Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive! Gegen Krieg, Kürzungspolitik und rechte Hetze

Aufruf des Klassenkämpferischen Block Berlin zum 1. Mai, Infomail 1251, 16. April 2024

In den letzten Wochen fanden bundesweit zahlreiche Streiks statt, zum Beispiel im Rahmen der Tarifrunde im kommunalen Nahverkehr oder bei der Bahn. Mit der Kampagne „Wir fahren zusammen“ wurde der Kampf gegen die Klimakrise mit dem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV verbunden. Die Verbindung von betrieblichen Kämpfen und politischen Bewegungen ist ein richtiger Schritt hin zu einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung. Mit koordinierten Streikaktionen kann ein viel stärkerer Druck auf die Unternehmen und den Staat ausgeübt werden.

Das ist nötiger denn je: Die Bundesregierung setzt den neoliberalen Kurs mit der Schuldenbremse trotz Rezession weiter durch. Unsoziale Haushaltskürzungen sind die Folgen. Die Forderungen der Unternehmerverbände an die Politik werden immer dreister, sie wollen unter anderem: Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche, die Rente kapitalisieren und Einschränkungen des Streikrechts in der kritischen Infrastruktur. Immer häufiger ertönt der Ruf nach einer Neuauflage der Agenda-Politik. Wir schlagen deshalb Alarm: Die Gewerkschaften und Lohnabhängigen müssen den Widerstand gegen die Kürzungen aufnehmen und sich unmittelbar auf größere Angriffe vorbereiten.

Gewerkschaften wie die IG Metall und die GDL haben eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich in den Tarifkämpfen gefordert. Die GDL konnte nach mehreren kämpferischen Streiks die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeitende durchsetzen, allerdings erfolgt die Umsetzung erst schrittweise bis 2029. Der Acht-Stunden-Tag wurde hierzulande nach harten gewerkschaftlichen Kämpfen am 1. Januar 1919 eingeführt. Mehr als 100 Jahre später arbeiten wir immer noch acht Stunden pro Tag, obwohl die Produktivität längst viel kürzere Arbeitszeiten ermöglichen würde. Dem entgegen stehen die Interessen des Kapitals, die stattdessen die tägliche Höchstarbeitszeit oder Ruhezeiten abschaffen wollen.

Stress, Belastung und Druck am Arbeitsplatz sind massiv gestiegen. Besonders Frauen sind davon betroffen, da sie vermehrt in Bereichen arbeiten, die schlecht bezahlt, ohne Tarifbindung und von miesen Arbeitsbedingungen geprägt sind, wie die Pflege, Reinigung oder Erziehung. Hinzu kommt, dass Frauen nach wie vor den größten Teil der Sorgearbeit übernehmen und Kürzungen im Sozialbereich von ihnen aufgefangen werden müssen.

Auch die Lage von Jugendlichen weltweit hat sich drastisch verschlechtert, denn sie sind den vielfachen Krisen am unmittelbarsten ausgesetzt. Sei es der Verlust einer Perspektive eines Planeten der für alle Menschen, auch in Zukunft noch ein belebbares zu Hause bieten kann, oder dem immer weiter zunehmenden Leistungs- und Konkurrenzdruck, dem sie ausgesetzt sind. Auch Schulen werden dabei zum Schauplatz politischer Kämpfe, wenn Vertreter*innen der Bundeswehr, ihr Podium nutzen um Werbung für sich zu machen. Bundeswehr-Offizier*innen sollen die Militarisierung verstärkt an Schulen tragen. All das darf nicht unbeantwortet bleiben. Jugendliche müssen Seite an Seite mit Gewerkschafter*innen gegen diese Krisen kämpfen.

Bei der Rüstung sind sie fix, für die Bildung tun sie nix

Der ÖPNV, die Krankenhäuser und die Schulen werden seit Jahren kaputtgespart. Gleichzeitig fließen Milliarden in die Rüstung. Vorletztes Jahr wurde bereits ein 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr beschlossen. Die Militärausgaben sollen noch weiter erhöht werden, auf Kosten von Ausgaben für Soziales und Bildung. Clemens Fuest, der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo hat dazu kürzlich gesagt: „Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht. Sondern Kanonen ohne Butter.“ Wir wollen nicht für Krieg und Krise der Regierenden bezahlen und stellen uns der Aufrüstung und den Kriegstreiber*innen entgegen!

Für den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen!

2023 hat Deutschland einen neuen Rekord aufgestellt und Rüstungsexporte im Wert von 11,7 Milliarden Euro genehmigt. Die Waffenlieferungen an Israel haben sich verzehnfacht. Der israelische Staat führt Krieg gegen die Bevölkerung von Gaza. Die israelische Armee hat Zehntausende Zivilist*innen getötet und Städte dem Erdboden gleichgemacht. Schulen, Moscheen und Krankenhäuser wurden bombardiert. Gegen diesen Krieg und die Besatzung ist die internationale Solidarität der Arbeiter*innen notwendig.

Palästinensische Gewerkschaften haben die Arbeiter*innen weltweit dazu aufgerufen Waffenlieferungen an Israel zu stoppen. Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen besetzten ein Werk im südenglischen Kent, das zu Instro Precision gehört, der Tochtergesellschaft eines der größten israelischen Waffenhersteller Elbit Systems. Die belgischen Transportarbeitergewerkschaften haben ihre Mitglieder aufgerufen, sich zu weigern, militärisches Gerät zu transportieren, das nach Israel geschickt wird. Die italienischen Basisgewerkschaften USB und SI Cobas blockierten zeitweise die Abfertigung eines Kriegsschiffes im Hafen von Genua. Die Kampfaktionen zeigen welche Bedeutung die Arbeiter*innenkontrolle über die Produktion gerade für die internationale Klassensolidarität hätte. Während sich der Internationale Gewerkschaftsbund (ITUC) klar für einen Waffenstillstand, für die Menschen- und Arbeiterrechte in den besetzten Gebieten einsetzt und die palästinensischen Schwestergewerkschaften stärkt, schweigt der DGB zu den Menschenrechtsverletzungen dort. Wir setzen uns für einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand ein!

Gemeinsam gegen AfD und rechte Regierungspolitik!

Es besteht die Gefahr, dass die AfD im Herbst in drei Bundesländern mit jeweils über 30 Prozent stärkste Kraft werden kann. In den letzten Wochen haben bundesweit große Proteste gegen Rechts stattgefunden. Teilweise haben sich daran auch Politiker*innen von SPD und Grünen beteiligt, die sich bei den Protesten als antifaschistisch inszenieren, aber selbst zum Teil für eine Politik im Sinne der AfD stehen. Die regierenden Parteien in Bund und Ländern betreiben eine rechte Politik indem sie „im großen Stil abschieben“ (Olaf Scholz) wollen, die zivile Seenotrettung kriminalisieren, Haft-Zentren an den EU-Außengrenzen anstreben und den Schutzstatus geflüchteter Menschen weitgehend abschaffen wollen. Aber auch indem sie mit regressiven Gesetzen und transfeindlicher Hetze, die queerfeindliche AfD kaum unterbieten. Wir kämpfen gegen die AfD, aber genauso stellen wir uns gegen die Parteien der Kriegstreiber*innen und Verantwortlichen für rassistische Gesetze, Abschiebungen und Kürzungen bei Bildung, Gesundheit und Sozialem. Der Kampf gegen das Erstarken der AfD kann nur erfolgreich sein, wenn wir die Proteste gegen die AfD mit dem Kampf gegen die Ampel-Regierung und ihrer neoliberalen Politik verbinden und linke und klassenkämpferische Positionen in der Gesellschaft stärken.

Klimaschutz heißt Klassenkampf!

Hitzewellen, Flut, Trockenheit: Die Klimakrise ist immer deutlicher zu spüren. Doch Im globalen Süden sind die Auswirkungen noch viel gravierender. Millionen Menschen verlieren dort ihre Lebensgrundlage. Die Wachstumslogik der kapitalistischen Wirtschaft, die Konkurrenz und das Streben nach Profit führen zur Klimakatastrophe. Energiekonzerne und die Auto- und Stahlindustrie verursachen einen großen Anteil der Treibhausgas-Emissionen. Um die Zerstörung des Planeten durch die kapitalistische Produktionsweise wirksam aufzuhalten, müssen die Kämpfe der Klimabewegung mit den Arbeitskämpfen der Beschäftigten verbunden werden. Große Unternehmen müssen in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung überführt werden, um alle Arbeitsplätze zu retten und die Produktion auf gesellschaftlich sinnvolle und ökologisch nachhaltige Güter umzustellen. Wir müssen den Kapitalismus überwinden, um Klima und Umwelt zu retten!

Heraus zum 1. Mai 2024!

Gegen die Angriffe auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen können wir nur zusammen und organsiert erfolgreich sein. Dafür brauchen wir eine klassenkämpferische Gewerkschaftsbewegung, die der kapitalistischen Krise solidarische Antworten im Interesse der Lohnabhängigen entgegensetzt. Statt Sozialpartnerschaft und Zugeständnisse an die Unternehmen, brauchen wir kämpferische Gewerkschaften und Widerstand im Betrieb und auf der Straße! Deshalb müssen wir uns als kämpferische Kolleg*innen gegen diesen Kurs in den Gewerkschaften und Betrieben vernetzen und organisieren.

Am 1. Mai wollen wir auch zeigen, dass das Erkämpfen von besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen im Hier und Jetzt wichtig ist, aber nicht ausreicht. Unsere Perspektive ist eine befreite Gesellschaft, die nur mit der Überwindung des Kapitalismus verwirklicht werden kann. Das Ziel ist eine sozialistische Gesellschaft, in der die Produktionsmittel nicht länger das Eigentum Einzelner sind und der Profitmaximierung dienen. Wir kämpfen für eine Welt ohne Ausbeutung, Kriege, Umweltzerstörung und Armut.

Erster Mai in Berlin

1. Mai 2024 | 10 Uhr | U Weberwiese (Karl-Marx-Allee/Pariser Kommune)| Klassenkämpferischer Block auf der DGB-Demo

30. April 2024 | 18 Uhr | Leopoldplatz | Demo „Für Frieden und soziale Gerechtigkeit“

1. Mai 2024 | 16:30 Uhr | Südstern | Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration




Kommunalwahlen  in der Türkei – Erdoğan wird abgestraft

Dilara Lorin, Infomail 1250, 5. April 2024

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Die Arbeiter:innenklasse mobilisieren, um den Krieg gegen Gaza zu stoppen

Robert Teller, Neue Internationale 281, April 2024

Die Palästinasolidarität in Deutschland trotzt seit 6 Monaten mit regelmäßigen Protesten der massiven Repression und Einschüchterung durch den Staat, dessen Räson bedingungslose Rückendeckung für die Kolonisierung Palästinas verkörpert. Doch die Wahrheit ist auch, dass die Bewegung in Deutschland sich vor allem stützt auf die Gemeinschaften von Menschen, die persönliche Bindungen nach Palästina haben. Ein überschaubarer Kreis linker Organisationen gehört zu den regelmäßigen Unterstützer:innen der Proteste.

Doch von einer breiten Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse und Jugend sind wir aktuell weit entfernt. Um den politischen Druck substanziell zu erhöhen, wäre aber genau diese notwendig. Wer aus persönlichen, individuellen Gründen nicht wegschauen kann vom Genozid in Gaza, lässt sich leicht überzeugen, Trauer und Wut in einen sichtbaren Protest auf der Straße zu verwandeln. Um alle anderen zu mobilisieren, ist es aber notwendig, kampffähige Organisationen einzubinden – die Gewerkschaften – und Solidaritätskomitees zu bilden an den Orten, wo Menschen arbeiten oder studieren.

Gewerkschaften und Palästina

Es überrascht nicht, dass die staatstragenden Spitzen der DGB-Gewerkschaften – fest eingebunden in die als „Sozialpartnerschaft“ institutionalisierte Klassenzusammenarbeit – auch außenpolitisch Patriot:innen sind und ins Horn der Staatsräson blasen. Den gewerkschaftlichen Initiativen für einen Waffenstillstand schlägt daher nicht nur staatliche Repression und mediale Stimmungsmache entgegen, sondern auch der Apparat der eigenen Gewerkschaft. Die meisten Initiativen haben sich daher bislang darauf beschränkt, durch offene Briefe Öffentlichkeit zu schaffen. Oft knüpften sie an einen Solidaritätsaufruf palästinensischer Gewerkschaften vom 16. Oktober an oder nahmen auf andere internationale Initiativen Bezug.

Mit einer starken gewerkschaftlichen Palästinasolidarität wäre es möglich, über den symbolischen Protest auf der Straße hinaus die israelische Kriegsmaschine zu behindern – durch Blockade von militärischen Gütern, die auf dem See- oder Luftweg transportiert werden, Lahmlegung von Produktionsketten, die für Israel produzieren, aber auch Druck auf Universitäten oder Unternehmen, die über Kooperationen mit Israel indirekt an der Unterdrückung der Palästinenser:innen beteiligt sind.

Die starke Einbindung Israels in den europäischen Wirtschaftsraum verschafft der Arbeiter:innenklasse hierzulande auch einen großen Hebel. Welche unmittelbaren Kampfziele sinnvoll sind, hängt von den Umständen vor Ort ab. In jedem Fall sollten sie aber in einen Zusammenhang gestellt werden mit den dringenden Forderungen der gesamten Bewegung: nach einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza, dem Ende des Kriegsverbrechens der vorsätzlichen Aushungerung und dem Rückzug des israelischen Militärs aus Gaza.

Laut einer aktuellen Umfrage (Statista, 22.03.2024) halten 69 % der deutschen Wahlberechtigten das militärische Vorgehen Israels in Gaza für nicht gerechtfertigt – und es spricht wenig dafür, dass unter Lohnabhängigen oder Gewerkschaftsmitgliedern die Verhältnisse grundlegend anders sind. Doch eine von dieser Mehrheit getragene Bewegung gibt es derzeit nicht. Um diese aufzubauen, reicht es offenbar nicht, an weitverbreitete Sympathie und Mitgefühl mit den Palästinenser:innen anzuknüpfen, wenn zugleich das gesamte „demokratische Spektrum“ mit schweren moralischen Geschützen aus allen Rohren auf alles schießt, was nur nach Palästinasolidarität riecht.

Politische Aufklärung der Klasse

Die ständige Verwendung des Antisemitismusvorwurfs gegen propalästinensische Stimmen etwa entfaltet seine Wirkung nicht nur durch Angst, selbst zur Zielscheibe von Repression zu werden, sondern in der breiten Masse vor allem dadurch, dass die meisten Menschen verständlicherweise eben keine Antisemit:innen sein wollen.

Diese Unsicherheit lässt sich nur durch eine bewusste politische Auseinandersetzung auflösen. Die Kolleg:innen müssen selbst verstehen, was Antisemitismus ist (und was nicht), um gegen ungerechtfertigte Angriffe gerüstet zu sein. Hierfür bräuchte es eine politische Aufklärungskampagne. Hilfreich ist dabei etwa ein Blick unter die Oberfläche der selbstverliebten deutschen bürgerlich-nationalistischen „Erinnerungskultur“, die es erst ermöglicht, die eigenen Verbrechen der Vergangenheit als Legitimation für neue Massaker zu instrumentalisieren. Vermitteln sollten wir auch, dass das Konzept des „jüdischen Schutzraums“ selbst einen rassistischen Charakter trägt, es im Gegensatz steht zur traditionellen Position der Arbeiter:innenbewegung, für die Gleichberechtigung aller Ethnien und Nationen einzutreten und für deren kollektive Verteidigung gegen Angriffe, wo immer sie leben. Keinesfalls sollte die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt, verschwiegen oder kleingeredet werden – sondern wir sollten erklären, dass wir dessen Instrumentalisierung für die außenpolitischen Interessen des deutschen Imperialismus ablehnen und daher auch keine Illusionen in den deutschen Staat schüren, dass dieser den Antisemitismus ernsthaft bekämpft.

Ebenso notwendig ist es, Klarheit zu schaffen über die Kräfte des palästinensischen Widerstandes wie der Hamas. Wir sollten die dämonisierende Hetze gegen diese (und auch gegen den 7. Oktober) als das offenlegen, was sie ist: Chauvinismus, der einen Genozid rechtfertigen soll. Dabei sollten wir aber die politischen Schwächen der palästinensischen Bewegung nicht verschweigen, denn dies würde gerade nicht dazu führen, dass Kolleg:innen ihre Position in einem politisch repressiven Klima selbstständig verteidigen können. Um eine gewerkschaftliche Verankerung der Palästinasolidarität zu schaffen, ist es daher auch notwendig, eine breite und offene Debatte um deren Ziele zu führen, um den Charakter des Krieges und um die Interessen, die der eigene Imperialismus hier verfolgt. Dann ist es auch möglich, die Palästinasolidarität auf eine allgemeinere Grundlage der Klassensolidarität zu stellen: Jeder israelische Sieg in Gaza macht auch den deutschen Imperialismus selbstbewusster und aggressiver – nach außen und nach innen. Er verschärft den Rassismus, schränkt demokratische Rechte ein (und damit auch die politischen Handlungsmöglichkeiten der Arbeiter:innenklasse insgesamt) und bereitet seine eigenen Kriege vor.

Umgekehrt schwächt ein erfolgreicher Widerstand der Unterdrückten gegen ihre Vertreibung, gegen das Morden nicht nur ihren Kampf für nationale Selbstbestimmung. Er schwächt nicht nur den zionistischen Unterdrückerstaat, sondern auch die imperialistische Ordnung im Nahen Osten und weltweit, weil er Mächten wie den USA oder auch der BRD und ihren herrschenden Klassen Paroli bietet und allen Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit zeigt, dass scheinbar unbesiegbare Staaten nicht unsiegbar sind.

Um eine gewerkschaftliche Solidarität aufzubauen, sollten wir uns auch an positiven Beispielen orientieren. Gerade wenn man unter schwierigen Bedingungen kämpft, ist es motivierend zu sehen, was in anderen Ländern erreicht wurde: etwa das „National Labor Network for Ceasefire“, dem über 200 US-Gewerkschaften angehören, oder der Aufruf von 14 spanischen Gewerkschaften, den Waffenhandel mit Israel zu beenden. Um an solche Beispiele anzuknüpfen, ist es notwendig, Basisstrukturen zu bilden und diese bundesweit zu vernetzen. Eine gute Gelegenheit hierfür wird der Palästinakongress am 12. – 14.4. in Berlin liefern.




Anti-AfD-Proteste: Welche Rolle sollten Gewerkschaften spielen?

Christian Gebhardt, Neue Internationale 281, April 2024

Das Jahr 2024 fing ermutigend an: Jede Woche war von größeren Demonstrationen zu lesen. Gar von einer Protestewelle war die Rede, als in ca. 200 deutschen Städten am Wochenende Menschen auf die Straße gingen, um gegen die bekanntgewordenen Remigrationspläne der AfD und ihnen nahestehender rechter Strukturen zu demonstrieren – Pläne, die viele Menschen betreffen würden. So war es nicht verwunderlich, dass sich bis Ende Februar etwa 4 Millionen Menschen beteiligten, nicht nur in Großstädten, sondern auch im ländlichen Raum. Doch nun scheint der Protest abzuebben – und das liegt nicht daran, dass der Rechtsruck aufgehalten wurde. Woran also sonst? Und welche Rolle spielen dabei die Gewerkschaften?

Kern des Protests

Während die CORRECTIV-Recherchen über das Hinterzimmertreffen der AfD und die „Remigrationspläne“ zwar Auslöser für die Proteste waren, so lag deren Hauptimpuls jedoch nicht in der Besorgnis um den gesellschaftlichen Rechtsruck oder die massenhaften Abschiebungen, sondern die Gefahr, die daraus für den Status quo der herrschenden Ordnung und damit den parlamentarisch-demokratischen Teil des kapitalistischen Überbaus erwächst. Oder kurz: die Angst vor dem drohenden Faschismus, verkörpert durch die AfD, sowie drohende „Weimarer Verhältnisse“. Konkret, dass die AfD für Verfassungsfragen die Größe einer sogenannten Sperrminorität erreichen könnte und somit keine Beschlüsse mehr mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden könnten. Dies ist wichtig zu verstehen, um den Protest entsprechend zu charakterisieren.

Das heißt nicht, dass Antirassismus keine Rolle gespielt hat und nicht für viele ebenfalls ein Beweggrund gewesen ist. Nur spielte dieser nicht die Hauptrolle. Das ist einer der Gründe, warum sich die aktuellen Regierungsparteien so einfach unter den Protest mischen konnten, ohne für ihre aktuelle Abschiebepraxis kritisiert zu werden. Dadurch wurde es FDP, CDU/CSU, Grünen, SPD und der LINKEN ermöglicht, mit dem Finger auf die AfD zu zeigen und für das kommenden Superwahljahr von ihrer menschenverachtenden Asylpolitik in Landes- und Bundesregierungen abzulenken.

Vertreten auf den Protesten waren jedoch nicht nur Regierungsparteien, sondern auch andere unterschiedliche Organisationen der „Zivilgesellschaft“, von NGOs über Kirchen bis hin zu den DGB-Gewerkschaften. Doch nach ein paar Wochen zeigte sich schnell ein bekanntes Mobilisierungsmuster aus den letzten Jahren, wie bei den #unteilbar- Demonstrationen: ein breites, buntes Bündnis soll dafür gewonnen werden, moralisch die Ideologie der extremen Rechten zu verunglimpfen. Doch nach den einzelnen Kundgebungen sowie Demonstrationen passierte nicht mehr viel. Das hilft wenig im Kampf gegen rechts, genauso wenig wie etwaige Verbotsdiskussionen. Damit der Protest nicht verpufft, könnte vieles getan werden. Insbesondere den Gewerkschaften fällt hier eine Schlüsselposition zu.

Eine der zentralen Fragen ist also: Wie kann so ein Protest zu einer Bewegung werden, die nicht nur gegen die AfD moralisiert, sondern dem Rechtsruck insgesamt etwas entgegenstellen kann?

Vom Protest zur Bewegung

Um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ändern, reicht es nicht aus, dass diejenigen, die eh schon gegen die AfD sind, einfach auf die Straße gehen. Das hat vor 10 Jahren recht wenig gebracht und bringt heute noch weniger. Vielmehr muss der Protest in den Alltag getragen werden, an Schulen, Universitäten – und in die Betriebe. Hier sitzen die Gewerkschaften in einer Schlüsselposition. Theoretisch könnten sie ihre Mitgliedschaft mobilisieren, tausende von Betriebsversammlungen organisieren und damit einer Bewegung massiven Anschub leisten. Auf solchen Versammlungen reicht es jedoch nicht, nur mit moralisierenden Argumenten oder leeren Floskeln wie „Humanität“ und „Toleranz“ zu kommen. Um wirklich etwas zu verändern, müssen konkrete Verbesserungen erkämpft werden. Auch dies wäre durch die Gewerkschaften möglich, schließlich spielen sie eine Schlüsselrolle und können so effektiv auf den Produktionsprozess Druck ausüben.

Warum ist das notwendig?

Die AfD ist nicht über Nacht erfolgreich geworden, sondern existiert seit 10 Jahren. Damit wird sie mittlerweile nicht mehr einfach nur aus Protest gewählt von jenen, die mal eben den etablierten Parteien eins auswischen wollen. Vielmehr ist sie Resultat der

immer offener auftretende Krisen, die Zukunftsängste erzeugen und für die die etablierten Parteien keine adäquaten Lösungsansätze bieten können. Schließlich sind sie doch selbst das Problem oder haben über Jahrzehnte hinweg die Auswirkungen dieser Krise in den Augen vieler verwaltet und mitverantwortet. In diesem Windschatten konnte sich die AfD erst hinter ihrer Anti-EU-, dann Anti-Geflüchteten- und nun ihrer Anti-Ampelpolitik immer weiter aufbauen, an Stimmen gewinnen und auch politische Themen bestimmen und diese nach rechts drängen. Anstatt die Politik der Rechten aktiv zu bekämpfen, konnten die „Verwalter:innen“ des Systems nicht anders, als deren Forderungen und darüber hinaus aufzunehmen und dabei die politische Landschaft insgesamt nach rechts zu verschieben.

Aber nicht nur die politischen Parteien, sondern auch die Gewerkschaften haben zu dieser Stimmung beigetragen. Durch ihre starke Verbindung mit der SPD und in gewissem Masse mit der LINKEN, bildeten sie stets einen Stabilisierungsaktor für die Regierungspolitik. Durch ihre sozialpartnerschaftliche Strategie sorgten sie nicht nur für das Abwälzen von Krisenlasten auf breite Teile der arbeitenden Gesellschaft (und somit auf ihre eigenen Mitglieder), sondern trugen auch durch ihre Positionen zum Ukrainekrieg und Nahostkonflikt dazu bei, dass sie als Teil des „Problems“ wahrgenommen werden und nicht als eine Organisation, von denen sich Menschen Lösungen für ihre Krisenängste erwarten.

Wer nun erfolgreich gegen rechts kämpfen will, muss mit dieser Politik brechen, konkreter: mit der Sozialpartner:innenschaft.

Fesseln der Sozialpartner:innenschaft

Diese Strategie stellt eine der größten Fesseln dar, die die Gewerkschaften, vermittelt durch ihre Bürokratie und die reformistischen Parteien, an das kapitalistische System bindet und sie dazu verdammt, die Sozial-, Migrations- oder Außenpolitik der Regierung zu verteidigen. Dies bedeutet, dass die Gewerkschaftsbürokratie die herrschende Politik samt ihrer Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsverhältnisse mittels ihrer Klassenversöhnungsstrategie und Führung ihrer Arbeitskämpfe abdeckt und unterstützt. Dies äußert sich derzeit vor allem in den geführten Tarifauseinanedersetzungen, die sich alle unabhängig von der Kampfkraft der Beschäftigten an der „Konzertierten Aktion“ orientieren. Diese wurde zusammen mit dem Kanzler, den Regierungsparteien und den DGB-Gewerkschaftsspitzen abgesprochen und vereinbart, um klare Haltelinien für die Tairfverhandlungen festzulegen. Diese sollen es einerseits der Regierung ermöglichen, ihre Programme zu verwirklichen und gleichzeitig der Gewerkschaftsbürokratie erlauben, ihren Stammbelegschaften Erleichterungen zu versprechen, kämpferische Töne anzuschlagen, ohne aber sie in für die Regierung gefährliche Richtung lenken zu müssen.

Was könnten die Gewerkschaften denn tun?

Mit Hinblick auf die Bewegung gegen rechts geht es vor allem darum, Antworten zu geben, wie an dieser angesetzt werden und ihr eine politische Stoßrichtung gegen die Politik der Regierung und der Abwälzung der unterschiedlichen Krisenlasten auf unsere Schultern gegeben werden kann. Diese Abwälzung muss verhindert werden. Sie verkörpert eine der realsten Zukunftsängste vieler Menschen. Es muss sich aktiv gegen die von der AfD (wie auch anderen konservativen Parteien) betriebene Sündenbockpolitik in Gestalt von „Ausländer:innen“, „Migrant:innen“, „Bürger:innengeldbezieher:innen“ oder „Arbeitslosen“ entgegenstellt werden, anstatt diese Erklärungsmuster wie beim BSW zu verinnerlichen. Die Probleme müssen klar angesprochen und offengelegt werden: Für die zunehmenden Krisen und Zukunftsängste ist das Kapital mit seinen internationalen Konkurrenzkämpfen, die sie auf unseren Rücken austrägt, verantwortlich, also wirklich Sündenbock.

Die Gewerkschaften könnten durch die Organisierung von Geflüchteten, Migrant:innen, Arbeiter:innen, Jugendlichen sowie Arbeitslosen und Rentner:innen Brücken schlagen zwischen diesen Menschen. Durch Massenmobilisierungen können diese zusammengeführt und unterschiedliche politische Themen angesprochen werden. Dadurch lässt sich zum Beispiel der Kampf gegen rechts im Betrieb mit dem gegen Lohnabbau und Sozialkürzungen gut verbinden. Hierbei kann doch aufgezeigt werden, dass nicht die Bezüge für Arbeitslose bzw. Migrant:innen schuld daran sind, dass es zu Reallohnverlusten während der Inflation kommt, sondern es daran liegt, dass das Kapital nicht mehr Geld lockermachen möchte, obwohl für Managerboni wie bei der Bahn die Millionen fließen können. Dies kann praktisch dadurch geschehen, dass wir für Verbesserungen für alle auf die Straße gehen – finanziert durch die Reichen – und dabei nicht zurückschrecken, klare antirassistische Positionen zu beziehen. Zentrale Forderungen für eine Kampagne, die unterschiedliche Proteste zusammenführen kann, könnten u. a. folgende sein:

  • Mehr für uns: Anhebung des Mindestlohns für alle und Mindesteinkommen gekoppelt an die Inflation! Für das Recht auf Arbeit und die gewerkschaftliche Organisierung aller Geflüchteten, keine Kompromisse bei Mindestlohn und Sozialleistungen!

  • Wohnraum muss bezahlbar bleiben: Nein zum menschenunwürdigen Lagersystem! Enteignung leerstehenden Wohnraums und Nutzbarmachung öffentlicher Immobilien zur dezentralen und selbstverwalteten Unterbringung von Geflüchteten und für massiven Ausbau des sozialen Wohnungsbaus statt Privatisierung! Nein zu Leerstand und Spekulation!



30. November 2023 – Feministischer Generalstreik im Baskenland

Jürgen Roth, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Am 30. November 2023 wurde im Baskenland gestreikt. Neben Gewerkschaften hatten dazu auch Feminist:innen, Rentner:innenvereinigungen und soziale Organisationen aufgerufen. Es handelte sich um eines der größten und bedeutendsten Ereignisse dieser Art weltweit. Zudem hält es für Linke etliche Lehren bereit, wirft aber auch Fragen nach weiteren Perspektiven auf.

Nicht nur bessere Arbeitsbedingungen

Zu den Streikenden gehörten die Beschäftigten der Mercedes-Autofabrik in Vitoria-Gasteiz, der U-Bahn in Bilbao, des öffentlichen Gesundheitsdienstes (Osakidetza), alle Reinigungskräfte der drei größten Reinigungsunternehmen (Eulen, Garbialdi, ISS) und die Belegschaft des größten baskischen Fernsehsenders (EITB). So blieben Bahnen und Busse stehen, in zahlreichen Ortschaften Schulen und Verwaltung geschlossen. Der Rundfunk strahlte nur ein Notprogramm aus und ein Dutzend Fabriken mussten ihre Produktion komplett einstellen. Zentrale Forderungen des Generalstreiks lauteten: Aufbau eines öffentlich-gemeinwohlorientierten Caresektors, Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften, Anhebung der Renten, Einführung der 30-Stundenwoche, mit der eine Umverteilung der Sorge- und Pflegearbeit zwischen den Geschlechtern angestoßen werden soll.

Die Mobilisierung verlief alles andere als einfach. Die spanischen Gewerkschaften Unión General de Trabajadores (UGT; Allgemeine Arbeiter:innengewerkschaft) und CC.OO. (Comisiones Obreras; Arbeiter:innenkommissionen) hatten erst gar nicht aufgerufen. Sie sind allerdings im Baskenland schwächer als die regionalen Dachverbände Eusko Langileen Alkartasuna (ELA; Arbeiter:innensolidarität) und Langile Abertzaleen Batzordeak (LAB; Komitees Patriotischer Arbeiter:innen). Die Sekretärin der LAB, Maddi Isasi Azkarraga, meinte dazu, dass CC.OO. und UGT den Streik deshalb nicht unterstützt hätten, weil er aufs Baskenland fokussiert blieb und sie generell Kämpfe nicht zuspitzen wollten. Sie stimmten aber mit den Zielen des Generalstreiks überein. Der Hauptgrund lag nicht etwa darin, dass sie Schwierigkeiten darin sahen, sich als gemischtgeschlechtliche Organisation an einem feministischen Streik zu beteiligen.

Längerer Organisierungsprozess

Ausgehend von Lateinamerika wurden seit Jahren zum 8. März Millionen Menschen mobilisiert. Auch im Baskenland fanden an diesem Datum seit 2018 feministische Streiks statt, bei denen Frauen die Pflege- und Sorgearbeit niederlegen sollten, damit deren gesellschaftliche Bedeutung sichtbar wird. Der jetzige Generalstreik richtete sich hingegen an die gesamte Gesellschaft und wurde vom feministischen Bündnis namens Denon Bizitzak Erdigunean (Das Leben in den Mittelpunkt stellen) angestoßen.

Dafür ging das Bündnis auf Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Kleinbauern- und -bäuerinnenverbände sowie die Rentner:innenbewegung zu. Letztere fordert seit Jahren eine Mindestrente von 1.080 Euro. Nach längerer Diskussion wurde ein Forderungskatalog (Sozialcharta) erstellt. Neben vom Bündnis formulierten längerfristigen Zielen wie dem Aufbau eines öffentlich-gemeinschaftlichen Pflegesystems wurden kurzfristig auszuräumende Missstände benannt wie die Arbeitsbedingungen von illegalisierten, migrantischen Frauen in Privathaushalten, die oft 7 Tage die Woche Alte betreuen. Es wurden mehr als 1.000 Versammlungen in Dörfern, Stadtteilen und Betrieben durchgeführt.

Dies wurde dadurch getragen, dass der Carebereich – Alten- und Krankenpflege sowie Kinderbetreuung – während der Coronapandemie zusehends in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte rückte. Die schlecht bezahlten und überwiegend von Frauen geleisteten Pflege- und Sorgearbeiten stellten sich als die unverzichtbarsten heraus, zudem das Baskenland an Überalterung leidet und viele Menschen Pflege benötigen. So waren die Grundforderungen des Streiks nicht schwer zu vermitteln.

Und jetzt?

Amaia Zubieta, eine der Sprecherinnen des Organisationsbündnisses, erklärte: „Ein Generalstreik ist kein Selbstzweck.“ Damit verlegt sie aber den eigentlichen „Kampf“schauplatz auf die Verhandlungen mit den Autonomieregierungen des Baskenlandes und der nordspanischen Region Navarra. In der baskischen Autonomiegemeinschaft regiert jedoch die Christdemokratie in Gestalt der Baskisch-Nationalistischen Partei EAJ – PNV. Direkt nach Streikende betonte der scheidende Ministerpräsident Urkullu, „seine Partei sei einem staatlich gelenkten öffentlichen und gemeinschaftlichen Pflege- und Sorgesystem“ verpflichtet.

Vorschneller Jubel ist allerdings unangebracht. Seine Rhetorik dient dem Gewinn der in diesem Frühjahr anstehenden Wahlen. Er will keine Angriffsfläche bieten. Die Praxis seiner Regierung spricht aber eine andere, weniger doppelzüngige Sprache, hat doch die regionale Christdemokratie in den vergangenen Jahrzehnten die Privatisierung der öffentlichen Grundversorgung massiv vorangetrieben. Und das wirft Fragen auf: Was bleibt vom Streik? Und wie können die Forderungen umgesetzt werden?

Revolutionäre Perspektive

Ohne Frage war der Streik ein eindrucksvoller politischer Massenstreik. Doch im Angesicht des drohenden Ausverkaufs blieb er durch die  bürokratische Begrenzung auf einen Tag nur ein symbolischer Protest. Natürlich ist das trotzdem ein Schritt vorwärts. Gleichzeitig gibt es jedoch die Gefahr, dass Teilnehmende demoralisiert werden, wenn man nicht klar aufzeigt, was die eigene Strategie ist, um die Forderungen zu erkämpfen. Deshalb müssen Revolutionär:innen in solchen Situationen von Anfang an argumentieren, dass der Generalstreik bis zur Erreichung seiner Ziele „befristet“ bleiben sollte. Gleichzeitig hätten sie betont, dass er mit dem Aufbau von Kontrollkomitees und Milizen zu seiner Verteidigung einhergehen müsse. Denn letzten Endes wirft ein ernsthaft geführter Generalstreik auch immer die Machtfrage auf: Also wem gehört eigentlich der Betrieb, der bestreikt wird? Was passiert, wenn sich weiter geweigert wird, die Forderungen durchzusetzen bzw. zu erfüllen?

Deswegen ist der Aufbau solcher Strukturen elementar, um vorbereitet zu sein, so einen Kampf auch ernsthaft durchzusetzen. Denn entweder man erkämpft zeitweise Verbesserungen, knickt ein und geht zum Status quo zurück oder geht einen Schritt voran und bildet eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen, um die Forderungen selber umzusetzen und das Tor zum Sturz des kapitalistischen Gesamtsystems, zur Diktatur des Proletariats, gestützt auf die werktätige Bauern-/Bäuerinnenschaft aufzusperren.

Gewerkschaftsbürokrat:innen und das feministische Organisationsbündnis hätten dem sicher entgegnet, dafür seien die Massen noch nicht reif. Aber welche Art Führung haben sie dem Kampf denn gegeben, die diese Reife beschleunigen hätte können? Natürlich hätten Revolutionär:innen auf Anhieb kaum einen Blumentopf für ihre Forderungen bei den Massen gewinnen können. Doch mindestens einem Teil der Fortgeschrittensten und Aktivsten wäre spätestens nach dem Ausgang des Streiks klar geworden, dass es mehr braucht. Kurzum: Natürlich ist die Forderung des Umsturzes des Kapitalismus nicht die, worum man den Generalstreik organisiert. Doch es ist wichtig, währenddessen die unterschiedlichen Ansätze offen zu diskutieren, vor allem, da auch viele Vertreter:innen des baskischen Feminismus sich als Antikapitalist:innen verstehen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigt die Debatte um den Umgang mit der Transformation des Caresektors:

Wie bei der „Reife“ des Klassenbewusstseins, die sich baskische und andere Reformist:innen und Zentrist:innen offensichtlich nur als Naturprozess wie beim Apfelbaum vorstellen können, so gehen sie auch an die Transformation des Caresektors heran.

Transformation des Caresektors

Elena Beloki von der linken Parteienstiftung Fundación Iratzar dazu: „Der Staat muss die Mittel für die Grundversorgung bereitstellen. Die Einrichtungen sollten genossen- oder gemeinschaftlich getragen werden.“ Dieser Aufbau eines nicht profitorientierten öffentlichen Pflegesystems sei nicht einfach „nur“ eine Verstaatlichung. Doch was ist es denn dann? Sozialismus? Leider nicht. Dieser von vielen Anarchist:innen, Zentrist:innen und Linksreformist:innen gehuldigten Transformation liegt die Vorstellung zugrunde, man könne die Ballonhülle des Systems schrittweise durch Austausch von kapitalistischem Gas mit sozialistischem füllen, ohne sie zum Platzen bringen zu müssen. Doch genossenschaftliche Inseln inmitten profitorientierter Meereswellen werden ein Laden wie jeder andere auch oder Teil eines Planes für die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen. Dieser lässt sich jedoch ohne gewaltsame Sprengung des Ballons nicht erreichen.

Deswegen reicht es nicht zu schweigen, welche und wie viele Mittel der Staat bereitstellen müsse oder wie man besagte Transformation finanzieren will. Das sind berechtigte Fragen, bei denen es gilt, eine klare Perspektive im Interesse der Arbeiter:innen und Unterdrückten zu formulieren: Das heißt beispielsweise, dafür einzutreten, dass die Finanzierung durch eine progressive Besteuerung v. a. bei den Reichen stattfindet, sowie den staatlichen wie genossenschaftlichen Sektor unter Kontrolle der Beschäftigten und Nutzer:innen zu stellen. Warum? Zum einen haben sie durch ihre Stellung im Produktionsprozess Einblick, was gebraucht wird und ob die Veränderungen in ihrem Interesse stattfinden. Zum anderen sorgt es dafür, dass Streik- und Aktionskomittees über den Streik hinaus bestehen bleiben und als Kontrollorgane fungieren können. Das ist nicht nur ein Schritt voran, wenn es darum geht, Selbstermächtigung zu erlernen, sondern erleichtert auch Mobilisierungen, wenn es darum geht, Errungenschaften zu verteidigen oder weitere Angriffe abzuwehren.

Lehren des feministischen Streiks

Was sind also die Lehren des Streiks? Der Streikkampf vom 30. November stellt einen großen Schritt nach vorne dar. Gemeinsame Mobilisierungen sind nicht Standard: Aus Angst, dass „gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften“ den Streik vereinnahmen (oder diese den Streik ablehnen, weil es „kein richtiger Streik“ wäre) kommt es häufig zu isolierten Streiks. Darüber hinaus gibt es einen Teil des feministischen Spektrums, der den gemeinsamen Kampf per se ablehnt, da die Unterdrückung der Frau in männlicher Gewalt, einer Art universellen Patriarchats, wurzelt. Historisch bezeichnet Patriarchat aber die Herrschaft männlicher Familienoberhäupter über andere Menschen, darunter auch junge und familienlose Männer. Sie konnte erst mit der Erzeugung eines stetigen Überschusses und dessen Aneignung durch die Patriarchen inkraft treten, Der Kapitalismus hat sich das zu eigen gemacht und in eine systematische Diskriminerung umgeformt. Deswegen muss sich der Kampf gegen Frauenunterdrückung auch gegen das kapitalistische System richten. Das bedeutet nicht, dass man Ersteren unterordnet, sondern beide Hand in Hand gehen sollten.

Deswegen ist der Einbezug aller Geschlechter ein positiver Schritt nach vorne. Dieser wurde von dem Bündnis aus mehreren Gründen gesetzt. So sollten gut bezahlte, meist männliche Industriebelegschaften auch deshalb streiken, weil schlecht bezahlte, meist weibliche Pflegekräfte ihre Arbeit oft erst gar nicht niederlegen können. Ein weit bedeutenderer Grund liegt unserer Meinung nach indes darin, dass die Unternehmen dann deutlichere Profiteinbußen erleiden – der eigentliche Antrieb jeden Streiks! So kann nämlich mehr Druck ausgebübt werden. Darüber hinaus bringt der gemeinsame Kampf die Möglichkeit mit sich, die Auswirkungen der sozialen Unterdrückung politisch zu diskutieren und bestehende Vorurteile zu überwinden.

Eine weitere Lehre ist die Frage der Kontrolle des Streiks. Um die Instrumentalisierung der Mobilisierung durch gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften zu verhindern, wurde vereinbart, dass das feministische Organisationsbündnis „federführend“ bleibt. Laut Azkarraga hat es alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Die Frage ist jedoch, was das praktisch heißt?

Unserer Meinung nach muss die Kontrolle des Streiks bei den Streikkomittees und über  diese bei den Massenversammlungen der Streikteilnehmer:innen selber liegen. Nur so ist es möglich, die Entwicklung von Klassenbewusstsein und Selbsttätigkeit angemessen zu fördern. Nur so ist es möglich, Organe der Kontrolle von unten zu schaffen, die Streikführung und -ergebnis im Sinne der Masse der Klasse zu überwachen und ggf. revidieren ermöglichen. Die Streikenden – darunter auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen und anderen Bevölkerungsschichten – müssen das Streikkomitee, ihre unmittelbare Kampfesführung auf Vollversammlungen wählen und jederzeit abwählen können! Alles andere ist mit den Prinzipien der Arbeiter:innendemokratie unvereinbar.

Dieser elementare Grundsatz bedeutet, dass sich feministische wie Vertreter:innen anderer politischer Couleur dem Votum und der Kontrolle durch die Masse der Streikenden stellen müssen. Geht man diesen Weg nicht, kann auch die feministische Führung dazu führen, sich nicht von der klassischen Gewerkschaftsbürokratie zu unterscheiden, da die Kontrollmöglichkeit durch die Streikenden fehlt.

Verglichen mit Ländern wie Deutschland, wo die Gewerkschaften schon kalte Füße bekommen, wenn es darum geht, die eigenen Lohnforderungen durchzusetzen, zeigt dieser Streik, was alles möglich ist – und dass weitergehende Forderungen und Kämpfe dementsprechend auch keine Utopie bleiben müssen. So wäre es beispielsweise auch sinnvoll – neben den Elementen der Arbeiter:innendemokratie – auch dafür einzutreten, dass der Streik auf ganz Spanien ausgeweitet wird. Dort erfolgt aktuell ein massiver Angriff auf das Gesundheitssystem und statt sich mit den Ausreden der UGT und CC.OO. zufriedenzugeben, sollte man diese offen auffordern, aktiv mitzukämpfen und zu streiken – nicht nur im Interesse der Streikenden, sondern der gesamten Bevölkerung!




Gegen Ausverkauf des Hamburger Hafens

Bruno Tesch, Infomail 1245, 21. Februar 2024

Die Gewerkschaft Vereinigte Dienstleistungen (ver.di) hat für den 21.2.2024 zu einer Demonstration vor dem Hauptsitz des Hamburger Hafen- und Logistikbetreibers HHLA in der Speicherstadt gegen den Verkauf von großen Anteilen an die weltgrößte Containerreederei MSC (Mediterranean Shipping Company), einen schweizerisch-italienischen Konzern, aufgerufen. MSC will die bisher an der Börse gehandelten HHLA-Aktien aufkaufen und erhält zusätzlich 19,9 % vom Hamburger Senat, was ihre Anteile auf 49,9 % hochhieven würde.

Was steht auf dem Spiel?

Die weitere Privatisierung birgt in erster Linie hohe Risiken für die Beschäftigten. Denn MSC ist bekannt für seine rigorosen Praktiken bei der „Umstrukturierung“ von Personal und Arbeitsverdichtung, die das Unternehmen bei einer solch grenzwertigen Beteiligung, einer fast überbordenden Minorität, geltend machen könnte.

Darüber hinaus wendet sich ver.di auch gegen die Gefährdung von Interessen für die „Stadtgesellschaft“, denn nicht nur die HHLA, auch der Gesamthafen mit anhängenden Betrieben wäre betroffen. Der Hamburger Hafen, lange Zeit Vorzeigeobjekt und Identifikationsmuster für die Weltgeltung der Hansestadt, hat es mit Auslastungsschwankungen zu tun. Fehlende Instandhaltung des technisches Arsenals bedingt, dass immer wieder Teile des Fahrzeug- und Containergeschirrs an den Kränen stillstehen. Die Geschäftsführung drängt auf stärkere Zentralisierung und Automatisierung der Betriebsabläufe und damit Kostendämpfung, um im Containergeschäft wieder attraktiver zu werden. Die Reedereien wiederum können durch Absprachen ihre Marktmacht spüren lassen.

Der Deal wurde bereits im Vorjahr vom Hamburger Senat eingefädelt. Der sieht darin eine strategische Partner:innenschaft, um in einem Umbau des Hafenbetriebs mit mehr Rentabiltät und Effizienz gegen den weltweit steigenden Konkurrenzdruck die Fahrrinne zu verbreitern.  Der gesamte Containerbereich soll umorganisiert werden, um Einsparungen von bis zu 150 Millionen Euro zu erreichen.

Konkret würde das v. a. bedeuten, dass mindestens 400 Arbeitsplätze, laut ver.di-Rechnung sogar 718 Vollzeitstellen, künftig entfallen. Teams in den Terminals werden aufgelöst.

Seit diese Pläne bekanntgeworden sind, haben etliche Kolleg:innen  darauf reagiert und bereits „abgemustert“, weil sie angesichts der  Ungewissheit, ob sie nicht von Umschichtungen mit Lohneinbußen und gesteigerter  Arbeitsintensität oder gar Jobverlust betroffen sein werden, keine Zukunft mehr für sich und ihre Familien sehen.  So menschlich verständlich diese Abwanderungen auch sein mögen, sind sie doch das völlig falsche Signal.

Gegenwehr

Als die Mine vom geplanten Verkauf hochging, löste dies am 6.11.2023 eine spontane eintägige Arbeitsniederlegung der HHLA-Belegschaft aus. Diese wurde daraufhin kurzerhand von der bürgerlichen Justiz für illegal erklärt und zog Abmahnungen gegen Streikbeteiligte nach sich. Die Unterstützung der Gewerkschaften beschränkte sich auf nachfolgende Protestveranstaltungen. Die Mehrheit der derzeit noch rund 3.600 lohnabhängig Beschäftigten bei der HHLA lehnt den schmutzigen Deal nach wie vor vehement ab. Durch ihren Druck und den hohen Aufmerksamkeitswert für die Hafenthematik sieht sich die Gewerkschaft ver.di nun bemüßigt, unter dem Motto „Wir lassen uns nicht verraMSChen“ eine Demonstration anzusetzen.

Mit großer Teilnahme ist zu rechnen, denn auch die Betriebsräte von Burchardkai und Altenwerder haben nicht nur zur Beteiligung am Protest aufgerufen, sondern schon im Vorwege durch einen täglich erscheinenden Rundbrief unter dem Titel „Kaikante“ die Mitarbeiter:innen auf das Ereignis eingestimmt.

Natürlich ist zu erwarten, dass die Bürokrat:innen aus Gewerkschaft und Betriebsrat der Schlagseite einer nationalistischen bzw. provinziellen Sichtweise zuneigen werden und es bei punktuellen Protesten belassen.  Allerdings sind sie in diesem Zusammenhang aus den „Ewig grüßt das Murmeltier“-Tarifrundenmühlen ausgeschert und haben sich in ein politisches Fahrwasser begeben.

Diese Klippe hoffen sie, durch Appelle an die Regierenden (zumeist ja ihre sozialdemokratischen Parteifreund:innen) und das Hervorkehren ihrer Qualitäten als Verhandlungsprofis zu umschiffen. Wie bereit der Senat zum Einlenken ist, hat er ja bereits im November bewiesen, als seine Vertreterin Gespräche mit den Streikenden abgelehnt hat. Seither ist er keinen Deut von seiner Deallinie mit dem Privatinvestor abgewichen.

In den Mittelpunkt der Forderungen muss nicht nur die Bewahrung von öffentlichem Eigentum, sondern vor allem die Frage, wer kontrolliert es, gerückt werden. Dazu braucht es gewählte und jederzeit abrufbare Organe aus der Arbeiter:innenbewegung und eine Ausweitung von Kampfmaßnahmen, die sich nicht vom bürgerlichen Apparat und seinen Gerichten abschrecken lässt.

Diese Ausweitung muss sowohl räumlich wie auch thematisch angegangen werden. Die Streiks der Hafenarbeiter:innen im Sommer 2022 – auch an anderen Standorten – sind noch nicht vergessen. Hier liegt Potenzial, auf das die Aktivist:innen unter den HHLA-Beschäftigten zur Unterstützung und Verbreiterung der Kampffront zurückgreifen könnten. Ebenso notwendig ist das Andocken an verwandte Bereiche wie das Transport- und Verkehrswesen, das im Augenblick im angrenzenden Niedersachsen sich in Streikbewegung befindet.

Ferner bedarf es eines rationalen Seeverkehrskonzepts, das anstelle der selbst im nationalen Rahmen zunehmenden unsinnigen Konkurrenz mit weitreichenden Folgen für Beschäftigte und Natur (Elbvertiefung) die Güterströme international und rational regelt. Dies kann nur unter Arbeiter:innenkontrolle aller europäischen und Überseehäfen und Hinzuziehen von Expert:innen, die das Vertrauen der Beschäftigten genießen, erfolgen. Dieser Plan richtet sich sowohl gegen privates Kapital in Gestalt der Logistikkonzerne und Reedereien wie staatliches, z. B. des Ausverkäufers Senat.




Unterschriftensammlung und Offener Brief an den DGB: Stimme erheben und einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg fordern

„Gewerkschafter*innen sagen Nein zum Krieg! Nein zum sozialen Krieg!“, veröffentlicht von Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, Infomail 1245, 14. Februar 2024

Im Folgenden veröffentlichen wir den offenen Brief an den DGB und rufen zur Unterzeichnung des Briefes auf.

Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter fordern vom DGB und seinen Einzelgewerkschaften zum Gaza-Krieg:

„Es ist an der Reihe der Arbeiterbewegung, ihre Stimme zu erheben und einen Waffenstillstand zu fordern“ (aus dem Aufruf von über 40 US-Gewerkschaften, unter ihnen die Internationale Automobilgewerkschaft UAW mit 600.000 Mitgliedern).

Nach 3 Monaten mörderischen Bombardierungen der palästinensischen Bevölkerung mit über 28.000 Toten und der gewaltsamen militärischen Besetzung des Gaza-Streifens durch die israelische Armee mit all ihren Folgen der Zerstörung von Krankenhäusern und Schulen, von Hunger und der Obdachlosigkeit, sehen wir unsere Verantwortung als deutsche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter darin, uns an unsere Gewerkschaften, den DGB und seine Einzelgewerkschaften zu wenden, damit sie sich aktiv und sofort einsetzen für:

  • Für den sofortigen Abzug der israelischen Truppen!

  • Sofortiger Waffenstillstand! Stopp des Genozids an der palästinensischen Bevölkerung!

  • Sofortige Beendigung der Bombardierungen!

  • Sofortige Aufhebung der Blockade von Gaza – d.h. der Lieferungen von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff!

Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter erklären uns solidarisch mit dem „Offenen Brief von Gewerkschaftsjugendlichen an den DGB-Bundesjugendausschuss“, gegen die einseitige Unterstützung Israels und für einen sofortigen Waffenstillstand einzutreten.

Der DGB fordert in seinem Aufruf vom 22.10.2023 „Aufstehen gegen Hass, Terror und Antisemitismus – in Solidarität mit Israel“: „…weil jüdisches Leben angegriffen und gefährdet ist, stellen wir uns an die Seite von Israel“ (DGB). Was ist mit den über 20.000 Leben der palästinensischen Bevölkerung, die durch die Bombardierung und den Einmarsch der israelischen Truppen im Gaza vernichtet wurden?

Wir Gewerkschafter lehnen jede Form von Völkermord und ethnischen Säuberungen ab!!

Warum fordern unsere Gewerkschaften, der DGB und seine Einzelgewerkschaften, nicht ein sofortiges Ende der Bombardierungen, der Blockade und der Besatzung Palästinas?

Der DGB spricht davon, „extremes und radikalfundamentalistische Gedankengut nehmen wir nicht hin“ (DGB). Aber gleichzeitig wird –  unter dem Vorwand der Vernichtung der Hamas durch die israelische Regierung – der arabische Teil der Bevölkerung Israels und im Westjordanland durch ultraorthodoxe Siedlermilizen und ihre Parteien, verstärkt vertrieben!

Wo ist die Stellungnahme des DGB gegen die Verbote von Solidaritätsaktionen mit dem palästinensischen Volk durch die Regierungen, die von Gerichten als verfassungswidrig aufgehoben werden?

Erstunterzeichner: Britta Brandau (Mitglied ver.di Gewerkschaftsrat), Michael Altmann (Mitglied ver.di Landesbezirksvorstand Hessen), Sabine Pitz (ver.di Bezirksvorstand), Hemmati-O. (ver.d Bezirksfachbereichsvorstand), Karsten Drumm (ver.di UKF), Silvana Errico (ver.di BR BVZ), Mayumi LeaH Milanes (ver.di BVZ), Cornelia Omosigno (ver.di), Samina Syed (ver.di) Elisabeth Lutz (ver.di), Aksa Bayram (ver.di), Narges Yelayhi (ver.di), Lukas Hof (SDS.Linke), Friedhelm Winkel (ver.di, Friedensplattform Hanau), Steven Payne (GEW BVZ), Heiner Becker, (GEW Senioren Hessen), Lothar Ott (GEW AK Internationales), Jürgen Klausenitzer (GEW), Christiane Treffert (GEW), Friedhelm Spatz (IG Metall), Azimi Abul Hassan (IG Metall), Alexander Botte (Naturfreunde), Brigitte Klein-Schuster (GEW)  u.a..

Udo Eisner (IG Metall), Mario Kunze (ver.di, Betriebsrat), Britta Schubert (ver.di, Landesvorstand der Fachgruppe Bildende Kunst Berlin), Elisabeth Wissel (Fraktionsvorsitzende Die Linke in der BVV Tempelhof-Schöneberg), Carla Boulboullé (GEW), Sascha Kraft (ver.di, Betriebsrat), Charlotte Rutz-Sperling (ver.di, Mitglied im Landesbezirks-FB-Vorstand C Berlin-Brandenburg), Volker Prasuhn (ver.di, Mitglied im Bezirksvorstand), Gotthard Krupp (ver.di, Mitglied im Landesbezirksvorstand Berlin-Brandenburg), Wolfgang Mix (GEW); Detlef Bahr (ver.di); Birgit Schöller (ver.di); Axel Zutz (GEW) u.a.

Dunja DiMatteo-Görg (verdi), Sascha Görg (verdi), Birgit Simon, Maria Zohtes, Paola Niccolaioni (GEW), Francesca Casale (GEW), Henning Frey (Erw. Vorstand GEW Köln), Julian Gürster (Erw. Vorstand GEW Köln), Resi Maschke-Firmenich (verdi), Francis Byrne (verdi VL), Lino Krevert, Manfred Kern (IGM), Volkmar Kramkowski (verdi), Annette Harder (verdi), Leila Buron, Wolfgang Quambusch (verdi), Sophie Burgmann, Claus Ludwig (verdi, BR-Vors.), Riem Varieg, Reinhard Berkholz (GEW), Conrad Gocking, Eva Schröder, Mirko Oettershagen (verdi VL), Samuell Legall, Christiane Krause (IGBCE), Walburga Fichtner (verdi), Babara Skerath, Silvana Garafalo (verdi VL), Alaa Alshibli (verdi), Yassier Abu Nidhal, Thilo Nicklas (IG Bau), Axel Droppelmann (IG Bau), Peter Rohleder (verdi), Isabelle Casel (DFG-VK), Michael Kellner (Städtepartnerschaft Köln Bethlehem), B. Overdiek (verdi), Amira Zayed, Amal Hamad, Rebekka Thies (verdi), Friedrich Kullmann (verdi), Achim Lebrun (verdi), Jonas Kaltenbach, Ben Köchert, Songül Schlürscheid, Vera Homberger-Rachid (verdi VL), Jessica Engelen (verdi), Ina Fahl, Eva Gürster (verdi OV Köln Vorstandsmitglied), Ellen Engstfeld (verdi OV Köln Vorstand)

Gaza: Ich unterstütze den Offenen Brief an den DGB und seine Einzelgewerkschaften:

„Es ist an der Arbeiterbewegung, ihre Stimme zu erheben und einen Waffenstillstand zu fordern.“

Name:                                    Gewerkschaft/Funktion:                                     E-Mail-Adresse

Kontakt: michael.altmann@gmx.net, im Namen der „Gewerkschafter*innen sagen Nein zum Krieg! Nein zum sozialen Krieg!“ Frankfurt/Main, 7. Jan. 2024

Unterschriftenliste zum Ausdrucken:

USS Gew fordern zu Gaza-Krieg




GDL-Streik: Für Fünf für Fünf – oder was?

Leo Drais, Infomail 1241, 11. Januar 2024

Seit dem 10. Januar legen die Mitglieder der GDL bundesweit für drei Tage den Bahnverkehr lahm. Die Streikfront steht. Denn die Beschäftigten mussten in den letzten Jahren nicht nur Reallohneinbußen hinnehmen, sondern vor allem die Arbeitsbedingungen sind angesichts von Schichtarbeit, Überstunden und Personalmangel schier unerträglich. Der Streik und der Kampf der Gewerkschafter:innen verdient die Solidarität und Unterstützung der gesamten Arbeiter:innenklasse – auch der DGB-Gewerkschaften!

Wie bei jedem Arbeitskampf bei der Bahn, also auch den Warnstreiks der EVG, hat es sich der Konzern auch diesmal nicht nehmen lassen, zu sabotieren, herauszuzögern und die GDL vors Arbeitsgericht zu zerren. Im Unterschied zum verbotenen EVG-Streik im vergangenen Sommer war die Staatsjustiz der GDL erst- wie zweitinstanzlich wohlgesonnener und erlaubte den Streik, was sicher auch an der rechtlich besseren Absicherung der GDL liegt. Sie hatte – und darin unterscheidet sie sich bei der Bahn positiv von den Tarifrundenritualen der DGB-Gewerkschaften – die Verhandlungen schnell eskalieren lassen und eine Urabstimmung durchgeführt. Nun ist der Weihnachtsfrieden vorbei und es wird gestreikt – nicht unbefristet und nicht, ohne am Montag und Dienstag die An- und Abreise für die rechten Apparatschiks des deutschen Beamtenbundes (die GDL ist hier Mitgliedsgewerkschaft) zur Jahrestagung in Köln sichergestellt zu haben. Man bestreikt sich ja nicht selbst, sprich, den eigenen Apparat. So wichtig die Solidarität mit dem Streik, so wenig sollten wir freilich blauäugig sein gegenüber der Politik der GDL-Führung.

Volle Durchsetzung der Forderungen oder des Netinera-Abschlusses?!

Das Paket „Fünf für Fünf“ (fünf Forderungen für fünf Berufsgruppen), mit dem die GDL ins Rennen ging, belief sich auf 555 Euro mehr in der Tabelle, darunter deutliche Entgelterhöhung für Azubis; Zulagen + 25 %; 35-Stunden-Woche für Schichtarbeitende (inkl. Wahlrecht für Beschäftigte zwischen 40- und 35-Stundenwoche); Inflationsausgleichsprämie 3.000 Euro; 5-Schichten-Woche, 5 % Arbeit„geber“:innen-Anteil für die betriebliche Altersversorgung; nach 5 Schichten, spätestens nach 120 Stunden, muss der nächste Ruhetag beginnen (Mindestfrei: 48 Stunden); 12 Monate Laufzeit.

Doch wird das jetzt durch einen Erzwingungsstreik durchgesetzt? Nein. Bereits jetzt ist klar, dass die Abschlüsse bei Netinera-Deutschland (u a. ODEG und vlexx; Töchter der italienischen Staatsbahn Trenitalia), metronom und Go-Ahead als Vorbilder dienen sollen.

Was steht dort drin? Ab 2028 kommt die 35-Stunden-Woche, bis dahin schrittweise Anpassung der Arbeitszeit; eine Inflationsausgleichsprämie über 3.000 Euro in zwei Schritten; eine Entgelterhöhung 2024 in zwei Schritten um brutto 420 Euro; Zuschläge +5 %. Die Entgeltlaufzeit beträgt 24 Monate, die der Arbeitszeit geht bis Ende 2027. Erkauft wird das Ganze wohl damit, dass das Wahlmodell mit zusätzlichem Urlaub wegfällt – die kürzere Arbeitszeit bringt unterm Strich zwar mehr Freizeit, aber eben bestimmt durch Dienstpläne und nicht nach den selbst ausgewählten Urlaubszeiträumen, wobei über diese letztlich auch die Disponent:innen und Personaleinsatzplaner:innen entscheiden.

Und auch wenn das Ganze sicher kein vollendeter Verrat ist, ist es mit Sicherheit auch kein „historischer Abschluss“, wie die GDL titelt. Die Reallohnverluste der vergangenen drei Jahre werden damit nicht ausgeglichen werden. Die Streikbeteiligung bei DB, Transdev und City-Bahn dürfte trotzdem hoch sein, während bei Netinera kein:e Kolleg:in die Möglichkeit hatte, über den „historischen Abschluss“ in einer Urabstimmung abzustimmen. Die sonst so laute GDL-Spitze rühmt sich hier damit, dass sie auch leise könne. Am Ende ist sie eben eine Sozialpartnerin wie andere Gewerkschaften auch. Netinera warb Lokführer:innen sogar damit, dass Claus Weselsky ODEG fahren würde, wäre er noch Lokführer. Linke sollten hier keine Illusionen hegen. Auch bei der GDL gibt es weder Streikdemokratie noch jederzeit wähl- und abwählbare Gremien. Gerade deshalb müssten wir fordern: volle Durchsetzung der Forderungen durch einen unbefristeten Erzwingungsstreik. Das wäre im sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftssumpf in der BRD in der Tat mal historisch.

Nur Tarif?

Trotzdem muss man natürlich anerkennen, dass die Abschlüsse der GDL besser sind als die der EVG. Wie schon in der Vergangenheit erscheint sie als Konkurrentin, der es Mitglieder abzuluchsen gilt. Dass die DB weiterhin das schändliche Tarifeinheitsgesetz anwendet, gießt hier weiter Öl ins Feuer – war das Gesetz nicht zuletzt auch von DGB-/SPD-Spitzen durchgesetzt worden. Auch der EVG-Vorsitzende Burkert hatte dem als Bundestagsabgeordneter zugestimmt.

Dass die GDL als kämpferischer Stern am deutschen Gewerkschaftshimmel prangt, liegt zum einen an ihren in Relation zu anderen Abschlüssen betrachteten vergleichsweise guten Erfolgen. Es ist aber eben eine relative Betrachtungsweise, in der eigentliche Eisenbahnzerstörer:innen und sozialpartnerschaftliche Füße-Stillhalter:innen – nichts anderes ist auch die Spitze der GDL – als Held:innen erscheinen, weil die EVG-Spitze und ihre Vorgänger:innen bei Transnet (Stichwort Norbert Hansen) einfach noch beschissener waren.

Es gehört zu den Paradoxien des deutschen Klassenfriedens, dass CDU-Mitglied Claus Weselsky sich mit einer angehaucht klassenkämpferischen Rhetorik als glaubwürdigster Arbeiter:innenführer stilisieren konnte. Dass die CDU eine wesentliche Zerstörerin der Eisenbahn in Deutschland war, 16 Jahre die Union das Autoministerium führte, sie das Tarifeinheitsgesetz mit verabschiedet hat – all das hat ihn nie sein Parteibuch abgeben lassen.

Und das ist kein Zufall. Im Verständnis des großen Vorsitzenden Claus ist der Markt gar nicht das Problem für die Bahn, solange es Gewerkschaften gibt, die für einen „fairen“ Preis der Ware Arbeitskraft sorgen. Dass die GDL da im vergangenen Sommer mit der „Fair-Train e. G.“ eine eigene Leiharbeitsfirma gegründet hat, ist nur folgerichtig.

Auch wenn es Claus Weselsky bestreitet – die GDL ist auch eine politische Kraft. Sie ist für die weitere Zerschlagung des Eisenbahnsystems, sprich der DB. Die GDL hat kein Problem mit hunderten EVU, solange diese mit iht Abschlüsse tätigen. Doch genau diese hunderte EVU sind Teil der Eisenbahnkrise in Deutschland – nicht nur die verfluchte DB. Scheiße bleibt Scheiße, auch wenn man sie noch weiter aufteilt.

Zudem verschwimmt hinter Weselskys gewerkschaftlicher Rolle sein leidenschaftlicher Konservatismus. Er beriet das AfD-Absprengsel Bündnis Deutschland und eine Distanzierung von AfD-Mitgliedern in den eigenen Reihen lehnt er ab – das sei nicht Aufgabe der Gewerkschaften.

Natürlich ist die GDL mehr als nur Claus Weselsky. Die Ortgruppe der S-Bahn-Berlin ist vergleichsweise links und die GDL Mitglieder allgemein spiegeln wahrscheinlich einfach durchschnittliches gewerkschaftliches Bewusstsein wider, was durch das Charisma ihres Vorsitzenden und die passablen Abschlüsse stolz auf seine Mitgliedschaft ist. Mit dem baldigen Ruhestand Weselskys stellt sich hier die Frage, wer in seine große Fußstapfen folgen soll. Ob es wirklich Mario Reiß wird, bleibt abzuwarten – jüngst kam heraus (https://www.youtube.com/watch?v=b4DaFhOzaL0), dass er es war, der als GDL-Mitglied im Aufsichtsrat des sonst so verfluchten DB-Konzerns 2022 zugestimmt hatte, die Vergütung des DB-Vorstandes zu erhöhen, während die GDL sonst nicht müde wird, die Bonuszahlungen von Lutz, Seiler und Co. anzuprangern. Nicht genug damit – die Mitgliedschaft wurde obendrein belogen und die Zustimmung zu den Vorstandsgehältern den Aufsichtsratsmitgliedern der EVG in die Schuhe geschoben (die ihrerseits auch nicht den Arsch in der Hose hatten, abzulehnen, sondern sich bloß zu enthalten).

Eine Gewerkschaft, eine Eisenbahn

Natürlich verdient die GDL, verdienen die Kolleg:innen unsere Solidarität, erst recht die der EVG-Mitglieder. Eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich wäre definitiv ein Zugewinn, erst recht in einem von Wechselschichtarbeit geprägten Berufsleben. Gegen die Angriffe des DB-Konzerns, der nicht nur den Streik mit einer einstweiligen Verfügung stoppen wollte, sondern mit Verweis auf „Fair-Train e. G.“ der GDL auch generell die Tariffähigkeit richterlich absprechen lassen will, gehört jene verteidigt.

Zugleich dürfen wir nicht kritiklos in den „Claus, Claus, Claus“-Chor einstimmen. Politisch ist die GDL die rechtere der beiden Bahngewerkschaften. Strukturell undemokratisch ist sie ähnlich wie die EVG, vielleicht noch eine Spur autoritärer. Wer einfach nur das bessere Angebot für den eigenen Geldbeutel sucht, wird vielleicht zur GDL gehen, vielleicht auch nicht, je nach Tarifeinheitsgesetz und DB-Betrieb.

Wer jedoch wirklich eine funktionierende Bahn mit guten Löhnen und selbstbestimmter Organisation haben will, muss einen Kampf in GDL wie EVG für eine einzige, basisdemokratische Verkehrsgewerkschaft führen. Anstatt sich gegeneinander aufzubringen oder aufbringen zu lassen, sollten sich die Basiseinheiten beider Gewerkschaften mal zusammentun und darüber diskutieren: Was für eine Bahn, was für eine Gewerkschaft brauchen und wollen wir? Viele private EVU auf marodem Netz oder doch eine staatliche europäische Bahn ohne Profitzwang? Mit einer Gewerkschaft, die sich nicht nur auf Tarif konzentriert, sondern beginnt, in der Organisation der Eisenbahn und der Verkehrswende eine entscheidende Rolle in Planung, Bau und Betrieb zu spielen, indem sie für Arbeiter:innenkontrolle über die Bahn kämpft.

Auf dem Weg dahin liegt noch nicht mal der Schotter, geschweige denn ein befahrbares Gleis. Wir müssten es selbst bauen. Und große Vorsitzende werden uns dann im auch im Weg stehen.




Argentinien: Milei und sein Kabinett erklären den Klassenkrieg

Martin Suchanek, Infomail 1241, 6. Januar 2024

Argentiniens neuer Präsident Milei und sein rechtes Kabinett machen Ernst. Im Dezember verkündete er eine Schocktherapie für das Land, die an die „Reformen“ der rechtsperonistischen Regierung Menem und an die neoliberalen Programme seit Pinochet erinnert.

Der Amtsantritt im Dezember begann mit einem 10-Punkte-Liberalisierungs- und Sparprogramm. Im Fernsehen verkündete Milei danach ein Maßnahmenpaket zum wirtschaftlichen „Wiederaufbau“, das DNU (Decreto de Necesidad e Urgencia = Notwendigkeits- und Eildekret), das 366 bestehende Gesetze abschaffen oder abändern soll. Schließlich wurde Ende Dezember ein Mega-Gesetzespaket mit 664 Artikeln auf den Weg mit dem euphemistischen Titel „Grundlagen und Ansatzpunkte für die Freiheit der Argentinier“ gebracht, das seither auch unter dem Namen „Ley Ómnibus“ (Omnibus-Gesetz) bekannt wurde.

Generalangriff

Schon bei der Vorstellung des DNU verkündete er den öffentlichen Notstand in wirtschaftlichen, finanziellen, steuerlichen, administrativen, Renten-, Tarif-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten. Die Maßnahmen des DNU wie auch das Mega-Gesetzespaket vom Ende Dezember 2023 stellen einen massiven, seit Jahrzehnten nicht dagewesenen, gebündelten Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten dar:

Zum einen beinhalten sie massive Deregulierungen, darunter die Aufhebung staatlicher Preiskontrollen für Mieten, öffentliche Versorgung, Bergbau und Industrie sowie Privatisierungen. Staatliche Anteile an insgesamt 41 Einrichtungen (darunter Häfen, Post, Flugverkehr, Kernkraftwerke und weitere Energieunternehmen) sollen privatisiert, bei Handel und Finanzen soll der Verbraucher:innenschutz gänzlich gestrichen werden.

Den zweiten großen Block machen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen aus. Die ohnedies schon lückenhaften Arbeitsrechte sollen weiter liberalisiert, Probezeiten verlängert und Kündigungsschutz weiter ausgehöhlt werden. Strafen und Kontrollen für die Beschäftigung von Schwarzarbeit sollen entfallen.

Vor allem aber sollen die Arbeitskampfrechte extrem beschnitten werden. Die Beteiligung an Betriebsblockaden soll hinkünftig als Kündigungsgrund anerkannt werden. So müsste auch bei Streiks die Hälfte der Produktion in wesentlichen Bereichen aufrechterhalten bleiben. Zu diesen gehören unter anderem große Teile der Industrieproduktion und Dienstleistungen, darunter die Herstellung von Medikamenten, der Transportsektor, Radio und Fernsehen.

Auch die politischen Rechte der Arbeitslosen kommen unter die Räder. So droht bei Beteiligung an Demonstrationen der Entzug der Sozialhilfe. Generell sollen alle politischen Versammlungen mit mehr als 3 Personen genehmigungspflichtig werden. Leiter:innen von Versammlungen, die den öffentlichen oder privaten Verkehr oder Transport behindern, müssen mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, wenn das Dekret und die Gesetzesvorlagen durchgehen.

Mileis Stützen

Bei seinen Vorhaben können sich Milei und sein Kabinett der Unterstützung der herrschenden Klasse Argentiniens sicher sein. Generell stützt sich seine Regierung neben einigen extrem rechten Figuren und Vertreter:innen seines Parteienbündnisses La Libertad Avanza (LLA; deutsch: Die Freiheit schreitet voran), wie z. B. der Vizepräsidentin Victoria Villarruel, auf „bewährte“ Vertreter:innen des Kapitals, die schon unter der rechten Regierung Macri (2015 – 2019) im Amt waren.

So bekleidet Luis Caputo das Amt des Wirtschaftsministers. Zur Außenministerin wurde die Ökonomin Diana Mondino ernannt, die auch gleich die Abschaffung aller Außenhandelsbeschränkungen und den, mittlerweile vollzogenen, Bruch mit den BRICS versprach. Der konservativen Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich untersteht das Ministerium für Innere Sicherheit, ihr Parteifreund Luis Petri bekleidet das Amt des Verteidigungsministers.

Auch wenn Milei und seine Partei einen exzentrischen und auch etwas obskuren Anstrich haben mögen – und manche ihrer Forderungen wie die Einführung des US-Dollar als nationale Währung auch mangels Bereitschaft der USA wenig Chance auf Realisierung haben –, so ist der direkte Einfluss des argentinischen Kapitals und seiner westlichen imperialistischen Verbündeten wohl ungebrochener als bei fast jeder anderen Regierung seit Jahrzehnten.

Vor allem der Finanzsektor setzt große Hoffnungen in Milei, denn schließlich verspricht er lukrative Anlagemöglichkeiten. Kein Wunder also, dass der Aktienmarkt nach der Kabinettsbildung einen kurzfristigen Aufstieg von 22 % erlebte. Auch wenn Milei in den USA Trump nähersteht als Biden, so begrüßen die USA und der IWF nicht nur die angekündigten neoliberalen Sparmaßnahmen und Privatisierungen, sondern auch seine enge Westbindung.

Schließlich hat die neue Regierung auch nicht vor, in allen Bereichen zu kürzen. Die Ausgaben für Militär und innere Sicherheit sollen erhöht werden. Milei hat außerdem für alle drei Teilstreitkräfte neue Oberkommandierende ernannt und etwa zwei Drittel des Führungsstabs ausgetauscht. Auch im Verteidigungsministerium wurden zahlreiche Posten neu besetzt.

Hindernisse auf institutioneller Ebene

Zugleich sieht sich Milei wichtigen institutionellen Hindernissen gegenüber. In den beiden Kammern des Parlaments stellt seine Partei La Libertad Avanza nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten – 38 im 257 Abgeordnete umfassenden Kongress, 8 im 72-köpfigen Senat. Auch wenn sie in der ersten Kammer des Parlaments zusammen mit der konservativen Juntos por el Cambio theoretisch über eine Mehrheit verfügt, so ist diese wackelig, weil sie generell zu allen Maßnahmen nicht sicher ist. Die peronistische Unión por la Patria verfügt in beiden Kammern über eine relative Mehrheit (109 von 257 im Kongress, 34 von 72 im Senat). Gerade im Senat benötigt die peronistische Allianz nur die Stimmen von 2 der 6 unabhängigen Senator:innen, um eine Regierungsmehrheit zu verhindern. Eine Mehrheit für die Regierung ist zwar unsicher, in den letzten Wochen vermochte jedoch die Vizepräsidentin Villaruel, Kräfte des rechten Provinz-Peronismus einzubinden, womit es also auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Regierung eine Mehrheit verschaffen kann.

Zweitens können die Gerichte Milei einen Strich durch die Rechnung machen wie jüngst, als einige Dekrete zur Arbeitsmarktreform vom obersten Gericht aufgehoben wurden.

Auch wenn Milei wahrscheinlich eine Reihe seiner Maßnahmen durch die beiden Kammern des Parlaments bringen könnte, so würde eine solche Form des Regierens immer wieder auch langwierige Verhandlungen und Kompromisse mit den Parlamentarier:innen inklusive der peronistischen Opposition, der „Kaste“, erfordern.

Genau das wollen Milei, seine Regierung und die argentinische Bourgeoisie vermeiden. Sie wollen die aktuelle Krise und die Niederlage des Peronismus nutzen, um auch mit dessen institutionellem und politischem Vermächtnis aufzuräumen.

Als populistische Partei und Bewegung inkludierte der Peronismus und auch das politische System, das er etablierte, eine institutionelle, korporatistische Einbindung der Arbeiter:innenklasse über die Apparate der Gewerkschaften sowie von klientelistischen Organisationen der Arbeitslosen und anderen gesellschaftlicher Gruppen. Dem entspricht auch der Charakter der peronistischen Partei, die eine klassenübergreifende Allianz, eine Art Volksfront in Parteiform darstellt – natürlich auf Kosten der Arbeiter:innenklasse.

Ganz allgemein mussten die Lohnabhängigen für diesen Korporatismus in den letzten Jahren einen hohen Preis in Form von sinkenden Löhnen und Einkommen zahlen. Die Inflationsrate von rund 140 % (Oktober 2023) wurde über Jahre nicht kompensiert. Rund 40 % der Bevölkerung lebten schon vor dem Amtsantritt Mileis unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend.

Die argentinische Bourgeoisie will aber die Kosten des Korporatismus nicht mehr länger tragen, sondern mit ihm Schluss machen. Milei erwies sich mit seiner demagogischen Rhetorik und seiner populistischen Hetze gegen die „Kaste“, worunter er eine bunte Mischung von peronistischer Bürokratie, Vetternwirtschaft, aber auch die organisierte Arbeiter:innenklasse und Linke zusammenfasst, als probates Mittel, bei den Wahlen nicht nur die traditionellen Unterstützer:innen der Konservativen und Rechten aus den Mittelschichten und dem Kleinbürger:innentum anzusprechen, sondern auch bedeutende Teil der „Deklassierten“, der Arbeitslosen und Prekären, für die sich das  peronistische Sozialstaatsversprechen längst als Chimäre erwiesen hatte.

Milei ist jedoch bewusst, dass das eigentlich entscheidende Hindernis für seine Angriffe nicht im Parlament oder in der Justiz zu finden sein wird, sondern in den Betrieben und auf der Straße. Auch wenn die argentinische Arbeiter:innenklasse durch die Auswirkungen der Krise, durch Arbeitslosigkeit und einen sehr großen, nicht mehr tariflich regulierten Sektor geschwächt ist, so ist sie noch nicht geschlagen.

Ruf nach einem „Ermächtigungsgesetz“

Das von Milei vorgeschlagene Omnibus-Gesetz beinhaltet daher nicht nur ein Programm des neoliberalen Generalangriffs auf allen Ebenen. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass die Legislative für zwei Jahre ihre wichtigsten gesetzgeberischen Befugnisse an die Regierung abgeben soll. Es handelt sich also um ein Notstandsgesetz, das Präsident und Regierung faktisch sämtliche Staatsmacht übertragen soll, also zeitlich begrenzte, quasi diktatorische Vollmachten, um dieses Programm gegen Widerstand durchzuziehen.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Milei dieser Schachzug gelingt. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ihm die erste Kammer diese Machtbefugnis überträgt und das würde reichen, da beide Kammern das Gesetz blockieren müssten. Eine zweite Hürde wäre das Verfassungsgericht, denn das Ermächtigungsgesetz widerspricht eigentlich dem argentinischen Grundgesetz. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dies eine zuverlässige Garantie gegen die Notstandsmaßnahmen ist.

Hinzu kommt, dass Milei – sollten die Institutionen sein Ansinnen blockieren – diese für die Fortdauer der Krise verantwortlich machen wird. Schon jetzt baut er rhetorisch die Alternative auf, dass das Land zwischen seinen „Rettungsmaßnahmen“ oder einer „Katastrophe“, also dem Zusammenbruch wählen müsse. Und diese stellt bei einer Inflationsrate von mittlerweile 160 % eine reale Möglichkeit dar. Auch wenn keine seiner Maßnahmen umgesetzt wird, so wird sich die soziale Lage weiter dramatisch verschärfen. Milei wird versuchen, eine solche Entwicklung für sich zu nutzen, und dafür die korrupten und parasitären Vertreter:innen des „alten“ Argentiniens verantwortlich machen, den Peronismus und eine Kaste von faulen Menschen, die am Sozialstaat hängen und seine „Rettung“ verhindern. Solcherart könnte er den Boden für eine „härtere“ Gangart vorbereiten, bis hin zu einem offenen Präsidialputsch, um die parlamentarischen und institutionellen Hindernisse für die „Rettung des Landes“ zu beseitigen.

Auch wenn die institutionellen Auseinandersetzungen die Angriffe Mileis verlangsamen mögen, so verfügt die peronistische Opposion, die selbst jahrelang soziale Verschlechterungen durchsetzte und bei den Wahlen mit dem rechtsperonistischen Kandidaten Massa angetreten war, über keine wirkliche Alternative. Sie will letztlich in die Verwaltung der Krise einbezogen werden, weil sie keineswegs deren Ursachen wirklich angehen will oder kann.

Generalstreik!

Die einzige Kraft, die den Generalangriffe der Regierung Mileis und des Kapitals abwehren kann, ist die Arbeiter:innenklasse. Schon im Dezember fanden erste wichtige Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung statt, organisiert von Arbeitslosenverbänden und vom kleineren Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos Autónoma (CTAA). Der größte Gewerkschaftsverband Confederación General del Trabajo (CGT) ruft zu Protestkundgebungen vor dem Parlament während der Gesetzesdebatte und zu einem Generalstreik für den 24. Januar auf. Korrekterweise tun dies auch die Mitgliedsorganisationen der FIT-U, die Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einer Einheitsfront des Widerstandes gegen die Angriffe der Regierung auffordern.

Protestaktionen und Demonstrationen oder ein eintägiger Generalstreik können helfen, die Kräfte des Widerstands gegen die Angriffe der Regierung, gegen ein drohendes neoliberales Massaker und das Ermächtigungsgesetz zu sammeln. Sie werden aber sicher nicht reichen, um Milei und sein Kabinett zu stoppen.

Gegen den Generalangriff hilft nur ein Generalstreik. Die Gewerkschaften müssen dazu aufgefordert werden, diesen auszurufen und zu organisieren und mit jeder falschen Rücksichtnahme auf und Unterordnung unter die parlamentarischen Manöver der peronistischen Partei zu brechen. In den Gewerkschaften braucht es dazu Basisversammlungen und eine organisierte klassenkämpferische Opposition, die die Führung zum Kampf treibt oder selbst die Initiative ergreift.

Die Einheitsfront für den Generalstreik richtet sich aber nicht nur an die Gewerkschaften und die radikale Linke, sondern auch an Arbeitslosenorganisationen, soziale Bewegungen, die Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung, indigene Gemeinden und Student:innenorganisationen.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückging und viele Lohnabhängige arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, aber auch um den Kampf möglichst effektiv zu führen, sind Massenversammlungen in den Betrieben wie auch Stadtteilen nötig, die Streik- und Aktionskomitees zu wählen und diese als Kampforgane auf lokaler, regional und landesweiter Ebene zu zentralisieren.

Angesichts der zugespitzten Lage wird die Regierung gegen jeden größeren Widerstand mit polizeilicher Repression, eventuell auch mit reaktionären Banden und rechten Gruppierungen vorgehen. Schon in den letzten Wochen wurden die Befugnisse des Ministeriums für Innere Sicherheit ausgeweitet – und es unterliegt keinem Zweifel, dass Ministerin Bullrich davon Gebrauch machen wird. Daher muss ein Generalstreik auch durch Streikposten und Selbstverteidigungsorgane, embryonale Arbeiter:innenmilizen, geschützt werden.

Ein unbefristeter Generalstreik kann die Angriffe der Regierung stoppen, er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – die Frage, ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben von Milei kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen die Inflation, die Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen. Ein solches Programm würde seinerseits die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und des Finanzsektors unter Arbeiter:innenkontrolle erfordern, um so für alle einen existenzsichernden Mindestlohn oder ein Einkommen zu sichern, um die Löhne an die Preissteigerungen anzupassen und die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen zu reorganisieren.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass die FIT-U aufhören muss, als bloße Wahlfront aus mehreren zentristischen Organisationen zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros (Demonstrant:innen, die Straßen und Unternehmen blockieren) und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für eine solches Programm kämpfen wollen.




Ein Jahr Regierung Meloni: eine Kriegserklärung gegen die Arbeiter:innenklasse

Azim Parker, Infomail 1239, 18. Dezember 2023

„Man lacht, um nicht zu weinen“ ist eine sehr beliebte Redewendung in Italien. Die Grenze zwischen Tragödie und Farce war nämlich in der Geschichte des Landes manchmal sehr, sehr dünn. Man denke nur an die zwanzig Jahre der Berlusconi-Regierung, die zwischen einem Witz und einer internationalen Blamage auch die Zeit fand, 2001 die Demonstrant:innen gegen den G8-Gipfel in Genua massakrieren zu lassen.

Das erste Jahr der Regierung Melonis bestätigt diese groteske Tendenz. Allein in diesem ersten Jahr konnten wir alle möglichen erbärmlichen Schauspiele ansehen, darunter über Facebook die Trennung der Ministerpräsidentin von ihrem Partner – einem rassistischen und frauenfeindlichen Pseudojournalisten –, einen peinlichen Scherzanruf auf Kosten von Giorgia Meloni, der die Regierung vor der ganzen Welt lächerlich machte, einen absurden Kampf gegen harmloses CBD-Cannabis und vieles mehr. Das Problem ist, dass die Arbeiter:innenklasse einen unglaublich hohen Preis zahlen musste, um Zeugin dieses Spektakels zu werden.

Ein beispielloser Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen

In der Geschichte der Republik gab es sicherlich noch nie eine so starke Verschlechterung der Lebensbedingungen der ärmeren Schichten. Italien ist das Land mit dem stärksten Rückgang der Reallöhne unter den großen OECD-Volkswirtschaften. Bis Ende 2022 waren sie im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie um 7 % gesunken. Dieser Rückgang setzte sich im ersten Quartal diesen Jahres fort, mit einem Minus von 7,5 % – all das im Rahmen einer grundsätzlich maroden Wirtschaft.

Wenn auch nach der Pandemie tatsächlich eine gewisse Erholung des Wachstums zu beobachten war – im Jahr 2022 ist das BIP tatsächlich um 3,7 % gewachsen –, belasten der Anstieg der Rohstoffpreise aufgrund des Krieges in der Ukraine, die Rezession in Deutschland – dem wichtigsten wirtschaftlichen Partner Italiens –, die Wiedereinführung des Stabilitätspakts und die ständige Erhöhung der Zinssätze die Staatskassen und die öffentliche Verschuldung wie ein Mühlstein. Infolgedessen ist das erste Jahr der Regierung Meloni im Wesentlichen von beispielloser Aggressivität gegenüber den italienischen Lohnabhängigen geprägt.

Arme

Die ersten Opfer der kriminellen politischen Maßnahmen der Regierung waren die Arbeitslosen und die ärmsten Teile der Bevölkerung, die durch eine SMS darüber informiert wurden, dass sie ihr Grundeinkommen, das sog. Bürgergeld verloren haben. Diese auf Betreiben der Fünf-Sterne-Bewegung 2019 eingeführte Transferleistung war zwar selbst eine äußerst demagogische und bestimmt problematische Maßnahme, die sicherlich die Armut nicht „abgeschafft“ hat, wie der damalige Minister Di Maio bei ihrer Einführung erklärte, stellte jedoch für eine gewisse Zeit sowohl das einzige Mittel zum Überleben für viele arme Leute dar als auch eine Barriere gegen die Überausbeutung vieler prekärer Beschäftigter, insbesondere in der Tourismus- und Gastronomiebranche, die berechtigterweise in Anbetracht einer Alternative begonnen haben, die unwürdigen Arbeitsbedingungen zu Hungerlöhnen abzulehnen.

Es ist kein Zufall, dass diese Maßnahme damals auf starken Widerstand bei Kleinunternehmen gestoßen ist. Hinter ihrem sozialchauvinistischen Gejammere über die „Penner:innen, die auf Kosten des Staates leben“, verbarg sich nur ihre Frustration darüber, dass sie niemanden mehr mit Hungerlöhnen erpressen konnten.

Arbeitsgesetz

All das stellt jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Das Arbeitsgesetz, das zynisch am 1. Mai 2023 erlassen wurde, ist eine regelrechte Kriegserklärung. Es reicht von der Verlängerung befristeter Verträge, also der häufigsten Form prekärer Arbeit in Italien, bis zur Kürzung der

Abgabenschere, einer vom Staat stark beworbenen Maßnahme, die jedoch in Wirklichkeit eine Beleidigung für alle italienischen Lohnabhängigen ist. Um die Kluft zwischen Netto- und Bruttolohn zu verringern, hat die Regierung tatsächlich 4,1 Milliarden Euro bereitgestellt.

Das bedeutet, dass die italienischen Arbeitenden eine Erhöhung des Nettogehalts von 50 bis 100 Euro erhalten werden! Ein Betrag, der angesichts der Inflation völlig bedeutungslos ist. Diese Maßnahme geht natürlich nicht mit einer Erhöhung der Löhne einher. Nicht zufällig hat sich Confindustria – der Italienische Unternehmerverband – sehr zufrieden gezeigt und dieses weitere Geschenk gerne angenommen. Die größte Ironie besteht jedoch darin, dass diese Mittel von der öffentlichen Verschuldung getragen werden, also von den gleichen Arbeiter:innen, die bereits erhebliche Kürzungen bei Renten und öffentlicher Gesundheit hinnehmen müssen, damit „die Rechnung aufgeht“. Real werden also die Unternehmen entlastet, während die Lohnabhängigen durch Sozialkürzungen das verlieren, was sie scheinbar erhalten.

Gesundheitssystem

Gerade das öffentliche Gesundheitssystem ist eines der Schlachtfelder, auf denen die Regierung besonders verheerend vorgegangen ist. In den letzten 10 Jahren wurden in Italien 111 Krankenhäuser geschlossen und 37.000 Betten abgebaut. Der Mangel an medizinischem und pflegerischem Personal ist mittlerweile zu struktureller Natur in den Ambulanzen und Krankenhäusern geworden. All dies geschieht, während der Zugang zu den Universitäten beschränkt ist und komplizierte, von Nepotismus und Unorganisiertheit geprägte Auswahlverfahren die Einstellung neuen Personals weiter erschweren.

Der Tarifvertrag für Krankenpfleger:innen wird seit drei Jahren nicht erneuert. Die Regierung Meloni hat eine Gehaltserhöhung von 4 % angeboten, was die Hälfte des durch die Inflation verlorenen Wertes der Gehälter wäre! In der Zwischenzeit hat das letzte Haushaltsgesetz weitere 2 Milliarden Euro an Mitteln aus dem gesamten Gesundheitssystem gekürzt, alles zum Vergnügen des Privatgesundheitswesens. Dieses sieht nicht nur eine Steigerung seiner Gewinne, sondern erhält auch üppige Subventionen genau von dem Staat, der das öffentliche Gesundheitswesen ruinieren lässt.

Die reaktionäre Rhetorik der Regierung zum Thema Familie hat sich in der Erhöhung der Mehrwertsteuer für Babynahrung und Windeln niedergeschlagen. Laut Regierung sei es notwendig, zum Wohle der Nation Kinder gegen die „ethnische Substitution“ durch Migrant:innen zu gebären – dies wurde tatsächlich vom Landwirtschaftsminister gesagt! Dass die Familien diese Kinder nicht ernähren können, ist jedoch irrelevant. Nicht zu vergessen, dass das Wahlversprechen, die Mineralölsteuer abzuschaffen, natürlich schnell gebrochen wurde.

Das Gemetzel an Migrant:innen geht weiter …

Das italienische Proletariat ist nicht das einzige Ziel. Die Regierung hat sich im letzten Jahr besonders vehement auch gegenüber Migrant:innen positioniert, die immer schon ein erklärtes Ziel dieser Rassist:innen waren. Und sie wollen so auch den Anstieg der Unzufriedenheit aufgrund der nicht eingehaltenen Wahlversprechen eindämmen. Schon während des Wahlkampfs war eine der bekanntesten Forderungen der Regierung die nach einer „Seeblockade“ Italiens, eine ultrareaktionäre und letztlich unrealisierbare Maßnahme, die dazu diente, das vorhandene rassistische Gefühl in der Bevölkerung zu schüren und kapitalisieren.

Natürlich hat die Undurchführbarkeit der Seeblockade Giorgia Meloni und ihre Kompliz:innen nicht daran gehindert, ebenso kriminelle Politiken gegenüber Migrant:innen zu verfolgen.

Zuerst das Abkommen mit der Regierung des tunesischen Folterpräsidenten Saied, der sich gegen Zahlung dazu verpflichtete, die abfahrenden Immigrant:innen in seinen Lagern zurückzuhalten, ein Abkommen ähnlich dem bereits bestehenden mit Libyen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Saied flog Meloni nach Albanien, um im Geheimen mit Premierminister Rama über die Schaffung von Anhaltelagern für Migrant:innen zu verhandeln, im Austausch gegen Italiens Hilfe, Albanien in die EU aufzunehmen. Einfach ekelhaft!

In der Zwischenzeit hat sich die Regierung verpflichtet, die Aktivitäten von NGOs so weit wie möglich zu behindern, indem sie die Schiffe dazu zwingt, die Geflüchteten zu Häfen weit entfernt vom Rettungsort zu bringen, und sie de facto auffordert, mögliche mehrfache Rettungsanfragen zu ignorieren. Im Inland hat sich Meloni dazu verpflichtet, neue Zentren für administrative Inhaftierung – die berüchtigten CPR (Rückkehrzentren) – zu errichten, die tatsächlich echten Gefängnissen gleichen, in denen Migrant:innen darauf warten, abgeschoben zu werden. Das erklärte Ziel dieser beschämenden Politiken ist – genauso wie bei anderen europäischen Regierungen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung – die Blockierung der Einreisen. Tatsächlich ist dies eine schändliche Rechtfertigung. Angesichts von Hunger, Gewalt und Freiheitsberaubung gibt es nichts, was Menschen davon abhalten kann, anderswo ein besseres Leben zu suchen. Alle Anstrengungen der Regierungen, dies zu verhindern, tragen nur dazu bei, das Leiden und den Tod von Hunderttausenden von Menschen zu erhöhen. Nur der Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und für eine sozialistische Ordnung kann ihnen endlich Gerechtigkeit bringen und die Menschheit von dieser Tragödie befreien.

Die ohrenbetäubende Stille der Opposition und der Gewerkschaften

Besonders schändlich angesichts dieser Situation erscheint das Verhalten der wichtigsten Gewerkschaften – CGIL, CISL, UIL. Unser Bericht über den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Regierung Meloni könnte hier enden. In einem Jahr Regierung sind die wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen des Landes, insbesondere die CGIL, durch eine entwaffnende Lethargie aufgefallen. Bis Oktober 2023 wurde keine einzige Demo auch nur symbolisch gegen die Regierung organisiert.

Im Gegenteil, der Generalsekretär der CGIL, Landini, war so nett, Giorgia Meloni einzuladen, eine Rede auf dem Gewerkschaftskongress im März zu halten. Nach einer rein rituellen Demonstration im Oktober in Rom, bei der jedoch die Arbeiter:innen die Gewerkschaftsbürokratie unter dem Ruf nach einem Generalstreik bedrängten, sah sich Landini im November gezwungen, einen Streik auszurufen. Einen Streik, der an drei verschiedenen Tagen regional organisiert wurde – das bedeutet, dass im Norden, in der Mitte und im Süden Italiens an drei verschiedenen Tagen gestreikt wurde. Diese Entscheidung, mittlerweile eine Praxis für die CGIL, zielt offensichtlich darauf ab, die Auswirkungen der Arbeitsniederlegung so weit wie möglich abzuschwächen und sie so harmlos wie möglich zu machen. Trotzdem nutzte die Regierung, insbesondere Verkehrsminister Salvini, die Gelegenheit, die Gewerkschaft und die Arbeiter:innen weiter anzugreifen, indem er erklärte, dass der Streik illegal sei, da er das Recht der Bürger:innen auf Mobilität verletze und daher aufgehoben werden müsse.

Das wäre eine großartige Gelegenheit gewesen, eine echte Mobilisierung gegen die Regierung rund um die Verteidigung des Streikrechts auszulösen. Eine Mobilisierung, die dem bereits unzufriedenen italienischen Proletariat sicherlich eine konkrete Perspektive des Kampfes gegeben und die Regierung in Schwierigkeiten gebracht hätte. Landini hielt es jedoch für richtiger, die Dauer des Streiks auf 4 Stunden im öffentlichen Verkehr zu reduzieren, wodurch die Mobilisierung faktisch zu einem leeren Ritual wurde. In der Zwischenzeit schläft die Regierung ruhig, und Salvini kann sich in sozialen Netzwerken damit brüsten, die Gewerkschaften in den Griff bekommen zu haben.

Leider ist dieses erste Jahr der Regierung auch für die Basisgewerkschaften alles andere als positiv verlaufen. Die verschiedenen Gewerkschaften haben im Wesentlichen miteinander konkurriert, indem sie unkoordiniert und letztlich in Konkurrenz zueinander Ministreiks durchgeführt haben, mit dem einzigen Ziel, sich gegenseitig die Mitglieder wegzunehmen. Die Überwindung dieser sektiererischen Mentalität bleibt daher eine wesentliche Aufgabe für italienische Revolutionär:innen.

Die Bilanz des ersten Jahres der Regierung Meloni ist daher dramatisch. Auf der einen Seite steht die Notwendigkeit der Bourgeoisie und ihrer politischen Vertretung, ungeachtet ihrer internen Widersprüche ihre Gewinne und ihren Status quo auf Kosten des Proletariats zu schützen. Auf der anderen Seite erleben wir die ewige Wiederholung der reformistischen Linken, sowohl in der Politik als auch in den Gewerkschaften. Diese ist Opfer ihres eigenen Opportunismus und Mangels an Perspektiven jenseits der engen Grenzen des Kapitalismus, was sie dazu zwingt, mechanisch die gleichen Formeln und Rituale zu wiederholen, selbst wenn dies sie endgültig zum politischen Vergessen verurteilen.

In dieser Lage braucht es sowohl auf betrieblicher und gewerkschaftlicher wie auf politischer Ebene eigentlich eine Einheitsfront aller Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen die Angriffe der rechten Regierung und des Kapitals. Zugleich verdeutlich die Führungskrise der Arbeiter:innenklasse, dass es eine revolutionäre Partei braucht als politische Alternative zum Theater der bürgerlichen Politik und der Rechten.