem Widerstand von Biden und der EU mit energischeren Maßnahmen an der Grenze. Im Idealfall würde Johnson einige kosmetische oder technische Verbesserungen der gegenwärtigen Vereinbarungen wollen, ein Zugeständnis der EU vielleicht, das die UnionistInnen beruhigen kann. Aber selbst das könnte für die wachsende Paranoia, die den Unionismus heimsucht, zu spät sein.

Karfreitagsabkommen

Ein wesentlicher Bestandteil des GFA von 1998 war die Notwendigkeit einer offenen Grenze auf der irischen Insel. Dies wurde leicht gemacht, da beide Staaten in der EU waren, und diese gemeinsame Mitgliedschaft bewies, wie sinnlos die Grenze in Irland war. Der Brexit hat all dies mit einem Schlag geändert. Natürlich wurde der Brexit nicht mit Blick auf Irland konzipiert und seine katastrophalen wirtschaftlichen Auswirkungen haben gerade erst begonnen.

Das Problem des Unionismus ist, dass er auf den Brexit-Zug aufgesprungen ist, obwohl die Interessen der (Land-)Wirtschaft (oft selbst UnionistInnen) den Verbleib wollen. Die einzige Möglichkeit, davon abzulenken, besteht darin, die „orange Karte“ zu spielen und Ängste zu schüren, dass die Union mit Großbritannien bedroht und wichtiger ist als die Mitgliedschaft in der EU.

Die Implikationen für die offene Grenze bedeuteten also, dass der Brexit immer einen Einfluss auf das GFA haben würde. Die Grenze kehrte direkt zurück in die irische Politik. Das GFA war ein Kompromiss zur Teilung der Macht zwischen den BefürworterInnen und GegnerInnen der Grenze, die die beiden wichtigsten Gemeinschaften repräsentierten. Obwohl es den UnionistInnen ein Veto gegen ein vereinigtes Irland sicherte, bedeutete es, dass sie nicht einseitig regieren konnten, wie sie es seit 1921 getan hatten. Zunächst war die DUP strikt gegen eine Machtteilung. Weitere Zugeständnisse von Sinn Féin änderten ihre Haltung.

Im Moment scheint ein wachsender Kern von DUP und LoyalistInnen darauf bedacht zu sein, ihren Staat wieder direkt von Westminster aus regieren zu lassen. Das GFA ist dabei, sich schnell zu verfransen. Dennoch schwört jede/r, von Biden bis Blair, dem früheren britischen Labour-Premierminister, von Sinn Féin bis zu den regierenden britischen Konservativen, auf das Friedensabkommen. Der Brexit hat seine Grenzen aufgezeigt.

Die hartnäckigen Widersprüche im Herzen des Nordstaates wurden nur durch das GFA bewahrt. Die Geburt des nordirischen Staates war ein undemokratischer Affront gegen das irische Volk als Ganzes. Er wurde zu einem Gefängnis für eine bedeutende Minderheit innerhalb des Staates selbst. Diese Ungerechtigkeit kann nicht durch ein Abkommen übertüncht werden, das, wenn überhaupt, das Sektierertum verfestigt hat, wo die Friedensmauern bestehen bleiben und es keine „Friedensdividende“ für die ArbeiterInnenklasse gegeben hat.

Sinn Féin wird zweifellos darauf hinweisen, dass das GFA auch eine Bestimmung für eine Grenzabstimmung enthält. Ja, das stimmt, aber es liegt ganz im Ermessen der britischen Regierung, diese abzuhalten oder nicht. Und „nicht“ ist die wahrscheinliche Antwort. Die Zukunft Irlands als einer vereinigten Insel kann nicht von der Laune des britischen Imperialismus abhängen. Jeder Übergang zu einem vereinigten Irland muss unter der Kontrolle der irischen ArbeiterInnenklasse stehen. Es wird notwendig sein, Organe des Massenkampfes zu schaffen, um sicherzustellen, dass die Kräfte der kapitalistischen Reaktion im Süden nicht weniger als im Norden besiegt werden und jedes neue Irland der ArbeiterInnenklasse gehört und von ihr in einer ArbeiterInnenrepublik kontrolliert wird.

Großbritannien blickt auf eine lange Geschichte der Unterdrückung in Irland zurück. Die britische Grenze ist eine Fortsetzung davon, sie sollte verschwinden. Das irische Volk, als Ganzes, sollte seine eigene Zukunft bestimmen. Es ist an der Zeit, dass Großbritannien sich zurückzieht und den Unionismus aus seinem derzeitigen Chaos in seinen endgültigen Todeskampf übergehen lässt.




100 Jahre Teilung Irlands – ein „Karneval der Reaktion“

Bernie McAdam, Infomail 1149, 14. Mai 2021

James Connolly, der große irische Sozialist, sagte richtig voraus, dass die Folge der Teilung Irlands ein „Karneval der Reaktion sowohl im Norden als auch im Süden“ sein würde. Wie zur Bestätigung seiner Aussage wurde der diesjährige hundertste Jahrestag mit Angriffen eines protestantischen Mobs auf die ironisch benannte Friedenslinie in Belfast gefeiert. Obwohl sich heute fast die Hälfte der Bevölkerung mit einem vereinten Irland identifiziert und nichts zu feiern hat, haben LoyalistInnen damit gedroht, das Karfreitagsabkommen zu ignorieren und zu versuchen, durch nationalistische Gebiete zu marschieren, was unterstreicht, dass „Nordirland“ einem großen Teil seiner Bevölkerung nichts als Unterdrückung und Repression geboten hat.

Nationale Revolution

Die Gründung von „Nordirland“ fand vor dem Hintergrund einer nationalen Revolution in Irland, Großbritanniens ältester Kolonie, zwischen 1916 und 1923 statt. Beim Osteraufstand von 1916 wurde die irische Republik ausgerufen und Dublin sechs Tage lang gehalten, bevor die RebellInnen kapitulierten. Sie genossen zwar nicht die Unterstützung der Mehrheit der Stadtbevölkerung, aber nach der anschließenden Hinrichtung von 16 AnführerInnen des Aufstands im Gefängnis von Kilmainham (Stadtteil Dublins) wandte sich die Mehrheit der irischen Bevölkerung entschieden gegen die britische Herrschaft. Zu den AnführerInnen, die sich dem Erschießungskommando stellten, gehörte auch James Connolly, der verwundet und an einen Stuhl gefesselt wurde. Patriotische britische Labour-Abgeordnete bejubelten die Bekanntgabe der Hinrichtungen im Unterhaus.

Die britischen Parlamentswahlen von 1918 sicherten der republikanischen Partei Sinn Fein eine überwältigende Mehrheit der irischen Sitze. Deren Mitglieder traten 1919 prompt als souveränes irisches Parlament, das erste Dail Eireann, zusammen. Dieses wurde von Großbritannien für illegal erklärt. Bald folgten die ersten Schüsse in einem Guerillakrieg, als sich die Irisch Republikanische Armee (IRA), die Schutzeinheit des Dail, mit britischen Truppen und der Polizei anlegte.

Parallel zum Unabhängigkeitskrieg und mit ihm verbunden war die Massenaktion der irischen ArbeiterInnen. Ein Generalstreik wehrte 1918 erfolgreich den Versuch Großbritanniens ab, die Wehrpflicht in Irland einzuführen. Ein weiterer im Jahr 1920 wurde für die Freilassung von über hundert republikanischen Gefangenen ausgerufen, die aus Protest gegen ihre Internierung in den Hungerstreik getreten waren. „Sowjets“ wurden in Irland zu einem populären Ausdruck für Aktionskomitees der ArbeiterInnenklasse mit dem Limerick-Rat und über hundert weiteren „Sowjets“, die von Streikkomitees bis hin zu Genossenschaften reichten.

Dies zeigte das enorme Potenzial der irischen ArbeiterInnenklasse, die Führung in der nationalen Revolution gegen die britische Herrschaft zu übernehmen. Eine entschlossene Führung durch irische ArbeiterInnen an der Seite von Kleinbauern, -bäuerinnen und LandarbeiterInnen hätte in ganz Irland Räte aufbauen können, die von einer ArbeiterInnenmiliz auf dem Weg zu einer ArbeiterInnenrepublik verteidigt worden wären.

Ein Guerillakrieg allein war wahrscheinlich nicht genug, um die BritInnen zu vertreiben, angesichts der Knappheit an Waffen und Munition und der ungleichmäßigen Stärke der IRA-Einheiten, so dass der Druck für Verhandlungen stark wurde. Dennoch erkannte auch die britische Regierung, dass sie den größten Teil Irlands nicht länger direkt regieren konnte. Home Rule (eine eigene Regierung), gegen die die britischen Tories und Sir Edward Carsons „Ulster“-UnionistInnen mit bewaffnetem Widerstand gedroht hatten, wurde plötzlich für zwei Teile einer geteilten Insel zugestanden.

Konterrevolution

Am 3. Mai 1921 trat der Government of Ireland Act (1920) (Regierungsgesetz für Irland) in Kraft. Dieses „Teilungsgesetz“ sah zwei getrennte, vermeintlich eigene Gerichtsbarkeiten in Irland vor, die jedoch beide der britischen Regierung  und der Krone unterstellt und immer noch Teil des britischen Empire waren. Im Nordosten der Insel sollte das „Nordirland“, das sechs der neun Grafschaften der historischen Provinz Ulster umfasste, ein eigenes Parlament wählen. In ähnlicher Weise war beabsichtigt, für die verbleibenden südlichen 26 Grafschaften ein „eigenes Parlament“ einzurichten.

Die Wahlen fanden am 24. Mai  1921 statt. Im Norden wurden 40 unionistische KandidatInnen und 12 NationalistInnen bzw. RepublikanerInnen gewählt. In den 26 Grafschaften wurden keine Wahlen abgehalten, da 124 irisch-republikanische (Sinn Fein) KandidatInnen ohne GegenkandidatInnen mit 4 unabhängigen UnionistInnen vom Trinity College, Dublin, wiedergewählt wurden. Das südliche Home-Rule-Parlament kam nie zustande, da Sinn Fein gegen das Teilungsgesetz war und weiterhin ihre VertreterInnen in den Dail Eireann schickte.

Nach jahrzehntelanger Feindseligkeit der UnionistInnen gegenüber einer eigenen Regierung für Irland überzeugte die revolutionäre Welle von 1916 bis 1921 sie schließlich, zumindest die in den sechs Grafschaften, dass die Aufrechterhaltung ihrer Vorherrschaft über KatholikInnen und NationalistInnen in Irland als Ganzes eine verlorene Sache war. Die IndustriekapitalistInnen und GroßgrundbesitzerInnen von Ulster, deren überwältigende Abhängigkeit vom britischen Markt längst feststand, gaben sich mit einer territorialen Enklave mit einer eingebauten protestantischen Mehrheit, einem dezentralisierten Parlament, einer schwer bewaffneten, sektiererischen Polizei und den berüchtigten Spezialeinheiten zufrieden, einer neuen reaktionären Miliz, die auf Einheiten der Ulster Volunteer Force, UVF (Freiwilligentruppe), basierte.

Kein Wunder also, dass die Wahl in den sechs Grafschaften von weit verbreiteter Gewalt gegen KatholikInnen und den Wahlkampf der Sinn Fein begleitet wurde. Im Jahr zuvor war es auch zu der empörenden Vertreibung von 7.000, hauptsächlich katholischen, WerftarbeiterInnen von ihren Arbeitsplätzen in Belfast gekommen, darunter etwa 2.000 „verrottete Prods“, also protestantische GewerkschafterInnen und SozialistInnen. Die Vertreibungen breiteten sich in der gesamten Maschinenbauindustrie aus, als loyalistische protestantische ArbeiterInnen auf Edward Carsons (unionistischer Politiker) aufrührerische Anti-Sinn-Fein-Rhetorik reagierten.

Trotz des Wahlsiegs von Sinn Fein hatte das Teilungsgesetz durch die Bildung einer Regierung in den sechs Grafschaften vollendete Tatsachen geschaffen, und Winston Churchill rühmte sich: „Von diesem Moment an wurde die Position von Ulster unangreifbar“. In der Tat. Das war eine gute Voraussetzung für die britische Regierung, im Juni Sinn Fein Verhandlungen anzubieten. Im Wissen um die militärische Schwäche der IRA und im Bewusstsein des Vertrauens der nördlichen UnionistInnen in ihre etablierte Macht stimmte diese zu.

Es folgte ein Waffenstillstand und Ende 1921 wurde ein anglo-irischer Vertrag vereinbart. Anfang 1922 wurde der Vertrag von der britischen Regierung und einigen der Sinn-Fein-AnführerInnen unterzeichnet. Seine Bestimmungen waren weit entfernt von einer separaten Republik. Die GouverneurInnen des neuen Freistaates mussten einen Eid auf den König ablegen. Er würde dann den Status eines Dominions als Mitglied des britischen Commonwealth erlangen, wobei Großbritannien seine Marinestützpunkte im Süden behalten würde. Was den Norden anbelangt, so war die Übertragung von Befugnissen an die dezentralisierte Regierung bereits im Gange, und das Versprechen, eine Grenzkommission einzusetzen, kam nie zustande.

Der britische Premierminister, der gerissene David Lloyd George, drohte mit einem „schrecklichen und sofortigen Krieg“, falls der Vertrag nicht angenommen würde. Der Vertrag wurde von einer Minderheit der Sinn-Fein-Führung, einschließlich Éamon de Valera, und 9 von 15 Abteilungen der IRA verurteilt. Aber der Dail Eireann akzeptierte den Vertrag mit 64 zu 57 Stimmen. Die südliche Bourgeoisie mit dem Rückhalt der katholischen Kirche stellte sich hinter den Vertrag. Der darauf folgende Bürgerkrieg im Süden sah die Niederlage der vertragsfeindlichen IRA, da Großbritannien schnell die neue Armee des Freistaats bewaffnete. Bis 1923 war die Konterrevolution abgeschlossen, und der irische Freistaat konsolidierte sich zu einem klerikalen und arbeiterInnenfeindlichen Vasallen des britischen Imperialismus, genau wie Connolly es vorhergesagt hatte.

Der Nordstaat

Im Norden wurde der Charakter des neuen Staates perfekt vom ersten Premierminister Nordirlands, Lord Craigavon, zusammengefasst, der ihn anerkennend „ein protestantisches Parlament und einen protestantischen Staat“ nannte. Allerdings war etwa ein Drittel der Bevölkerung katholisch, und durch skandalöse Wahlkreiseinteilung wurde ihnen jedes Fünkchen politischer Macht vorenthalten. Für eine Gemeinschaft, die in gemischten Gebieten bösartige Pogrome mit dem Verlust von Häusern, Arbeitsplätzen und Leben erlebt hatte, war dieser Staat ein Gefängnis.

Der Sonderermächtigungsgesetz, das 1922 im neuen Nordparlament verabschiedet worden war, war als Notmaßnahme während der schlimmsten Gewalt in Belfast gedacht. Er wurde schließlich zu einem dauerhaften Gesetz und wurde von Südafrikas Apartheid-Premierminister B. J. Vorster in den 1960er Jahren bewundert. Es beinhaltete die Todesstrafe für einige Schusswaffen- und Sprengstoffdelikte und Auspeitschung und Gefängnis für andere. Seine wirksamste Macht war die Internierung, die die unbefristete Inhaftierung aller Personen bedeuten konnte, die verdächtigt wurden, eine Bedrohung darzustellen, ohne dass ein Geschworenenprozess durchgeführt wurde.

So wurde für diejenigen, die sich als Iren und Irinnen identifizierten, hauptsächlich KatholikInnen, die systematische Diskriminierung in allen Lebensbereichen institutionalisiert. Besonders deutlich wurde dies bei Wohnungen und Arbeitsplätzen. Die willkürliche Wahlkreisfestlegung der Kommunalverwaltung durch die UnionistInnen sorgte dafür, dass der Bau und die Zuteilung von Sozialwohnungen und sowie Tausenden von Arbeitsplätzen an ProtestantInnen ging. Derry war das deutlichste Beispiel dafür. 1966 wurde die Körperschaft von den UnionistInnen kontrolliert, obwohl die erwachsene Bevölkerung aus 20.102 KatholikInnen und nur 10.274 ProtestantInnen bestand.

Da Hausbesitz eine Voraussetzung für Kommunalwahlrecht war, wirkte sich dies massiv gegen KatholikInnen aus, daher der Ruf der BürgerInnenrechtsbewegung nach „Eine Person, eine Stimme“. SteuerzahlerInnen stimmten ab, aber nicht UntermieterInnen, und FirmenchefInnen erhielten zusätzliches Stimmrecht. Die Diskriminierung war in der verarbeitenden Industrie genauso heftig, wenn nicht noch schlimmer. Im Jahr 1970 beschäftigte die Werft von Harland und Wolff nur 400 KatholikInnen von 10.000 Beschäftigten. Ähnlich winzige katholische Minderheiten gab es bei Mackie’s und Sirocco Engineering Works. Die Vertreibungen aus den Werften der 1920er Jahre wurden nie wieder gutgemacht und bestimmten die Szene für die kommenden Jahre. 1972 war die katholische männliche Arbeitslosigkeit in Belfast doppelt so hoch wie der Gesamtdurchschnitt, was zu einer höheren Auswanderungsrate führte.

Antiunionistische Massenrevolte

Die sektiererischen Widersprüche im Herzen des Nordstaates explodierten schließlich 1968 mit der Geburt der nordirischen Bürgerrechtsbewegung NICRA. Inspiriert von der zeitgenössischen US-BürgerInnenrechtsbewegung unter der Führung von Martin Luther King, sammelte sich die Masse der katholisch-nationalistischen Bevölkerung hinter den Forderungen, die Diskriminierung und Schikanen durch den Staat zu beenden. Der Marsch am 5. Oktober in Derry wurde von der Royal Ulster Constabulary (britische Polizei in Irland) brutal angegriffen und die Krise vertiefte sich.

Je mehr Märsche stattfanden, desto mehr wurden sie von TotschlägerInnen der loyalistischen Banden und staatlichen Kräften bedroht. Als 1969 ein groß angelegter Einsatz der britischen Polizeitruppe in der Bogside-Siedlung in Derry begann, vertrieben NationalistInnen die Polizei mit Benzinbomben und Ziegelsteinen, was den Innenminister der Labour-Partei, Jim Callaghan, dazu veranlasste, britische reguläre Truppen zu schicken. Neben der Schlacht von Bogside kam es auch in Belfast zu schweren Zusammenstößen, als LoyalistInnen, oft unterstützt von Polizeieinheiten, versuchten, katholische Familien zu vertreiben.

Der anfängliche „Sandwiches und Tee“-Willkommensgruß für die Truppen als Beschützerinnen vor dem loyalistischen Mob verflüchtigte sich bald, als alle Reformen ausblieben und es in der Folge zu Straßenkämpfen zwischen britischen Truppen und NationalistInnen kam. Als die Forderungen der NICRA vom unionistischen Staat und seinen britischen UnterstützerInnen ignoriert wurden, begannen die NationalistInnen, sich anderweitig, auf direkte Aktionen, zu orientieren, um ihre Interessen durchzusetzen.

Die Pogrome in katholischen Gebieten warfen die Frage der Selbstverteidigung auf und bestätigten den KatholikInnen, dass sie sich nicht auf den Schutz des Staates verlassen konnten. Dies erklärt das Wachstum der BürgerInnenverteidigungskomitees und den Aufstieg der Provisorischen IRA. Ein Kampf um die Reform des Staates war zu einem Kampf zur „Zerschlagung des nordirischen Parlaments Stormont“ und zur Beseitigung der Grenze übergegangen. Die britische Herrschaft war nun als zentrales Problem erkannt. Ohne diese konnte die Grenze zwischen Nord und Süd abgeschafft werden.

Das Ballymurphy-Massaker 1971 in Westbelfast und die Ermordung von 14 DemonstrantInnen in Derry am Blutsonntag 1972 durch das Fallschirmjägerregiment hatten den bewaffneten Kampf gegen Großbritannien eskalieren lassen und die ganze katholische Gemeinschaft entfremdet. Das Gemetzel in Derry geschah unter einer Tory-Regierung, aber von der Labour Party kam kein Protest. Die parlamentarische Labour-Partei stimmte sogar dafür, den Widgery-Bericht zum Blutsonntag zu akzeptieren, der die britische Armee für unschuldig erklärte, ein Urteil, das erst viele Jahre später, 2010, durch die Saville-Untersuchung gekippt wurde.

Das erste Jahr der Massenrevolte wich einer bewaffneten republikanischen Guerillakampagne, die nach dreißig Jahren nicht in der Lage war, die BritInnen aus dem Norden zu vertreiben. Der politische Flügel dieser Bewegung, Sinn Fein, plädierte schließlich für Frieden und einen Deal, und das Karfreitagsabkommen, GFA (Good Friday Agreement), wurde 1998 geschlossen. Das Markenzeichen dieses Abkommens war eine dezentralisierte nordirische quasi-parlamentarische Körperschaft, die nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wurde, und eine Regierung mit Machtteilung zwischen protestantischen und katholischen Kräften. Sinn Fein gab seinen militanten Widerstand gegen den Staat auf. Sie legte ihre Waffen ab, erkannte die umbenannte Polizei an, deren katholische Zusammensetzung erhöht wurde, und akzeptierte ein Veto der UnionistInnen gegen ein vereinigtes Irland.

Unionismus in der Krise

Jetzt, 23 Jahre nach dem Abkommen, kämpft das GFA damit zu funktionieren. Es wurde für drei Jahre ausgesetzt, ist aber jetzt gerade wieder am Laufen. Das SektiererInnentum der pro-britischen ProtestInnen ist so weit verbreitet wie eh und je, die „Friedensmauern“ sind immer noch vorhanden und werden angegriffen. Die Teilung der Macht ist eine Farce, der eine sektiererische Verteilung von Geldern gegenübersteht, um die wichtigsten politischen Parteien und Gemeindegruppen ruhig zu halten. Es ist auch bequem für die Londoner Regierung, die Verantwortung für die Umsetzung der Sparpolitik zu übertragen. Die Exekutive hat den Vorsitz über die am meisten benachteiligte Region Großbritanniens.

Die Krise des Unionismus ist tiefgreifend. Nach einem Jahrhundert verfügen die LoyalistInnen nun über weniger als die Hälfte der Stimmen der Bevölkerung. Die materiellen Privilegien der protestantischen ArbeiterInnenaristokratie wurden mit dem Niedergang der verarbeitenden Industrie und dem Abbau der eklatanten Diskriminierung von KatholikInnen massiv ausgehöhlt. Vor allem die Auswirkungen des Brexit haben viele davon überzeugt, dass ein vereinigtes Irland eine klare reale Möglichkeit ist.

Der Brexit hat gezeigt, wie nutzlos eine Grenze auf der irischen Insel ist. Als beide Teile Irlands in der Europäischen Union waren, förderte eine „unsichtbare Grenze“ den reibungslosen Handel. Die Probleme der Handelshemnisse und der Bürokratie werden nun zunehmen. Die Pro-EU-Mehrheit beim Referendum deutete auf eine gewisse Unterstützung der UnionistInnen und der Wirtschaft hin, was teilweise das Wachstum der bürgerlichen Allianzpartei erklärt.

Obwohl die DUP den Brexit unterstützte, war sie gezwungen, gegen eine harte Grenze zu wettern, da dies zu einem wirtschaftlichen Chaos führen würde. Aber sie hat nie damit gerechnet, durch Boris Johnsons Nordirland-Protokoll, das eine Wirtschaftsgrenze entlang der Irischen See schafft, die den Handel mit Britannien beeinträchtigen würde, über den Tisch gezogen zu werden. Also wäre jetzt eine harte Landgrenze für die DUP (Demokratisch Unionistische Partei) und ihre loyalistischen KollaborateurInnen vorzuziehen. Wie üblich wurde die orange Karte gespielt und die Angst vor einem vereinigten Irland durch Anzetteln von Unruhen auf den Straßen geschürt.

Loyalistische Mobilisierungen nehmen immer wieder isolierte nationalistische Gebiete aufs Korn. Der Übergriff an der Schnittstelle Lanark Way Anfang April wurde von nationalistischen Jugendlichen zurückgeschlagen. Wenn in den nächsten Monaten die Marschsaison der loyalistischen  AnhängerInnen beginnt und sie ankündigen, dass sie sich nicht an die Entscheidungen der Paradekommission halten werden, die einige ihrer Marschrouten eingeschränkt hat, könnte die Frage der Verteidigung der nationalistischen Gebiete erneut kritisch werden. Organisierte Verteidigungstrupps, die sich die Militanz der Jugend zunutze machen können, müssen sowohl gegen Übergriffe der LoyalistInnen als auch der Polizei aufgestellt werden.

Der Unionismus ist jedoch von tiefen Spaltungen zerrissen. Die bisher relativ geringe Zahl loyalistischer RandaliererInnen auf den Straßen zeigt seine Schwäche. Sie stehen einer Tory-Regierung gegenüber, die sich mehr davor fürchtet, Biden, die EU und die irische Regierung zu verärgern als sie. Zweifellos werden die Tories versuchen, die UnionistInnen zu beschwichtigen und einen kosmetischen Deal über das Protokoll zusammenzuflicken, da jede Rückkehr einer harten Landgrenze noch schädlicher wäre.

Für eine ArbeiterInnenrepublik

Nach einem „Karneval der Reaktion“, der ein Jahrhundert andauert, taumelt Großbritanniens Gefängnisstaat weiterhin von einer Krise in die nächste. Währenddessen ist in der Republik die skandalumwitterte katholische Kirche gezwungen, ihre kulturelle Vorherrschaft aufzugeben, indem sie den sukzessiven Bewegungen für Frauen- und LGBTQ-Rechte nachgibt. Der britische Imperialismus, der für die Erschaffung dieses kleinen Monsters zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse im Norden verantwortlich ist, schaut mit zunehmender Irritation und Unverständnis auf seine „loyalistischen“ UnterstützerInnen.

Es ist an der Zeit, diesen Staat und die dazugehörige Grenze abzuschaffen. Aber es wäre unklug, sich auf eine Grenzabstimmung zu verlassen, wie Sinn Fein und andere es tun, um diese Aufgabe zu erledigen. Obwohl dies vollständig in der Zuständigkeit der britischen Regierung liegt, hat der britische Premierminister Johnson, der mit den Forderungen der Schottischen Nationalistischen Partei nach einem Unabhängigkeitsreferendum konfrontiert ist, gewarnt, dass es für eine „sehr, sehr lange Zeit“ keine Abstimmung geben wird.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich die irischen ArbeiterInnen in den bevorstehenden Kämpfen auf ihre eigene Stärke verlassen, gegen den Orangestaat nicht weniger als im Süden. Die ArbeiterInnen sehen sich einer drohenden wirtschaftlichen Verwüstung durch den Brexit und die Pandemie sowie einer verschärften Unterdrückung gegenüber, und das gilt für beide Seiten der „Friedensmauern“.

Die Einheit der ArbeiterInnenklasse muss geschmiedet werden, um Lebensstandard und Arbeitsplätze rund um ein kämpferisches Aktionsprogramm zu verteidigen. Es gibt viel mehr, was die ArbeiterInnen eint, als was sie trennt. Gegen jeden Arbeitsplatzverlust und jede Kürzung muss mit Solidaritätsaktionen Widerstand geleistet werden, und die Basis muss ihre Gewerkschaften aufrütteln, damit die FührerInnen innerhalb der Gewerkschaft und durch demokratische Versammlungen am Arbeitsplatz zur Aktion gezwungen und zur Rechenschaft gezogen werden können. Aktionen der ArbeiterInnenklasse sind der Schlüssel zum Widerstand gegen die Angriffe, die von jeder DUP/Sinn Fein-Exekutive auf Befehl aus Westminster kommen werden.

Das Erbe des britischen Imperialismus in Irland zeigt jedoch, dass gemeinsame wirtschaftliche Interessen allein die Einheit der ArbeiterInnenklasse nicht fördern können. Klassenbewusstsein entspringt nicht spontan oder automatisch aus wirtschaftlichem Kampf. Es ist unaufrichtig zu glauben, dass das Ignorieren der Politik der Diskriminierung und der nationalen Unterdrückung es leichter machen wird, ArbeiterInnen zu vereinen. Die pro-imperialistische Ideologie der protestantischen ArbeiterInnen ist ein Hindernis für die Fortsetzung des Klassenkampfes gegen den Kapitalismus und eine Waffe in den Händen reaktionärer LoyalistInnen.

Es gibt ein tiefes Unbehagen innerhalb der protestantischen und unionistischen Gemeinschaft angesichts der Möglichkeit, ihre britische Identität in einem vereinigten Irland zu verlieren. Wir müssen sie darauf hinweisen, dass die britische Regierung, wenn sie es will, ihre Bedenken ignorieren und auf sie einhämmern wird, wie sie es mit der nationalistischen Gemeinschaft getan hat. Wenn deine sogenannten besten Verbündeten sich wenig um dich kümmern, ist es an der Zeit, neu über deine potenziellen Klassenverbündeten nachzudenken.

In der Tat, wenn man für den Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen kämpft, kann man die gleiche Antwort von den kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden erwarten. Deshalb brauchen wir Einigkeit über die konfessionelle Kluft hinweg, um so besser einen mächtigeren Kampf gegen die Bosse organisieren zu können. Es ist besser, sich mit den ArbeiterInnen in ganz Irland und Britannien zusammenzutun und für eine Gesellschaft zu kämpfen, die der ArbeiterInnenklasse gehört und von ihr kontrolliert wird, eine ArbeiterInnenrepublik in Irland, verbunden mit schottischen, walisischen und englischen ArbeiterInnen, die alle Teil der Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa sind.




Irland: Der Aufschwung von Sinn Féin

Dara O’Coghaidhin, Infomail 1091, 24. Februar 2020

Die Wahlen in
Irland am 7. Februar lieferten Sinn Féin ein beeindruckendes Ergebnis. Sie
gewann 24,5 % der Erststimmen und beseitigten damit das seit einem
Jahrhundert von den Mitte-Rechts-Parteien Fine Gael und Fianna Fáil ausgeübte
Quasi-Monopol auf die Macht, wurde aber nach Sitzen übertrumpft. Größte Partei
nach Mandaten wurde Fianna Fáil mit 38 Sitzen, da Sinn
Fein mit einem derartigen Sieg nicht gerechnet und nur 42 KandidatInnen für 160
Sitze aufgestellt hatte, sodass sie am Ende nur 37 Abgeordnete stellen konnte.

Angesichts einer
schweren Immobilienkrise und dem Abbau öffentlicher Dienstleistungen wurden die
WählerInnen für Sinn Féins Programm zur Eindämmung von Sparmaßnahmen und zur
Umsetzung von Reformen wie Mietstopps und dem Bau von günstigen Wohnungen
gewonnen. Eine Umfrage nach der Wahl offenbarte einen starken
Generationsunterschied – rund 32 % der 18- bis 34-Jährigen wählten Sinn
Féin. Vor allem deren frustrierende Erfahrungen auf dem Wohnungsmarkt
entschieden wohl über das Wahlergebnis. Die anhaltende Begünstigung
spekulativer Immobiliengeschäfte führte zur Steigerung der Nachfrage und zur
Unbezahlbarkeit von Wohnraum und damit zum exponentiellen Anstieg von Wohnungslosigkeit.
In der Woche vom 23. bis 29. Dezember 2019 gab es in ganz Irland 9.731 Leute
ohne Wohnung. Diese Zahl umfasst Erwachsene und Kinder. Laut Wohltätigkeitsorganisationen
wie „Focus Ireland“ ist die Zahl der wohnungslosen Familien seit Dezember 2014
um 280 % gestiegen.

Drakonische
Sparmaßnahmen

Die Wut der Menschen hat ihre Wurzeln in dem Finanzcrash, der durch den Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 ausgelöst wurde, gefolgt von der schlimmsten Wirtschaftskrise der Welt seit 1929. Die irische Wirtschaft taumelte in eine der tiefsten Rezessionen der Eurozone. Sie schrumpfte 2009 um 10 % und die Regierung war gezwungen, sich für einen Kredit von 67,5 Mrd. EUR an die Europäische Zentralbank, die Europäische Kommission und den Internationalen Währungsfonds zu wenden, um den Haushalt zu finanzieren und ihre Banken mit Kapital auszustatten. Diese drei als „Troika“ bekannten Institutionen stellten Rettungsgelder zur Verfügung, machten hierfür aber die Umsetzung einer Vielzahl von Sparmaßnahmen zur Verringerung des Haushaltsdefizits zur Bedingung.

Zu Beginn des Jahres 2013 war Irland das fünftteuerste Land in der EU. Die Immobilienpreise lagen 17 % über dem europäischen Durchschnitt. Die Regierung führte außerdem eine Reihe von Sozialkürzungen durch, die immer mehr Menschen in Schulden und Armut getrieben haben. Die Sparmaßnahmen haben Irland in Bezug auf Kinderarmut, Benachteiligung und Ungleichheit ans Ende der OECD-Rangliste gebracht. Infolgedessen wanderten viele junge Erwachsene aus. Zwischen 2009 und 2013 waren es mehr als 300.000 Menschen, von denen 40 % zwischen 15 und 24 Jahre alt waren.

Die jahrzehntelange Passivität der Gewerkschaften hat zu einer geringen Verhandlungsmacht der ArbeiterInnen und zum ungewöhnlich massiven Ausbau des Niedriglohnsektors geführt. Während die irische Wirtschaft in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebte, stellte ein Bericht der unabhängigen Denkfabrik TASC aus dem Jahr 2019 fest, dass Irland eine der höchsten Niedriglohnquoten in der Europäischen Union aufweist. In dem Bericht wurde außerdem verzeichnet, dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder vergleichsweise gering ist und Irland in Bezug auf Schutzrechte am Arbeitsmarkt auf Platz 22 der 23 EU-Länder steht. Immer mehr ArbeiterInnen-Familien sind mit steigender Überschuldung konfrontiert. Kaum ein Wunder also, dass eine von Amarach Research im Jahr 2018 durchgeführte landesweite Umfrage ergab, dass mehr als die Hälfte der Irinnen und Iren einen Rückgang ihrer psychischen Gesundheit infolge der Wirtschaftskrise gemeldet hat. 14 % hatten gar über Selbstmord nachgedacht.

Aufstieg von Sinn Féin

Die Behauptungen der Regierung über eine wirtschaftliche Erholung machten sich über die Realität der allermeisten ArbeiterInnen lustig. Diese beschlossen also, eine Nachricht an die herrschende Klasse zu senden. Nach neun Jahren zermürbender Herrschaft von Fine Gael, in denen der Lebensstandard sank, erwartete Fianna Fáil, die nach Veränderung verlangende Stimmung nutzen und eine neue Regierung anführen zu können. Das Vertrauens- und Versorgungsabkommen, auf dessen Grundlage diese bürgerliche Oppositionspartei seit 2016 eine Minderheitsregierung von Fine Gael stützte, wurde jedoch zu ihrer Achillesferse. Dies ermöglichte es der Sinn Féin-Führerin Mary Lou McDonald, den Finger in die Wunde zu legen und das starke Wirtschaftswachstum Irlands dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum und dem Versagen im Gesundheitswesen gegenüberzustellen.

Sinn Féins
kometenhafter Anstieg in den Meinungsumfragen brachte das Establishment in
Panik. Fine Gael und Fianna Fáil schlossen beide eine Zusammenarbeit mit Sinn
Féin aus und griffen sie aufgrund ihrer früheren Unterstützung für die IRA an.
Dies unterstrich aber nur ihre eigene Heuchelei, da sie erst Wochen zuvor die
Wiederherstellung der Machtteilung zwischen Sinn Féin und der Demokratischen
Unionistischen Partei im Stormont (Sitz der Exekutive Nordirlands) feierten.
Als sich die verblüffenden Ergebnisse der Wahl abzeichneten und der Fianna
Fáil-Vorsitzende Michéal Martin keine andere Option sah, um doch noch Premierminister
zu werden, revidierte er auch seine langjährige Ablehnung gegen eine
Zusammenarbeit mit Sinn Féin. Er musste später allerdings zurückrudern, als
eine Sitzung der Fraktion beschloss, keine Regierungsbildungsgespräche mit Sinn
Féin aufzunehmen.

Sinn Féin konnte
zudem in Verfolgung seiner nationalistischen Ziele von der Ankündigung
profitieren, ein öffentliches Referendum über die irische Einheit im Norden und
Süden abhalten zu wollen, nachdem die Regierung zuvor durch das Gedenken an
reaktionäre royalistische Polizeikräfte (Royal Irish Constabulary und die
mörderischen „Black and Tans“, ihre Spezialeinheiten) viel Unmut auf sich
gezogen hatte. Sinn Féins strategisches Ziel war es lange Zeit, Teil der
Regierung im Norden und Süden zu werden, um eine solche Abstimmung zu
erreichen. Aber wie sie genau wissen, muss die britische Regierung dem
Zustimmen. Wie Nicola Sturgeon, die schottische Premierministerin, die
ebenfalls ein Unabhängigkeitsreferendum anstrebt, bestätigen kann, steht dies
nicht auf Boris Johnsons „To Do“-Liste.

„Große“
Koalition Solidarity SOL/PBP

Bei den Wahlen zum britischen Unterhaus Ende 2019 griff „People Before Profit“, die nordirischen MitstreiterInnen der britischen SWP, zu Recht Sinn Féins Umsetzung von Tory-Kürzungen in den 6 Grafschaften an. Während der Kampagne hängten sie Plakate mit der Aufschrift „Sinn Féin stimmte für Sozialkürzungen“ in Teilen von West-Belfast auf, wo sie eine bedeutende Basis von UnterstützerInnen aufbauen konnten. In einer Erklärung auf der Twitter-Seite von PBP-Ratsmitglied Matt Collins sagte er: „Stimmen Sie am Donnerstag nicht für Parteien, die die ‚Reform’ unterstützen, sondern für die sozialistische Linke.“ Kaum einen Monat später wollten PBP-TDs (Abgeordnete des Dáil, des irischen Unterhauses) in den 26 Landkreisen ein völlig anderes Bild von Sinn Féin präsentieren.

Als Teil eines Wahlbündnisses mit „Solidarity“ (SOL)  – in dem die irische „Socialist Party“ (SP), die Schwesterorganisation der SAV, beide bis letztes Jahr Mitglieder der internationalen Tendenz KAI/CWI, mitwirkt) und der kürzlich von der SP abgespaltenen „RISE“ beteiligte sich „People Before Profit“ an einer keynesianischen Plattform mit Forderungen nach höheren öffentlichen Ausgaben, kostenlosem öffentlichen Nahverkehr, einem Existenz sichernden Lohn von 15 EUR pro Stunde und dem Bau von zusätzlichem bezahlbarem Wohnraum. Bezahlt werden sollte das Ganze durch Steuererhöhungen für SpitzenverdienerInnen und Schließen von Steuerschlupflöchern, um alle multinationalen Konzerne zur Zahlung der Körperschaftsteuer in Höhe von 12,5 % zu verpflichten – eines der niedrigsten Steuersätze in Europa. Sozialismus stand jetzt nicht mehr auf der Tagesordnung.

SOL-PBP versuchten, ihre 6 Parlamentssitze zu verteidigen, und appellierten direkt an eine „große Koalition“ der Linken, die von Sinn Féin geführt werden sollte. In einer Fernsehdebatte wollte Richard Boyd Barrett (PBP-TD) die Bedenken von Sinn Féin, den Grünen, der Labour Party und den SozialdemokratInnen zerstreuen, indem er ihnen versicherte, dass sie zuverlässige KoalitionspartnerInnen sein würden. Sie hofften so auch, Stimmen von diesen Parteien zu erhalten, um die Wiederwahl ihrer Abgeordneten zu sichern. Nach der ersten Auszählung rangen sie mit dem Verlust ihrer Sitze. Aufgrund der Besonderheiten des irischen Wahlrechtes (Proportional Representation with a Single Transferable Vote) konnte SOL-PBP 5 ihrer 6 Sitze halten, wobei sie begünstigte, dass Sinn Féin in einigen Wahlkreisen, wo mehrere Sitze vergeben werden, nur eine/n KandidatIn aufgestellt hatte und ihnen deren Stimmenüberschuss zugutekam.

Linke Regierungsillusionen

SOL-PBP TDs versuchten direkt nach der Wahl, Sinn Féin zur Bildung einer „linken Regierung“ zu drängen. Viele, die Sinn Féin aufgrund ihres Versprechens gewählt hatten, günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, wussten nichts von der Politik, die Sinn Féin diesbezüglich in Nordirland verfolgt hatte. In Belfast etwa unterstützte sie einen „City Deal“, der die Privatisierung von Land in öffentlichem Eigentum beschleunigen wird – Land, das zuvor für den Bau von Sozialwohnungen genutzt werden sollte. PBP kämpfte im Rathaus von Belfast dagegen an.
Dessen ungeachtet forderten PBP-Abgeordnete im Süden die ArbeiterInnen auf, „auf der Straße zu mobilisieren“ – aber nicht, um das Land wie in Frankreich durch einen Generalstreik lahmzulegen, sondern um Sinn Féin aufzufordern, eine linke Minderheitsregierung zu bilden, einschließlich der Grünen und der Labour Party – Parteien, die die ArbeiterInnenklasse nach der Wirtschaftskrise drangsalierten, als sie mit Einschnitten regierten. Außerdem wäre jede Regierung immer noch auf irgendeine Art Abkommen mit Fianna Fáil oder Fine Gael angewiesen, das sie bei wichtigen Abstimmungen zur Enthaltung auf den Oppositionsbänken zwingen würde. Dies verdeutlicht die Torheit des PBP-Vorschlags.

Darüber hinaus wäre jede „linke Regierung“ mit der Schwäche des irischen Kapitalismus, seinem Status als Halbkolonie und der Gefahr der Kapitalflucht konfrontiert. Multinationale Unternehmen machen 90 % der irischen Exporte aus und nutzen das Land hauptsächlich für Steuerhinterziehung. Die Beschäftigung im produzierenden Gewerbe nimmt jährlich ab. Dies bedeutet, dass Irland als schwaches Glied im europäischen Kapitalismus besonders anfällig für flüchtige, anfällige Kapitalströme ist.

Der globale Finanznachrichtendienst Bloomberg reagierte auf das Wahlergebnis mit der Feststellung, dass „jetzt ein guter Zeitpunkt sein könnte, um die Anleihen des Landes abzuwerfen“, und verwies auf die Ausgabenversprechen von Sinn Féin. Der Arbeit„geber“verband IBEC zeigte hingegen Vertrauen in eine „fiskalisch verantwortliche“ Sinn Féin, die sich verpflichtet hatte, den Körperschaftsteuersatz von 12,5 % und die Gewinne multinationaler Unternehmen zu schützen. Natürlich müsste eine „linke Regierung“ die Troika bekämpfen und die Euro-Schulden streichen, wenn bedeutende Reformen durchgeführt werden sollen, aber keine „linke“ Partei ist bereit, diesen Weg zu gehen.

Bis jetzt wurden zudem alle unwirklichen Forderungen nach einer „linken Regierung“ von Labour torpediert, die sich weigert, die Macht mit Sinn Féin zu teilen. Auch Eoin Ó Broin von Sinn Féin verwarf sogleich die Idee, da dies angesichts der Zahlen im Parlament nicht machbar sei, und veranlasste damit Richard Boyd Barrett von PBP zu der Klage, zu schnell „das Handtuch zu werfen“. Die Gespräche zwischen Fine Gael und Fianna Fáil, in der sie über das erstmalige Schmieden einer „Großen Koalition“ unter Beteiligung der Grünen beraten, werden indes voraussichtlich diese Woche fortgesetzt. Fine Gael hat als Bestandteil eines Abkommens mit Fianna Fáil eine Rotation der Regierungsspitze gefordert. Das beste Ergebnis für Sinn Féin in dieser Phase wäre, dass die Gespräche scheitern und eine weitere Wahl stattfinden muss. Sinn Féin könnte dann mehr KandidatInnen in Wahlkreisen mit Spitzenergebnissen aufstellen und gestärkt als größte Partei (auch nach Sitzen) ins Parlament zurückkehren. Dies würde wahrscheinlich SOL-PBPs Vertretung im Parlament auslöschen.

Massenmobilisierung

SozialistInnen in „People Before Profit“, „Solidarity“ und „RISE“ sollten sich gegen eine Koalition mit kapitalistischen Parteien wie Sinn Féin stellen. Die radikale Linke schöpft ihre Stärke aus der Mobilisierung der Werktätigen, um für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Die Aussetzung der Wassergebühren im Jahr 2016, eine massive Niederlage für die Regierung, wurde durch Massendemonstrationen, Konfrontation und Zahlungsboykott erreicht.

Trotz der mangelnden Bereitschaft von Sinn Féin, den Boykott der Wasserrechnungen zu unterstützen, konnte die radikale Linke diese Botschaft verbreiten und eine Führungsrolle bei der Organisation eines breiteren politischen Zurückschlagens übernehmen. Das Versäumnis, auf dieser Kampagne aufzubauen, schuf jedoch ein Vakuum auf der linken Seite, das Sinn Féin erfolgreich füllte. Eine ähnliche Kampagne gegen die Immobilienkrise könnte die Linke wiederbeleben und neue Schichten von ArbeiterInnen in den Kampf ziehen, die aus dem Immobilienmarkt und dem privaten Mietsektor verdrängt wurden.

Der globale Kapitalismus ist in eine Zeit der Instabilität und Stagnation eingetreten. ÖkonomInnen sind sich im Großen und Ganzen einig, dass Irland mit einer der offensten Volkswirtschaften der Welt einem höheren Risiko durch globale Handelskonflikte ausgesetzt und ein Abschwung unvermeidlich ist. Die Auswirkungen des Brexit werden ebenfalls verheerend sein. Von den ArbeiterInnen wird erneut erwartet, dass sie die Verluste sozialisieren und die Hauptlast der Kürzungen tragen. Wir stehen außerdem vor einer Klimakatastrophe, der schwersten Krise, mit der die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte konfrontiert war. Lösungen für diese Probleme erfordern einen System-, nicht nur einen Regierungswechsel.

Eine echte ArbeiterInnenregierung müsste die kapitalistische Elite Irlands und die Wut ihrer imperialistischen UnterstützerInnen EU, USA und Großbritannien herausfordern. Sie müsste die Euro-Schulden zurückweisen und im Gegensatz zu Syriza Brüssel trotzen. Sie sollte nicht die EU verlassen, sondern gegen die EU kämpfen und eine Kampagne für die Solidarität der europäischen ArbeiterInnenklasse im Kampf für ein sozialistisches Europa führen. Eine solche Regierung würde die Reichen besteuern, die einheimischen und ausländischen KapitalistInnen enteignen, die Banken und die Industrie ohne Entschädigung verstaatlichen und unter ArbeiterInnenkontrolle stellen, um so eine Brücke zum Sozialismus zu schlagen.

Dieses Sozialismusgespenst werden die KonzernchefInnen und ihr Staat erbittert bekämpfen. Deshalb müsste eine ArbeiterInnenregierung auf bewaffneten ArbeiterInnenräten basieren und diesen Räten gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Die SozialistInnenen müssen eine revolutionäre sozialistische Alternative aufbauen – eine neue ArbeiterInnenpartei, die in jeder Gewerkschaft, an jedem Arbeitsplatz und in jeder Gemeinde verwurzelt ist, den Kampf koordinieren kann und für eine 32 Grafschaften zählende ArbeiterInnenrepublik streitet.