Nein zur Berliner GroKo! Gemeinsamen Widerstand organisieren!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 272, April 2023

Nach einer Panne mit Wahlwiederholung inmitten der Zeitenwende ist das politische Berlin erschüttert. Das erste Mal in über 20 Jahren ist die CDU die stärkste Kraft. Alle Parteien der rot-grün-roten Koalition haben an Stimmen verloren. Und nun? Nach Sondierungen zwischen CDU-Grünen, CDU-SPD und SPD-Grünen-Linken hat die SPD die Bombe platzen lassen. Ihr Berliner Parteivorstand ist gegen eine Fortsetzung der bisherigen Regierungskoalition. Die Partei befindet sich zurzeit in Unterredungen für eine Berliner Große Koalition. Auch wenn es sich mit den Grünen und der CDU in allen Varianten um Koalitionen mit offen bürgerlichen Parteien handelt und wir sowohl eine GroKo als auch RGR ablehnen, so handelt es sich nicht um gleiche Qualitäten von Angriffen auf soziale Errungenschaften in der Bundeshauptstadt.

Eine CDU-geführte Regierung bedeutet den finalen Todesstoß für den Enteignungsvolksentscheid in seiner aktuellen Form, führt zu einer „Mobilitätswende“, die auf Autos setzt, einer Ausweitung des Polizeiapparates, mehr rassistischen Polizeikontrollen, einer offeneren Zusammenarbeit mit dem Kapital und vielem mehr.

Konturen eines drohenden Regierungsprogramms

Mit dem Sondierungspapier beider Parteien wird erkennbar, was uns erwarten könnte. Franziska Giffey hatte alle Brücken für die Wiederaufnahme der RGR-Koalition damit eingerissen. Sie sagte gegenüber der Presse, die Grüne wollen nur ihre eigenen Themen durchsetzen und DIE LINKE sei zu zerstritten. Auch wenn es in Teilen nur Schlagworte sind, wollen wir hier eine erste Skizze der drohenden GroKo aufzeichnen.

Wohnen: Dass auf dem Mietenmarkt seit Jahren soziale Verdrängung stattfindet, ist bekannt. In den letzten fünf Jahren ist der Neuvermietungspreis um 48,2 % gestiegen – im letzten Quartal 2022 allein auf durchschnittlich 15,95 Euro pro Quadratmeter nettokalt. Unter den Großstädten ist nur noch München teurer. Die Mär der niedrigen Ausgangspreise ist also schon lange erzählt. Nur die Löhne sind weiterhin geringer als in vielen anderen Großstädten (etwa 10.000 Euro weniger verfügbares durchschnittliches Einkommen pro Jahr im Vergleich zu München). Trotzdem lautet der Lösungsansatz der drohenden GroKo Entlastung durch (v. a.) privaten Neubau. Das Ziel sind 20.000 Wohnungen pro Jahr (Leerstand etwa 0,9 %). Der Perspektive der Enteignung und Verstaatlichung großer privater Immobilienkonzerne wird ein erneuter Riegel vorgeschoben. Sollte (!) die sogenannte Expert:innenkommission zum Volksentscheid von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ ein positives Votum abgeben, soll ein Vergesellschaftungsrahmengesetz diskutiert werden. Ein solcher Rahmen war bereits seit Tag eins die legale Basis des Volksentscheids und nennt sich Grundgesetz.

Verkehr: Nicht erst seit den Aktionen der Letzten Generation bildet Verkehr in Berlin ein Streitthema. Die Grünen haben mit ihren sogenannten Popup-Radwegen eine Reihe von Straßen in der Stadt entschleunigt. Bei weitem decken diese nicht den Bedarf ab, stellen jedoch – neben der A100 – das bedeutendste Symbol der „Verkehrswende“. Jedoch fällt das Wort „Fahrradverkehr“ mit keinem Wort im Papier. Aber die Stadtautobahn soll vom Treptower Park bis zur Storkower Straße weitergebaut werden. Für 13 Berliner Clubs und zehntausende Berliner Mieter:innen bedeutet das das Ende.

Klima: Dieser Punkt schließt hier nahtlos an. Angesichts des Volksentscheids für ein klimaneutrales Berlin 2030 (26. März) sind hier mehr als warme Worte gefragt. So soll ein 5-Milliarden-Euro-Sondervermögen für den Klimaschutz aufgesetzt werden. Die Hälfte davon soll durch die Streichung der Coronarücklagen (2,6 Mrd. Euro) beglichen werden. Damit abgedeckt werden sollen Gebäudesanierungen, Mobilität und Energiegewinnung. Es ist unklar, inwiefern der Kauf von 51 % der Unternehmensanteile der GASAG davon beglichen werden soll. Die GASAG AG ist der größte lokale Energieversorger, ein Tochterunternehmen von Vattenfall und soll auf Initiative des Mutterkonzerns rekommunalisiert werden – zu überhöhten Preisen.

Innenpolitik und Migration: Einig ist man sich außerdem, dass ein Einbürgerungszentrum eingerichtet werden soll, dass das Antidiskriminierungsgesetz und der Mindestlohn nicht angetastet werden, dass die Polizei sogenannte Bodycams bekommt und dass Videoüberwachung in Modellprojekten getestet werden soll.

Die innere Sicherheit müsse man „ganzheitlich vom Senat aus angehen“, meint Marcel Kuhlmey von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und zuvor 25 Jahre bei der Polizei tätig. Er rechnet damit, dass der neue Senat Tasern und Bodycams gegenüber aufgeschlossen ist.

Law and Order ist also angesagt bei Aufstockung und weiteren Befugnissen der Repressionskräfte und zügiger Abwicklung von Asylanträgen, Einbürgerung und Abschiebung. Migrant:innen und Linke stehen vor schweren Zeiten. Diese Reaktion auf die Silvesterkrawalle war zu erwarten, schlug doch schon bei der Wiederholungswahl das Pendel zugunsten der CDU aus.

Weiteres: Bis 2026 soll es eine Verwaltungsreform geben. Die Polizei und Rettungsdienste sollen personell und materiell aufgestockt werden. Dabei sollen „Sicherheit und Sauberkeit“ zusammen gedacht werden – was wirklich nicht gesund klingt. Doch trotzdem hat die SPD Kleinigkeiten als Gewinne darzustellen. Das 29-Euro-Ticket (Tarifbereich AB) bleibt erhalten. Die CDU wollte noch den Berliner Mindestlohn und das Antidiskriminierungsgesetz abschaffen. Und auch in diesem Koalitionsvertrag steht erneut (!), dass die Tochterunternehmen der Berliner Krankenhäuser wieder eingegliedert werden sollen.

Koalitionsverhandlungen und Widerstand

Bis Anfang April soll ein Koalitionsvertrag vorgelegt werden. In 13 Fachgruppen wird verhandelt. Und diese haben es in sich, denn Lobbyist:innen sind hier fast überall dabei. Nachdem bekannt wurde, dass Tanja Böhm, die Leiterin von Microsoft Berlin, aus der Fachgruppe zur Digitalisierung ausgestiegen ist, wurde die Büchse der Pandora geöffnet. So ist beispielsweise in der Gruppe zu Gesundheit und Pflege Delia Strunz, ihres Zeichens Cheflobbyistin vom Pharmariesen Johnson & Johnson (Coronaimpfstoff). Daneben sitzt der Vorstand der Barmer Krankenkasse im Gremium. In der Verkehrs-AG sitzt der Bevollmächtigte für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern der DB-AG, Alexander Kaczmarek, ein Anhänger der S-Bahnzerschlagung.

Doch hiergegen regt sich Widerstand. Am Samstag, dem 18. März, fand eine Demonstration unter dem Titel „Rückschrittskoalition stoppen“ statt. Laut Veranstalter:innen nahmen etwa 2000 Menschen teil. Das Bündnis hatte sich in Reaktion auf die Sondierungsergebnisse gegründet und umfasst neben Einzelpersonen stadtpolitische, klimapolitische, antirassistische und migrantische Organisationen sowie die Jugendorganisationen von LINKEN und Grünen. Auch die Berliner Jusos haben sich gegen eine Beteiligung an Schwarz-Rot ausgesprochen und organisieren eine NoGroKo-Kampagne.

Die Aktionen richten sich vor allem an die 19.000 Berliner SPD-Mitglieder. Diese sollen Anfang April per Briefwahl über die Senatsbeteiligung abstimmen können – etwa 25 % davon sind Teil der Jusos, also unter 35 Jahren. Eine Auszählung der Stimmen wird am 23. April stattfinden. Bis 20. März hatten bereits drei der zwölf Kreisverbände sich gegen eine Beteiligung an der Koalition ausgesprochen (Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf (!)). Im Parteivorstand sprachen sich 25 Personen für und 12 gegen Koalitionsverhandlungen mit der Union aus. Sollte die Parteimehrheit für Beteiligung stimmen, so könnte Kai Wegner am 27. April Berlins Regierender Bürgermeister werden. Die CDU will über die Frage der Koalition auf einem Landesparteitag entscheiden.

GroKo bekämpfen, aber wie?

Es ist ein Fortschritt, dass sich Widerstand formiert. Aber auch 2017 gab es den in der SPD gegen die Regierungsbeteiligung (auf Bundesebene). Auch beim Volksentscheid von DWE waren es die Jusos Pankow, die für eine Enteignung ab 20 Wohnungen eintraten! Doch weiterhin sind sie die Parteijugend der Sozialdemokratie. Der Kampf muss auch außerhalb der Urabstimmung geführt werden. Andererseits hat der Protest einen faden Beigeschmack, denn bereits Rot-Grün-Rot hat die Polizei ausgebaut, die Bahn zerschlagen, runde Tische mit der Immobilienlobby initiiert, Obdachlosencamps geräumt, abgeschoben, Demonstrationen zusammenknüppeln lassen und so vieles mehr. Rot-Grün-Rot hat sich als unfähig erwiesen, die sozialen Probleme der Berliner:innen zu lösen. Und schlussendlich schafft der Widerstand in der LINKEN eine gemeinsame Gegnerin, die „Giffey-SPD“, wie sie Katina Schubert nennt (LINKE-Landesvorsitzende). Jene Kräfte, die also den Kampf der Regierungsbeteiligung untergeordnet haben, sind nun verwundert, dass die SPD sich dadurch nicht nach links bewegt hat. Ein solcher falscher Frieden ist ein weiterer Fallstrick im Niedergang der LINKEN und eine Nebelkerze, die den Aufbau einer Fraktion der Linken in der LINKEN zu verhindern droht.




Bundestagswahl 2021 – Nach der Wahl ist vor dem Kampf

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Die Spannung eines Thrillers konnte der deutsche Wahlkampf sicherlich nicht mit sich bringen, insbesondere, wenn man sich das Kopf-an-Kopf-Rennen der Stimmenauszählung in den USA in Erinnerung ruft. Dennoch, hätte man vor 6 Monaten gesagt, dass die SPD mit dem eher unscheinbaren Olaf Scholz das Rennen macht, so hätten viele gelacht. Und viele, sicherlich nicht nur AnhängerInnen der Union, fragen sich: Wie konnte das passieren? Dies wollen wir im Folgenden näher erläutern und gleichzeitig betrachten, was die Wahlergebnisse für die Arbeiter:innenklasse bedeuten.

Weltlage und 16 Jahre Merkel

Die aktuelle Wahl lässt sich nicht verstehen, wenn wir nicht einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen. Denn in den 16 Jahren, in denen Angela Merkel das Land regiert hat, hat sich viel verändert. Wenn die bürgerlichen Medien ihre Regierungszeit Revue passieren lassen, dann fällt vor allem ein Wort häufig: Stabilität. Das kommt nicht von ungefähr. Nach der Finanzkrise 07/08 und der darauf folgenden tiefen Rezession konnte sich der deutsche Imperialismus relativ schnell erholen.

Verglichen mit anderen Ländern ging es schnell bergauf dank der Konkurrenzfähigkeit des Exportkapitals und Vorarbeit durch die Agenda 2010. In der EU wurde an Griechenland ein Exempel statuiert, das zum sozialen Ausbluten der griechischen Bevölkerung führte. Merkel wurde so verdientermaßen zum Hassobjekt in Südeuropa. Im Inneren setzte sie auf SozialpartnerInnenschaft und gemeinsame Regulierung der Krise mit den Gewerkschaften, um die Exportindustrie rasch wieder flottzubekommen. So konnte sie als erfolgreiche Krisenmanagerin und sich Kümmernde auftreten. International war es zu diesem Zeitpunkt noch möglich, auf Gipfeln wie dem G7 die Kosten der Krise gemeinsam zu verwalten.

Die Folgen der Krise machten sich in Deutschland erst später bemerkbar. In jedem Fall stärkte die Niederlage der ArbeiterInnenklasse in Griechenland das deutsche Kapital – und die zentrifugalen Tendenzen in der EU. Doch die EU- und noch viel mehr die sog. Flüchtlingskrise verschärften auch die Gegensätze im bürgerlichen Lager. Mit dem Rechtsruck kam der Aufstieg der rassistischen AfD, der auch den Grad der Zersplitterung des bürgerlichen Lagers markierte. Die ach so stabile Große Koalition unter Merkel fing an zu kriseln.

Verschärft wurde die Situation mit der Präsidentschaft Trumps und der Wende zum Unilateralismus einerseits und dem Aufstieg Chinas zur zweitgrößten und -wichtigsten imperialistischen Macht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfte sich. Die EU fiel aufgrund eigener Widersprüche, wie sie am deutlichsten im Brexit zum Ausdruck kamen, zurück. Sie scheint hilflos zwischen USA und China zu dümpeln. Die Coronapandemie warf sie noch weiter zurück und zeigte auf, wie weit sie davon entfernt ist, den USA und China auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.

So ist die Richtung des deutschen Imperialismus in den letzten 16 Jahren immer unklarer geworden. Die deutsche Bourgeoisie (und die EU selbst) befinden sich in einer strategischen Krise, Hin und her gerissen zwischen der Frage einer transatlantischen oder stärker eigenständigen imperialistischen Ausrichtung, zwischen Konjunktur- und Investitionsprogrammen zur Neuaufstellung des deutschen und europäischen Kapitals einerseits und zwischen Neoliberalismus und Austeritätspolitik andererseits.

Merkels Lavieren zwischen unterschiedlichen AkteurInnen ist mit Zunahme der Krise und des Rechtsrucks, vor allem aber auch dem Aufstieg Chinas und der Neuausrichtung der USA nicht nur schwieriger, sondern vor allem immer aussichtsloser geworden.

Die Aufgabe einer neuen Regierung wäre vom Standpunkt des deutschen Gesamtkapitals, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Vormachtstellung innerhalb der EU erhalten bleibt und kein weiterer Mitgliedsstaat aus der Reihe tanzt. Es geht auch darum, die EU selbst zu einem Block zu formieren, der im Kampf um die Neuordnung der Welt mitspielen kann. Dazu bedarf es aber eines Plans und einer Strategie, wie man mit dem aufstrebenden chinesischen Imperialismus und dem verbündeten Rivalen USA umgehen möchte. Und es braucht auch eine Lösung der Führungsfrage, also der strategischen Ausrichtung innerhalb Deutschlands und der EU. Über eine solche verfügt die herrschende Klasse nicht – und wird ohne innere Friktionen und Kämpfe auch in der nächsten Periode, egal ob unter einer Ampel oder Jamaika nur schwer herzustellen sein. Umgekehrt wird jede Regierung von der herrschenden Klasse genau daran gemessen werden.

Zersplitterung des bürgerlichen Lagers

Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers und die Krise der CDU/CSU sind Ausdruck dieser strategischen Paralyse und Unklarheit, die von Merkel noch notdürftig überdeckt wurde.

Anfangs dachte man innerhalb der Union noch, dass selbst Laschets Schlaftablettenauftritte gegen Scholz Bestand hätten, nachdem man bei den Grünen Baerbock das Fell über die Ohren gezogen hatte. Das allein hilft aber nicht. Ein Ministerpräsident, der nicht den Eindruck erwecken kann, dass er sich in seinem eigenen Bundesland gut um eine Flutkatastrophe kümmert, ist als Kanzlerkandidat wenig vertrauenerweckend. Auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie konnte er wenig glänzen. Als Befürworter der schnellen Öffnungen schoss er in der Ministerpräsidentensitzung gegen die eigene Regierung, wurde aber in seiner Autorität und Weisheit von der 2. Welle überrollt.

Hinzu kommt, dass er die inneren Probleme der Union nach außen hin nicht ausgleichen konnte. Schließlich ist er nicht allein für das historisch schlechteste Ergebnis der Union von 24,1 %  verantwortlich. Der Streit innerhalb der Union fing schon früher an.

Merkel selbst wurde zum frühen Rückzug vom Parteivorsitz gezwungen, ihre Wunschnachfolgerin Kramp-Karrenbauer demontiert. Damit war der Diadochenkampf eröffnet. Merz, Laschet und Spahn kandidierten für den Parteivorsitz – und der Kandidat des Establishments, Laschet, gewann knapp. Doch damit war die Unzufriedenheit, die sich zusammengebraut hatte, nicht beseitigt. Auch nicht, als sich Laschet gegen Söder in der Kanzlerfrage durchsetzte.

Je länger der Wahlkampf dauerte, desto deutlicher wurde: Laschet hätte es lassen sollen. Weder Bevölkerung noch eigene Partei konnten vom Kandidaten überzeugt werden.

Wie so oft in der Geschichte wirkte eine Kette von zufälligen, nebensächlichen Pannen als Katalysator, um eine sich längst vorbereitende Krise offen hervortreten zu lassen, den Zersetzungsprozess der politischen Hauptpartei der deutschen Bourgeoisie.

So kam es dazu, dass die SPD bei diesen Bundestagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Hessen an der CDU vorbeizog und über 1,5 Millionen Stimmen von den Unionsparteien einsackte. Diese Wahlniederlage wird die Risse innerhalb der Union weiter vergrößern. Nachdem sich am Wahlabend noch große Teile des Parteiestablishments hinter Laschet gestellt hatten, werden die Rücktrittsforderungen, der Ruf nach Aufarbeitung der katastrophalen Niederlage und Neuausrichtung der Partei lauter. Je mehr sich diese Gegensätze zu regelrechten innerparteilichen Gräben vertiefen, desto schwerer wird es, dass CDU/CSU eine Regierung mit Grünen und FDP zustande kriegen, selbst wenn es nicht nur bei den Liberalen viele gibt, die für eine solche Koalition eintreten. Doch eine solche Regierung wäre wahrscheinlich so instabil wie die Unionsfraktion und Laschet traut wohl kaum jemand zu, die inneren Gegensätze wirklich überbrücken zu können. Umgekehrt wäre eine solche schwarz-grün-gelbe Regierung (Jamaika) nicht nur ein deutliches Signal für einen aggressiveren Kurs zur ökonomischen Neuformierung der EU unter deutscher Führung, sondern auch zu einem aggressiveren inneren, wenn es darum geht, die Kosten der Pandemie und der Wirtschaftskrise auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen.

FDP als eine Königsmacherin

Sonnig sieht’s hingegen bei den Liberalen aus. Die FDP hat mit 11,5  % eines ihrer historisch besten Ergebnisse eingefahren mit einem Imagewahlkampf, bei dem nur noch das Gesicht von Christian Lindner auf der Freiheitsstatue gefehlt hat. Profitieren konnte sie vom Schwächeln der Union und gewann rund 1.320.000 Stimmen von dieser, da sie während der Pandemie als „besonnene“ Vertretung der CoronskeptikerInnen und „FreiheitskämpferInnen“ aus dem Kleinunternehmertum auftreten konnte. Auch unter NichtwählerInnen mobilisierte sie 400.000 Stimmen und unter den ErstwählerInnen wurde sie mit 400.000 Stimmen zweitstärkste Kraft. Die Hochburg der Zweitstimmen stellt dabei Baden-Württemberg dar.

Dass sich die FDP, die 2017 gerade mal so den Sprung in den Bundestag schaffte, erneut aufgerappelt hat, stellt eine Kehrseite der Krise der Unionsparteien dar. Die FPD erscheint nicht nur der jungen Generation als glaubwürdigere Vertreterin des freien Marktes und individueller bürgerlicher Freiheit. Für die Regierungsbildung wird sie gemeinsam mit den Grünen eine entscheidende Rolle spielen als Blockade aller weitergehenden sozialen Forderungen und jeder Umverteilung und auf weitere Deregulierung und Angriffe auf die Lohnabhängigen drängen.

Die Grünen und das Klima

Es hätte so gut werden können für die Grünen. Obwohl sie ihr historisches bestes Ergebnis einfuhren, erscheinen sie fast wie kleine VerliererInnen. Während sie sich Anfang des Jahres im Höhenflug bei 30 % befanden, landeten sie schließlich bei 14,8 %. Sicherlich, dass Annalena neben Armin und Olaf so schlecht weggekommen ist, hat viel mit Sexismus zu tun. Als entscheidende Erklärung für den Sturzflug ist das jedoch zu kurz gegriffen.

Der wohl wichtigste Grund, warum die Grünen „nur“ drittstärkste Partei wurden, liegt darin, dass sich von ihrem Programm wichtige Teile der Bevölkerung nicht ansprechen lassen. Das zeigten auch die vergangenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Die Erhöhung des Benzinpreises oder eine CO2-Steuer für Individuen werden bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht dadurch ausgeglichen, dass es fürs trendige Lastenrad einen Zuschuss geben soll.

Die Abwälzung der Kosten der Klimakrise auf die Einzelnen macht die Grünen für einen Teil der Bevölkerung nicht besonders attraktiv. Es ist daher kein Wunder, dass sie vor allem bei einkommensstärkeren Lohnabhängigen und Mittelschichten punkten konnten. Trotzdem: Rund 460.000 NeuwählerInnen, 510.000 NichtwählerInnen konnten mobilisiert werden, insgesamt rund eine Millionen Menschen wechselten von CDU und SPD zu den Grünen. Hinzu kommt, dass mittlerweile auch sie einen Teil des Kapitals (nicht nur aus dem Ökobereich) zu ihren UnterstützerInnen zählen können.

So werden die Grünen – wie die FDP – bei der Regierungsbildung eine wichtige Rolle als KönigsmacherInnen spielen. Während die Liberalen grundsätzlich eine unionsgeführte Koalition vorziehen, sind die Grünen in dieser Frage gespalten, ja neigen eher der SPD zu, die ebenfalls für einen Green Deal in Europa und Deutschland eintritt. Der FDP würde dabei die Rolle zufallen, dafür zu sorgen, dass er die Bourgeoisie und sog. LeistungsträgerInnen nichts kostet.

Der rechte Rand

Bevor wir zum Wahlsieger SPD und zur Linkspartei kommen, noch kurz zum rechten Rand des bürgerlichen Spektrums. Zum zweiten Mal zieht die AfD in den Bundestag ein. Zwar hat diese an Stimmen verloren, sich insgesamt aber konsolidieren können. Die meisten Stimmenverluste machten die NichtwählerInnen aus (rund 810.000) aus. Dies war sicherlich innerparteilichen Streitigkeiten geschuldet. Die weiteren größeren Verluste an SPD (260.000) und FDP (210.000) dürften wohl darauf zurückzuführen sein, dass diesen WählerInnen die Regierungsfrage wichtiger war als die „Treue“ zum Rechtspopulismus.

Dennoch: Die knappen 10,3 % für die RechtspopulistInnen zeugen wohl kaum vom von den Konservativen beschworenen Linksruck. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass gerade die abgehängten Schichten der ArbeiterInnenklasse keine wirkliche Alternative geboten bekommen. Von den Protesten der CoronaleugnerInnen konnte sie jedoch kaum profitieren. Der Verlust der Linkspartei an die AfD ist zwar geringer ausgefallen als bei den Landtagswahlen der letzten Jahre, mit 110.000 Stimmen aber auch nicht unerheblich. So ist es auch nicht wenig überraschend, dass die Hochburg der Partei weiterhin im Osten liegt. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist sie nach der SPD in fast allen Wahlkreisen die zweitstärkste Kraft und in Thüringen konnte sie gleich mehrere Direktmandate gewinnen, in Sachsen fast alle.

Anders als 2017 stimmten die meisten AfD-WählerInnen wegen ihres Programms, also aus Überzeugung für diese Partei – wegen ihres völkischen Rassismus, nicht trotz dessen. Dies bedeutet, dass sich eine radikale, reaktionäre kleinbürgerliche Kraft konsolidiert, die bei einer Zuspitzung der Klassenkämpfe und einem Auseinanderfallen der EU als Reserve für das deutsche Kapital und auch Regierungsbildungen zur Verfügung steht.

Totgeglaubte leben länger – die SPD

Wie oben bereits geschrieben: Kaum eine/r hätte vor einem Jahr geglaubt, dass die SPD über die 20 %-Marke kommt, noch weniger, dass jemand mit dem Charisma eines Olaf Scholz den Karren aus der drohenden Bedeutungslosigkeit ziehen kann. Das Image war ja schließlich schon mehr als ramponiert.

Über 100 Jahre Klassenverrat fallen bei dem aktuellen Bewusstseinsstand leider nicht so ins Gewicht, wie man es sich wünschen würde. Vielmehr sind es die Streitigkeiten von Esken & Co. sowie die Zugeständnisse innerhalb der Großen Koalition gewesen, die der SPD lange zu schaffen machten. Im Wahlkampf selber wurde sich lange nur auf Laschet und Baerbock konzentriert. Es wirkte fast, als ob es den SPD-Kandidaten nicht gäbe. Aber wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte und auch deshalb konnte Olaf an den beiden vorbeiziehen. Brechmittelskandal, Verstrickungen in die Wirecard-Affäre und der Prügeleinsatz zu G20 in Hamburg: alles perlte an ihm ab.

Aber warum? Während Baerbock sich auf die Klimakatastrophe fokussierte und Laschet in jedes Fettnäpfchen trat, das er finden konnte, hat Scholz es geschafft, am ehesten was von jener Stabilität zu verkörpern, die man Merkel zugesprochen hatte. Entscheidend ist aber, dass sich der SPD-Kandidat bei den Lohnabhängigen glaubwürdiger als seine Konkurrenz als Kandidat des sozialen Ausgleichs präsentieren konnte.

Rund 44 % der SPD-WählerInnen gaben an, dass soziale Gerechtigkeit eine maßgebliche Rolle bei ihrer Entscheidung spielte. Ebenso konnte die SPD den mit Abstand größten Zuspruch bei  GewerkschafterInnen verzeichnen, lt. Erhebungen des DGB 33,1 %, also fast 8 % mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Sicherung der Arbeitsplätze, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, eine sichere Rente und eine stärkere Besteuerung der Reichen waren Versprechungen, die sich im Zuge der Pandemie gut anhören. Dass Scholz dabei glaubwürdiger wirkte als seine Konkurrenz, spiegelt letztlich auch das historische Erbe der Sozialdemokratie, ihre organische Verankerung in der ArbeiterInnenklasse als bürgerliche ArbeiterInnenpartei wider. Sicherlich versprechen sich die meisten WählerInnen keine Großtaten von der SPD, wohl aber, dass eine von Scholz geführte Regierung mehr Schutz vor den kommenden Umstrukturierungen, mehr soziale Abfederung beim ökologischen Wandel bringt als ein von Laschet geführtes Kabinett.

Sollte die SPD die nächste Regierung anführen, werden selbst diese Hoffnungen extrem auf die Probe gestellt werden. Allein die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um gerade 3,- Euro unter der Großen Koalition zeigt, wie wenig der Sozialdemokratie die Ärmsten der Armen im Zweifelsfall bedeuten. In jedem Fall ist aber klar, dass die ohnedies schon wackelige Bindung zwischen SPD und organisierten Lohnabhängigen in der kommenden Periode weiter auf den Prüfstand geraten wird – und dies müssen wir vorantreiben.

Schlaftablette Linkspartei

4,9 %! Es tut fast weh, das Ergebnis laut vorzulesen. Durch die 3 Direktmandate kann sich die Linkspartei gerade noch 39 Plätze im Parlament sichern. Dennoch ist es mehr als bedrückend, es ist desaströs. Zwar hat DIE LINKE an sich das beste Klimaprogramm, verglichen mit den anderen Parteien, doch hat sie im gesamten Wahlkampf Chancen verpasst und war kaum sichtbar. Dies hat mehrere Gründe. Der andauernde Richtungsstreit lähmt sie, der unklare Ausgang in der Debatte um Sarha Wagenknecht führt dazu, dass weder deren Fans noch die antirassistischen AktivistInnen zufriedengestellt werden konnten. Dieses Vakuum der Nicht-Entscheidung welchen Kurs man einschlagen will, rächt sich. Auch in der Frage der Regierungsbeteiligung. Durch das Sofortprogramm, was nach Mitregieren lechzte, hat die Linkspartei sich selber geschadet. Denn weder seitens der SPD und schon gar nicht von den Grünen wurden sie als ernsthafte Koalitionspartnerin beachtet. So wurde also auf das rot-rot-grüne Gespenst gesetzt und vor lauter Kuschelkurs vergessen, sich abzugrenzen. Das sieht man auch an den Zahlen: Die größte WählerInnenwanderschaft gab es zur SPD mit 640.000 Stimmen, es folgen die Grünen mit 480.000. Mehr als 1 Millionen Stimmen sind also verloren gegangen, weil WählerInnen geglaubt haben, der Unterschied zur SPD sei nicht zu groß, und um Laschet zu verhindern, müsse man jetzt eben bei Scholz den Haken machen. Das macht deutlich: Gerade, was die soziale Gerechtigkeit angeht, dem eigentlichen Kernthema der Linkspartei, machen WählerInnen taktisch Zugeständnisse. Ein indirektes Zeugnis, dass es der Partei an Überzeugung und Abgrenzung mangelt.

Das ist aber auch nachvollziehbar. Wo ist DIE LINKE gewesen, die als Partei sich gegen den Pflegenotstand während der Pandemie einsetzte? Während andere nur wohlwollend klatschen, hätte es betriebliche Aktionen und Demonstrationen gebraucht, die sich für eine Aufstockung im Pflegebereich einsetzen. Auch hätte die Linkspartei gegenüber den Gewerkschaften klare Worte verlieren müssen: Ein flächendeckender Tarifvertrag in der Pflege und im Handel muss her, gerade in Zeiten der Krise. Und wo ist DIE LINKE, die Streitgespräche mit den Grünen sucht? Der kostenlose öffentliche Nahverkehr oder der bundesweite Mietendeckel sind gute Forderungen. Allerdings gehören die nicht nur auf Plakate gedruckt, sondern müssen mit Nachdruck auch auf die Straße getragen werden.

Aber nicht nur das. Anstatt sich mit Wagenknechts billigen Polemiken zu beschäftigen, hätte gezeigt werden müssen: Wir verstehen uns als KämpferInnen der ArbeiterInnenklasse. Und die ist nun mal multiethnisch und voller „skurriler Minderheiten“. Der Kampf für einen höheren Mindestlohn, Mindestrente oder bezahlbaren Wohnraum schließt Klimaschutz, LGBTIAQ-Rechte und Antirassismus nicht aus, sondern ein. Kernproblematik ist aber das Verständnis von Bewegungen, und wie diese entstehen. Selber versteht sich DIE LINKE als Bewegungspartei. Statt aber Bewegung zu initiieren, trabt sie einfach nur dem Geschehen hinterher. Und genau das fällt ihr auf die Füße und führt dazu, dass sich keine neue StammwählerInnenschaft herausbildet, während sich unterschiedliche Generationen von AktivistInnen innerhalb der Partei um die Richtung streiten. Einen Haken hat das Ganze jedoch: Würde man tatsächlich Kämpfe führen, Streiks und Solidaritätsdemos organisieren, führt das natürlich dazu, dass der Druck größer wird und Kräfte wie die Grünen oder die SPD sich distanzieren. Die Chance mitzuregieren würde in die Ferne rücken. Dafür würde aber deutlich werden, dass die Linkspartei eine Kraft wäre, die für ihre Forderungen tatsächlich kämpft. Solange sich die Partei jedoch der vorgeblich besseren Verwaltung des Kapitalismus verschreibt, wird sie diesen Widerspruch nicht überwinden können, wird sie immer wieder beim Nachtrab hinter SPD und Grünen landen.

Was kommt auf uns zu?

Auch wenn eine Vielzahl an Regierungskoalitionen denkbar ist, so zeichnen sich im Moment nur zwei Optionen ab: die Ampel (SPD/FDP/Grüne) und Jamaika (Union/Grüne/FDP). Entscheidend dafür, welche Regierung es werden wird, sind unmittelbar zwei Faktoren:

a) ob die Unionsparteien ihre inneren Konflikte im Zaum halten können;

b) die Sondierungsgespräche zwischen Grünen und FDP.

In jedem Fall stehen für eine zukünftige Regierung mehrere Baustellen an, um den deutschen Kapitalismus in der internationalen Konkurrenz aufzustellen. Angesichts der notwendigen Einbindung der FDP in jede Regierung und aufgrund des Drucks des Kapitals können wir davon ausgehen, dass folgende Politik zu erwarten ist:

  • Festhalten an der Schuldenbremse und Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt.
  • Das bedeutet weitere Einsparungen im öffentlichen Dienst, einschließlich weiterer Privatisierungen und marktwirtschaftlicher Reformen, mögen diese auch mit einem grünen oder sozialen Sahnehäubchen verkauft werden. Die Krise im Erziehungs- und Bildungswesen, im Gesundheitssektor wird prolongiert, im Bereich der sozialen Vorsorge und insbesondere der Renten werden neue Kürzungen als Reformen verkauft werden.
  • Prekarisierung, Niedriglohnsektor, Krise auf dem Wohnungsmarkt werden allenfalls mit einigen kosmetischen Reformen angegangen, im Grunde bleibt die Misere erhalten.
  • Abwälzung der Kosten für die Infrastrukturprojekte, ökologische Wende, Digitalisierung auf die Masse der Lohnabhängigen.
  • Inflation und Preissteigerungen verringern die Kaufkraft der Massen.
  • Entlassungen, Kürzungen, Schließungen im Zuge des industriellen Umbaus, die allenfalls mit SozialpartnerInnenschaft und Sozialplänen begleitet werden.
  • Erneuter Versuch, die Krise der Europäischen Union zu überwinden. Der Green Deal der EU-Kommission wird zur gemeinsamen Formel, hinter der sich jedoch unterschiedliche Ausrichtungen verbergen.
  • Abschottung der EU gegen Geflüchtete; Schwerpunkt auf Nahost und Afrika als Interessensphären der EU-Mächte außerhalb ihres eigenen Gebietes.
  • Aggressivere EU-Außen- und -Militärpolitik (Stichwort: Verantwortung übernehmen).
  • Massives Aufstocken des Rüstungsetats und Aufrüstung der Bundeswehr sowie Schritte in Richtung einer EU-Eingreiftruppe (um von den USA unabhängiger agieren zu können).

Wie schnell diese Angriffe erfolgen, hängt natürlich von der Regierungsbildung wie auch der konjunkturellen Entwicklung ab. Sicher ist aber: Sie werden kommen. Die UnternehmerInnenverbände drängen schon jetzt auf eine rasche Regierungsbildung, weil all diese Projekte vorangebracht werden sollen.

Eine Jamaika-Koalition wäre für dieses Vorhaben natürlich ein Traum. Andererseits hat eine SPD-geführte Regierung den Vorteil, dass sie besser die Gewerkschaften sozialpartnerschaftlich einbinden kann.

Was müssen RevolutionärInnen tun?

Wahlen sind bekanntlich auch immer ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers setzt sich weiter fort und damit auch die Probleme des deutschen Imperialismus auf Weltebene. Zu klein, um wirklich mitzumischen, zu groß, um gar keine Ansprüche geltend machen zu wollen, muss es weiter irgendwie versuchen, die Krise der EU zu lösen oder nach einer alternativen Ausrichtung suchen.

Der Rechtsruck, den es 2016 gegeben hat, ist verfestigt. Nichtsdestotrotz  bleibt der Reformismus innerhalb der ArbeiterInnenklasse weiterhin präsent, vor allem in Form der SPD, aber auch einer geschwächten Linkspartei. Welchen Einfluss das auf die Gewerkschaften hat – also ob man im Sinne der guten Sozialpartnerschaft sowie Standortborniertheit schön weiter alles mitverwaltet oder versucht, tatsächlich dagegen zu kämpfen, das hängt zum einen an der Frage der Regierungsbeteiligung der SPD. Zum anderen stellt sich aber auch die, ob es gelingt, eine klassenkämpferische Bewegung in den Gewerkschaften aufzubauen, deren Ziel es ist, statt selber in der Bürokratie zu vermodern, diese durch Wähl- und Abwählbarkeit sowie Rechenschaftspflicht zu  ersetzen und zu kämpfen. Die laufenden Arbeitskämpfe und kommende Tarifrunden können dazu einen wichtigen Ansatz bieten.

Ebenso braucht es eine Aktionskonferenz aller Organisationen der ArbeiterInnenklasse und linker Kräfte, um sich für die kommenden Angriffe zu wappnen. Denn klar ist, dass versucht wird, die Kosten der Krise auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Das Wahlergebnis der Linkspartei zeigt jedoch, dass man nicht nur auf Angriffe warten darf, sondern sich selber in die Offensive bringen muss. Der Berliner Volksentscheid zu „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ist der beste Beweis dafür. Statt zu verharren und zu warten, wer an die Regierung tritt, müssen wir uns organisieren und diskutieren, wie man diese Initiative bundesweit ausweiten kann. Ebenso wichtig ist die Frage, wer die politische Führung in den Gewerkschaften innehat, insbesondere wenn es darum geht, kommende Arbeitskämpfe zu führen. Statt darauf zu hoffen, dass andere gegen Klimawandel oder soziale Angriffe, gegen Rassismus und Militarismus kämpfen, müssen wir das selber in die Hand nehmen!




Modernisierte Betriebsräte

Mattis Molde, Infomail 1153, 21. Juni 2021

Eher beiläufig hat der Bundestag das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geändert und dazu das „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ verabschiedet. Dies war im Koalitionsvertrag vorgesehen, und da es nicht so aussieht, als würde diese Koalition die kommende Bundestagswahl überstehen, wurde es schnell noch von Arbeitsminister Heil auf den Weg gebracht, wohl auch als Versuch der SPD, sich als Partei der Arbeit„nehmer“Innen zu profilieren.

Die Änderungen und das neue Gesetz berühren die Themen Schutz von Betriebsratsgründungen, Wahlrechtsalter, Mitbestimmung bei mobiler Arbeit und Kommunikationsmittel. Verabschiedet wurde das Ganze im Paket mit einer Ausweitung der Fristen bei der Saisonarbeit. Die damit erleichterte Ausbeutung ausländischer ArbeitsmigrantInnen bringt für das Kapital deutlich mehr, als es die Kosmetik beim Betriebsverfassungsgesetz kostet.

Saisonarbeit

Statt 70 können dieselben SaisonarbeiterInnen dieses Jahr 102 Arbeitstage sozialversicherungsfrei beschäftigt werden, was vor allem in der Landwirtschaft genutzt wird. Begründet wird dies wie schon 2020, als sogar 115 Tage erlaubt worden waren, mit Infektionsschutz, da die Fluktuation der MigrantInnen geringer sei. Durch die Pandemie sind skandalöse Zustände auf vielen Höfen bekanntgeworden: Masseninfektionen, unbehandelte Kranke und viele Todesfälle, die übliche Beherbergung in Massenunterkünften, vorenthaltener Arbeitslohn, Arbeitszeitbetrug der Betriebe, Abrechnung überhöhter Beherbergungskosten, Bewachung in geschlossenen Lagern.

Die Krönung war und ist die „Arbeitsquarantäne“, bei der alle – auch Kranke – weiterarbeiten, aber keinen Kontakt nach außen haben und auch nicht nach Hause fahren dürfen. Alle diese Probleme wurden von der Regierung nicht angegangen, stattdessen wurde die Ausnutzung dieser Arbeitskräfte vereinfacht. Sozialversicherungsfrei heißt, dass die Betriebe diese Kosten sparen und den Beschäftigten keine Krankenversicherung aus diesem Arbeitsvertrag zusteht – in der Zeit der Pandemie!

Die AusbeuterInnen jubeln auf agrarheute: „Der Bauern- und Winzerverband Rheinland-Pfalz Süd (BWV) reagierte erleichtert auf den Kabinettsbeschluss. Dies sei eine wichtige Entscheidung im Sinne der Pandemiebekämpfung und der Sicherung der regionalen Lebensmittelproduktion, stellte der BWV fest.“

Waagschale

Und was ist bei diesem großkoalitionären Deal für die Beschäftigten in Betrieben und Verwaltungen herausgekommen? Was hat Hubertus Heil produziert, damit der DGB dies als Fortschritt preisen kann?

Die Senkung des Wahlrechtsalters zu Betriebsratswahlen von 18 auf 16 ist natürlich längst überfällig. Wer als Jugendlicher ausgebeutet wird, soll auch wählen dürfen. Aus gutem Grund wird dies in den Kommentaren zur Gesetzesänderung aber kaum erwähnt: Es gibt praktisch keine Jugendlichen dieses Alters in Betrieben mit Betriebsrat (BR). Das tatsächliche Problem ist vielmehr, dass dort, wo viele junge Menschen arbeiten, oft auch in Teilzeit, eine hohe Fluktuation herrscht – was nicht nur die BR-Gründung, sondern auch die Wahl von jungen Menschen in dieses Gremium erschwert. Hier wäre dringend eine Verkürzung der Wahlperioden nötig – von 4 auf 3 Jahre wie früher oder, noch weitaus sinnvoller, auf 1 oder 2 Jahre. Das lehnen nicht nur die Unternehmen ab, sondern das wollen natürlich auch die eingesessenen BR-BürokratInnen in keinster Weise, müssten sie sich doch in kürzeren Intervallen zumindest einer formalen Wahl und einer gewissen Rechenschaft gegenüber der Belegschaft stellen.

Mobile Arbeit, die jetzt gesetzlich auch das Homeoffice umfasst, wird durch die Gesetzesänderung als solche mitbestimmungspflichtig – in der Ausgestaltung. Was eingeführt wird, bleibt alleinige Unternehmensentscheidung. Und selbst die Verbesserungen relativieren sich, denn schließlich waren die einzelnen Themen, die dabei eine Rolle spielen wie Lage und Erfassung der Arbeitszeit, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes, Arbeitssicherheit usw. schon bislang mitbestimmungspflichtig.

Dieser Punkt ist ebenso wie die Möglichkeit, zukünftig BR-Sitzungen auch online abzuhalten, und andere „Modernisierungen“ nicht der Brecher.

Recht und Macht

Der Kern der Gesetzesänderung sollte darin bestehen, die Gründung von Betriebsräten zu erleichtern bzw. die Verhinderung derselben zu erschweren. Das war als Dankesgeschenk an die Gewerkschaften für ihre Unterstützung der Großen Koalition gedacht.

Tatsächlich ist die Zahl der BR im Land zurückgegangen: Nur etwa 10 % der Unternehmen haben einen solchen, in diesen arbeiten etwa 40 % der Beschäftigten. Im Westen liegt die Zahl höher als im Osten, insgesamt ist sie seit Jahrzehnten rückläufig. Nur in den letzten zwei Jahren konnte sie sich leicht stabilisieren. Sicher ist, dass dies mit aggressivem Vorgehen seitens der Unternehmensführungen zu tun hat, mit der Entfernung von Beschäftigten, die eine BR-Gründung anstreben, durch Kündigung oder Abfindung.

Betriebsratsmitglieder, auch Ersatzmitglieder und KandidatInnen, sowie diejenigen, die als Wahlvorstände eine Wahl initiiert haben, können allerdings auch bisher nicht einfach gekündigt werden: Sie genießen einen Schutz durch ihre Funktion und ein Betriebsrat als Institution kann Kündigungen als solche zwar auch nicht verhindern, aber erschweren. Und hier gibt es die einzige kleine Änderung: Auch die InitatorInnen von BR-Wahlen erhalten zukünftig einen gewissen Schutz. Für den Kampf gegen Union-Busting reicht das nicht.

Union-Busting

Mit den Angriffen auf Betriebsräte wird oft gleichzeitig gewerkschaftliche Arbeit be- und verhindert, denn jede/r Beschäftigte darf zwar Mitglied einer Gewerkschaft sein, wenn aber GewerkschafterInnen im Betrieb ohne BR aktiv werden, verfügen sie über keinerlei effektiven Schutz. Unter AktivistInnen ist deshalb der US-amerikanische Begriff des „Union-Busting“, der gezielte Angriff auf Betriebsräte und Betriebsratsgründungen, auch für Deutschland übernommen worden, auch wenn die rechtlichen Bedingungen komplett anders liegen.

Die Methoden der „BusterInnen“ reichen von Einschüchterung der Belegschaft, „Rauskaufen“ von AktivistInnen bis hin zu Unterschieben von Diebstahl, Arbeitszeitbetrug oder physischen Übergriffen. Dabei kommt den Firmen zugute, dass selbst kleine Verfehlungen, die im zivilen Leben, wenn überhaupt, dann geringfügig bestraft werden, in der Arbeitsrechtsprechung ein „zerrüttetes Vertrauen“ darstellen, das einen Verlust des Arbeitsplatzes rechtfertigt.

Der bürgerliche Staat schützt das Recht des Kapitals auf Ausbeutung nicht nur im individuellen Arbeitsverhältnis, sondern untermauert die Machtverhältnisse auch im kollektiven Arbeitsrecht. Es gibt in Deutschland keine staatlichen Institutionen, die kontrollieren, ob die zugunsten der Beschäftigten geltenden Gesetze und Vorschriften in den Betrieben eingehalten werden. Das wird aber explizit den BR überlassen und zu ihrer Kernaufgabe erklärt (BetrVG §80 Abs 1). Aber es gibt keine Pflicht für die Unternehmen, BR einzuführen. Das wird dem jeweiligen betrieblichen Kräfteverhältnis überlassen und die Strafen für die Behinderungen von Betriebsratswahlen bzw. der Arbeit von BR sind lächerlich. In einem Brief an Heil hatten deshalb im Vorfeld GewerkschafterInnen und  JuristInnen im Aufruf „Betriebsräte effektiv stärken!“ folgende Forderungen aufgestellt:

„1. Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität/Sonderabteilungen für Arbeitsbeziehungen! Für effektive Aufklärung und Strafverfolgung krimineller Unternehmer und ihrer auf Union Busting spezialisierten Dienstleister (Rechtsanwälte, Detekteien). Hier geht es um einen Komplex, der neben Betriebsratsbehinderung regelmäßig andere Straftaten umfasst wie Diskriminierung, Prozessbetrug, Anstiftung und Verabredung zu Straftaten, juristische Nachstellung (Stalking), Nötigung, Bestechung, Ausspähung (Verletzung der informationellen Selbstbestimmung).

Oft werden Betriebsräte auch deshalb unterdrückt, weil Unternehmen die Aufdeckung anderer Delikte befürchten wie Sozialabgabenbetrug, Steuerhinterziehung, Verstoß gegen Mindestlohn, Arbeitsschutz + Arbeitszeiten etc.

2. Erklären Sie Betriebsratsbehinderung zum Offizialdelikt! Dadurch steigt das Strafmaß und somit das Verfolgungsinteresse der Staatsanwaltschaften. Offizialdelikte müssen im Gegensatz zu Antragsdelikten vom Staat verfolgt werden, sobald Kenntnis besteht. Bislang kann Betriebsratsbehinderung nur durch den betroffenen Betriebsrat oder eine vertretene Gewerkschaft angezeigt werden.

Auf Betriebsratsbehinderung steht derzeit dieselbe Strafe wie auf Beleidigung. Doch Union Busting ist kein Kavaliersdelikt. Union Busting ist gegen das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit am Arbeitsplatz gerichtet und damit verfassungsfeindlich.

3. Führen Sie ein verpflichtendes Melderegister für Betriebsratswahlen ein! Die genaue Zahl der Betriebsräte und Betriebsratsgründungen in Deutschland ist ebenso unbekannt wie ihre Entwicklung oder ihr Scheitern. Bislang gibt es nur grobe Schätzungen aufgrund von Stichproben. So sollen laut IAB nur noch ca. 9 % aller wahlberechtigten Betriebe mit fünf oder mehr Angestellten einen Betriebsrat haben. Doch der Befund ist umstritten und vermutlich zu optimistisch. Es fehlen genaue, empirische Daten … “

Diese Forderungen sind richtig und unterstützenswert und der ganze Zusammenhang zeigt deutlich, dass diese Bundesrepublik ein Staat zum Schutz der Klassenherrschaft des Kapitals ist, in der die Rechte der ArbeiterInnenklasse immer nur bedingt sind. Deshalb reichen auch die demokratischen und rechtsstaatlichen Forderungen dieser Unterschriftensammlung nicht aus.

Die Grenzen der Betriebsverfassung

Laut Betriebsverfassungsgesetz sollen Betriebsräte das Wohl der Beschäftigten und des Betriebes im Auge haben – je zugespitzter der Klassenkampf, desto unmöglicher wird die Aufgabe, eine Form gesetzlich verordneter Klassenzusammenarbeit zu erfüllen, und desto untauglicher werden auch die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der BR.

Zweitens handeln BR als Stellvertreter, nicht als Organisatoren der Belegschaft. Die Mitwirkungsmöglichkeiten, die selbst dieses Gesetz hergibt, werden von ihnen regelmäßig nicht genutzt und die Belegschaften vor vollendete Tatsachen gestellt. In der Praxis platzieren sie sich eher als VermittlerInnen zwischen Management und Beschäftigte.

Beschäftigte und Belegschaften müssen deshalb weiterhin auch gewerkschaftliche Strukturen in den Betrieben (Betriebsgruppen, Vertrauensleute) aufbauen und direkte und demokratische Organisationsformen finden, wenn sie in den Kampf gehen wollen oder müssen. Aktions- und Streikkomitees auf betrieblicher oder überbetrieblicher Ebene sind dort nötig, wo die gesetzliche Vertretung verwehrt wird, aber auch dort, wo sie existiert und dieser gesetzliche Rahmen nicht ausreicht.

Klassenzusammenarbeit in der Praxis

Die DGB-Gewerkschaften haben die Forderungen des zitierten offenen Briefes nicht unterstützt. Der Apparat verkauft die gesetzlichen Reformen lieber als großartigen Verhandlungserfolg. Natürlich kommentieren die BürokratInnen die Gesetzesänderung in dem Sinne, dass sie einen Fortschritt darstelle, aber mehr folgen müsse. Den Preis, die verschärfte Ausbeutung der SaisonarbeiterInnen, ignorieren sie bei dieser Bewertung natürlich. Es geht ihnen darum, die sozialpartnerschaftlichen, rein gewerkschaftlichen und reformistischen Illusionen aufrechtzuerhalten: Die Große Koalition – die Zusammenarbeit mit der Regierung, mit CDU und SPD – habe etwas gebracht, wir bräuchten wieder eine solche Konstellation. Weiter so, Deutschland!

Diese Klassenzusammenarbeit auf politischer Ebene entspricht der Zusammenarbeit im Betrieb auf der praktischen Grundlage des BetrVG. In den Großbetrieben übernehmen die BR meist eine Ordnungsfunktion im Sinne des Kapitals. Alle Konflikte sollen möglichst ohne Störung der Mehrwertproduktion gelöst werden. Diese Orientierung der BR, die von den Gewerkschaften getragen wird, muss sich natürlich immer wieder als im Interesse der Betroffenen darstellen.

Das Tagesgeschäft der meisten BR besteht unter den aktuellen Bedingungen letztlich darin, aus jedem Angriff des Kapitals immer noch „das Beste“ zu machen und beispielsweise Entlassungen „sozial“ zu gestalten durch Altersteilzeit oder Transfergesellschaften. Oder darin, die Leiharbeit nicht zu verhindern, aber einen betrieblichen oder branchenweiten Zuschlag zu vereinbaren, der das Ganze noch immer lukrativ für das Kapital und die Leiharbeitenden willfährig macht, da sie ihren Job in dieser Firma nicht verlieren wollen, und die Stammbelegschaft durch diese willfährigen Leiharbeitenden unter Druck setzt.

Diese Ordnungsfunktion

Diese Zusammenarbeit, die letztlich immer im Interesse des Kapitals erfolgt, geht so weit, dass unliebsame GewerkschafterInnen und Betriebsratsmitglieder in trauter Eintracht von Kapital und Betriebsratsspitze entlassen werden. So wurde der IG Metall-Betriebsrat Karsten vom Bruch bei Bosch in Stuttgart unter einem Vorwand entlassen, genau zu dem Zeitpunkt, als er als Softwareentwickler die Beteiligung von Bosch an der Entwicklung der Abgasbetrugssoftware innerbetrieblich zur Sprache brachte.

Der Betriebsrat Adnan Köklü aus Salzgitter wurde entlassen, als er mehr Transparenz forderte. Die Stellungnahme des BR-Vorsitzenden Cakir spricht für sich: „Herr Köklü hat in den vergangenen Monaten nichts unversucht gelassen, durch wahrheitswidrige Unterstellungen und eine gezielte Verleumdungskampagne einzelne Betriebsratsmitglieder und den Betriebsrat in Gänze zu diffamieren.“

Und weiter im Artikel auf regionalheute.de: „Belege für seine Behauptungen habe er hingegen keine. Ein Ausschlussverfahren aus dem Betriebsrat wurde beim Arbeitsgericht Braunschweig beantragt, da eine Zusammenarbeit mit ihm ‚unzumutbar’ sei. Eine Entscheidung wird bei der Verhandlung am Mittwoch gefällt werden. Mehrere Abmahnungen haben inzwischen zu einer außerordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung Köklüs geführt, da sein Verhalten ‚betriebsschädigend’ sei. ‚Von Mobbing durch den Betriebsrat kann nicht ansatzweise die Rede sein’, heißt es in der Stellungnahme Cakirs. Auf diese Weise würden Täter als Opfer dargestellt werden.“

Die Logik des BR-Vorsitzenden Cakir: Wir mobben nicht, wir unterstützen die Entlassung. Die einzige glaubwürdige Tat – eine unabhängige Untersuchungskommission einzurichten – kommt diesem Bürokraten genauso wenig in den Sinn wie der Mehrheit der Bosch-Betriebsratsmitglieder in Stuttgart. Beide Kollegen haben übrigens erfolgreich gegen ihre Kündigungen geklagt.

Das Beispiel zeigt: Union-Busting geht auch von Betriebsratsbossen aus, deren letztlich gewerkschaftsschädigendes Verhalten von der Gewerkschaft nicht in Frage gestellt wird. Leider scheuen viele Initiativen, die gegen Union-Busting und Behinderung von BR-Arbeit aktiv sind, die Fälle anzusprechen, wo dies mit Unterstützung von BR-FürstInnen geschieht und mit Unterstützung oder Duldung durch GewerkschaftsfunktionärInnen.

Der Kampf für mehr Rechte der Beschäftigten, für Gewerkschaften und Betriebsräte gegen Kapital und Staat muss daher einhergehen mit einem konsequenten Eintreten gegen diejenigen, die diese Rechte missbrauchen, als Privilegien der Bürokratie nutzen und damit unterminieren.




Völkermord an Ovaherero und Nama: Selbstgerechtes Land der Täter

Robert Teller, Neue Internationale 256, Juni 2021

Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt wieder Verantwortung in der Welt. Das tat auch bereits ihr völkerrechtlicher Vorläufer, das Deutsche Reich. 1884-1885 hielt Otto von Bismarck die „Berliner Konferenz“, auch Kongokonferenz genannt, ab. Eingeladen waren jene Mächte, die sich an der „Zivilisierung Afrikas“ beteiligen wollten oder dies bereits taten. Bekannt ist, dass der deutsche Imperialismus dabei keine nachhaltigen Erfolge feiern konnte. Nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Vertrag 1919 nicht nur das deutsche Kolonialreich vollständig unter die Siegermächte aufgeteilt, sondern auch „Deutschlands Versagen auf dem Gebiet der kolonialen Zivilisation“ vertraglich festgehalten. Als moralische Instanz kam Deutschland auch in den folgenden 100 Jahren nicht wieder auf die Beine.

Die etwa 3 Jahrzehnte deutscher Kolonialherrschaft in Afrika waren von zahllosen Aufständen und blutigster Repression durch die deutschen Truppen geprägt. Im damals „Deutsch-Südwestafrika“ genannten heutigen Namibia gipfelte dies in der Ermordung der Mehrheit der Ovaherero (auch als „Herero“ bezeichnet) und einer enormen Zahl von Angehörigen der Nama und anderer Bevölkerungsgruppen. Zu den berüchtigtsten deutschen Gräueltaten in Afrika gehört die „Schlacht am Waterberg“ ab dem 11. August 1904. Etwa 60.000 Ovaherero wurden von Einheiten der deutschen „Schutztruppe“ unter Befehl von Generalleutnant Lothar von Trotha umzingelt. Den Ovaherero gelang der Ausbruch aus dem Kessel und damit zunächst die Flucht. Die deutschen Truppen verfehlten den von der militärischen Führung erwarteten „vollständigen Sieg“ über die Aufständischen und die bei ihnen versammelten unbewaffneten Angehörigen. Unvorbereitet auf einen längeren Kampf in der unwirtlichen Landschaft entschied sich von Trotha, die Ovaherero in der Wüste Omaheke zu isolieren und ihnen den Zugang zu Wasserstellen zu verwehren. Wenigen gelang die Flucht ins britische Kolonialgebiet, viele verdursteten. Die Ermordung der flüchtenden Ovaherero ordnete von Trotha explizit am 2. Oktober in seiner als „Vernichtungsbefehl“ berüchtigt gewordenen Bekanntmachung an. Später im Leben bilanzierte jener wie folgt: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen.“

Moral und Recht

Moral ist, wenn man moralisch ist, aber damit tut sich der deutsche Imperialismus schwer. Nachfahren der damals Ermordeten fordern seit Jahrzehnten eine offizielle deutsche Anerkennung der Verantwortung für den Völkermord, eine Entschuldigung und direkte Reparationszahlungen an Organisationen, die die damals betroffenen Bevölkerungsgruppen heute repräsentieren. Das kürzlich beschlossene Abkommen wird von den Betroffenenverbänden einhellig abgelehnt. Ein Hauptargument ist dabei die Weigerung der deutschen Regierung, sowohl ein Verhandlungsmandat dieser Organisationen als auch deren kollektiven Anspruch auf Entschädigung anzuerkennen. Verhandelt wurde von deutscher Seite aus mit VertreterInnen der namibischen Regierung, die ihrerseits ein Mitspracherecht der Verbände ablehnte. Wie der Kolonialstaat damals erfüllt insoweit auch der halbkoloniale Staat heute als historisches Erbe die Funktion, den Bevölkerungsgruppen ihre kollektiven Rechte zu verweigern.

Wünschenswert wäre vom Standpunkt des deutschen Imperialismus sicherlich eine moralische Reinwaschung. Problematisch hingehen wäre es, dabei Tür und Tor zu öffnen für die Geister der Vergangenheit, die an anderen Ecken des Kontinents noch lauern. Daher hatte sich die damalige Schröder-Bundesregierung zum runden Jubiläum 2004 entschlossen, in warmen Worten die „geteilte Geschichte“ zu bedauern und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul (SPD) zum Bußgang an den Waterberg zu schicken. In ihrer Rede vor dem gespanntem Publikum verhaspelte sie sich. Das Wort „Völkermord“ war gefallen und die Büchse der Pandora geöffnet. Seither sind die Bemühungen dieser und aller nachfolgenden bundesdeutschen Regierungen darauf gerichtet gewesen zu begründen, dass es einen kleinen, aber feinen Unterschied gibt zwischen einem Völkermord in einem historischen oder auch moralischen Sinne einerseits und im juristischen andererseits. Juristisch wurde der Völkermord nämlich erst 1948 in der UNO-Völkermordkonvention definiert und geächtet. Heißt: Von Trotha und das Kaiserreich hätten ja nicht ahnen können, dass sich ihr Völkermord einmal an derartigen Rechtsnormen würde messen lassen müssen, und somit seien sie unschuldig im Sinne der Anklage. Die Konvention zur Verhinderung des Völkermordes wird hier kurzerhand zur Grundlage seiner juristischen Rechtfertigung.

„Aussöhnung“

Hieraus ergab sich im angestrebten Aussöhnungsprozess erheblicher Gesprächsbedarf, der seit 2015 mehr als fünf Jahre Geheimverhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung erforderte. Kürzlich wurde die Einigung auf ein Aussöhnungsabkommen mit der namibischen Regierung verkündet, präsentiert von einem sich moralisch schuldbewusst gebenden Außenminister Heiko Maas. Der genaue Inhalt des Abkommens ist allerdings so gut, dass er nach wie vor von offizieller Seite geheimgehalten wird.

Laut Süddeutscher Zeitung ist jedoch bekannt, dass Punkt 10 dessen wie folgt lautet: „Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.“ So hat es die mit Worten jonglierende Diplomatie also doch vollbracht, einen Völkermord aus Sicht der TäterInnen moralisch anzuerkennen, ohne jedoch juristisch dafür belangt zu werden.

Opfer

Die Ovaherero Traditional Authorities (OTA) und die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) erklärten zu dem Abkommen:

„Das sogenannte Versöhnungsabkommen […] ist ein deutscher PR-Coup und ein Verrat durch die namibische Regierung. […] Offensichtlich hat Deutschland noch immer keine Absicht, anzuerkennen, dass von Trotha einen Völkermord im Sinne des Völkerrechts verübt hat – folglich habe Deutschland kein Verbrechen gegen die Menschheit begangen und beabsichtigt nicht, sich für irgendein Verbrechen des Völkermords zu entschuldigen – insbesondere nicht gegenüber den Nachfahren der Opfergemeinschaften!  […]

Hinter der sogenannten ,Kompensation‘ zugunsten von ,sozialen Projekten‘ verbirgt sich nur die fortgesetzte deutsche Finanzierung namibischer Regierungsprojekte wie NDP5 (Nationaler Entwicklungsplan 5) und ,Vision 2030′, wie es der Premierminister im namibischen Parlament am 16. März 2021 dargestellt hat.“

Auch das Bündnis „Völkermord verjährt nicht“ weist das Abkommen zurück und fordert eine völkerrechtliche Anerkennung des Genozids und hiermit verbundene Reparationsleistungen. Die jetzt verkündete sogenannte Entschädigung ist am Ende doch nichts anderes als die Finanzierung lokaler StatthalterInnen des Imperialismus, keine Reparation gegenüber Betroffenen.

Was bleibt, ist die Frage, warum sich die BRD überhaupt diese Blöße gibt, wenn doch die kaiserlichen Methoden des Kolonialkriegs eigentlich rechtlich unangreifbar sind. Liegt es am Ende nicht vielleicht doch eher daran, dass auch heute wieder imperiale Interessen auf dem afrikanischen Kontinent aneinandergeraten und ein schuldbewusstes „friendly face“ dabei im Wettlauf mit dem chinesischen und US-Imperialismus von Vorteil sein kann?




Fiasko Osterpause: Politische Achterbahn statt Bekämpfung der Pandemie

Martin Suchanek, Neue Internationale 254, April 2021

Die Hängepartei geht weiter. Nachdem sich Bund und Länder Anfang März aufgrund des Drucks der Wirtschaft noch eine bunte Mischung von Öffnungsschritten vorgestellt hatten, verkündete das selbsternannte „Team Vorsicht“ um Kanzlerin Merkel, den bayrischen Ministerpräsidenten Söder und den Berliner Bürgermeister Müller in der Nacht vom 22. zum 23. März, dass nunmehr auf die Bremse zu treten sei. Die Corona-Politik, in der Substanz zwar unverändert, sollte einen Schritt in die andere Richtung machen.

Schließlich befänden wir uns mitten in einer dritten Welle der Pandemie. Stetig steigende Inzidenzwerte, die Ende März konstant über 100 liegen und mit großer Wahrscheinlichkeit weiter nach oben gehen werden, belegen das ebenso wie die Veränderungen des Virus selbst. Die weitaus ansteckendere und lebensbedrohlichere Mutante B. 1.1.7, die sog. britische, wurde auch in Deutschland zur vorherrschenden.

Vorsicht?

Innerhalb weniger Stunden entpuppte sich „Team Vorsicht“ als „Team Kurzsicht“. Die vor dem Regierungsgipfel aus dem Hut gezauberte „Osterpause“, die ohnehin nie mehr war als ein unklar definierter möglicher arbeitsfreier Gründonnerstag, wurde am 24. März aufgrund des Drucks aus der Wirtschaft, aber auch aus den Reihen der Unionsparteien wieder zurückgezogen.

Dabei sollte eigentlich die sog. „Notbremse“ greifen, sprich ab einem Inzidenzwert von 100 sollen partielle Öffnungen, die Anfang März auf den Weg gebracht wurden, zurückgefahren werden. Doch die Osterpause entpuppte sich als schlechter vorgezogener Aprilscherz. Ihre Rücknahme befördert eine veritable Führungskrise im bürgerlichen Lager. Zum Zeitpunkt der Drucklegung des Artikels folgte eine weitere Regierungserklärung samt Entschuldigung der Kanzlerin. Ein zusätzlicher Bund-Länder-Gipfel ist wohl auch geplant.

Während das Kabinett Merkel im Frühjahr 2020, also vor etwas weniger als einem Jahr, wegen seines erfolgreichen Krisenmanagements in den Meinungsumfragen breite Zustimmung erhielt, wurde dieser Bonus längst verspielt. Eine Antwort auf die brennenden Fragen der Pandemie wie auch die sozialen Existenznöte trauen immer weniger Menschen dieser Regierung zu. Zu Recht!

Die Politik von Merkel und Co. erschöpft sich in einem „Weiter so“, das nur neu verpackt wird. So wurde beim Bund-Länder-Gipfel, sehen wir von der Osterposse ab, der bestehende Lockdown bis zum 18. April verlängert.

Die Frage der Schließungen der Schulen und Kitas konnte ein Stück weit umschifft werden, da in diese Zeit ohnehin die Osterferien fallen, diese also für zwei Wochen geschlossen sind.

Umso heftiger umstritten war dafür die Öffnung des Inlandstourismus. Die fünf Küstenländer wollten hier Sonderregelungen durchsetzen. Auch wenn sie schließlich einlenkten, so verdeutlicht das Beispiel die „Kontinuität“ des Zickzacks der Corona-Politik. Angesichts der aktuellen Regierungskrise könnte ein erneuerter Vorstoß zur Öffnung touristischer Einrichtungen durchaus rasch erfolgen.

Ursache

Bei der vorherrschenden bürgerlichen Corona-Politik stehen Gesundheitsschutz der Allgemeinheit und Profitinteressen der Wirtschaft einander gegenüber. Sie verbinden sich zu einem inkonsequenten, in sich unschlüssigen Ganzen, zu Maßnahmenpaketen, die weder den Erfordernissen der Bevölkerung nach Gesundheitsschutz und sozialer Absicherung entsprechen noch die Rufe des Kapitals nach Freiheit des Geschäfts voll befriedigen.

Dass dieser Widerspruch die ganze Politik der Regierung bestimmt, zeigte sich einmal mehr bei den Beschlüssen des Bund-Länder-Gipfels.

Als die Osterpause, also ein arbeitsfreier Gründonnerstag, verkündet wurde, blieb offen, ob dieser auch arbeitsrechtlich als Feiertag gelten solle, ob Beschäftigte z. B. im Homeoffice wirklich nicht arbeiten müssten oder ob der Tag wie alle Feiertage bezahlt werden solle. Ungeklärt war auch, ob jene, die z. B. im Gesundheitswesen oder im öffentlichen Verkehr arbeiten müssen, Feiertagszulagen erhalten sollten. Solche „Kleinigkeiten“, die vor allem die Interessen der Lohnabhängigen betreffen, sollten von der Bundesregierung nachgereicht werden.

Nachdem dieser Tag jetzt vom Tisch ist, wird der Lockdown in bisheriger Form fortgesetzt. Eingeschränkt werden weiter vor allem jene Bereiche des Lebens, die unsere Freizeit, also die Regenerationsmöglichkeiten der Menschen betreffen. Zweitens obliegt die Verantwortung für die Umsetzung der Maßnahmen und für die negativen finanziellen und sozialen Folgen weiter den Einzelnen, wird im Wesentlichen individualisiert. Wer auf engem Raum leben muss, muss das auch weiter. Ärmere Familien, Alleinerziehende, Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen müssen ein Mehr an „Eigenverantwortung“ erbringen. Vor allem Frauen müssen mehr private Hausarbeit leisten. Die Kinderbetreuung wird den Eltern und hier wiederum vor allem den Frauen aufgehalst.

Während die BürgerInnen regelmäßig und munter zur „Vernunft“ ermahnt werden, der die meisten ohnedies folgen, bleibt der für die kapitalistische Ökonomie entscheidende Sektor wie seit Beginn der Pandemie außen vor. Von einem Lockdown in der Industrie, bei den Banken und Versicherungen, in den Großraumbüros und Schlachthöfen ist längst selbstverständlich keine Rede mehr. Selbst von den Schutzvorkehrungen, die z. B. für Schulen oder im Einzelhandel verpflichtend sind (Masken, Mindestabstand), werden die industrielle Produktion, aber auch ein bedeutender Teil der Angestelltentägigkeiten (z. B. Großraumbüros) bis heute ausgenommen.

Tests wie für Schulen gibt es für Industriekonzerne nur auf freiwilliger Basis und, wie z. B. bei BMW in Leipzig, nur für die Stammbelegschaft. Für die LeiharbeiterInnen, immerhin rund 50 % der dort Arbeitenden, erklärt sich der Konzern als nicht zuständig. Der Osterlockdown stellt also in den entscheidenden Bereichen der kapitalistischen Mehrwertproduktion reine Augenwischerei dar. Diese sind und bleiben ausgenommen von allen Schließungen, ja selbst von üblichen Hygienevorschriften.

Neu sind an der aktuellen Lage aber zwei Dinge: Erstens hat sich die Gesundheitskrise zu einer politischen Krise entwickelt, wie auch die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigen. Zweitens droht die anhebende dritte Welle der Pandemie trotz der Impfung der über 80-Jährigen, Tausende weitere Tote zu fordern.

Linke Alternative

Eine linke Politik zur Pandemie- und Krisenbekämpfung wird angesichts dieser drohenden Katastrophe dringender denn je. Sie müsste genau dort ansetzen, wo die Politik im Interesse des Kapitals haltmacht: bei der Forderung nach zeitweiliger Schließung aller für die tägliche Reproduktion nicht essentiellen Bereich der Ökonomie, um die Infektionszahlen zu drücken und damit die Zahl der Erkrankungen, langer und ernster Folgeschäden sowie hunderter Toter pro Tag massiv zu reduzieren und auf null zu bringen.

Dies hätte zugleich den Vorteil, dass wir nicht in der Situation eines zermürbenden Dauerlockdowns leben müssten, der Millionen vor die Alternative Gesundheit oder Sicherung der Existenz stellt. Ein solidarischer Lockdown würde, nebenbei bemerkt, nach einem zeitweiligen Herunterfahren der Wirtschaft also sehr viel allgemeinere und kontrollierte Öffnungsmöglichkeiten bieten. Hinzu kommt, dass er auch mit einer Ausweitung gesellschaftlich notwendiger bezahlter Reproduktionsarbeit einhergehen müsste – also Sicherung der Betreuung Pflegedürftiger, Ausbau des Gesundheitswesens, Öffnung von Schulen und Kitas und ihr Betrieb in kleineren Gruppen/Klassen, so dass die Eltern nicht nur dann entlastet werden, wenn sie arbeiten müssen.

Die Politik des solidarischen Lockdowns, wie sie die Initiative #ZeroCovid vertritt, stellt eine substantielle, grundlegend andere Strategie als jene der Bundesregierung, aller Kapitalverbände, der liberalen ÖffnungsfanatikerInnen und der rechten Corona-LeugnerInnen dar.

Sie würde die zeitweilige europaweite Schließung aller nicht essentiellen Bereiche unter Kontrolle der Beschäftigen und Gewerkschaften mit der Forderung nach sozialer Absicherung für alle, dem Ausbau des Gesundheitswesens, dem Ende privater Verfügungsgewalt über die Impfstoffproduktion und -verteilung sowie nach Finanzierung dieser Maßnahmen durch die Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen verbinden.

Liberale und Rechte

Das Dramatische an der aktuellen Lage besteht einerseits darin, dass sich die Pandemie bei den gegenwärtigen Maßnahmen weiter ausbreiten wird. Andererseits ist auch offen, wer, welche gesellschaftliche Kraft angesichts der Schwäche der Regierung das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verändern wird.

Angesichts der Entwicklung der letzten Monate hoffen die bürgerlich-liberalen ÖffnungsfanatikerInnen, die nach noch mehr Freiheit des Kapitals schreien, die Lage nach ihren Vorstellungen nutzen zu können. Ihr Rezept lautet: Testen, Öffnen, Impfen und vor allem „Eigenverantwortung“.

Seit Monaten trommeln bürgerliche Blätter, vor allem aber die Unternehmerverbände inklusive deren wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Institute, dass wir „mit dem Virus leben“ lernen müssten. In einer einflussreichen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft wird die Inkaufnahme des Todes zu einer gesellschaftlichen Herausforderung stilisiert: „Das ist gesellschaftlich herausfordernd, weil es so etwas wie virus-spezifische Bereitschaft und Fähigkeit einfordert, mit begrenzten gesundheitlichen Folgen und begrenzter Sterblichkeit zurechtzukommen, diese auszuhalten.“ (Bardt/Hüther, Aus dem Lockdown ins Normal, S. 10)

Diese pseudo-philosophische Rechtfertigung des Sozialdarwinismus dient vor allem Unternehmerverbänden, der FDP und anderen ÖffnungstrommlerInnen zur ideologischen Verklärung ihrer Politik.

Die AfD, rechte Corona-LeugnerInnen, QuerdenkerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen aller Art halten sich bei solchen Erwägungen erst gar nicht auf. Die Krise treibt ihnen vor allem AnhängerInnen aus dem KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten zu, selbst wenn ihre vollständige Ignoranz gegenüber der Pandemie viele (noch) abschrecken mag. Wie die Demonstration von 20.000 Menschen in Kassel gezeigt hat, formiert die Rechte zur Zeit diese gesellschaftliche Verzweiflung zu einer politischen Kraft, zu einer reaktionären, kleinbürgerlichen Massenbewegung, die die Pandemie zur Ausgeburt einer „Merkel-Diktatur“ oder einer Verschwörung von Gates und Soros verkehrt. Der drohende Ruin dieser Schichten in Zeiten von Pandemie und Krise wird von den Rechten auf eine Scheinursache gelenkt. Der grundlegende Irrationalismus der Bewegung gerät zur ideologischen Rechtfertigung ihrer Pseudo-Radikalität.

Und die Linke?

Angesichts dieser Lage sind Initiativen wie #ZeroCovid in den letzten Wochen in eine gesellschaftliche Defensive geraten, obwohl sie eine solidarische Strategie im Interesse der Masse der Bevölkerung vertreten. Die zunehmenden Infektions- und Sterbezahlen mögen die vorherrschende Stimmung zwar ändern, zugleich wird sich jedoch auch die reaktionäre Kritik an jeder Politik zur Bekämpfung der Pandemie wie die der sog. QuerdenkerInnen radikalisieren.

Grundsätzlich aber muss die Initiative ihre Forderungen beibehalten und zugleich gezielt versuchen, die ArbeiterInnenbewegung und die Linke aus ihrer Passivität angesichts der Pandemie zu reißen. Dazu soll #ZeroCovid ihre Schwerpunktsetzung klarer bestimmen und ihre Politik konkretisieren.

Wir müssen gerade in den Gewerkschaften, in sozialen Bewegungen weiter für den solidarischen Lockdown eintreten, für eine Politik, die Gesundheitsschutz und den Kampf gegen die Lasten von Pandemie und Krise und deren Abwälzung auf die Bevölkerung miteinander verbindet. Die Verschlechterung der Lage setzt die Forderung nach einem europaweiten „solidarischen Shutdown“ auf die Tagesordnung, wenn wir Gesundheitsschutz und soziale Sicherheit durchsetzen wollen.

Eine an den Interessen der Masse der Menschen orientierte Politik zur Bekämpfung der Pandemie muss also eine Klassenpolitik sein. Sie kann nur durch Mobilisierungen gegen Kapital, Regierungen und politische Rechte, durch eine gesellschaftliche Bewegung erkämpft werden, die in den Betrieben, an Schulen und Unis, im öffentlichen Dienst, in den Krankenhäusern, in den Wohnvierteln, in Stadt und Land verankert ist.

Ideologischer Kampf

Die Hinnahme einer „akzeptablen“ Zahl von Toten als „gesellschaftliche Leistung“ durch (neo)liberale, konservative oder rechte IdeologInnen des Kapitals, das rechtspopulistische Gerede von der Corona-Diktatur oder die Verklärung des freien Warenverkehrs zur Freiheit schlechthin verdeutlichen, dass der Kampf um die Corona-Politik auch auf ideologischer Ebene eine Form des Klassenkampfes darstellt. Es gilt, die Menschenverachtung und den Zynismus all jener zu entlarven, die von der Rückkehr zu einer Normalität sprechen und damit die Bevölkerung darauf einstimmen wollen, den Tod Tausender in Deutschland und von Millionen weltweit als Normalzustand in Kauf zu nehmen.

Vor allem aber gilt es darzulegen, worin der Zweck dieser barbarischen Unternehmung besteht: nämlich in der Verbreitung der Vorstellung, dass es keine Alternative zur Akzeptanz einer solchen Politik gebe. Wir müssen daher nicht nur verdeutlichen, dass hinter den Kosten der bürgerlichen Freiheit die Interessen des Kapitals zum Vorschein kommen. Wir müssen auch klarmachen, dass es bei der Frage der Corona-Politik, der Durchsetzung eines solidarischen Shutdowns im Interesse der ArbeiterInnenklasse auch um die Frage geht, welche soziale Kraft, welche Klasse die Gesellschaft selbst so reorganisiert, dass die Bekämpfung der Pandemie nicht mehr als Gegensatz zur „Freiheit“ erscheint. Dies erfordert, den Kampf um die Forderungen von #Zero-Covid im größeren Kontext des revolutionären Kampfes um die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer globalen, demokratischen Planwirtschaft zu begreifen.




Widersprüche und Widerstände: Lockdown 2.0

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Der Lockdown light von Bund und Ländern ist gescheitert. Noch Mitte November verkündeten Regierungen und bürgerliche Politik, dass sich die Infektionszahlen, wenn auch auf hohem Niveau, stabilisiert hätten und das extrem rasche Viruswachstum gebrochen wäre.

All das erweist sich als Schönwetterrhetorik. Der Herbst wurde kalt und trübe und der Wetter wird noch kälter und düsterer werden. Die Entwicklung von Impfstoffen mag zwar die Gesundheitslage im Laufe des kommenden Jahres substantiell verbessern – kurzfristig wütet die Pandemie jedoch wie nie zuvor, und zwar weltweit und in Deutschland.

Pandemische Lage

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels, am 12. Dezember, waren bundesweit 321.500 Menschen infiziert. Zum Vergleich: Die Höchstzahl der ersten Welle betrug am 7. April 2020 64.318 Personen. In der 2. Dezemberwoche erlebten wir zudem einen Anstieg der Zahlen in allen Bundesländern außer Bremen. Hamburg bildete mit 38,1 % den traurigen Rekord. Würden alle Bundesländer als gleich groß gewertet werden, so wäre der durchschnittliche Anstieg gegenüber der vorhergehenden Woche etwa 16 %, der Medianwert liegt dabei bei 14,35 % (Quelle: RKI vom 12.12.2020).

Nicht minder dramatisch stellt sich die Zahl der täglich an oder mit Corona Verstorbenen dar. Im Dezember überstieg sie mehrfach den bisherigen Höchststand vom 15. April mit 510 Verstorbenen pro Tag. Der bisherige Negativrekord wurde am 10. Dezember mit 604 Toten erreicht. Hochgerechnet auf einen Monat entspräche das über 15.000 (!) Toten. Ohne drastische Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Kontaktbeschränkung drohten über die kommenden Monate noch dramatischere Zahlen und eine massive Überlastung des Gesundheitswesens, vor allem aufgrund fehlenden Personals, an dem es über Jahre neoliberaler „Reformen“, Privatisierungen und Kürzungen nun überall mangelt.

Setzt sich diese Entwicklung fort, droht der gesundheitspolitische Deichbruch. Das dämmert wohl auch der Bundesregierung und den Ländern. Faktisch besteht die Landkarte Deutschlands nur noch aus Risikogebieten. Ein „echter“ Lockdown zeichnet sich ab, der ab 16. Dezember gelten soll. Dieser soll folgende Maßnahmen umfassen:

  • Bundesweite Schließung von Schulen und Kitas
  • Schließung aller Geschäfte und Läden, die nicht der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern dienen
  • Ausgangssperren, die sich jedoch regional oder lokal unterschiedlich gestalten
  • Eine Verlängerung und Ausweitung der Entschädigungszahlen für geschlossene Geschäfte.

Gültig sind die Maßnahmen bis zum 10. Januar, gewissermaßen als Verlängerung der Weihnachtsferien unter massiven Kontaktbeschränkungen. Bund und Länder hoffen, mit einem härteren Lockdown Neuinfektionen und Verbreitungsrate so weit absenken zu können, dass Schulen und Geschäfte ab der 2. oder 3. Januarwoche wieder zur „Normalität“ zurückkehren können, die Zahlen bis zum Frühjahr „kontrollierbar“ bleiben und aufgrund von Impfungen der besonders Gefährdeten einschließlich der Beschäftigten in Krankenhäusern und in der Altenpflege weniger Menschen schwer erkranken oder gar sterben.

Heilige Weihnacht, böses Neujahr?

Dafür soll auf Neujahrsfeiern verzichtet werden und auch das heilige Fest des Friedens, der Liebe und der Familie, besser als Weihnachten bekannt, nur eingeschränkt stattfinden.

Sinnvoll sind solche Kontaktbeschränkungen allemal. Allein, der ideologische und wirtschaftliche Eiertanz um diese Maßnahmen weist auf die Widersprüchlichkeit der Regierungspolitik hin, die auch den härteren Lockdown durchzieht – wohl auch wie ihre gesamte Regierungszeit.

Während Reisen zum familiären Weihnachtsfest außer Frage stehen und die Kontaktbeschränkungen etwas erleichtert werden, soll das für das andere große, vergleichsweise weltliche Neujahrsfest nicht gelten. Dieses feiern wir schließlich ausgelassen mit FreundInnen und nicht nur mit der heiligen, vorzugsweise christlichen Familie.

Angesichts der pandemischen Lage mahnen neuerdings auch CDU-PolitikerInnen zur Zurückhaltung unterm Weihnachtsbaum. Noch am 21. November verteidigte Friedrich Merz im Tagesspiegel die Weihnachtsfeier noch als letztes Refugium der Freiheit: „Es geht den Staat auch nichts an, wie ich mit meiner Familie Weihnachten feiere.“

Angesichts steigender Todeszahlen schweigt er seither. Freilich: Die Doppelmoral der bürgerlichen Politik erschöpft sich längst nicht damit. Fast alle BefürworterInnen eines härteren Lockdowns wollen nicht nur ein Familienfest light, sondern auch das Weihnachtsgeschäft einigermaßen retten.

Kein Wunder, dass der 12. Dezember, der letzte „sichere“ Einkaufstag, zum umsatzstärksten des Jahres wurde. Die Kaufhäuser waren übervoll. Während die „Politik“ ständig die BürgerInnen ermahnt, sich verantwortlich zu verhalten und auf die Abstands- und Hygieneregeln zu achten, sollten möglichst viele ihre Einkäufe noch rasch und rechtzeitig erledigen und nicht nur online shoppen.

Geradezu sinnbildlich offenbarte sich die Doppeldeutigkeit am Beispiel Frankfurt/Main am 12. Dezember. Der SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann erließ einerseits ein Verbot der Querdenken-Demonstration, andererseits reduzierte die Stadt für einen Tag die Ticketpreise auf die Kosten von Kinderfahrscheinen, um das Weihnachtsgeschäft anzukurbeln.

Neben dieser makaberen Doppeldeutigkeit läuft die gesamte Weihnachts- und Neujahrspolitik der Regierungen aber auch auf folgendes Muster hinaus: Gelingt es nicht, die Zahlen zu reduzieren, sind dafür die Menschen hauptverantwortlich. Das Brechen von Kontaktbeschränkungen im privaten Bereich, im Haushalt, mit Familie und FreundInnen wird als zentrales, wenn nicht als das Hauptproblem der unkontrollierten Ausbreitung der Pandemie präsentiert.

Kapitalistisches Pandemiemanagement und seine Widersprüche

Dabei treten die Widersprüche des kapitalistischen Pandemiemanagements seit Monaten offen zutage.

Der zweite Lockdown erstreckte sich im Wesentlichen auf Bereiche des privaten Konsums und der Freizeit – von der Gastronomie bis zu Theater, Konzerthäusern und Kinos. Zu Recht fragten sich Millionen, warum der Besuch eines Klassenzimmers mit 30 SchülerInnen erlaubt, ein Treffen mit 5 FreundInnen jedoch pandemietreibend sein sollte. Zu Recht fragen sich Millionen, warum z. B. Kinos und Theater mit funktionierenden Hygienekonzepten geschlossen wurden, während Shoppingmalls (Einkaufszentren) weiter offenhielten. Hinzu kam, dass die Regierung keine Vorsorge für eine absehbare zweite Welle getroffen hatte – sei es durch dauerhafte Maßnahmen im Gesundheitsbereich oder durch die Ausstattung der Schulen mit Luftfiltern oder Verkleinerung der Klassengrößen. Schließlich hätte das Milliarden gekostet, die schon zur Rettung der Unternehmen verbraten waren. Die öffentliche innere Widersprüchlichkeit der Maßnahmen rief viel berechtigte Empörung hervor und verschaffte in den ersten Wochen auch der rechtspopulistischen Querdenken-Bewegung weiter Zulauf.

Vor allem aber führte sie dazu, dass sich Corona im Herbst wieder massiv ausbreitete und die zweite Welle der Pandemie weit mehr Opfer fordert als die erste.

Das hängt auch mit einem grundlegenden Unterschied des Lockdowns zusammen. Im März und April stellten die meisten Industriebetriebe aufgrund unterbrochener Lieferketten ihre Produktion ein. Die Schulen waren geschlossen, der öffentliche Verkehr ging massiv zurück.

Im Lockdown light, aber auch nach Verschärfung der Maßnahmen durch die Bundes- und Landesregierungen Mitte Dezember 2020, blieben zentrale Teile der kapitalistischen Ökonomie ausgenommen – genauer gesagt jene, die für die Schaffung des Mehrwerts und für Kredit und Kapitalzirkulation wesentlich sind: Industrie, Transport und Finanzsektor.

In der Weihnachtszeit kommen schließlich nicht nur Familien zusammen, es ist auch der Zeitraum, indem viele Menschen ohnehin Urlaub genommen haben, in der viele Werke sogar Betriebsurlaub anordnen, indem Eltern sowieso mit ihren Kindern zuhause bleiben müssen. Summa summarum ist es für das Kapital der billigste Zeitpunkt für einen Lockdown!

Kein Wunder also, dass große Kapitalfraktionen die Wirtschaftspolitik der Regierung durchaus mit Wohlwollen betrachten. Die Unternehmen, die mit stärkerer Kritik gegenüber den Maßnahmen laut wurden, sind vor allem in der Zirkulationssphäre ansässig, wie beispielsweise die Veranstaltungsbranche, der Tourismus- und Hotelsektor und auch der „nicht-systemrelevante“ Einzelhandel. Diese sollten teilweise mit halbgaren Überbrückungshilfen befriedet werden oder durch Appelle daran, dass „Einkaufen […] eine patriotische Pflicht“ ist, wie CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier es formulierte.

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Dass die SPD und die Gewerkschaften den Kurs der Regierung mitbestimmten bzw. mittragen, erklärt wesentlich, warum es bislang so wenig Widerstand von links gab. Über Monate befand sich auch die Linkspartei im Dornröschenschlaf. Mit dem Herbstbeginn geht sie immerhin vermehrt auf Distanz zur Regierung und fordert eine Vermögensabgabe von 300 Milliarden Euro über 20 Jahre.

Auch wenn die Krise 2020 teilweise beschränkt wurde durch Milliardenstützen, KurzarbeiterInnengeld, Finanzhilfen aller Art, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie schon in diesem Jahr zu dramatischen Einkommenseinbußen, Lohnverzicht, Entlassungen, Betriebsschließungen geführt hat:

  • Noch immer arbeiten Millionen in Kurzarbeit. Viele Kleinunternehmen, FreiberuflerInnen, Selbstständige stehen vor dem Aus.
  • In der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes erlitten die Gewerkschaften eine schwere Niederlage, was zu stagnierenden oder sinkenden Einkommen für Millionen Beschäftigte in den nächsten 3 Jahren führen wird.
  • In der Großindustrie – insbesondere im Automobil- und Luftfahrtbereich – drohen oder laufen massive Kürzungsprogramme, Massenentlassungen und der Verlust zehntausender Arbeitsplätze in Konzernen wie Daimler.
  • Der Umstieg auf Homeoffice während der Pandemie verändert Millionen Arbeitsverhältnisse und damit die Ausbeutungsraten massiv zugunsten des Kapitals.
  • Während Teile des Unternehmertums massive Einbußen erlitten, gibt es natürlich auch „Corona-GewinnerInnen“ wie Logistik, Versandhandel oder die Pharma-Industrie.
  • Der sog. Green New Deal entpuppt sich als Förderprogramm für die E-Mobilität – auf Kosten von Beschäftigten und Umwelt, wie am Dannenröder Wald zu sehen ist.
  • Hunderttausenden droht, wegen sinkender Einkommen und weiter steigender Mieten und Wohnungsspekulation ihr Heim zu verlieren.
  • Regierungen und Kapital nutzen die Pandemie zur Einschränkung demokratischer Rechte und zur Einschüchterung der ArbeiterInnenklasse und sozialer Bewegungen. Nicht nur Gesetze werden verschärft. Alle, die mit Demonstrationen, Besetzungen für ihre berechtigten sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Interessen eintreten, werden unter Generalverdacht gestellt, die Gesundheit anderer zu gefährden. Die wahnwitzige, pseudoradikale kleinbürgerliche Querdenken-Bewegung, die Freiheit mit Rücksichtslosigkeit gleichsetzt und tatsächlich den Tod Tausender billigend in Kauf nimmt, erleichtert den bürgerlichen Kräften dabei ihre Politik.

Aufgaben für 2021

Die Zögerlichkeit der Regierungen in Bund und Ländern bezüglich der Einschränkungen zwischen Weihnachten und Neujahr, aber auch die Friedhofsruhe bezüglich der fiskalpolitischen Maßnahmen gegenüber der Corona-Neuverschuldung zeigen einerseits, dass die Pandemie sicher zum Hauptthema der kommenden Bundestagswahl wird. Andererseits wird die Regierung versuchen, die ganz massiven Einsparungen erst in der nächsten Legislatur durchzuziehen. Bis zur Bundestagswahl soll alles am besten noch „abgefedert“ und sozial stattfinden. Die Gesamtrechnung für die Bekämpfung der Pandemie und für die Kosten der kapitalistischen Krise – insbesondere für die Staatsverschuldung – soll erst nach den Wahlen präsentiert werden.

Die Maßnahmen der Regierung verdeutlichen, dass im Kapitalismus eine Bekämpfung der Pandemie höchstens über ein medizinisches Heilmittel erfolgreich sein kann. Währenddessen werden wir durch ein widersprüchliches Krisenmanagement von einer Welle in die nächste zu geraten drohen.

Dem Lockdown der Regierung müssen wir die Forderung nach einer Schließung aller für Gesundheit, Versorgung, Infrastruktur nicht notwendigen Bereiche entgegenstellen. Dabei können wir uns nicht auf das Kabinett oder die MinisterpräsidentInnen und ihren Apparat – und erst recht nicht auf die UnternehmerInnen verlassen. Diese muss vielmehr unter Kontrolle der Beschäftigten und Gewerkschaften erfolgen. Diese müssen bestimmen, welche Arbeit, welche Art Produktion aufrechterhalten und welche wie lange eingestellt wird. An den Schulen müssen Kontrollausschüsse aus Beschäftigten, SchülerInnen und Eltern festlegen, ob und unter welchen Bedingungen der Unterricht aufgenommen werden kann.

Ein solcher Lockdown ist angesichts der aktuellen Notlage notwendig. Er muss zugleich ergänzt werden durch den Ausbau der Testkapazitäten, von Infrastruktur in Schulen und Betrieben, wie mit Raumluftfiltern, Quarantäneangeboten in Hotels für Personen ohne eigenen Rückzugsort (z. B. Flüchtlinge und Obdachlose) und einer gesellschaftlichen Kontrolle über die Vergabe sicherer Impfstoffe.

Ergänzt werden muss dies durch die Sicherung der Einkommen und Löhne von allen, die in Kurzarbeit sind; für Arbeitslosengeld in der Mindesthöhe von 1600.- Euro/Monat statt Hartz IV, durch die Auszahlung eines Mindesteinkommens für kleine Selbstständige und Studierende und für Stützungsprogramme von Kleinunternehmen, um sie vorm Ruin zu bewahren.

Zugleich braucht es aber auch entschiedene Maßnahmen, um die Kosten der Krise und der Pandemie den großen Kapitalien und VermögensbesitzerInnen aufzuzwingen. Ohne Eingriffe in das Privateigentum an den großen Unternehmen, in das Kreditwesen, in den Kapitalverkehr wird jede Bekämpfung der Pandemie immer nur Stückwerk bleiben, immer vom Widerspruch zwischen allgemeinen Gesundheits- und Lebensinteressen und den Profitinteressen des Kapitals geprägt sein.

Die entschädigungslose Verstaatlichung des gesamten Gesundheitswesens unter Kontrolle der dort Arbeitenden wäre dazu ein erster unerlässlicher Schritt – und zugleich auch ein Mittel sicherzustellen, dass ein Impfstoff allen gemäß ihrer Bedürftigkeit kostenlos zukommt und zwar nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in der sog. Dritten Welt.

Die Frage der entschädigungslosen Enteignung betrifft aber auch alle Sektoren, die mit Entlassungen, Kürzungen drohen oder diese schon vornehmen – womit auch ein wichtiger Schritt gesetzt wäre zur Enteignung der Schlüsselpositionen der Wirtschaft, vor allem der großen Konzerne, Banken und Finanzinstitutionen.

Nur durch eine Verstaatlichung unter Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung wäre es möglich, die Produktion und Investitionen gemäß eines gesellschaftlichen Plans über notwendige, nützliche, aufzunehmende und unnötige, einzustellende Arbeit in der Pandemie und zum Umbau nach ökologischen und sozialen Kriterien zu reorganisieren.

Kampf

Eine solche Lösung der gesundheitlichen (und ökonomischen) Krise muss jedoch erkämpft werden. Das Perfide an der Situation ist, dass wir damit rechnen müssen, dass die sozialen Angriffe zurzeit noch nicht mit einem Schlag, sondern eher in Form einer Salamitaktik einschlagen. Dagegen entsteht zwar spontan lokaler Widerstand, aber er verbindet sich keineswegs automatisch. Die Gewerkschaften begrenzen die Auseinandersetzungen in der Regel auf den jeweiligen Standort – auch dort, wo betriebliche Auseinandersetzungen gegen Schließungen und Entlassungen geführt werden. Sie weigern sich aus Perspektive von Co-ManagerInnen, dies im Gesamtbetrieb, geschweige denn innerhalb der Branche oder gar in der Gesellschaft insgesamt auszufechten. Dadurch entstehen zwar immer wieder heroische betriebliche Auseinandersetzungen. Diese verpuffen jedoch schnell und zeichnen so auch ein Bild von Aussichtslosigkeit.

Die Aufgabe von RevolutionärInnen, von klassenkämpferischen ArbeiterInnen besteht aktuell nicht darin, auf die Spontaneität der Klasse zu hoffen, sondern schon jetzt die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, seien es Gewerkschaften oder Parteien wie die SPD und die Linke in Debatten um die Organisierung und den Inhalt eines Widerstandes zu ziehen und den Aufbau eine Antikrisenbewegung in Angriff zu nehmen. Um den Inhalt, die Forderungen, die Strukturen einer solchen Bewegung braucht es eine öffentliche und kontrovers geführt Diskussion – vor allem aber die gemeinsame Aktion, um die Frage des Kampfes gegen die Krise nicht dem bürgerlichen Parlament zu überlassen und zugleich offen um die effektivsten Kampfmethoden zu streiten.




Novelle des Infektionsschutzgesetzes: Regierung lässt Notstandbefugnisse parlamentarisch absegnen

Martin Suchanek, Infomail 1126, 19. November 2020

Bundestag und Bundesrat können auch rasch handeln. An einem einzigen Tag, am 18. November, stimmten sie die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes durch, so dass sie nach Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten schon am Folgetag in Kraft tritt.

Große Koalition plus

An der Corona-Politik wird sich damit nichts Grundsätzliches ändern. Die Große Koalition und die Landesregierungen werden weiter versuchen, die Profitinteressen des Großkapitals zu wahren, eine Schließung von Großkonzernen und der Schulen zu vermeiden – und zugleich die Infektionszahlen nach unten zu drücken, indem vor allem das öffentliche Leben im Konsum- und Freizeitbereich eingeschränkt wird.

Wie sehr die Bundesregierung dem Kapitalinteresse verpflichtet ist, verdeutlichen die Milliarden, die in die Rettung von Konzernen wie der Lufthansa gepumpt wurden, während für die Unterbringung von Obdachlosen, für den Ausbau von Testkapazitäten, für die Vorbereitung der Schulen auf eine 2. Welle der Pandemie Zeit verloren ging und kein Geld lockergemacht wurde.

Im Bundestag stimmten 413 Abgeordnete für die Gesetzesänderung, 235 dagegen, 8 enthielten sich. Im Bundesrat erhielt es 49 von 69 Stimmen. In beiden Kammern konnte sich die Regierung auf eine klare Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und Grünen stützen, die gewissermaßen als erweiterte „Mitte“ agierte und so die bisherige Politik von Bund und Ländern legitimierte.

Erklärter Zweck des Gesetzes war schließlich auch, die Corona-Politik der Großen Koalition auf eine parlamentarische Basis und eine „solidere“ rechtliche Grundlage zu stellen, also bei etwaigen Klagen vor den Gerichten nur selten zu scheitern. Aus diesem Grund wurde auch der ursprüngliche Entwurf vom 12. November noch rasch „nachgebessert“, seine Substanz blieb allerdings unverändert. Auch wenn ein zentraler und berechtigter Kritikpunkt der parlamentarischen Opposition am neuen Gesetz darin liegt, dass es die Machtbefugnisse der Regierungen in Bund und Ländern ausweitet, so verdeutlicht die Abstimmung auch, dass das nicht den Kern des Problems darstellt. Auch auf parlamentarischem Weg würde im Grunde derselbe politische Kurs verfolgt werden.

Erstmals seit Beginn der Pandemie stellten sich dem Gesetzesvorhaben aber auch eine rechte und eine linke Opposition entgegen.

Rechte Kritik

Die rechte zerfällt dabei in eine marktliberale, die von der FDP vorgetragen wird, die im Grunde eine Regierungspolitik mit Restaurant- und Kulturbetrieb haben will. Wenn sie von der Einschränkung der „Freiheit“ spricht, meint sie vor allem die Gewerbefreiheit. Beherzt springen FPDlerInnen den Kleingewerbetreibenden bei, machen sich für das „Recht auf Arbeit“ der Selbstständigen stark. Geld soll deren Rettung jedoch möglichst nichts kosten. Soziale Sicherung für Selbstständige oder in die Scheinselbstständigkeit Gedrängte oder für Kleinbetriebe will die FDP im Namen des Grundrechts auf freie Berufsausübung sparen. Aufsperren! lautet die liberale Devise, natürlich mit tollen Hygienekonzepten.

Auf diese will die AfD auch gleich verzichten. Der Rechtspopulismus und seine rechten bis rechtsradikalen Fußtruppen schwadronieren von der Merkel-Diktatur, vergleichen das Infektionsschutzgesetz allen Ernstes mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD will selbst bei diesem Aberwitz nicht stehen bleiben und erklärt: „Die heutige Gesetzeslage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab.“

Mit solchen Vergleichen will sich die AfD zum parlamentarischen Arm und parteipolitischen Ausdruck einer rechtspopulistischen Bewegung auf der Straße machen – von Corona-LeugnerInnen, VerschwörungstheoretikerInnen, NationalistInnen, RassistInnen und AntisemitInnen bis hin zu offenen Nazis. Demagogisch greifen sie die berechtigte Existenzangst vor allem kleinbürgerlicher Schichten auf – und versprechen ihnen Rettung durch eine Rücksichtslosigkeit. Wer die Corona-Gefahr leugnet, braucht auch für den  vielbeschworenen „Mittelstand“ oder den Gesundheitssektor kein Geld, sondern setzt auf das Überleben der „Tüchtigen“, nimmt den Tod von abertausenden gesundheitlich Gefährdeten billigend in Kauf.

Linkspartei

Doch nicht nur eine liberale und eine rechtspopulistische Opposition erhoben ihr Haupt. Auch die Linkspartei setzte sich von der Politik der „nationalen Einheit“, die sie am Beginn der Pandemie mitgetragen hatte, ab. Sie votierte gegen die Änderungen zum Infektionsschutzgesetz und begründete dies vor allem damit, dass nur das Parlament weitreichende Einschränkungen zum Infektionsschutz erlassen und dieses Recht nicht an die Regierung delegiert werden dürfe. Darüber hinaus setzte sie sich recht entschieden von den rechtspopulistischen ReaktionärInnen auf der Straße und von der AfD ab.

Schließlich verwiesen Abgeordnete und Stellungnahmen der Linkspartei immer wieder auf die Versäumnisse der Regierungspolitik und deren Ausrichtung an den Kapitalinteressen. Die Forderung nach einer Vermögensabgabe, die in den nächsten Jahren über 300 Milliarden einbringen soll, und nach einer vorausschauenden Gesundheitspolitik im Interesse der Bevölkerung bringen nicht nur eine reformistische Kritik an der Regierung zum Ausdruck. Sie stellen auch einen Ansatzpunkt für die gemeinsame, außerparlamentarische Aktion auf der Straße und in den Betrieben, für den Aufbau einer Antikrisenbewegung dar. Wir fordern daher von der Linkspartei, ihren parlamentarischen Reden und ihrem Abstimmungsverhalten auch Taten folgen zu lassen und gemeinsam mit sozialen Bewegungen, klassenkämpferischen GewerkschafterInnen und der radikalen Linken den Aufbau eine solchen Bewegung in Angriff zu nehmen.

Hände weg vom Demonstrations- und Versammlungsrecht!

Mit der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes wurde im Wesentlichen die bisherige Regierungspolitik abgesegnet und parlamentarisch legitimiert. An wichtigen Punkten handelt es sich aber auch um eine Verschärfung der Gesetzeslage.

Entscheidende, politisch gefährliche Änderungen im Infektionsschutzgesetz finden sich im Paragraph 29a, der die Befugnisse zur Einschränkung von verfassungsmäßigen Grundrechten durch die Bundes- und Landesregierungen auflistet und somit die bisherige Praxis der Regierungen, Einschränkungen dieser Rechte auf dem Wege von Beschlüssen der staatlichen Exekutivgewalt auf den Weg zu bringen, rechtlich absichern soll.

Im Grunde stattet das Gesetz die Regierungen mit Befugnissen aus, die denen von Notstandsmaßnahmen gleichkommen. Hinzu kommt, dass etliche der Bestimmungen recht dehnbar formuliert wurden, was der Exekutivgewalt entsprechenden Spielraum für die Einschränkung von Grundrechten gewährt – einschließlich unterlässlicher demokratischer Rechte wie des Demonstrations- und Versammlungsrechts, ohne die die ArbeiterInnenklasse und soziale Bewegungen ihre Interessen nicht verteidigen können.

Auch wenn die Regierung gerne betont, dass bundesweite Demonstrationsverbote nicht vorgesehen seien, lassen allein schon Vorschläge von PolitikerInnen der Großen Koalition oder aus der Polizei Zweifel an diesen Versprechungen aufkommen.

So fordert der Hamburger Erste Bürgermeister Tschentscher ein Verbot von Demonstrationen in den Innenstädten. Diese könnten, gibt sich der Sozialdemokrat kulant, auch am Stadtrand oder auf der grünen Wiese stattfinden. VertreterInnen der Polizei widersprechen zwar und geben sich scheinbar als SchützerInnen des Versammlungsrechts aus, um als „Kompromiss“ eine Begrenzung der TeilnehmerInnenzahlen auf 500 bis 1.000 Menschen ins Spiel zu bringen. Demoverbot light, gewissermaßen.

Diese Gefahr der willkürlichen, klassenpolitisch motivierten Einschränkung demokratischer Rechte müssen wir ernst nehmen. Schon im ersten Lockdown wurden diese faktisch ausgehebelt. Dass die Gewerkschaften, SPD und auch Linkspartei diese Politik im Interesse der „nationalen Einheit“ mitgetragen und im Fall des DGB gleich freiwillig auf die Erster-Mai-Kundgebungen verzichtet haben, machte die Sache nicht besser. Wie die Einschränkung demokratischer Rechte auf der ArbeiterInnenklasse lastet, verdeutlichten  die Tarifrunden im öffentlichen Dienst oder im Nahverkehr, als Warnstreiks als Gesundheitsrisiko, Streikende als mögliche „Superspreader“ diffamiert wurden – als ob die Arbeit von Tausenden in stickigen Büros oder Berufsverkehr in überfüllten Bussen und Bahnen weniger gesundheitsgefährdend wären als Streikposten und Massendemos mit Masken und Sicherheitsabstand an der frischen Luft.

Grundrechte und Klassenpolitik

Bei verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten denken die meisten Menschen zuerst an wichtige demokratische Errungenschaften, die einzelne BürgerInnen oder deren Agieren gegenüber staatlichen Eingriffen schützen – also z. B. das Recht auf Meinungs-, auf Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, auf Schutz der Privatsphäre, Wahlrecht, rechtliche Gleichheit unabhängig von Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Orientierung, von Herkunft usw.

All diese Errungenschaften mussten über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte von der ArbeiterInnenbewegung, der Frauenbewegung und anderen demokratischen und sozialen Bewegungen erkämpft werden – und etliche wie z. B. die rechtliche Gleichheit aller MigrantInnen ohne deutsche StaatsbürgerInnenschaft sind selbst bis heute längst nicht errungen.

Doch neben diesen bürgerlich-demokratischen Rechten, die wir unbedingt verteidigen und ausweiten müssen, beinhalten die Grundrechte in der kapitalistischen Gesellschaft auch solche Dinge wie die Gewerbefreiheit, das Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln usw. Diese stellen keine willkürlichen Zusätze zu oben genannten Rechtsgarantien formal gleicher StaatsbürgerInnen dar, sondern eigentlich den Kern der Grundrechte unter kapitalistischen Bedingungen.

Dies erklärt auch, warum sich rechte wie linke KritikerInnen der Bundesregierung alle gern auf „Grundrechte“ berufen, wenn sie deren Corona-Politik verurteilen. Der zwiespältige Charakter eben dieser Grundrechte bringt es mit sich, dass dieser Bezug von allein Seiten mit einer gewissen Berechtigung erfolgt, weil sich beide auf Rechtsgarantien für die BürgerInnen einer kapitalistischen Gesellschaft beziehen.

Vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse bedeutet das, dass wir wichtige Grundrechte erkämpfen, nutzen und verteidigen müssen, weil sie die Organisations- und Kampfmöglichkeiten sichern und ausweiten helfen.

Andere wiederum dienen letztlich nur der Verteidigung des Kapitals und müssen eingeschränkt, letztlich im Zuge einer Revolution aufgehoben werden. Beim Recht auf Eigentum, heilige Kuh und Kern aller bürgerlichen Verfassungen und Menschenrechtskataloge, tritt dies am deutlichsten zutage.

Doch genau das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die damit einhergehende Verfügungsgewalt des Kapitals über die Arbeit müssen wir angreifen – und zwar sowohl im Kampf für effektiven Gesundheitsschutz wie um eine Antikrisenprogramm im Interesse der Lohnabhängigen.

Das Problem der Regierungspolitik besteht nämlich nicht nur in der Einschränkung wichtiger Grundrechte – und insbesondere von Demonstrations- und Versammlungsrecht. Es besteht auch darin, dass um alle Maßnahmen, die die Rechte des Kapitals einschränken, ein möglichst großer Bogen gemacht wird. So wurden monatelang die Zustände auf den Schlachthöfen wider besseres Wissen toleriert und auf die „Selbstkontrolle“ der Unternehmen gesetzt. So findet eine Kontrolle von Infektionsschutz in der Großindustrie faktisch nicht statt.

Hinzu kommt, dass wir uns bei der Kontrolle weder auf das Parlament noch auf staatliche Behörden verlassen können. Vielmehr müssen wir den Kampf um effektiven Gesundheitsschutz und notwendige Maßnahmen zur Verhinderung von Lohn- und Einkommensverlusten mit der entschädigungslosen Enteignung wichtiger Betriebe z. B. im Gesundheitswesen und dem Kampf für ArbeiterInnenkontrolle verbinden.

Hierzu haben wir einen Vorschlag für ein Aktionsprogramm entwickelt, das den Kampf gegen die Corona-Gefahr und die kapitalistische Krise miteinander verbindet.




„Terrorbekämpfung“ mittels neuer Überwachungsbefugnisse und Studien zum Polizeialltag – zwei Seiten, eine Medaille!

Alexander DeLarge, Infomail 1124, 29. Oktober 2020

Wenn deutsche PolizistInnen im Dienst Drohungen an politisch missliebige Personen versendeten, unverhohlen rechte Hetze betrieben und als „NSU 2.0“ Angst verbreiteten, wenn immer wieder rassistische Chat-Gruppen auffliegen, kann es sich wohl nur um Einzelfälle handeln. Warum auch eine Studie zu Rassismus in der Polizei oder gar ein konsequentes Vorgehen gegen RassistInnen in Uniform, wenn man doch gleich das ganz große Rad drehen kann: die Novellierung des Verfassungsschutzgesetzes?

Zur Beruhigung der Öffentlichkeit und als Ersatz für eine Untersuchung des Rassismus bei der Polizei soll es eine Studie zum „Alltagsrassismus“ und eine zum „Polizeialltag“ geben. Derweil werden die staatlichen Überwachungsmöglichkeiten ausgeweitet.

Neue Befugnisse des Verfassungsschutzes und Alibi-Studien sind zwei Seiten einer Medaille. Der berühmt-berüchtigte, leicht abgetragene „Kampf gegen den Terror“ geht in eine neue Runde, wird mal wieder aus der Mottenkiste gezaubert. Gleichzeitig schüttet Seehofer im vollen Bewusstsein seiner geistigen Kräfte das Kind mit dem Bade aus. Gerade noch lehnt er eine Studie zum Rassismus in der Polizei vehement ab, schon zaubert er stattdessen eine allgemeine „Studie zu Alltagsrassismus“ aus dem Hut. Das Ergebnis ist vorprogrammiert: So schlimm sind die Repressionsorgane im Vergleich zum „Rest“ der Gesellschaft auch wieder nicht.

Ergänzt wird diese mit der Untersuchung des „Polizeialltags“. Nicht oft genug kann da erwähnt werden, dass PolizeibeamtInnen permanent Angriffen körperlicher wie psychischer Art ausgesetzt seien – vorzugsweise durch Linke und kriminelle ausländische Clan-Strukturen. Praktischerweise wird jeder Angriff gegen die BeamtInnen mit Rassismus in der Polizei und der Gesellschaft in einen Topf geworfen, relativiert und das eigentliche Thema in den Hintergrund gedrängt. Durch soll noch still und heimlich die immer mal wieder auch in bürgerlichen Medien erwähnte Polizeigewalt bis zur Unkenntlichkeit untergerührt werden.

Garniert wird das Ganze mit dem „Kampf gegen den Terror“ und gegen „TerroristInnen“ und „militante ExtremistInnen“. Stolz brüstet sich der Küchenchef mit seiner braunen Suppe, die er kredenzt hat, und spielt die Speerspitze gegen Rassismus und Faschismus und rührt auch gleich jeden „Extremismus“ als „Untersuchungsgegenstand“ ein. Abkaufen tut Seehofer den „Kampf gegen rechts“ keine/r, aber das stört ihn aber auch nicht im Geringsten. In Wirklichkeit versucht er abermals, die real bestehende braune Gefahr und rechtsterroristische Umtriebe in und außerhalb der Exekutive als Einzelfälle abzuhandeln oder für neue Gesetzesverschärfungen zu instrumentalisieren. Revolutionäre MarxistInnen kennen diesen Trick! Sie hegen ohnehin keine Illusionen in die bürgerliche Polizei mit ihrem Gewaltmonopol zum Schutz der Bourgeoisie.

Der/die „wirkliche FeindIn“ freilich steht wie eh und je links und was bei der Polizei nicht sein darf, kann auch nicht sein. Und so gibt Seehofer in einer Pressemitteilung in bester Trump-Manier zum Besten: „Es wird keine Studie geben, die sich mit Unterstellungen und Vorwürfen gegen die Polizei richtet. Denn die überwältigende Mehrheit von über 99 Prozent der Polizistinnen und Polizisten steht auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Sie sind der Grund für die Stabilität unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates. Die Polizei kann sich darauf verlassen, dass wir als Politik hinter ihr stehen.“

Scharfmacher wie der GdP-Vorsitzende Rainer Wendt und PolitikerInnen blasen seit Jahren in das immer gleiche Horn. Die Polizei sei ständig Angriffen ausgesetzt und man müsse die Gesetze weiter verschärfen, Angriffe gegen BeamtInnen müssten noch härter geahndet werden. Schon ein Anschreien von PolizistInnen während einer massiven Ausübung staatlicher Gewalt wird als „Angriff“ beklagt und müsste auch dementsprechend verfolgt werden. Gleichzeitig fehle es an Werkzeugen im Instrumentenkasten gegen Kriminelle aller Art. Seit Jahren prescht gerade die Union massiv vor, wenn die Suppe mal wieder nachgesalzen werden soll – sei es ein ständiges Anziehen der Daumenschrauben bei tatsächlichen wie angeblichen Attacken auf die Polizei oder aber beim Kampf gegen „TerroristInnen“,  „ExtremistInnen“ und „GewalttäterInnen“. Seien es Linke oder IslamistInnen, Thorsten Frei, Vizechef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, nennt die Überarbeitung des Verfassungsschutzgesetzes erwartungsgemäß  einen „wichtigen Schritt zur Extremismusbekämpfung“. Seehofer wird in der Pressemitteilung zur Novelle markig zitiert: „Wir brauchen einen Verfassungsschutz, der auch im digitalen Zeitalter sehen und hören kann. Nur so können wir den extremistischen Geschwüren in unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen.“

Und notfalls hält dann auch mal die real existierende braune Gefahr zur Rechtfertigung neuer Überwachungsmöglichkeiten der Bevölkerung her, damit auch die SPD brav mit marschiert. So geschehen in der nun beschlossenen „Novelle des Verfassungsschutzgesetzes“. Die SPD-Parteichefin Saskia Esken, welche sich in den früheren Diskussionen um Staatstrojaner ablehnend gezeigt hatte, begründet ihre Zustimmung ausgerechnet mit dem Kampf gegen rechte Strukturen. Einmal mehr macht dies den Bock zum Gärtner. PolitikerInnen wie Esken sprechen von NSU-Opfern und über 200 von FaschistInnen und RassistInnen ermordeten Menschen in der Bundesrepublik, die sie dazu bewegen würden, nun zusätzliche Befugnisse für Polizei und Geheimdienste durchzuwinken – für einen guten Zweck versteht sich.  Kein Wort darüber, dass der sog. Verfassungsschutz gerade im Kampf gegen rechts und in Bezug auf den NSU Teil des Problems ist – und nicht der Lösung.

Stein um Stein … der Überwachungsstaat wird weiter ausgebaut

Aber um was geht es jetzt eigentlich konkret im beschlossenen, neuen Gesetz? Wir ahnen es, nichts Gutes. Doch zunächst ein kleiner Exkurs, was bisher geschah. Von Januar 2008 bis März 2010 ging die Vorratsdatenspeicherung an den Start. Diese wurde später nach Klagen zwar gerichtlich gebremst, erfolgte aber in anderer Form weiter. Auch zur Überwachung der Telekommunikation von vermeintlichen StraftäterInnen wurde diese selbstverständlich genutzt. Ein Eingriff in den Artikel 10 Grundgesetz (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) durch Polizeibehörden ist schon lange möglich und muss durch ein Gericht angeordnet werden. Bei „Gefahr in Verzug“ (und wenn mal ein Haus wie die Liebigstraße 34 geräumt werden soll, ist diese oft gegeben) kann sie auch durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden. Die Maßnahme muss binnen drei Tagen vom Gericht bestätigt oder eingestellt werden. Dieser massive Eingriff in Grundrechte kann bei Katalogstraftaten (Schwerstkriminalität, Verstöße gegen das Waffen- oder Betäubungsmittelgesetz im größeren Umfang usw.) verhängt werden. Interessant ist, dass der Staat mit Abstand die meisten Überwachungsmaßnahmen bei der Bekämpfung von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz angeordnet hat (im Jahr 2010 z. B. 33,73 % aller Fälle), aber bspw. nur in 0,093 % aller Fälle gegen Kinderpornographie vorgegangen wurde, obwohl gerade diese abscheulichen Verbrechen oft als ein Argument für mehr Überwachung von modernen Kommunikationsmedien und gegen den Einsatz von Verschlüsselungssoftware von Polizei und Law-and-Order-PolitikerInnen ins Feld geführt werden (https://de.wikipedia.org/wiki/Telekommunikations%C3%BCberwachung). Erinnert sei hier an den jahrelangen Feldzug gegen Festplattenverschlüsselungsprogramme wie TrueCrypt, Veracrypt oder Anonymisierungsprogramme für das überwachungsfreie Surfen im Netz (Tor – The Onion Router) oder das Auffinden von „Darknet“- und Deep-Web-Angeboten (z. B. Marktplätzen für illegale Betäubungsmittel). Natürlich werden als NutzerInnen solcher Software nicht die JournalistInnen oder politisch Verfolgte ins Feld geführt, die sich mittels technischer Maßnahmen zu schützen versuchen, sondern der Ruf nach staatlicher Überwachung wird gerne als Kampf gegen PhädophilInnen-Ringe und Kinderpornographie inszeniert. Schwerstkriminelle, die übelste Verbrechen begehen, würden geschont von bösen DatenschützerInnen und UnterstützerInnen von verschlüsselter Kommunikation, sei es über E-Mails oder Messenger.

2017 erfolgte dann eine deutliche Verschärfung der sogenannten TKÜ-Maßnahmen. TKÜ steht schlicht und ergreifend für Telekommunikationsüberwachung. Es wurde nun für Polizeibehörden legal, neben der klassischen Überwachung von Telekommunikationsmedien wie Post, Telefon und E-Mail auch Computer und Smartphones und die davon ausgehende Kommunikation massiv zu überwachen (eine sogenannte „Quellen-TKÜ“). Mittels der Quellen-TKÜ können sämtliche Kommunikationsvorgänge wie E-Mail-Verkehr, Skype-Gespräche, SMS-Kommunikation etc. mit verfolgt und gelesen oder belauscht werden. Kameras und Mikrophone an mobilen Endgeräten oder Notebooks werden so zu Wanzen, lauschen und filmen. Technisch möglich ist dies durch die Einschleusung oder Installation einer entsprechenden Software auf dem Gerät, sei es durch aktive Manipulation der Hardware oder durch Infiltration durch vermeintlich harmlose Software (Trojaner, Hacking), die ggf. getarnt eingeschleust wird. Neben der „Quellen-TKÜ“ wurden die umfangreichen Maßnahmen durch die sog. „Online-Durchsuchung“ ergänzt. Hierbei werden nicht nur Daten gesammelt, die fernübertragen werden, sondern auch auf dem Smartphonespeicher oder der Festplatte abgelegte Daten eingesammelt. Ist der Staat erst einmal am Lauschen, besteht die Gefahr, dass die Maßnahme einfach weitergeführt wird.

Der Chaos Computer Club (CCC) deckte bereits 2011 auf, wie die Malware zur Durchführung einer Quellen-TKÜ funktioniert und dass die Möglichkeiten die Ziele einer Quellen-TKÜ um einiges übertreffen. Der CCC stellt klar, dass die Trennung zwischen einer Quellen-TKÜ und einer „Online-Durchsuchung“ eine künstliche, juristische ist. Faktisch werden rein technisch die gleichen Methoden angewandt. Problematisch ist, dass auch die Schadsoftware Sicherheitslücken verantwortet oder dass die Polizei solche nutzt und die Öffentlichkeit über diese nicht aufklärt. Faktisch nutzen die Polizeibehörden also schon seit geraumer Zeit legal und mit Sicherheit auch in Grauzonen und illegal massiv neuste Techniken und führen den großen Lauschangriff ganz still und heimlich. So wurde dann auch am 01. April 2008 beim BKA ein Aufbaustab geschaffen, der die TKÜ-Maßnahmen von 38 Sicherheitsbehörden (BKA, LKA, diverse Polizeibehörden der Bundesländer) bündelte, technisch wie organisatorisch (https://netzpolitik.org/2020/staatstrojaner-fuer-geheimdienste-tritt-die-regelung-in-kraft-werden-wir-dagegen-klagen/).

Während die Polizeimaßnahmen wenigstens noch gerichtlich angeordnet werden müssen, operieren Geheimdienste völlig im Verborgenen. Sie werden de facto kaum überwacht, was die Nutzung solcher Instrumente anbelangt. Gerade das Bundesamt für Verfassungsschutz – auf dem rechten Auge chronisch blind –  hat jetzt, Oktober 2020, mit dem neuen Gesetz die Möglichkeit erhalten, ohne jegliche Kontrolle Quellen-TKÜs durchzuführen. Hierbei werden die Grenzen zwischen Geheimdiensten und Polizeibehörden erneut weiter aufgeweicht, auch die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Militärischem Abschirmdienst (MAD) wird weiter gestärkt. Gerichtliche Kontrolle liegt nicht vor, parlamentarische ist de facto nicht gegeben. Das zeigt ja bereits der NSU-Komplex. Mit der Novellierung sollen auch die Geheimdienste die Möglichkeiten erhalten, modere Kommunikationskanäle wie Messenger (WhatsApp, Telegramm, Signal, Threema usw.) von Kriminellen und „GefährderInnen“ (und mittlerweile geht es im Polizeibereich schon um Kleinkriminelle und die Geheimdienste spitzeln wohl weniger bei den rechten Terrornetzwerken, sondern eher bei dem/r linken AktivistIn von nebenan), die verschlüsselt kommunizieren, noch vor dem verschlüsselten Versenden der Nachrichten auszuspähen, d .h. die Verschlüsselung zu umgehen. Hierbei sollen auch Provider und Telekommunikationsanbieter massiv zu Gehilfen gemacht werden. Der CCC kritisiert auch, dass die Geheimdienste gezielt Sicherheitslücken u. a. in Betriebssystemen ausnutzen und so nebenbei auch massiv die IT-Sicherheit vieler UserInnen gefährden (Sicherheitslücken werden von Kriminellen im Internet genutzt). Die Provider sollen auch die Geheimdienste unterstützen mit direktem Zugang in Firmenzentralen und Zugriffen auf die Daten der KundInnen sowie Zuarbeit bei Manipulation ihrer zu überwachenden Geräte (z. B. Auslieferung angeblicher Updates, die sich als Überwachungsmaßnahmen erweisen).

Zusammenfassend lässt sich konstatieren: alles wie immer, nur noch schlimmer! Seehofer möchte von Rassismus in Sicherheitsbehörden nichts wissen und täuscht gleichzeitig einen Kampf gegen RechtsterroristInnen vor. Was dann tatsächlich umgesetzt wird, ist die erneute Stärkung von Geheimdiensten wie dem MAD und den Verfassungsschutzbehörden. Diese Maßnahmen dienen dazu, was immer ihr Vorwand sein mag, der zu ihrer Rechtfertigung herangezogen werden soll, wirkliche oder potentielle linke und klassenkämpferische Widerstandspotentiale zu überwachen, auszuspähen und ggf. zu unterdrücken.

Was tun? Was fordern wir?

Daher: Nein zum neuen Gesetz, das eine weitere Verschärfung von Geheimdienstbefugnissen darstellt! Im  Kampf gegen FaschistInnen, RassistInnen und AntisemitInnen, seien es AfD, Identitäre, Kameradschaften, NPD oder ReichsbürgerInnen, können und dürfen wir uns ohnehin nicht auf den Staat verlassen. Notwendig ist vielmehr die Einheit der ArbeiterInnenklasse, der rassistisch Unterdrückten und der Linken im Kampf gegen rechte Gefahr, staatlichen Rassismus und Repression. Die Geheimdienste brauchen keine weiteren Sonderbefugnisse, sie müssen vielmehr abgeschafft, zerschlagen werden. Sie sind Teil des Problems, nicht der Lösung!




Olaf Scholz als Zugpferd?

Jürgen Roth, Infomail 1113, 14. August 2020

Stolz präsentierten sie Scholz. Am Montag, dem 10. August, verkündeten der Bundesfinanzminister und die SPD-Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass man sich auf einen Spitzenkandidaten für die nächste Bundestagswahl geeinigt habe. Dass der Parteitag die Entscheidung absegnen wird, gilt als sicher.

Die beiden Vorsitzenden und der Vizekanzler präsentierten sich nicht nur in trauter Eintracht. Sie waren sogar etwas stolz darauf, dass sie vor allen anderen Parteien einen Spitzenkandidaten vorzuweisen haben und dass von diesem „Coup“ vorab nichts an die Presse gedrungen sei. Einigkeit beginnt in der SPD mit Schnauze Halten.

Absichtsbekundungen

Auch wenn die Umfragen im Keller sind, so gibt sich die SPD ambitioniert. Bis zur nächsten Bundestagswahl wolle sie natürlich verlässlich die Arbeit der Großen Koalition fortsetzen, dann aber solle ein „echter“ Politikwechsel mit einer linken „Reformkoalition“ folgen. Der kategorische Ausschluss einer Koalition mit der Linkspartei auf Bundesebene wurde nebenbei offiziell begraben – womit sich die politischen Zuggeständnisse von Scholz und Co. an die Vorsitzenden auch schon erledigt haben. Alle anderen „Brüche“ mit neo-liberalen doktrinären Marotten wie der „Schwarzen Null“ wurden nicht aus besserer Überzeugung, sondern aus pragmatischer Akzeptanz des Notwendigen angesichts einer historischen Krise des Kapitalismus und einer globalen Pandemie vollzogen.

Scholz gab als Ziel aus, die Umfragewerte der Partei zu steigern (aktuell zwischen 14 und 15 %) und die nächste Regierung anzuführen. Da er sich im gleichen Atemzug von DIE LINKE distanzierte wegen deren Ablehnung der NATO, stellt sich die Frage, wie das funktionieren soll, sofern die Linkspartei – was sicher nicht auszuschließen ist – nicht noch weitere Abstriche und Verrenkungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr macht.

Da natürlich auch zweifelhaft ist, ob die SPD überhaupt vor den Grünen landen wird, hat die Vorsitzende Esken in einem ARD-Interview schon erklärt, die Sozialdemokratie sei bereit, auch unter einer grünen KanzlerInnenschaft „Verantwortung“ zu übernehmen. Walter-Borjans mutmaßte, Scholz genieße hohes Ansehen in der Bevölkerung wegen seiner Fähigkeit, Krisen zu meistern. Deshalb wurde er auch einstimmig (!) von Vorstand und Präsidium nominiert.

Reaktion der Parteilinken

Doch nur Teile des linken SPD-Flügels zeigten sich angesichts dieser Personalentscheidung ratlos oder gar ablehnend. So Hilde Mattheis (Vorsitzende des Vereins Forum DL 21): „Warum versuchen wir, mit der immer gleichen Methode ein anderes Ergebnis zu erwarten?“ Andrea Ypsilanti zog den Schluss, dass die SPD als „transformatorische Kraft im Zusammenspiel mit Bewegungen“ ausfalle. Einigkeit sieht anders aus! Aber diese Kritik teilt auch nur eine Minderheit der Parteilinken. Die meisten tun so, als wäre die Entscheidung für Scholz keine politische Weichenstellung, als hätte sich der Architekt von Agenda 2010 nach links bewegt, nur weil er auch Kanzler werden wolle.

Viele Parteilinke verteidigen jedenfalls die Nominierung. Annika Klose, Berliner Juso-Vorsitzende, hofft auf Rot-Rot-Grün unter dem SPD-Spitzenkandidaten. Pragmatismus und Regierungserfahrung seien ein Vorteil und der Wahlkampf werde als Team geführt. Die Konjunkturprogramme in der Corona-Krise seien mit den Parteivorsitzenden und dem Juso-Bundeschef Kühnert abgesprochen, Schuldenaufnahme, Mehrwertsteuersenkung, Grundrente und die im Sozialstaatspapier versprochene Abkehr von Hartz IV hätten linke Akzente in der Großen Koalition markiert. Sie setzte ihre Hoffnung auf mehr Umverteilung, Schließen von Steuerschlupflöchern, Wiederbelebung der Vermögenssteuer und Änderungen bei der Erbschaftssteuer und auf diesbezügliche Unterstützung durch die EU. Hoffnung machte ihr auch, dass Olaf Scholz eine Regierungsbeteiligung ohne die Union haben möchte. Wiederum: mit wem? Fastnamensvetter Schulz hatte Ähnliches nach der verlorenen letzten Bundestagswahl verkündet – das Ergebnis ist bekannt.

Auch Fraktionsvize Miersch, seines Zeichen Sprecher der Parlamentarischen Linken, und Kevin Kühnert äußerten sich ähnlich. Letzterer gibt seinen Juso-Vorsitz im Herbst auf und kandidiert für den Bundestag. Dafür hat er gleich eine Eintrittskarte ins Scholz’sche (Schatten-)Kabinett gelöst und die Unterstützung der Parteijugend zugesagt. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren marschierten Topleader und Jusos in eine gemeinsame Richtung! Gleichzeitig warnte er seine GenossInnen vom linken SPD-Flügel vor „destruktiver Kritik“.

In diesen Worten schwingt nicht unberechtigte Sorge mit. Schließlich sehen Teile der Parteibasis – und erst recht Millionen Lohnabhängige – Scholz als Architekten von Agenda 2010 und der Rente mit 67. Hilde Mattheis kritisierte, dass die SPD sich mit der Wahl der beiden neuen Parteivorsitzenden eigentlich von ihrer Politik der vergangenen Jahre verabschieden wollte. „Eigentlich“ wollte man schon vor 3 Jahren die Große Koalition aufkündigen und noch „eigentlicher“ erwiesen sich die „linken“ HoffnungsträgerInnen als SteigbügelhalterInnen für das Zurück zur Politik der vergangenen Jahre!

Bröckelt die Basis?

Einige linke BasisaktivistInnen verlassen die SPD, so der Vorsitzende des Vereins NoGroKo, Steve Hudson. Er und viele Tausende hätten Esken und Walter-Borjans gewählt, damit sie die SPD-Basis gegen die Politik und Person Scholz vertreten, die im Wahlgang eine heftige Schlappe erlitten habe, nur um gestärkter denn je dazustehen. Er monierte auch, dass der Kandidat weder von einem Parteitag noch von den Mitgliedern gewählt wurde. Scholz habe die derzeitigen Zustände mit erschaffen, mit verteidigt und argumentiere für sie bis heute.

Innerhalb der organisierten Parteilinken hat sich im Vergleich zur Gemengelage vor 3 Jahren die Situation weitgehend geklärt. Nur noch in DL 21 versammeln sich SozialdemokratInnen, die auf eine personelle und inhaltliche Linkswende der SPD hoffen. Doch sie üben keinen Einfluss auf die Programmatik aus. Sie werden das auch weiterhin nicht tun, wenn sie nicht den Kampf innerhalb der Gewerkschaften um eine andere Führung aufnehmen. Schließlich ist die Bindung an die und die Kontrolle der Gewerkschaften  das einzige übriggebliebene organische Bindeglied zur organisierten ArbeiterInnenklasse, andere (Genossenschaftswesen, Kultur, Sport, ArbeiterInneneinfluss auf die Ortsvereine, Vorfeldorganisationen wie Jusos, Falken, ArbeiterInnensamariterbund, AWO, Mietervereine …) existieren entweder nicht mehr oder sind geschwächt und sind vor allem zum Tummelplatz reiner KarrieristInnen geworden.

Grüne und DIE LINKE

Die SPD ist schwer angeschlagen nach einer langen Serie von Wahlniederlagen und Personalquerelen. Die Grünen legen sich nicht fest und schielen auch auf Union und FDP. DIE LINKE profitiert nicht davon.

Am Wochenende, 8./9. August, noch vor der Verkündung von Scholz‘ Kandidatur erklärte die SPD ihre Bereitschaft zur Regierungszusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund – nach 30 Jahren Unvereinbarkeitspose gegenüber PDS/DIE LINKE! Wir haben oben ausgeführt, von welchen Widersprüchen die SPD derzeit geprägt ist. Hier wird ein weiterer hinzugefügt. Es ist zu bezweifeln, ob mehr dahintersteckt, als sich viele Optionen für eine ungewisse Zukunft offenzuhalten.

Doch auch DIE LINKE wird nicht um die Frage herumkommen, wie sie mit ihrer bisherigen Rolle gegenüber der SPD umgehen will. Parteichef Bernd Riexinger sieht als entscheidend an, ob es inhaltliche Übereinstimmungen gibt. Er findet an den Aussagen vom vergangenen Wochenende interessant, dass die SPD das Hartz-IV-System überwinden, Sanktionen abschaffen, einen deutlich höheren Mindestlohn und Reiche stärker besteuern wolle. Offen bleibe die Frage der Friedenspolitik wie eines sozial-ökologischen Umbaus. Mit der LINKEN seien Kampfeinsätze der Bundeswehr nicht zu machen. Und was ist mit der NATO, Genosse Riexinger? Dass die Linke im Mai 2020 Gregor Gysi einstimmig zum außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion gewählt hat, zeigt, dass die Parteispitze und der Apparat eine Koalition mit SPD und Grünen nicht abgeneigt sind und sie faktisch vorbereiten.

Natürlich beteuert DIE LINKE weiter, dass sie keinen Koalitionswahlkampf betreiben werde, sondern eigene Positionen durch starke Unterstützung aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Sozialverbänden verankern wolle. Doch das kann sie leicht verkünden, einen „Koalitionswahlkampf“ verlangt von ihr ohnedies niemand, zumal sie über andere Regierungsoptionen eh nicht verfügt.

Um den Willen zur Regierung auszudrücken, reicht es schon, wenn Riexinger erklärt, dass die CDU als Regierungspartei abgelöst gehöre. Momentan erschweren zweifellos eher die Grünen einen solchen „Politikwechsel“, sollte es denn die parlamentarischen Mehrheiten dafür geben. Diese haben sich schließlich der CDU schon seit längerem angenähert und erwägen, wie die Interviews des ehemaligen „Linken“ Trittin zeigen, eher eine Koalition mit der Union als eine Regierung mit SPD und Linkspartei.

Genau diese Umorientierung der Grünen mag aber andererseits dazu führen, dass sich auch die Linkspartei „härter“ in ihren Bedingungen gibt. Warum soll sie gleich alle politischen Positionen für ein Projekt fallenlassen, das auch mit ihrer Zustimmung ungewiss, wenn nicht unwahrscheinlich ist?

Dass die SPD ein mögliches rot-rot-grünes Projekt in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen wird, hängt daher nur bedingt damit zusammen, dass sie wirklich daran glaubt. Sie hat vielmehr kein anderes, mit dem die Partei überhaupt „geeint“ antreten kann. Man kann so auch viel leichter so tun, also ob sie nicht nur für einen Bruch mit der Großen Koalition, sondern auch für eine nicht näher definierte „andere“ Politik stünde.

Wahlkampf-Konstellation wie 1998?

Ein Vorteil der frühzeitigen Kandidaten„wahl“ besteht darin, dass Scholz sich von jetzt an profilieren kann. Er hat mehr Zeit, ein Programm und ein Team aufzubauen, als die KonkurrentInnen. Der zweite „Vorteil“ besteht für die Partei darin, eine Richtungsdebatte, wie zuletzt 2017 geführt, vermieden zu haben – unter Komplizenschaft großer Teile des „linken“ Flügels wie seitens der Jusos und der Vorsitzenden!

Die Geschichte der ersten rot-grünen Bundesregierung 1998 liefert einige Parallelen zur heutigen Lage. Es waren immer Leute der Mitte, wenn nicht sogar vom rechten Flügel, die neuen Machtkonstellationen auf der linken Flanke des traditionellen Parteiensystems den Boden bereitet haben (Börner in Hessen Mitte der 1980er Jahre, Schröder 1998 im Bund), während linke Kräfte wie Ypsilanti 2008 dabei scheiterten. 1998 hatte Langzeitkanzler Kohl seinen Zenit überschritten, Langzeitkanzlerin Merkel will 2021 nicht mehr antreten. 1998 kandidierte mit Schröder ein erfahrener Landespolitiker als Gesicht für die Massen im Gespann mit dem linken Parteichef Lafontaine als programmatischer Kopf.

Anders als 1997/98 gibt es heute aber keine ernsthafte gesellschaftliche Bewegung, die eine (rot-)rot-grüne Option stärken und tragen könnte, wie es damals in Massenaktionen gegen die Angriffe der Kohl-Regierung und in der Erfurter Erklärung zum Ausdruck kam. Die Wahl des Duos Schröder-Lafontaine bildete den Auftakt zu einer sozialdemokratischen Tragödie samt Kriegseinsätzen und Agenda 2010. Mit dem Trio Esken, Scholz und Walter-Borjans wiederholt sie sich – als politische Farce.




Abwrackprämie: Sozis beißen sich

Mattis Molde, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Wenn SozialdemokratInnen sich gegenseitig vorwerfen, die AfD zu fördern, politische GeisterfahrerInnen zu sein und die Interessen der Beschäftigten zu verraten, lässt das aufhorchen. Die SPD, diese Verkörperung von Zahnlosigkeit, hat schon lange niemand mehr richtig wehgetan. Woher als plötzlich diese Bissigkeit?

Es geht um die Kaufprämie für Pkws. Die Auto-Bosse hatten diese auch für „schadstoffarme“ Verbrenner gefordert und in ihrem Schlepptau hatte die IG Metall sich mit breiter Brust dahinter gestellt. Die Bundesregierung mit der daran beteiligten SPD verfügte wenigstens über so viel politisches Gespür, dass die Einführung einer solchen Prämie ein PR-Desaster bedeutet hätte.

Gespür?

Die ganzen Versprechen für eine CO2-Reduktion, die nirgendwo so unverwirklicht sind wie im Verkehrssektor, wären noch schneller noch unglaubwürdiger geworden. Diese Prämie zur fortgesetzten Luftverschmutzung hätte alle anderen Branchen auf den Plan gerufen, die ähnliches gefordert hätten – Kohle, Luftverkehr, Energie, Landwirtschaft vorneweg.

Nicht dass die Autokanzlerin und ihr Gefolge dem Auto abgeschworen hätten. Es gibt keinen Anlass zur Freude für UmweltschützerInnen. Die Mehrwertsteuersenkung von 3 % bringt den KäuferInnen von Oberklassenschlitten etwa so viel wie die Abwrackprämie von 2009, die 2500 Euro betrug. Die Kaufanreize für E-Autos wurden erhöht. Die Autoindustrie bekommt ohnedies jede Menge an Subventionen und sackt auch den Löwenanteil an Forschungsförderung ein.

All das stärkt nicht nur die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt, es bietet auch die Basis für die Integration bedeutender Teile der ArbeiterInnenklasse und die „Sozialpartnerschaft“, also die Unterordnung der Gesamtinteressen der ArbeiterInnenklasse unter jene des Kapitals. Die Löhne der Stammbelegschaften der Autoindustrie betragen mit allen Zulagen und Prämien im Durchschnitt satt das Doppelte anderer Lohnabhängiger. Es wäre für die Millionen Menschen, insbesondere für diejenigen, die in Krankenhäusern, Kindertagesstätten, im Handel oder öffentlichen Verkehr mit zusätzlichen Belastungen und Risiken gearbeitet haben, völlig unverständlich gewesen, warum NeuwagenkäuferInnen, zu denen die wenigsten dieser Menschen im Moment gehören, mehr Geld für einen Autokauf bekommen sollen, als sie als Corona-Prämie für 3 Monate Zusatzbelastung vage in Aussicht gestellt bekommen haben.

Wenn diese Gelder, die letztlich Geschenke für die großen Exportkapitale sind, im Namen der Sicherung von Arbeitsplätzen fließen würden, zu einer Zeit, wo auch zehntausende Arbeitsplätze in anderen Branchen gestrichen werden oder heftig gefährdet sind, was hätten da die VerkäuferInnen von Kaufhof-Karstadt gesagt?

Geisterfahrt?

Selbst dieses politische Gespür, das die SPD-Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans wenigstens vorweisen können, geht Hofmann und dem ganzen IG-Metall-Vorstand ab.

„Man darf die für Deutschland so wichtige Branche mit direkt und indirekt über zwei Millionen Beschäftigten nicht in einer industriepolitischen Geisterfahrt gegen die Wand fahren“, erklärt Hofmann.

Das verkündet der Chef der stärksten Industriegewerkschaft der Welt, der zulässt, dass in dieser so wichtigen Branche bereits zehntausende Arbeitsplätze gestrichen, verlagert wurden oder noch werden und zehntausende LeiharbeiterInnen und befristet Beschäftigte schon arbeitslos geworden sind. Das alles ohne jegliche soziale Abfederung, derer sich die Gewerkschaftsspitze und die BetriebsratsfürstInnen so gerne rühmen, wenn sie damit die Abbaupläne „begleiten“. Gerade die Entlassung der prekär Beschäftigten ist Hofmann nicht mal ein Zucken im Mundwinkel wert gewesen.

Es gab auch keinen Widerstand in den betroffenen Betrieben, der über Aktionstage oder Proteste hinausgegangen wäre. Solche Aktionen verstehen Hofmann und die ganze Metall-Bürokratie als „Verhandlungsbegleitung“, was nichts anders bedeutet, als dass die Konfrontation mit dem Kapital und seinen Plänen erst gar nicht gesucht wird. Allenfalls sollen die KonzernchefInnen und Unternehmerverbände daran erinnert werden, dass sie die IG Metall und die Betriebsräte weiter als „PartnerInnen“ brauchen.
Am besten zeigt dies auch für Branchenfremde der Streik beim Getriebebauer Voith in Sonthofen. Während die Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb geschlossen in diesen Kampf gingen, organisierte die IG Metall nicht eine Solidaritätsaktion in den anderen Konzernniederlassungen. Die GewerkschaftsvertreterInnen im Aufsichtsrat stimmten der Schließung zu und der Streik wurde mit etwas besseren Abfindungen beendet.

Industriepolitik

„Industriepolitik“ fordert Hofmann ein. Ein sehr sozialdemokratischer Begriff, mit dem man die Unterordnung unter die Wünsche des Kapitals im Namen der Beschäftigten, des „Standortes“, der Region oder „Deutschlands“ gerne begründet. Diese Industriepolitik machen SozialdemokratInnen bis zur Selbstaufgabe: von der Umwidmung von Naturschutzgebieten, der Übernahme von Erschließungskosten auf lokaler Ebene bis zur Agenda 2010 und der damit erzielten Einrichtung eines riesigen Niedriglohnsektors und der generellen Senkung der Reallöhne.

Solange Porsche im Naturschutzgebiet ein Parkhaus bauen darf und Daimler in den Rheinauen ein Autowerk, solange die niedrigen Löhne vor allem den Dienstleistungsbereich betreffen, solange die Jugend nie etwas anderes gesehen hat und sehen soll und die „Ossis“ und die MigrantInnen froh sein sollen, dass sie überhaupt was kriegen, solange haben SozialdemokratInnen keine großen Konflikte über „Industriepolitik“.

Aber die „Industriepolitik“ wird immer mehr zur Klientel-Politik, zur Vertretung eines bestimmten Teils des Kapitals, und zwar je mehr die Krise zu nimmt, je weniger es zu verteilen gibt und je erbärmlicher die Hoffnung wird, dass durch das Anschieben eines Teils der Wirtschaft das Ganze wieder wundersam in Bewegung gerät. Im Kern geht es beim Konflikt zwischen der IG-Metall-Führung und der SPD-Spitze und ihren Kabinettsmitgliedern genau darum. Die „Industriepolitik“ der Gewerkschaftsbürokratie und der Betriebsräte geht vom Standpunkt des Einzelkapitals, allenfalls noch der Branche aus. Die SPD versucht sich als Anwältin des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und längerfristiger Interessen, was auch Konflikte mit den unmittelbaren Profitinteressen des Einzelkapitals inkludieren kann.

Während die SPD daher für die gesamte Klasse einzelne Reformversprechungen ausgibt (Rente, Mindestlohn, Einschränkung von Subunternehmen, …) und diese in ein ökologisches und soziales Modernisierungsprojekt des Gesamtkapitals einzubetten verspricht, beschränken sich die Gewerkschaftsapparate und Konzernbetriebsräte immer offener auf das unmittelbare Interesse ihrer „Kernklientel“ und der Branchen, in denen sie beschäftigt sind. Politisch laufen beide nicht nur auf die Quadratur des Kreises hinaus. Sie verschärfen auch die Entsolidarisierung zwischen verschiedenen Teilen der ArbeiterInnenklasse, den Beschäftigtengruppen unterschiedlicher Branchen, ja letztlich auch konkurrierender Unternehmen oder gar Standorte. Mit der Unterstützung der Auto-Bosse durch die IG Metall bei der Frage Kaufprämie für Verbrennungsmotoren hat es die Gewerkschaft nicht nur geschafft, die SPD rechts zu überholen. Der Konflikt offenbart auch die innere, reaktionäre Logik der Sozialpartnerschaft und Standortpolitik – einer Politik, der kämpferische GewerkschafterInnen den Kampf ansagen müssen. Ohne Wenn und Aber.