Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Vorwort der Redaktion

Als der hier neu übersetzte Artikel „Gramsci and the revolutionary Tradition“ vor 36 Jahren in der Zeitschrift „Permanent Revolution“ unserer Schwesterorganisation „Workers Power“ aus Anlass des 50. Todestages von Antonio Gramsci erschien, ging gerade eine der vielen „Gramsci-Wellen“ in der internationalen Linken ihrem Ende entgegen. Es sollten noch einige weitere bis zum heutigen Tage folgen. Deshalb lohnt sich die Lektüre dieses historisch sehr genauen Artikels zum tatsächlichen politischen Wirken Gramscis ungemein, um seine politischen Ideen von den imaginären Zusätzen zu trennen, die sich inzwischen in den besagten Rezeptionswellen in Schlagwörtern wie „Hegemonie“, „Politik des Stellungskrieges“, „Zivilgesellschaft“, etc. niedergeschlagen haben.

Gramsci befand sich seit 1926 in faschistischer Haft, in der er – in vorsichtig verklausulierter Sprache – weiterhin politische Schriften verfasste, die „Gefängnishefte“. Die mehrdeutigen Ausdrücke, die er dabei benutzte, um Begriffe wie „Diktatur des Proletariats“ oder „bürgerliche Ideologie“ zu vermeiden, wurden in diesen späteren Rezeptionen geradezu zu einer Neuerfindung des Marxismus hochstilisiert. Mit Begeisterung wurde darin eine „Modernisierung“ gesehen, die die verpönte „Sprache“ des „dogmatischen Traditionsmarxismus“ vermeidet. Wie weit dies von den tatsächlichen Intentionen Gramscis entfernt ist bzw. mit seinen tatsächlichen politischen Schwächen in Verbindung steht, wird in dem folgenden Artikel herausgearbeitet.

In den 1970er Jahren hatte die „Kommunistische Partei Italiens“ (KPI) ihren ehemaligen Vorsitzenden (1924 – 1927) einmal wieder neu „entdeckt“. Im Zuge der Integration der KPI in das politische Krisenregime der 1970er Jahre wurde das Konzept der „Diktatur des Proletariats“ zugunsten der Zielsetzung einer Umgestaltung Italiens unter „Hegemonie“ der KPI aufgegeben. Luciano Gruppis „Gramsci. Philosophie der Praxis und die Hegemonie des Proletariats“ (1972 unter der Ägide des langjährigen Chefideologen Pietro Ingrao herausgegeben; auf Deutsch: 1977, VSA) ist Ausdruck des Versuchs der Parteiführung, ihren „Historischen Kompromiss“ mit der italienischen Bourgeoisie als Weiterentwicklung der bereits von Gramsci verfolgten „Überwindung“ der Fixierung der kommunistischen Parteien auf das Modell der Russischen Revolution darzustellen.

Schon in der Nachkriegszeit hatte die KPI-Führung um Togliatti den zunächst vergessenen Gramsci als Wegbereiter der Volksfrontpolitik „wiederentdeckt“. Wie der folgende Artikel zeigt, waren beide Vereinnahmungen Gramscis nicht berechtigt. Gramscis politische Revision (die er als Parteivorsitzender verfolgte) war tatsächlich die der „strategischen Einheitsfront“ zwischen Kommunist:innen und Reformist:innen mit dem Ziel einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung als erster Etappe der Diktatur des Proletariats. Er hegte im faschistischen Italien keinerlei Illusionen in Bündnisse mit der Bourgeoisie, allerdings ein illusorisches Verständnis der revolutionären Dynamik übergreifender Bündnisse „der Linken“ – und damit tatsächlich der Notwendigkeit, die Einheitsfront als Vehikel des Kampfes zum Bruch auch mit dem Reformismus und Zentrismus zu gestalten.

Einen anderen Interpretationsstrang von Gramsci findet man im „Neomarxismus“ der Nach-68er-Bewegung, z. B. begründet in der „strukturalistischen“ Marxexegese. So führte Luis Althusser (z. B. in „Für Marx“, 1968, Suhrkamp) Gramsci und das Hegemoniekonzept als Beleg dafür an, dass im „westlichen Marxismus“ schon früher die Unterschätzung der „Überbauphänomene“ erkannt wurde. In seinem Bestreben, Marx vom „Hegel’schen Objektivismus“ zu reinigen, ersetzte Althusser die Dialektik von Ökonomie und politisch-ideologischem Überbau durch ein System vielfältiger Widersprüche, in denen den Zusammenstößen im Überbau (den „ideologischen Staatsapparaten“) immer mehr Gewicht zukommt gegenüber den zusehends entpolitisierteren ökonomischen Klassenkämpfen. Von dort gibt es eine gerade Linie zur Transformationspolitik (im Gefolge von Poulantzas), die den Verschiebungen der Kräfteverhältnisse durch „revolutionäre Realpolitik“ in den „zivilgesellschaftlichen Strukturen“ die Rolle der vorantreibenden Kraft bis hin zum „revolutionären Bruch“ beim Übergang zum Sozialismus zuschreibt (zur näheren Kritik hierzu siehe den Artikel „Modell Oktoberrevolution“ im Revolutionären Marxismus 49).

So wenig man eine solche Bewertung von politischen und kulturellen Mikrokämpfen im „antikapitalistischen Stellungskrieg“ Gramsci direkt zuschreiben kann, so ist in seiner Konzeption der Hegemonie tatsächlich eine methodische Schwäche angelegt. Während bei Marx die Ideologiekritik und die daraus folgende Analyse von Überbauphänomenen materialistisch-dialektisch aus der Kritik der politischen Ökonomie abgeleitet wird, so ist dies bei Gramsci in den „Gefängnisheften“ wenig ausgeführt bzw. kann als „nur letztlich bestimmt“ verstanden werden. Wie im Artikel herausgearbeitet, kann es hier zu einer, von seinem idealistischen philosophischen Lehrmeister Benedetto Croce inspirierten Überbewertung des „subjektiven Faktors“ kommen, dem in den vielfältigen politischen Strukturen von Kultur, Wissenschaft, politischen Institutionen etc. eine weitgehende Selbstständigkeit eingeräumt wird.

Dies wird um so auffälliger, wenn man Gramscis Ideologiekritik mit der seines unmittelbaren Zeitgenossen und Kominterngenossen Georg Lukács vergleicht. Lukács hatte in den frühen 1920er Jahren mit der Theorie der „Verdinglichung“ dargelegt, wie die in der kapitalistischen Ökonomie (insbesondere in der Zirkulationssphäre) angelegten Denkmuster (Fetischformen) Politik und Alltag derartig durchdringen, dass jegliche „Alternativen“ oder „Gegenmachtansätze“ immer wieder in das herrschende bürgerliche System eingegliedert und zu systemstabilisierenden Faktoren umstrukturiert werden (Gramsci hatte im Konzept der „passiven Revolution“ übrigens eine ähnliche Bemerkung gemacht, diese stellt aber letztlich einen Fremdkörper in seiner Hegemoniekonzeption dar). Lukács’ zog die Schlussfolgerung (in „Geschichte und Klassenbewusstsein“), dass nur vom Standpunkt des revolutionär organisierten Proletariats aus so etwas wie eine unabhängige, über die Kapitalreproduktion hinausgehende Gegenposition möglich ist. Nur ein revolutionäres Proletariat unter der Führung einer kommunistischen Partei kann auch die Antinomien und Rückführungsmechanismen des bürgerlichen Bewusstseins und seiner gewaltbewehrten Organe überwinden und einen wirklichen „revolutionären Bruch“ mit dem Bestehenden ermöglichen.

Auch wenn „Geschichte und Klassenbewusstsein“, wie Lukács selbstkritisch schon 1925/26 in „Chovstismus und Dialektik“ anmerkt, etliche Schwächen enthielt, so stellt es bis heute einen wichtigen Referenzpunkt der Kritik und Abgrenzung von sich auf Gramsci berufenden Gegenmachtkonzepten dar.

Mehr noch als vergangene Gramsci-Wellen ist die gegenwärtige von einer weitgehenden Unkenntnis, um nicht zu sagen Ignoranz, gegenüber Gramscis eigener politischer und theoretischer Entwicklung geprägt. Umso umstandsloser lassen sich auch daher seine Konzepte in aktuelle reformistische Strategien integrieren. Der folgende Artikel umfasst daher sowohl eine historische Einschätzung wie eine marxistische Kritik Gramscis, die sich einerseits gegen seine nicht-revolutionäre Vereinnahmung, andererseits aber auch gegen eine unkritische Übernahme seines Werkes richtet.

Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell

Es gilt, den italienischen Revolutionär Antonio Gramsci zu würdigen. 1926 wurde er von Mussolinis Faschisten verhaftet und zwei Jahre später nach einem Schauprozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Seine Entlassung aus der Haft 1937 überlebte er, da er im Gefängnis schwer erkrankt war, nur kurz. Er starb im April desselben Jahres.

Das Gedenken an seinen Tod hat einmal wieder ganz verschiedenen Tendenzen auf der Linken die Gelegenheit verschafft, um sein Erbe zu streiten. Marxism Today (MT), die Zeitschrift der eurostalinistischen CPGB, erinnerte ihr Publikum in ihrer Aprilausgabe daran:

„Ohne Zweifel ist Gramsci der wichtigste einzelne theoretische Einfluss auf Marxism Today im Verlauf des letzten Jahrzehntes gewesen.“ (1)

Dieser Einfluss wurde durch die italienische kommunistische Partei gefiltert (KPI). Doch war die KPI nicht immer so bereit gewesen, Gramscis Beitrag zum Marxismus anzuerkennen. Es vergingen zehn Jahre nach Gramscis Tod, bevor die KPI sich entschied, eine Ausgabe von Gramsci Gefängnisnotizbüchern zu veröffentlichen, passend zensiert, um irgendwelche günstigen Verweise auf Trotzki oder Andeutungen von Opposition zu Stalins Politik in den 1930er Jahren zu entfernen.

Aber die Krise des Stalinismus nach 1956 schuf ein ideologisches Vakuum in den Reihen der westlichen stalinistischen Parteien. In Gramsci fand die KPI einen „italienischen Marxismus“, der der Erwartung gerecht werden konnte. Er konnte Kontinuität mit der Gründung der KPI beanspruchen, doch sich von den „Übertreibungen“ des Stalinismus in den 1930er Jahren distanzieren. Er konnte behaupten, in Gramscis Arbeit eine Kritik am „Dirigismus“ zu finden, mit deren Hilfe der monolithische Anspruch des Stalinismus abgelehnt werden konnte, ohne in Sozialdemokratismus zu verfallen oder der revolutionären (d. h. trotzkistischen) Kritik am Stalinismus Zugeständnisse zu gewähren.

Die KPI argumentierte, dass Gramscis Vorstellung von „Hegemonie“ ihre Politik in den 1970er Jahren für parlamentarische Unterstützung der arbeiter:innenfeindlichen Regierung der Christdemokratie (der „historische Kompromiss“) bekräftigte.

In den letzten paar Jahren aber hat die reformistische Laufbahn der KPI diese Partei dazu geführt, einen gewissen Abstand zwischen sich und Gramsci zu setzen. Anfang 1987 behauptete der KPI-Chef Natta, dass Gramsci auch „Fundamentalist“ war. Es ist daher keine Überraschung, dass Antistalinist:innen es zunehmend für normal halten, Gramscis Erbe für sich zu beanspruchen.

Vor fünfzig Jahren sagte der italienische Trotzkist Pietro Tresso in einem Nachruf auf Gramsci, dass es lebenswichtig war, den Stalinist:innen nicht zu erlauben, „Gramscis Persönlichkeit für ihre eigenen Zwecke auszunutzen“ (2). Dies gilt weiterhin. Aber der moderne Zentrismus versucht, weiter zu gehen. Einer der Führer:innen des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, Livio Maitan, versucht bspw. mit seiner Würdigung des Lebens des italienischen Revolutionärs im mandelistischen Rückblick zu begründen, dass es einen „vollkommen revolutionären Kern“ in Gramscis Arbeit gibt, und dass „revolutionäre Marxist:innen das Recht und die Pflicht haben, das Erbe Antonio Gramscis zu beanspruchen“. (3)

Zwar zieht die Sozialistische Arbeiter:innenpartei (SWP/GB) den Stalinismus korrekt zur Rechenschaft für den Versuch, Gramsci als Reformisten zu schildern, doch sie ist wie Maitan gänzlich damit gescheitert, aus dem Leben des italienischen Revolutionärs eine kommunistische Bewertung seines Beitrages zum Marxismus zu verallgemeinern. John Molyneux sagt von den Jahren 1922 – 1926:

„Selbst ein ungezwungener flüchtiger Blick auf Gramscis Schriften dieser Periode zeigt, dass er fest auf dem Terrain der Revolution bleibt.“ (4)

Chris Harmans Pamphlet für die SWP – Gramsci gegen den Reformismus – bezieht eine ähnlich einseitige Sicht auf Gramsci. Für Harman reicht es aus, dass Gramsci an Revolution, nicht Reform glaubte, nie die Straße zum Aufstand verließ und beides anerkannte – die Notwendigkeit für eine Partei bolschewistischen Typs wie die Samenkörner für einen  Arbeiter:innenstaat, die innerhalb der Fabrikrätebewegung angelegt waren.

Im Wesen legen Harman, Molyneux und Maitan nur einen umgekehrten Fehler zu den Stalinisten an den Tag. In ihrer Darstellung ist Gramscis Beitrag zur KPI bis zu seiner Verhaftung unproblematisch und zeigt ihn ehrlich auf dem Boden der revolutionären Komintern stehend. Die „Lyon-Thesen“ von 1926 werden als Gipfel seiner politischen Arbeit gewertet. Seine Arbeit nach dieser Zeit, wie in den Gefängnisnotizbüchern vorgefunden, enthält zwar gewisse Irrtümer, stellt ihrer Meinung nach jedoch keinen Bruch mit dem revolutionären Gramsci dar. Für Maitan gibt es „eine unleugbare Kontinuität in Gramscis Denken und Herangehensweise seit seinen Schriften in den Jahren der Russischen Revolution bis zu den Notizen von 1935, als die Notizbücher endeten.“ (5). Gemäß Harmans Sicht haben die Faschisten „ … ihn daran gehindert, das Potenzial seines Marxismus, das er in L’Ordine Nuovo und den ,Lyon-Thesen’ zeigte, voll zu verwirklichen.“ (6)

Praktisch dienen diese Resümees nur dazu, die Wahrheit von Trotzkis Sprichwort zu unterstreichen, dass es für Zentrist:innen sehr schwierig ist, Zentrismus in anderen zu erkennen. Es ist notwendig, die Dinge tiefer zu analysieren. Genau weil die gegenwärtige SWP oder das VS der IV. Internationale Sachverhalte aus einer Reihe revolutionärer Prinzipien heraus beurteilen, statt ihre eigenen (oder andere) Beiträge mit dem Maßstab des Programms zu messen, scheitern sie daran, Gramscis politische Theorie und Praxis vor dem Hintergrund von Führung und Politik der Komintern in der Periode 1919 – 26 zu bewerten.

Aus dieser Perspektive analysiert, ist es möglich zu zeigen, dass Gramsci zwar nie Reformist war, sich seine Politik dennoch in ernsthaftem Maße von Praxis und Theorie Lenins und Trotzkis unterschied, während diese in der Leitung der Komintern waren. Kurz, es kann gesehen werden, dass Gramsci in der Tat eine klassische zentristische Entwicklung durchlief, in seinem Fall vom Ultralinkstum zum Rechtszentrismus.

Gramsci 1915 – 21

In Ales auf der Insel Sardinien geboren, ging Gramsci 1911 nach Turin, um an der Universität zu studieren. Dort sollte er in Kontakt mit der mächtigen Turiner Arbeiter:innenbewegung kommen, deren Schwerkraftzentrum in den FIAT-Autobetrieben und verwandten Industrien zu finden war. 1913 trat er der Sozialistischen Partei (PSI) bei.

Immer mehr in die Arbeit der Partei eingebunden, gab Gramsci im November 1915 sein Studium auf, um sich dem Redaktionsstab der PSI-Zeitung Il Grido del Popolo (Der Schrei des Volkes) anzuschließen. Innerhalb von Monaten schrieb er für die Turiner Ausgabe der offiziellen PSI-Tageszeitung Avanti!. In diesen Jahren als aktiver Kämpfer, aber bevor die Russische Revolution von 1917 die Fundamente der europäischen Sozialdemokratie erschütterte, war Gramscis Politik beträchtlich entfernt von jener Lenins und der Bolschewiki trotz der Tatsache, dass sich für Italien und Russland sehr ähnliche strategische und taktische Aufgaben stellten. Zu der Zeit, als Gramsci ein bewusster Revolutionär wurde, 1915, waren die Bolschewiken durch die Erfahrung von einer Revolution und Gegenrevolution gegangen und  hatten in deren Verlauf ihre Positionen zur revolutionären Partei und der Agrarfrage eindeutig formuliert. Die Bedeutungen dieser Positionen entgingen den Linken in der PSI bis 1921. Um 1915 begriff Lenin die Gründe für den Zusammenbruch der Zweiten Internationale angesichts des imperialistischen Kriegs und die Notwendigkeit eines vollständigen politischen Bruchs. Gramsci und die Linke in der PSI missachteten Lenins Einstellung zu diesen Ereignissen.

Gramscis eigene politische Lehrzeit war merklich anders als Lenins gewesen. Es war nicht die klassisch „orthodoxe“ marxistische Tradition von Kautsky und der deutschen SPD oder Plechanow, die Gramscis Hintergrund bildeten, sondern eher eine besondere, italienisierte Version von Marxismus, der seinen Weg zu Gramsci durch die Arbeiten von Croce, Labriola und Gentile fand. An diese Personen wandte sich Gramsci, um nach einem Heilmittel für die Schwächen zu suchen, die er in Praxis und Theorie der Politik der Rechten in der  Zweiten Internationale und der PSI wahrnahm. Gramsci glaubte, dass die Passivität und der Fatalismus dieser Strömung mit einem ursprünglichen Mangel im historischen Materialismus von Marx und Engels zusammenhingen. Er war der Ansicht, dass Marxens Kritik der politischen Ökonomie, wie im Kapital zu finden, in der Tat mechanischer Materialismus war, der die Rolle und die Macht des subjektiven Faktors (die arbeitende Klasse) ignorierte, sich ihrer eigenen Ausbeutung bewusst zu werden und zum Umsturz eines Systems ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Bedingungen zu erheben. So sah er den Materialismus des Marxismus als ungenügend und eine Rückkehr zu Hegel als notwendig an, die Croce befürwortete, um der Theorie eine Dosis Idealismus zu injizieren und eine adäquate Einschätzung des subjektiven politischen Faktors in revolutionärer Politik zu leisten.

Lenins und Trotzkis Ansätze zu den Problemen der russischen Revolution waren im Vergleich damit sehr verschieden. Bereits 1899 argumentierte Lenin in Polemiken mit den Narodniki (Volkstümlerrichtung) gegen ihre mechanistische Auslegung von Marxens Politökonomie. Sie führte die Narodniki zur Schlussfolgerung, dass die Rückständigkeit von Russlands innerem Markt bedeutete, die Entwicklung des Kapitalismus in Russland könne vermieden werden. Schon 1905 umriss Trotzki in seiner Theorie der „permanenten Revolution“, dass der russische Kapitalismus im Kontext der ungleichen und kombinierten Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab verstanden werden musste. Im Bündnis mit dem europäischen, besonders dem französischen, Kapitalismus hatte die zaristische Autokratie die schnelle Ausbreitung des Kapitalismus in Russland beaufsichtigt. Genau deswegen bestritten Lenin wie auch Trotzki die damals vorherrschende Sichtweise des Marxismus, die darauf bestand, dass wegen dieser Entwicklung der russischen Bourgeoisie die Führung der bürgerlichen Revolution gegen den Zaren zufalle.

Sie bewiesen, dass die Schwäche einer einheimischen russischen Bourgeoisie sie dazu bringen würde, einen Block mit der Reaktion gegen die Arbeiter:innenklasse einzugehen, angesichts des gesellschaftlichen Gewichts des Proletariats und eines wirklichen Kampfes um bürgerlich-demokratische Forderungen.

Während für Gramsci die Revolution im rückständigen Italien trotz seiner gesellschaftlichen Verhältnisse durch einen Willensakt durchgeführt werden musste, würde für Lenin und Trotzki die Revolution im rückständigen Russland genau wegen der Widersprüche in der materiellen  Struktur des russischen Kapitalismus geschehen. Die Fehler in Gramscis methodologischem Begriff von Marxismus verrieten eine wirkliche Schwäche in seinem Verständnis vom historischen Materialismus. Für eine Weile wurde in den 1920er Jahren, als Gramsci zu den Positionen der revolutionären Komintern hingetrieben wurde, die Bedeutung dieser Schwächen verdeckt. Deren volle Bedeutung sollte erst vollständig in den Gefängnisnotizbüchern in seiner Diskussion über „Zivilgesellschaft“ und den „Staat“ enthüllt werden.

Gramsci und die Russische Revolution

Mit dieser Methode begrüßte Gramsci die Russische Revolution von 1917. Während er sie willkommen hieß als eine „proletarische Tat …  welche natürlich in einem sozialistischen Regime resultieren muss“ (7), betrachtete er sie als Bestätigung für seine eigene Sichtweise von Marxismus. Er sah sie als eine „Revolution gegen ,Das Kapital’“ und erblickte in der Arbeit der Bolschewiki „die Fortsetzung italienischen und deutschen idealistischen Gedankenguts, welches bei Marx von positivistischen und naturalistischen Verkrustungen verunreinigt wurde.“ (8)

Doch trotz dieses Angriffes auf den „Marxismus“ richtete er sich methodologisch in Wahrheit gegen die menschewistische Strategie, die glaubte, es existiere eine: „ … schicksalhafte Notwendigkeit für die Bildung einer Bourgeoisie in Russland, für den Beginn einer kapitalistische Ära, bevor das Proletariat an das Aufgreifen eigener Klassenforderungen, oder sogar an die Durchführung seiner eigenen Revolution denken könnte.“ (9)

In Lenin sah er die Art von Anführer:in, die das Geschichtstempo durch eine Tat organisierten Willens eher beschleunigen konnte, als jemand, der/die die sozialen Widersprüche in der russischen Gesellschaft bewusst zum Ausdruck bringen konnte.

Als sich die revolutionäre Krise in Italien in den Jahren nach der Russischen Revolution vertiefte, hatte Gramsci Gelegenheit, weiter über die Lektionen nachzudenken, die von Lenin gelernt werden konnten. Im August 1917 führten  Arbeiter:innen in Turin einen Aufstand gegen die örtliche Staatsgewalt, der von einem allgemeinen Streik in der ganzen Region Piemont unterstützt wurde. Obwohl schließlich der Aufstand um den Preis von 500 Toten und weiteren 2.000 Versehrten niedergeschlagen wurde, verweigerten sich die Turiner Arbeiter:innen ihrer Unterwerfung . Die Arbeiter:innenbewegung erhob sich wieder in einer beispiellosen Art während der Jahre 1919 – 1920. In diesen Jahren wuchs die PSI von 81.000 1919 auf 216.000 Mitglieder 1920. Der Gewerkschaftsverband unter der Leitung der PSI – die GCL – wuchs explosionsartig von 320.000 auf 2,3 Millionen zwischen 1914 und 1920.

Im April 1919 gründete Gramsci mit anderen die Zeitung L’Ordine Nuovo (Die Neue Ordnung). Sehr schnell steuerte Gramsci sie weg von einer einfachen Kost abstrakten Propagandismus‘ mit einer starken Betonung auf kulturellen Themen zu einer Zeitschrift, die die wachsende Bewegung von Fabrikausschüssen angelehnt an die Sowjets in Russland umzugestalten suchte. Im Juni schrieb er über den Arbeiter:innenstaat:

„Dieser Staat entspringt nicht durch Zauber: die Bolschewiki arbeiteten acht Monate daran, ihre Slogans zu verbreiten und zu verfeinern: alle Macht den Sowjets; die Sowjets waren den russischen Arbeiter:innenn schon 1905 bekannt. Italienische Kommunist:innen müssen die russische Erfahrung schätzen lernen und so Zeit und Mühe sparen.“ (10)

Im Oktober 1919 gliederte die PSI sich der Komintern an und im folgenden Monat bestritt sie eine allgemeine Wahl auf einem Programm, das die Gewaltherrschaft des Proletariates forderte. Sie gewann den größten Block von Sitzen im neuen Parlament – 156 Sitze von 508. Anfang 1920 schickte die PSI sich an, die Kontrolle in über der Hälfte der Stadträte zu gewinnen. Ohne Frage suchten die italienischen Arbeiter:innen den Pfad der Revolution.

Bis zum Frühling 1920 hatte sich der Kampf in den Fabriken zu einem höheren Stadium mit der Bildung der Innenausschüsse aufgeschwungen, die den Arbeiter:innen ermöglichten, ganze Bereiche der Fabrik zu kontrollieren. Den ganzen Sommer 1920 lang waren weit mehr als eine halbe Million Arbeiter:innen in die Ausschüsse und Räte eingebunden. Gramsci begriff das, was auf dem Spiel stand, genau:

„Unter den Kapitalist:innen war die Fabrik ein Miniaturstaat, regiert durch einen despotischen Stab. Heute, nach den Arbeiter:innenbesetzungen, ist diese despotische Macht in den Fabriken zerschlagen worden; das Recht zu wählen ging in die Hände der arbeitenden Klasse über. Jede Fabrik, die über Industrieexekutiven verfügt, ist ein illegaler Staat, eine proletarische Republik, die von Tag zu Tag lebt, in Erwartung des Ausgangs der Ereignisse.“ (11)

Aber dieses war der Kern der Sache: Wie den „Ausgang der Ereignisse“ lenken? Wie Doppelmacht in den Fabriken in eine Kampfansage gegen die nationale Staatsmacht verwandeln? Hier wurden Gramscis Schwächen in der Parteifrage grausam freigelegt.

Bestimmt war die maximalistische Führung um Serrati schuld an der Ablehnung, die Verantwortung für die Organisierung der arbeitenden Klasse durch die Partei auf sich zu nehmen, um sich auf die Eroberung der Staatsmacht vorzubereiten. Aber Gramsci hatte immer versäumt, sich um eine revolutionäre kommunistische Partei zu bemühen. Sogar nach dem Anschluss an die Komintern widerstrebte es Gramsci, den reformistischen Turati-Flügel bis zum Bruchpunkt von Ausschlüssen zu bekämpfen. Er teilte sogar nicht Bordigas Einsicht ins Erfordernis, sich zu organisieren, um für seine fraktionellen Ansichten im nationalen Maßstab innerhalb der PSI zu streiten.

Es ist dann eine bemerkenswerte Tatsache, dass Harman in seinem Pamphlet über die Schwächen Gramscis und der Partei hinweggleitet und in Bezug auf die Rolle marxistischen Eingreifens im Klassenkampf sagt:

„Seine eigene Aktivität 1919 – 20 und 1924 – 26 war ein leuchtendes (obwohl natürlich nicht perfektes) Beispiel für eine solche Intervention.“ (12)

Lenin und Trotzki waren bezüglich des Versagens aller Teile der PSI viel härter. Trotzki sagte über die PSI: „Die Partei betrieb Agitation für die Sowjets, für Hammer und Sichel, für Sowjetrussland usw. Die italienische Arbeiter:innenklasse nahm dies massenhaft ernst und betrat die Straße offenen revolutionären Kampfes. Aber genau im Moment, als die Partei zu allen praktischen und politischen Schlüssen aus ihrer eigenen Agitation gekommen sein sollte, erschrak sie vor ihrer Verantwortung und lief feige weg, ließ dabei die rückwärtigen Reihen des Proletariates ungeschützt.“ (13)

Lenin war ebenso barsch: „Zeigte ein/e einzelne/r Kommunist:in, was in ihm/r steckt, als die Arbeiter:innen die Fabriken in Italien eroberten? Nein. Damals gab es als noch keinen Kommunismus in Italien.“ (14)

In der Tat urteilte Gramsci rückblickend auf sich viel härter, als Harman dies tun will. 1924 schrieb er:

„1919/20 machten wir äußerst schwere Fehler, für die wir schließlich heute zahlen. Aus Angst,  Emporkömmlinge und Karrierist;innen gerufen zu werden, bildeten wir keine Fraktion und organisierten diese überall in Italien nicht. Wir waren nicht bereit, den Turiner Räten ein autonomes Direktivzentrum zu geben, das einen riesigen Einfluss überall im Land ausgeübt haben könnte, aus Angst vor einer Spaltung in den Gewerkschaften und, vorzeitig aus der Sozialistischen Partei ausgestoßen zu werden.“ (15)

Diese  Qualität von Selbstkritik – unbedeutend, wie eng persönlich mit den Ereignissen verbunden und als wie kostspielig sich die Fehler erwiesen –, eine Güte, die allen großen Revolutionär:innen zukommt, befähigte Gramsci, sich zur Komintern zu wenden.

Die Gründung der KPI

Der Misserfolg der PSI in der revolutionären Situation in Italien 1920 zwang wenigstens die Linke in der Partei, schließlich mit der reformistischen Führung zu brechen. Die Kommunistische Partei Italiens (KPI) wurde dann im Januar 1921 in Livorno gebildet. Sie wurde in einer Periode der Ebbe im internationalen Klassenkampf geschaffen, in Italiens Fall einer Periode erstarkender Reaktion und des Wachstums des Faschismus.

Auf ihrer Gründungskonferenz hatte die KPI zwischen 40.000 und 60.000 Mitglieder. Zur Zeit von Mussolinis Marsch auf Rom (ein faschistischer Putsch) im Oktober 1922 war die Partei auf 25.000 geschrumpft. Unter der Auswirkung der ersten Runde von Unterdrückung, die folgte, sank die Mitgliedschaft auf ungefähr 5.000 Anfang 1923.

In diesen schwierigen Jahren befand sich die Führung der KPI in Konflikt mit der der Komintern, als sie versuchte, ihre Perspektiven für die frühen 1920er Jahre zu entwickeln. Zur Zeit der Formation der KPI hatte es schon zwei Kominternkongresse gegeben (1919, 1920). Die Perspektiven und die Taktiken, die auf diesen umrissen wurden, waren entworfen worden, um vollen Vorteil aus der Krise des Bürgertums in Europa und der Schwäche der Sozialdemokratie zu ziehen. Es war eine Zeit entschiedener Brüche mit dem Reformismus und der Entstehung kommunistischer Parteien, die sich auf die Machtergreifung vorbereiteten.

Um die Zeit des Gründungskongresses der KPI und Dritten Kongresses der Komintern im Juni/Juli 1921 veränderte sich die Situation. Gelegenheiten waren versäumt worden, die Bourgeoisie hatte das Schlimmste ertragen und überlebte. Sie gewann Zuversicht und ging zurück in die Offensive. Die Sozialdemokratie war trotz ihrer verräterischen Hilfe für die herrschende Klasse gestärkt worden. Eine Neueinschätzung von Perspektiven und Taktiken war wesentlich.

Diese Neubeurteilung erfolgte am klarsten um die Frage der Einheitsfronttaktik herum. Diese Taktik, von den Bolschewiki in den Jahren angewandt, die bis zur Revolution führten, wurde auf den Dritten und Vierten Kongressen der Komintern 1921 und 1922 in ein System gebracht und verallgemeinert. Eher mit Reformismus als Kommunismus in einflussreicherer Position war es wesentlich, die arbeitende Klasse von reformistischen und zentristischen Organisationen zu brechen.

Die Resolution zur Taktik auf dem Vierten Kongress stellte fest:

„Die systematisch organisierte internationale kapitalistische Offensive gegen alle Gewinne der arbeitenden Klasse ist über die Welt wie ein Wirbelwind gefegt … zwingt die arbeitende Klasse, sich zu verteidigen.

Es gibt infolgedessen ein offensichtliches Bedürfnis für die Einheitsfronttaktik. Die Losung des Dritten Kongresses – heran an die Massen! – ist jetzt relevanter denn je … Die Anwendung der Einheitsfronttaktik bedeutet, dass die kommunistische Vorhut an der vorderen Front des Tageskampfs der breiten Massen für ihre lebenswichtigsten Interessen steht. Um der Sache dieses Kampfes willen sind Kommunist:innen sogar bereit, mit den Streikbrecherfunktionär:innen der Sozialdemokratie zu verhandeln.“ (16)

Natürlich war eine erbarmungslose Kritik an den Mängeln und dem Verrat der Spitzen von reformistischen Parteien und Gewerkschaften zwingend notwendig, wenn diese gemeinsame Handlung zur Verstärkung der kommunistischen Partei führen sollte.

Die PSI lehnte diese Einstellung ab. Überdies gab es 1921 kaum einen wägbaren Unterschied zwischen der politischen Perspektive von Gramsci und der ultralinken Führung, die um Amadeo Bordiga gruppiert war. Beide widersetzten sich Versuchen, die Linie der Dritten und Vierten Kominternkongresse vollständig auszuführen, und wurden stattdessen zu den ultralinken Positionen Bucharins hingezogen, der in Trotzkis Worten:

„ … gegen die Politik der Einheitsfront und der Übergangsforderungen stritt und mit seinem mechanischen Verständnis von der Dauerhaftigkeit des revolutionären Prozesses fortfuhr.“ (17)

Im Dezember 1921 erstellte der Leitende Ausschuss der Kommunistischen Internationale (EKKI) ein Dokument, das seine Einheitsfrontpolitik gegenüber den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften umriss. Im Januar 1922 veröffentlichte die Komintern einen Aufruf an die internationale Arbeiter:innenschaft, der darauf aufbaute. Ein Monat später fand eine Versammlung des erweiterten EKKI mit anwesenden Vertreter:innen der KPI statt, um die Frage der Einheitsfront zu diskutieren, bei der die KPI-Delegierten mit ihrer Meinung in einer Minderheit waren.

Zur gleichen Zeit wie diese Ereignisse entwarfen die KPI-Führer:innen einschließlich Gramsci Thesen für den bevorstehenden Kongress der KPI in Rom. Sie wurden im Januar 1922 veröffentlicht und enthüllten, wie weit sich eigentlich die KPI von der Denkweise der Komintern entfernt befand.

Einerseits akzeptierten die „Thesen von Rom“, es gebe keinen Widerspruch zwischen:

„ … Teilnahme an den Kämpfen für eingeschränkte und begrenzte Ziele und der Vorbereitung des letztendlichen und allgemeinen revolutionären Kampfes.“ (18)

Zu diesem Zweck stimmte die KPI auch zu:

„ … am Organisationsleben in allen Formen von wirtschaftlicher Organisation des Proletariats, die offen für Arbeiter:innen aller politischen Überzeugungsrichtungen sind … (teilzunehmen), … was bedeutet, sich in die intensivsten Kampfhandlungen zu begeben und den Arbeiter:innen zu helfen, die nützlichsten Erfahrungen daraus herzuleiten.“ (19)

Aber die KPI lehnte es ab, Abmachungen für gemeinsames Handeln zwischen verschiedenen politischen Parteien trotz der Tatsache ins Auge zu fassen, dass die Mehrheit der Arbeiter:innenvorhut in Italien weiterhin der PSI die Treue hielt, wohingegen die KPI eher:

„die Forderungen (unterstützen würde), die von den linken Parteien vorgeschlagen werden … von solcher Art, die geeignet sind, ans Proletariat zu appellieren, direkt zu mobilisieren, sie auszuführen …  die kommunistische Partei wird sie als Ziele für eine Koalition aus Gewerkschaftsorganen vorschlagen und vermeiden, Ausschüsse zu bilden, um den Kampf und die Agitation zu lenken, in denen die kommunistische Partei neben anderen politischen Parteien vertreten und tätig wäre.“ (20)

Sie glaubte, nur so bliebe die KPI: „ … frei  von irgendeinem Anteil an Verantwortung für die Aktivität der Parteien, die mündlich Unterstützung für die Sache des Proletariates durch Opportunismus und mit gegenrevolutionären Absichten ausdrücken.“ (21)

Dieser Unterschied zwischen Gewerkschaft und politischen Blockgebilden war ein künstlicher, geht man von einem korrekten Verständnis der Einheitsfront aus. Ein solcher Ansatz geht davon aus, sich für beschränkte politische oder wirtschaftliche Forderungen abzumühen, wenn es breite Schichten in einem Kampf um diese Forderungen mobilisieren kann und ihre Durchsetzung ein begrenzter Gewinn für die Arbeiter:innenklasse wäre und außerdem ihre politische Unabhängigkeit und Organisation stärken und das Proletariat weiter so auf den Revolutionspfad bringen würde. Die Kommunist:innen übernehmen keine Verantwortung für den Misserfolg der Sozialist:innen weder in der wirtschaftlichen noch der politischen Sphäre.

Die Gefahr des KPI-Ansatzes ist, dass er Opportunismus in Verbindung zur gewerkschaftlichen Einheitsfront in sich birgt, nur um von einem starren Sektierertum auf politischem Gebiet aus Furcht vor den Folgen solchen Opportunismus’ für die kommunistische Partei, also mit einem anderen Fehler begleitet zu werden. Zum Beispiel gaben die römischen Thesen an:

„Kommunist:innen, die an Kämpfen in proletarischen wirtschaftlichen Körperschaften teilnehmen, die von Sozialist:innen, Syndikalist:innen oder Anarchist:innen geführt sind, werden sich nicht weigern, ihren Handlungen zu folgen, außer wenn die Massen als Ganzes in einer spontanen Bewegung dagegen rebellieren sollten.“ (22)

Es ist diese Einstellung zur Spontaneität, eingemauert in den Grundsteinen von Gramscis Politik, die das Ultralinkstum der KPI anstiftete. Jahre später gab Gramsci zu, dass solche Positionen ‚m Grunde durch Croces Philosophie inspiriert‘ wurden (23). Spontane wirtschaftliche oder Gewerkschaftskämpfe sind an und für sich gut und ihnen kann unkritisch gefolgt werden. Politische Kämpfe außer unter der Führung der KPI sind es nicht. Aber „bittere Polemiken“ und Prophezeiungen vom Verrat werden die Massen schließlich dahin führen, mit der PSI zu brechen. Das war die KPI-Methode.

Die doppelten Gefahren von Opportunismus und Sektierertum kommen eindeutig in einer Passage der Thesen durch, die die Methode der Einheitsfront ganz falsch auf die Reihe bringt:

„Sie [die KPI] kann keine Taktik mit einem gelegentlichen und vorübergehenden Kriterium vorschlagen und  damit rechnen, dass sie anschließend dazu in der Lage sein wird, im Moment, wenn so eine Taktik nicht mehr anwendbar ist, eine abrupte Kehrtwende und einen Frontwechsel auszuführen, indem sie ihre Verbündeten von gestern zu Feind:innen stempelt. Wenn man nicht wünscht, seine Verknüpfung mit den Massen und ihre Verstärkung genau in dem Moment zu kompromittieren, wenn es gerade darauf ankommt, dass diese in den Vordergrund treten, wird es notwendig sein, in öffentlichen und offiziellen Erklärungen und Haltungen eine Kontinuität von Methode und Absicht, die mit der ununterbrochenen Propaganda und der Vorbereitung für den letzten Kampf genau übereinstimmt, zu verfolgen.“ (24)

Für Lenin und Trotzki stellt das Abschließen prinzipienfester Übereinkünfte und deren Bruch, wenn die „Verbündeten“ – wegen deren Unentschlossenheit oder Verrats während der Umsetzung dieser Abmachungen – sich in „Feind:innen“ verwandeln, gerade eine „Kontinuität“ in der Methode dar, die den Weg zum „Endkampf“ vorbereitet.

Gramsci stand zu dieser KPI-Position während 1922 und des Vierten Weltkongresses und setzte seinen Block mit den Bordigist:innen auf dem Junitreffen der Erweiterten Exekutive der Komintern-Führung 1923 fort. Diese Versammlung, bei der Trotzki und Sinowjew den Vorsitz einer vereinten Exekutivdelegation führten, sah die KPI-Mehrheit (einschließlich Gramsci) und die Minderheit um Tasca ihre Unterschiede ausdebattieren. Trotzki unterstützte Tascas Minderheitsbericht, der die Bilanz der KP- Führung kritisierte.

Dieser Bericht umriss, wie die KPI den Beschluss des Vierten Kongresses, die Verschmelzung zwischen der KPI und der PSI anzustreben, durch Aufzwingen von Ultimaten blockiert hatte. Während die KPI die Öffentlichkeitsarbeit für den Fusionsaufruf gering hielt, veröffentlichte sie  einen Leitartikel, der die PSI als ,Leiche’ charakterisierte, was natürlich Vereinigungsgegner:innen in der PSI in die Hände spielte. Diese konnten den „Patriotismus“ von Arbeiter:innen ausnutzen, die eine Anhänglichkeit an ihre Partei spüren (25). Die KPI zeigte gerade, wie wenig sie die Einheitsfronttaktik Lenins und Trotzkis angenommen hatte, als sie im Mai 1923  weiter in Il Lavoratore (Der Arbeiter) schrieb:

„Wir betrachten die Taktik der Blöcke und Einheitsfront als ein Mittel, den Kampf gegen jene auf einem neuen Niveau zu verfolgen, die das Proletariat verraten … Darum haben wir sie vorgeschlagen.“ (26)

Wie Tasca und die Kominternführung über Gramsci und die KPI-Mehrheit die Schlüsse zogen:

„Die Vorstellung, die diese Genoss:innen von der Partei und ihren Verbindungen mit den Massen haben, ist vollkommen geeignet, die ,Sekten’mentalität beizubehalten, einen der ernstesten Mängel unserer Organisation.“ (27)

Gramscis Einwände

Über seine falsche Einstellung zur Spontaneität hinaus gab es andere Gründe hinter Gramscis Opposition gegen die Politik der Komintern. Auf konjunkturell-taktischer Ebene widersetzte er sich ihr, weil er fühlte, die rechte Minderheit in der KPI um Tasca, die die Kominternthesen unterstützte, würde gestärkt. Sie stellte für ihn eine liquidatorische Tendenz in der KPI dar, die nicht völlig mit der PSI-Politik gebrochen hatte und sich der notwendigen Neuorientierung auf illegale Arbeit unter den Bedingungen faschistischer Unterdrückung widersetzte. Im Juni 1923 sagte er, dass:

„Die Einstellung der Komintern und die Aktivität ihrer Vertreter:innen bringen Uneinigkeit und Korruption in die kommunistischen Reihen. Wir sind fest entschlossen, gegen die Elemente anzugehen, die unsere Partei liquidieren würden.“ (28)

Gramsci glaubte, Blockbildungen mit den Befürworter:innen der Wahlenthaltung um Bordiga trotz der Unterschiede zu ihnen seien nötig, um den verspäteten Bruch mit Reformismus und Zentrismus in der Periode 1921/22 zu vervollkommnen. Eine gewisse Bestätigung dessen findet sich in einem Brief, den er im Februar 1924 an die KPI-Chef:innen innerhalb Italiens schrieb. Er argumentierte, dass er die „Rom-Thesen“ der KPI über Taktiken guthieß:

„ … nur aus beschränkten Motiven von Parteiorganisation und sprach mich zugunsten einer Einheitsfront geradewegs bis zu ihrer normalen Konsequenz in einer Arbeiter:innenregierung aus.“ (29)

In der Tat existiert keine Aufzeichnung so einer ablehnenden Position zu dieser Zeit. Dieser Brief wurde geschrieben, nachdem Gramsci seine Position zu den Beschlüssen des Vierten Kominternkongresses verändert und sich entschieden hatte, mit Bordiga zu brechen. Wenn wahr, wäre eine prinzipienlose Position bezogen worden und eine, die nur dazu diente, die Kristallisation einer wirklich bolschewistischen KPI weiterhin unglückselig aufzuschieben.

Aber es gibt einen weit tieferen Grund für Gramscis unversöhnliche Einstellung zur Politik von Lenin und Trotzki in diesen Jahren. Sie beruhte auf einer Vorstellung unterschiedlicher Strategien für „Ost“ und „West“ in Europa. Nur wenn wir diese Vorstellung Gramscis verstehen, können wir begreifen, wie und warum er seine Einstellung zu den Beschlüssen des Vierten Kongresses ändern sollte, ohne zur gleichen Zeit seine falsche politische Methodik zu korrigieren.

Die Idee von „Ost“ und „West“ war weniger eine Frage der Geographie und mehr eine Sache politischer Ökonomie. Für Gramsci bestand der „Osten“ aus der „rückständigen“ kapitalistischen Welt, wohingegen der „Westen“ die fortgeschrittene Welt Westeuropas war. Diese Trennungslinie war für Gramscis Opposition zur Komintern wesentlich. Er schrieb:

„In Deutschland stützt sich die Bewegung, die zur Einsetzung einer sozialdemokratischen Regierung tendiert, auf die Massen der Arbeiter:innenklasse; aber die Taktik der Einheitsfront hat keinen Wert außer für Industrieländer, wo die rückständigen Arbeiter:innen hoffen können, eine Verteidigungsanstrengung durch das Erobern einer parlamentarischen Mehrheit fortsetzen zu können. Hier [in Italien] ist die Situation anders … Wenn wir die Parole einer Arbeiter:innenregierung aufstellten und umzusetzen versuchten, würden wir zur sozialistischen Zweideutigkeit zurückkommen, als die Partei zu Inaktivität verdammt wurde, weil sie sich nicht entscheiden konnte, einzig und allein eine Partei von Arbeiter:innen zu sein oder einzig und allein eine Partei von Bauern/Bäuerinnen … Die Gewerkschaftsfront hat dazu im Gegensatz ein Ziel, das von primärer Wichtigkeit für den politischen Kampf in Italien ist …

Wenn man von einer politischen Einheitsfront spricht und daher von einer Arbeiter:innenregierung, muss man darunter eine ,Einheitsfront’ zwischen Parteien verstehen, deren gesellschaftliche Basis nur aus Industrie- und Landarbeiter:innen besteht, und nicht aus Bauern/Bäuerinnen … 

In Italien existieren nicht wie in Deutschland ausschließlich Arbeiter:innenparteien, zwischen denen eine politische Einheitsfront auch denkbar ist. In Italien ist die einzige Partei mit solchem Charakter die kommunistische Partei.“ (30)

Nachdem er mit Bordiga gebrochen hatte, beschrieb Gramsci Bordigas Ablehnung solcher Taktiken und begründete dies so:

„Weil die Arbeiter:innenklasse in der italienischen arbeitenden Bevölkerung in einer Minderheit ist, gibt es eine dauernde Gefahr, dass ihre Partei vom Eindringen anderer Klassen verdorben wird, insbesondere vom Kleinbürgertum.“ (31)

An erster Stelle war diese Sicht gründlich uneins mit dem Konzept eines internationalen Programms, Perspektiven und Taktiken. Die Einheitsfront ist eine Taktik, konzipiert, um die Einheit der arbeitenden Klasse in einem Ringen gegen die Bosse und ihren Staat zu maximieren. Aber die Arbeiter:innenklasse findet sich mit diesen Aufgaben weltweit konfrontiert, wo immer sie existiert. Der internationale Charakter dieser Schlachten bedeutet, dass die Taktik nicht entweder auf „Ost“ oder „West“ begrenzt werden kann.

In der Tat, in jenen Ländern, wo die Bauern-/Bäuerinnenschaft eine große Klasse ist und der Imperialismus die Probleme von Landhunger vervielfacht hat – so wie in Italien –, findet die „politische“ Einheitsfront häufiger Anwendung. Dies ist so, weil sie als kleinbürgerliche Schicht Parteien außerhalb der kommunistischen oder sozialistischen Parteien hervorbringt, mit denen es im Anrennen gegen das vereinigte Lager aus Industriekapital und Großgrundbesitz möglich ist, Blöcke einzugehen. Das war der Fall in Italien.

Eine solche Möglichkeit lag dem Block der Bolschewiki mit den Linken Sozialrevolutionären nach Oktober 1917 zugrunde. Die Tatsache, dass in Italien PSI und KPI weniger gut in der Bauern-/Bäuerinnenschaft Süditaliens verankert waren, als sie hätten sein sollen, hat nur geheißen, dass die Taktik der Einheitsfront mehr und nicht weniger dringlich war.

Eine Positionsänderung?

Im Verlaufe von 1923/24 hatte die Kominternführung einen gewissen Erfolg damit, einen Keil zwischen Gramsci und Bordiga zu treiben. Obwohl sie einen Block innerhalb der KPI bildeten, war deren Politik nie gleich. Die Unterschiede in ihrer Haltung zu den Fabrikräten 1920 waren symptomatisch. Die Politik von Passivität und Enthaltung war Kennzeichen Bordigas. Worin auch immer sein Ultralinkstum bestand, dies war Gramsci total fremd, der die Notwendigkeit sah, über passiven Propagandismus hinauszugehen, der wesentliche Wahrheiten bloß feststellte und auf den für ihn unvermeidlichen Prozess an Enttäuschung unter den Arbeiter:innen zum Nutzen der KPI wartete. Nach dem Vierten Weltkongress 1922 wurde Bordiga immer kompromissloser und nach innen orientiert. Bordigas Fraktion lehnte es ab, in den leitenden Ausschüssen der KPI wegen ihrer Divergenzen mit der Komintern zu arbeiten. Gramsci spürte, dass dies dazu führen musste, die KPI in die Hände der Minderheit um Tasca auszuliefern, der, wie Gramsci merkte, Opportunist gegenüber den Gewerkschaftsbonzen war.

Ereignisse in Italien überzeugten auch Gramsci, dass Passivität die KPI daran hinderte, in der Krise des faschistischen Regimes einzuschreiten. Im Frühling 1923 brachen wichtige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Volkspartei aus, die bisher Mussolinis Herrschaft fest unterstützt hatte. Bedeutende Unzufriedenheit mit dieser Unterstützung begann sich sowohl in der Volkspartei (welche eine große Bauern./Bäuerinnengefolgschaft aufwies) wie zunehmend innerhalb der städtischen republikanischen Kleinbourgeoisie im Verlaufe von 1923 und 1924 zu regen. Die KPI brauchte Taktiken, zugeschnitten auf diese Unzufriedenheit und so angelegt, dass sie die republikanische Bourgeoisie und Sozialdemokratie daran hindern würden, die Nutznießerinnen der Krise zu sein.

Also kam Gramsci gegen Ende 1923 zur Auffassung, dass es unmöglich sei, irgendwelche Zugeständnisse an Bordiga zu machen. Ein vollständiger Bruch mit ihm und die Schaffung einer neuen Führung des „Zentrums“ war wesentlich, wenn die Partei sich der Massenarbeit widmen und den antifaschistischen Widerstand lenken wollte.

Zusammen genommen trieben diese Überlegungen Gramsci hin zur Komintern. Im September 1923 gab er seinen Widerstand gegen die „politische“ Einheitsfront in Italien auf und drängte die KPI, den Aufruf für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung in Italien anzunehmen. Für all diese Absichten und  Zwecke hatte Gramsci sich mit den Positionen von Lenin und Trotzki versöhnt. Im Januar 1924 schrieb er: „Ich glaube absolut nicht, dass die Taktiken, die vom erweiterten EKKI-Plenum und dem Vierten Kongress entwickelt worden sind, sich irren.“ (32)

Er betonte in diesem Brief an Scoccimarro, eine Auseinandersetzung für die Umorientierung der KPI anfachen zu wollen. Dabei würde er: „ … Doktrin und Taktiken der Komintern als Basis für ein Aktionsprogramm für zukünftige Aktivitäten annehmen.“ (33)

Gramsci artikulierte seinen Positionswechsel in einer Art, die mit den Argumenten Lenins und Trotzkis identisch war. In einem Brief an Togliatti, im Februar 1924 aus Wien geschrieben, äußerte er, dass er Bordiga nicht mehr zur Einheitsfront beipflichten könne:

„Erstens, weil das politische Konzept der russischen Kommunist:innen auf internationalem und nicht einem nationalen Terrain geformt wurde. Zweitens, weil in Mittel- und Westeuropa die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur die Bildung breiter proletarischer Schichten geprägt hat, sondern auch – und als eine Konsequenz – die höheren Schichten, die Arbeiter:innenaristokratie, mit ihren Anhängseln in der Gewerkschaftsbürokratie und den sozialdemokratischen Gruppen. Die Entschlossenheit, die in Russland greifbar war und die Massen auf die Straßen zu einem revolutionären Aufstand trieb, wird in Mittel- und Westeuropa von allen diese politischen Überbauten kompliziert, die durch die weitere Entwicklung des Kapitalismus erzeugt wurden. Dies macht die Handlung der Massen langsamer und umsichtiger und erfordert deshalb von der revolutionären Partei eine Strategie und komplexere und längerfristige Taktiken als diejenigen, die in der Periode zwischen März und November 1917 für die Bolschewisten notwendig waren.“ (34)

Dies war ein echter Schritt vorwärts für Gramsci und ein wichtiger Bruch mit der Methodik und theoretischen Rechtfertigung für seine vorausgegangene Position.

Vorher hatte Gramsci analysiert, dass Italien Teil des „Ostens“ war, in dem die Einheitsfront ungültig sei. Nun jedoch übergibt er Italien nicht einfach nur dem „Westen“, sondern vielmehr und viel wichtiger stellt er fest, dass die Taktik internationale Relevanz hat. Die Möglichkeit, ultralinke Züge im „Osten“ und Opportunismus im „Westen“ zu vermeiden, hat zumindest eine Änderung der Analyse zur Vorbedingung.

Aber die praktischen Folgen dieser Änderung für die KPI 1924 waren weniger klar zu sehen. Im Januar 1924 schlug die KPI den anderen Arbeiter:innenparteien einen Wahlblock für die Wahlen im April 1924 vor. Aber die Bedingungen dieses Paktes wurden so frisiert, um auf Ablehnung zu stoßen. Togliatti – der die Partei in Italien in Gramscis Abwesenheit leitete – schrieb an die Kominternexekutive über den Grundstock für die Propaganda dieses Paktes:

„Der Faschismus hatte eine Periode der permanenten Revolution für das Proletariat eröffnet, und eine proletarische Partei, die diesen Punkt vergisst und hilft, die Illusion unter den Arbeiter:innen zu nähren, es sei möglich, die gegenwärtige Situation zu verändern, während man auf dem Gebiet der liberalen und verfassungsmäßigen Opposition verbleibt, wird in letzter Analyse den Feind:innen der italienischen Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft Unterstützung geben.“ (35)

Als praktizierende Reformist:innen und Verfassungsanhänger:innen wurden die Mitglieder der PSI aufgefordert, ihre Daseinsberechtigung aufzugeben, um Teil des Blocks zu sein. Das konnte natürlich kaum von ihnen erwartet werden.

Gerade als er mit dem Ultimatismus Bordigas brach, (Ablehnung der Einheitsfront aus Prinzip) traten Ereignisse in der Kominternführung ein, die es verhinderten, dass Gramsci  seinen Weg zu den Positionen von Lenin und Trotzki vollendete. Darin liegt Gramscis Tragik.

Der Aufstieg des Stalinismus

Veränderungen innerhalb der Komintern am Ende von 1923 und ihre Rückwirkungen in der russischen Partei sollten Gramscis positive Entwicklung beschneiden. Es war die Niederlage der deutschen Revolution im Oktober 1923, welche dem Stalinismus Auftrieb verlieh. Trotzki war der Meinung, dass mit dieser Niederlage der Kapitalismus für sich eine Periode verhältnismäßiger wirtschaftlicher und politischer Stabilisierung gesichert hatte. Diese unvorteilhafte Verschiebung im internationalen Gleichgewicht von Klassenkräften forderte von der Komintern und ihren Sektionen die Erkenntnis, dass beträchtliche vorbereitende Arbeit gebraucht wurde, um die Massen wieder zu gewinnen. Er legte deshalb die Betonung fest auf die Einheitsfronttaktik.

Andererseits weigerten sich Sinowjew und Stalin zuzugeben, dass die revolutionäre Bewegung eine schwere Niederlage erlitten hatte. Im Gegenteil bestanden sie darauf, dass die Komintern besonders in Deutschland mit einer nahe bevorstehenden revolutionären Situation konfrontiert war.

Im Juni 1924 verlieh der Fünfte Kominternkongress dieser ultralinken Sicht Rückhalt. Im gleichen Monat nahm Stalin die Feder in die Hand, um Trotzkis Auffassung zu bestreiten, die bürgerliche Stabilisierung zeige sich auch in einer Stärkung der Sozialdemokratie in Europa. Stalin lehnte dieses ab und behauptete, die Sozialdemokratie sei eine Form des Faschismus:

„Es wäre deshalb ein Fehler zu denken, dass ,Pazifismus’ die Auslöschung des Faschismus bedeutet. In der gegenwärtigen Situation ist der ,Pazifismus’ die Kräftigung des Faschismus durch seinen gemäßigten, sozialdemokratischen Flügel, der in den Vordergrund geschoben wird.“ (36)

„Und da Faschismus und Sozialdemokratie einander nicht verneinen, sondern ergänzen, sind sie keine Gegenpole, sie sind Zwillinge“. (37) Eine Einheitsfront mit den Spitzen solcher Parteien kam deshalb nicht in Frage. Sie schlossen die Anwendung der Einheitsfronttaktik außer „von unten“ aus, ohne die Häupter der reformistischen und zentristischen Gewerkschaften und politischen Parteien. Der Fünfte Kongress erklärte:

„Die Taktiken der Einheitsfront von unten sind die wichtigsten, das bedeutet: eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die für Kommunist:innen, sozialdemokratische und parteilose Arbeiter:innen in Fabrik, Betriebsrat, Gewerkschaft gilt.“ (38)

In Kürze war es wenig mehr als ein an die Arbeiter:innenmitgliedschaft in diesen Organisationen gestelltes Ultimatum, ihre Parteien bedingungslos zu verlassen. Weil diese Arbeiter:innen an ihre Vorstände glaubten, konnte es von ihnen nur als ein Trick betrachtet werden. Dieses Einheitsfrontdiktat konnte in der Tat nur helfen, die Sozialdemokratie zu stärken, statt sie zu schwächen.

Gerade als Gramsci die unbestrittene Führung der KPI erlangt hatte und sich in Richtung der Positionen des Vierten Kominternkongresses bewegte, machte sich die Komintern praktisch auf, Gramscis eigenes Ultralinkstum einzuholen. Während des Herbstes 1924 – Gramsci war zurück in Italien – startete die KPI eine Kampagne für Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenausschüsse und den Bauern-/Bäuerinnenverteidigungsverband, den die KPI organisierte. Er wurde dem sozialistisch gesteuerten Bauern-/Bäuerinnengewerkschaftsverband entgegengesetzt.

Außerdem stellte die KPI während 1924 und 1925 Agitationskomitees Proletarischer Einheit auf, unter ihrer Führung, aber in offenem Konflikt mit den Gewerkschaften des Allgemeinen Arbeiter:innenverbands (CGL). Während Gramsci die Anwendbarkeit der Einheitsfront für Italien befürwortete, wurde sie in der Form des Fünften Kominternkongresses ausgeführt. Zwar bewegte er sich im Prinzip weg von Bordigas Ablehnung der Einheitsfront, steuerte aber zugleich auf einen Standpunkt der Einheitsfront von unten zu.

In der Tat sind die Beschlüsse des Fünften Kongresses zu Taktiken und Perspektiven für ein Verständnis von Gramscis Werdegang von 1924 bis zu den Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern entscheidend. Während Ultralinkstum seit der deutschen Niederlage Einfluss erlangt hatte, wurden die Perspektiven vor dem Kongress abgemildert, nicht zuletzt wenigstens, weil Trotzki gegen sie stritt. In Teil 13 der „Thesen zur Taktik“ mit der Überschrift  „Zwei Perspektiven“ umriss Sinowjew alternative Entwicklungsmöglichkeiten:

„Die Epoche internationaler Revolution hat begonnen. Der Entwicklungsgrad als Ganzes oder teilweise, die Entwicklungsrate revolutionärer Ereignisse auf irgendeinem besonderen Kontinent oder in irgendeinem besonderen Land können nicht mit Genauigkeit vorausgesagt werden. Die ganze Situation ist so, dass zwei Perspektiven offenstehen: (a) eine mögliche langsame und anhaltende Entwicklung der proletarischen Revolution und (b) andererseits, dass der Boden unterm Kapitalismus in so einem Ausmaß vermint ist und sich die Widersprüche im Kapitalismus als ein Ganzes so schnell entwickelt haben, dass die Lösung in einem Land oder einem weiteren vielleicht in nicht so entfernter Zukunft kommt.“ (39)

Dies war eine sehr vage und flexible Perspektive. Auf der einen Seite gab sie dem damals machtvollen Ultralinkstum Raum und doch konnte sie auch dazu herhalten, wenn notwendig, eine rechtsopportunistische Wende zu rechtfertigen. Natürlich kehrte sich Mitte 1925 die Politik um. Auf dem Sechsten Plenum des EKKI Anfang 1926 nutzte Sinowjew den Beschluss des Fünften Kongresses, sie zu verteidigen.

Die rechtszentristische Kehrtwende von 1925 gründete auf einer verspäteten Anerkennung, dass Stabilität in Europa eingetreten war. Angesichts dessen und des stalinistischen Konzepts, der Sozialismus könne in der Sowjetunion aufgebaut werden, falls Eingriffe von außerhalb verhindert werden konnten, fing die Kominternleitung die Suche nach Bündnissen in den europäischen Ländern an, die helfen könnten, solche Übergriffe zu verhindern. In Britannien wurde das Anglo-Russische Komitee 1925 zwischen den russischen und britischen Gewerkschaften mit diesem Hintergedanken etabliert.

Wie wirkte sich dieser Rechtsschwenk auf Gramscis Verständnis der Einheitsfront aus? Auf einer Ebene vermochte Gramsci das Problem von Strategie und Taktiken auf formell korrekte Art zu formulieren. So warf Gramsci das Problem in den „Lyon-Thesen“ für den Dritten KPI-Kongress im Januar 1926 auf folgende Weise auf:

„Die Taktik der Einheitsfront, als politische Aktivität (Manöver) gestaltet, um sogenannte proletarische und revolutionäre Parteien und Gruppen zu demaskieren, die eine Massenbasis haben, hängt eng mit dem Problem zusammen, wie die kommunistische Partei die Massen führen und wie sie eine Mehrheit gewinnen sollte. In der Form, in der sie von den Weltkongressen definiert worden ist, ist sie in allen Fällen anwendbar, in denen wegen der Massenunterstützung für gegnerischen Gruppen eine frontale Auseinandersetzung mit ihnen nicht genügt, uns schnelle und weitreichende Ergebnisse zu liefern … In Italien muss die Einheitsfronttaktik weiterhin von der Partei insoweit gebraucht werden, als sie noch weit weg davon ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Mehrheit der Lohnarbeiter:innenschaft und die werktätige Bevölkerung gewonnen zu haben.“ (40)

In einer Beziehung ist diese Stellungnahme korrekt und eine Wiederholung der Erklärung von Anfang 1924. Aber zusammen mit anderen Schriften Gramscis 1926 betrachtet kann man den Einfluss des rechtszentristischen Kurses in der Komintern entdecken, den wir verstärkt in den Gefängnisnotizbüchern vorfinden. In einem Bericht an die Parteiexekutive vom August 1926 zur italienischen Situation zeichnete Gramsci einmal wieder einen Unterschied zwischen „fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern“ (England und Deutschland) und „peripheren Staaten“ wie Italien. In der ersten Gruppe „besitzt die herrschende Klasse politische und organisatorische Reserven“. Das bedeutet, dass ¡sogar die schlimmsten Wirtschaftskrisen keine unmittelbaren Rückwirkungen auf die politische Sphäre haben“, weil der „Staatsapparat weit immuner ist, als oft geglaubt werden kann.“ (41)

In Ländern wie Italien „sind die Staatsmächte weniger tüchtig“. Aber Gramsci sagt nicht weiter, wie in der Auseinandersetzung mit Bordiga in den frühen 1920er Jahren, dass die Einheitsfront nur im ersten Fall anwendbar ist, aber nicht im zweiten. Im Gegenteil behält er bei, dass die Taktik in beiden Fällen einsetzbar ist.

Der Zweck, diese Unterscheidung zu machen, ist ein anderer. In den „peripheren Staaten“ gibt es zwischen Proletariat und Bourgeoisie viele dazwischenliegende Klassen. Diese Klassen im Europa Mitte der 1920er Jahre werden in so einem Ausmaß radikalisiert, dass die verschiedenen Aufgaben von Partei und Klasse jene „zwischen der politischen und technischen Vorbereitung der Revolution sind“. In Italien zu dieser Zeit bedeutete das eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die auf einer Perspektive vom nahe bevorstehenden Abgang Mussolinis aufgebaut war. In den fortgeschrittenen Ländern aber ‚besteht das Problem noch in „politischer Vorbereitung“.

Die Darlegung dieser Unterscheidung ist keine müßige Sache für Gramsci, denn in jedem Fall will er ein „wesentliches Problem“ anpacken, nämlich:

„ … das Problem vom Übergang von der Einheitsfronttaktik, verstanden in einem allgemeinen Sinn, zu einer bestimmten Taktik, die die konkreten Probleme nationalen Lebens angeht und auf der Basis der Volkskräfte operiert, wie sie geschichtlich geformt sind.“ (42)

Im Fall von England argumentiert Gramsci, die Gewerkschaften seien die konkrete Form, in der die „Volkskräfte“ agierten. An diesem Punkt bemerken wir die rechtszentristische Auslegung, die Gramsci der Einheitsfront verlieh, wo lange politische Vorbereitung notwendig ist. Trotz der Erfahrung mit dem Verrat des Generalstreiks von 1926, einschließlich durch die Linken im TUC, glaubte Gramsci, dass:

„der Anglo-Russische Ausschuss beibehalten werden sollte, weil es das beste Terrain ist, um nicht nur die englische Gewerkschaftswelt zu revolutionieren, sondern auch die Amsterdamer Gewerkschaften. Bei nur einem Ereignis sollte dort ein Bruch zwischen den Kommunist:innen und der englischen Linken stattfinden: wenn England am Vorabend der proletarischen Revolution steht und unsere Partei stark genug isti, den Aufstand allein zu führen.“ (43)

Dies stand in scharfem Kontrast zur revolutionären Einschätzung von der Rolle des Anglo-Russischen Gewerkschaftskomitees, wie von Trotzki nach dem Generalstreik ausgedrückt:

„ … die Politbüromehrheit hat eine grundlegend falsche Politik in der Frage des Anglo-Russischen Ausschusses verfolgt. Der Punkt, an dem die arbeitenden Massen Britanniens die größte gegnerische Macht zum Generalrat (des britischen Gewerkschaftsbundes TUC; Red.) ausübten, war, als der Generalstreik gebrochen wurde. Was notwendig war, war, Schritt mit den aktivsten Kräften des britischen Proletariates zu halten und in diesem Moment mit dem Generalrat als Verräter des Generalstreiks zu brechen … ohne dieses droht der Kampf für die Massen immer, sich in einen opportunistischen Kotau vor der Spontaneität zu verwandeln … Die Linie der Politbüromehrheit in der Frage des Anglo-Russischen Komitees war eindeutig ein Verstoß in Hinsicht auf den revolutionären Gehalt der Einheitsfrontpolitik.“ (44)

Auf Gramscis Seite ist all dies eine Abkehr weg von der internationalen Anwendung der Einheitsfront, für die er zu Beginn 1924 eintrat, und zurück zu einem unterschiedlichen Gebrauch, der schließlich auf der falschen Trennung zwischen „Ost“ und „West“ beruht. So wie er sich mit England auseinandersetzt, fällt er zur gleichen Zeit auf eine rechte, opportunistische Variante dieser Taktik zurück. Gramsci nutzte gewissermaßen die Positionen des Fünften Kongresses für seine eigenen doppelten Perspektiven für „Ost“ und „West“ aus. Seine Haltung zum Anglo-Russischen Ausschuss ist ein konkreter Ausdruck von Sinowjews Perspektive der „langsamen und anhaltenden Entwicklung der proletarischen Revolution“.

Dennoch gab es einen beträchtlichen Abstand zwischen Gramscis strategischen und taktischen Rezepten und denjenigen, die in der Komintern unter Stalin im Einsatz waren. Es war genau 1926, als Stalin darauf bestand, dass in China die kommunistische Partei sich in die Kuomintang auflöst, und unter der Losung der „demokratische(n) Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ die leninistische Position zur anführenden und lenkenden Rolle des Proletariats verließ.

Gramsci erkannte auf dem Lyoner Kongress im Januar 1926, dass:

„das Proletariat sich abmühen muss, die Bauern/Bäuerinnen dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und sie unter seine eigene politische Leitung stellen muss.“ (45)

Angesichts dessen, dass sich die schwache italienische Bourgeoisie für ihre Macht auf die Bauern./Bäuerinnenschaft stützte, bestand Gramsci für die KPI darauf, diese Frage sei „der zentrale Punkt der politischen Probleme, die die Partei in unmittelbarer Zukunft lösen muss“. (46)

Er erkannte, dass die Losung der „Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung“ ein Weg sei, um das Bauern-/Bäuerinnentum hinter die Lohnarbeiter:innenschaft zu ziehen, „das Mittel, sie auf den Boden der fortgeschrittenen proletarischen Vorhut zu transportieren (Kampf für die Diktatur des Proletariates).“ (47)

Anders als Stalin fand er nicht, das Regierungsbündnis zwischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen sei eine unterscheidbare Etappe, getrennt zum und vorausgehend dem Kampf für Sozialismus, sondern Gramsci argumentierte:

„ … die Partei kann  sich nicht eine Verwirklichung dieses Schlachtziels außer als Anfang eines direkten revolutionären Kampfes vorstellen: eines Bürgerkriegs, der vom Proletariat im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft mit dem Ziel geführt wird, die Macht zu erheischen. Die Partei könnte in ernste Abweichungen von ihrer Aufgabe als Kopf der Revolution geführt werden, wenn sie die Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung so interpretieren sollte, als entspreche sie einer wirklichen Phase in der Entwicklung des Ringens um die Macht: mit anderen Worten, wenn sie es so einschätzt, dass mit dieser Parole die Möglichkeit gegeben sei, das Problem des Staates im Interesse der Lohnabhängigen auf irgendeine andere Weise zu lösen als durch die Diktatur des Proletariats“. (48)

Gramscis Formulierungen zeigen bis zu seiner Inhaftierung einen Schwenk in Richtung Ultralinkstum.

Gefangene Gedanken

Gramcis Nachdenken über Probleme von Strategie und Taktik in den Gefängnisnotizbüchern setzt seinen Bruch mit ultralinken Einstellungen fort. Aber an seiner Stelle entwickelte er die Vorstellung weiter, die dem rechtszentristischen Kurswechsel von 1925 – 27 ihren Ursprung verdankt. Der letztendliche Triumph des Faschismus 1926 bewog Gramsci, seine Anschauungen über die Stabilität und Stärke von bürgerlichem Regime im Westen einschließlich Italiens neu zu bewerten. In den Gefängnisnotizbüchern stellt er fest:

„Es scheint mir, dass Iljitsch [Lenin] die Notwendigkeit eines Wandels vom Manöverkrieg, der siegreich im Osten 1917 angewandt wurde, zu einem Stellungskrieg verstand, der die einzig mögliche Form im Westen war – wenn, wie Krasnow bemerkt, Armeen endlose Mengen von Nachschub schnell ansammeln und wo die gesellschaftlichen Strukturen noch von sich aus zu schwer bewaffneten Befestigungen werden konnten. Dies scheint mir die Bedeutung der Formel von der ,Einheitsfront’ zu sein, und sie entspricht dem Konzept einer einheitlichen Front für die Entente unter dem alleinigen Befehl von Foch (französischer Oberbefehlshaber).“ (49)

Hier hat Gramsci die Idee der Einheitsfront als Kriegsmanöver von 1928 aufgegeben und verwandelte sie in einen Stellungskrieg im Westen; d. h., er hat die Einheitsfront in eine langfristige Strategie verwandelt, durch welche Partei und Klasse erfolgreich Stützpunkte in der Gesellschaft erobern und dadurch allmählich den Staat umzingeln und belagern können. Dies ist die Antithese zur revolutionären Nutzung der Einheitsfront, wie in der Komintern unter der Führung von Lenin und Trotzki ausgearbeitet und praktiziert.

Zu ein und der gleichen Zeit skizziert Gramsci in den Gefängnisnotizen eine vereinfachte, einseitige Sicht der russischen Revolution mit seinem absurden Hinweis, die Einheitsfront habe im bolschewistischen taktischen Arsenal gefehlt und Lenin hätte einen ununterbrochenen „revolutionären Angriff“ gegen einen unbefestigten zaristischen Staat geführt. Doch andererseits hält er eine zu opportunistische strategische Sichtweise im Westen aufrecht, die eine nahtlose Einheitsfront aus Kommunist:innen und Reformist:innen (und sogar liberalen/bürgerlich-demokratischen Kräften) regelrecht bis zur Machtergreifung in Aktion sieht. Gramsci scheint sich nicht bewusst zu sein, dass sich Zwecke und Mittel in dieser Betrachtung widersprechen. Die Machteroberung hängt vom zunehmenden Einfluss der kommunistischen Partei ab, und der kann im Gegenzug nur auf Kosten von und im Kampf gegen Reformist:innen und Zentrist:innen erzielt werden. Dies kann nur geschehen, wenn gemeinsame Fronten für bestimmte begrenzte Handlungen mit rücksichtsloser Kritik an den Beschränktheiten der Bündnispartner:innen im Kampf kombiniert werden und deren Halbherzigkeit und Schwankungen zusammen mit den Beschränkungen ihrer eigenen Rezepte enthüllen.

Lief all dies bereits auf Reformismus hinaus, worauf die Eurostalinist:innen beharren? Nicht ein bisschen! Gramsci hat vielleicht eine Taktik in eine Strategie verwandelt, aber dies ist nicht das Gleiche wie das Verdrehen von Revolution in Reform. Zum Teil war Gramscis rechtszentristische Vorstellung in den Gefängnisnotizbüchern eine undialektische Antwort auf die Konfrontationsstellung, die er zur ultralinken Wende Stalins 1928/29 beibehielt, als er anfing, seine Notizbücher zu schreiben. Es ist eher eine bucharinistische rechte Kritik an der Dritten Periode, die wir in Gramscis Notizbüchern finden. Dies betont die Distanz zwischen ihm und Trotzki, aber es dient auch dazu, die Kluft zu verdeutlichen, die Gramsci von Stalin scheidet.

Diese Lücke wird offensichtlicher durch die Berichte von Diskussionen mit einem Mithäftling, Athos Lisa, von 1930. Beauftragt und dann unterschlagen von Togliatti, unterstreichen sie, dass Gramsci sich der Dritten Periode widersetzte, dem Rauswurf von Oppositionellen aus der KPI nicht zustimmen konnte, und dass er seinen Glauben an die Notwendigkeit eines Aufstands behielt:

„Die gewaltsame Machteroberung erfordert die Schaffung einer Organisation militärischen Typus‘ durch die Partei der Arbeiter:innenklasse, die in jeden Zweig der bürgerlichen Staatsmaschinerie durchdringend eingeimpft wird und fähig ist, ihr im entscheidenden Kampfmoment Wunden und ernste Schläge zuzufügen.“ (50)

Gramsci sollte 1935, im Jahr des definitiven Übergangs der stalinistischen Komintern von bürokratischem Zentrismus zu Gegenrevolution und Reformismus, zum Schreiben nicht mehr gesund genug sein. Die Unterschrift unter den Stalin-Laval-Pakt in diesem Jahr gab grünes Licht für die französischen Stalinist:innen, sich dem Patriotismus mit voller Unterstützung des Kreml an den Hals zu werfen. Es gibt nichts in Gramscis Leben oder Arbeit, das heutigen Eurostalinist:innen erlauben würde, Gramsci in den Schutzheiligen der Volksfront zu verwandeln.

Ganz im Gegenteil. In ein paar bemerkenswerten Abschnitten von 1926 polemisiert Gramsci ausdrücklich gegen eine Volksfront, die den Faschismus besiegen soll, auf eine Weise, die die entschuldigenden Argumente Togliattis, die er fast zehn Jahren später für die stalinistische Politik im spanischen Bürgerkrieg gebraucht hat, vorwegnimmt. Er bestreitet die Einlassungen der Bourgeoisie, die: „ … ein Interesse daran hegt, zu behaupten, Faschismus sei ein vordemokratisches Regime: dieser Faschismus wird auf eine beginnende und noch rückständige Phase des Kapitalismus verwiesen.“ (51)

Dies führt zur Ansicht:

„Wenn nicht ein wirklicher bürgerlich-proletarischer Block für die verfassungsmäßige Beseitigung des Faschismus, wäre das beste taktische Ziel wenigstens eine Passivität der revolutionären Vorhut, eine Nichteinmischung der kommunistischen Partei in den unmittelbaren politischen Kampf, was der Bourgeoisie so gestattet, das Proletariat als Wahltruppe gegen den Faschismus zu benutzen.“ (52)

Wohingegen:

„Für uns Kommunist:innen ist das faschistische Regime Ausdruck der entwickeltsten Etappe kapitalistischer Gesellschaft. Es dient genau dazu zu demonstrieren, wie alle Eroberungen und alle Institutionen, die die werktätigen Klassen erfolgreich realisieren … zur Vernichtung verdammt sind, wenn in einem gegebenen Moment die Arbeiter:innenklasse nicht die staatliche Macht mit revolutionären Mitteln an sich reißt.“ (53)

„Permanente Revolution“ oder „Sozialismus in einem Land“?

Es gibt noch einen Weg, Gramscis Werdegang zu beurteilen: Was war seine Einstellung zur theoretischen Untermauerung des Zentrismus in der Komintern – „Sozialismus in einem Land“ – und zu seiner revolutionären Kritik – „permanente Revolution“?

Seine Kapitel in den Gefängnisnotizen zu diesen Fragen geben den Argumenten keine Nahrung, die wie Perry Anderson eine Ähnlichkeit zwischen den Positionen Gramscis und Trotzkis in ihren jeweiligen Kritiken am Ultralinkskurs Stalins nach 1928 sehen.

Die Wahrheit ist, dass Gramsci von Mitte 1924 an ein heftiger Kritiker von Trotzkis Theorie ist. Der letzte wohlwollende Hinweis auf Trotzki kommt bei Gramsci im Februar 1924 vor. Er verfolgt die Angriffe der Opposition auf die Bürokratie in der UdSSR mit Sympathie und sagt weiter:

„Es ist gut bekannt, dass Trotzki schon 1905 dachte, eine sozialistische und Arbeiter:innenrevolution könne in Russland stattfinden, während die Bolschewiki nur anstrebten, eine politische Diktatur des Proletariats im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft zu schaffen, die als ein Rahmen für die Entwicklung des Kapitalismus dienen würde, der nicht in seinen ökonomischen Fundamenten berührt werden würde. Es ist wohlbekannt, dass Lenin im November 1917 … und die Mehrheit der Partei sich Trotzkis Sicht angeschlossen hatten und beabsichtigten, nicht bloß die politische Macht zu übernehmen, sondern auch die wirtschaftliche.“ (54)

Doch innerhalb von sechs Monaten, um die Zeit des Fünften Weltkongresses, hatte Gramsci diesen Standpunkt verlassen und war zur Fraktion der Stalin/Sinowjew/Kamenew-Troika übergelaufen. Der unmittelbare Antrieb dazu ist Gramscis Einstellung zu fraktioneller Aktivität:

„Trotzkis Vorstellungen … stellen eine Gefahr dar, wenn die Einheit der Partei in einem Land fehlt, in dem es nur eine Partei gibt, dies Risse im Staat erzeugt. Dies produziert eine konterrevolutionäre Bewegung; es bedeutet aber nicht, dass Trotzki ein Gegenrevolutionär ist, denn in diesem Fall würden wir für seinen Ausschluss plädieren.

Schließlich sollten aus der Trotzkifrage Lehren für unsere Partei gezogen werden. Vor den letzten disziplinarischen Maßnahmen war Trotzki in der gleichen Position wie Bordiga gegenwärtig in unserer Partei.“ (55)

Dieser tragische Fehler, nämlich eine rechtsopportunistische Gleichsetzung des Marxismus mit Ultralinkstum, wird wiederholt und oft in den Gefängnisnotizbüchern verstärkt. In der Hitze seines eigenen Bruches 1924 mit Bordiga war er nur zu willig, die Mehrheit in der KPdSU in der Bolschewisierungskampagne zu unterstützen, die auf dem Fünften Kongress lanciert wurde. Dies war in der Tat der erste Schritt zur Erdrosselung des innerparteilichen Lebens in den kommunistischen Parteien und führte Gramsci zum Widerstand gegen alle Fraktionstätigkeit.

Während Gramsci bis Oktober 1926 noch bereit war, sich für disziplinarische Nachsicht in Hinsicht auf die Vereinte Opposition einzusetzen, so argumentierte er in den frühen 1930er Jahren wie folgt:

„Die Tendenz, die von Leo Dawidowitsch [Trotzki] vertreten wird, war eng mit dieser Reihe von Problemen verbunden … ein übermäßig resoluter (und deshalb unvernünftiger) Wille, Industrie und industriellen Methoden eine Vormachtstellung im nationalem Leben zu geben, durch Zwang von außerhalb die Steigerung von Produktionsdisziplin und -ordnung zu beschleunigen und Gewohnheiten an die Arbeitserfordernisse anzupassen. Angesichts der allgemeinen Form, in der alle mit dieser Tendenz zusammenhängenden Probleme wahrgenommen wurden, endete das schicksalhaft notwendig in Bonapartismus. Daher rührt die erbarmungslose Notwendigkeit, sie zu zermalmen.“ (56)

Bei dieser Haltung und Einschätzung war es nicht überraschend, dass Gramsci seine Einstellung von 1924 zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution überprüfen würde:

„Bronstein [Trotzki] erinnert in seinen Memoiren daran, und wir bekommen das noch einmal erzählt, dass seine Theorie sich als wahr erwiesen habe … fünfzehn Jahre später … In Wirklichkeit war seine Theorie als solche weder fünfzehn Jahre früher gut noch fünfzehn Jahre später. Wie es bei Sturköpfen vorkommt … riet er mehr oder weniger korrekt. Er hatte in seiner allgemeineren Prophezeiung recht. Es ist, als ob man prophezeien sollte, dass ein kleines vier Jahre altes Mädchen Mutter würde, und als sie um zwanzig es tatsächlich wurde und man dann sagte: ,Ich erriet, dass sie Mutter werden würde’. Dabei übersieht man aber die Tatsache, dass man das Mädchen mit vier Jahren zu vergewaltigen versucht hatte, im Glauben, dass sie sogar damals Mutter würde.“ (57)

Diese Ablehnung dessen, was er als Trotzkis Theorie versteht, steckt im Kern seiner gesamten strategischen und taktischen Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern wie z. B.:

 „ … das politische Konzept der sogenannten permanente(n) Revolution, welches vor 1848 entstand als wissenschaftlich entwickelter Ausdruck des jakobinischen Experiments von 1789 bis zum Thermidor. Die Formel gehört zu einer historischen Periode, in der die große Masse der politischen Parteien und die großen wirtschaftlichen Gewerkschaften noch nicht existierten und die Gesellschaft unter vielen Gesichtspunkten sich noch sozusagen in einem Flüssigzustand befand: größere Rückständigkeit des Dorfes und fast vollständiges Monopol politischer und staatlicher Macht bei wenigen Städten oder sogar nur einer einzelnen (Paris im Fall von Frankreich); ein relativ rudimentärer staatlicher Apparat und größere Unabhängigkeit ziviler Gesellschaft von staatlicher Aktivität; ein bestimmtes System militärischer Macht und von nationalen bewaffneten Diensten; größere Autonomie der Nationalökonomien von den wirtschaftlichen Verbindungen des Weltmarktes usw. In der Periode nach 1870, mit der kolonialen Ausdehnung Europas, verändern sich alle diese Elemente, die inneren und internationalen organisatorischen Verbindungen des Staates werden komplexer und dichter, und die 1848er Formel von der ,permanenten Revolution’ wird erweitert und in der Politologie in die Formel von ,ziviler Hegemonie’ überführt. Die gleiche Sache passiert in der Politikkunst wie in militärischer Raffinesse: Bewegungskrieg wird zunehmend Stellungskrieg, und es kann gesagt werden, dass ein Staat einen Krieg gewinnen wird, sofern er sich ganz akkurat und technisch darauf in Friedenszeiten vorbereitet.“ (58)

Deshalb wird Trotzki bezichtigt, hinsichtlich der Strategie für den fortschrittlichen Westen hinter der Zeit zurückgeblieben zu sein. Er klagt Trotzki an, „der politische Theoretiker des Frontalangriffes in einer Periode zu sein, wenn er nur zu Niederlagen führt.“ ( 59)

Solch eine Vorstellung bildet die Basis der Kritik am Trotzkismus seitens des Eurostalinismus. Zunächst einmal muss dagegen eingewendet werden, dass Gramscis Darlegung, die die „permanente Revolution“ mit frontalem Angriff oder Bewegungskrieg gleichsetzt, nichts mit Trotzkis Theorie zu schaffen hat. Trotzki nahm zu seinem Ausgangspunkt den kombinierten, ununterbrochenen Charakter von bürgerlichen und proletarischen Revolutionen in bestimmten Situationen. Deshalb konnte Trotzki nicht diesen Aspekt seiner Theorie auf den „Westen“ anwenden, wo die Bürgerrevolution in allen wichtigen Grundfesten vollständig war, und machte es auch nicht.

Wenn auf jemanden zutrifft, was Gramsci Trotzki vorwirft, dann ist es Bucharin auf dem Dritten und Vierten Kongress der Komintern: „der an seinem Standpunkt von der Dauerhaftigkeit sowohl der Wirtschaftskrise als auch der Revolution als Ganzes scholastisch festhielt.“ (60)

Gramsci stimmte Bucharin zu der Zeit zu. Es könnte auch eine Konzeption sein, die  Sinowjew und Stalin auf dem Fünften Kongress zuzuordnen war, von der wieder Gramsci nicht abwich.

Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass Gramsci zwischen 1922 und 1924 auf einem Standpunkt beharrte, der sich nicht von dem unterschied, den er hier kritisiert. Er argumentierte, dass der Kollaps des faschistischen Regimes nahe bevorstehe, zugleich aber keinem Übergangsregime bürgerlicher Demokratie Platz machen könne. Im Januar 1924 behauptete er:

„ … in Wirklichkeit hat der Faschismus ein sehr rohes, scharfes Dilemma in Italien erzeugt: das der permanenten Revolution und der Unmöglichkeit, nicht nur die Staatsform, sondern sogar die Regierung anders als durch bewaffnete Gewalt zu verändern.“ (61)

Nachdem seine ultralinken Illusionen durch seinen Bruch mit Bordiga geschwächt waren und mit dem endgültigen Triumph Mussolinis 1926 ein für allemal zerbrachen, änderte Gramsci seinen Strategieentwurf nach rechts; aber während er Trotzkis Theorie angriff, focht er in Wirklichkeit seine eigene ultralinke Vergangenheit an.

Gramscis Identifikation seiner eigenen vorherigen Haltung mit der Trotzkis kann nur mit damit erklärt werden, dass er die stalinistischen Lügen über  den „Trotzkismus“, die nach 1923 in der Komintern Einzug hielten, ganz bejahend aufnahm. Wenn Trotzki tatsächlich, wie die Stalinist:innen behaupteten, befürwortet hätte, das bürgerliche Stadium der Russischen Revolution zu überspringen, wenn Trotzki tatsächlich „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ unterschätzt hätte, worauf seine Gegner:innen immer wieder herumritten, und der russischen Revolution so einen rein „sozialistischen“ (Arbeiter:innen-)Klassencharakter verliehen hätte, dann hätten Gramscis Sticheleien vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt gehabt. Aber diese Unterstellungen waren haltlos. Wenn überhaupt, war es Gramsci, der „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ in seiner ultralinken Periode unterschätzte.

Ein nationaler Weg

Noch blieb Gramsci in der anderen Frage, die zwischen Trotzki und Stalin auf dem Spiel stand, schweigsam während seines Gefängnisaufenthaltes. Er schrieb mehrere Passagen zu den methodologischen anstehenden Fragen im Streit über „Sozialismus in einem Land“, der gründlich mit dem Problem der ununterbrochenen Revolution zusammenhängt. Er überlegte wie folgt:

„Gehen internationale Verbindungen voraus oder folgen sie (logisch) grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen? Es kann keinen Zweifel geben, dass sie folgen. Irgendeine endogene Neuerung in der Gesellschaftsstruktur modifiziert organisch absolute und relative Verhältnisse auch auf internationaler Ebene durch ihre technisch-militärische Auswirkung. Sogar die geographische Position eines Nationalstaates geht nicht voraus, sondern folgt (logisch) strukturellen Änderungen, obwohl sie auch in gewissem Maße auf die Verhältnisse zurückwirkt (in genau dem Maß, zu dem Überbauten auf die Struktur reagieren, Politik auf Wirtschaft usw.).“ (62)

Gramsci stellt alles auf den Kopf. Mit „wesentlichen Gesellschaftsverhältnissen’“meint er kapitalistische Produktionsverhältnisse. Er stellt diese „internationalen Verhältnissen“ gegenüber und tritt somit stillschweigend dafür ein, dass Kapitalismus national definiert ist. Nach dieser Definition ist es dann möglich, argumentiert Gramsci, die Verhältnisse zwischen den nationalen und den internationalen Belangen zu untersuchen. Mittels Analogie sind die internationalen Verhältnisse die „Überbauten“ und ist das Nationale der „Unterbau“. Dies ist der Ausgangspunkt für Stalins „Sozialismus in einem Land“.

Der Marxismus denkt in entgegengesetzter Weise. Er geht von der Tatsache aus, dass Kapitalismus ein Weltganzes ist und seine Verhältnisse den Globus umspannen. Nationalökononomien können in diesem Licht untersucht und bestimmt werden.

Für Gramsci spielte der Beginn mit der „nationalen“ Ebene die gleiche Rolle wie der Ausgangspunkt vom „ungleichen“ Charakter der Weltwirtschaft statt des „ungleichen und kombinierten“ wie Trotzki. Gramsci glaubte wie Stalin, dies sei der einzige Weg einzuschätzen, was „einmalig“ und „besonders“ in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit war:

„In Wirklichkeit sind die inneren Verhältnisse irgendeiner Nation das Ergebnis einer Kombination, die ,ursprünglich’ und (in einem bestimmten Sinn) einmalig sind: diese Verhältnisse müssen in ihrer Originalität und Einmaligkeit verstanden und gedacht werden, wenn man wünscht, sie zu dominieren und lenken. Sicher, die Entwicklungslinie richtet sich zum Internationalismus hin, aber der Ausgangspunkt ist ,national’ – und von diesem Startpunkt muss man anfangen. Doch ist die Perspektive international und kann nicht anders sein. …  Die führende Klasse ist in der Tat nur eine solche, wenn sie diese Kombination – von der sie selbst ein Bestandteil ist – minutiös interpretiert und genau als solche fähig ist, dem Moment eine bestimmte Richtung innerhalb bestimmter Perspektiven zu verleihen. Es ist meiner Meinung nach dieser Punkt,  um den die wesentliche Uneinigkeit zwischen Leo Dawidowitsch [Trotzki] und Wissarionowitsch [Stalin] als Interpreten der Mehrheitsbewegung [Bolschewismus] sich wirklich dreht. Die Vorwürfe von Nationalismus sind unangebracht, wenn sie sich auf den Kern der Frage beziehen. Wenn man den Kampf der Mehrheitler:innen von 1902 bis 1917 studiert, kann man sehen, dass seine Originalität in der Säuberung des Internationalismus von jedem vagen und rein ideologischen (im herabsetzenden Sinn) Element bestand, um ihm einen realistischen politischen Inhalt zu geben. In diesem Hegemoniekonzept sind jene dringlichen Erfordernisse, die von nationalem Charakter sind, zusammen verknotet.“ (63)

So war für Gramsci Lenins „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ herrschaftsfähig und national, während die Theorie der „permanenten Revolution“ unfähig war, die konkrete Wirklichkeit der russischen Gesellschaft zu begreifen bzw. damit umzugehen.

Natürlich hat Trotzki genau das getan, was Gramsci ihm als nicht erfüllt vorhält. Trotzkis Analyse Russlands war auf einer ausführlichen Untersuchung seiner Geschichte und besonderen Gesellschaftsverhältnisse gegründet. In seiner Arbeit „Ergebnisse und Perspektiven“ von 1906 vergleicht Trotzki und stellt einander gegenüber das Russland von 1905 mit Frankreich von 1870 und Deutschland von 1848 auf der Basis der Nachzeichnung der Entwicklung internationaler Ereignisse. Damit war er fähig, in einer bemerkenswerten Art die bestimmten Merkmale zu umreißen, die im zaristischem Russland gegenwärtig waren und es dazu bestimmten, eine sozialistische Revolution vor den „fortgeschrittenen“ und „reifen“ Ländern zu erleben und doch nicht in der Lage zu sein, sie ohne internationale Hilfe aufrechtzuerhalten.

Weil die nationale Eigenheit  eine bestimmte Kombination der internationalen Trends ist, ist es genau unmöglich, die nationalen Besonderheiten wirklich zu begreifen, ohne zuerst die internationalen Zusammenhänge zu verstehen.

Die Verbindung zwischen Gramscis Sicht der Beziehung zwischen nationalen und internationalen Verhältnissen und den strategischen und taktischen Aufgaben der arbeitenden Klasse wird vollständig enthüllt. Nur das Nationale ist bestimmt und hegemoniefähig; was Länder trennt, ist wichtiger als das, was sie verbindet. Obwohl Italien und England in einer Periode sehr verschiedene Arten von Nation und dann später im gleichen Lager sein können, ist es daher Tatsache, dass verschiedene Einheitsfronttypen anwendbar sind, je nach dem, mit welchem Typ Land wir es zu tun haben; Einheitsfront von unten und Kriegszüge in „rück- oder randständigen“ Staaten, eine strategische Einheitsfront und ein Stellungskrieg in den vorangeschrittenen kapitalistischen Ländern. Kurz nur, Anfang 1924, nachdem er sich entschieden hatte, politisch mit Bordiga zu brechen, warf Gramsci das Problem korrekt auf. Aber diese Einsichten wurden nicht durchgehalten, und Gramsci ergab sich einer Rechtsentwicklung.

Schlussfolgerungen

Der Staatsanwalt bei Gramscis Gerichtsverfahren forderte, dass jedes Urteil „dieses Gehirn für zwanzig Jahre zu arbeiten abhält“. Sie scheiterten. Aber es hat jetzt fünfzig Jahre lang aufgehört zu arbeiten. Viele sind begierig, ihn als ihr Eigentum zu beanspruchen. Diese legendenbildnerische Einstellung zum größten italienischer Revolutionär hätte Gramsci entsetzt. Wir gehen an Gramscis politisches Leben kritisch heran. Beim Bruch mit  Bordigas Ultralinkstum 1923 – 24 setzte Gramsci sich das bewusste Projekt, die junge und unterdrückte KPI zwischen dem ultralinken Kurs Bordigas und dem Opportunismus Tascas hindurchzusteuern. Dabei war sein Ziel, zu den Positionen der revolutionären Komintern Lenins zurückzukehren.

Beim Versuch, dieses Ziel zu erreichen, war Gramsci für einen beträchtlichen Beitrag an scharfsichtiger Arbeit über die Fehler des Bordigismus, über Geschichte, Klassenstruktur und strategische Probleme der italienischen Gesellschaft verantwortlich. Jede/r revolutionäre Kämpfer:in heute wird viel in seiner Arbeit finden, was wertvoll und inspirierend ist.

Aber Gramsci versagte dabei, den Bolschewismus in Italien aufzubauen, genau deshalb, weil die bürokratisch-zentristische „Bolschewisierung“ Stalins und Sinowjews seinen Werdegang durchschnitt. In der Periode bis zu seiner Verhaftung bedeutete dies, dass die KPI unter Gramscis Leitung eine mildere Form von ultralinker Politik in Italien und eine Neigung zum zunehmenden Rechtsopportunismus im „Westen“ nicht ausmerzen konnte. Im Gefängnis führten seine weiteren,  auf einer einseitigen Ablehnung seines eigenen Ultralinkstums basierenden und vom Mythos der Stalinist:innen über Trotzki genährten Reflexionen Gramsci weiter ins Camp des rechten Zentrismus‘. Gramsci dehnte nicht so sehr die Grenzen des Marxismus aus, sondern engte eher dessen Horizont ein. Seine Einblicke waren oft nicht eigenständig, sobald sie die Grenzen von italienischer Geschichte und Gesellschaft überschritten und oft übermäßig abstrakt und sogar zweideutig. In der historischen Periode, die mit der Degeneration der UdSSR beginnt, ist es der Trotzkismus, nicht der Gramscianismus, der auf den Schultern des Leninismus steht und den Marxismus um einen Kopf größer macht.

Trotzdem können wir während dieses fünfzigsten Jahres seit Gramscis grausamem und schmerzhaftem Tod Anregungen in seinem Leben und Kampf finden. Wir können nur hoffen, ihn vor dem Zugriff seiner „Freund:innen“ zu bewahren.

Endnoten

1 Marxism Today, April 1987

2 O. Blasco [Tresso], „Ein großartiger Kämpfer ist gestorben … Gramsci, La Lutte Ouvrière Nr. 44, 14. Mai 1937

3 L. Maitan, „The Legacy of Antonio Gramsci“ [Das Vermächtnis Antonio Gramscis], in: International Marxist Review, Sommer 1987

 4 Socialist Worker Review, April 1987

 5 Maitan, a. a. O., S. 35

 6 C. Harman, Gramsci versus Reformism, S. 28

 7 Zitiert in: A. Davidson, „Gramsci and Lenin, 1919-22“, Socialist Register 1974, S. 131

 8 A. Gramsci, Selections from the Political Writings [Ausgewählte politische Schriften], Vol. 1 (SPW1), S. 34 (London 1977)

 9 Ebda.

 10 a. a. O., S. 68

 11 Ebda.

 12 Harman, a. a. O., S. 16

 13 L. D. Trotzki, Speech to the General Party Membership in Moscow [Rede an die allgemeine Parteimitgliederversammlung in Moskau]

 14 Lenin, Collected Works, Vol. 32, S. 465 (Moscow) [Gesammelte Werke (Moskau)]

 15 A. Gramsci, Selections from the Political Writings, Vol. 2 (SPW2) S. 189 (London 1978)

 16 Theses, Resolutions and Manifestoes of the First Four Congresses of The Communist International, S. 391 – 396 (London 1980) [Thesen, Resolutionen und Manifeste der ersten 4 Kongresse der Kommunistischen Internationale]

 17 L. D. Trotzki,The Third International After Lenin, S. 90 (New York 1970) [Die 3. Internationale nach Lenin]

 18 SPW2, S. 96

 19 a. a. O., S. 97

 20 a. a. O., S. 107 – 108

 21 a. a. O., S. 108

 22 a. a. O., S. 99

 23 a. a. O., S. 392

 24 a. a. O., S. 105

 25 a. a. O., S. 148

 26 a. a. O., S. 146

 27 a. a. O., S. 153

 28 a. a. O., S. 155

 29 a. a. O., S. 196

 30 a. a. O., S. 121 – 124

 31 a. a. O., S. 359

 32 a. a. O., S. 174 –175

 33 Ebda.

 34 a. a. O., S. 199 – 200

 35 a. a. O., S. 489

 36 J. W. Stalin, Concerning the International Situation, Collected Works, Vol. 6, S. 295 [Über die internationale Lage, Gesammelte Werke]

 37 Ebda.

 38 „Theses on tactics“, in: Resolutions and Theses of the Fifth Congress, (London 1924) [„Thesen zur Taktik“, in: Resolutionen und Thesen des 5. Kongresses]

 39 Ebda.

 40 SPW2, S. 373

 41 a. a. O., S. 410

 42 Ebda.

 43 a. a. O., S. 411

 44 L. D. Trotzki, On Britain, S. 253 – 255 (New York 1972) [Über Britannien]

 45 SPW2, S. 331

 46 Ebda.

 47 Ebda.

 48 a. a. O., S. 75

 49 A. Gramsci, Selection from the Prison Notebooks (SPN), S. 237 – 278 (London 1971) [Auswahl aus den Gefängnisbüchern]

 50 Zitiert in Perry Anderson, The Antinomies of Antonio Gramsci, New Left Review No100, S. 72 [Die Widersprüche Antonio Gramscis]

 51 SPW2, S. 414

 52 a. a. O., S. 359

 53 a. a. O., S. 414

 54 a. a. O., S. 192

 55 a. a. O., S, 284

 56 SPN, S. 301

 57 Ebda., S. 237

 58 a. a. O., S. 242 – 243

 59 a. a. O., S. 238

 60 Trotsky, The Third International After Lenin, a. a. O., S. 90

 61 SPW2, S. 176

 62 SPN, S. 176

 63 a. a. O., S. 240 – 241




Globalisierung: Das jüngste Stadium des Imperialismus

Keith Harvey, Revolutionärer Marxismus 35, Juli 2005

Vorwort

Von Anfang an erkannte der Marxismus den inhärenten Drang des Kapitalismus zur Expansion. Im kommunistischen Manifest zeigt Marx die Hervorbringung des Weltmarktes und sah voraus, dass alle Nationen auf Gedeih oder Verderb gezwungen werden „die bürgerliche Produktionsweise zu übernehmen.“ In diesem Sinne ist „Globalisierung“, als der Zwang, die Ökonomien aller Länder in einen immer integrierteren Weltmarkt hinein zu ziehen, keine neue Entwicklung.

Doch war das Muster der Expansion, sein Tempo und das Kräfteverhältnis zwischen den Nationen, das sie bewirkt hat, niemals gradlinig oder einheitlich. Während der letzten 10 Jahre wurde „Globalisierung“ ganz speziell benutzt, um das Überstülpen seines „neoliberalen“ Wirtschaftsmodells durch die USA über immer größere Gebiete der Welt zu beschreiben, sowie die Ausdehnung ihrer Konzerne sogar auf dem Territorium seiner ehemaligen Gegner im Kalten Krieg. Dieser Artikel untersucht den Hintergrund dieser neuesten Phase der kapitalistischen Entwicklung.

Der Artikel versucht zu zeigen, dass die Expansion an ihrer Wurzel ein Ausdruck der Krise der Überakkumulation im US-Kapital ist, das seit den 1970ern in seinem Heimatmarkt durch zurückgehende Profitraten gekennzeichnet ist. Seine Antwort war, Barrieren für spekulative Investitionen auf internationaler Ebene zu beseitigen. Indem sie dazu die in Chile „erprobte“ Politik benutzten, drängten die US-Strategen in den 1980ern die ihnen fügsamen Regierungen, alle möglichen Handels- und die Investitionsbarrieren nicht nur zwischen den imperialistischen Mächten abzubauen, sondern wesentlicher auch in der immer verschuldeteren „Dritten Welt“.

Der Durchbruch jedoch kam erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Restauration des Kapitalismus in China. Wie in früheren Perioden der globalen Integration, war eine einzelne  Hegemonialmacht notwendig, um eine einheitliche ökonomische Politik der ganzen Welt aufzuzwingen.

So dramatisch und destruktiv diese „Globalisierung“ bisher war,  so veränderte sie nicht die fundamentalen Widersprüche innerhalb der USA selbst. Heute sind die Grenzen der Globalisierungslösung zunehmend sichtbar als steigende Schuldenberge, fallende Profitraten, betrügerische zusammenbrechende Riesen-Unternehmen, riesige brachliegende industrielle Kapazitäten. Geht es mit der Globalisierung schon zu Ende?

Keith Harvey, London 2003

Einführung

Vor einigen Jahren konnten die Besucher der Expo 1992 in Sevilla bemerken, dass die USA sich auf ein kleines und unbedeutendes Ausstellungszelt beschränkten, verglichen mit den pompösen Selbstdarstellungen der meisten restlichen Welt-„Größen“. Durch Nachforschung kam heraus, dass die meisten der großen Namen der US-Konzernwelt entschieden hatten, keine Finanzen für das US-Zelt zu investieren. In dieser internationalen Veranstaltung wollten Coca Cola und Co. einfach nicht als US-Firmen erscheinen; sie wollten an erster Stelle als globale Unternehmen gesehen werden.

Phillip Condit, der Vorsitzende von Boing, sagte 1997, ein globales Unternehmen zu sein bedeutet, dass „die Leuten denken, dass du ein lokales Unternehmen bist, wo immer Du operierst“. Er versuchte BP nachzueifern, dem zehntgrößten Unternehmen der Welt, das britisch basiert, aber global omni-präsent ist. HSBC, eine unter den größten 4 Banken im US-Markt, vermarktet sich selbst als „die Lokal-Bank der Welt“, weil sie in den meisten Ländern präsent ist.

Natürlich gab es schon immer Gesellschaften mit internationaler Ausrichtung, seit die US-Firma Singer ihren ersten Überseebetrieb in Europa in den 1860er Jahren begann. Autoriesen, Elektronikfirmen und Ölgesellschaften hatten alle eine globale Ausrichtung schon während der meisten Zeit im letzten Jahrhundert. Aber bis vor kurzem beschränkten sie sich zumeist auf zweitrangige Niederlassungen in Überseemärkten, insbesondere was US-Multis betrifft.

Jetzt hat sich das alles geändert. Jetzt treten die meisten multinationalen Gesellschaften (MNC`s) auf dem Weltmarkt in den Wettbewerb, um zu überleben. General Electric – der US- Elektronikriese – ist der größte Multi mit einem Sachanlagevermögen, das 1999 405 Milliarden USD betrug, macht einen Umsatz von 111 Milliarden USD. Bis er sich 2002 zurückzog, war Jack Walsh der Vorstandsvorsitzende (CEO) von General Electrics. 1997 erklärte er, was multinationale Gesellschaften dazu treibt, immer mehr von den Überseemärkten abhängig werden:

„Es gibt einen globalen Kapazitätsüberschuss in fast jedem Sektor. Der Preisdruck ist Sektor für Sektor dramatisch. Eine Möglichkeit diesen Problemen zu entgegnen, ist es, den größtmöglichen Maßstab anzugehen – die Verteilung der Kosten und Einnahmen über die Welt.“

Inzwischen gibt es mehr Multis als je zuvor – 63.000 im Jahr 2000, verglichen mit 7.000 im Jahr 1970 – und sie kontrollieren einen größer werdenden Anteil an globalem Output und Verkäufen als je zuvor (1). Im Verlauf des letzten Jahrzehnts vergrößerte sich ihre Abhängigkeit von ausländischen Märkten, Anlagekapital und Beschäftigung im Vergleich zu ihrer Heimatbasis stetig (2).

Rund 30 % von General Electric`s Anlagen und Verkäufen sind überseeisch. Diese Zahl wächst mit jedem Jahr. Heute hängen mehr und mehr global players, wie IBM und ICI, mit über der Hälfte ihres Profits von Umsätzen im Ausland ab. Mehr als 98 % von Nestles Verkäufen finden außerhalb der Schweiz statt. Murdochs Medienimperium verkauft im Ausland 96 % seiner Produkte.

Diese multinationalen Konzerne – in der Produktion, im Bankwesen, in den Medien und Einzelhandel – machen zusammen 2/3 des ganzen Welthandels aus. Sie sind auch der Motor der Auslandsinvestitionen. Im Jahr 2000 stiegen die gesamten Auslandsdirektinvestitionen (Kapitalexport) um 18 % auf ein Rekordniveau von $ 1,3 Billionen an, 90 % davon ($ 1,1 Billionen) in der Form von Fusionen und Erwerbungen multinationaler Konzerne, um ihre globale Position zu konsolidieren.

Unter den 63.000 multinationalen Firmen sind es gerade 100, bloße 0,2 % – die Geldanlagen von 1,2 Billionen besitzen und im Jahr 1999 Verkäufe in derselben Größenordnung hatten. Diese größten 100 Firmen verfügen über 12 % der Geldanlagen aller multinationalen Firmen, tätigen 16 % ihrer Verkäufe und beschäftigen 15 % der dort tätigen Arbeitskräfte.

91 von ihnen haben ihre Firmensitze in einem der 17  „Triaden“-Länder (EU, USA, Japan), eine Zahl die die Bedeutung dieser Länder in der kapitalistischen Weltordnung zeigt.

Darüber hinaus hat sich während der letzten 10 Jahre ihr Anteil an den Top-100 vergrößert. Das sind die Länder, die die makro-ökonomische Tagesordnung festsetzen, die den Welt-Kapitalmarkt kontrollieren und die globalen multilateralen Institutionen wie Weltbank, IWF und WTO bestimmen.

Der Reichtum, die Macht und die Reichweite der größten kapitalistischen Konzerne sind unerreicht und historisch noch nie da gewesen. Die weite geografische Verteilung und gesellschaftliche Tiefe, die die weltkapitalistische Marktökonomie in den letzten 10 bis 20 Jahren erreichte, wird auch allgemein anerkannt. Dies alles wurde als „Globalisierung“ bezeichnet.

Während ein Großteil des „wir gewinnen den Kalten Krieg“-US-Triumphalismus hinter uns liegt, ist es nicht gut genug, das Phänomen einfach als „globale Sprechblase“ zu verharmlosen, als einfach „derselbe alte Imperialismus“ – so als ob sich nichts geändert hätte (3).

Der Zweck dieses Artikels ist es, die bestimmenden Ursachen der Globalisierung zu verstehen und sie präziser zu definieren. Was treibt sie voran und was sind ihre Komponenten? Wie hat sie sich entwickelt? Was ist die Beziehung zum Konzept des Imperialismus wie es von MarxistInnen seit dem frühen Teil des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde?

Um dies zu tun, können wir von Anfang an die einfache Erklärung ablehnen, dass „Globalisierung ein objektiver Faktor ist, eine Widerspiegelung der dramatischen technologischen Veränderung, und keine Politik.“ (4)  Dieser Standardrefrain von den Apologeten der 1990er war entworfen worden, um die Entpolitisierung der Globalisierung zu betreiben, von ihrer Geschichte und den nationalen und klassenmäßigen Beziehungen zu abstrahieren, innerhalb derer sie sich entwickelte.

Es bezweckte, die Gegenspieler des tatsächlich aus den Konzernzentralen bestimmten Prozesses zu entwaffnen mit der Idee, dass technologische Entwicklungen einen Trend zu wachsender internationaler Integration bewirkt hätten, der unvermeidlich und nicht zu stoppen war, und der die Gewerkschaften und die nationalstaatlichen Barrieren für die Bewegung des Kapitals beiseite fegt.

Die gegenwärtige Krise widerlegt diese Erklärung insoweit, wie die technischen Errungenschaften im Transport-  und Kommunikationsbereich, die die Wichtigkeit von Zeit und Raum in ökonomischen Transaktionen relativiert haben, weiter in Betrieb bleiben, aber sie haben nicht das Einsetzen einer globalen Rezession verhindern können.

Auf der anderen Seite haben diese ganz gleichen negativen ökonomischen Umstände die wichtige Einführung der nächsten Generation von Technologien (z.B. UMTS) verhindert, die für den Kommunikationsbereich viel versprachen.

In Wirklichkeit ist die Technologie die abhängige Variable in der Globalisierung, nicht die treibende.

Wie Robert Went gesagt hat:  „Die Wahrheit ist, dass technologische Veränderungen den Globalisierungsprozess nur erleichtert haben, der durch bewusste politische Entscheidungen in Bewegung gesetzt wurde (5)“. Wir könnten hinzufügen, dass diese „bewussten politischen Entscheidungen“ selbst tief sitzende Veränderungen in der US-Wirtschaft widerspiegelten, welche dem Rahmen der Politik und der etablierten Institutionen schon Jahrzehnte früher entwachsen war.

Um diese „Prozesse der Globalisierung“ zu verstehen, müssen wir tiefer auf die geschichtlichen und strukturellen Gründe eingehen, warum der Kapitalismus expandiert und die ökonomischen und politischen Barrieren untersuchen, die das Kapital zu überwinden sucht.

Dabei beginnen wir zunächst mit der Erkenntnis, dass es das Wesen des Kapitals ist, jede Barriere zu durchbrechen auf dem Weg seiner beständigen Expansion. Selbstausdehnung ist sein Wesen. Es kann nicht zufrieden sein mit bloß lokaler, regionaler oder sogar nationaler Herrschaft. „Die natürliche Tendenz unseres ökonomischen Systems ist es deshalb, die staatlichen Grenzen zu durchbrechen“, wie Trotzki es formulierte.

Wir haben als erstes zu erklären, welche historischen Formen diese Selbstausdehnung genommen hat, welche Barrieren er zu überwinden hatte und welche Bedingungen ihm dies jeweils erlaubten, zu dieser Zeit und eben keiner anderen. Warum z.B. regredierte der Kapitalismus zwischen 1914 und 1945 international? Was bestimmte das Muster des internationalen Kapitals im Nachkriegsboom (1950-1971)? Wie befreite sich das Kapital selbst von den Einschränkungen, die es durch die Nachkriegsregelung geerbt hatte, um sich in den 1970ern und 1980ern schnell zu verbreiten in den verschiedenartigsten Formen? Und endlich, was ändert sich in der Natur des Weltkapitalismus als Ergebnis des Sieges der USA im Kalten Krieg und dem darauf folgenden Boom in der US-Wirtschaft unter der Präsidentschaft von Clinton?

Imperialismus

Dies ist nicht das erste Mal, dass eine umfangreiche Debatte über die Bedeutung der großen Veränderungen in der kapitalistischen Weltökonomie stattfindet. Vor über 100 Jahren wurde der Terminus „Imperialismus“ geprägt, um die Entstehung der neuen Merkmale in der Organisierung der kapitalistischen Produktion und des Finanzwesens zu beschreiben.

Obwohl sie nicht die ersten waren, die diesen Terminus benutzten, begannen Marxisten, diese Merkmale in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu analysieren. Sie anerkannten, dass große qualitative Veränderungen in der Natur des Kapitalismus seit den 1870er Jahren stattgefunden hatten. Es waren Veränderungen, die sowohl die Organisation von inländischem Produktions- und Finanzwesen berührten, als auch die Struktur des internationalen Handel und der Investitionen veränderten.

Der erste und wichtigste Grund war der Aufstieg von großen Konzernen in den wichtigsten kapitalistischen Ländern, die ihre nationalen Märkte erobert hatten und begannen, sie zu dominieren. Ihre Entwicklung, die ein unvermeidliches Ergebnis des Wettbewerbs zwischen den früheren Generationen kleinerer Firmen war, führten die größeren Kapitalisten dazu, den Vorteil des Monopols zu sehen. Durch praktisches Verdrängen ihrer Inlandskonkurrenten konnten die Monopolisten nicht nur größere Profite im Boom ernten, sondern auch die Konjunktureinbrüche überstehen, die im Geschäftszyklus zu erwarten waren.

Der ursprüngliche Kleinbetrieb, die familieneigene Firma, überließ nun den großen Firmen das Feld, die Eigentümer über Aktien und Anteile bestimmten. In Deutschland wurde dies in großem Maßstab durch die horizontale Integration zwischen Firmen im selben Geschäftsbereich erreicht, die entweder fusionierten oder Preise und Marktanteile untereinander regelten (Kartelle).

In den USA wurde dies seit den 1880ern im Allgemeinen durch Gesetz verhindert und die Monopolisierung nahm mehr die Form einer vertikalen Integration an. Dabei schluckten die großen Firmen sowohl ihre Lieferanten als auch die Firmen, an die sie ihre Produkte verkauften, wodurch große Einsparungen an Transaktionskosten erzielt wurden und die Profite abgesichert werden konnten.

Diese Tendenz zur Konzentration war auch offenkundig innerhalb des Finanzkapitals. Die Banken entwickelten sich von bloßer „Mittlertätigkeit“, die Familienfirmen zur Abdeckung operativer Kostenspitzen dienten, zu machtvollen Monopolen mit eigenen Interessen. Nachdem sie immer mehr in die Bereitstellung von Anlagenfinanzierung involviert wurden, versuchten sie Einfluss auf die Monopole selbst zu bekommen, um den Wert ihrer Geldanlagen zu schützen. In einigen Fällen führte dies zur Besetzung von Posten in den Direktorien, in anderen zu direktem Anteileigentum.

Zur Zeit des ersten Weltkrieges konnte Lenin beobachten:

„Zum „Herrscher“ der Welt wurde nunmehr das Finanzkapital; es ist besonders beweglich und elastisch, national wie international besonders verflochten, besonders unpersönlich und von der direkten Produktion losgelöst; es eignet sich besonders leicht für die Konzentration und ist bereits besonders stark konzentriert, so dass buchstäblich einige hundert Milliardäre und Millionäre die Geschicke der ganzen Welt in ihren Händen halten (7).“

Nach dem relativ langen Boom am Ende des 19. Jahrhunderts (von 1895 an) und der Krise von 1900 – 1903, wurden Monopole und Kartelle anerkannt als „eine der Grundlagen des ökonomischen Lebens“ (Lenin). In den USA waren im Jahr 1904 1,1 % der Firmen verantwortlich für die Hälfte der Gesamtproduktion.

Ein zweiter damit zusammen hängender Faktor war eine massive internationale Expansion des Kapitalismus, als die Monopole nach den internationalen Märkten strebten und den Zugang zu Rohstoffen sichern wollten. Im Prozess der Monopolisierung erwies sich die nationale Ökonomie mehr und mehr als zu beschränkte Sphäre, um dort noch adäquate Profite zu machen.

Zwischen 1870 und 1914, aber speziell nach 1895, beschleunigte sich die internationale Ausdehnung von kapitalistischem Handel und Investitionen. Horst Köhler, der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) ging sogar soweit zu sagen: „Die globale Wirtschaft war tatsächlich am Ende des 19. Jahrhunderts integrierter als sie es heute ist (8).“

Ohne soweit zu gehen, nannte ein Bericht der Weltbank kürzlich die Periode von 1870 bis 1914 „die erste Welle der modernen Globalisierung (9)“.

„Warenfluss, Kapitalfluss und Arbeit, alles dieses wuchs dramatisch. Die Exporte als Anteil am Welteinkommen verdoppelten sich nahezu und zwar auf 8 %. Fremdes Kapital vergrößerte sich um mehr als das Dreifache im Vergleich zum Einkommen in den Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika. Die Auswanderung war sogar noch dramatischer. 60 Millionen wanderten aus Europa aus, meistens aus weniger entwickelten Teilen nach Nordamerika und andere Regionen der Neuen Welt. Zwischen südlichen Ländern war die Migration auch wesentlich. Der Bevölkerungsstrom aus den dicht besiedelten Ländern China und Indien in die weniger bevölkerten Ländern wie Sri Lanka, Burma, Thailand, die Philippinen, und Vietnam war wahrscheinlich von der selben Größenordnung wie der zwischen Europa und den Amerikas. Die ganze Arbeitsmigration während der ersten Welle der Globalisierung erfasste nahezu 10 % der Weltbevölkerung (10).“

In ähnlicher Weise hat Robert Went für das Jahr 1913 bemerkt, dass das Verhältnis von Export und Import der Waren zum BIP (Bruttoinlandsprodukt) für die sechs größten Mächte im Durchschnitt  42,6 % erreichte. Trotzdem war das wichtigste neue Merkmal, dass der Kapitalexport den Export von Waren zu übersteigen begann. Während dieser Periode, wurde z.B. etwa die Hälfte von allen britischen Ersparnissen und Profiten im Ausland angelegt. Um 1914 war der Anteil der fremden Kapitalanlagen in den halbkolonialen Ländern auf 32 % ihres Einkommens angestiegen.

Während dieser Periode vervollständigten die imperialistischen Staaten ihren Griff auf alle Territorien dieses Planeten. Dazu notierte Trotzki im Jahr 1914:

„Der ganze Erdball, das Festland wie das Meer, die Oberfläche wie die Tiefe, sind bereits zur Arena einer weltumfassenden Wirtschaft geworden, deren einzelne Teile voneinander unauflösbar abhängig sind. Diese Arbeit verrichtete der Kapitalismus (11).“

Aber diese Internationalisierung des Kapitals war kein friedvoller, linearer Prozess, von dem alle Klassen und alle Nationalstaaten gleichermaßen profitierten. Vielmehr war die Welt ganz zwischen einer Handvoll von „Großmächten“ aufgeteilt geworden. Alle von diesem Club ausgeschlossenen Länder wurden entweder formell Kolonien oder informell Bestandteil ihrer „Einflusssphäre“.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges brachte mit Trotzkis Worten die Tatsache zum Ausdruck, dass „die Produktionskräfte, die der Kapitalismus entwickelt hatte, über die Grenzen des Nationalstaats hinaus gewachsen waren.“ Der Nationalstaat, die gegenwärtige Form von Politik, war zu eng geworden für die Ausbeutung und Ausdehnung dieser Produktivkräfte. Dies wiederum führte zu einem systematischen Ausbrechen von Kriegen und Revolutionen in der imperialistischen Epoche: Kriege für die gewaltsame Aufteilung der Welt, zur Absicherung von  „Einflusssphären“ und „Hinterhöfen“; Revolutionen, ausgelöst durch die Entbehrungen des Krieges, den Zusammenbruch des Regimes geschlagener, herrschenden Klassen und durch die Ungerechtigkeit nationaler Unterdrückung.

Der Erste Weltkrieg brachte jedoch keine Lösung der Frage imperialistischer Vorherrschaft in der Form eines klaren Siegers, der in der Lage gewesen wäre, seine eigene Wirtschaftexpansion auf Kosten seiner geschlagenen Gegner fortzuführen.

Stattdessen konzentrierten die imperialistischen Mächte ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Einflusssphären. Dadurch warfen sie die Weltwirtschaft um Jahrzehnte zurück und ließen viele Ergebnisse der ersten Phase der kapitalistischen Internationalisierung verkommen. Selbst Ende der 1940er lag der Handel als Anteil am BIP immer noch unter dem Level von 1870. Um 1950 hatte sich der Anteil fremder Kapitalanlagen der Entwicklungsländer auf nur noch 4 % des Volkseinkommens reduziert – weit hinter dem geringsten Anteil in den 1870er Jahren.

Internationalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg

Während es keine Frage ist, dass die Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg wieder geprägt waren durch ein Wachstum internationalen Handels und von Investitionen, ist das Muster dieses Wachstums nicht gleichmäßig gewesen. Vier ziemlich verschiedene Perioden können identifiziert werden. Wie wir sehen werden, haben deren Wesenszüge zu tun mit unterschiedlichen Rollen, die das Finanzkapital vor dem Hintergrund eines sich ändernden internationalen Mächtegleichgewichts spielt.

Die Jahrzehnte nach 1945 sahen fast sofort ein Aufleben der Internationalisierung, ausgedrückt sowohl im Handel als auch in Auslandsdirektinvestitionen. Um 1970 hatte der Welthandel das Niveau der Phase vor 1914 übertroffen und seitdem haben dessen jährliche Wachstumsraten die Zuwachsraten der Produktion wesentlich übertroffen. Zur selben Zeit jedoch wuchsen die Auslandsdirektinvestitionen sogar schneller und man sah „ein jährliches Wachstum viermal größer als die Wachstumsrate des internationalen Handels (12).“

Die Formen der Investitionen waren auch vielfältiger als in der Phase vor 1914, als sie großteils auf Anleihen beschränkt waren. Nach 1950 wuchsen die Geldanlagen im Ausland direkt in Form von neuen Fabriken und Ausrüstungsinvestitionen. Die Impulse für diese Welle von Auslandsdirektinvestition, welche bis in die siebziger Jahre andauerte, waren hauptsächlich die Lagevorteile der Gastländer. Entweder besaßen die Länder unbewegliche natürlich Rohstoffe oder ihre Märkte waren durch Handelsbarrieren geschützt.

Während dieser Phase, welche die Weltbank „die zweite Welle der Globalisierung“ nennt, erklärt eben diese, dass „die meisten Entwicklungsländer auf primären Warenexport beschränkt blieben und im Großen und Ganzen am Rand der großen Kapitalflüsse blieben … Das Verhältnis des Auslandsdirektinvestitions-Bestands zum BIP des Südens war 1978 bei 11 % – noch immer weit unter den 1914 erreichten 32 % (13)“.

Dieser Trend bedeutete, dass die „zweite Welle der Globalisierung für die Entwicklungsländer keine goldene war“, wie es die Weltbank formulierte. „Die Lücke zwischen reichen und armen Ländern weitete sich aus. Die Anzahl der Armen fuhr fort zu wachsen … Es gab wenig Netto-Veränderung in der Verteilung des Einkommens zwischen und in den Entwicklungsländern (14).“

Die lange Expansion von Handels und Investitionen zwischen 1950 und 1971 fand  innerhalb eines genau umrissenen politischen Rahmens statt, der die Prioritäten ausdrückte, die die wichtigsten Architekten der Nachkriegswirtschaftsregeln bei der Bretton Woods – Konferenz im Jahr 1944 festgelegt hatten. Ihre Hauptsorge war die Aufrechterhaltung eines stabilen Systems für den internationalen Handel und die Vermeidung der Probleme der Zwischenkriegsjahre.

Um diese Zeit war die wichtigste Rolle des Finanzkapitals daher die Wiederaufrichtung des Welthandels. Das General Agreement on Tariffs and Trade (= Allgemeines Abkommen über Tarife und Handel) (GATT) wurde hauptsächlich zwischen den Triadenländern (= die drei großen imperialistische Böcke, USA/Kanada, Japan, europäische Imperialisten), das heißt zwischen den imperialistischen Mächten, zum Aushandeln von Zollabbau errichtet. Ähnlich existierte der IWF, um zu gewährleisten, dass für die Mitgliederstaaten die Finanzmittel zur Überbrückung von Währungsbilanzdefiziten vorhanden waren, die als Ergebnis von längerfristigen Export/Import-Ungleichgewichten entstanden. Auf diese Weise sollten Währungsturbulenzen als Störung des Welthandels vermieden werden.

Das wichtigste aber war ein System von festgelegten zwischenstaatlichen Wechselkursen, um das glatte und schnelle Wachstum im internationalen Handel zu erleichtern. Dieses System wurde gewährleistet durch die Vereinigten Staaten, welche den Großteil der Weltgoldreserven besaßen (angehäuft durch Lieferung von Waffen an die Alliierten in dem Krieg). Im Jahr 1944 garantierten sie, jeden Dollar zu einer festgelegten Rate gegen Gold umzutauschen.

Ergebnis dieser Politik war, dass die Richtung dieser Investitionen (die bis in die 1980er andauerte) derjenigen der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg entsprach; die meisten Auslandsinvestitionen hatten als Quelle und Ziel die Mitglieder der Triade. Dies zeigt, dass die wesentlich integrative Dynamik in der Weltökonomie in dieser Periode zwischen der Europäischen Union, den USA und Japan bestand, nicht zwischen ihnen und dem Süden. Und wir werden sehen, dass sich dies ändern sollte.

Auch wenn all dies die US-Herrschaft untermauerte, begann der große Erfolg der Ausdehnung des internationalen Kapitalismus nach 1945 unvermeidlich die Basis dieser finanziellen Macht zu untergraben. Investitionen und Anleihen führten dazu, dass in den späten 1960ern mehr Dollars im Ausland gehalten wurden, als dass sie gegen die US-Goldreserven entsprechend der zugesagten Rate umgetauscht werden konnten. Im Jahr 1972 lockerte Nixon das Bretton Woods Abkommen, um die US-Reserven zu sichern. Der Dollarkurs begann frei zu fluktuieren und bald wurden alle größeren Währungen frei gehandelt.

1972-82: Das Finanzkapital wird von Leine gelassen

Der Zusammenbruch des Bretton Woods Systems der finanziellen Kontrollen beseitigte eine Barriere für die Selbstausdehnung des Kapitals. Wenn bis dahin das Finanzkapital darauf beschränkt worden war, mehr oder weniger die Hausmagd der Handelsexpansion zu sein, befreite es die Aufhebung der Kontrollen zwischen den größeren OECD-Ländern nach 1974. Das Kapital war nun frei, seine Formen zu diversifizieren und sich die besten Erträge in aller Welt zu suchen.

Aber, auch wenn man die bürokratisch geplanten Ökonomien beiseite lässt, in die es wenige Einfallstore gab, gab es noch das Problem, wie die Nachfrage für solche neuen finanziellen Instrumente und Investitionen im Rest der Welt angeregt werden konnte. Die Triade sah sich immer noch Hindernissen in der Form von Kapitalfluss-Beschränkungen durch die ganze Dritte Welt, so wie Handelsbarrieren gegenüber. Die Weltwirtschaftskrise in den Jahren 1974 – 76 und erneut in den Jahren 1979 – 82 machten solche Hindernisse für die größten multinationalem Konzerne noch ärgerlicher, die ungeduldig nach neuen Märkten und neuen Arbeitskräften zum Ausbeuten lechtzten. Das wurde alles für das Finanzkapital noch verschlechtert durch die inflationären Konsequenzen des nachfrage-orientierten keynesianistischen Krisen-Managements, das die meisten Regierungen als Antwort auf die Rezessionen durchführten.

Die 1980er Jahre: Die neo-liberale Offensive

Die 1980er, das Jahrzehnt von Reagan und Thatcher, sahen eine konzertierte politische Initiative der multinationalen Konzerne, der Regierungen und von IWF/Weltbank, um die Barrieren gegenüber dem Waren– und Kapitalexport in den Süden niederzureißen. Ihre Zielsetzung war es, die Investitionskosten zu senken, die „economies of scale“ zu vergrößern und Vorteile aus autoritären, arbeiter- und gewerkschaftsfeindlichen Regierungen zu ziehen.

Dies war der Zeitpunkt, zu dem IWF und Weltbank ihre Arbeitsweise veränderten, um der erneuten Vormachtstellung des Finanzkapitals zu entsprechen. Sie gebrauchten die zunehmenden Schuldenbelastungen der Halbkolonien als eine Waffe gegen sie; im Austausch für kurzfristige Hilfe benützten sie Programm um Programm zur Handelsliberalisierung, Deregulierung und Privatisierung – alles, um neue, profitable Geschäftsfelder für die multinationalen Konzerne und Banken der Triade zu eröffnen.

Die Implementierung dieser Politik begann während des Jahrzehnts aufgrund von gewonnener Erfahrung und perfektionierter Techniken an Fahrt zu gewinnen. Trotzdem gab es noch Grenzen für den Zugriff des Finanzkapitals. Die ersten Brückenköpfe wurden innerhalb der bürokratischen geplanten Ökonomien errichtet, besonders in Chinas „Sonderwirtschaftszonen“. Aber darüber hinaus waren ihre Ökonomien im wesentlichen außer Reichweite und solange dieser Sachverhalt Bestand hatte, konnten andere Länder hoffen, zwischen den zwei großen Blöcken zu taktieren.

Der Triumph der Globalisierung

Der Durchbruch zum qualitativen Wechsel in der Periode kam mit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks, der Rezession von 1989 – 91 und der Entscheidung in China zur Demontage der Planwirtschaft und der Öffnung des Landes für kapitalistische Investitionen (15).

Das Muster des Investitionsflusses wurde revolutioniert, indem die westlichen multinationalen Konzerne Betriebe aus ihren Hochlohn-Heimatländern weg verlagerten, staatliches Vermögen aufzukaufen begannen und zu Verleihern von Geld an ausländische Regierungen und Firmen für exportorientierte industrielle Projekte wurden. Im Ergebnis nahm der Anteil des produzierenden Gewerbes von weniger als ein Viertel an den Exporten von Entwicklungsländern im Jahre 1980 auf mehr als 80 % im Jahr 1998 zu.

In ähnlicher Weise nahm der Kapitalfluss in die Entwicklungsländer von weniger als $ 28 Milliarden in den 1970ern auf $ 306 Milliarden im Jahr 1997 zu. In diesem Prozess änderte sich seine Zusammensetzung entscheidend. Die staatlichen Zuflüsse wurden um mehr als die Hälfte beschnitten und private Zuflüsse wurden die große Kapitalquelle für eine Reihe von „Schwellenländern.“

Auch die Zusammensetzung dieser privaten Kapitalflüsse änderte sich beträchtlich. Auslandsdirektinvestitionen wuchsen fortwährend in den 1990er Jahren. Real wuchs der Netto-Portfoliofluss von $ 0,01 Milliarden im Jahr 1970 auf $ 103 Milliarden im Jahr 1996, als neue internationale Fonds und die Rentenfonds den Fluss von Anlagekapital in die Entwicklungsländer kanalisierten. Dagegen gingen die Bankkredite zurück.

Der größte Aufschwung der Auslandsdirektinvestitionen in Richtung Süden fand  in den 1990er Jahren statt, die das schnellste Wachstum von ausländischen Kapitalflüssen im ganzen Jahrhundert aufwiesen (16). Im Jahr 1990 standen Bankdarlehen, Auslandsinvestitionen, Anleihen und Anlageflüsse jeweils bei rund $ 50 Milliarden, bis der große Aufschwung begann und seinen Höhepunkt im Jahr 1997 erreichte.

Es war vor allem dieses Überfluten durch das US-Finanzkapital, das Kommentatoren dazu führte, den Begriff „Globalisierung“ zu prägen, um die offensichtlich plötzliche Fähigkeit der größten Weltkonzerne zu beschreiben, ihre Marken und ihre Logos überall auf der Welt einzubrennen, wo sie es wollen.

In der ersten Hälfte des Jahrzehnts wurde dieser Prozess angetrieben durch den Ausverkauf der staatlichen Firmen in Lateinamerika und Asien an die triaden-basierten multinationalen Konzerne, während die Kapitalkontrollen in der ganzen Dritten Welt gelockert wurden. Es gab 1.187 solcher Investitions-Liberalisierungsmaßnahmen zwischen 1991 – 2000. Vor allem in der Periode von 1994 –  97 führte dies zu einem massiven Anstieg von Bankkrediten an Firmen und lokale Banken aus der Dritten Welt. Dieser Sieg des Neoliberalismus wurde symbolisiert durch die Transformation des GATT in die WTO im Jahr 1995.

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre kamen ,speziell innerhalb der Triaden-Länder Fusionen und Aufkäufe hinzu, die für die Mehrzahl der Auslandsdirektinvestitionen verantwortlich waren – begleitet vom Boom der Aktienmärkte (da sie mehr Aktienkapital erhältlich machten). Schließlich führte die Asienkrise des Jahres 1997 zu einem Rückfluss des spekulativen Kapitals in die USA.

Der asiatische Crash von 1997 bewirkte auch eine andere Verschiebung im Weltkapitalismus: ein rasche Beschleunigung der kapitalistischen Entwicklung in China aufgrund imperialistischen, speziell US-amerikanischen Kapitalexports.

Nach dem Zusammenbruch im Jahr 1997 sank die Kapitalinvestition z.B. in Südkorea und Indonesien (17). Im Gegensatz dazu hat China seit 1997 einen massiven Zufluss erlebt, nachdem „wachsende Konkurrenz, fallende Transportkosten und nachlassende Nachfrage multinationale Firmen dazu zwingen, in die Region mit den niedrigsten Produktionskosten auszuweichen (18).“ Im Jahr 2002 erreichten Auslandsinvestitionen nach China die Höhe von $ 52,7 Milliarden – ein Rekord.

In seinem Gefolge hat der massive Zufluss von Investitionen den Anstoß zu einer riesigen und historisch beispiellosen Welle von Warenexporten von China in den Rest der Welt gegeben. Die Provinz Guangdong exportierte im Jahr 2002 alleine mehr als in den Jahren 1978-90 zusammen genommen! Die chinesischen Exporte als Ganzes haben sich in den Jahren seit der Asienkrise 1997 verdoppelt.

Im Gegensatz dazu brauchten Großbritannien, Deutschland und Japan jeweils 12, 10 und 7 Jahre um ihre Exporte zu verdoppeln, als sie auf der Höhe ihrer ökonomischen Macht im 19. und 20. Jahrhundert waren (19).

Heute werden sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis mehr Menschen der Weltbevölkerung durch den Kapitalismus ausgebeutet als zu irgendeiner anderen Zeit in der Geschichte. Die geografische Ausdehnung der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse war nie globaler.

Das Ausmaß der Integration der kapitalistischen Nationen – ausgedrückt im Verhältnis von Handel und Auslandsdirektinvestitionen zum Bruttoinlandsprodukt – erreichte neue Höhen, auch wenn dies die Form von größerer Regionalisierung annahm und ein Drittel der Nationen und Menschen durch diesen Prozess stärker als je zuvor marginalisiert wurden.

Schließlich ist dies die Periode des triumphierenden Finanzkapitals, in der die klassischen Eigenschaften des Imperialismus, so wie sie durch Lenin beschrieben worden waren, wieder erscheinen als die definierten Eigenschaften des ökonomischen Weltsystems.

Monopole wurden massiv konsolidiert als der Kern des ökonomischen Lebens und damit dehnte sich die Macht der Finanzkonglomerate mehr denn je aus; der Kapitalexport – mit seinem revolutionierendem Effekt in den Gegenden, die er erreicht – erreicht neue Höhen und die Welt wird wieder einmal neu aufgeteilt, indem die USA und Europa um die Märkte, die Arbeitskräfte und die natürlichen Ressourcen der ehemaligen degenerierten Arbeiterstaaten wetteifern.

Der Garant der Globalisierung: Der US-Imperialismus

Der Schlüsselfaktor für die Erklärung der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg und die Rolle des Finanzkapitals dabei ist die Expansion und Entwicklung der US-Ökonomie. Am Anfang der Periode war die USA schon hegemonial gegenüber den anderen imperialistischen Mächten, ob Sieger oder Besiegter. Diese Überlegenheit ergab sich daraus, dass die Vereinigten Staaten im Jahr 1945 das Weltkapital, seine Goldreserven und die Schlüsselsektoren des industriellen Outputs monopolisierten.

Am Ende des Krieges gab es in Washington eine politische Entscheidung zum Wiederaufbau der anderen imperialistischen Mächte durch Kredite und Beihilfen, ob für Alliierte oder für Achsenmächte. Die Absicht war die ökonomische Stabilisierung in diesen Ländern, die Vermeidung einer Wiederholung der revolutionären Umwälzungen der Periode von 1918-21 und die Öffnung der Märkte für US-Waren und Kapital. Zu dieser Zeit wurde diesen am besten gedient mit einer Stimulierung des Handels durch Abbau von Zollschranken und durch festgesetzte Wechselkurse.

Nicht überraschend setzte die USA ihren Willen in den Debatten über Dimension und Funktion von IWF, Weltbank, GATT, NATO und die Vereinten Nationen in den Jahren 1944-48 durch. Sie förderten auch die Bildung der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) in den 1950er Jahren und bis 1971 stützten sie die internationale Finanzarchitektur und dadurch auch die Ausdehnung des internationalen Handels.

In den folgenden Jahrzehnten installierten die USA eine Kette von Militärbasen auf der ganzen Welt, um ihre Interessen zu verteidigen, diktatorische halbkoloniale kapitalistische Regime abzusichern und stalinistisch geführte nationale Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika zu bekämpfen. Parallel unterstützten sie implizit den Prozess der Entkolonialisierung in Afrika und Asien gegen die alten europäischen imperialistischen Mächte, um diese Kontinente für den Einfluss von US-Konzernen und US-Politik stärker zu öffnen.

Kurz, sie überwanden die Trennungen zwischen politischer, ökonomischer und militärischer Macht, die hinter dem Fehlen einer imperialistischen Führung in den zwei Jahrzehnten vor 1940 lagen. Dieses erlaubte den USA das zu erreichen, was wir heute als Voraussetzung für die kapitalistische Globalisierung sehen können: dass eine große Macht, die gemäß ihrer eigenen Partikularinteressen handelt, dabei tatsächlich die allgemeinen Interessen des globalen kapitalistischen Systems befördert und die Bedingungen garantiert, die für seine Reproduktion notwendig sind.

Natürlich machten sie dies in den zwei oder drei Jahrzehnten nach 1945 unter Bedingungen von steigendem Profit, Produktivität und Output bei allen imperialistischen Mächten, einer Periode geringer konjunktureller Einbrüche und expandierenden Handels, in der die innerimperialistischen Widersprüche unterdrückt waren, auch wenn Konflikte über die Dekolonisierung vereinzelt aufflammten.

All das zeigt, dass die USA selbst während der Zwischenkriegszeit und im Krieg eine innere Entwicklung durchgemacht hatten, die sie dazu drängte, den Isolationismus aufzugeben und eine neue globale Rolle anzunehmen. Doch war diese interne Entwicklung nicht schon am Ende des Krieges beendet. Im Gegenteil, mehrere Jahrzehnte fortgesetzter Binnen-Ausdehnung und weiterer Reifung lagen noch vor dem neuen imperialistischen Hegemon, bevor er beginnen würde, sich seiner eigenen Nemesis zu stellen.

Seit den 1960ern wurde diese absolute Hegemonie aus verschiedenen Richtungen herausgefordert. Die USA hatten dabei versagt, die Lücke zu füllen, die der französische Imperialismus in Südostasien hinterlassen hatte und erlitten schließlich eine massive militärische Niederlage im Jahr 1973 (Vietnam). Dies bedeutete auch eine politische Niederlage zu Hause unter der Wirkung einer großen Antikriegsbewegung. Im Gefolge erlitten die USA eine Reihe von Rückschlägen während des Rests des Jahrzehnts von Iran bis Mittelamerika. Ihre Schwächephase zwang sie schließlich zur Entspannung mit China.

In den 1960ern und 1970ern begannen die USA, ihre Wettbewerbsvorteile in einer Anzahl von Märkten gegenüber der EG und Japan zu verlieren. Der Produktivitäts- und Innovationsvorsprung ging zurück, Marktanteile wurden von den US-multinationalen Konzernen verloren. Europa verbesserte sein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 54 % des US-Niveaus im Jahr 1954 auf 75 % in den 1980ern.

Die Krise der ersten Hälfte der 1970er war das unvermeidliche Ergebnis dieser Faktoren und die USA beendeten die 1970er nur als erster unter Gleichen, nicht als ihr Oberherr. Durch diese Bedingungen und die zwei ernsten internationalen Rezessionen zwischen 1970 und 1979 tauchten innerimperialistische Spannungen und Rivalitäten auf, speziell mit Europa über Handel und Außenpolitik.

In den frühen 1980ern, während die USA darum kämpfte, verlorenen Boden wieder gutzumachen, kam Japan als dynamische ökonomische Supermacht hinzu und die USA schlitterten erstmals seit 1945 in einen Handelskonflikt mit dem japanischen Imperialismus und in finanzielle Abhängigkeit von ihm.

Trotz dieser ökonomischen Herausforderungen und der militärischen Rückschläge gegenüber nationalen Befreiungsbewegungen, verloren die Vereinigten Staaten nie ihre relative ökonomische Führung, ihren reaktionären Griff auf die südamerikanischen Regime oder ihre überwältigende militärische Überlegenheit in der NATO.

Die US-Kapitalistenklasse hat die letzten 20 Jahre damit verbracht, verlorenen Boden zurückzugewinnen. Sie sponserte erfolgreich heimliche und offene reaktionäre Kriege in Zentralamerika. Durch verschärfte Aufrüstung brach sie das Rückgrat der UdSSR im Jahr 1989. Dies wiederum brach die Front des zögerlichen Widerstandes gegenüber der US-gesponserten neoliberalen ökonomischen Agenda: das Ende der Kapitalflusskontrollen und Handelsbarrieren, Privatisierung der staatlichen Unternehmen, Deregulierung von Arbeits- wie von Umweltschutz. Letztlich waren es die 90er Jahre, die die dramatischsten Veränderungen in praktisch allen Aspekten der US-Wirtschaft und ihrer internationalen Rolle brachten.

Trotzdem wurden viele der Grundlagen für diesen Wandel  in den 1980ern gelegt. Im Inland begann die Reagan-Administration eine erfolgreiche Offensive gegen die Arbeiterbewegung im Jahr 1981, die in eine historische Schwächung derselben mündete. Das ebente den Weg für zwei Jahrzehnte von fallenden Arbeitskosten, größerer Flexibilisierung der Arbeit und längeren Arbeitsstunden. Dies wiederum gab den US-amerikanischen multinationalen Konzernen die Möglichkeit, die Profite wieder in die Höhe zu treiben, zu investieren und tatsächlich einen größeren Fortschritt in der Binnen-Produktivität und in Produktinnovationen in den 1990er Jahren zu machen.

Dies schuf die Voraussetzungen für eine massive Expansion von Investitionen, Profiten und Marktanteilen in den 1990ern. Die multinationalen Konzerne der Vereinigten Staaten haben den Anteil an den insgesamt auf der Welt gehaltenen Auslandsanlagen der 100 weltgrößten multinationalen Konzerne um etwa 6 % seit 1990 gesteigert. Im Vergleich dazu ist der Anteil der EU-multinationalen Konzerne leidlich stabil geblieben (20).

Die Anzahl von US-Konzern-Dependancen stagnierte in den 1980ern unter den Bedingungen der Schuldenkrise in Lateinamerika und der nur langsamen Demontage von Kapitalkontrollen in den meisten Ländern der Nicht-OECD-Welt (21). Ihre Zahl wuchs nur um etwa 6 %. Jedoch schossen sie in den 1990ern wie Pilze aus dem Boden, als die Kapitalkontrollen wegfielen, Russland, China und Osteuropa sich öffneten und Lateinamerika sich erholte. Zwischen 1989 und 1998 wuchs die Zahl der US-Konzernfilialen um 38 %.

In der Periode von 1989-97 gab es bei den mehrheitlich von US-Konzernen gehaltenen Auslandsfirmen eine Wachstumsrate von durchschnittlich 7,2 % pro Jahr. Dies übertraf bei weitem die Wachstumsrate der US-Ökonomie und von US-basierten Werken der Mutterkonzerne (22). Am Ende des Jahres 2000 hatte die gesamte auswärtige Kapitalanlage unter US-Kontrolle einen Wert $ 7,2 Billionen erreicht.

Zur selben Zeit breiteten sich die US-Konzerne über die OECD-Grenzen hinaus aus. Im Jahr 1989 beheimateten die OECD-Länder 71 % aller US-Konzerntöchter; sie umfassten 83 % aller Verkäufe von US-Konzernen, 80 % ihres Kapitals und 70 % ihrer Beschäftigung.

Um 1998, während die OECD-Länder noch 67 % aller Konzerntöchter beheimateten, gab es eine Verdopplung der Filialen im den nicht-OECD-Ländern Asiens. Der Anteil der OECD-Länder an der Kapitalanlage der US-Konzerne fiel von 80 % im Jahr 1989 auf 68 % im Jahr 1998. Ein beachtliches Wachstum im US-Investment in Südostasien und China und eine kleine, aber bedeutende Präsenz in Osteuropa waren die Hauptmerkmale des Jahrzehnts (23).

Trotz dieser Ausweitung der US-Konzerne in neue Gebiete muss festgestellt werden, dass im Jahr 2000 die Mehrzahl der US-Anlagen und jährlichen Auslandsdirektinvestitionen seinen Weg immer noch nach Europa (55 %) fand (24). Deshalb muss ein Unterschied gemacht werden zwischen dem entscheidenden Gewicht von US-Investitionen in den Triadenländern und dem schnellen Ausbreiten der Investition rund um die Welt, was die globalen geopolitischen Interessen des US-Imperialismus ausweitete.

Während der 1990er Jahre änderte sich auch das Profil der US-amerikanischen multinationalen Konzerne beträchtlich. Im Jahr 1982 waren die US-Ölunternehmen für 11 % aller Konzerntöchter verantwortlich, für 36 % des Handels und 43 % des Anlagevermögens. Im Jahr 1998 waren die jeweils vergleichbaren Zahlen 6, 11 und 25 %. Das Jahrzehnt zeigte auch eine größere Diversifikation hin zu anderen Industriesektoren. Zum dynamischsten Sektor auf diesem Gebiet wurde das Finanz- und Versicherungswesen mit 350 %igem Kapitalwachstum und Verdopplung des Umsatzes (25), wenn diese Entwicklung von einer niedrigen Basis startete. Die Investitionen der US-Finanzkonzerne wuchsen um 13 % pro Jahr im Zeitraum von 1982 – 98, dreimal so schnell wie jene der verarbeitenden Industrie.

Im Gefolge dieser Neubelebung zogen die US-Konzerne gegenüber ihren europäischen und japanischen Rivalen davon. Die Produktivität in der US-Ökonomie verbesserte sich in den 1990ern um einen jährlichen Durchschnitt von 2 %. Obwohl immer noch unter der Periode von 1957-73, war dies eine substanzielle Verbesserung gegenüber den 1970ern (mit 1,3 %) und den 1980ern (mit 1,5 %). Außerdem unterschied sich dies vom Wachstum der EU in der ersten Hälfte der 1990er. Dort war das Produktivitätswachstum zu einem großen Teil ein Ausdruck zunehmender Arbeitslosigkeit (1 % pro Jahr Abnahme in absoluten Arbeitsstunden), während in den USA die 1990er-Produktivitätsgewinne in einem Jahrzehnt kamen, das eine jährliche Erhöhung der geleisteten Arbeitsstunden von 1,6 % brachte.

Der lange US-Aufschwung von 1991 – 2000 kontrastiert mit der andauernden Stagnation des japanischen Kapitalismus und dem gedämpften  Wachstum der EU in derselben Periode. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wuchs in den USA zwischen 1995-2001 um 2,3 % pro Jahr verglichen mit der EU mit 1,4 %. Im Jahr 2001 lag das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der EU nur bei 67 % des BIP/Kopf der USA – ein Resultat höherer Produktivität, größeren Arbeitsvolumens und höherer Beschäftigungsquote.

Nirgendwo ist die US-Überlegenheit seit dem Zweiten Weltkrieg so offensichtlich wie in der militärischen Sphäre. Die USA hat das Geld, das Personal  und die Hardware, um den Rest der Welt in die Tasche zu stecken. Sie hat nun auch die politische Entschlossenheit, dass die Staatssouveränität der anderen Nationen entbehrlich ist und ein Hindernis zur Durchsetzung ihrer eigenen nationalen imperialistischen Interessen darstellt. Sie hat es nicht nötig, sich der Zustimmung ihrer Hauptalliierten zu versichern (noch weniger der von Agenturen wie der UNO), um Attacken gegen diejenigen, die sie für die Feinde der USA halten, durchzuführen.

Die „Financial Times“ schrieb im Februar 2002:

„In militärischen Begriffen gibt es keinen ernsten Gegner, der die USA an der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen hindern könnte. Sogar bevor Präsident Bush an die Macht kam, übertrafen die Militärausgaben der USA auch die ihrer engsten Verbündeten innerhalb der NATO beträchtlich. Mit mehr als 118.000 Armeeangehörigen in Europa, etwa 92.000 in Ostasien und dem Pazifik, hat die USA eine unvergleichlich globale Reichweite – ganz zu schweigen von dem 1,3 Millionen aktivem Dienstpersonal auf ihrem Heimatterritorium. Der Abstand zum Rest der Welt wird sich weiter vergrößern, da die Bush-Administration die größte Anhebung in den Rüstungsausgaben seit der Reagan-Ära plant. In ihrer Budgetplanung hat die Administration vor, die jährlichen Ausgaben des Pentagon während der nächsten 5 Jahre um $ 120 Milliarden aufzublasen, dabei allein im nächsten Jahr um $ 48 Milliarden auf $ 379 Milliarden. Das überschreitet zufolge der Zahlen vom Stockholmer Institut für internationale Friedensforschung die kombinierten Militärausgaben der 14 Nationen mit den nächstengrößten Verteidigungsausgaben – darunter Japan, Westeuropa, Russland und China (26).“

Seit dem 11. September haben die USA ihren militärischen Griff auf der Welt gefestigt. Heute haben sie eine militärische Präsenz in 100 der 180 Länder in der Welt, beginnend bei einigen duzend „Beratern“ bis hin zu von Waffen strotzenden Riesen-Stützpunkten. Sie haben Stützpunkte in Schlüsselstaaten in der ehemaligen UdSSR wie Usbekistan und Kirgisien errichtet. Sie haben Marinesoldaten in Georgien eingesetzt zum Kampf gegen Tschetschenen und Sondertruppen in den Philippinen, um muslimische Guerilleros zu jagen. Seit dem 11. September ist die Anzahl der US-„Berater“ und ihre Rolle bei den Operationen gegen die FARC in Kolumbien enorm gestiegen.

Im Rückblick ist es leicht zu sagen, dass die Nachrufe auf den USA-Imperialismus in den 1970er und 1980er voreilig waren. Der USA-Imperialismus war nicht „verrottet und reif“ wie verschiedene imperialistische Mächte es am Vorabend des Ersten oder Zweiten Weltkrieges waren. Doch das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung gilt mit gleicher Klarheit auch für die Vereinigten Staaten. Die US-Hegemonie innerhalb des imperialistischen Lagers war niemals größer als unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Alliierte ebenso wie die Feinde am Boden lagen. Doch ein Sechstel des Globus war seiner Reichweite entzogen, indem dort der Kapitalismus überwunden war und sich dieser Teil der Welt vom kapitalistischen Weltmarkt abgekoppelt hatte. Die USA war auch paradoxerweise als eine kapitalistische Macht in einer gewissen Rückschau noch relativ unterentwickelt. Sie war noch stark abhängig in Akkumulation, Profiten und Nachfrage von ihrem Binnenmarkt.

Heute hat sich das Bild gewandelt. Durch den Zusammenbruch der Finanz-Nachkriegsarchitektur, durch die Herausforderung durch den europäischen und japanischen Imperialismus und das Ende des Nachkriegsbooms, der es erlaubte Profite und Löhne gleichzeitig zu steigern, wurde den Vereinigten Staaten die globale Ausrichtung aufgezwungen wie nie zuvor – ökonomisch, diplomatisch und militärisch. Daher sind heute ihre Konzerne diversifizierter, größer, zahlenmäßig stärker, haben ein größeres Gewicht verglichen mit ihren Rivalen und werden durch eine größere und stärkere technologisch überlegen bewaffnete Streitmacht als jemals zuvor unterstützt. Die USA sind seit dem Ende des Kalten Krieges beschäftigt mit einer präventiven Offensive gegen ihre imperialistischen Rivalen und solche Länder, wie China und Russland, die es werden könnten.

Seit dem 11. September hat der US-Imperialismus seinen reaktionären Versuch vertieft und beschleunigt, jeden Widerstand gegen die Spielregeln seiner Kapitalgesellschaften und gegen seine außenpolitischen Zielsetzungen zu zerschlagen. Er hat den Krieg in Afghanistan angezettelt, er fing einen anderen gegen den Irak an, er ermutigte Israel, die palästinensische Intifada zu zerschmettern, fuhr fort mit seiner militärischen Unterstützung für Kolumbiens Krieg gegen die FARC, und war in die Verschwörung in Venezuela verwickelt, um Chavez zu stürzen.

Die Bush-Administration versucht mit allen Mitteln, die Vorsitzenden der Organisation zum Verbot von chemischen Waffen (OPCW) und der internationalen Kommission über die Klima-Änderungen zu stürzen. Ersterer, Jose Bustani, forderte, dass es der OPCW erlaubt sein müsse, US-Fabriken mit demselben Recht zu inspizieren, das die USA in Bezug auf den Irak und den Rest der Welt mit aller Selbstverständlichkeit fordern; letzterer soll einfach ersetzt werden, weil die US-Ölgesellschaften die Beseitigung dieser kritischen Stimme gefordert hatten.

In Joseph Conrads Roman „Nostromo“ aus dem Jahr 1904,  sagt der US-Geschäftsmann Holroyd über die heraufziehende Herrschaft eines jungen US-Imperialismus: „Natürlich werden wir eines Tages die Verantwortung übernehmen. Wir sind dazu gezwungen. Wir werden die Weltgeschäfte führen, ob es der Welt passt oder nicht.“ 100 Jahre später, ob es der Welt nun gefällt oder nicht, arbeitet die Bush-Administration daran, Holroyds Traum zu verwirklichen.

Die Bedrohungen der US-Hegemonie

Für die Bush-Administration kommt die einzige Bedrohung der Globalisierung von jenen Kräften, die sich weiterer Handels- und Investitionslockerung widersetzen. Dazu können zählen: antikapitalistische AktivistInnen, kritische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie Regierungen von Ländern der Dritten Welt, die gegenüber einer weiteren Marktöffnung ihrer Länder für multinationale Konzerne (MNKs) aus der Triade argwöhnisch bleiben.

Seit Seattle 1999 sind die halbkolonialen Herrscher unter enormem Druck gestanden, die Zugeständnisse zurückzunehmen, die sie den MNKs in den 1990ern gewährten, welche in der Privatisierung ihres Industrie- und Bankbesitzes sowie, in einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen mündeten. Im November 2001 starteten die Welthandelsorganisation (WTO) und ihre Mäzene eine riesige Gegenoffensive mit einem Versuch, eine neue internationale Handelsrunde in Gang zu bringen.

Formal waren sie erfolgreich, obwohl der Haupterfolg für die WTO in Dohar darin bestand, dass das Ministertreffen selbst nicht in völligem Kollaps endete. Wie es die Financial Times ausdrückte: „Übereinkunft wurde kraft schwammiger Formelkompromisse erzielt, die oft nur divergierende nationale Interessen überdeckten. Folge ist eine Verhandlungstagesordnung voller Zweideutigkeiten (27).“

Die Aussichten für eine neue internationale Handelsrunde, die die Wachstumsrate internationalen Austauschs und Investments massiv beschleunigen wird, sind höchst zweifelhaft (28). Die Länder der Südhalbkugel haben einer neuen Handelsliberalisierung nur bedingt Unterstützung erteilt; sie beharren auf Zugang zu geschützten Märkten für ihre Agrarprodukte in Triadenländern und Beendigung der Subventionen für das reiche Agrokapital des Nordens, die sich auf täglich eine Mrd. US-Dollar belaufen (29).

Oxfam schätzt, dass die EU und die USA beide „zu Preisen exportieren, die mehr als ein Drittel niedriger als die Produktionskosten liegen. Diese subventionierten Ausfuhren aus reichen Ländern treiben die Ausfuhrpreise der Entwicklungsländer nach unten (30).“

Da 70% halbkolonialer Exporte aus Landwirtschaftserzeugnissen und Textilien bestehen, ist dieser Zugang innerhalb des akzeptierten neoliberalen Modells entscheidend für deren Entwicklung. Auch frühere Abkommen werden von der EU und den USA nicht eingehalten. So verpflichteten sich beide, das Multifaserabkommen auslaufen zu lassen, das die Einfuhren von Textilien und Kleidung aus der 3. Welt einschränkt. Nun haben sie ihre Märkte für weniger als ein Viertel der Produkte geöffnet, auf die sie sich geeinigt hatten (31). Allgemein unterliegen Güter aus südlichen Ländern durchschnittlich vierfach höheren OECD-Zöllen als jene, die innerhalb der OECD gehandelt werden.

Klar ist, dass weder EU- noch US-Regierungen wegen der mächtigen Firmenlobbies in ihren eigenen Ländern diesen Forderungen nachgeben mögen. Selbst Pakistan hat keinen besseren Zutritt für seine Textilien erhalten, obwohl es sich ein Bein ausriss, um Washington im Krieg gegen Afghanistan zu helfen.

Zusätzlich ist der Handelskonflikt zwischen EU und USA lange Zeit nicht so hitzig gewesen wie jetzt. Als Vorbote des gegenwärtigen Streits weigerten sich die USA, vor einem WTO-Schiedsurteil in die Knie zu gehen, dass ihre Regierung US-MNK-Ausfuhren durch Steuererleichterungen unrechtmäßig subventioniert hätte. Im März 2002 verhängte die Bush-Amtsführung Schutzzölle von ca. 30% gegen Stahlimporte. Dies war ein bedeutender wirtschaftlicher Nasenstüber für eine Reihe 3. Welt-Länder und indirekt die Europäische Union, die vor einer Umlenkung der billigen, von den USA verweigerten Importe steht.

Die EU hat Vergeltung geübt und Abgaben auf US-Exporte in die EU im Wert von 400 Mio. $ aufgetischt. Beide Seiten bestehen darauf, die WTO-Regeln seien auf ihrer Seite; tatsächlich droht der ernsteste zwischenimperialistische Handelszwist seit Gründung der WTO 1995, deren Kontrolle zu entgleiten und zu gesteigertem Protektionismus zu führen.

Politisch ist die US-Entscheidung ein noch größerer Schlag gegen liberale Globalisierungsmodelle. Sie hat die hohle Rhetorik der Verpflichtung der USA zum „Freihandel“ entlarvt, die in Wahrheit davon abhängt, dass ihre MNKs am besten aufgestellt sind, um von der Offenheit zu profitieren. Ist das nicht so, – wie klar im Fall der weltweit konkurrenzunfähigen Stahlindustrie der USA – greift sie auf Schutzzollpolitik zurück.

Das wurde von Bushs größten Verbündeten im Ausland offen verdammt und schwächt den Einfluss der USA und anderer „FreihändlerInnen“, dem Süden mehr Zugeständnisse an Handels- und Investitionsliberalisierungen abzupressen. Bush hat schon länderübergreifende Institutionen wie die WTO geschwächt, deren Schiedssprüche er ignoriert hat.

Wenn die WTO aufhört, ein Versöhnungsforum für innerimperialistische Handelsdispute zu sein und zur Bühne wird, wo diese Differenzen nur angezeigt werden, bevor es zur einseitigen Aktion geht, sind die Aussichten für Globalisierung tatsächlich düster.

Der aktuelle Stahlhandelskrieg ist Ausdruck massiver, weltweiter Überkapazitäten (in der Größenordnung von 100 Mio. Jahrestonnen laut OECD) in der Industrie und folglich verschärften Ringens um Profitabilität mitten in einer Rezession. Anhaltende Stagnation, sehr niedriges Wachstum oder erneute Rezession in den nächsten Jahren, werden andere Bereiche ebenso entblößen und zum selben Resultat führen. Falls Bush außerdem scheitert, die Zustimmung des Kongresses in diesem Jahr für seine „Express“-Handelsunterredungen zu bekommen, wird die protektionistische Lobby in Washington buchstäblich alle bi- und multilateralen Handelsabkommen, die die Verwaltung geschlossen hat, kassieren und zerfleddern.

Seit dem Asien-GAU 1997 und dem Debakel von Seattle 1999 hat die Handelsglobalisierung konstant weiterer Regionalisierung das Feld geräumt. Besonders bilaterale Pakte zwischen zwei Ländern diskriminieren im Endeffekt andere und bilden zusammen keine Blöcke für die Globalisierung, sondern Hemmnisse dafür.

Auch regionale Handelsabsprachen (RTAs) gedeihen. 200 sind jetzt in Kraft und sie verbreiteten sich schnell in den späten 1990ern: „Die EU und, jüngeren Datums, lateinamerikanische Länder sind aktive Exemplare für RTAs und diese Mode hat nun auch Asien erfasst. Sie ist von Japan und Singapur eingeführt worden, einst solide Verfechterinnen des Multilateralismus (32).“

Sogar die Freihandelszone der Amerikas, selbst ein regionaler Handelspakt, ist natürlich von der Argentinienkrise angeschlagen und die Bush-Administration hat sie zugunsten einer engeren Freihandelszone mit Zentralamerika so gut wie verworfen (33).

Es stehen auch nicht nur globale Handelsflüsse unter Beschuss. Nach der Asienkrise gingen ausländische Investitionsströme in diese Region zurück und 2001 dann weltweit. Mehrere wichtige halbkoloniale Länder wie Indien und China haben die Bremsen beim Öffnungsvorgang ihrer Kapitalmärkte für ausländische MNKs angezogen, während sie sich für den Handel öffneten.

Selbst viele westliche WirtschaftswissenschaftlerInnen finden es schwierig, die malaysische Regierung für die Einführung von Kapitalkontrollen infolge der Asienkrise 1997 zu kritisieren. Sie erkannten an, dass diese das Land vor den schlimmsten Auswirkungen von Kapitalflucht retteten, welche offenere Volkswirtschaften wie Indonesien und Südkorea in Schließungs- und Massenentlassungsorgien tauchten. Viele Banken und PfandbriefbesitzerInnen sind auch jetzt risikoscheu und neues internationales Leihkapital für den Großteil des Südens ist versiegt (34).

Nicht nur weiteres internationales Handels- und Anlagenwachstum ist bedroht. Ein zahlreicher werdender Stimmenchor ist zu vernehmen, der argumentiert, ohne Maßnahmen zur einschneidenden Lockerung der Beweglichkeit von Arbeitskräften im laufenden Jahrzehnt würde das Wachstum schwer beeinträchtigt. Zwischen 1871 und 1915 verließen mehr als 36 Mio. Menschen Europa, die Mehrheit für die Neue Welt (35). Heute sind die Beschränkungen für internationale Wanderungsbewegungen drakonisch und schärfer werdend, wo doch zur Zeit auf den stagnierenden Arbeitsmärkten des Nordens Engpässe auftreten.

Ungeachtet, dass es ein Schlaglicht auf die pure Heuchelei der Ermutigung von freier Kapitalbeweglichkeit wirft, wenn die freie Beweglichkeit der Arbeitskraft auf der Suche nach höheren Löhnen und sichereren Arbeitsverhältnissen im Norden eingeschränkt wird, enthüllen solche Kontrollen einen wirklichen Widerspruch fürs imperialistische Kapital. Einerseits führen sie zu Qualifikationsverknappungen im Norden, andererseits sind sie notwendig, um das Überangebot an billiger Arbeitskraft, das grundlegend für profitable Anlage in der 3. Welt ist, beizubehalten (36).

Der Triumph des Finanzkapitals

Der Lauf der Wirtschaftsentwicklung während der letzten zwei Jahrzehnte hat das Gewicht des Finanzkapitals im Gesamtleben des Kapitalismus ungeheuer vergrößert. Wie wir schon gesehen haben, war Ende des 19. Jahrhunderts ein spezifisches „Finanzkapital“ als Ergebnis zunehmenden Zusammenrückens zwischen dem, was verhältnismäßig eigenständige Arten von Industrie- und Bankkapital gewesen waren, entstanden.

Während der letzten 100 Jahre hat der Stellenwert dieses Finanzkapitals immens zugenommen – obwohl nicht notwendigerweise in derselben institutionellen Form, in der es vor 100 Jahren existierte (v.a. in Deutschland) – aber in dem Sinne, dass nun finanzielle Operationen andere Geschäfte wie produzierend gewerbliche beherrschen.

Kurz, die spezielle Geschäftspalette wird im Vergleich zum Vorgang des Geldscheffelns immer zweitrangiger. Anders ausgedrückt: mit Heranreifen des Kapitalismus versucht der Tauschwert (Geld im Streben, sich zu vermehren), sich zunehmend von den Schranken zu befreien, in irgendeiner konkreten Kapitalform (Gebrauchswert) eine Zeitspanne gefangen zu sein. Als Beweis braucht man nicht weiter zu blicken, als zur Aufgewertung der Rolle der für Finanzen zuständigen Vorständsmitglieder innerhalb eines modernen Multis in den letzten 30 Jahren.

Während der Jahrzehnte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Vorrang der Finanzkapitals aus politischen Gründen untergeordnet. Der Nachkriegsaufschwung beruhte auf Neuanlagen und Ausweitung des Warenhandels innerhalb der Triade. In den letzten 30 Jahren aber  hat der Kapitalismus diese Grenzen zunehmend beiseite gerückt, und demzufolge ist die Erscheinungsform des Kapitals seinem Konzept immer näher gekommen.

Wie wir sahen, wurde das Kapital hauptsächlich in Europa und Japan in den frühen 70er Jahren von seiner Aufgabe als reine Dienstmagd einer kontrollierten Handelsexpansion und neuer fixer Investitionen „befreit“. Das Ende des Nachkriegswirtschaftswunders enthüllte, dass größere Bereiche multinationalen Kapitals vor wirklichen Problemen standen, profitable Akkumulation innerhalb existierender geographischer und sektoraler Grenzen aufrecht zu erhalten.

Kapital rebelliert nicht nur gegen nationale Schranken, sondern auch dagegen, auf nur ein oder zwei Daseinsweisen (z.B. „industrielles“, „kommerzielles“) zurechtgestutzt zu werden, die seiner Funktion strikte Scheidelinien auferlegen (37).

In den 1970ern und 1980ern fingen alle geographischen Grenzen zu fallen an und gleichzeitig die spezifischen Formen, in denen Kapital existieren konnte, zu verschwimmen. In einigen Fällen wurden die normalerweise mit einer Kapitalform in Verbindung gebrachten Funktionen (z.B. Bankwesen) von anderen (z.B. Industrie) aufgegriffen; in anderen begann eine Existenzweise von Kapital (z.B. Kredit), sich in eine Myriade neuer Formen zu vervielfältigen (z.B. Derivate, Risikoanleihen und Bonds).

Diese Vernichtung von Kontrollen und Restriktionen der Entwicklung neuer Kapitalformen erhielt teils ihren Anstoß aus der Not der MNKs heraus, neue Felder profitabler Ausbeutung zu finden. Ein weiterer Faktor lag am Druck, Investitionen als Versicherung gegen das sehr veränderte Geschäftsklima seit den 1970ern zu streuen. Bei traditionellen industriellen Investitionen waren die Gewinnmargen niedrig (und wiederkehrender heftiger Schwankung im Konjunkturzyklus unterworfen) und darüber hinaus für Jahrzehnte in diese Formen gegossen, während denen diese Anlagen sich amortisierten. Es machte für Großkonzerne Sinn, nach Anlageformen Ausschau zu halten, die größere Rendite abwerfen und schneller umschlagen konnten.

Das Ende der Devisen- und Kapitalkontrollen mag zusätzlich neue Möglichkeiten kreiert haben, brachte aber auch neue Risiken mit sich: was, wenn unerwartete Devisenkursänderungen plötzlich den Wert einer Investition ausradierten? Deshalb tauchten neue Arten an Kapital und Anlagen auf, – wie Hedgefonds – deren Bedeutung darin lag, sich zu verbreiten und deshalb Risiken zu minimieren.

Die andere größere finanzielle Entwicklung der Ära nach Brettln Woods war die Schuldenexplosion und folglich der Schuldtitelhandel („Securitisation“). Ohne Auflagen vermochten die Banken, Geld großzügig an souveräne Regierungen wie auch Firmen und VerbraucherInnen zu verleihen. Zögerlichen Kreditnehmern zwangen die Banken oft geliehenes Geld auf, womit infolge politischen Drucks von der Weltbank Bedingungen an die Kredite dieser „Entwicklungsfinanzierung“ geknüpft wurden.

1995 beliefen sich die privaten Schulden (Haushalte und Firmen) weltweit auf 31 Billionen $ und stiegen jährlich um 9%. Zunehmend beruhen die Profite des Finanzkapitals auf der Bildung fiktiven Kapitals (Schulden und Neuschulden); ein erwarteter zukünftiger Geldfluss wird in gegenwärtige Zahlungsfähigkeit verwandelt.

Alles in allem verschob die „finanzielle Revolution“ nach den 1970ern die Balance zwischen Auslandsdirektinvestitionen (FDI) und Handel einerseits und Finanzierungsinstrumenten andererseits zugunsten letzterer. Zwischen 1980 und 1990 nahmen die grenzüberschreitenden Transaktionen in Dividendenpapieren um jährlich 28% zu; zwischen 1993 und 2000 um mehr als 40% pro Jahr. Internationale Bankkredite erhöhten sich von 324 Mrd. $ 1980 auf 7,5 Bio. 10 Jahre später. Der internationale Anleihemarkt durchlebte in derselben Dekade eine Geschäftsausweitung um 537%.

Diese Zuwachsraten übertrafen die von Warenhandel und FDJ seit 1980 bei weitem (38). Zwischen 1982 und 1988 belief sich die Jahreszunahme des weltweiten Finanzvermögensstocks auf 3,8 Bio. $ verglichen mit 2,3 Bio. $ an Fixkapitalneubildung (39).

1971, am Ende der Ära stabiler Wechselkurse „verkörperten über 90% der Austauschtransaktionen auf der Welt eine Beziehung zur Finanzierung von Handel oder zukünftiger Investitionen, während weniger als 10% spekulativer Natur war. Heute sind die Zahlen umgedreht: über 90% aller Transaktionen sind spekulativ (40).”

Die Oberhand der Finanzen bedeutet, dass Gewinne nicht generell in neue Anlagen und Ausrüstungen zurückfließen. Stattdessen gehen sie entweder in kurzfristige Finanzmittel ein, die wenig mehr als eine Wette auf zukünftiges Geldeinkommen darstellen, oder in Aufkäufe und Fusionen. Obwohl diese im Grunde nur einen Eigentümerwechsel verkörpern, verheißen sie sofortige Erträge in Form gestiegener Börsenkurse und Anteilseignerdividenden, ganz zu schweigen von den Segnungen für DirektorInnen, die „Aktienoptionen“ halten. Die Diversifizierung des Finanzkapitals, um geringere Profitraten und die Unbilden des Konjunkturzyklus zu kompensieren, war eine gewichtige neue qualitative Entwicklung in der imperialistischen Epoche.

An der Spitze der Spekulationspyramide stehen Derivate wie die „Futters“, d.h. Abkommen, andere Finanzinstrumente zu einem vereinbarten Preis an einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt zu kaufen (Pfandbriefe oder Aktien). Enorm, die größte Firma, die jemals in den USA pleite gehen sollte, – und vermeintlich ihre siebtgrößte – war im Grunde ein Laden, der mit Derivaten auf die Bewegung von Energiepreisen Handel trieb. 2001 wurde geschätzt, dass der Gesamtwert aller Derivate im regulierten Handel ungefähr 20 Bio. $ betrug; aber der wilde „Ober he counter“-Markt (OTCs) wurde auf eine Größenordnung von 100 Bio. $ geschätzt und existierte vor 20 Jahren noch gar nicht!

Die Auswirkungen für die Ökonomie können an der Tatsache ersehen werden, dass nur ca. 5% des Kaufpreises von den ErwerberInnen sofort bezahlt und der Rest von den Banken geborgt wird. Die Stoßkraft einer Kette von Zahlungsverzug und Zusammenbrüchen auf die Realwirtschaft ist leicht vorzustellen.

Von all dem war in den Dekaden vor dem 1. Weltkrieg nichts in Sicht (41). Das Resultat ist die Konsolidierung der Herrschaft des Finanzkapitals gewesen. Während aber zu Lenins Zeit Bankhäuser die Szene beherrscht hatten, sind es heute Finanzkonglomerate. Dabei handelt es sich nicht einfach um die alten Banken unter neuem Markenzeichen, sondern einen richtigen Wandel in der Struktur des Finanzkapitals über die letzten 10 bis 20 Jahre hinweg.

Alle eingewurzelten Schranken im Bank- und Versicherungswesen sind verschwunden, und wieder einmal hat dieser Vorgang am meisten den Vereinten Staaten genutzt. 1992 betrieben europäische Banken eine breitere Aktivitätenpalette als ihre US-Gegenstücke, die durch den Glass-Steagall PT geknebelt wurden, zwischen Investmentbanking, Geschäftsbank oder Versicherung zu wählen. Clinton annullierte dieses Gesetz.

Das Ergebnis sollte während der 1990er das Antlitz des Finanzkapitals umgestalten. 1990 waren die acht ersten Finanzfirmen weltweit japanische Banken, angeführt von der japanischen Industriebank mit einem Vermögen von 57 Mrd. $ (42). 2001 hatten sich sieben der ersten acht ihren Sitz in den USA, angeführt von der Citigroup mit Bilanzwerten von 260 Mrd. $. Die Kauf- und Fusionswelle in den 1990ern half dies herbeizuführen und etablierte die führenden Firmen erstmals als wirklich weltweite Operateure. Bis zu den 1980ern waren besonders US-Firmen davon abgehalten, ihre Geschäfte im Ausland durch Übernahmen auszuweiten.

Natürlich verleiht diese Konzentration an Riesenvermögen in Verbindung mit Branchendiversifizierung und geographischer Verbreitung den gigantischen finanzkapitalistischen Firmen beträchtliche Reserven, mit denen sie solchen Schlägen wie dem Kollaps von Enorm standhalten können – der J. P. Morgen Chaise nicht das Rückgrat brach, trotz des Ausmaßes der dabei erzielten Verluste. Nichtsdestotrotz besteht wirklich die Möglichkeit angesichts der unablässigen Zunahme an Derivaten vom Enron-Typ – bis zu hunderten Billionen Dollar in den nächsten Jahrzehnten -,  dass diese Schuldenkette selbst die größten Finanzkonglomerate erdrosseln könnte.

Neues Akkumulationsmodell?

Das kombinierte Ergebnis des Entkoppeln der Finanzsphäre von ihrer Verankerung in der Produktion, die neoliberale Außerkraftsetzung der Kontrollen von Kapital und Handel und die Angriffe auf Löhne und Sozialleistungen sind erfolgt, um ein neues Modell von Kapitalakkumulation zu schaffen. Es ist einerseits gekennzeichnet durch verschärfte Ausbeutung und Kapitalüberakkumulation, andererseits durch Schulden, Deflation, Parasitismus und zunehmende Instabilität.

Auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Krieg, 1965, stand die Profitrate für nichtfinanzielle Korporationen in den G7-Ländern bei 22,5%. Danach verfiel sie ständig mit ernsterem Trudeln in den globalen Rezessionen der 1970er Jahre; sie erreichte ihren Tiefpunkt bei 14,3% 1982 in der Talsohle einer internationalen Rezession (43).

Die erste international koordinierte Reaktion auf die Rezession 1973-75 war, die Endnachfrage durch eine Geldspritze und mehr Regierungskredite zu stimulieren. Dies war das akzeptierte keynesianische Heilmittel gegen eine Rezession. Diese Auffassung wurde auf einem G 7-Gipfel 1978 in Bonn bekräftigt, der übereinkam, die Last für eine anhaltende Erholung von der Rezession auf Deutschland zu verlagern. Gleichzeitig suchten neoliberale Fraktionen durch Politikbeeinflussung eine alternative volkswirtschaftliche Antwort durchzusetzen, aber die Gewerkschaften waren stark und verhinderten die meisten nennenswerten Versuche, angesichts der Aufeinanderfolge von Wirtschaftskrisen nach 1973 die Arbeitsgeschwindigkeit zu beschleunigen, Löhne zu senken oder Sozialausgaben zu kürzen.

Wieder waren es die USA, die auf dem Weg zu einem imperialistischen Politikwechsel voranging, als sie den etablierten Konsens brach. Auslöser war die Inflationsbeschleunigung in der zweiten Hälfte der 1970er, Ergebnis sinkender Produktivität unter Bedingungen, wo die ArbeiterInnen erfolgreich ihre Reallöhne verteidigten und UnternehmerInnen steigende Kosten im Preis ihrer Halb- oder Verbraucherprodukte weiterreichten.

Angesichts zunehmender Oberhand der „Finanzoligarchie“ wurde die Inflation als Feind Nummer eins betrachtet. Steigende Inflation unterhöhlte den Wert der von Banken (und souveränen Verleihinstitutionen an die 3. Welt) gehaltenen Schuldentitel. Die Politik von IWF und Weltbank drehte sich, um sich diesem Standpunkt anzupassen, und sie stellten den Werterhalt des Leihkapitals über den des Industriekapitals (Fabriken, Arbeitsplätze usw.).

Am 6. Oktober 1979 drehte der US-Notenbankpräsident Paul Volker den Geldhahn zu und erhöhte die Zinssätze auf fast 20%. Andere G 7-Zentralbanken folgten auf dem Fuß. Die unmittelbare Auswirkung für die Industriekapitäne war ein gewaltiger Kostenanstieg des Schuldendienstes, der ohnehin schon schwierig genug war wegen der sinkenden Profite. Eine massive Talfahrt sowie eine große Bankrottwelle erfolgten in den Jahren 1980-82. Die 3. Welt-Schuldenkrise brach auch aus; Mexiko führte das Paket in die Zahlungseinstellung.

In den meisten Ländern resultierte Massenarbeitslosigkeit und damit eine Grundlage für einen Frontalangriff auf die Gewerkschaftsorganisationen in der industrialisierten Welt. Ein 10 Jahre währender Ablauf von Produktionsumstellungen folgte, der zu Flexibilisierung, Verlust von Gewerkschaftseinfluss und Lohnsenkungen führte. Parallel dazu gestattete ein Anschlag auf das soziale Netz gewaltige Gewinnsteuerersparnisse (44). Diese Umstrukturierung erfolgte vor dem Hintergrund einer sich herausbildenden neuen internationalen Arbeitsteilung, als die MNKs begannen, ihre gesamte Produktion oder Teile davon in die 3. Welt zu verlagern, um Vorteile aus niedrigeren Löhnen zu erzielen.

Zunehmende Globalisierung brachte auch mehr Konkurrenz für die halbkolonialen Märkte, was mit der Zeit sich in der Preissenkung für Rohstoffe und Energie niederschlug und somit in einer Produktionskostensenkung für die die MNKs, die Profitmargen der gigantischen multinationalen Groß- und Einzelhandelshäuser in der OECD steigerte (45).

China steht im Mittelpunkt dieses Deflationsprozesses. Gewaltige Kapitaleinströme seitens der großen MNKs haben im Verbund mit der Welt billigster Arbeitskraft Konkurrenz, verallgemeinertes Überangebot und fallende Preise angespornt. Es exportiert diese Deflation in den Rest der Welt, weil seine stets billigeren Ausfuhren den Erdball überfluten (46).

Eine verallgemeinerte, Jahrzehnte währende Abwärtspreisspirale (Deflation) ist aus verschärfter Konkurrenz, teilweiser Erholung der Produktivität, einem Absturz von Warenpreisen und an oder unter der Inflationsgrenze gehaltenen Lohnerhöhungen entsprungen (47). Zusammengenommen signalisierten diese Entwicklungen ein Ende des „fordistischen“ Regimes der Nachkriegsakkumulation, das in den G 7 auf dem „gleichzeitigen Wachstum von Produktion, Arbeitsproduktivität und Lebensstandard der Arbeiterklasse“ beruhte (48).

Nichts davon wurde ohne heftige Klassenschlachten durchgesetzt, aber im Allgemeinen waren die Ergebnisse dank der reformistischen Führung der Arbeiterbewegung überall die gleichen: gewaltige Niederlagen für die Arbeiterklasse.

Der Angriff auf die Löhne zum Zweck gesteigerter Ausbeutung sanierte die Profitraten. Vom Fußpunkt 1982 aus erholte sich die Profitrate. Am Ende der Erholungsphase stand sie bei 18,1%, leicht unterhalb dessen, wo sie sich am Vorabend der ersten internationalen Rezession 1973 befand (49). Während des langen zyklischen Wirtschaftsaufschwungs der 1990er stieg die Profitrate besonders in den USA weiter. Dort sprang die Profitmasse zwischen 1989 und 1997 um 82% und die Rate des Profits wuchs im gleichen Zeitraum um 28%, zurück auf das Niveau der späten 1960er und bis 15% unter die Nachkriegsrekordhöhe (50).

Der Erfolg war jedoch extrem einseitig, weil die Verbesserung der Ausbeutungsrate von einem Problem in der Realisierung dieser Profite begleitet war. Die Reallöhne der Arbeiterklasse stagnierten in vielen OECD-Ländern oder waren sogar gesunken, besonders in den USA. Die BIP-Sparquote war natürlich auch gesunken wegen des Zwangs, den laufenden Verbrauch inmitten stagnierender Reallöhne zu halten.

Das Absatzproblem hielt für den Kapitalismus eine handfeste „Lösung“ parat, jedoch in Form einer beträchtlichen Schuldenausweitung. Das Angebot leicht zugänglichen Kredits ist seit der Deregulierung der Finanzmärkte in den 1970ern unerbittlich angeschwollen. Die steigende Nachfrage ist eingesetzt als Folge dessen, dass Haushalte in einer Periode langsamer oder ausbleibender Lohnsteigerungen ihren Konsum aufrecht zu erhalten suchen und Firmen zu pumpen strebten, um zu investieren oder Aufkäufe zu finanzieren.

Zwischen 1945 und 1960 blieben die ausstehenden Schulden als Anteil am BIP gleichmäßig flach. Nach 1980 stiegen die Privatschulden viel schneller. „2000 betrug die ausstehende Privatschuld das Zweieinhalbfache des BIP (51).“ Und der Finanzsektor ist verantwortlich für eine zunehmende Proportion an den Schulden; seine Verbindlichkeiten machen 90% des BIP und 35% aller Nichtregierungsschulden aus.

In den 1990ern stiegen die gesamten Privatschulden in den USA um jährlich 6% und erreichten 2001 ein Rekordniveau. Im Vereinigten Königreich (UK) stiegen die Haushaltsschulden im gleichen Jahr auf das Rekordhoch von 118% des persönlich verfügbaren Einkommens (52).

Das Gleiche trifft auf Firmen in Europa und den USA zu; ihre Außenstände anteilig zu ihren Profiten oder zum BIP erreichten im 1990er-Boom Rekordhöhe.

Der Akkumulationsprozess verfiel besonders nach 1980 dem Schuldenmacher und ist abhängig davon (53). Jedoch untergräbt die Schuld die Akkumulation. Schulden in dieser Höhe können nicht endlos erhalten bleiben. Der Schuldendienst amerikanischer Haushalte belief sich 2002 auf 14% ihrer Einkünfte – eine größere Ziffer als am Vorabend der Rezession 1990-91. Was Firmen angeht, bestätigte The Economist, dass „Zinszahlungen von Firmen verschlucken einen Rekordanteil an ihren Profiten, doch sie borgten weiter das ganze Jahr hindurch (54).“

Die Fähigkeit zur Unterhaltung der Akkumulation unter der Bürde dieser Schulden hängt von erwarteten und tatsächlichen Profiten in den nächsten Jahren ab. Die große Schuldenzunahme in den 1990ern wurde hauptsächlich von Privathaushalten und Firmen im Glauben geschultert, dass die dicken Profite und Börsengewinne der zweiten Hälfte des Jahrzehnts (deutlich über 10% jährlich) unbegrenzt andauerten. Dies wie auch eine bemerkenswerte Zunahme an Löhnen und Gehältern sowie anderen Formen von Haushaltseinkommen ist extrem unwahrscheinlich.

Es ist nicht notwendig, sich vorzustellen, was passiert, wenn die Weltwirtschaft durch Schuldenanhäufung zu Boden gedrückt wird. Der japanische Kapitalismus durchlebt den Alptraum und steckt in seiner vierten Rezession binnen neun Jahren. Japans Banken verliehen an Firmen und Haushalte in den 1980ern Unsummen Gelder als Resultat der Liberalisierung der Finanzen.

Dies führte zu einem riesigen spekulativen Investitionsprogramm. Immobilien- und Grundstückspreise kletterten, ebenso die Börsenwerte. Als 1989 die Rezession ausbrach, brachen die Vermögenswerte ein, ebenso der Aktienmarkt (55). Ein größtenteils nicht rückzahlbarer Schuldenberg war aufgedeckt. Die Banken waren kräftig entblößt und vieles aus ihren Leihkapitalportfolios entpuppte sich als faul und unwiederbringlich. Schätzungen über das Ausmaß der nicht eintreibbaren Leihsummen an taumelnde oder gescheiterte Unternehmen beliefen sich auf zwischen 37-170 Bio. Yen im Jahr 2000. Die Banken waren aber unwillig, ihr „Vermögen“ abzuschreiben und bankrotte Firmen in den Konkurs zu treiben.

Eine Reihe von Regierungen hat jeweils die Banken mit öffentlichen Geldern in Anbetracht eines ausbleibenden von Neuanlagen getragenen Aufschwungs gestützt, Wachstum durch Steuer- und Zinssatzsenkungen sowie öffentliche Beschäftigungsprogramme zu unterhalten versucht. Alles was das bewirkt hat, war eine Injektion vorübergehenden Wachstums, während es die Staatsschuld in die Stratosphäre hochtrieb (130% des BIP) und eine Deflationsspirale schuf, weil niedrige Inflation sich in regelrecht fallende Preise während der letzten drei Jahre verwandelte.

Im Gegenzug lässt die Deflation die Konsumenten Ausgaben in der Hoffnung auf weitere Preissenkungen verschieben und das Verhältnis Schulden/BIP steigt weiter, weil das nominelle BIP parallel mit den Preisen sinkt. Deflation verteuert auch die Bedienung der Schuldenlast; somit scheuen Unternehmen, Profite für Investitionen zu verwenden, statt die „Bilanzen zu sanieren“, d.h. einiges an Schulden abzutragen.

Die Produktion auf erweiterter Stufenleiter kann in Japan ohne deutliche Umstrukturierung von Kapital, die tausende mehr Geschäfte – darunter große – schließen würde, indem die Geldhäuser erloschene Unternehmen als verfallen aus dem Verkehr ziehen, nicht wieder entfacht werden. Sie würde auch in einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit münden, die sich jedoch bereits auf einem Nachkriegshoch von 5,6% befindet. Das könnte die Profitraten wiederherstellen, die kollabiert sind, und die Kapitalanlage stimulieren. Aber solange die Regierungspartei LP und die Staatsbürokratie auf weiteren Runden öffentlicher Geldausgabe und Schuldenheckens bestehen, um ihre politischen UnterstützerInnen in verschiedenen Branchen zu „bedienen“, schaut dieser Handlungsverlauf unwahrscheinlich aus (56).

Falls und wenn eine Krise ausbricht und Firmen und Output einschneidend einbrechen, kann dies nicht umhin, internationalen Handels- und Investmentmustern seinen Stempel aufzudrücken. Japans Handelsüberschuss mit dem Rest der Welt schrumpfte 2001 um 40% hauptsächlich dank der US-Rezession. Nichtsdestotrotz bleibt Japan die zweitgrößte Volkswirtschaft weltweit und eine riesige Investorin und Handelspartnerin besonders in Asien. Ein Zusammenbruch würde anderswo in der Region eine rezessive Flutwelle auslösen sowie ein Zusammenschnüren des Welthandels und der Auslandsanlagen (57).

Seit 1982 sind alle größeren Wirtschaftskrisen des Kapitalismus durch Anhäufung von Schulden ausgelöst worden. In Mexiko konnte die Regierung in diesem Jahr den Auslandsschuldendienst nicht begleichen, als die Zinssätze in den Himmel hochgeschraubt wurden. 1989 begann Japans Konjunkturkrise, als ein Anstieg des Zinsfußes Firmenschulden unbesiegbar machte. In den 1990ern haben wir Mexiko (1994), Südostasien (1997) und Argentinien (2001) in die Knie gehen sehen, als die Schuldenhöhen sich als untragbar dank einer Rezession oder überbewerteten Währung entpuppten.

Die Schulden sind das über der Globalisierung schwebende Damoklesschwert. Wenn es herabsaust, könnte es die Sehnen des internationalen Handels und Investments für lange Zeit durchtrennen.

Das Untergraben der US-Vorherrschaft

Die Vereinigten Staaten sind ein politischer und militärischer Koloss, der auf der Welt herumreitet. Wirtschaftlich untermauern sie sowohl den Globalisierungsprozess, wie sie seine Hauptnutznießerinnen sind. Folglich sind sie durch dessen Widersprüche auch verwundbar.

Die US-Akkumulation in den 1990ern beruhte zentral auf einer Ausweitung von Schulden und Börsenerträgen, damit die VerbraucherInnen fortfahren konnten zu kaufen, obwohl selbst die Löhne stagnierten. Eine Menge des Geldes, das den Börsenboom anheizte, kam aus dem Ausland, nach 1997 zunehmend, weil AuslandsinvestorInnen vor dem Niederschlag des asiatischen Absturzes einen sicheren Zufluchtsort suchten.

Als der Welt einzige Supermacht spiegelte ihre starke Währung selbst nach dem Börsenkrach 2000 das Vertrauen wider, das die AnlegerInnen weltweit auf ihre Spannkraft hegten. Aber die ökonomische Struktur des US-Kapitalismus rechtfertigt solch blinden Glauben nicht. 2001 sackten die Unternehmensgewinne auf das Niveau der 1930er Jahre und die industrielle Kapazitätsauslastung liegt, obwohl verbessert, noch bei 75%. Das bezeugt die massive Überakkumulation von Kapital des Spätimperialismus.

Trotz eines in der Nachkriegszeit beispiellosen Niedergangs über drei aufeinander folgende Jahre (2000-2003) sind die Börsenmärkte in den USA immer noch überbewertet, weil sie zukünftige Gewinnerwartungen in Betracht ziehen; nach einem Jahr milder Rezession (2001) stieg die Schuldenmasse noch. Das Handelsbilanzdefizit ist riesig (5% des BIP), nimmt rapide zu und ist untragbar. Mittlerweile übertrifft der Auslandsbesitz in den USA das US-Vermögen im Ausland.

All das belastet den Dollar kräftig. Sein Außenwert gegen den Euro fiel im Jahr bis Februar 2003 um 20%. Doch der US-Kapitalismus ist entscheidend auf stetigen Zufluss fremder Fonds für seine anhaltende Blüte angewiesen. Gerade so wie die 14% der Weltbevölkerung, die in den USA leben, 40% des Weltenergieaufkommens verschlingen, saugen ihre Geschäfte der Welt Kapital auf, um ihr Wachstum und den Lebensstandard der Mittelklasse und besser gestellten Arbeiterschaft zu erhalten.

Sobald die globalen Pensionsfonds- und VermögensfondsinhaberInnen einen beständigen Dollarverfall vermuten, wird das Einfließen von Fonds versiegen. An diesem Punkt werden die Börsenbewertungen weiter zurückgehen, Kreditlinien aufgekündigt, wird der Schuldendienst verteuert und ein weiterer Spareffekt für die „Real“wirtschaft unvermeidlich. Der Motor der Weltwirtschaft würde abgewürgt oder schlimmer und die USA hörten auf, für viele andere Länder der „Markt der letzten Zuflucht“ zu sein. Eine lang hingezogene Konjunkturdelle oder Stagnation in den USA machte auch das US-Modell von Kapitalismus, nämlich Liberalisierung, Flexibilisierung und Schaffung von Niedriglohnarbeitsplätzen für die EU und Japan viel weniger attraktiv.

Anhaltende ökonomische Schwierigkeiten würde auf das Budget des Bundeshaushalts großen Druck ausüben einschließlich des Vermögens, sich in stets zunehmendem Maß der Aufrüstung kontinuierlich zu widmen, Truppen aufmarschieren zu lassen und neue Militärstützpunkte anzulegen. Einige Schätzungen für die Kosten des Kriegseinsatzes im Irak belaufen sich auf 1,9 Bio. $. Auslandsanleihen zwecks Fortführung dessen würden die Bereitwilligkeit der Finanzmärkte testen, immer mehr US-Schuldscheine zu halten. In jedem Fall würden sie die Einflussmöglichkeiten der Gläubigerländer auf die USA vergrößern. Weitere imperiale, militärische Expansion erforderte mindestens eine Rückkehr zu höheren Zinsraten, um die Nachfrage nach US-Staatsobligationen anzuziehen, was die peinliche Lage der von Schulden beladenen Firmen und Haushalte nur verschlimmern könnte. In diesem Szenario würden imperiale Bestrebungen und einheimische Zwänge gegeneinander arbeiten.

Politisch provozieren der anmaßende Charakter der US-Vorherrschaft, ihr heuchlerisches Gerede, ihre einschüchternde und befangene Diplomatie sowie ihre einseitigen Unterdrückungsakte Widerspruch aus allen Ecken – einschließlich anderer imperialistischer Mächte, deren eigene Regionalinteressen durch US-Aktionen bedroht werden.

Aber die Hauptopposition stammt von den Millionen Armer und Ausgebeuteter, die unter der von US-Konzernen angeführten Globalisierung leiden und den Hunderttausenden in der antikapitalistischen Bewegung Nordamerikas und Europas, die den Washington-Konsens abgelehnt haben und dafür kämpfen, die Herrschaft der MNKs über ihr Leben und das der BewohnerInnen des Südens zu beenden.

Kurzfristig werden wahrscheinlich die ersten Opfer dieses Widerstands die AgentInnen des US-Imperialismus in Lateinamerika, Nahost uns Asien werden – die verhassten Regenten der Golfmonarchien, jene in Argentinien, die das Regime des IWF in einem zerstörten Land wieder zu errichten suchen, Regierungen in Staaten der Ex-UdSSR, Indonesien oder den Philippinen, die US-Truppen und Stützpunkte hereinbitten.

Wenn diese regionalen oder lokalen KlientInnen des US-Imperialismus gestürzt oder entscheidend geschwächt wären, würde das Streben des Bush-Stabs, seine Hegemonie durch sie aufrechtzuerhalten, einen Rückschlag erleiden wie zwischen 1973 und 1979 in Südostasien, Zentralamerika, in der Karibik und im Iran.

Dann hörte die Fähigkeit der USA auf, für die jüngste Phase der imperialistischen Ausdehnung zu haften. Wenn die USA aus Schlüsselregionen ausgesperrt und Kapitalflüsse gründlich unterbrochen werden, würden Schutzzollautarkie und Regionalbündnisse an WTO und IWF vorbei zur Norm. Der Imperialismus träte in seine Todeskrise ein.

Fußnoten und Anmerkungen:

(1) Diese 63.000 Konzerne haben 800.000 Auslandstöchter.

(2) Weltinvestmentbericht 2001, UNCTAD, S.95.

(3) Dies ist die Tendenz in der Arbeiten von James Petras und Henry Veltmeyer, z.B. in: „Globalization Unmasked: Imperialism in the 21st Century“, Zed Books, 2001.

(4) ebd., S.1

(5) Robert Went, „Globalization: new-liberalism and new radicalism“, London 2000. Kapitel 2: Dies liefert eine gute Kritik am technologischen Determinismus. Er macht den Zusammenbruch von Bretton Woods in den frühen 70ern hauptverantwortlich für die Abschaffung von Kapitalkontrollen ab 1974, die schließlich Deregulierung und Liberalisierung herbeiführten. Technologische Innovationen machten sich dies dann zunutze.

(6) R. Hilferding, Finanzkapital, (1910), Bucharin, Imperialismus (1915) und W.I. Lenin, Imperialismus, die höchste Stufe des Kapitalismus, (1916).

(7) W.I. Lenin, Vorwort zu N. Bucharins Broschüre „Weltwirtschaft und Imperialismus“, LW 22, 101, 103.

(8) Horst Köhler, Ansprache auf der Konferenz über die Humanisierung der globalen Ökonomie. Washington, 28.Januar 2002, www.imf.org. Wie das möglich sein soll, wenn große Teile der Welt vor 100 Jahren nicht in den Kapitalismus „integriert“ worden wären, bleibt freilich sein Geheimnis.

(9) Globalization, growth and poverty, S. 3. Diese Charakterisierung übergeht geflissentlich den Übergang vom „Kapitalismus der freien Konkurrenz“ zum Imperialismus. Damit werden die Veränderungen des Kapitalismus sowohl in führenden kapitalistischen Ländern wie im Verhältnis zur den anderen Ländern heruntergespielt.

(10) Ebenda

(11) Leo Trotzi, Der Krieg und die Internationale (1914), S. 3, in: Trotzi, Schriften zum imperialistischen Krieg

(12) R. Went, op. cit., S. 12

(13) World Bank, op. cit., S. 30

(14) Ebenda

(15) Die Öffnung des Gebietes der ehemaligen Sowjetunion hat bis heute eine, verglichen mit China relative geringe Auswirkung auf die Weltwirtschaft.

(16) Globalization, Growth and Poverty, S. 42

(17) In Indonesien brachen sie allein 2002 um 35% ein, nachdem sie schon in vorhergehenden Jahren stetig gesunken waren. In Südkorea gingen die Auslandsdirektinvestitionen allem im vierten Quartal 2002 um 63% zurück.

(18) Financial Times, 4. Februar 2003

(19) Ebenda

(20) Der „Transnationalitätsindex“ der UN ist ein Indikator für die überseeischen Anteile multinationaler Unternehmen hinsichtlich Absatz und Beschäftigung. Der Index für US-Unternehmen stieg in den 1990er Jahren von 42 auf 46, während der für EU-Konzerne gleich blieb. Unter den größten 10 Unternehmen der Welt sind sechs US-Konzerne, unter den größten 100 26 aus den USA, auf die jedoch 35% Marktanteil fallen.

(21) 1982 gab es 14. 475 und 1989 15.381. Siehe: G. Hanson, M.Slaughter, Expansion Strategies of U.S. Multinational Firms, 2001, S. 38

(22) R J Mataloni, „U.S. Multinational companies operations in 1998“, Survey of current business, Bureau of Economic Analysis, July 2000, S. 32

(23) 1989 hielten US-Multis Kapitalanteile im Wert von weniger 10 Millionen Dollar in Osteuropa. 1998 betrug ihr Wert rund 7 Milliarden US-Dollar. Ebenda, S. 39

(24) Von diesem Gesamtwert von 76 Milliarden US-Dollar entfiel der Hauptanteil, 29 Milliarden oder mehr als 20% aller US-Auslandsdirektinvestionen auf Großbritannien. Im Vergleich dazu gingen nach ganz Lateinamerika 15% der Auslandsdirektinvestionen. Die Zahlen wurden vom Bureau of Economic Analysis zusammengestellt und finden sich unter: http://www.bea.doc.gov

(25) Globalization, Growth and Poverty, S. 40

(26) Richard Wolffe, Financial Times, 18.2.2002

(27) Financial Times 1. Februar 2002

(28) Die Weltbank legt großen Wert auf die Feststellung, eine „erfolgreiche“  neue Handelsrunde würde um 2015 1,5 Bio. $ zum BIP der 3. Welt hinzufügen.

(29) Das Sechsfache der gesamten Entwicklungshilfe des Nordens für den Süden.

(30) Oxfam, Rigged Rules and Double Standards; trade, globalisation and he fight against poverty, S. 11, London, 2002

(31) Ebenda

(32) FT a.a.O.

(33) Siehe: Economist, Globalisation special report, 2. Februar 2002

(34) Selbst der Economist war zu gestehen gezwungen: „Die

Überzeugung, mit der Banken und Fonds Ländern empfahlen oder abverlangten, Kapitalkontrollen abzuschaffen, schaut in vielen Fällen fehl am Platz aus.“ Survey of globalisation, 29. September 2001, S. 28

(35) Oxfam, a.a.O., S. 33

(36) Die PropagandistInnen für die Wohltaten der Globalisierung sind einzugestehen gezwungen, dass das Versagen bei der Internationalisierung der Arbeitsmärkte bedeutendste Ursache ist, dass die Armen nicht von der Globalisierung profitieren. Eine Schätzung besagt, eine Wanderungszunahme von Nord nach Süd würde halbkoloniale Länder um jährlich 300 Mrd. $ reicher machen (durch Rücküberweisungen von ImmigrantInnen), viel mehr als der Nutzen neuer Handelsrunden, die an erster Stelle UnternehmerInnen und korrupten RegierungsbeamtInnen zugute kämen.

(37) Dasselbe Einreißen von Unterscheidungen kann auch an der Entwicklung innerhalb der Arbeiterklasse abgelesen werden. Die Teilungslinie zwischen Hand- und Kopfarbeit ist dünn geworden, die Grenzen zwischen den Mittelschichten und der Arbeiterklasse sind unscharf.

(38) Ankie Hoogvelt, Globalisation and the post-colonial world, S. 78 f., London, 1997. Die Ausdehnung der FDJ ist noch geringer beeindruckend, wenn man anerkennt, dass zunehmend nach 1980 FDJ v.a. einen Wechsel in der Eigentumsform existierenden Kapitals darstellt (Fusionen und Aufkäufe) als neue Fabriken und Ausrüstung. 1999 bestand 90% der globalen FDJ in Höhe von 1,7 Bio. $ nur daraus.

(39) Ebenda, S. 80

(40) R. Went, a.a.O., S. 13. Die 1990 wiederum erlebten einen gewaltigen Spekulationsschub. 1990 belief sich der Tagesumsatz auf den internationalen Devisenmärkten auf 500 Mrd. $; 1998 war er das Dreifache.

(41) Vor 1914 gab es ein paar nationale Börsen, die mit einer relativ kleinen Anzahl Effekten handelten, sowie die Herausbildung eines internationalen (Regierungs-)Marktes für Obligationen, um Geld an andere Regierungen auszuleihen.

(42) The Economist, Capitalism and its troubles; a survey of international finance, 18. Mai 2002, S. 6

(43) Zahlen aus R. Went, a.a.O., S. 86

(44) Ebenda., S. 95

(45) Oxfam berichtet, dass zwischen 1997 und 2002 die Kaffeepreise um 70% fielen, was einem Devisenverlust für die ExporteurInnen von 8 Mrd. $ entsprach. Die GewinnerInnen sind die MNKs, die ein massives Überangebot ermutigten. „Diese MNKs wie Nestle konnten aus ruinös niedrigen Produzentenpreisen Nutzen ziehen, um hohe Profitraten zu genießen.“ a.a.O., S. 14

(46) Vgl. Financial Times 5. Februar 2003. Der Artikel weist darauf hin, dass der Deflationsdruck von der Bereitwilligkeit der chinesischen Banken verschlimmert wird, Kredite an chinesische Firmen zu gewähren, um in bereits übersättigte Märkte zu expandieren, und niedrige oder nicht existente Profite zu dulden.

(47) Ebenda

(48) Ebenda

(49) Ebenda, S. 99

(50) Vgl. Keith Harvey, „Markets in denial; American capitalism on the edge of a nervous breakdown“, Trotskyist International 25. Januar 1999, S. 29

(51) Hrsg., He New face of Capitalism; Slow Growth, Excess Capital and a Mountain of Debt, Monthly Review, April 2002

(52) The Economist, 26. Januar 2002, S. 23. Die deutsche Haushaltsverschuldung stieg zwischen 1991 und 2000 von 85% auf 115% des Einkommens, ein höherer Anstieg als in den USA. Japan führt mit 132% des Einkommens an Schulden die Liga an. Nur Frankreich „lebt mit seinen Mitteln.“

(53) Der Abhängigkeitsgrad kann an der Tatsache gesehen werden, dass im gegenwärtigen Konjunkturzyklus die Unterordnung unters Schuldenmachern im Verlauf der ersten Phase der Rezession nach 2000 gestiegen ist.

(54) The Economist, 26. Januar 2002, S. 24

(55) Der Nissan-Index verlor 75% an Wert zwischen 1989 und 2002

(56) Für eine ausführliche Darlegung der wichtigen politischen,

kulturellen und geschichtlichen Barrieren vor der Neustrukturierung des Kapitalismus in Japan siehe „Woran krankt Japan?“, Special survey, He Economist, 20. April 2002.

(57) Die Alternative zu einem merklichen Kollaps ist eine Injektion einer starken Dosis Inflation, um die Nachfrage anzukurbeln und den Schuldenwert auszuhöhlen. Aber die einzige Quelle einer solchen Inflation ist deren Import durch substantiellen Fall des Yen-Wechselkurses. Dagegen leisten die USA  wütenden Widerstand, weil das die US-Ausfuhren beeinträchtigen und einen Handelskrieg vom Zaum brechen würde – mit all dem, was das in Richtung Einschränkung des internationalen Handels mit sich brächte.