Indien: Sieg der Bäuerinnen und Bauern gegen Modi-Regierung

Javiad Imran, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nach einem Jahr mutigen Kampfes haben die indischen Bauern und Bäuerinnen Indiens „starken Mann“ Narendra Modi gedemütigt. Modi musste der Nation verkünden, dass er beabsichtigt, die neoliberalen Agrargesetze aufzuheben.

Hunderttausende haben gestreikt und Blockaden errichtet, um die Regierung und die großen AgrarkapitalistInnen, denen sie dient, zum Rückzug zu zwingen, und haben ihre Aktionen trotz des schlechten Wetters und der Verwüstungen durch Covid-19 fortgesetzt. Selbst unter diesen Umständen wurden sie von der Polizei der Regierung weiterhin brutal gefoltert und verhaftet. Mehr als 700 Bauern und Bäuerinnen erlitten ihr Martyrium.

Trotz aller Repressionen und Gewalt ist es der Modi-Regierung nicht nur nicht gelungen, die Aktionen der Kleinbauern und -bäuerinnen zu stoppen, sondern auch ihre Politik des „Teile und Herrsche“ ist gescheitert. Außerdem scheiterte auch das Vorhaben der Regierung, die Führung der Bauern und Bäuerinnen durch eine Reihe von Verhandlungen zu spalten, die sich letztlich als erfolglos erwiesen. Auch Modis verlogene Propaganda, die das Gesetz als Fortschritt für die wirtschaftliche Entwicklung und eine gerechtere Gesellschaft darstellte, misslang.

Gemeinsamer Kampf

Stattdessen hat die bäuerliche Bewegung, unterstützt von den LandarbeiterInnen, gezeigt, dass ein gemeinsamer Kampf siegen kann. Sie wurde von Gewerkschaften, StudentInnen- und Frauenorganisationen aus dem ganzen Land mitgetragen. Viele Proteste wurden in Solidarität mit dem Sit-in der Bauern und Bäuerinnen abgehalten, an denen sich ArbeiterInnen, StudentInnen und Frauen beteiligten. Unter diesen Umständen geriet die Bauern- und Bäuerinnenbewegung zu einem Leuchtturm der Hoffnung nicht nur für die Bauern und Bäuerinnen in ganz Indien, sondern auch für die Muslima/e, die von den hinduchauvinistischen Regierungen der Bundesstaaten und von Delhi verfolgt wurden.

Am 22. Januar, dem indischen Tag der Republik, marschierten Millionen von Bauern und Bäuerinnen durch Delhi und besetzten das historische Rote Fort aus der Zeit der Mogulreiche. Danach breitete sich die bäuerliche Bewegung auf Uttar Pradesh und andere Teile des Landes aus. Versuche, sie zu zerschlagen, scheiterten. Daraufhin gingen auch in anderen Bundesstaaten zahlreiche Bauern und Bäuerinnen auf die Straße, und auch StudentInnen und ArbeiterInnen schlossen sich an und bekundeten ihre Solidarität mit diesem Kampf.

In seiner Ansprache an die Nation am Freitag, den 19. November, kündigte Modi an: „Heute bin ich gekommen, um Ihnen, dem ganzen Land, mitzuteilen, dass wir beschlossen haben, alle drei Landwirtschaftsgesetze zurückzuziehen. In der Ende des Monats beginnenden Parlamentssitzung werden wir den verfassungsrechtlichen Prozess zur Aufhebung dieser drei Landwirtschaftsgesetze abschließen.“

Zu den umstrittenen Gesetzen gehörte die Abschaffung des Mindestpreises zur Stützung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Dem Gesetz zufolge sollten Verkauf und Preisgestaltung vom Markt bestimmt werden, so dass größere privatkapitalistische Agrarbetriebe und der Unternehmenssektor die Preise festlegen konnten. Die kleinen und mittleren LandwirtInnen waren sich darüber im Klaren, dass dies zu einem regelrechten wirtschaftlichen Massaker führen würde, mit Hortungen und anderen Taktiken der Modi-BefürworterInnen unter den Geschäftsleuten. In ähnlicher Weise forderten die LandwirtInnen die Rücknahme des Gesetzes, das die kostenlose Stromversorgung für Kleinbauern und -bäuerinnen beendete. Außerdem wollen sie, dass für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse faire Preise gesetzlich garantiert werden sollten. Solange diese Forderungen nicht erfüllt seien, würden sie ihren Sitzstreik fortsetzen. Dies zeigt das Bewusstsein der bäuerlichen Bewegung, das sie im Laufe des Kampfes gewonnen hat.

Obwohl die gegen die Bauern und Bäuerinnen gerichteten Gesetze angeblich im Namen der Abschaffung feudaler Verhältnisse auf dem Lande eingeführt wurden, haben sie in Wirklichkeit die Rolle der ZwischenhändlerInnen gestärkt, indem sie den Handel zwischen den Bundesstaaten zuließen und die Vorratshaltung lockerten. MilliardärInnen wie Mukesh Ambani und Gautam Adani, die laut Bloomberg-Index zu den reichsten Männern Asiens gehören, unterstützten Modis „Reformen“ eifrig, da sie eine erhebliche Steigerung der Gewinne aus der Landwirtschaft bedeuteten. Infolge dieser „Reformen“ sind die Lebensmittelpreise in die Höhe geschossen und die Lebenshaltungskosten für die ArbeiterInnen gestiegen. Die Lage der Armen in den Städten und auf dem Lande, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, wurde noch verschlimmert.

Wie weiter?

Die Ankündigung der Aufhebung war natürlich ein Grund zum Feiern, wurde aber auch mit Vorsicht genossen, da Modis Regierung die DemonstrantInnen oft betrogen hat, sobald sich ihre Mobilisierungen auflösten. Die Bauern und Bäuerinnen weigerten sich daher, Modis Aufforderung zur Beendigung der Blockaden nachzukommen. Sie erklärten, dass sie ihren Sitzstreik an der Stadtgrenze von Delhi fortsetzen würden, bis der Gesetzentwurf zur Aufhebung dieser Gesetze von der Lok Sabha (1. Kammer des indischen Parlaments) verabschiedet worden sei und andere Forderungen zur Sicherung der Einkommen der LandwirtInnen erfüllt worden seien.

Die Wahlen in Uttar Pradesh, Punjab (Pandschab) und anderen Bundesstaaten stellen den unmittelbaren Grund dafür dar, dass die Regierung Modi die Gesetze zurückgenommen hat. In diesen Bundesstaaten ist der Hass auf die Regierung Modi groß, weil die Änderungen schwerwiegende Auswirkungen auf die ArbeiterInnen und die Armen in Stadt und Land mit sich führen. Modi und seine Partei waren der Meinung, dass in dieser Atmosphäre des Zorns und Hasses große Wahlverluste zu erwarten wären.

Aus all dem wird deutlich, wie tief die bäuerliche Bewegung auch andere Schichten der Gesellschaft berührt hat. Dieser Sieg zeigt, dass weitere Kämpfe gegen die repressive Modi-Regierung möglich sind und gewonnen werden können.

Die Bauern und Bäuerinnen müssen nun gewarnt werden, dass die Modi-Regierung, selbst wenn sie diese Gesetze durch die Lok Sabha aufhebt, versuchen wird, sie in einem anderen Gewand wieder einzuführen, denn Indiens größter Gewinn für indische und ausländische MilliardärInnen ist die Landwirtschaft. Die Entwicklung der kapitalistischen Landwirtschaft und eines Teils der KapitalistInnen, die sich auf diesen Sektor stützen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Strategie zur Entwicklung des indischen Kapitalismus und seiner Rolle in der Welt.

Nicht nur Modi blickt auf die bevorstehenden Wahlen. Die Kongresspartei und die reformistischen kommunistischen Parteien wollen nun den Erfolg der LandwirtInnen nutzen, um Sitze zu gewinnen. Letztere glauben, dass Modis Bharatiya Janata Partei (BJP; Indische Volkspartei) durch ein Wahlbündnis mit der Kongress-Partei besiegt werden kann. Diese Strategie ist aus zwei Gründen falsch. Erstens würde ein Wahlbündnis mit der traditionellen Partei der indischen Bourgeoisie nur eine politische Unterordnung unter die alternative Partei der KapitalistInnen bedeuten. Zweitens müssen die Wahlen als ein Mittel zur unabhängigen Mobilisierung der ArbeiterInnen und LandwirtInnen, der Frauen, der Jugend, der MuslimInnen und aller national und sozial unterdrückten Sektoren gegen die Herrschaft der BJP gesehen werden.

Der erfolgreiche Kampf der Bauern und Bäuerinnen, angeführt vom Allindischen Kisan Sangharsh Koordinationskomitee (AIKSCC), hat deutlich gemacht, dass nur eine kämpferische antineoliberale Bewegung, die in den unterdrückten Teilen der Gesellschaft verwurzelt ist und mit den ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und Armen in den Städten und auf dem Land verbunden ist, Modis höchst reaktionäre Regierung besiegen kann.

Nach der Niederschlagung der Unruhen in Delhi und der Bewegung gegen das Nationale BürgerInnenregister (NRC) und das StaatsbürgerInnenschaftsänderungsgesetz (CAA) im Jahr 2019 sowie der Inhaftierung von Anti-Hindutva-AktivistInnen hat sich die Bewegung der BäuerInnen zu einer starken Alternative zur Modi-Regierung entwickelt. Ihr Sieg ist ein großer Schritt nach vorn, aber es ist notwendig, sich mit den ArbeiterInnen, MuslimInnen und der Dalit-Bewegung (Angehörige der untersten Kasten) zusammenzuschließen, die zusammen mit anderen Forderungen der Bauern und Bäuerinnen den Kampf gegen die Modi-Regierung in Bezug auf das CCA, das Arbeitsgesetz, Kaschmir und andere Themen fortsetzen und ein alternatives Programm zu ihr anbieten.

Der Kampf gegen die Regierung und ihre neoliberale Politik muss sich über die vom indischen Kapitalismus gesetzten Grenzen hinaus auf alle grundlegenden Verbesserungen bei Löhnen, Bildung und Gesundheitsdiensten ausweiten, ganz zu schweigen von den Rechten der Frauen und der national, religiös und rassistisch Unterdrückten. Es ist klar, dass Modis Regierung besiegt werden kann, aber dafür braucht die ArbeiterInnenklasse eine politische Partei mit einem Programm, das die heutigen Auseinandersetzungen in einen Kampf gegen den Kapitalismus verwandeln kann.




Indien: Einheit von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen kann Modis neoliberalen Anschlag aufhalten

Bernie McAdam, Infomail 1137, 3. Februar 2021

Indische Bauern, Bäuerinnen und LandarbeiterInnen führen einen massiven Kampf zur Aufhebung von drei Agrargesetzen, die im September vom Parlament verabschiedet wurden und die ländliche Wirtschaft deregulieren und weiter privatisieren. In diesem Kampf haben sie die Unterstützung der indischen ArbeiterInnenklasse, die im November erneut ihren eigenen geschichtlichen Rekord für den größten eintägigen Generalstreik brach.

Über 300.000 Bauern und Bäuerinnen und ihre UnterstützerInnen campierten an den Grenzen von Neu-Delhi. Sie leisten Widerstand gegen die bauern-/bäuerinnenfeindlichen Gesetze von Premierminister Narendra Modi. Am 26. Januar stieß ein Marsch mit Tausenden von Traktoren an der Spitze in Delhi mit der Polizei zusammen, als die DemonstrantInnen die Absperrungen um das historische Rote Fort (Festungs- und Palastanlage aus der Epoche des Mogulreiches, erbaut 1639–1648; d. Red.) durchbrachen. Modi hat versucht, die „Gewalt“ zu skandalisieren, um die enorme öffentliche Unterstützung zu schwächen, die die Protestbewegung insbesondere seitens der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse genießt.

Zur Zeit der Grünen Revolution in den 1950er und 1960eår Jahren führte die Regierung der Kongresspartei einen garantierten „Mindeststützungspreis“ oder MSP ein, vor allem für Reis und Weizen, die über von den Bundesstaaten betriebene Agrarmärkte, sogenannte Mandis, verkauft wurden. Modi sieht in diesem System ein Hindernis für die vollständige Kapitalisierung der Landwirtschaft und die Vertreibung der „überschüssigen“ Bevölkerung vom Lande. Es wurden bereits Sonderwirtschaftszonen geschaffen, indem der Staat Land für die industrielle Entwicklung an sich gerissen hat. Aber sie beinhalten auch Luxuswohnungen für die wachsende Mittelschicht des Landes mit Golfplätzen und Privatgärten, wo einst Dörfer standen.

Modis Regime und die Hindutva-Ideologie

Dieser jüngste Kampf gegen Modis hindu-chauvinistische Regierung findet vor dem Hintergrund einer zerstörten Wirtschaft und einer brutalen und schlecht geführten Reaktion auf die Pandemie statt. Während der anfänglichen Abriegelung im März 2020 waren Zehntausende von WanderarbeiterInnen gezwungen, Hunderte von Kilometern zu ihren Heimatdörfern zu laufen, da jeglicher Transport gestoppt wurde. Die Arbeitslosigkeit schoss auf 24 % empor! Die Zahl der Covid-Infektions- und der Todesfälle ist in die Höhe geschnellt, obwohl viele ungezählt bleiben, da mehrere indische Bundesstaaten entgegen dem Rat der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Verdachtsfälle nicht in die endgültige Zählung einbeziehen.

Als Modis Regime 2014 gewählt wurde, wurde sein Sieg mit nur 30 % der Stimmen, aber einem Erdrutschsieg an Sitzen dank des undemokratischen Mehrheitswahlrechts gesichert. Das Großkapital gab Modi seinen Segen, weil es glaubte, dass er eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt anführen könnte, um mit den Leistungen Chinas zu konkurrieren und zum zweiten wirtschaftlichen Kraftzentrum Asiens zu werden.

Modis Hintergrund ist die Rashtriya Swayamsevak Sangh, (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS), eine paramilitärische rechtsgerichtete hindu-nationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager hat. Sie entstand in den 1920er Jahren als eine antibritische, aber streng hinduistische und anti-muslimische Gruppe. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute eine Mitgliederzahl von 5 bis 6 Millionen haben. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hindu-Organisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP ihre politische Vertreterin ist.

Die RSS basiert auf einer Ideologie der religiösen Vorherrschaft, Hindutva, die das zweitbevölkerungsreichste Land der Erde mit einer Bevölkerung von 1,36 Mrd. Menschen in einen verheerenden kommunalistischen Konflikt zu stürzen droht. Sie kämpft für einen Hindu Rashtra (Hindu-Staatswesen) in einem Land mit 200 Mio. MuslimInnen und 30 Mio. Christen und verurteilt diese zu einem Status zweiter Klasse, ebenso wie sie für eine verstärkte Unterdrückung von Dalits, der indigenen Bevölkerung des Subkontinents, von Frauen und sexuellen Minderheiten eintritt. Als Modi Ministerpräsident von Gujarat war, wurde er weithin beschuldigt, die antimuslimischen Unruhen von 2002 geschürt zu haben, bei denen über 1.000 MuslimInnen ermordet wurden. Selbst US-Präsident Bush (jun.) verweigerte ihm daraufhin die Einreise in die Vereinigten Staaten. Doch Obama machte dies bald wieder rückgängig, nachdem Modi 2014 Premierminister wurde.

Hindutva verkörpert das geänderte BürgerInnenschaftsgesetz (Citizenship Amendment Act, CAA), das 2019 verabschiedet wurde. Dieses erlaubt es MigrantInnen jeder anderen Religion als dem Islam, indische StaatsbürgerInnen zu werden. In Kombination mit dem Nationalen BürgerInnenregister könnte es die gesamte Grundlage der indischen StaatsbürgerInnenschaft verändern und möglicherweise Millionen von MuslimInnen entrechten. Der Bundesstaat Assam mit seiner großen Einwanderungsbevölkerung hat die Übung bereits hinter sich. Er ist einer der ärmsten Staaten, in dem viele BürgerInnen keine Ausweispapiere haben und von Inhaftierung und „Staatenlosigkeit“ bedroht sind. Schon jetzt sind viele Menschen, die in Assam geboren wurden, von der Registrierung ausgeschlossen worden.

Die Reaktion auf diesen Angriff waren weit verbreitete Proteste in ganz Indien aus allen Schichten, insbesondere an den Universitäten. Dies wurde mit Polizeibrutalität und Todesfällen von DemonstrantInnen beantwortet. Im selben Jahr entzog Modi dem muslimischen Staat Jammu und Kashmir die begrenzte Autonomie, die er hatte. Die indische Armee verstärkte ihre Besatzung, und der Ausnahmezustand wurde ausgerufen. Proteste wurden brutal niedergeschlagen. In jüngster Zeit haben acht Bundesstaaten Anti-Konversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindu-Frauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden.

Es ist wichtig, die wirklichen Elemente des Faschismus innerhalb der Sangh-Parivar-Bewegung und der BJP zu erkennen. Es ist klar, dass die RSS auf eine lange Geschichte der Organisation von Pogromen gegen MuslimInnen zurückblickt, sie ist eine paramilitärische Organisation und verfügt über eine Massenbasis von „kulturellen“ und sportlichen Organisationen. Sie ist auch eng mit staatlichen Kräften verbunden. Bei den letztjährigen Unruhen in Delhi handelte es sich überwiegend um Angriffe auf muslimische Gebiete durch Hindu-Mobs, wobei es viele Berichte über die Beteiligung der Polizei gab. Die meisten der 53 Toten waren Muslime, und der Auslöser scheint ein BJP-Führer gewesen zu sein, der die Polizei aufforderte, die Straßen zu räumen, nachdem ein Sitzstreik von Frauen gegen das CAA stattgefunden hatte.

Modis wirtschaftliche Strategie

Während dies charakteristisch für Modis Hindutva-Politik ist, war sein strategisches Ziel immer, den indischen Kapitalismus entlang von Linien zu rationalisieren, die für das Großkapital akzeptabel sind. Der Druck für Veränderungen entlang dieser Linien beschleunigte sich nach der globalen Krise 2008, was zu massiven Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse und die Bauern-/Bäuerinnenschaft führte. Dazu gehören vor allem die zahlreichen neuen Arbeitsgesetze, die darauf abzielen, große globale Produktionsunternehmen nach Indien zu locken, insbesondere solche, die China meiden wollen.

Es wurden gesetzliche Bestimmungen zu Löhnen, Arbeitsschutz, Arbeitsbeziehungen und sozialer Sicherheit erarbeitet, die 44 bestehende Gesetze umfassen. Ein Beispiel ist ein neues Arbeitsgesetz, das die sofortige Entlassung von bis zu 300 Arbeitskräften ohne weitere Erklärung und ohne Zustimmung der Behörden erlaubt. Zuvor war diese Zahl auf 100 ArbeiterInnen festgelegt. Die Gesetze beschneiden die Rechte der ArbeiterInnen, verlängern den Arbeitstag, öffnen den Weg für weitere Privatisierungen und geben den Bossen mehr Freiheiten im Streben nach Profiten.

Neben diesen arbeiterInnenfeindlichen Gesetzen hat Modi seine Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung ausgeweitet, indem er die Bauern und Bäuerinnen ins Visier nahm. Die LandwirtInnen fordern die Aufhebung von drei Gesetzen, die im vergangenen September verabschiedet wurden. Die Gesetze erlauben es Konzernen, Ernten ohne Gebühren oder Steuern zu Marktpreisen aufzukaufen und damit den von der Regierung festgelegten Mindeststützungspreis zu beenden. Dies würde dazu führen, dass Konzerne Rohstoffe in unbegrenzten Mengen horten und dadurch die Preise manipulieren können.

Ähnlich fordern die LandwirtInnen die Rücknahme des Stromänderungsgesetzes. Damit wird die Versorgung der Bauern und Bäuerinnen mit kostenlosem Strom gestoppt. Sie fordern auch die Aufhebung der Gesetzgebung, die eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe von 10 Millionen Rupien (114.000 Euro) für LandwirtInnen vorsieht, die keine Alternative zu der traditionellen Art haben, ihre Felder mit Feuer zu roden. Diese Reformen haben bereits zu steigenden Lebensmittelpreisen für die ArbeiterInnen geführt und die Notlage der Armen verschlimmert, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.

Historische Generalstreiks

Die Antwort zahlreicher regionaler und gewerkschaftlicher Organisationen auf diese neuen drakonischen Gesetze war der Aufruf zu einem Generalstreik am 26. November 2020, der zum größten aller Zeiten geriet. Über 250 Millionen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen schlossen sich dem eintägigen Streik an und legten die Wirtschaft lahm. Es war der zweite Generalstreik in diesem Jahr. ArbeiterInnen des öffentlichen und privaten Sektors schlossen sich zusammen mit vielen bäuerlichen Gewerkschaften und StudentInnen, während im ganzen Land Demonstrationen und Kundgebungen stattfanden.

Über 250 bäuerliche Organisationen, die im Allindischen Bauern-/Bäuerinnen-Kampfkoordinationskomitee zusammengeschlossen sind, unterstützten den Generalstreik, und die Gewerkschaften halfen bei der Mobilisierung der Bauern/Bäuerinnen „Chalo Delhi“ (Geh nach Delhi!) am 26. und 27. November. Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen, die in 31 Gewerkschaften organisiert sind, schlossen sich diesem Marsch an, gestärkt durch Studierende und TransportarbeiterInnen.

Anfang Dezember blockierten zwischen 150 und 300 Tausend die Hauptstadt Delhi, mit Unterstützung von Kongress- und Kommunistischen Parteien. Polizei und paramilitärische Kräfte haben den Marsch wiederholt angegriffen, mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern.

Viele der LandwirtInnen kommen aus dem Punjab (Pandschab) und Haryana, aber es gab Proteste und Unterstützung von Bauern und Bäuerinnen aus dem ganzen riesigen Land, auch aus dem westlichen Teil Uttar Pradeshs, aus Kerala und Tamil Nadu. Zwei Monate später kommen die Bauern und Bäuerinnen und ihre Familien immer noch an. An den verschiedenen Grenzen Delhis wurden Lager mit Langars (Gemeinschaftsküchen) eingerichtet. Über 50 Todesfälle sind zu beklagen, aufgrund von Erkältung, Herzinfarkten und sogar Selbstmorden.

Trotz der Versuche der Regierung, die DemonstrantInnen als „TerroristInnen“, MaoistInnen oder SeparatistInnen abzustempeln, hat die Bewegung ein erstaunliches Maß an Solidarität zwischen den Gemeinschaften und Kasten gezeigt. Sie begann mit Sikh-Bauern/-Bäuerinnen und -ArbeiterInnen, mobilisierte aber bald Hindus und MuslimInnen in ganz Indien. Die Hauptlosung des Marsches laute „Kisan Mazdoor Ekta Zindabad“, es lebe die Einheit von Bauern/Bäuerinnen und ArbeiterInnen, was auch die Solidarität zwischen den Jats, einer Gemeinschaft, die in Pandschab 25 Prozent der Bevölkerung ausmacht, aber den größten Teil des Landes besitzt, und den Dalits (zur Kaste der Unberührbaren zählend), die 32 Prozent der Bevölkerung Pandschabs stellen, aber nur 2,3 Prozent des urbaren Bodens besitzen und meist LandarbeiterInnen sind, zum Ausdruck bringt. In der Vergangenheit gab es scharfe Kämpfe zwischen Jats und Dalits um den Zugang zu kommunalem Land.

Am 26. Januar 2021 fuhr ein riesiger Marsch, darunter Tausende von Traktoren und Motorrädern, am Tag der Republik in Delhi ein und durchbrach die Polizeisperren, wobei einige in das berühmte Rote Fort eindrangen. Die DemonstrantInnen kehrten in die Camps zurück, aber die Presse startete eine hysterische Kampagne, in der die Bauern und Bäuerinnen für die Gewalt verantwortlich gemacht wurden. Dies bereitet den Boden für einen staatlichen Angriff auf die Camps.

Nach dem Traktorenmarsch befahl die Landesregierung den DemonstrantInnen, das Lager in Ghazipur (Stadt im Osten Uttar Pradeshs) zu räumen und schickte die Bereitschaftspolizei. Nach einem Patt zog sich die Polizei zurück. Im Singhu-Lager (Dorf in Haryana nahe Delhi) griffen 200 Männer der Hindu Sena (Hindu-Armee), einer rechtsextremen Hindu-ChauvinistInnengruppe, die Bauern und Bäuerinnen mit vermuteter Duldung der Polizei an, wurden aber von den Lagernden zurückgeschlagen.

Offensichtlich nähert sich der Kampf einer kritischen Phase. Die Regierung hat die Verhandlungen endlos in die Länge gezogen, in der Hoffnung, dass sich Demoralisierung und Müdigkeit einstellen. Gerade jetzt ist es notwendig, dass die ArbeiterInnenklasse und ihre Gewerkschaften eine Führung in dieser Krise anbieten; eine, die über eintägige Streiks und Solidaritätsbekundungen mit den Bauern und Bäuerinnen hinausgeht. Es muss einen gemeinsamen und dauerhaften Widerstand gegen die landwirtInnen- und arbeiterInnenfeindlichen Gesetze geben, kombiniert mit einem Kampf gegen niedrige Löhne und die Auswirkungen der Pandemie.

Die Gewerkschaften müssen einen unbefristeten politischen Generalstreik organisieren, der die Wirtschaft lahmlegen kann, bis Modi einlenkt. Gewerkschaften und bäuerliche Organisationen sollten Aktionsräte am Arbeitsplatz und in den Dörfern/Bezirken einrichten, die einen solchen Streik demokratisch organisieren und leiten können. Demokratische Gremien wie diese können aus den riesigen Reserven der Wut auf Modi und die großkapitalistischen und multinationalen LandräuberInnen schöpfen. Sie können zu einem Sammelpunkt gegen alle Formen der Unterdrückung werden, einschließlich der durch Kaste und Nation. Sie können eine Barriere gegen all jene sein, die kommunalistischen Hass schüren.

Angesichts der staatlichen Repression und der hindu-chauvinistischen Angriffe ist es unerlässlich, dass eine angemessene Selbstverteidigung auf interkommunaler Basis organisiert wird. Wenn dies geschieht, kann die Bewegung die bedingungslose Rücknahme von Modis Gesetzen und auch seiner arbeiterInnenfeindlichen Maßnahmen erzwingen. Sie könnte dann in die Offensive gehen und sich selbst aufmachen, um Modi zu stürzen und den Weg für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnen-Regierung zu öffnen, die Indiens Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungssektor auf demokratisch geplanter Basis entwickeln kann.




Indien: Marsch der Bauern und Bäuerinnen entfacht neue Massenbewegung gegen Modi

Imran Javlad, Infomail 1132, 22. Dezember

Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen aus ganz Indien starteten am 25. November auf Initiative des allindischen Sangharsh-Kisan-Koordinationskomitees, das aus 300 bäuerlichen Organisationen besteht, den Delhi-Chalo-(Lasst uns nach Delhi gehen)-Marsch. Der Marsch wurde von LandarbeiterInnen, TransportarbeiterInnen und wichtigen Sektoren der ArbeiterInnenklasse unterstützt.

Hunderttausende haben sich ihm angeschlossen, mit dem Ziel, Delhi zu einer Massenkundgebung zu erreichen und die Aufhebung der neuen Gesetze zu fordern, die Kleinbauern und -bäuerinnen, LandarbeiterInnen und die Masse der Landbevölkerung zugunsten der GroßkapitalistInnen weiter verarmen lassen werden. Polizei und paramilitärische Kräfte griffen die DemonstrantInnen wiederholt mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern an und verletzten mehrere von ihnen.

Dies hat ihre Entschlossenheit nicht gebrochen. Zwischen dem 28. November und dem 3. Dezember blockierten schätzungsweise 150 bis 300 Tausend Bauern und Bäuerinnen Delhi im Rahmen des Delhi Chalo. Sie riefen für den 8. Dezember zu einem Stillstand in Indien auf. Elf Oppositionsparteien, darunter die Kongresspartei und die Kommunistische Partei, schlossen sich diesem Aufruf an.

Der bäuerliche Streik wird von ArbeiterInnenorganisationen, Studierenden und Frauen aus dem ganzen Land unterstützt, und es wurden Proteste in Solidarität mit dem Sitzstreik der Landbevölkerung organisiert. Bei vielen Gelegenheiten wurde die Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, mit Slogans für Freiheit und Revolution den Kampf fortzusetzen, bis die Forderungen angenommen sind. Auch TransportarbeiterInnen haben sich dem Sitzstreik angeschlossen, so dass weitere Straßen in Richtung Delhi gesperrt werden.

Die Modi-Regierung hat nicht nur versagt, diesen Marsch zu stoppen, sondern ihre gesamte Verteilungs- und Regierungspolitik ist gescheitert und entlarvt worden. Die Gespräche von Landwirtschaftsminister Narendra Singh Tomar mit den Bauern/Bäuerinnen waren bisher erfolglos, trotz der ständigen Regierungspropaganda in den Medien, die behauptet, die neuen Gesetze würden die Entwicklung und das Wohlergehen der Gesellschaft fördern.

Ziele

Der Delhi-Chalo-Marsch und der Sitzstreik der Bauern und Bäuerinnen richten sich gegen die Einführung neoliberaler Gesetze durch die indische Regierung im Namen von Reformen, die sie der Gnade der Agrar- und FinanzkapitalistInnen ausliefern werden. Die Bauern und Bäuerinnen fordern die Abschaffung von drei umstrittenen Gesetzesvorlagen, die den Mindeststützungspreis abschaffen würden. Dieser Preis, der von der Regierung festgelegt wird, sichert einen Mindestpreis für die heimischen Agrarprodukte. Nach dem neuen Gesetz wird der Verkauf und die Preisgestaltung von landwirtschaftlichen Produkten den Marktkräften unterliegen und den Preisen, die das Privatkapital und der Unternehmenssektor zu zahlen bereit sind. Dies wird wahrscheinlich zu einem wirtschaftlichen Massaker an kleinen LandwirtInnen durch Horten von Produktion und andere Mittel führen.

In ähnlicher Weise fordern die Bauern und Bäuerinnen die Rücknahme der Änderungen des Gesetzes über die Stromversorgung. Diese sollen die Versorgung der Bauern mit kostenlosem Strom stoppen. Die dritte Forderung der LandwirtInnen ist die Aufhebung der Gesetzgebung, die eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe von 10 Millionen Rupien für diejenigen vorsieht, die ihre Felder flämmen.

LandwirtInnen in Pandschab (Punjab), Haryana, Rajasthan, Uttar Pradesh und anderen Bundessstaaten wehren sich seit Monaten gegen die Gesetze. Neben den Streiks in Pandschab dagegen wurde auch der Bahnverkehr im Rahmen der Bahnstopp-Strategie ausgesetzt.

Obwohl die bauernfeindlichen Gesetze vorgeblich im Namen der Abschaffung der feudaler Verhältnisse eingeführt werden, stärken sie in Wirklichkeit die Rolle der Großkonzerne, die in der Lage sein werden, die Preise zu manipulieren, indem sie Vorräte anlegen und Lieferungen zwischen verschiedenen Bundesstaaten transferieren. Sie haben GroßkapitalistInnen wie Mukesh Ambani, Besitzer des Petrochemieriesen Reliance Industries, und Gautam Adani, Chef der Adani-Gruppe, die die Regierungspartei BJP finanziert haben, die Möglichkeit gegeben, von diesen Reformen in der Landwirtschaft zu profitieren. Diese Umstrukturierungen haben bereits zu steigenden Lebensmittelpreisen für die ArbeiterInnen geführt und die Notlage der Armen verschlimmert, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.

Inflation

Der VerbraucherInnenpreisindex für Lebensmittel stieg im Oktober um 11,07 Prozent, während die Einzelhandelsinflation mit 7,61 Prozent den höchsten Stand der letzten sechs Jahre erreichte. Beides verdeutlicht die steigende Belastung für LandwirtInnen und ArbeiterInnen im ganzen Land. Gleichzeitig bot dies den großen KapitaleignerInnen und HändlerInnen die Möglichkeit, künstliche Engpässe auf dem Markt zu schaffen, was die Lebensmittelpreise und damit ihre Gewinnspannen vervielfachte. Da die Modi-Regierung das öffentliche Verteilungssystem zerstört hat, um die Menschen daran zu hindern, Getreidenahrungsmittel zu vergünstigten Preisen zu kaufen, ist die Mehrheit der Bevölkerung auf den offenen Markt für Getreide und Gemüse angewiesen.

All dies muss vor dem Hintergrund einer dramatischen Rezession in Indien gesehen werden. Im ersten Quartal des Finanzjahres (April – Juni) sank das Bruttoinlandsprodukt um 23,9 Prozent. Am 27. November veröffentlichte das Nationale Statistikamt seinen BIP-Bericht für das zweite Vierteljahr des laufenden Fiskaljahres (Juli – September), der einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 7,5 Prozent ausweist. Dies ist eine Schrumpfung von historischem Ausmaß. Damit hat sich gleichzeitig die soziale Spaltung der Gesellschaft verschärft. Es gibt einen starken Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite enorme Investitionen. Laut Internationalem Währungsfonds sind die Profite Indiens aufgrund von Regierungspaketen und einer arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Politik gestiegen.

Der eintägige Generalstreik am 26. November, der nach Angaben der Gewerkschaften eine historische Zahl von 250 Millionen ArbeiterInnen, Bauern, Bäuerinnen und Armen zusammenbrachte, und der Delhi-Chalo-Marsch haben die Wut der ArbeiterInnenklasse und die Einheit der Kleinbauern und -bäuerinnen, ArbeiterInnen und StudentInnen gezeigt. Der indische Streik vom 8. Dezember reichte jedoch nicht aus, um die Forderungen der ArbeiterInnen und kleinen LandwirtInnen durchzusetzen. Die Verhandlungen am 9. Dezember brachten keine Ergebnisse, und die Massenprotestwelle setzt sich mit weiteren Sitzstreiks und Straßenblockaden fort, an denen sich Hunderttausende, wenn nicht Millionen, bis zum 14. Dezember beteiligten.

Die beeindruckenden Streiks der ArbeiterInnenklasse in Indien in den letzten Jahren sind auch ein deutlicher Beweis dafür, dass die Krise und Massenmobilisierungen die Modi-Regierung und ihre kapitalistische Agenda erschüttern können. Privatisierungen, arbeiterInnen- und bauernfeindliche Gesetze, die Steigerung der Profite und die Senkung der Löhne, Aufweichung des gesetzlichen Schutzes und Einschränkungen der Bedingungen der ArbeiterInnenklasse sind allesamt Teil eines größeren kapitalistischen Angriffs.

Regierung

Der Generalstreik vom 26. November sowie die wachsende Bewegung von LandwirtInnen, KleinerzeugerInnen und LandarbeiterInnen und die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und bäuerlichen Organisationen deuten auf die Entwicklung einer Kraft hin, die nicht nur ihre Gesetze, sondern auch die hindu-chauvinistische Modi-Regierung und ihre Agenda aus den Angeln heben könnte.

Um eine solche Bewegung zustande zu bringen, müssen die Gewerkschaften über eintägige Streiks und Solidaritätsbekundungen mit den Bauern und Bäuerinnen hinausgehen. Es bedarf eines permanenten Widerstands gegen die arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Gesetze und unbefristeter Streiks in Städten und Dörfern für Mindestlöhne und -gehälter sowie eines Massenaufstands der Bauern und Bäuerinnen gegen das Agrarkapital.

Gewerkschaften und bäuerliche Organisationen kämpfen mit Mut gegen Modis Angriffswelle. Sie sollten zur Bildung von Kampfkomitees am Arbeitsplatz, auf Bezirksebene, in der Nachbarschaft und in den Dörfern aufrufen, die ArbeiterInnen, kleine und mittlere LandwirtInnen und landlose Bauern und Bäuerinnen einschließen. Sie müssen sich zugleich gegen jede Diskriminierung auf Grundlage von Religion, Nationalität, Kaste und Geschlecht wenden. Es müssen Selbstverteidigungseinheiten gebildet werden, um die Bewegung gegen staatliche Repression und Angriffe reaktionärer Hindu-ExtremistInnen zu verteidigen.

Ein politischer Generalstreik und ein bäuerlicher Aufstand, die das Land dauerhaft lähmen, würden unweigerlich die Machtfrage aufwerfen und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit entstehen lassen, von einem defensiven Kampf zu einem offensiven überzugehen. Das erfordert allerdings, über den gewerkschaftlichen Kampf hinauszugehen.

Die Verbindung dieses Kampfes mit dem Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung, der Gegenwehr gegen die BJP-Regierung mit dem Kampf gegen den Kapitalismus weist auf die Notwendigkeit einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse hin, deren Programm auf Übergangsforderungen beruht. Eine solche Partei wird in der Lage sein, die Landbevölkerung zu gewinnen, wenn sie die Forderungen der Bauern und Bäuerinnen aufgreift und für die Kontrolle des Landes durch diejenigen kämpft, die es bearbeiten, die Bauern, Bäuerinnen und die LandarbeiterInnen. Ein solcher gemeinsamer Kampf würde den Weg für eine permanente Revolution in Indien öffnen, die in dem Ringen um eine ArbeiterInnen- und BäuerInnen-Regierung gipfelt, die die Herrschaft der Räte errichtet, das ausländische und indische Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt. Nur das würde es ermöglichen, den Austausch zwischen Stadt und Land zum Nutzen sowohl der bäuerlichen wie auch der städtischen Bevölkerung zu organisieren.

Zurzeit gibt es in Indien keine politische Kraft, die ein solches Programm auf nationaler Ebene vertritt. Die Kongresspartei ist, obwohl sie momentan behauptet, die Bauern, Bäuerinnen und Gewerkschaften zu unterstützen, selbst eine kapitalistische Partei, die viele der neoliberalen Angriffe, die Premierminister Modi derzeit versucht, zu ihrem logischen Ende zu bringen, begonnen hat. Die kommunistischen Parteien, die aus der stalinistischen stammen, haben in der Tat den Kampf für die revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus schon lange aufgegeben, und auch die radikale Linke ist verwirrt und zersplittert. Wir müssen die Notwendigkeit einer Partei in den Mittelpunkt des Kampfes stellen, die eine revolutionäre Regierungslösung für die aktuelle politische Krise präsentieren kann.




Solidarität mit dem Generalstreik der indischen Gewerkschaften!

Martin Suchanek, Infomail 1127, 26. November 2020

Seit dem Morgen des 26. November erfasst ein weiterer Generalstreik Indien. Die Gewerkschaften rechnen mit bis zu 250 Millionen TeilnehmerInnen. Begleitet wird die Arbeitsniederlegung außerdem von Massenaktionen von Bauern/Bäuerinnen und LandarbeiterInnen gegen neue drakonische Gesetze, die Farm Laws, die die Arbeit auf dem Land (de)regulieren sollen.

Zur Vorbereitung und Durchführung des Generalstreik haben sich zahlreiche landesweite Verbände und regionale Organisationen in der  Joint Platform of Central Trade Unions (CTUs; Vereinigte Plattform der Gewerkschaftszentralen) zusammengeschlossen.

Diese besteht aus folgenden Verbänden Indian National Trade Union Congress (INTUC), All India Trade Union Congress (AITUC), Hind Mazdoor Sabha (HMS), Centre of Indian Trade Unions (CITU), All India United Trade Union Centre (AIUTUC), Trade Union Coordination Centre (TUCC), Self-Employed Women’s Association (SEWA), All India Central Council of Trade Unions (AICCTU), Labour Progressive Federation (LPF) und United Trade Union Congress (UTUC). Politisch repräsentieren sie das volle Spektrum von der bürgerlich-nationalistischen Kongresspartei nahestehenden Verbänden über die den kommunistischen Parteien verbundenen bis hin zu unabhängigen, teilweise radikaleren klassenkämpferischen Organisationen. Wenig überraschend fehlt mit Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der „gewerkschaftliche“ Arm der regierenden, hinduchauvinistischen Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), die sich faktisch wieder einmal als gelber Verband von StreikbrecherInnen betätigt.

Historischer Angriff

Der Generalstreik am 26. November richtete sich – wie schon jene der letzten Jahre, die mehr als 100 Millionen Lohnabhängige mobilisieren konnten – gegen einen fundamentalen Angriff durch die KapitalistInnenklasse und die Modi-Regierung. Die Regierung brachte seit 2019 vier neue Arbeitsgesetze in die Look Sabha (Parlament) ein, die 44 bisher gültige ersetzen sollen. Im Grunde sollen damit die Überreste der Beziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit, wie sie nach der Unabhängigkeit Indiens etabliert wurden, endgültig beiseitegeschoben werden. Dieser Prozess begann zwar mit der neoliberalen Wende der Kongress-Partei und der Öffnung der indischen Wirtschaft nach 1980, beschleunigte sich jedoch seit dem Ausbruch der globalen Krise 2007 und der Regierungsübernahme der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata Party (BJP) 2014. Das ist auch der Grund, warum sich entscheidende Fraktionen des Großkapitals vom Kongress, der traditionellen Partei der indischen Bourgeoisie, abwandten und, ähnlich den imperialistischen Großunternehmen, in der BJP die verlässliche Sachwalterin ihrer Interessen sehen.

Die Ideologie des Hindutva, nach der Indien ausschließlich den Hindus gehöre und in der religiöse Minderheiten wie Muslime, Indigene, die „unteren“ Kasten, Frauen und sexuelle Minderheiten BürgerInnen zweiter Klasse sein sollen, bildet den Kitt, um große Teile der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums und rückständige ArbeiterInnen vor den Karren des Kapitals zu spannen. Die „größte Demokratie der Welt“ bildet die Fassade für die zunehmend autoritäre, bonapartistische Herrschaftsform des Regimes Modi, das sich dabei auf extrem reaktionäre und auf faschistische Massenorganisationen stützen kann. In den letzten Jahren forcierte sie die Angriffe auf demokratische Rechte und ging brutal gegen  Proteste vor, die sich gegen die nationalistische „Reform“ der Melde- und Staatsbürgerschaft richteten. Vielerorts, wie in Delhi provozierten Parteiführer der BJP Pogrome gegen Muslime und Protestierende. Indien annektierte Kaschmir und beendete dessen formal autonomen Status endgültig. Die „Reform“ der Arbeitsgesetze stellt ein, wenn nicht das klassenpolitische Kernstück der Politik der Modi-Regierung dar. Hier nur einige zentrale Aspekte:

  • Das neue Arbeitsgesetz erlaubt die fristlose Entlassung ohne weitere Angabe von Gründen und ohne Zustimmung der Behörden von bis zu 300 Beschäftigten. Bisher war diese Zahl auf 100 ArbeiterInnen festgelegt. Dies schafft wichtige Beschränkungen der Unternehmenswillkür in Klein- und Mittelbetrieben ab, die in den letzten Jahren ebenfalls zunahm.
  • Das Fabrikgesetz von 1948 galt bislang für alle Betriebe mit mehr als 10 Beschäftigten, sofern sie mit Elektrizität versorgt wurden, und für alle mit mehr als 20, die diese nicht haben. Jetzt werden diese Zahlen verdoppelt, auf 20 bzw. 40 Beschäftigte.
  • Diese Methode durchzieht zahlreiche andere Bestimmungen der neuen Arbeitsgesetze. Die Mindestzahl an regulär Beschäftigten, ab denen sie überhaupt erst gelten, wurde deutlich erhöht, oft auf das Doppelte oder Dreifache der ursprünglichen Zahl. Dies betrifft insbesondere Mindeststandards für Arbeitssicherheit.
  • Erhöht wurde außerdem die Quote für LeiharbeiterInnen unter den Beschäftigten.

All diese Maßnahmen zielen auf die Ausweitung der UnternehmerInnenfreiheit. Die weitgehende Entrechtung, die schon heute die Lage eines großen Teils der indischen ArbeiterInnenklasse prägt, der in verschiedene Formen der Kontraktarbeit (wie  Tagelöhnerei, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, …) gezwungen wird, soll weiter ausgedehnt werden. Auch bisher „regulär“ Beschäftigte sollen von ihr erfasst werden.

Zugleich werfen diese Maßnahmen auch ein bezeichnendes Licht auf das Geschäftsmodell des indischen Kapitalismus. Die vom Weltmarkt und den internationalen Finanzmärkten abhängige halbkoloniale Ökonomie kann die Profitabilität der wachsenden kleineren Kapitale nur sichern, wenn diese weiter die Arbeitskräfte extrem ausbeuten, also unter ihren Reproduktionskosten kaufen und verwerten können. Ansonsten sind sie nicht in der Lage, sich auf dem Markt zu halten, die Vorgaben von Konkurrenzbedingungen, die das multinationale Großkapital aus den imperialistischen Ländern diktiert, zu erfüllen. Zugleich begünstigt diese Form der Überausbeutung auch die indischen Großkonzerne, die ihrerseits um größere Anteile am Weltmarkt ringen.

Diese Ausweitung selbst erschwert schon die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Organisierung massiv, die durch neue legale Einschränkungen zusätzlich eingeschränkt werden sollen.

Ergänzt werden die Angriffe auf die Arbeitsgesetze auch durch drastische Verschlechterungen für die Landbevölkerung, also für die ärmsten Schichten der Bauern und Bäuerinnen sowie für LandarbeiterInnen. Das ist auch der Grund, warum das All India Kisan Sangharsh Coordination Committee (AIKSCC) den Generalstreik unterstützt und mit Aktionstagen am 26. und 27. November verbindet.

Über die Forderung nach Abschaffung der gesamten reaktionären Reformen des Arbeitsgesetzes hinaus verlangen die Gewerkschaften außerdem eine monatliche staatliche Unterstützung von 7.500 Rupien (rund 85 Euro) für alle Familien, die keine Einkommenssteuer zahlen müssen, sowie 10 Kilogramm kostenloser Lebensmittel für alle Bedürftigen. Diese und ähnliche Forderungen verdeutlichen, dass die Corona-Pandemie und die kapitalistische Krise Millionen ArbeiterInnen und  Bauern/Bäuerinnen in Not und Elend stürzen, sie gegen Armut, Hunger und Tod ankämpfen müssen.

Internationale Solidarität und Perspektive

Der Generalstreik der indischen Gewerkschaften erfordert unsere Solidarität – und zwar weltweit.

Zugleich macht er aber – gerade vor dem Hintergrund etlicher Massenstreiks der letzten Jahre – deutlich, dass die ArbeiterInnenbewegung und alle Bewegungen von Unterdrückten gegen das Hindutva-Regime eine Strategie brauchen, die über beeindruckende, aber auch nur auf einen Tag beschränkte Aktionen hinausgeht. Die Regierung Modi wird sich davon nicht stoppen lassen. Das haben die letzten Jahre gezeigt. Wie die letzten Monate verdeutlicht haben, wird sie auch die Pandemie und die Krise zu nutzen versuchen, weitere Angriffe durchzuziehen.

Es geht daher darum, dem permanenten Angriff einen permanenten Widerstandskampf entgegenzusetzen – auf den eintägigen Generalstreik einen unbefristeten gegen die Arbeitsgesetze und für ein Mindesteinkommen und Mindestlohn für alle in Stadt und Land vorzubereiten und durchzuführen.

Die Koordinierung der Gewerkschaften und BäuerInnenorganisationen muss sich einer solchen Aufgabe stellen und zur Bildung von Aktionskomitees in den Betrieben, den Stadtteilen, in den Gemeinden und auf dem Land aufrufen, also Kampforgane bilden, die alle Schichten der Lohnabhängigen und der Klein- und MittelbäuerInnen einschließen, unabhängig von Religion, Nationalität, Kaste, Geschlecht oder sexueller Orientierung.

Angesichts der staatlichen Repression und der reaktionären hinduchauvinistischen Verbände müsste ein solcher Streik auch Selbstverteidigungsstrukturen aufbauen.

Ein politischer Generalstreik, der das Land dauerhaft lahmlegt, würde unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und somit auch die Möglichkeit und die Notwendigkeit, vom Abwehrkampf zur Offensive überzugehen. Diese erfordert freilich mehr als nur gewerkschaftlichen Widerstand. Sie erfordert die Verbindung dieses Kampfes mit dem gegen alle Formen der Unterdrückung, die Verbindung des Kampfes gegen die BJP-Regierung mit dem gegen den Kapitalismus, den Aufbau einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen stützt und die für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung kämpft, die eine Räteherrschaft errichtet, das Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt.

Zur Zeit existiert keine politische Kraft in Indien, die ein solches Programm vertritt. Die verschiedenen kommunistischen Parteien haben sich vom revolutionären Sturz des Kapitalismus faktisch schon lange verabschiedet, die radikale Linke ist zersplittert und oft desorientiert. Die politische Krise zu überwinden, erfordert daher nicht nur die Unterstützung der Mobilisierungen der ArbeiterInnenklasse und sozialen Bewegungen. Alle, die nach einer sozialistischen und internationalistischen Antwort suchen, stehen auch vor der Aufgabe, in Diskussion um die programmatischen Grundlagen einer revolutionären Partei zu treten und deren Aufbau in Angriff zu nehmen.




Indien: Der Weg, der selten beschritten wird, oder derselbe alte ausgetretene Pfad

Gastbeitrag von Mira Ghalib (Delhi) zur Bewegung gegen das Citizenship (Amendment) Act (CAA; StaatsbürgerInnenschaftsergänzungsgesetz) und das National Register of Citizens (NRC; nationales Melderegister), Infomail 1095, 14. März 2020

Vor mehr als drei Monaten, am 11. Dezember, verabschiedete das indische Parlament das Ergänzungsgesetz zum StaatsbürgerInnenrecht, das Hindus, Sikhs, BuddhistInnen, Jain, ParsInnen und ChristInnen aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan die Möglichkeit gibt, eine StaatsbürgerInnenschaft in Indien zu beantragen. Der Gesetzentwurf wurde am 12. Dezember vom indischen Präsidenten unterzeichnet und sofort in ein Gesetz umgewandelt. Das Gesetz trat am 10. Januar diesen Jahres in Kraft und löste in der indischen Öffentlichkeit bereits vor seinem Inkrafttreten Kontroversen aus. Große, meist friedliche Demonstrationen an den Universitäten und auf öffentlichen Plätzen wurden von den Polizeibehörden gewaltsam unterdrückt, die den Befehlen der indischen Zentralregierung, die von der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) gebildet wird, gehorsam Folge leisteten.

StaatsbürgerInnengesetz

Die Konstruktion
von illegalen MigrantInnen ist für die indische Rechtsvorstellung nicht neu.
Das CAA ist nur eine weitere Verfassungsänderung des Gesetzes von 1955, das
bereits fünf Mal geändert wurde. Es ist nicht das Ziel dieses Artikels, sich
mit den rechtlichen Verstrickungen eines politischen Konzepts wie der
StaatsbürgerInnenschaft zu befassen. Es gibt bereits reichhaltige Literatur
dazu. Was von bedeutendem Nutzen ist und den Kontext dieses Artikels liefert,
ist die Implikation dieser konstruierten Illegalität mit der Religion. Eine
aufmerksame Lektüre des neuen CAA zeigt, dass es sorgfältig entworfen wurde, um
einen bestimmten Teil der Menschen, nämlich die MuslimInnen, auszuschließen.

Die Einfärbung des Migrations- und Flüchtlingsstatus’ von Menschen in ausgrenzenden Mustern von Religion und kulturellen Überzeugungen ist jüngeren Datums. Dies bedeutet im Wesentlichen, dass die regierende BJP zwar effektiv daran gearbeitet hat, die Vision ihrer Mutterorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation) von Indien als „Hindu Rashtra“ (1) (Hindu-Nation) zu verwirklichen, dass sie sich jedoch den rechtlichen Anforderungen der indischen Verfassung (2) anpassen und darüber hinaus ein positives Gesicht im internationalen Rampenlicht behalten musste. Als das CAA verabschiedet wurde, um einer exklusiven Kategorie von verfolgten Minderheiten vorgeblich die Beantragung der indischen StaatsbürgerInnenschaft zu ermöglichen, wurde die explizite Agenda der Regierungspartei, eine Hindu-Nation durch legale Mittel zu schaffen, deutlicher. Das Gesetz an sich, wie seine UnterstützerInnen befürworten, bietet Menschen, die in Indien Zuflucht suchen, eine StaatsbürgerInnenschaft an, die in den internationalen Menschenrechtsprinzipien anerkannt ist.

Wenn man jedoch
bedenkt, dass Indien die Rechte der Asylsuchenden auf seinem Boden nie
anerkannt hat und weiterhin nicht die Flüchtlingsstatuskonvention von 1951 und
das Flüchtlingsstatusprotokoll von 1967 unterzeichnet hat, ist das plötzliche
Interesse der Regierungspartei, eine bestimmte Kategorie von Menschen im Land
aufzunehmen, mit Skepsis erfüllt.

Seit 1981
erlaubt Indien dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR),
Staatsangehörigen aus anderen Ländern Asyl zu gewähren. Während die indische
Regierung die beiden größten Flüchtlingsgruppen in Indien, nämlich die aus Sri
Lanka und die TibeterInnen, direkt unterstützt, obliegt dem UNHCR der Rest der
Flüchtlinge und Asylsuchenden aus Afghanistan und Myanmar. Es ist jedoch
unklar, wie die indische Regierung und das UNHCR ihre Aufgaben koordinieren und
auf welche spezifische Art und Weise die Flüchtlinge und Asylsuchenden vom
UNHCR verwaltet werden. Während das UNHCR die Asylsuchenden registriert und
ihnen Flüchtlingskarten aushändigt, stellt die indische Regierung andererseits
Langzeit-/Bleibevisa aus, mit denen Zugang zu grundlegenden Rechten und
Möglichkeiten erhalten werden kann.

Mehrere Studien haben gezeigt, dass Asylsuchende und vom UNHCR anerkannte Flüchtlinge in Indien weiterhin unter erbärmlichen Bedingungen überleben, u. a. weil sie keinen Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten in der formellen Wirtschaft bekommen. Stattdessen haben sie Zugang zu den vom UNHCR ermöglichten Mindesteinrichtungen wie dem staatlichen Gesundheitssystem, den staatlichen Schulen und dem nationalen Rechtssystem. Während der Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung und zum öffentlichen Bildungswesen in Indien aufgrund der schlechten Infrastruktur erschwert wird, scheint die Inanspruchnahme der Justiz in Indien schwierig zu sein.

Melderegister

Eine
Interpretation des CAA muss daher im Hinblick auf das National Register of
Citizens (NRC) erfolgen. Dieses ist ein staatliches Register für indische
BürgerInnen, das den InderInnen die Last des Nachweises ihrer
StaatsbürgerInnenschaft durch eine begrenzte Liste von Dokumenten auferlegt. Es
gibt weniger Klarheit darüber, um welche Dokumente es sich dabei handelt und
welche Informationen darüber erforderlich sind, wie und wo diese Dokumente
einzureichen sind. Noch weniger ist über die rechtlichen Maßnahmen bekannt, die
es Menschen in ganz Indien ermöglichen, die Ergebnisse der NRC-Handhabung
anzufechten, falls sie als staatenlos eingestuft werden. Das endgültige und
aktualisierte StaatbürgerInnenregister in Assam, einem Bundesstaat in der
nordöstlichen Region Indiens, wurde im August 2019 veröffentlicht und schloss
1,9 Millionen Menschen von 19 Millionen EinwohnerInnen aus. Einige der
Ausgeschlossenen sind bengalische Hindus, eine potenzielle
StammwählerInnenschaft für die BJP. Das Schicksal dieser Menschen ist nach wie
vor unbekannt, da einerseits die Regierung der BJP unter wachsendem Druck
steht, diese Liste abzulehnen, und andererseits die einheimische Bevölkerung
von Assam darauf drängt, dass das Register trotz ihres religiösen Hintergrunds
die Besiedlung ihres Landes durch EinwanderInnen ablehnt.

Der Kampf der
Einheimischen gegen die EinwanderInnen, die in den 1960er Jahren vor allem aus
Ostpakistan (dem heutigen Bangladesch) kamen, hat zu gewalttätigen Angriffen
gegen die MigrantInnen und später zur staatlichen Sanktionierung der
Abschiebezentren im Staat geführt. Am 28. November 2019 waren in Assam sechs
Gefangenenlager in Betrieb, in denen etwa 1.000 Häftlinge, darunter meist
bangladeschischer Herkunft, untergebracht sind (The Hindu, 1.1.2020). Die
Regierung der BJP unter Premierminister Narendra Modi hat seit ihrem Wahlsieg
2014 konsequente Anstrengungen unternommen, um in ganz Indien Haftlager
einzurichten, indem sie große Flächen für den Bau von Gebäuden genehmigt hat.
Darüber hinaus haben die Prozesse an den AusländerInnengerichten an Fahrt gewonnen,
die über den Status der aus dem NRC ausgeschlossenen Personen in Bezug auf
illegale Einwanderung entscheiden und sie bis zu ihrer Abschiebung in
Gewahrsamseinrichtungen schicken können. Zusammen mit dem NRC wird das CAA die
Einbürgerung bestimmter Personen zulassen, aber die indischen MuslimInnen
ausschließen und sie unsicher und staatenlos machen. Die beunruhigende
Möglichkeit ihrer Inhaftierung in den Gefangenenlagern sollte nicht ignoriert
werden.

Und deshalb
protestiert die Bevölkerung

Inquilab
Zindabad (Es lebe die Revolution)-Gesänge sind an den verschiedenen
Protestorten in Indien häufig zu hören. Kochend vor Angst, aber auch mit Mut,
mit Frustration, aber auch mit Hoffnung, mit Wut, aber auch mit Solidarität
sind die Menschen in Indien auf die Straße gegangen, um ihren Dissens gegen die
gegenwärtige Regierung zum Ausdruck zu bringen. Einer der wichtigsten Räume,
die als Plattform für die Menschen entstehen sollen, ist Shaheen Bagh, ein
Viertel in Süddelhi. Shaheen Bagh liegt in der Nähe der Jamia-Millia-Islamia-Universität,
an der im Dezember erstmals StudentInnen von der Polizei in Delhi angegriffen
wurden, weil sie gegen die Gesetzgebung zur StaatsbürgerInnenschaft und
Registrierung protestierten. Shaheen Bagh verkörpert eine politische Dynamik,
die hauptsächlich von Frauen ausgeht. Diese Frauen sind viele, sie sind alt und
jung, und sie sind wütend und unverwüstlich. Während des größten Teils des
bissig kalten Winters in Delhi haben diese Frauen und Männer ausgeharrt, um
ihren Widerstand gegen die menschenfeindlichen Taktiken des von der BJP
geführten indischen Bundesstaates unter Beweis zu stellen. Und sie wurden
bedroht und beschossen.

Seit dem 15.
Dezember, als der Sitzstreik in Shaheen Bagh begann, wurden die
DemonstrantInnen sowohl verbal von den BJP-AnhängerInnen beschimpft, von der
Polizei bedroht und von der Teilnahme an den Protesten ausgeschlossen. Da dies
sowohl die Alten als auch die Jungen nicht davon abhielt, sich den Protesten
anzuschließen, kehrten die amtierenden Regierungen sowohl in der Hauptstadt wie
ihre Verbündeten auf regionalstaatlicher Ebene dazu zurück, bestimmte Reden und
bestimmte Protestierende mit verfassungsmäßigen Mitteln als aufrührerisch zu
belasten. Während die BJP ihre eigenen Parlamentsmitglieder ignoriert hat, die
öffentlich Hassreden gehalten und dazu aufgerufen haben, die „Antinationalen“
zu erschießen (ein Begriff, der von der herrschenden Regierung kategorisch
gegen diejenigen verwendet wird, die sich ihrer Politik widersetzen), wurden
gegen politische AktivistInnen wie Sharjeel Imam, Akhil Gogoi und andere durch
die Anwendung drakonischer Gesetze aus der Kolonialzeit schnelle rechtliche
Schritte eingeleitet. Darüber hinaus haben die Print- und Fernsehmedien in
Indien unter einem Sperrfeuer von Anweisungen des BJP-Büros eine Offensive
gegen die DemonstrantInnen gestartet und kämpfen ständig für die Zersplitterung
der Bewegung. Die wachsende Offensive hat die Bewegung jedoch nicht
aufgehalten, aber die Bedingungen für Straffreiheit bei der Aufstachelung zur
Gewalt gegen die „Anti-NationalistInnen“ geschaffen. Deshalb kann man die
Unverfrorenheit sehen, mit der Mitglieder der Sangh Parivar (einer großen
Gruppe hinduistischer nationalistischer Organisationen in Indien) wiederholt
das Feuer auf die unbewaffneten und gewaltlosen DemonstrantInnen in Shaheen
Bagh eröffnet haben, zuerst glücklicherweise ohne Opfer.

Shaheen Baghs
Einzigartigkeit innerhalb des gegenwärtigen politischen Klimas in Indien ergibt
sich aus seiner vielfältigen Beteiligung. In Shaheen Bagh waren verschiedene
politische Anliegen repräsentiert oder einbezogen – die von Transgender-Personen
Indiens, der Kämpfe der Dalit (Angehörige der untersten Kaste, der „Unberührbaren“),
der indigenen Völker gegen die Vertreibung, der Bewegung zum Klima- und
Ressourcenschutzes, von Minderheitenrechten, von Rechten der Frauen und anderer.
Vor allem aber sind es die muslimischen Frauen aus den unteren Schichten, die
den gewaltlosen Widerstand in Shaheen Bagh aufrechterhalten und eine
Alternative in die politische Vorstellung der Menschen eingebracht haben. Ein
solcher Widerstand hat ähnliche Kämpfe im übrigen Indien hervorgebarcht, durch
das, was liebevoll als Shaheen Bagh von Kalkutta (Kolkata) oder von Mumbai und
anderswo bezeichnet wird. Es scheint, als sei es Shaheen Bagh gelungen, die
Parameter einer Bewegung zu umreißen, die für verschiedene politische
Interessen konstitutiv ist. Das bedeutet auch, dass innerhalb der Bewegung
Differenzen ausgebrochen sind, die zumeist mit der seit langem bestehenden
Kaschmir-Frage zusammenhängen. Fälle, in denen indigene Kaschmiris bei
Protesten nicht zu Wort kommen durften, sowie Verbote, bei den Demonstrationen
„Freies Kaschmir“-Transparente und -Plakate zu tragen, sind gut dokumentiert,
haben aber in den gegenwärtigen politischen Kämpfen weniger Gewicht erhalten.
Dies könnte das wiederherstellen, was einige als Enteignung bereits
marginalisierter Stimmen durch Oberschicht-Hindus oder andere Savarnas
(Angehörige der Hindukasten), die den linken Flügel von politischen und auch
zivilgesellschaftlichen Organisationen dominieren, bezeichnet haben.

Politische Dynamik über die Rhetorik gegen CAA  und NRC hinaus?

Die
Ressentiments gegenüber der regierenden BJP können jenseits ihrer
sektiererischen Politik verortet werden. Ein wirtschaftlicher Abschwung mit
geringer Produktivität, industrieller Stagnation zusammen mit einer hohen
Arbeitslosenquote und sinkenden Nahrungsmittelproduktion können in der
gegenwärtigen Bewegung als Faktoren gelten. Im Geschäftsjahr 2018 lag die
indische Arbeitslosenquote bei 6,1 % (Periodische Arbeitskräfteerhebung
des Nationalen Statistikamtes; NSSO), und das Niveau der Ungleichheit stieg
kontinuierlich. Der sogenannte Ungleichheitsindex Gini von 0,65 Mitte der
1990er Jahre bewegte sich auf ein extremes Niveau von 0,74 in den 2000er Jahren
(laut zehnjährlicher gesamtindischer Schulden- und Investment-Statistik des
NSSO). Darüber hinaus zeigt der Chancel- und Piketty-Bericht 2017 mit dem Titel
„Indische Einkommensungleichheit, 1922-2015: Vom britischen Raj zum
Milliardär-Raj“, dass es seit Mitte der 1980er Jahre einen Umschwung von einer
früheren Vorreform-Periode zu einem neoliberalen Regime mit einem stetigen
Anstieg des Einkommens der oberen 10 Prozent der Reichen gegeben hat. (Raj:
Indien, in engerem Sinne Bezeichnung für das britische Kolonialreich Indien)

Hinzu kommt die
zunehmende Privatisierung in öffentlichen Sektoren wie Telekommunikation,
Luftfahrt, Verteidigung, Eisenbahn und anderen. Die BJP versucht auch,
ausländische Direktinvestitionen in der Kohlebergbauindustrie durch die
Änderung des Minen- und Mineral-Gesetzes für Entwicklung und Regulierung von
1957 und des Kohlebergbaugesetzes (besondere Bestimmungen) 2015 zu ermöglichen.
Dieses sowie die dreisten Versuche der Regierung, die Arbeitsgesetze durch ihre
Kodifizierung einzuschränken und die Zusammenarbeit mit den zentralen
Gewerkschaften durch die Untergrabung dreigliedriger Treffen wie der Indischen
Arbeitskonferenz (die nach 2015 nicht mehr stattfanden) zu unterbinden, sind außerdem
zu nennen.

Es sollte die
LeserInnen daher nicht überraschen, dass der größte Generalstreik in Indien am
8. Januar diesen Jahres mit über 250 Millionen TeilnehmerInnen bereits im
vergangenen Jahr von den zentralen Gewerkschaften als Aufruf zur
„Herausforderung der arbeiterInnen-, volks- und nationalfeindlichen Politik der
Modi-Regierung“ (Pressemitteilung vom 30. September 2019, Parliament Street,
National Open Mass Convention of Workers) erklärt wurde. Der Aufruf zum Streik
erfolgte einige Monate vor der Verabschiedung des CAA im Parlament. Sowohl
Bauern und Bäuerinnen als auch ArbeiterInnen aus Sektoren wie dem Bankwesen,
der Eisenbahn, dem Versicherungswesen, dem Teeanbau, der Rüstungsproduktion,
dem Kohlebergbau und anderen marschierten zusammen mit
UniversitätsstudentInnen, ProfessorInnen und Mitgliedern der Mittelklassen in
den Streik, um ihre Verachtung gegen die korporativ-kommunale Verbindung zum
Ausdruck zu bringen.

Prabhat Patnaik
bemerkt in seinem Artikel über die „Landkarte eines gescheiterten Staates“,
dass Modis „hartgesottener Neoliberalismus“ (Neoliberalismus ohne menschliches
Gesicht im Gegensatz zur neoliberalen Politik der früheren Vereinigten
Progressiven Allianz) durch den Hindutva-Nationalismus ergänzt wird. Damit
meint der Autor im Wesentlichen, dass eine Allianz zwischen beiden die
Verbreitung des „kommunalistischen Faschismus“ (der sich ideologisch auf
ethnisch-religiöse Gemeinschaften bezieht) ermöglicht. Das erlaubt der
BJP-Regierung die Unterstützung der Bevölkerung, die von nationalistischer
Leidenschaft geprägt ist, für sich zu gewinnen und gleichzeitig von der
anhaltenden Wirtschaftskrise abzulenken und mundtot zu machen. Es gibt viele
Gründe, die für Patnaiks Analyse sprechen, insbesondere weil sie ermöglicht, um
die Verflechtung des Hindutva-Nationalismus mit der neoliberalen Variante in
Indien zu verstehen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob unsere Vorstellungskraft
für Alternativen von einem einheitlichen Kampf profitieren oder uns auf einen
bereits beschrittenen Weg führen wird.

Die Frage des
Faschismus in Indien ist nicht ohne Kontroversen. Während der indische
Historiker und Ökonom Ramachandra Guha immer wieder davor warnt, den Begriff
Faschismus auf die rechten Bewegungen anzuwenden, merken andere wie der
Historiker Benjamin Zachariah an, dass die ideologischen Verbindungen der Sangh
Parivar zum italienischen Faschismus und zum deutschen Nazismus Raum zum
Nachdenken über ihre Versuche lassen, Indien in einen autoritären Hindu-Staat
zu verwandeln (Chakrabartty, 2020). Zachariah macht einen wichtigen Punkt, der
den Unterschied zwischen einer fast faschistischen Organisation, die nach Macht
strebt, und einer Organisation, die den Staat bereits erobert hat, berührt.

Die Kontrolle
über die Justiz, die Exekutive einschließlich der Polizei, bestimmte Teile der
Streitkräfte sowie die Verwaltung mit einer Mehrheit im Parlament sind
deutliche Anzeichen für die Eroberung des Staates durch die Sangh Parivar.
Hinzu kommt ein offener Angriff auf die Gewerkschaften sowie die
Zivilgesellschaft (durch die Umsetzung des Gesetzes über ausländische Beiträge
[Regulierung]). Die jüngsten staatlich sanktionierten Pogrome gegen arme und
ArbeiterInnenklasse-MuslimInnen in Delhi und Uttar Pradesh sind ein Beleg für
die zunehmende Anwendung und Finanzierung politischer Gewalt durch die Sangh
zur Förderung ihrer Agenda. Selbst die alternative Aam-Aadmi-Partei (Partei der
einfachen Leute) in Delhi unter Arvind Kejriwal, die zuvor wie eine Erholung
von der BJP aussah, hat kläglich versagt, die Angriffe einzudämmen und die
MuslimInnen der Minderheit in Delhi zu schützen.

Es ist daher von
größter Dringlichkeit, dass wir die Zeichen des Faschismus innerhalb der
regierenden BJP und der Organisation Sangh Parivar erkennen und einen
gemeinsamen Kampf gegen diese Unterdrückung aufbauen. Das würde bedeuten, dass
die ArbeiterInnenorganisationen, die Organisationen der Dalit, die
Frauenbewegung und alle anderen unter dem vereinten Widerstand gegen die
indische Variante des religiös-nationalistischen und kapitalistischen Systems
zusammenkommen müssen. Zu Beginn scheint dies keine leichte Aufgabe zu sein,
wenn man die Zersplitterung der linken Gruppen und die von Savarnas dominierte
Führung der kommunistischen Parteien Indiens bedenkt, die seit langem die
SprecherInnen der unterdrückten Gemeinschaften sind. Ein kollektiver Kampf in
Indien wird diese daher gegen alle Formen struktureller Unterdrückung auf
Befehl eines Brahmanen-Patriarchats vereinen müssen, wenn wir die indische
faschistische Bewegung ausmerzen wollen.

Endnoten

(1) Aus der
Missionserklärung von der RSS-Webseite zitiert: http://rss.org./Encyc/2012/10/22/rss-vision-and-mission.html

(2) Am
wichtigsten sind § 14 und § 15, die gebieten, dass der indische Staat
„BürgerInnen nicht aus Gründen von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht,
Geburtsort oder einen davon“ diskriminieren darf. https://www.constitutionofindia.net/constitution_of_india/15/articles/Article%2015

Quellen

Patnaik,
Prabhat: Road Map to a Failed State. Zugriff 5.2.2020.

https://frontline.thehindu.com/cover-story/road-map-to-a-failed-state/article8700545.ece

Sen,
Sumant/Singaravelu, Naresh: „Data | Where are Detention centres in India?“ The
Hindu, 1.1.2020. https://www.thehindu.com/data/data-whre-are-detention-centres-in-india/article30451564.ece




Indien: Modi – Meister der Pogrome

Dave Stockton, Infomail 1093, 4. März 2020

In der Nacht vom
23. Februar waren die MuslimInnen in der indischen Metropole Delhi am ersten
von drei Tagen dem ausgesetzt, was die westlichen Medien als „kommunale Unruhen“
bezeichneten. Währenddessen ergingen sich US-Präsident Donald Trump und der
indische Ministerpräsident Narendra Modi in Ahmedabad, der wirtschaftlich
bedeutendsten Stadt von Modis Heimatstaat Gujarat, in gegenseitiger Bewunderung.

Tatsächlich
handelte es sich um ein Pogrom, das von lokalen und nationalen PolitikerInnen
der Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) Modis angezettelt und
von der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation),
einer faschistischen Organisation, die der BJP angegliedert ist, durchgeführt
wurde.

In dem Pogrom
wurden Moscheen und kleine muslimische Geschäfte verwüstet, Häuser abgefackelt
und ihre BewohnerInnen geschlagen. Mindestens 42 Menschen wurden brutal getötet
und 300 weitere schwer verletzt.

Systematische Hetze

Die Aufhetzung
durch Größen der BJP ist deutlich genug. Einige Wochen zuvor hatte die BJP eine
Kundgebung abgehalten, auf der der Minister für Finanzen und
Unternehmensfragen, Anurag Thakur, diejenigen verurteilte, die gegen das neue
StaatsbürgerInnenschaftsänderungsgesetz protestierten, und erklärte sie zu: „VerräterInnen
des Landes, erschießt sie“. Seitdem wurde auf BJP- Kundgebungen immer wieder
der Sprechchor „Erschießt die VerräterInnen!“ gehört. Das neue Einbürgerungsgesetz
privilegiert die Anträge nicht-muslimischer MigrantInnen auf die indische
StaatsbürgerInnenschaft, eine dreiste Verletzung der säkularen Verfassung
Indiens.

Kurz vor Beginn
der Angriffe vom 23. bis 25. Februar hielt ein BJP-Politiker aus Delhi, Kapil
Mishra, den die Niederlage bei den jüngsten Stadtratswahlen geschmerzt hatte,
eine provozierende Rede gegen die BürgerrechtlerInnen. Neben einem hochrangigen
Polizeibeamten stehend, nahm er die Protestlerinnen aufs Korn, die in Shaheen
Bagh, einem ArbeiterInnenviertel der Hauptstadt mit einer beträchtlichen
muslimischen Bevölkerung, einen friedlichen Sitzstreik veranstalteten. „Entweder
müssen die PolizistInnen sie aus dem Weg räumen“, sagte Mishra, „oder wir
werden die Dinge selbst in die Hand nehmen“. Innerhalb weniger Stunden traf ein
Mob von RSS-AnhängerInnen, der Safranfahnen schwenkte und „Jai Shri Ram“ (Heil
dem Herrn Rama) skandierte, auf dem Gebiet von Shaheen Bagh ein. Die Polizei in
Delhi unter der Leitung von Innenminister Amit Shah stand entweder untätig
daneben oder begleitete die Mobhorden sogar.

Am Dienstag, den
25. Februar, lud Richter S. Muralidhar vom Obersten Gericht Delhis die Polizei
vor, um sie zu rügen, weil sie es versäumt hatten, eine Klage gegen Mishra und
zwei weitere BJP-PolitikerInnen einzureichen. Am nächsten Tag wurde Muralidhar
von Delhi an ein Gericht im Punjab (Pandschab) überstellt, und der Oberste
Gerichtshof Indiens vertagte die Anhörung der Petitionen zur Gewalt. Es ist
klar, dass Modi neben der Zerstörung der halbautonomen Regierung in Indiens
einzigem muslimischen Mehrheitsstaat Kaschmir Indien absichtlich in eine
kommunalistische Richtung lenkt, die nur zu internen und internationalen
Konflikten führen kann.

Modi und Trump

Modi selbst hat
eine lange Geschichte der Aufstachelung zu rassistischer Gewalt. Im Alter von 8
Jahren wurde er für die RSS rekrutiert, die die politische Ideologie der BJP,
Hindutva (Hinduismus), hervorgebracht hat, die den indischen
Minderheitsreligionen gegenüber besonders feindlich eingestellt ist. Im
Vergleich zur hinduistischen Mehrheit, die 79,8 Prozent der Bevölkerung
ausmacht, haben MuslimInnen ein Anteil von 14,2 Prozent, ChristInnen 2,3
Prozent und Sikhs 1,7 Prozent.

Modi wurde im
Februar 2002 berüchtigt, als er, damals Premier von Guajarat, und seine Partei
zu Tagen von gewaltsamen kommunalistischen Unruhen aufriefen, nachdem
moslemische TerroristInnen einen Bus mit hinduistischen PilgerInnen angegriffen
und Reisende getötet hatten. Die FührerInnen seiner BJP und ihre Verbündete,
die religiöse Organisation Vishwa-Hindu, drängten die Hindus offen dazu, „den
MuslimInnen eine Lektion zu erteilen“. Gujarat stand tagelang in Flammen und
tausend MuslimInnen wurden getötet. Modi selbst hielt Brandreden, in denen er
die Opfer verspottete.

Offensichtlich
teilen Modi und Trump die Taktik, Gewaltanwendung gegen Minderheiten anzustacheln,
sowie die Notwendigkeit, ungeheuerliche Schmeicheleien auszuteilen. Während
seines Besuchs legte Trump noch eine Schippe drauf und nannte Modi „einen außergewöhnlichen
Führer, einen großen Verfechter Indiens, einen Mann, der Tag und Nacht für sein
Land arbeitet, und einen Mann, den ich stolz bin, meinen wahren Freund zu
nennen“. Gleichzeitig versicherte er den JournalistInnen, dass er die Morde von
Delhi nicht erwähnt habe. Doch auf einer Pressekonferenz in der Stadt zum
Abschluss seiner Reise, als die Nachricht von dem Pogrom die Medien der Welt
erfüllte, sprang Trump zu Modis Verteidigung bei: „Der Premierminister sagte,
er wolle, dass die Menschen Religionsfreiheit haben“. Und er fuhr fort. „Sie
haben wirklich hart daran gearbeitet.“

Trump hatte
gute, wenn auch zynische Gründe für dieses Schweifwedeln, abgesehen von seinem
Mitgefühl für einen Islamophoben. Er ist hinter etwas her. Er begrüßte die „globale
strategische Partnerschaft zwischen den USA und Indien“, ein Projekt, das das
Land zu einem Verbündeten gegen China machen soll. Dennoch wurden keine
konkreten Schritte in Richtung des „großen“ Handelsabkommens unternommen, das
Trump angestrebt hat. Das würde Indiens 1,38 Mrd. EinwohnerInnen als Markt für
die Plünderung durch US-Unternehmen öffnen. Es liegt auf der Hand, dass es ein
schwieriges Unterfangen ist, die „USA wieder groß zu machen“, während Indien
wirtschaftlich und militärisch zu einer Weltmacht der ersten Division werden
soll.

Gleichzeitig
erlebt Indien tatsächlich eine wirtschaftliche Abkühlung, wobei die
Arbeitslosigkeit vor kurzem einen 45-Jahres-Hochstand erreicht hat und seit
2016 eine Welle von Massenprotesten der ArbeiterInnen, einschließlich eintägiger
Generalstreiks, zu verzeichnen ist. Indem sie den Hindutva-Chauvinismus schüren,
wollen Modi und die BJP/RSS ihre Stoßtruppen gegen den Widerstand nicht nur der
ArbeiterInnenklasse, sondern auch der Frauen- und Jugendbewegungen sowie
nationaler, religiöser und kastenbezogener Minderheiten einsetzen. Ihr Ziel ist
es, die wachsende Wut und Frustration der Bevölkerung abzulenken, die
demokratischen Rechte zu untergraben und die ArbeiterInnenklasse mit reaktionärem
Hass zu vergiften.

Modis
Islamfeindlichkeit und die Bereitschaft der BJP, Pogrome anzustiften und zu
organisieren, haben eine internationale Dimension, insbesondere gegenüber
Pakistan, einem Staat mit muslimischer Verfassung. Imran Khan verurteilte das
Pogrom von Delhi, aber seine wackelige Regierung könnte auch eine Ablenkung von
ihren innenpolitischen Problemen gebrauchen. Ein indisch-pakistanischer Krieg könnte
unabsehbare Folgen haben.

Aus all diesen
Gründen müssen die ausgebeuteten Klassen und unterdrückten Völker auf dem
gesamten Subkontinent dem Gift „religiöser“ und kommunalistischer Konflikte
widerstehen, die nicht das Produkt „alten Hasses“ sind, sondern von
PolitikerInnen erzeugt werden, die bereit sind, die Religion zynisch für
reaktionäre und unmenschliche Zwecke auszubeuten. Die Grundlage für diesen
Widerstand muss die Klassensolidarität sein – internationale
Geschwisterlichkeit.

Es sei darauf
hingewiesen, dass die Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsergänzungsgesetz
indische ArbeiterInnen, StudentInnen und FreiberuflerInnen auch über religiös-sektiererische,
kasten- und ethno-sprachliche Grenzen hinweg vereinten. Menschen aus der
ArbeiterInnenklasse haben über diese Spaltungen hinweg auch gegen die Morde in
Delhi protestiert. Es gibt sogar Berichte von hinduistischen NachbarInnen, die ihre
Opfer aufgenommen und vor den SchlägerInnen, die von außerhalb des Bezirks
kamen, geschützt haben.

Offensichtlich
ist sich Modi bewusst, dass die vielfältigen wirtschaftlichen und politischen
Missstände des Landes einen „perfekten Sturm“ des Widerstands auslösen könnten.
Sie könnten sogar zur Schaffung einer vorrevolutionären Situation führen, wenn
die riesige ArbeiterInnenklasse, die sich Anfang Januar 2020 in einem eintägigen
Generalstreik in zweistelliger Millionenstärke erhoben hat, die Führung übernehmen
würde. Auf dem gesamten großen Subkontinent sollten die SozialistInnen ein Ziel
vorantreiben, das Selbstbestimmung und Selbstverwaltung für die verschiedenen Völker
mit der Einheit verbindet, die für die Entwicklung seiner riesigen natürlichen
und menschlichen Ressourcen erforderlich ist, und zwar auf eine Weise, die seine
Umwelt schützt. Dies wären die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Südasien.

Heute zeigen
alle fortschrittlichen Kämpfe und Widerstandsbewegungen gegen
rechtspopulistische DespotInnen auf der ganzen Welt eine tiefgreifende „Führungskrise“,
d. h. das Fehlen oder die Schwäche einer politischen und organisatorischen
Kraft, die den Weg nach vorn weist. All dies weist auf die Notwendigkeit neuer,
revolutionärer ArbeiterInnenparteien in diesen Ländern sowie in den
imperialistischen „Kernländern“ hin, die in einer neuen, einer Fünften
Internationale vereint sind.




Polizei tötet Studierende – Solidarität mit der indischen Studierendenbewegung!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1081, 17. Dezember 2019

Am Sonntag, den 15. Dezember, griff die Polizei von Delhi
brutal StudentInnen der Jamia Millia Islamia (Nationale Islamische Universität)
und BewohnerInnen von Jamia Nagar an, die gegen das Citizenship (Amendment) Act
(CAA) protestierten.

Der Angriff war kein isolierter Gewaltakt der BJP-Regierung
von Narendra Modi. In vielen Teilen Indiens erhoben sich die Menschen,
insbesondere MuslimInnen, gegen das neue Gesetz, das am 11. Dezember 2019 vom
BJP-dominierten Parlament verabschiedet wurde. Die Änderung des
Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1955 berechtigt illegale MigrantInnen, die
Hindus, Sikhs, BuddhistInnen, Jains, ParsInnen und ChristInnen aus Afghanistan,
Bangladesch und Pakistan sind und am oder vor dem 31. Dezember 2014 nach Indien
eingereist sind, zur indischen Staatsbürgerschaft. Aber sie schließt die
muslimische Bevölkerung von der Verordnung aus. Diese Diskriminierung der
größten Minderheit des Landes ist integraler Bestandteil der
menschenverachtenden hindu-chauvinistischen Kampagne der Hindutva-Regierung
gegen MuslimInnen.

Im gleichen Zusammenhang führte die indische Regierung auch
ein neues nationales Melderegister (National Register of Citizens; NRC) ein.
Zunächst galt dies nur für den Bundesstaat Assam, aber am 20. November erklärte
Innenminister Amit Shah, dass es auf das ganze Land ausgedehnt werden sollte.
Diese neue Verordnung würde von den BürgerInnen verlangen, dass sie Unterlagen
vorlegen, um ihre StaatsbürgerInnenschaft und damit ihre BürgerInnenrechte
nachzuweisen. Dies kann nicht nur gegen so genannte illegale MigrantInnen
eingesetzt werden, sondern auch, um Staatsangehörigkeitsrechte von Nicht-Hindus
und insbesondere muslimischen Minderheiten zu entziehen, die ihren Status
möglicherweise nicht dokumentieren können. Eine solche Forderung würde sich auf
viele der am stärksten ausgebeuteten Teile der ArbeiterInnenklasse auswirken,
die in extremer Armut auf schlecht bezahlten Arbeitsplätzen überleben, die
einfach keine solchen Unterlagen haben, selbst wenn ihre Familien seit
Jahrhunderten in Indien leben.

Diese rassistischen Verfassungsänderungen und neuen
Meldegesetze wecken Wut und Massenproteste von StudentInnen und MuslimInnen im
ganzen Land.

Massive polizeiliche Repressionen

Die Polizei unterdrückt die Protestbewegung mit äußerster
Brutalität. Videos auf Social Media zeigen, wie die Polizei StudentInnen in der
Universitätsbibliothek der Jamia Millia Islamia angreift. Die Polizei benutzte
Tränengas, Sprengstoff und sogar scharfe Munition. Medien haben berichtet, dass
drei Studierende an den Folgen des Angriffs gestorben sind, und etwa 50 andere
haben Schussverletzungen. Die Polizei hat auch auf die Aligarh Muslim University
geschossen. Diese Universitäten wurden angegriffen, weil dort muslimische
StudentInnen gegen das CAA und NRC protestieren.

Es gibt auch Berichte, dass viele Studierende von der
Polizei in Delhi entführt wurden. Sie tut dies, um die indische Bevölkerung zu terrorisieren
und zu spalten. Dies ist ein regelrechter Rassismus gegen die muslimischen
StudentInnen und Menschen, aber in der Jamia helfen nicht-muslimische
StudentInnen ihren KommilitonInnen und wehren sich gegen die Polizeibrutalität.
Vor allem Frauen haben viel Mut gezeigt.

Tausende haben sich dem Protest vor dem Polizeipräsidium
Delhi angeschlossen, nachdem die StudentInnen der Jawaharlal Nehru University
dazu aufgerufen hatten. In vielen anderen Teilen des Landes gingen auch ihre
KommilitonInnen auf die Straße. Sie fordern, dass die Repressionskräfte für
ihre Brutalität an der Jamia und der Aligarh Muslim University zur
Verantwortung gezogen werden. Alle Inhaftierten sollten unverzüglich und
bedingungslos freigelassen werden.

In Delhi führten die Demonstrationen von Tausenden zur
Freilassung von inhaftierten Studierenden. Im ganzen Land sind Anzeichen einer
mächtigen StudentInnenbewegung gegen die Modi-Regierung zu erkennen. Sie
fordern den sofortigen Rückzug der Polizei vom Campus Jamia und der Aligarh
Muslim University sowie aus Jamia Nagar.

Wir stehen in voller Solidarität mit den StudentInnen in
Indien und allen anderen, die gegen CAA und NRC protestieren. Ihr Widerstand
und ihr Mut, sich zu wehren, stellen eine Quelle der Inspiration dar. Gemeinsam
können wir gegen die Hindutva-Regierung und den Staat kämpfen, der die Menschen
entlang sektiererisch-religiöser Linien spaltet. Wir fordern die indische
ArbeiterInnenklasse auf, die Studierenden im Kampf gegen die Hindutva-Regierung
zu unterstützen. Die internationale ArbeiterInnenklasse und die
StudentInnenbewegungen müssen aktiv werden und Solidarität mit der Bewegung
gegen CAA und NRC aufbauen sowie Proteste, Kundgebungen und Demonstrationen
gegen die rassistischen Gesetze, Repressionen und die Ermordung von
DemonstrantInnen organisieren!




Solidarität mit dem Kampf der Bevölkerung von Jammu und Kaschmir

Erklärung der Revolutionary Socialist Movement, Pakistan, 10. August 2019, Infomail 1064, 11. August 2019

Am 5. August
präsentierte Amit Shah, Indiens Innenminister und gleichzeitig Präsident der
regierenden Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP), im Rajya Sabha
(Staatenversammlung; zweite Kammer), dem Oberhaus des indischen Parlaments,
einen Präsidentenbefehl zur Aufhebung von Artikel 370, einer
Verfassungsbestimmung, die dem Staat Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus
einräumte. Nach einer kurzen Debatte wurde die Resolution im Oberhaus mit einer
Mehrheit von 125 Stimmen gegen 61 angenommen.

Aufhebung von
Artikel 370

Im Unterhaus
(Lok Sabha; Volksversammlung; erste Kammer) wurde der Beschluss mit einer Mehrheit
von 367 Stimmen gegen 67 Stimmen gefasst. Artikel 370 gab der gesetzgebenden
Versammlung Jammus und Kaschmirs die Befugnis, eigene Gesetze in allen
Bereichen zu erlassen, mit Ausnahme von Fragen der Außenpolitik, der
Verteidigung und der Kommunikation, die bei Delhi blieben. Außerdem hatte der
Staat Jammu und Kaschmir das Recht auf eine eigene Verfassung und eine eigene
Flagge. Diese Verfassungsbestimmungen verpflichteten den indischen Staat, diese
Bestimmungen nicht ohne die volle Zustimmung beider Seiten zu ändern.

Mit der
Aufhebung von Artikel 370 wurde all dies jedoch beendet. Der Staat Jammu und
Kaschmir wurde seines Status der begrenzten Autonomie innerhalb Indiens
beraubt. Die von der BJP ausgearbeitete Resolution schlägt ferner vor, den
Staat in zwei Unionsterritorien aufzuteilen: erstens Jammu und Kaschmir und
zweitens Ladakh. Das bedeutet, dass die erstere ihre eigene gesetzgebende
Versammlung beibehalten und die indische Zentralregierung einen
(weisungsgebundenen) Gouverneurstatthalter ernennen wird, während Ladakh direkt
von Delhi aus regiert wird, d. h. es wird dort keine eigene gesetzgebende
Versammlung geben.

Darüber hinaus
wurde unter der Präsidialverordnung auch Artikel 35-A aufgehoben. Diese
Verfassungsbestimmung erlaubte es der Legislative des Staates Jammu und
Kaschmir zu definieren, wer die ständigen BewohnerInnen des Staates sind,
d. h. seine BürgerInnen. Dies war ein Gesetz aus der Zeit der
Maharadscha-Herrschaft vor 1947, nach dem einE Nicht-Kaschmiri nicht in den
Genuss der Bestimmungen für den Kauf von Land in Kaschmir und den Eintritt in
den Staatsdienst kommen konnte (Maharadscha: großer Herrscher/Fürst/König).
Nun, da Kaschmir keine eigene Verfassung mehr haben wird, muss es sich wie
jeder andere Staat an die indische Verfassung halten. Das bedeutet auch, dass
alle indischen Gesetze automatisch auf Kaschmiris anwendbar sind und Menschen
von außerhalb des Staates dort Immobilien kaufen können. Kurz gesagt, der Staat
Jammu und Kaschmir wurde zu einem Teil Indiens gemacht, indem man ihm seinen
Sonderstatus entzogen hat.

Bereits viele
Tage vor der Aufhebung von Artikel 370 war eine Situation ähnlich einem
Ausnahmezustand geschaffen worden, in der alle Nichtansässigen, TouristInnen,
StudentInnen und ArbeitsmigrantInnen in Kaschmir zur Ausreise gezwungen wurden.
In einer der ohnehin schon am stärksten militarisierten Zonen der Welt wurde
der Einsatz von Truppen erhöht. Die örtliche Polizei wurde aller Autorität
beraubt und entwaffnet, während alle Bildungseinrichtungen geschlossen und die
BewohnerInnen von Jugendherbergen vertrieben wurden. Darüber hinaus wurden
Internet-, Mobilfunk- und sogar Festnetztelefondienste eingestellt. Außerdem
wurde sogar die kaschmirische Führung im Dienste der indischen Staatsinteressen
unter Hausarrest gestellt, während die Führung der FreiheitskämpferInnen hinter
Gittern landete. Mehr als 500 Menschen sitzen in Haft, und es gab Berichte,
dass 50 DemonstrantInnenen getötet wurden, als sie versuchten, zu mobilisieren
und der Ausgangssperre zu trotzen.

In dieser
Situation kursieren alle möglichen Gerüchte, die eine Atmosphäre von Angst und
Chaos erzeugen.

Hindutva-Politik

All dies
geschieht natürlich im Rahmen der Hindutva-Politik von Narendra Modi. Hindutva
ist das neue Gesicht des indischen Kapitals, das versucht, sich China als
Wirtschafts- und Militärmacht anzugleichen. Die Modi-Regierung will die
Kriegshysterie fördern, damit einerseits jeder Widerstand und jede
Meinungsverschiedenheit im Namen des Vorwurfs der „Feindschaft gegenüber
Indien“ zerschlagen werden kann. Andererseits zielen solche Maßnahmen darauf
ab, indischen KapitalanlegerInnen die Möglichkeit zu geben, Kaschmir
auszubeuten und zu plündern. Sofort nachdem Kaschmir seines Sonderstatus
beraubt wurde, hat die KapitalistInnenklasse auf beiden Seiten der Grenze
Gefühle von Hass und Kriegshysterie verbreitet.

Auf der einen
Seite der Grenze wird die aktuelle Entwicklung als Sieg für die Modi-Regierung
wahrgenommen. In Pakistan hingegen sieht die KapitalistInnenklasse, die mit
einer schweren Wirtschaftskrise konfrontiert ist, ihren einzigen Ausweg
ebenfalls im Schüren von Kriegshysterie. Die aktuelle Entwicklung hat die
beiden Atommächte in Konfliktstellung gebracht. Sollte jedoch tatsächlich ein
Krieg stattfinden, würde der größte Preis dafür von der einfachen Bevölkerung
getragen werden, insbesondere von Kaschmiris, die seit 70 Jahren die Hauptlast
der Politik der beiden Länder getragen haben.

Dennoch hat die
aktuelle Situation auch die Chancen für einen neuen Kampf geschaffen. Dieser
neue Kampf würde einerseits der barbarischen Besetzung kaschmirischer Länder
und der Massaker durch Indien entgegenstehen und andererseits auch die Rolle
des pakistanischen Staates, der seine eigene Hegemonie in der Region haben
will, in Verbindung mit der Politik des pakistanischen Staates in seinen
besetzten Gebieten, den so genannten Asad Kaschmir (teilautonomes
pakistanisches Gebiet) und Gilgit-Baltistan (Nordregion; pakistanisches
Sonderterritorium unter Bundesverwaltung), die die Region in zwei Teile
zerrissen hat, deutlich machen.

Fragen neuer
neuen Bewegung

Es ist sehr
wahrscheinlich, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine neue Bewegung entstehen wird,
die die Selbstbestimmung Kaschmirs zum Ziel hat und alle Nationen im Staat
Jammu und Kaschmir zu einer Unabhängigkeitsbewegung zusammenführt. In diesem
Zusammenhang sind einige Dinge zu berücksichtigen, sollte eine solche Bewegung
ausbrechen. Die Grundlage dieser Bewegung muss dringend säkular sein, um die
Spaltungen zu überwinden, die durch hinduistische versus muslimische politische
Ideologien hervorgerufen werden, und zweitens sollte die Bewegung keine
Illusionen in irgendeinen der umliegenden Staaten oder in die imperialistischen
Mächte wie die USA oder China haben. Alle diese Mächte hegen ihre eigenen
egoistischen Interessen und jede Zusammenarbeit mit ihnen im Namen der Lösung
des Konflikts in Kaschmir kann verheerende Folgen für die dortige Bevölkerung
haben.

Die Vereinten
Nationen sind in Wirklichkeit auch eine Institution, die über ihren
Sicherheitsrat stets die imperialistischen Interessen schützt, wo immer diese
DiebInnen sich einigen können. Andernfalls ist dieses Gremium gelähmt und tut
nichts. Das kaschmirische Volk ist sich bewusst, dass die UNO in den letzten 72
Jahren der Besetzung und Teilung des Landes durch Indien und Pakistan praktisch
akzeptiert hat, anstatt den Konflikt zu lösen und ein Referendum abzuhalten,
wie 1948 versprochen wurde. Stattdessen müssen die Bewegung und ihre Führung
direkt an die Massen der ArbeiterInnenklasse in Indien und Pakistan appellieren,
sich für Klassensolidarität einzusetzen.

Im Gegensatz zu
dem, was in den pakistanischen Mainstream-Medien präsentiert wird, genießt die
Hindutva-Ideologie nicht in allen Bereichen der indischen Gesellschaft
Anerkennung. Stattdessen haben sich Organisationen von StudentInnen, Frauen und
ArbeiterInnen gegen diese Politik der BJP-geführten Regierung gestellt. Anstatt
das Recht auf Selbstbestimmung für Kaschmir und den Abzug der indischen Truppen
aus dem Staat zu fordern, haben sich die Hauptströmungen der indischen Linken
weitgehend gegen die Aufhebung von Artikel 370 ausgesprochen, weil sie die
Entwicklung als Bedrohung für die indische Verfassung und den Säkularismus
sehen.

Anstatt sich der
indischen Besatzung und Kolonisierung der Region als Verletzung des Grundsatzes
des Rechts auf Selbstbestimmung zu widersetzen, verteidigt die Linke de facto
diese Kolonisierung, indem sie sich auf Kaschmir als einen integralen
Bestandteil des indischen Staates bezieht. Und das, obwohl die indischen
Streitkräfte seit Jahrzehnten die schlimmsten Gräueltaten gegen das
kaschmirische Volk verüben, lange bevor Artikel 370 widerrufen wurde.

In den von
Indien besetzten Gebieten Jammu und Kaschmir sind durch die Auferlegung einer
Gouverneursherrschaft durch Narendra Modi trotz Medienberichterstattungsverbot
und Ausgangssperre Proteste junger Menschen ausgebrochen. Einige
DemonstrantInnen wurden getötet und jede Art von demokratischer Aktivität wird
durch den Einsatz von nackter Gewalt und Angst unterdrückt. Die Zahl der Proteste
wird in den nächsten Tagen wahrscheinlich zunehmen und der indische Staat wird
jede erdenkliche Methode anwenden, um die Bewegung zu zerschlagen. Wir haben in
der Vergangenheit gesehen, wie Delhi zu Massenverhaftungen, Folter, Massakern
und Vergewaltigungen gegriffen hat, um viele Arten von Kämpfen zu zerschlagen.
Die kaschmirische Bewegung muss auf solche Repressionen vorbereitet sein und
sich bewaffnen, um die Bewegung gegen militärische Barbarei und Unterdrückung
zu verteidigen.

Alle wirklich
demokratischen und arbeitenden Kräfte müssen verlangen:

  • Das Ende der Besetzung des Staates Jammu und Kaschmir!
  • Den Abzug aller Streitkräfte der Teilungsmächte, einschließlich der paramilitärischen Polizei, aus dieser Region.
  • Freilassung aller politischen Gefangenen und inhaftierten DemonstrantInnen.
  • Aufhebung aller Beschränkungen der demokratischen Freiheiten wie der Versammlung, der Medien usw.
  • Anerkennung des souveränen Status von vor 1947 für ganz Jammu und Kaschmir.

Die Bildung von
Nachbarschafts- und Betriebskomitees ist eine wichtige Aufgabe, sowohl um den
Widerstand zu mobilisieren als auch, sobald die Bedingungen es zulassen, um
Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung durchzuführen, die
über die Zukunft des Staates Jammu und Kaschmir nach den Wünschen der
Bevölkerung der Region entscheiden soll. Darüber hinaus muss der Kampf für ein
sozialistisches Kaschmir Teil eines Kampfes für ein sozialistisches Südasien
werden. Auf dem Weg zu diesem Ziel ist es die Pflicht und im Interesse aller
unterdrückten Nationen und der ArbeiterInnenklasse, in voller Solidarität mit
dem Kampf für die Freiheit Kaschmirs zu stehen. Hier ist die Rolle der
indischen ArbeiterInnenklasse, die im Januar einen 150 Millionen starken
eintägigen Generalstreik durchgeführt hat, entscheidend.




Freiheit für Kaschmir!

Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1064, 9. August 2019

Am 5. August führten die indische rechte Regierung von Narendra Modi und seine Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP) einen atemberaubenden Schlag gegen die Demokratie und das Recht auf Selbstbestimmung. Die Einführung des „Jammu-und-Kaschmir-Reorganisationsgesetzes“ 2019 ist nicht nur moralisch empörend, sondern auch verfassungswidrig.

Die formal teilautonome Provinz, die schon zuvor zu den am meisten militarisierten Regionen der Welt zählte, wurde vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Internet, Mobilfunk- und Festnetze wurden abgeschaltet. Selbst die lokale Polizei wurde entwaffnet. Stattdessen wurden mehr als zehntausend neue Spezialeinheiten in die Provinz geschickt. Die kaschmirischen PolitikerInnen, die bisher mit Indien zusammengearbeitet haben, wurden unter Hausarrest gestellt. Jene, die mehr Autonomie oder Unabhängigkeit wollen, wurden hinter Gitter gebracht. Öffentliche Einrichtungen und Schulen wurden geschlossen und eine Ausgangssperre verhängt.

Jugendliche und StudentInnen aus Jammu und Kaschmir, die in anderen Teilen Indiens oder in anderen Ländern arbeiten, leben und studieren, wurden von ihren FreundInnen und Familien in Kaschmir abgeschnitten.

Die Aufhebung des Artikels 370 der indischen Verfassung durch das Ober- und Unterhaus am 5. August bedeutet nichts anderes als eine vollständige Annexion von Jammu und Kaschmir. Es ist eindeutig eine Besetzung des Landes und seiner Ressourcen, bei der jedeR indische BürgerIn nun die Möglichkeit hat, Grundstücke im Staat zu kaufen, was zu einer Vertreibung der indigenen Kaschmiris führen kann. Darüber hinaus hat die Regierung die Teilung von Jammu und Kaschmir in zwei Unionsterritorien beschlossen – Jammu und Kaschmir einerseits und Ladakh andererseits.

Damit mobilisiert und stärkt sie die reaktionärsten und sektiererischen Teile der Gesellschaft. Wenn die BJP damit erfolgreich sein sollte, wird sich das sofort auf ganz Indien auswirken. Ein Tornado aus reaktionärer Propaganda, der durch das Land fegt, könnte bald Pogrome gegen ethnische und religiöse Minderheiten, insbesondere MuslimInnen, ermutigen. Tatsächlich kann davon ausgegangen werden, dass die indische Regierung diese Karte in der Hoffnung spielt, dass dies den Kampf der ArbeiterInnenklasse angesichts zunehmender wirtschaftlicher Probleme wie auch den der StudentInnen- und Frauenbewegung für demokratische Rechte schwächt, wenn nicht bricht. Die Implementierung einer Diktatur in Jammu und Kaschmir würde so zu einer Blaupause für Notstandsgesetze und militärische Sonderrechte in anderen Teilen des Landes werden.

Gleichzeitig befindet sich die indische Regierung in einer offenen Konfrontation mit Pakistan. Nicht nur ein weiterer Krieg droht, sondern, im schlimmsten Fall, ein nuklearer Vernichtungsschlag von einer oder beiden Seiten. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, wo der Handelskrieg zwischen China und den USA neue Höhen erreicht. In den Kampf um Kaschmir wie in jenen um die Kontrolle ganz Südasiens sind beide imperialistischen Mächte stark involviert.

Als SozialistInnen und KommunistInnen von beiden Seiten der Grenze, aus Pakistan und Indien, und innerhalb Deutschlands fordern wir die ArbeiterInnenbewegungen zur größtmöglichen Unterstützung ihrer indischen Klassengeschwister im Kampf gegen die reaktionäre Modi-Regierung und zur Unterstützung des kaschmirischen Volkes im Kampf gegen dessen Unterdrückung auf. Wir sind der
Meinung, dass eine solche Unterstützung folgende Forderungen umfassen sollte:

  • Rücknahme des Gesetzes zur Reorganisation Jammus und Kashmirs und Rücknahme der Aufhebung von Artikel 370 durch Parlamente und Regierung!
  • Abzug aller nicht-staatlichen, paramilitärischen und militärischen Besatzungstruppen aus Kaschmir – auf beiden Seiten der Grenze!
  • Sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen! Sofortige Aufhebung aller Einschränkungen demokratischer Rechte und Freiheiten!
  • Für das Recht auf Selbstbestimmung des kaschmirischen Volkes und für eine verfassunggebende Versammlung für ganz Kaschmir, die über das Schicksal des Landes entscheidet!
  • Keine Unterstützung für die reaktionären Regime von Imran Khan und Narendra Modi! Schluss mit den Waffengeschäften mit den beiden Ländern! Materielle und politische Unterstützung für die ArbeiterInnenbewegung in Kaschmir, Indien und Pakistan!

Informationen über Solidaritätsaktionen: Stand with Kashmir

Berlin: Solidaritätskundgebung, Samstag, 10. August, 14.00, Brandenburger Tor




Indien: Hindutva, das neue Gesicht der KapitalistInnenklasse

Shahzad Arshad, Neue Internationale 238, Juni 2019

Die
hindutva-chauvinistische Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP)
unter der Leitung von Narendra Modi, hat die Wahlen zum indischen Unterhaus Lok
Sabha (Volksversammlung, 1. Kammer) gewonnen. Ihr politisch-ideologisches
Konzept, Hindutva, zielt auf die Gestaltung Indiens nach hinduistischen Regeln,
praktisch handelt es sich um aggressiven Hindu-Nationalismus gepaart mit
Neo-Liberalismus.

Von den 900
Millionen Wahlberechtigten entschieden sich 67 Prozent dafür dieses
wahrzunehmen. Dies ist die höchste Beteiligung in der Geschichte Indiens. Die
BJP und ihre Verbündeten in der Nationaldemokratischen Allianz erhielten 342
Sitze, davon gingen 303 allein an die BJP, was die Partei in die Lage versetzt,
die Regierung ohne Koalitionspartner zu stellen. Dies ist erst das zweite Mal
seit 1971, dass eine Partei in Delhi eine zweite aufeinander folgende
Alleinregierung bilden konnte. Die Kongresspartei gewann nur 52 Sitze, das von
ihr geführte Bündnis erreicht insgesamt auch bloß 92. Gleichzeitig fungierte
die Wahlkommission als Modis rechte Hand und ignorierte seine Hassreden.
Unterdessen behauptet eine Reihe von Oppositionsparteien, dass die Wahlen
manipuliert wurden.

Fast 50 Prozent
der kürzlich gewählten Parlamentsmitglieder sind mit zahlreichen Strafverfahren
konfrontiert, darunter Vorwürfe wegen Vergewaltigung und Mord. Ein
Parlamentarier der Kongresspartei sieht sich mit 204 Strafverfahren
konfrontiert, darunter Mord und Raub. Gegen mindestens 232 der 542
ParlamentarierInnen sind Gerichtsprozesse anhängig. Gegen 29 der 52 gewählten
Abgeordneten der Kongresspartei laufen Verfahren, bei der BJP sind es 116 von
303. Ein BJP-Parlamentarier ist sogar wegen Terrorismus angeklagt.

Sieg der
KapitalistInnenklasse

Als offiziell
bestätigt wurde, dass Modi wieder Premierminister Indiens werden sollte,
erlebte der Aktienmarkt einen rasanten, geradezu historischen Aufstieg. Die
Freude der KapitalistInnenklasse über Modis Wahlsieg zeigt, dass sie überzeugt
ist, dass sein Erfolg die Umsetzung der Politik zu ihren Gunsten beschleunigen
wird und dass weitere Angriffe gegen das Arbeitsrecht gestartet werden.

Es wird erwartet,
dass Indiens Bevölkerungszahl bis 2024 jene Chinas übersteigt. Das Land wird
voraussichtlich zur fünftgrößten Volkswirtschaft werden. Die Handelskriege und
die daraus resultierende Geopolitik in diesen Zeiten werden von der
kapitalistischen Klasse nicht nur als Herausforderung, sondern auch Chance
betrachtet, ihre Klasseninteressen gezielt durchzusetzen.

Diese Wahlen
waren mit Abstand die teuersten in der Geschichte Indiens. Es wurden 7
Milliarden US-Dollar ausgegeben, mehr als für die Wahlen 2016 in den
Vereinigten Staaten (6,5 Milliarden US-Dollar). Ein großer Teil des bei den
Wahlen investierten Kapitals war Schwarzgeld. Bis zu 92 Prozent der Mittel, die
der Unternehmenssektor den Parteien zur Verfügung stellte, gingen allein an die
BJP, während 91 Prozent ihrer gesamten Mittel aus dem Unternehmenssektor
stammten. Dies ermöglichte es der BJP, Millionen für Propaganda in den
„sozialen Medien“ auszugeben. Die Kongresspartei hingegen konnte nicht so viel
aufwenden. All dies zeigt genau, woher das Modi-Establishment seine
Unterstützung erhält. BJP hat die Position der Kongresspartei als zentraler
Partei der Bourgeoisie abgelaufen.

Modis
Neoliberalismus

Seit der
Einführung der neoliberalen Politik in Indien Anfang der 1990er Jahre ist die
Zahl der MilliardärInnen drastisch gestiegen. Seitdem hat sich das Vermögen
dieser Gruppe vervielfacht. Alle Richtlinien des Modi-Establishments zielen
darauf ab, diese Klasse zufriedenzustellen. Dies hat zu einer beschleunigten
Verschärfung der Kluft zwischen Reichen und Armen in Indien geführt: 80 Prozent
der Bevölkerung verfügen über ein tägliches Pro-Kopf-Einkommen von höchstens 3
US-Dollar. Modi versprach, jedes Jahr 10 bis 12 Millionen Arbeitsplätze zu
schaffen, aber die Arbeitslosigkeit ist derzeit auf dem höchsten Stand der
letzten drei Jahrzehnte. In den letzten fünf Jahren hat sich der Reichtum von
Ambani und verschiedenen anderen großen KapitalistInnen weiter vermehrt, da die
Regierung große Projekte arrangierte, von denen sie profitieren konnten.

Unterdessen wurden
auch menschenverachtende Programme wie die Entwertung von Banknoten
aufgegriffen, um Banken und Finanzinstitute profitieren zu lassen. Durch den
abrupten Einzug von 86 Prozent aller Banknoten war jedeR BürgerIn gezwungen,
ein Bankkonto zu eröffnen. Ziel war es, das bestehende Kapital in Banken zu
vervielfachen. Infolgedessen verlor eine Reihe von Menschen ihr Leben, die
unter der sengenden Sonne in der Schlange standen. Außerdem wurde ein neues
Mehrwertsteuer ähnliches System eingeführt, das sich nachteilig auf die kleinen
Unternehmen auswirkte und den großen KapitalistInnen zugutekam, indem es ihre
Gewinne maximierte.

Soziale Angriffe
und Aggression

Während der
fünfjährigen Amtszeit von Modi beschleunigte sich die neoliberale Politik und
die Gewerkschaften sahen sich schweren Angriffen ausgesetzt. Der Rechtsschutz
für Festanstellungen wurde aufgehoben. Schon vorher wurde einer großen Zahl von
Menschen dieser Schutz vorenthalten und sie arbeiteten zu extrem niedrigen
Löhnen. Außerdem wurde der Mindestlohn nicht entsprechend der steigenden
Inflationsrate erhöht und auch die Arbeitszeitbegrenzung des Achtstundentags
abgeschafft. Als Reaktion auf all diese Angriffe des Modi-Regimes auf die
ArbeiterInnen fanden landesweit Proteste in großem Stil statt. Zu Beginn dieses
Jahres organisierte die indische ArbeiterInnenklasse den größten Protest der
Welt mit 200 Millionen ArbeiterInnen, die in den Streik getreten waren. Ebenso
marschierte gegen Ende letzten Jahres die bäuerliche Organisation Mukti Morcha
(Befreiungsfront), die politisch der Kommunistischen Partei nahesteht, in Delhi
und erhielt Unterstützung von einer großen Zahl von Jugend-, Frauen- und
ArbeiterInnenorganisationen.

In dieser
Situation hat Modi seine Kampagne auf hinduistischen Nationalismus und Feindschaft
mit Pakistan gebaut. Auf diese Weise hat er ein Bild von sich selbst als Hüter
Indiens angesichts der Bedrohung durch den Feind vermittelt. Während des
Wahlkampfes wurden eine Reihe von BJP-FührerInnen, darunter Modi, der
BJP-Parteichef Amit Shah und verschiedene ehemalige MinisterInnen, für die
Luftangriffe in Pakistans nördlicher Balakot-Region geehrt. Der
Selbstmordanschlag auf paramilitärische Kräfte in der Region Pulwama in
Kaschmir wurde voll ausgenutzt. Die Kriegshysterie wurde durch Modis Aussage
nach dem Attentat angeheizt: „Wir werden ihre Häuser betreten und sie töten“.
Modi vermittelte der indischen Öffentlichkeit die Botschaft, dass die
Souveränität des Landes unter der Regierung seiner Partei in guten Händen ist.
Nach dem Angriff auf Balakot stiegen die chauvinistische Demagogie und die
Beliebtheitswerte von Modi in einem beispiellosen Tempo.

Hindutva

Narendra Modi
ist ein knallharter hinduistischer nationalistischer Führer und fördert
unverschämt die Ideologie der Hindutva. Er nahm ein Bad im heiligen Wasser des
Ganges am Zusammenfluss mit dem Yamuna und dem hindu-mythischen Strom Saraswati
anlässlich der Kumbh Mela, dem größten religiösen Fest des Hinduismus, was noch
kein Premierminister zuvor getan hat. In der letzten Woche der Wahlen
meditierte er auch in einer heiligen Höhle. Unterdessen sagte Pragya Singh
Thakur (Sadhvi Pragya), die den Wahlkreis Bhopal (der gesamte Distrikt Bhopal
und Teile des Sehore-Distrikts) auf dem Ticket der BJP gewann, dass Nathuram
Godse, der hinduistische Nationalist, der Mahatma Gandhi 1948 ermordete, ein
Patriot war. Godse füllte immer einen wichtigen Status in der
Hindutva-Ideologie aus und eine Reihe von BJP-FührerInnen hat ihn zuvor
gefeiert. Pragya Singhs Aussage über Godse erhielt Beifall von Anant Kumar
Hegde, einem leitenden Minister der Regierung, und dem Parlamentsabgeordneten
Nalin Kumar Kateel.

Ebenso ist Modis
Rolle bei den Unruhen in Gujarat (Bundesstaat an der Westküste) kein Geheimnis.
Während seines Regimes stiegen die Angriffe auf MuslimInnen und andere
Minderheiten, und diese sind in den sich schnell ändernden Zeiten nicht sicher.
Es ist klar, dass Modi nicht davor zurückschreckt, seine extremistische
Hindutva-Ideologie auszudrücken, d.h. hinduistischen Chauvinismus im Gegensatz
zum Hinduismus als Religion, und dass er den Hass zum Grundstein seiner Politik
gemacht hat. Die Ideologie der Hindutva macht Muslime/a und Dalits (ehem. Kaste
der Unberührbaren) für Armut und Arbeitslosigkeit verantwortlich, die in
Wirklichkeit durch Wirtschaftskrisen, Ausbeutung und Korruption verursacht
werden, so dass, anstatt gegen das kapitalistische System zu kämpfen, die
Menschen entlang religiöser Grenzen gespalten werden. Diese Situation hat zum
Untergang des indischen Säkularismus geführt und faschistische Tendenzen
gewinnen an Bedeutung. Sollte sich die Wirtschaftskrise verschärfen, ist die
Möglichkeit eines faschistischen Regimes in Indien nicht auszuschließen. Die
BJP hat bereits halbfaschistische Merkmale, die eine große Gefahr für die
indische Gesellschaft darstellen.

Medien und
dynastische Politik

Ein weiterer
wichtiger Grund für Modis Sieg ist die Tatsache, dass ihn fast alle großen
Medienhäuser unterstützt haben. Wo die BJP auf irgendeine Art von
Schwierigkeiten stieß, benutzte die Regierung alle möglichen undemokratischen
Methoden, um die Medienfreiheit zu beseitigen. Einige renommierte
JournalistInnen, die das Regime kritisieren wollten, wurden getötet. Auf diese
Weise entstand eine Atmosphäre der Angst, in der Modi, anstatt mit Fragen über
die Ergebnisse der Regierung konfrontiert zu werden, von den Medien als einzige
Person gefeiert wurde, die Indien schützen und zu einer Supermacht machen
könne.

Die
Kongresspartei (Indischer Nationalkongress, INC) unter der Leitung von Rahul
Gandhi erlitt bei den diesjährigen Wahlen eine massive Niederlage. Während
seine Popularität im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen ist, zeigt sein
Abschneiden bei den Wahlen auch, dass die indische Öffentlichkeit die Idee der
dynastischen Politik ablehnt. Seit der Unabhängigkeit  regierte die Kongresspartei über Jahrzehnte, mit einer
kurzen Ausnahme, in der einige Allianzen an die Macht kamen. Doch sie war nicht
in der Lage, den Massen den guten Lebensstandard zu geben, den Jawaharlal
Nehrus „Sozialismus“ versprochen hatte. Stattdessen verwandelte sich seine
Herrschaft in eine groß angelegte Zunahme von Dominanz nur einer Familie. So
ist es nicht verwunderlich, dass die Kongresspartei in den 1990er Jahren den
Grundstein für eine neoliberale Politik legte. Es ist diese politische Linie,
die Modi heute mit noch mehr Nachdruck umgesetzt hat. Das indische Volk ist
sich daher der Tatsache bewusst, dass die Kongresspartei seinen Lebensstandard
nicht verbessern kann. Gleichzeitig hat die Partei ihren Status als
traditionelle Vertreterin der bürgerlichen Klasse verloren.

Scheitern der
Linksfront

In diesem
Szenario hat die Linksfront, die von der Kommunistischen Partei Indiens
geführte Allianz, die Westbengalen jahrzehntelang regierte, kein alternatives
politisches und wirtschaftliches Programm angeboten. Stattdessen wurde sie zur
Handlangerin der Kongresspartei. Ihre Haltung besteht darin, dass der indische
Säkularismus aufgrund der steigenden Popularität der BJP gefährdet sei. Sie
ignoriert jedoch die Tatsache, dass die Bilanz der Kongresspartei mit dem
Säkularismus auch nicht herausragend war. Tatsächlich war es eine
Verschlechterung, und darüber hinaus ist es die Kongresspartei, die den
Neoliberalismus in Indien eingeführt hat. Die Haltung der Linksfront hat die
Unterstützerbasis der BJP in keiner Weise beschädigt. Im Gegenteil, die
BJP-Popularitätswerte stiegen weiter an.

Die indische
Linke, die bei den Wahlen 2005 die dritte Kraft war, sieht sich heute auf
insgesamt fünf Sitze begrenzt. Von diesen wurden mindestens drei Sitze durch die
Allianz mit der Dravidian Progressive Conference (Dravida Munnetra Kazhagam,
DMK) in Tamil Nadu gewonnen (Dravidisch = nicht-indo-arische Sprache in
Südindien). Bengalen, wo die KommunistInnen lange Zeit an der Macht blieben,
hat sich nun in Richtung BJP verschoben. Dies ist auf die Unterstützung der KPI
für kapitalistische Unternehmungen, Versuche, das Land der Bauern und
Bäuerinnen zu enteignen, und Korruption zurückzuführen. Tatsächlich ist einer
der erfolgreichen Kandidaten der BJP ein ehemaliger Bundesstaatsabgeordneter
der Linken Front.

Bei den letzten
Wahlen gewann die Linke Front in Bengalen 29,9 Prozent der Stimmen. In diesem
Jahr erreichte sie nur 7,1 Prozent. Hingegen steigerte sich die BJP von nur 17
Prozent beim letzten Mal auf diesmal 40,3 Prozent. Der Hauptgrund dafür ist,
dass die kommunistischen Parteien ihre soziale Basis nicht gegen die Angriffe
der Trinamool Congress Party (bengalische Abspaltung vom INC, AITC) in den
letzten fünf Jahren verteidigt haben. Dadurch konnte sich die BJP als
Alternative präsentieren. Auch in Kerala verloren die KommunistInnen, obwohl
(oder weil) die KPI an der Regierung waren.

Eine Partei der ArbeiterInnenklasse

Die
Wahlniederlage des radikalen Studentenführers Kanhaiya Kumar (Vorsitzender der
Allindischen Studierendenföderation, StudentInnenorganisation der KPI) und
anderer vergleichsweise radikaler Persönlichkeiten zeigt, dass Veränderungen
nicht durch reformistische Parteien und Programme erreicht werden können. Die
jungen FührerInnen, die sich gegen die neoliberalen und faschistischen
Tendenzen der BJP stellen, müssen sich vom Reformismus lösen und auf
revolutionärer Grundlage agitieren. Sie müssen sich in der
ArbeiterInnenbewegung auf der Grundlage eines revolutionären Programms
organisieren und gleichzeitig Einheitsfronten zu bestimmten Themen mit Kräften
wie der Linken Front, den Gewerkschaften und verschiedenen sozialen Bewegungen
vorschlagen, um die Wirkungen der ArbeiterInnenkämpfe zu maximieren. Eine
solche Bewegung muss völlig unabhängig vom Kongress oder anderen bürgerlichen
Parteien sein.

Revolutionäre
Kräfte sollten sich auch mit der Verteidigung der Interessen der Bauern und
Bäuerinnen und der ländlichen Armen befassen. Auf diese Weise kann das
Potential der ArbeiterInnenklasse, der Frauenbewegung und der Jugend, die
insbesondere beim Generalstreik am Beginn des Jahres sichtbar wurden, zum Kampf
gegen das Modi-Regime und das kapitalistische System gebündelt werden.