Wir sind nicht frei, bis Palästina frei ist

Arbeiter:innenmacht-Rede zur Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen, Berlin, 25. November 2023, Infomail 1238, 27. November 2023

Berlin: Wir alle haben die Bilder gesehen, wir alle haben die Nachrichten gelesen, deswegen wissen wir: Ein Waffenstillstand ist nicht genug! 4 Tage beenden das Leid der Palästinenser:innen nicht. Und heute ist der Tag gegen Gewalt an Frauen. An diesem kämpfen wir gegen Sexismus, gegen Femizide, gegen Gewalt auf der ganzen Welt.

Das bedeutet: Wir verschließen die Augen nicht vor dem aktuellen Krieg, wie es so viele andere tun. Dabei haben wir keine Illusionen in Schwachsinn wie „feministische Außenpolitik“, denn wir sehen, dass sie für die Unterdrückten keinen Unterschied macht. Deshalb stehen wir hier in Solidarität und sagen: Wir sind nicht frei, bis Palästina frei ist.

Aber ihr fragt euch sicher, was wir noch tun können außer auf die Straße zu gehen. Hier in Deutschland müssen wir uns gegen den steigenden Rassismus stellen und jede Komplizenschaft mit der israelischen Regierung. Wir verurteilen die Bombardierung Gazas, wir verurteilen die Apartheid, wir lehnen den Zionismus ab. Und deswegen müssen wir hier gegen deutsche Waffenlieferungen kämpfen. Denn diese haben sich im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht. Wir müssen uns gegen Rheinmetall, Thyssenkrupp oder Hensoldt stellen, genauso wie gegen die deutsche Regierung und ihre Staatsräson.

Um erfolgreich zu sein, müssen wir gemeinsam eine Bewegung aufbauen, die in Schulen, Universitäten und Betrieben verankert ist. Die diese Frage in den Alltag jener bringt, die noch nicht auf der Straße sind. Lasst uns gemeinsam eine Bewegung aufbauen, lasst uns Aktionskomitees aufbauen, die informieren und bereit sind zu protestieren und zu streiken.

Und als Marxist:innen sagen wir klar: Wir kämpfen für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina. Für einen Arbeiter:innenstaat, in dem Jüd:innen und Palästinenser:innen gleichberechtigt zusammenleben können.

Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der Reproduktionsarbeit kollektiv vergesellschaftet wird, damit Frauen und LGBTIA+-Personen nicht nur in Worten, sondern auch in der Realität die gleichen Rechte haben. Und wir kämpfen für die Freilassung aller Gefangenen, für das Rückkehrrecht für alle.

Und das ist keine Utopie, das ist möglich. Denn überall auf der Welt wird protestieren. Wir müssen anfangen, uns zu koordinieren und für die gleichen Forderungen eines sozialistischen Programms zu kämpfen und gemeinsam die Regime stürzen, die die Apartheid und Unterdrückung des palästinensischen Volkes unterstützen!

Hoch die internationale Solidarität!




Сексизмът убива, власта прекрива! Sexismus tötet, Macht korrumpiert!

… und die Regierung vertuscht das Problem: Protestwelle in Bulgarien gegen Gewalt gegen Frauen

Leonie Schmidt, Infomail 1230, 5. September 2023

Nach einem versuchten Femizid im Juni 2023 in Bulgarien, bei welchem eine 18-Jährige von ihrem Ex-Freund mit 21 Wunden durch ein Teppichmesser zugerichtet und mit Knochenbrüchen übersät wurde, flammte eine Protestwelle gegen Gewalt gegen Frauen auf. Besonders schockierend für die Protestierenden: Der mutmaßliche Täter kam einige Tage später wieder auf freien Fuß und wurde wegen angeblich „leichter“ Verletzungen des Opfers freigesprochen!

Seitdem gehen die Menschen auf die Straße. Das ist gerade für dieses Land etwas Ungewöhnliches, denn wie Organisator:innen des 8. März berichteten, kamen in den vergangenen Jahren nur wenige Personen zu ihren Kundgebungen. Jedoch begann die Entwicklung, dass es mehr und mehr Leute auf Proteste für Frauenrechte zog, bereits 2018, nachdem ein Schulmädchen mit Säure überkippt wurde. Auf den aktuellen Protesten sind vor allem junge Akivist:innen anzutreffen. Veranstaltet wird das Ganze unter anderem von der Organisation Feminist Mobilization. Sie fordert in erster Linie eine Verschärfung der Gesetzeslage, denn zum Zeitpunkt der Tat gab es noch nicht einmal einen Paragraphen, welcher häusliche Gewalt im Strafgesetzbuch definierte. Aber in ihren Reihen finden sich auch Personen, die einen Kampf gegen Kapital und patriarchale Strukturen fordern.

Druck auf die Regierung wirkt – oder?

Mittlerweile hat sich die europaorientierte rechte Regierung Bulgariens dazu bequemt, einige Gesetzesänderungen durchzuführen. Täter und Betroffene müssen nun nicht mehr zusammenwohnen, damit es sich um häusliche Gewalt handelt. Eine zweite Reform wurde trotz Sommerpause durchgebracht: Künftig gilt es als Beziehungstat, wenn Täter und Opfer seit mindestens 60 Tagen in einer „intimen Beziehung“ zueinander stehen. Das ist offensichtlich ein Gesetz, das viele Schlupflöcher für die Täter beinhaltet. Die Tat ist nicht weniger schlimm, wenn sie am 40. Tag oder 1. Tag passierte. Der Nachweis, wann die Beziehung begann und ob es sich wirklich um eine intime (also sexuelle) Beziehung handelt, ist unfassbar schwierig. Wenn man als Betroffene vor Gericht eine Chance haben will, braucht man also einen guten anwaltlichen Beistand, den sich besonders Frauen der Arbeiter:innenklasse wohl kaum leisten können.

Aber dass es nun zu so einer Laissez-faire-Reform kommt, ist leider nicht verwunderlich: In Bulgarien richten sich Politiker:innen nicht erst seit heute gegen Frauen und explizit Betroffene häuslicher Gewalt. Seit Jahren mobilisieren rechte Parteien, aber auch die sog. sozialistische Partei Bulgariens, die linksnationalistisch und linkspopulistisch einzuordnen ist, gegen die Istanbul Konvention (ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), da damit die Grundlage zur Einführung für die „Ehe für alle“ geschaffen werden würde.

Warum es zu häuslicher Gewalt kommt

Um einen effektiven Weg zur Bekämpfung häuslicher Gewalt zu finden, muss erst einmal geklärt werden, wie es überhaupt dazu kommt. Kleinbürgerliche Feminist:innen versuchen, das entweder mit der Natur des Mannes oder der Rückschrittlichkeit der Kultur oder Klasse zu erklären, in welchen die Gewalt stattfindet. Als Marxist:innen ist uns bewusst, dass häusliche Gewalt nur mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse erklärt werden kann. Denn sie findet nicht außerhalb der Gesellschaft statt, das Private ist nicht einfach unpolitisch, im Gegenteil: Häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter:innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche Waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter:innenklasse als Ganze neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter:innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Betrachten wir Bulgarien, so geht es vor allem um die Auswirkungen der Krise. Die Frauen müssen auch Lohnarbeit nachgehen, um die Existenz der Familie abzusichern, während gleichzeitig der Lohn des Mannes nicht mehr zu deren Ernährung ausreicht. Hinzu kommen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innnenklasse und die sozialen Absicherungen wie Sozialleistungen oder Krankenkassen, um die Profite des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern und dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken. Solche Krisen sind ein Kennzeichen für die Periode, in welcher wir uns aktuell befinden.

Die Krise der Familie bildet also die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter:innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage dringt. Somit kann sich der Täter noch ein letztes Mal über das Opfer stellen.

Durch diese Analyse wird also auch klar, warum die herrschende Klasse gar kein Interesse hat, grundlegend gegen häusliche Gewalt vorzugehen, denn auf der einen Seite gehört die Einsparung im Sozialsicherheitssystem schließlich zum Rettungsschirm des Finanzkapitals und auf der anderen Seite müsste sie sonst die Institution der bürgerlichen Familie angreifen, welche zu den Grundfesten des kapitalistischen Systems gehört. Des Weiteren ist es auch im Sinne des herrschenden Klasse, wenn Frauen auch in ihrer Familie unterdrückt bleiben und sich nicht von ihren Geschlechterrollen zu befreien versuchen. Diesen Punkt kann man gut erkennen an den Teilen der herrschenden Klasse Bulgariens, welche an der bürgerlichen Familie festhalten wollen, indem sie sich gegen die Istanbuler Konvention stellen. Diese Analyse macht auch klar, warum besonders die Ärmsten und am stärksten unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse von jener Gewalt betroffen sind.

Lage in Bulgarien

Schauen wir uns nun die Lage in Bulgarien an. Tatsächlich gilt dies als ärmstes Land der EU. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei der Hälfte des EU-weiten Durchschnitts. 2022 betrug das jährliche  BIP/Kopf 13.079 Euro gegenüber 25.650 in der EU und 29.180 in der Euro-Zone. Des weiteren stagnieren die Löhne und Gehälter auf einem niedrigen Niveau. Interessant ist diesbezüglich auch, dass der Dienstleistungssektor dominiert: Vor allem outgesourcter Kundendienst in Form von Callcentern für imperialistische Staaten ist hier ansässig, welcher die Lohnabhängigen hier noch mehr ausbeuten kann. Dementsprechend müssen die Löhne auch auf einem derartig niedrigen Niveau bleiben, damit sich das Outsourcing für die Imperalist:innen der EU überhaupt lohnen kann.

Über 2,2 Millionen Lohnabhängige (mehr als die Hälfte!) verkaufen ihre Arbeitskraft in anderen EU-Ländern. Viele Frauen, welche aus Bulgarien emigrieren, übernehmen in reichen imperialistischen EU-Staaten Carearbeit im Niedriglohnsektor, also als Putzkräfte, Krankenpflegerinnen und so weiter. Auch hier sind sie vor ökonomischer Abhängigkeit, Gewalt und Ausbeutung nicht sicher, im Gegenteil. All das verdeutlicht die halbkolonialen Verhältnisse in Bulgarien.

Hinsichtlich der Gewalt gegen Frauen in Bulgarien kann festgehalten werden, dass jede 3. Frau laut Befragungen bereits Opfer partnerschaftlicher Gewalt wurde. Des Weiteren wurden dieses Jahr bereits 14 Frauen Oper von Femiziden (Stand: August 2023). Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken, dass dies keine offiziellen Zahlen sind, da in Bulgarien diese von niemandem/r erhoben werden. Lediglich Frauenrechtsorganisationen sammeln sie. Dementsprechend ist also auch klar, dass die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte. Denn wie bereits eingangs erwähnt, gab es vor der aktuellen Protestwelle noch nicht einmal eine Definition im Strafgesetzbuch hinsichtlich häuslicher Gewalt!

Außerdem ist die sozialstaatliche Absicherung in Bulgarien besonders prekär, was Frauen am meisten trifft. Es fehlt an Kindergartenplätzen, was dazu führt, dass sie gezwungen sind, sich entweder unbezahlt „freizunehmen“, um ihre Kinder zu betreuen, oder flexiblere Arbeitsverhältnisse inklusive besonders schlechter Bezahlung anzunehmen. So oder so werden sie damit umso mehr an ihre Familie und ihre potentiell gewalttätigen Oberhäupter gebunden.

Perspektive der Proteste

Obwohl die Regierung versucht, durch Reformen die Protestierenden ruhigzustellen, gehen diese weiterhin auf die Straße und bringen auch antipatriarchale und antikapitalistische Forderungen mit ein, werfen die Frage auf, wem es am Ende nützt, dass Gewalt gegen Frauen herrscht und diese nur mehr als unzureichend vom bürgerlichen Staat bekämpft wird. Klar ist, die Proteste dürfen nicht bei dieser einen Frage stehen bleiben. Es gilt, eine breite Massenbewegung aus Frauen, Lohnabhängigen, und sozial Unterdrückten aufzubauen, welche für klare Forderungen und ein klares Programm hinsichtlich der Unterdrückung von Frauen und LGBTIA+-Personen eintritt. Hierbei müssen auch die Gewerkschaften aufgefordert werden, sich zu beteiligen. Des Weiteren darf diese Bewegung auch nicht im nationalen Rahmen stehen bleiben, sondern muss international aufgebaut werden. Diese Forderungen könnten sein:

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben. Frauenhäuser müssen vom Staat finanziert, aber von den Frauen selbst verwaltet werden.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Natürlich dürfen wir uns aber auch keine Illusion machen, dass wir patriarchale Gewalt im Kapitalismus einfach wegreformieren könnten. Es gilt, den Kapitalismus mitsamt seinen Institutionen zur Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Arbeiter:innenklasse zu zerschlagen und für eine solidarische Gesellschaft auf Basis von vergesellschafteter und demokratisch geplanter Produktion und Reproduktion sowie Rätemacht einzutreten. Das heißt auch, dass das Ideal der bürgerlichen Familie dann das Zeitliche gesegnet hat und sich Rollenbilder auflösen werden dadurch, dass die Reproduktionsarbeit bspw. durch gemeinsame Mensen und Waschküchen vergesellschaftet wird. Dazu braucht es mehr als Bewegungen – eine politische Kraft, die gegen alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung führt, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Der Ukrainekrieg und seine Auswirkungen auf Frauen

Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Seit mehr als einem Jahr bestimmt der Ukrainekrieg die Schlagzeilen. Im Folgenden wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Situation anfertigen und uns damit auseinandersetzen, wie sich die aktuelle Situation auf Frauen auswirkt, um schließlich allgemein Kriegsfolgen für Frauen zu betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir kurz Stellung zum Konflikt beziehen.

Vom Angriffskrieg zum Stellungskampf

Klar ist, dass der Angriff seitens des russischen Imperialismus auf die Ukraine zu verurteilen und der Wille zur Selbstverteidigung seitens der ukrainischen Bevölkerung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig muss das Geschehen auch im internationalen Kontext betrachtet werden. Es spielt sich nicht im luftleeren kraRaum ab, sondern vor dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung des imperialistischen Weltsystems und eines Kampfs um die Neuaufteilung der Welt unter den Großmächten.

Somit ist es auch nicht irgendeine Auseinandersetzung, die zufällig mehr Aufmerksamkeit bekommt als der Bürger:innenkrieg im Jemen, weil der bewaffnete Konflikt im Westen stattfindet. Er ist auch Ausdruck einer zugespitzten globalen Weltlage und trägt in sich das Potenzial, mehr Kräfte in kriegerische Auseinandersetzungen zu ziehen. Darüber hinaus findet die Auseinandersetzung zwar augenscheinlich nur zwischen der Ukraine und Russland statt. Doch das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und prorussischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine und der Ausgleich zwischen ihren Nationalitäten wurde mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwandte zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und ihren Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war letztlich auch der bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedroht fühlenden Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine vorprogrammiert und Russland nahm den inneren Bürger:innenkrieg zum Vorwand für die Inkorporation der Krim, wo jedoch schon länger eine prorussische Mehrheit lebte.

Weder Putin noch NATO!

Somit geriet das Gebiet der Ukraine zum Zankapfel zwischen russischem Imperialismus und der NATO. Wirkliche Verbesserung für alle Teile der Bevölkerung kann es nicht geben, wenn man sich einer dieser Kräfte politisch unterordnet. Dabei sind die von Putin angegebenen Gründe für seine „Militäroperation“ mehr als scheinheilig. Ihm geht es nicht um eine Denazifizierung, sondern darum, den seit 2014 stärker gewordenen Einfluss des westlichen Imperialismus zurückzudrängen. Dieses Interesse ist vor allem durch die Zunahme der internationalen Konkurrenz seit der Wirtschaftskrise um die Pandemie stärker geworden und auch durch die wirtschaftliche Schwäche Russlands bedingt.

Auf der anderen Seite muss gesagt werden, dass sowohl die massive finanzielle Unterstützung sowie die Waffenlieferungen seitens der NATO-Verbündeten nicht aus reiner Selbstlosigkeit erfolgen, weil man die ukrainische Bevölkerung nicht leiden sehen kann, sondern das Ziel anpeilen, die Ukraine als geostrategische Einflusssphäre zu festigen sowie den russischen Imperialismus zu schwächen und seine Fähigkeit, als Weltmacht zu agieren, massiv zu reduzieren, wenn nicht zu verunmöglichen. Natürlich agiert der Westen dabei nicht als geschlossener, einheitlicher Block. Vielmehr erweisen sich die USA als eindeutige Führungsmacht auch über ihre europäischen Verbündeten, für die jede stärkere ökonomische Durchdringung Russlands in weite Ferne gerückt ist.

Auswirkungen weltweit

Bevor wir zur Situationen in der Ukraine kommen, wollen wir uns den internationalen Folgen des Krieges widmen. Neben einer verstärkten Militarisierung haben der Krieg und vor allem die massiven Sanktionen nicht nur den Wirtschaftskonflikt mit Russland zugespitzt, sondern auch die Inflation befeuert und Energiepreise in die Höhe schnellen lassen. Die steigenden Kosten für Öl und Gas haben erhebliche Auswirkungen auf die Energiearmut von Frauen und Mädchen und den ohnehin schon ungleichen Zugang dazu. Dieser wurde vor allem durch die Pandemie drastisch verschlechtert, da so jene, die erst vor kurzem Zugang zu Energie erhalten hatten, diesen aufgrund von Zahlungsunfähigkeit verloren, darunter 15 Millionen Afrikaner:innen südlich der Sahara. Der Krieg verschärft dies nun, da der sprunghafte Anstieg der Energiepreise in den letzten zwei Jahren der stärkste ist seit der Ölkrise von 1973. Darüber hinaus verursacht der Krieg eine Lebensmittelkrise. Der Anstieg der Lebensmittelpreise war der höchste seit 2008, was daran liegt, dass sowohl Russland als auch die Ukraine zentrale Getreideproduzent:innen sind. So importieren Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Eritrea oder Somalia über 90 % des Getreides aus diesen beiden Ländern. Darüber hinaus stellt die Ukraine eine wichtige Weizenlieferantin des Welternährungsprogramms (WFP) dar, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt.

Situation vor dem Krieg

Auch wenn es nicht möglich ist, hier ein komplettes Bild der Situation von Frauen zu zeichnen, wollen wir einen kurzen, allgemeinen Überblick geben. Vor dem Krieg machten Frauen 54 % der Gesamtbevölkerung aus und etwa 48 % aller Erwerbstätigen. Eine genaue Aufschlüsselung, wie hoch die Arbeitsbeteiligung von Frauen in unterschiedlichen Industrien ausfällt, ist nicht verfügbar. Jedoch lieferte die ILO 2008 einen groben Überblick, aus dem hervorgeht, dass Frauen vorwiegend im Caresektor sowie in der industriellen Produktion tätig waren (https://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/Country_Report_No8-Ukraine_EN.pdf, S. 31).

Rechtliche Gleichstellung existierte zwar formal auch in Bezug auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dennoch gab es ein recht hohes Gender Pay Gap von 27 – 33 % im Zeitraum 2003 – 2012. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen oftmals in den schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Doch auch innerhalb von Berufsgruppen gab es Unterschiede. So wurden die größten geschlechtsspezifischen bei den Gehältern im Finanzsektor festgestellt, während die geringsten in der Landwirtschaft bestehen, wo die Löhne jedoch im Allgemeinen viel niedriger ausfallen als in allen anderen Bereichen der ukrainischen Wirtschaft.

Flucht

Im Krieg sind Frauen besonders Gewalt ausgesetzt, neben Bomben, ausländischen Armeen direkt vor der Haustür, Angst und Engpässen bei der Strom- oder Nahrungsmittelversorgung. Kein Wunder also, dass mehrere Millionen Menschen, darunter vor allem Frauen und Kinder, seit Beginn des Krieges geflohen sind. Laut Angaben der UN sind davon 5,3 Millionen Binnenvertriebene, also innerhalb des Landes geflohen. Dies verschärft die Situation, da bereits seit 2014 aufgrund des Konflikts in der Ostukraine mehr als 1,5 Millionen Menschen gezwungen wurden umzusiedeln. Zwei Drittel von ihnen waren Frauen und Kinder, die seitdem unter dem erschwerten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum sowie Beschäftigung leiden.

Darüber hinaus sind im Februar 2022 rund 8 Millionen Menschen über die ukrainischen Landesgrenzen geflohen. Davon sind über 80 % Frauen und Kinder, was unter anderem daran liegt, dass die Ausreise von Männern zwischen 18 und 60 Jahren seitens der ukrainischen Regierung verboten wurde. Frauen sind dabei auf der Flucht besonders sexueller Gewalt ausgesetzt. So stiegen die Suchanfragen nach Schlüsselwörtern wie „Escort“, „Porno“ oder „Vergewaltigung“ in Verbindung mit dem Wort „ukrainisch“ um 600 %, während sich „Ukraine refugee porn“ laut OSZE-Büro der Sonderbeauftragten und Koordinatorin für die Bekämpfung des Menschenhandels in Wien als Trendsuche herauskristallisierte. (https://www.euronews.com/2023/01/17/ukraine-refugee-porn-raises-risks-for-women-fleeing-the-war).

Zwar ist noch unklar, inwiefern ukrainische Frauen stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind als andere Gruppen weiblicher Geflüchteter. Klar ist jedoch, dass rassistische Stereotype, die innerhalb der EU existieren und osteuropäische Frauen sexualisieren, dies mitverursachen. Die Gefahr, sexuellen Missbrauch zu erleben oder Opfer von Menschenhandel zu werden, wird durch unsichere Fluchtrouten oder die Praxis z. B. in Großbritannien, wo 350 Pfund für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten gezahlt werden, begünstigt.

Um die Situation für Geflüchtete zu verbessern, müssen wir für Folgendes eintreten:

  • Offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

  • Statt Behausung in Lagern: Dezentrale Unterbringung durch die Enteignung von leerstehendem Wohnraum, Hotels sowie Spekulationsobjekten!

  • Nein zur Spaltung: Anerkennung der Bildungsabschlüsse sowie das Recht, die Muttersprache bei Ämtern zu benutzen, für alle Geflüchteten!

Auch wenn die letzte Forderung für ukrainische Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, größtenteils Realität ist, muss sie aufgestellt werden, um eine weitere Spaltung zwischen ukrainischen und anderen Geflüchteten zu verhindern. Dass die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen etc. für Ukrainer:innen so rasch passierte, zeigt nur, was eigentlich möglich ist, wenn die eigene Regierung ein unmittelbares Interesse dabei verfolgt. Deswegen sollte dies genutzt werden, um die Rechte anderer Geflüchteter anzugleichen.

Situation der Daheimgebliebenen

Jedoch konnten nicht alle fliehen. Alter, persönliche Fitness, Kontakte in anliegenden oder anderen europäischen Ländern sind weitere Faktoren, die es realistischer erscheinen lassen, sich mittel- oder langfristig ein „neues Leben“ aufzubauen. Wer hingegen pflegebedürftig ist oder selber jemanden pflegt, gehört zu den Gruppen, die es besonders schwer haben, das Land zu verlassen. Zwar gibt es Erfolgsgeschichten von Gruppen wie bspw. von etwa 180 Gehörlosen, die es nach Berlin geschafft haben. Doch wer ans Bett gefesselt oder auf fremde Hilfe angewiesen ist, hat schlechte Chancen.

Hier tragen auch vor allem Frauen die Hauptlast. Bereits vor der Eskalation der Feindseligkeiten im Februar 2022 führte die unbezahlte Hausarbeit in der Ukraine zu einer massiven Mehrbelastung. Frauen brachten im Schnitt 24,6 Stunden pro Woche für reproduktive Tätigkeiten auf, während es bei Männern 14,5 waren. Laut UN-Bericht „Rapid Gender Analyses in Ukraine“ geben die Befragten durchweg an, dass seit dem Beginn des Krieges der Umfang der unbezahlten Arbeit sowohl für Männer als auch für Frauen zugenommen hat. Dies liegt vor allem daran, dass Sozialdienste, medizinische und Bildungseinrichtungen sowie Kinderbetreuung durch den Krieg eingestellt oder reduziert wurden.

Das Wegbrechen dieser Infrastrukturen führt dementsprechend auch zu Verschlechterungen in allen diesen Bereichen. So sind beispielsweise Schwangere durch den Wegfall medizinischer Versorgung einer Lage ausgesetzt, die auch den Kindstod begünstigt. Um die Situation vor Ort einigermaßen erträglich zu machen, treten wir ein für:

Kontrolle und Verteilung der gelieferten Hilfsgüter durch demokratisch gewählte Komitees der Bevölkerung! Die Vertreter:innen müssen rechenschaftspflichtig und jederzeit wähl- und abwählbar sein!

So kann flächendeckend verhindert werden, dass Lebensmittel unterschlagen werden, wie beispielsweise durch zwei führende Ministeriumsbeamte, die Ende Januar dafür entlassen wurden. Das ist keine Kleinigkeit, denn über ein 1/3 der ukrainischen Bevölkerung ist von starken Nahrungsmittelengpässen betroffen. Viele Teile der Bevölkerung sind bereits in Hilfsstrukturen integriert – und sie sollten diese auch selber kontrollieren.

Denn zum einen kann durch die Verteilungskomitees überprüft werden, in welchen Regionen nicht nur mehr Hilfsgüter benötigt werden, sondern auch, wo es noch anderer Strukturen wie beispielsweise Kantinen oder anderer Hilfe bedarf. Diese sollten zum anderen als Momente kollektiver Reproduktionsarbeit nach dem Krieg erhalten bleiben und flächendeckend ausgeweitet werden. Denn nur durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit – also der Aufteilung der Sorge- und Carearbeit auf alle Hände – kann die Doppelbelastung von Frauen sowie die geschlechtliche Arbeitsteilung beendet werden. Es gilt, hier eine Grundlage zu legen, um künftigen Verschlechterungen entgegenzuwirken.

Arbeitsrechte

Diese Situation wird dadurch verstärkt, dass unter der Regierung von Selenskyj seit Beginn des Krieges massive Angriffe auf die Arbeitsrechte vorgenommen wurden. Am 24. März 2022 trat das Gesetz Nr.-2136-IX Über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Kriegsrecht in Kraft, was unter anderem die Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche auf 60 hochsetzt, Arbeit an Wochenenden, Feiertagen und arbeitsfreien Tagen nicht mehr verbietet und Betrieben ermöglicht, die Auszahlung des Gehalts zu verzögern, wenn nachgewiesen werden kann, dass Krieg oder „höhere Gewalt“ eine solche Verzögerung verursacht haben. Das Ganze wird begleitet vom Verbot von Oppositionsparteien, die Verbindungen nach Russland haben, sowie einer Degradierung von Gewerkschaften zu Organen der „Bürgerkontrolle“, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen.

Diese Verschärfungen sind dabei nur eine zugespitzte Fortführung Selenskyjs neoliberaler Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse. Bereits 2020 gab es den Versuch eines reformierten Arbeitsgesetzes, welches eine massive Aufweichung der Arbeits- und Tarifrechte enthielt. Durch Proteste seitens der Gewerkschaften konnte damals verhindert werden, was nun Praxis ist.

Was das für praktische Auswirkungen hat, skizziert Bettina Musiolek (Clean Clothes Campaign; Kampagne für Saubere Kleidung) in einem Interview mit der GEW. Zwar ist der Anteil der Textilindustrie innerhalb der Ukraine am BIP gering. Laut Angaben von Ukraine Invest existieren jedoch rund 2.500 Textilbetriebe mit mehr als 200.000 Mitarbeiter:innen innerhalb des Landes, von denen zwischen 80 und 90 % der gesamten Erzeugnisse für den Export bestimmt sind. Die überwiegende Mehrheit ihrer Beschäftigten ist weiblich. Produziert wird unter anderem für Marken wie Adidas, Benetton, Boss, S.Oliver, Tommy Hilfiger, Zara oder Handelskonzerne wie Picard oder Aldi. Diese nutzen die Not brutal aus, wie Musiolek erklärt:

 „Die meisten Näherinnen werden das alles akzeptieren, weil sie den Job brauchen. Gegen das neue Gesetz zu demonstrieren oder zu streiken, ist für sie keine Option – ihnen droht unter dem Kriegsrecht, verhaftet zu werden. [ … ] Da werden im Schatten des Krieges rote Linien überschritten. Zwar soll die Arbeitsrechtsreform nur während des Kriegsrechts gelten. Aber unsere ukrainischen Gewerkschaftspartner bezweifeln, dass die Punkte nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht würden.“ (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/hungerloehne-unter-dem-deckmantel-des-kriegsrechts)

Das bedeutet praktisch, dass wir uns gegen diese Angriffe wehren müssen, was leichter geschrieben als getan ist. Es verdeutlicht, dass die herrschende Klasse der Ukraine nicht nur eine enge Verbündete der NATO ist, sondern – wie jede andere – auch im Krieg ihre Klasseninteressen vertritt.

Das Kriegsrecht richtet sich hier ganz konkret gegen die Lohnabhängigen und muss bekämpft werden. Die Aufgabe von Revolutionär:innen und fortschrittlichen Kräften muss darin bestehen aufzuzeigen, dass der Krieg alleine nicht den Klassencharakter aufhebt, nicht alle Ukrainer:innen vor ihm gleich werden und dieselben Interessen verfolgen dürfen. Deswegen muss gesagt werden:

  • Nein zu den Angriffen des Arbeitsrecht! Für die sofortige Rücknahme der Verschärfungen wie des einseitigen Kündigungsrechts oder der Ausweitung der Arbeitszeit!

  • Statt Arbeitslosigkeit und mehr Stunden braucht es Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!

  • Für ein Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation!

  • Entschädigungslose Enteignung aller Kriegsgewinnler:innen, ukrainischer wie imperialistischer Unternehmen, die sich auf Kosten der Massen bereichern, unter Arbeiter:innenkontrolle!

Gewalt

Dass Gewalt gegen Frauen in Zeiten von Krisen zunimmt, ist spätestens seit der Coronapandemie kein Geheimnis mehr. Aktuelle offizielle Zahlen sind nicht verfügbar, jedoch gaben laut einer vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) im Jahr 2019 veröffentlichten Studie etwa 75 Prozent der ukrainischen Frauen an, seit ihrem 15. Lebensjahr irgendeine Form von Gewalt erlebt zu haben. Eine von drei Frauen berichtete, dass sie körperliche Formen von sexueller Gewalt erleiden musste.

Durch die verschlechterte ökonomische Situation kann sich dies verschlimmern, und da darüber hinaus in Konflikten sexuelle Gewalt und Vergewaltigung häufig als Kriegswaffe eingesetzt werden, um Macht über den Feind zu demonstrieren, sind die ukrainischen Frauen – inmitten der militärischen Invasion Russlands in ihrem Land – einem erhöhten Risiko sexueller und körperlicher Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter ausgesetzt. Um sich gegen die zunehmende Gewalt zu wehren, treten wir ein:

  • Für demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees der Bevölkerung, die auch Zugang zu Waffen haben!

  • Für Entschädigungszahlungen an Betroffene von Gewalt sowie kostenlosen Zugang zu therapeutischen Angeboten auch nach dem Krieg!

Militär

Doch es wäre falsch, die Rolle von ukrainischen Frauen derzeit auf Care- und Hilfsarbeit zu reduzieren. In der ukrainischen Armee dienen schätzungsweise zwischen 15 – 22 % Frauen. Manche kehren sogar aus den sicheren Ländern, in die sie geflohen waren, zurück, um an der Front zu kämpfen. Dies ist jedoch eine neuere Entwicklung. Seit 2014 sind Frauen Teil der ukrainischen Armee. Seit 2016 ist auch erlaubt, dass sie nicht nur klassische Hilfskraftjobs wie medizinische Versorgung oder Kochen ausüben. Dass sie nun auch an der Front kämpfen dürfen, heißt jedoch nicht, dass das Militär sich in einen Ort der Gleichberechtigung verwandelt. So hat die Zahl der Soldatinnen zwar zugenommen, aber ihre Mobilisierung erfolgte eher unregelmäßig. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass die klassische Arbeitsteilung in Armeen (Fokus der Frauen auf Hilfsjobs) trotz ihrer höheren Beteiligung erhalten bleibt, was begleitet wird durch Berichte über sexistische Kommentare oder die Tatsache, dass Frauen Uniformen wesentlich schlechter angepasst werden. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Männer mittels Kriegsrecht hat darüber hinaus verfestigt, dass es Frauen sind, die außerhalb der Armee die Last der Betreuung von Kindern und älteren Menschen tragen müssen. Um die tatsächliche Gleichstellung in der Armee zu gewährleisten, treten wir ein:

  • Für die Wähl- und Abwählbarkeit von Offizier:innen durch Soldat:innenräte sowie deren Kontrolle über Ausbildung und Waffen!

  • Für eine Kampagne innerhalb der Armee für Gleichstellung, aber auch gegen Nationalismus und Chauvinismus! Recht der Frauen auf gesonderte Treffen!

Zentral ist es darüber hinaus, dass Soldat:innen auch dafür argumentieren, den Krieg nur solange zu führen, wie er zur Selbstverteidigung dient, und beispielsweise gegen die Rückeroberung der Krim oder der Volksrepubliken auftreten. Vielmehr sollte die dort lebende Bevölkerung entscheiden, wo sie zukünftig leben und welchem Staat sie angehören möchte. Alles, was darüber hinausgeht, führt zu einer weiteren Verlängerung des Krieges, ohne seine tatsächliche Ursache zu bekämpfen.

Perspektiven

Die reaktionäre Invasion des russischen Imperialismus stellt bekanntlich nicht den einzigen Faktor im Krieg dar. Es wäre vielmehr verkürzt, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO auf internationaler Ebene selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklassen in Russland wie auch in den NATO-Staaten vor allem für den Kampf gegen die Kriegsziele ihrer eigenen Bourgeoisien gewonnen und mobilisiert werden müssen. Dort steht der Hauptfeind eindeutig im eigenen Land.

In der Ukraine ist die Lage differenzierter zu betrachten. Hier sind die Massen Opfer der russischen imperialistischen Invasion. Einerseits spielt der innerimperialistische Konflikt eine prägende Rolle, andererseits existiert auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, verteidigen müssen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

In der Ukraine bildet daher das Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Invasion ein Element revolutionärer Politik, doch für den Fall des Rückzugs von russischen Truppen sollte klar sein, dass der Kampf danach weitergeht. Jedoch nicht mit dem Ziel, Vergeltung gegen Russland als Aggressor auszuüben, sondern in dem Wissen, dass NATO & Co. ihre Unterstützung nicht zugesagt haben, damit sie dann ebenfalls die Ukraine in Ruhe lassen, sondern sie als ausgebeutete Halbkolonie in ihren Machtbereich integrieren werden.

Neben stärkerer militärischer Präsenz ist es wahrscheinlich, dass westliche Firmen sich freuen, die ukrainische Infrastruktur wieder aufzubauen – auf dem Rücken der Bevölkerung vor Ort, die als billige Arbeitskräfte überausgebeutet werden kann. Die rechtlichen Grundlagen wurden ja bereits geschaffen. So ein Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn bereits im Hier und Jetzt Strukturen aufgebaut werden, die sich der prowestlichen und neoliberalen Politik Selenkyjs nicht unterordnen wollen, aber auch kein Interesse hegen, sich an Putins Regime zu verkaufen. In Regionen wie der Krim, Donezk oder Luhansk sollten Referenden durch die Bevölkerung organisiert werden – nicht durch irgendeine Großmacht.

Im Westen, in der EU und den USA muss die Arbeiter:innenbewegung vor allem aber gegen die imperialistischen Ziele des „eigenen“ Imperialismus mobilmachen. Das bedeutet ein Nein zur jeder Aufrüstung, zu Waffenlieferungen und vor allem zu Sanktionen und Wirtschaftskrieg gegen Russland. Die US-amerikanische, deutsche und andere westliche Regierungen verfolgen damit keine demokratischen und humanitären Interessen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und erst recht deren Demokratie sind ihnen völlig egal, wie das jahrelange Paktieren mit Ultrarechten beweist. Für sie ist die Ukraine vor allem eine Frontlinie auf dem geostrategischen Schlachtfeld und außerdem ein Reservoir für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe. Hier gilt es, Solidarität und Widerstand aufzubauen, die die objektiven Interessen der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse unterstützen, und nicht mit den Machtinteressen der jeweils eigenen Regierung zu paktieren.




USA: Anstieg von Femiziden nach Verschärfung von Abtreibungsgesetzen

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 11, März 2023

Die Angriffe auf hart erkämpfte Errungenschaften, Grund- und Bürgerrechte im Zuge des Aufstiegs von Rechtspopulist:innen weltweit gehen weiter – und erste Folgen sind jetzt schon spürbar. Trotz der Abwahl von Donald Trump und der neuen Bundesregierung unter Joe Biden erleben wir in den USA einen enormen Angriff auf Frauenrechte.

Insbesondere reproduktive und Selbstbestimmungsrechte von Frauen werden immer häufiger infrage gestellt. Damit wird Frauen der Zugang zu Beratung sowie Abtreibung im Falle ungewollter Schwangerschaften bewusst erschwert oder gleich gänzlich kriminalisiert, was neben finanziellen Belastungen und gesundheitlichen Risiken im Falle nun illegal durchgeführter Abbrüche weitere Auswirkungen mit sich führt: In den USA lässt sich bereits ein deutlicher Anstieg von Femiziden feststellen, insbesondere an schwangeren Frauen.

Hintergründe

Der Begriff Femizid (engl. femicide) wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zum englischen Begriff „homicide“ (Mord, Totschlag) benutzt. Die feministische Soziologin Diana Russell definiert Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen Mann auf Grund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt auch die Tötung von Kindern mit ein. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer erleiden. Der Femizid stellt, noch vor der Vergewaltigung, die höchste Manifestation der Unterdrückung der Frau und eine extreme Form patriarchaler Gewalt dar.

Auch wenn Boulevardmedien mit reißerischen Schlagzeilen das Gegenteil suggerieren, so sind Femizide keine rein individuellen Tragödien. Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext zwar einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie [beim Feminizid, dem organisierten, massenhaften Femizid] eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung.

Die gesellschaftliche Dimension von Femiziden, also Morden an Frauen, weil sie Frauen sind, erfordert eine Betrachtung der Ursachen für die Zunahme dieser Gewalttaten.

Der von konservativen Richter:innen dominierte Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der USA hatte im Juni 2022 das fast 50 Jahre geltende Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ aufgehoben. Dieses garantierte bisher das landesweite Grundrecht auf Abtreibung. Durch die Entscheidung des Supreme Court können Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche nun einschränken oder gänzlich verbieten, was mehrere konservativ regierte bereits getan haben. Das Urteil wurde deshalb nicht nur in den USA von Abtreibungsgegner:innen als Sieg gefeiert.

Betroffen sind rund 40 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter, die in US-Bundesstaaten leben, in denen Abtreibungen entweder bereits verboten oder nur in eng gefassten Ausnahmefällen möglich sind bzw. in absehbarer Zeit verboten oder stark eingeschränkt werden.

Zunahme von Femizide an Schwangeren

Bereits Ende 2021, noch vor dem Urteil des Supreme Court und den darauffolgenden Restriktionen, gab es Bedenken bezüglich einer Zunahme von partnerschaftlicher Gewalt und Femiziden als mögliche Folgen: „Einige Experten befürchten, dass die Einschränkung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch gefährdete Frauen noch mehr in Gefahr bringen könnte.“ So hatten Studien ohnehin belegt, dass partnerschaftliche Gewalt durch bzw. während Schwangerschaften zunimmt. Frauen war es oft nicht möglich, ihre Schwangerschaft fortzusetzen, und sie entschieden sich aufgrund häuslicher Gewalt zur Abtreibung. Die USA hatten demnach bereits eine sehr hohe Rate an Müttersterblichkeit: „Im Jahr 2018 kamen in den USA auf 100.000 Lebendgeburten 17 Müttersterblichkeitsfälle – mehr als doppelt so viele wie in den meisten anderen Ländern mit hohem Einkommen.“

Forscher:innen der Harvard School of Public Health kommen zu dem Ergebnis, dass es in den USA für Schwangere oder Frauen, die vor kurzem entbunden haben, wahrscheinlicher ist, ermordet zu werden, als durch schwangerschafts- oder geburtsbedingte Komplikationen zu sterben. Tötungsdelikte an Schwangeren sind somit häufiger als solche Todesfälle durch Bluthochdruck, Blutungen oder Sepsis, wie die Forscher:innen in einem Leitartikel beschreiben.

Die Verbreitung von Gewalt in der Partnerschaft ist in den USA ohnehin höher als in vergleichbaren Ländern. Die Gewalt endet oft tödlich und häufig sind Schusswaffen im Spiel. Eine weitere Studie der Tulane University bestätigt diesen Trend, wonach Tötungsdelikte eine der häufigsten Todesursachen bei Schwangeren und Wöchnerinnen in den USA sind.

Die genannten Studien können durch Zahlen belegen, dass neben schwangeren Jugendlichen insbesondere schwarze Schwangere ein wesentlich höheres Risiko hatten, getötet zu werden, als weiße oder hispanische. Dies verwundert nicht, da schwarze Arbeiter:innen in den USA auch heute noch strukturell benachteiligt sind, schlechter bezahlte Jobs haben, oft in beengten Wohnsituationen leben und seltener krankenversichert sind. Die ökonomischen Bedingungen wirken sich daher für diese Bevölkerungsgruppe besonders negativ aus.

Ähnliche Entwicklungen konnten auch in Deutschland im Zuge der Lockdowns der Coronapandemie beobachtet werden, wo aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen Lage und der erzwungenen Nähe auf engstem Raum partnerschaftliche Gewalt um ein Vielfaches zugenommen hat.

Somit war bereits vor den Verschärfungen und Verboten, die auf das Grundsatzurteil des Supreme Court in einigen US-Bundesstaaten folgten, die Ausgangslage für Schwangere alles andere als sicher. Gesetze, die den Zugang von Frauen zu Abtreibung einschränken, können sie weiter gefährden, da die Kontrolle über die reproduktiven Entscheidungen einer Frau oft eine Rolle bei Gewalt in der Partnerschaft spielt. Die Autor:innen der Studie der Harvard School of Public Health weisen explizit darauf hin, dass schwangerschaftsbedingte Tötungsdelikte vermeidbar sind, z. B. indem im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen von Schwangeren gewaltgefährdete Frauen identifiziert und Hilfestellungen angeboten werden können.

Arbeiter:inneneinheitsfront für freie Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung

Doch wie kann, gemessen an diesen permanenten Angriffen und vielfältigen Problemen, eine erfolgreiche Pro-Choice-Bewegung aufgebaut werden? Statt nur auf Verschlechterungen zu reagieren, müssen wir selbst Verbesserungen erkämpfen. Wir dürfen nicht auf den Staat vertrauen oder Illusionen in die Demokratische Partei hegen. Diese konnte bzw. wollte die derzeitigen Angriffe auf bestehende Frauenrechte nicht verhindern. Daher müssen wir unabhängig von ihr gegen den Abbau von Frauenrechten kämpfen. Dabei kommt es auf den Kampf als Klasse an, was bedeutet, dass er durch die Arbeiter:innenklasse geführt und von ihren Organisationen unterstützt werden muss.

Wir fordern daher die Gewerkschaften auf, für eine gemeinsame Kampagne zu mobilisieren. Betriebsräte könnten beispielsweise Betriebsversammlungen einberufen, wo diese Themen und Fragen diskutiert werden. Darüber hinaus können Gewerkschaften mit Streik als Kampfmittel, anders als Einzelpersonen oder andere Gruppen, ökonomischen und politischen Druck auf Kapital und Regierung aufbauen.

Im Rahmen von Aktionstagen und für die Durchführung eines politischen Streiks wäre es außerdem wichtig, Streik- und Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren, kollektive Erfahrungen ermöglichen und auf diese Weise auch zur Stärkung und Demokratisierung des gemeinsamen Kampfes beitragen. Ebenso sind Gewerkschaften personell und finanziell in der Lage, internationale Kooperation und Koordination zu gewährleisten, z. B. durch die Organisation zentraler, internationaler Aktionstage zum Thema Abtreibungsrechte und Selbstbestimmung. Dies ist wichtig, da die Unterdrückung nicht nur in einem Land existiert und zusammen mehr Druck aufgebaut werden kann.

Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einbindung von Gewerkschaften auch einige Probleme mit sich bringt. Gerade im Dienstleistungsbereich, in dem hauptsächlich Frauen arbeiten, organisieren sich nur wenige Arbeiter:innen in ihnen. Ebenso agieren Gewerkschaften häufig reformistisch und beschränken sich auf die Besitzstandswahrung im eigenen Interesse, anstatt Fortschritte für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Es existiert eine Gewerkschaftsbürokratie, die ihren Frieden mit dem jetzigen System geschlossen und ihre Rolle selbst auf das Feilschen um Lohn und Arbeitsbedingungen reduziert hat. Revolutionäre Kommunist:innen müssen sich deshalb für eine klassenkämpferische, antibürokratische Basisbewegung einsetzen, die sich der bürokratischen Spitze entgegenstellt, um die Gewerkschaften zu einem Glied in den Reihen des Kampfes für den Sozialismus umzugestalten.

Des Weiteren rufen wir alle bestehenden Pro-Choice-Bündnisse und -Bewegungen aktiv dazu auf, auch weiterhin gegen den bestehenden Abbau von Frauenrechten zu kämpfen und den Protest erneut auf die Straße zu tragen. Lasst uns die bisher bestehenden Bündnisse und Mobilisierungen bündeln und einen gemeinsamen Aktionstag für den Kampf für Frauenrechte ausrufen!

Gegenwehr

Zur Verhinderung von Femiziden ist der Aufbau von Organen der Gegenmacht erforderlich. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern und rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international:

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!

  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!

  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Das Leben einer Frau muss immer über dem eines ungeborenen Fötus stehen!

  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!

  • Ausbau von Kitas und Kinder-/Jugendbetreuungsangeboten, um Eltern zu entlasten!

  • Für viel mehr finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung von insbesondere (jungen) Frauen und Alleinerziehenden und dafür, dass minderjährige Frauen mit einer Schwangerschaft nicht alle Chancen auf eine gute Zukunft verlieren!

  • Langfristig: Für die Kollektivierung der Kindererziehung in der Gesellschaft!

  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!

Ärzt:innen dürfen die Entscheidung zur Geburtshilfe (Entbindung) bei überlebensfähigen Föten treffen. Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!

Quellen:

Baumgarten, Reinhard (2022): Weitere Rechte auf der Kippe?, online unter https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/abtreibung-usa-supremecourt-101.html

Chang, Leila (2020): Pro Choice: Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/pro-choice-selbstbestimmung/

Chang, Leila (2022): Our bodies, our choice, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/14/our-bodies-our-choice/

Der Standard (2005): USA: Mord als eine der häufigsten Todesursachen für Schwangere, online unter https://www.derstandard.at/story/1962393/usa-mord-als-eine-der-haeufigsten-todesursachen-fuer-schwangere

Frühling, Jonathan (2020): Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/femizide-frauenmorde-international/

Harvard School of Public Health (2022): Homicide leading cause of death for pregnant women in U.S., online unter https://www.hsph.harvard.edu/news/hsph-in-the-news/homicide-leading-cause-of-death-for-pregnant-women-in-u-s/

Insider (2021): Homicide is the leading cause of death for pregnant women in the United States, a new study found, online unter https://www.insider.com/pregnant-women-in-the-us-homicide-leading-cause-of-death-report-says-2021-12

National Institute of Child Health and Human Development (2022): Science Update: Pregnancy-associated homicides on the rise in the United States, suggests NICHD-funded study, online unter https://www.nichd.nih.gov/newsroom/news/091622-pregnancy-associated-homicide

Sanctuary for Families (2022): The Silent Epidemic of Femicide in the United States, online unter https://sanctuaryforfamilies.org/femicide-epidemic/

Suchanek, Martin (2022): Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/femizide-feminizide-und-kapitalistische-krise/

The Guardian (2022): Estimated 45,000 women and girls killed by family member in 2021, UN says, online unter https://www.theguardian.com/global-development/2022/nov/23/un-femicide-report-women-girls-data




Familienrecht: Umkämpfte Schmalspurreformen

Jürgen Roth, Neue Internationale 271, Februar 2023

Schon im Koalitionspapier wurden umfassende Reformen auf dem Gebiet der Frauen-, Familien- und Queerpolitik angekündigt. Der Abschnitt des Koalitionsvertrags ist auch der mit den vergleichsweise progressivsten Absichten der Ampel. Umgesetzt wurde allerdings bisher nur die Streichung des Werbeverbotes für Abtreibungen (§ 129a) im Juni 2022.

Nun steht eine weitere Gesetzesänderung ins Haus. Beim Sorgerecht soll nach einer Trennung generell das paritätische Wechselmodell (auch Doppelresidenzmodell genannt) zum Zuge kommen. Das soll bedeuten, dass die Kinder nach einer Trennung gleich viel Zeit bei beiden Eltern verbringen. Das heißt auch: Künftig sollen Väter mit gleichem Wohnsitz das Sorgerecht ohne Einwilligung der Mutter erhalten können.

Das hört sich gut und gerecht an, ist es aber nicht. Denn das Modell abstrahiert in vielen Punkten von der Realität.

Sorge- und Erwerbsarbeit

So kann dieses dazu führen, dass Väter Rechte erhalten, ohne eine partnerschaftliche Arbeitsteilung gelebt zu haben. 90 % aller Kinder haben schon heute geteiltes Sorgerecht. Doch bei deren Betreuung klafft eine Lücke von 50 % zwischen Vätern und Müttern. Die feministischen Sozialwissenschaftlerinnen Alicia Schlender und Lisa Yashodara Haller erklären das so: „Väter beteiligen sich also weniger an der Sorgearbeit, weil es für sie gesellschaftlich schwieriger ist, Erwerbsarbeit zugunsten der Sorgearbeit zurückzuweisen.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 15.11.2022, S. 3) So weit richtig.

Dass der Zwang zur Lohnarbeit die proletarischen Männer davon abhält, sich genügend um ihre Kinder zu kümmern, ist unstrittig. Doch wirkt der nicht auch für Frauen dieser Klasse, insbesondere nach Scheidung oder Trennung?

Historisch-materialistisch betrachtet liegt die Ursache für den Care Gap im Gender Pay Gap, der selbst wiederum Resultat einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist. Doch statt diese Problematik direkt angehen, begnügen sich Haller und Schlender mit der Forderung nach staatlichen Ausgleichsleistungen.

So befürworten sie steuerliche Anreize, um weniger arbeiten zu müssen, und eine Erhöhung der verpflichtenden Elternzeit für Väter. Ihnen ist bewusst, dass die bisherige Regelung, je mehr ich verdiene, desto mehr Elterngeld bekomme ich, zu Ungerechtigkeiten führt und schlagen die Summe beider Gehälter als dessen Berechnungsgrundlage vor. Analog zum Mutterschutz soll ein Erwerbsverbot für Väter im unmittelbaren Anschluss an die Geburt gelten über die optionalen 2 Wochen hinaus, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) anstrebt. Ferner soll das Ehegattensplitting abgeschafft werden und halbe Vollzeiterwerbstätigkeit pro Elternteil bei vollem Lohnausgleich gelten. Wer das bezahlen soll, erwähnen sie nicht.

Koalitionsmodell

Das im Koalitionsvertrag bevorzugte Modell sieht diese Abfederungen im Interesse der Frauen erst gar nicht vor. Nachdem die Kinder abwechselnd bei beiden Elternteilen wohnen würden, würde für viele Mütter damit der Barunterhalt wegfallen. Dieses Wechselmodell können sich allenfalls, wie Schlender und Haller anmerken, „ökonomisch stabile Familien“ leisten. Woher soll schließlich das Geld für 2 Wohnungen plus doppelte Kinderzimmer nebst Ausstattung kommen?

Schon jetzt erhält mehr als ein Drittel der Alleinerziehenden – weit überwiegend Mütter – keinen oder nur unvollständigen Unterhalt vom anderen Elternteil. Zwar springt die Unterhaltsvorschusskasse des Jugendamts ein, wo die Mutter aber unabhängig vom Einkommen des Vaters nur den Mindestsatz erhält, von dem auch noch das Kindergeld abgezogen wird.

Doch alle strittigen Fragen rund um Kindesunterhalt bilden kein Thema für die regierende Koalition. Diese beschränkt sich ausschließlich auf eine Kindergrundsicherung. In Zeiten der Aufhübschung von Hartz IV zum Bürgergeld ist Armutskosmetik eben chic.

Kindeswohl und väterliche Gewalt

Doch das Wechselmodell sieht nicht nur von der sozialen Frage und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ab. Auch die häusliche Gewalt gegen Frauen bleibt unterbelichtet und wird tendenziell ignoriert, wie der Artikel „Streit ums Sorgerecht: Das umkämpfte Wechselmodell“ zeigt.

So wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Familie und Partner:innenschaft sind dabei die wichtigsten Tatorte. Allein für 2021 weist die Statistik des BKA 143.604 Fälle häuslicher Gewalt auf. Die Täter sind zu 80 % Männer. Und selbst das BKA fügt hinzu, dass die Dunkelziffer weit höher liegt.

Doch vor Gerichten und bei Behörden spielt häusliche Gewalt nur eine untergeordnete Rolle. So verweist die Studie „Familienrecht in Deutschland“ des Hamburger Soziologen Wolfgang Hammer vom April 2022 darauf, dass bei Priorisierung des Wechselmodells  selbst belegtes gewaltförmiges Verhalten der Väter ausgeklammert werde. Ähnliches Verhalten wird auch von Jugendämtern berichtet.

Diese Entscheidungen gehen auch mit der biologistischen Vorstellung einher, dass Kinder vor allem „beide Elternteile“ bräuchten, egal was sie zum Kindeswohl (und dem des anderen Elternteils) beigetragen haben. Der reaktionären Argumentationslinie zufolge würden auch Frauen, die gewalttätigen Männern im Interesse der Kinder das Sorgerecht streitig machen, die Kinder vom anderen Elternteil „entfremden“ – und so deren „natürliche“ Entwicklung beeinträchtigen.

Dafür macht sich seit Jahren auch die reaktionäre „Männerbewegung“ stark, deren Argumente u. a. auch die FDP in der Koalition aufgreift. Von der Gesetzesvorlage der Ampel ist daher auch in dieser Hinsicht wenig zu erwarten.

Elternschaft, Kapitalismus und Feminismus

Uns geht es hier keineswegs darum, den Wunsch nach Kindern, nach Elternschaft (und damit auch nach Sorgerechten für Väter) als solchen abzutun. Wir stimmen Schlender und Haller in folgender Aussage unbedingt zu: „Es geht nicht länger um eine Abgrenzung von Elternschaft, sondern darum, die Zustände zu kritisieren, unter denen Elternschaft zur Zumutung wird.“

Das Problem mit den Reformvorhaben der Regierungskoalition besteht nicht nur darin, dass sie diese Zustände nicht kritisiert, sondern selbst an deren Reproduktion mitwirkt. Reaktionäre Geschlechterrollen und Familienbilder werden nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse, von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern als natürliche Zustände betrachtet, die es allenfalls etwas zu dehnen gelte. Und selbst soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zum Schutz der Frauen oder zur Unterstützung ärmerer Schichten der Arbeiter:innenklasse bleiben außen vor.

Zu Recht kritisieren die beiden Feministinnen daher: „Gleichberechtigung ist im Kapitalismus nicht zu haben. Sorgearbeit ist ein zentrales Element menschlicher Existenz, aus dem auch Freiheit entsteht.“ Und sie folgern dann:

„Wenn wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben wollen, dann sollten wir Mutterschaft verallgemeinern und nicht abschaffen … Vaterschaft ist historisch allein patriarchale Herrschaft … Aus dieser philosophischen Perspektive braucht Vaterschaft heutzutage kein Mensch, aber Mutterschaft für alle ist ein hohes Gut.“

In dieser Gesellschaft aber gerade nicht, sondern oft ebenso eine Strafe wie Kindheit und Jugend! Haller und Schlender ist ihr subjektiv antikapitalistischer Wunsch zugutezuhalten. Mit der Verteidigung der Mutterschaft als „hohem Gut“ führen sie freilich ungewollt jene Naturalisierung wieder ein, die sie mit der Kritik an der Rolle von Vaterschaft angreifen.

Aufhebung der Geschlechterrollen

Beziehen wir uns unter den Begriffen Vater- und Mutterschaft allein auf das biologisch Notwendige für die Fortpflanzung, so sind sie schlecht abzuschaffen, wenn sich die Menschheit weiter reproduzieren soll.

Betrachten wir freilich die Geschlechterrollen Vater- und Mutterschaft, so sind sie nur idealisierte Vorstellungen einer angeblich natürlichen Ordnung der Geschlechter. Als Sozialist:innen wollen wir die geschlechtliche Arbeitsteilung bis auf das biologisch Unumgängliche (Gebären, Stillen, Zeugen) aufheben. Solange die Sorgearbeit mit Mutterschaft identifiziert wird, werden vom Patriarchat übernommene und überkommene soziale Geschlechterstereotype gerade nicht unterminiert, geschweige aufgehoben, sondern eher fortgeschrieben.

Darüber hinaus fassen die beiden Feministinnen die Klassenfrage ungenügend. Druckmittel und Steuerungsmechanismen versagen beim Kindesunterhalt selbst bei Trennungen von vielen Paaren, die mehr als den Durchschnitt verdienen. Schon gar kritisch wird es erst, wenn getrennte Paare wieder eine neue Familie gründen wollen. Arbeiter:innen können sich den Luxus des Wechselmodells erst recht nicht leisten. Wie für teure Schäden muss eine Art Solidarversicherung her, aber eine staatliche, keine private des Finanzmarkts.

Darum treten Kommunist:innen energisch für Sozialisierung des gesamten Reproduktionssektors ein, nicht nur für die Verwandlung der Hausarbeit in eine öffentliche Industrie, sondern auch der sonstigen Carearbeit in eine gesellschaftliche Dienstleistung mit Rechten und Pflichten für alle. Das bedeutet anzufangen, mit allen Hindernissen bei der Adoption von Kindern und sonstigen Menschen aufzuräumen, mit staatlichem Kindesunterhalt als neuem Sozialversicherungszweig, bezahlt aus progressiven Beiträgen bzw. Steuern von allen und mit Sozialversicherungspflicht (natürlich auch Kranken-, Renten und Arbeitslosenversicherung) für alle unter Kontrolle der Arbeiter:innenorganisationen. Mit solchen Forderungen würde der Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft geebnet, in der menschliche Nähe, gegenseitige Verantwortung und Zuneigung nicht allein das Werk von Blutsverwandten ausmachen.




Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise

Martin Suchanek (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Probleme der Erhebung

Schon diese Zahlen sind erschreckend genug. Sie geben jedoch den Umfang und damit das gesamte Ausmaß dieses extremen Ausdrucks der Unterdrückung aus mehreren Gründen nicht wieder. Erstens umfassen viele Erhebungen keine trans Personen und andere Menschen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität.

Zweitens basiert die Zuordnung zum Femizid oft auf einer relativ engen Definition, d. h. nur ein Teil der intentionalen Morde oder Todschläge an Frauen geht in die Statistik ein. Die Zahlen – so auch die oft genannte von 50.000 Femiziden im Jahr 2017 – beziehen sich in erster Linie auf eine bestimmte, in der Tat sehr bedeutende Form des Frauenmordes, den intimen (innerhalb einer Partnerschaft erfolgenden) und verwandtschaftlichen Femizid (z. B. Ehrenmord). Diese beiden Kategorien machen jedoch selbst nach den Erhebungen aus dem Jahr 2017 nur etwa die Hälfe aller vorsätzlichen Frauentötungen aus, also aller Verbrechen, wo es eine bewusste, intendierte Absicht war, eine Frau, ein Mädchen, eine trans Person wegen ihres Geschlechts oder ihrer Geschlechtsidentität umzubringen.

Intentionale Morde an Frauen oder geschlechtlich Unterdrückten, die außerhalb dieser Sphäre stattfinden und mit der Durchsetzung privatkapitalistischer, neokolonialer oder staatlicher Interessen verbunden sind, gehen in die Statistiken nicht ein. Eine Reihe linker, antikolonialer und antiimperialistischer, feministischer Autor:innen hat für solche Morde an Frauen und LGBTIAQ-Menschen den Begriffe des Feminizides geprägt, um der Verengung des Blicks auf Femizide im privaten und häuslichen Kontext entgegenzuwirken. Wir verwenden daher im folgenden Text die Begriffe Femizid und Feminizid in diesem Sinne, wohl wissend, dass eine eindeutige Zuordnung selbst problematisch ist, wie z. B. das Phänomen der Ehrenmorde verdeutlicht. Schließlich kommt hinzu, dass die Begriffe in der deutschsprachigen Literatur einfach synonym verwendet werden.

Drittens bildet die Kriminalstatistik eine Hauptquelle für länderübergreifende Vergleiche. Doch diese wird von verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich geführt und Femizide/Feminizide werden oft erst gar nicht als solche erfasst. Das Ausmaß dieser Form der intentionalen Tötung von Frauen oder LGBTIAQ-Personen lässt sich schon deshalb oft nur schätzen. Somit gehen Verbrechen erst gar nicht ein, weil sie nicht erhoben oder gar verschleiert werden oder z. B. in Kriegen und Bürgerkriegen überhaupt keine Erhebungen mehr möglich sind.

Viertens haben nur wenige Länder formale Abkommen zur Bekämpfung von Femiziden ratifiziert. So wurde z. B. das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (besser bekannt als Istanbuler Konvention) nicht nur von der Türkei spektakulär aufgekündigt. Zahlreiche europäische Länder haben es erst nach Jahren (z. B. Deutschland und die Schweiz erst 2017) ratifiziert. Andere Unterzeichnerstaaten haben dies bis heute nicht getan (Großbritannien, Lettland, Litauen, Tschechien, Ungarn, Ukraine, Moldawien, Armenien), womit das Abkommen keine Rechtsverbindlichkeit besitzt. In Bulgarien wurde es vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt. Polen hat seinen Austritt angekündigt, wenn auch noch nicht vollzogen.

Umfang und Vergleich

Trotz dieser Schwierigkeiten wollen wir im Folgenden etwas näher auf die Zahlen eingehen. Dabei gibt es in Europa noch relativ verlässliche Statistiken, was intime und verwandtschaftliche Femizide betrifft. Diese zeigen ein lang anhaltend hohes Niveau und in einigen Fällen sogar einen Zuwachs in den letzten Jahren. So stieg die Anzahl in Österreich von 18 (2014), 17 (2015) seit 2016 (28) massiv und hält sich seither über 30 pro Jahr (2017: 36, 2018: 41, 2019: 39, 2020: 31) (Quelle: https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten).

Weiter unten werden wir uns mit den Ursachen für Femizide und deren Anwachsen beschäftigen. In jedem Fall liegt eine enge Verbindung zum Rechtsruck nahe, der 2017 zur Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung und damit zu Kürzungen in der Sozialpolitik führte, aber auch mit einem staatlich sanktionierten politischen, gesellschaftlichen und ideologischen frauenfeindlichen Rollback einherging.

Für die EU insgesamt lässt sich von 2015 – 2018 ein leichtes Absinken von Morden an Frauen von 0,75 auf 0,69 je 100.000 Einwohnerinnen feststellen, allerdings mit bedeutenden Unterschieden zwischen verschiedenen Ländern (https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do). Da es auch in Europa in etlichen Staaten keine gesonderten Statistiken für Femizide gibt, muss die Entwicklung der Frauenmorde insgesamt auch als Indikator für deren Umfang und für einen Vergleich betrachtet werden. Wo Daten vorliegen, wird immer auch deutlich, dass, global betrachtet, Morde durch Partner und Verwandte einen signifikanten Anteil darstellen, oft zwischen der Hälfte und einem Drittel.

In Europa bewegen sich Länder wie Italien, Spanien, Schweden oder die Niederlande über mehrere Jahre bei rund 0,5 Frauenmorden pro 100.000 Einwohnerinnen. Selbst dieser vergleichsweise „niedrige“ Anteil darf aber nicht vergessen lassen, dass wir in beiden Staaten noch immer von weit mehr als 100 Morden pro Jahr sprechen! Länder wie Deutschland, Frankreich oder auch Österreich gehören, betrachten wir den Anteil von Frauenmorden an der Bevölkerung, zum unrühmlichen europäischen Durchschnitt mit Schwankungsbreiten um die 0,6 bis 1 Frau(en) je 100.000 Einwohnerinnen. Besonders hohe Raten weisen über Jahre hinweg Länder wie Russland, Lettland, Litauen, Ukraine auf mit 1,5 bis 4 ermordeten Frauen und Mädchen pro 100.000 Einwohnerinnen auf (siehe: https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do und https://dataunodc.un.org/content/homicide-country-data).

Weit weniger statistisches Material steht für Asien und Afrika zur Verfügung. So finden sich z. B. in der UN-Datenbank zur Kriminalität (https://dataunodc.un.org/content/homicide-country-data) keine offiziellen statistischen Berichte aus dem Iran, Pakistan oder der Volksrepublik China, um nur einige bevölkerungsreiche Staaten zu nennen. Außerdem fehlen auch hier häufig Differenzierungen zwischen Morden an Frauen im Allgemeinen und Femiziden durch Partner und Verwandte. Grundsätzlich weisen aber viele Länder hohe bis sehr hohe Zahlen auf. Eine der höchsten weltweit finden wir in Südafrika: 2018 waren es 2.771 oder 9,46 Frauen pro 100.000 Einwohnerinnen. Indien weist z. B. in den Jahren 2015 – 2020 Raten von 2,47 (2020) bis 2,81 Frauen je 100.000 auf, was rund 17.000 Morden pro Jahr entspricht.

Vergleichsweise umfangreiches Datenmaterial und eine reichhaltige Literatur existiert in Lateinamerika. Dies hat zwei Gründe. Zum einen spiegelt es das Ausmaß des Problems wider, zum anderen aber die Existenz großer und politisch dynamischer Frauenbewegungen auf dem Kontinent, die seit Jahren den Kampf gegen Gewalt an Frauen ins Zentrum ihrer Tätigkeit rücken.

Die folgende Statistik gibt die Zahl der Femizide und Feminizide (nicht aller Frauenmorde) in Lateinamerika, der Karibik und Spanien im Jahr 2020 wieder. Darin zeigt sich ein besonders hoher Anteil pro 100.000 Einwohnerinnen in den Staaten Zentralamerikas und der Karibik. In absoluten Zahlen springt das schiere Ausmaß der Verbrechen in Brasilien und Mexiko in Auge.

Lateinamerik, Karibik und Spanien (19 Länder): Feminizide und Femizide, letztes verfübares Jarh (in absoluten Zahlen und Werten pro 100.000 Frauen), Quelle: CEPALSTATS, 2020 (aus: Alejandra Santillana Ortíz, Flora Partenio und Corina Rodríguez Enríquez, Feministische Überlegungen zur Gewalt, Buenos Aires 2021, Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Die Broschüre „Feministische Überlegungen zur Gewalt“, der die Tabelle entnommen wurde, führt darüber hinaus auch an, dass die Zahl der Morde wie generell die Gewalt gegen Frauen in der Pandemie deutlich zugenommen haben: „Zwischen Januar und Juli 2020 wurden in Mexiko 2.240 Frauen ermordet, was im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr 2019 (laut dem Exekutivsekretariat des Nationalen Systems zur öffentlichen Sicherheit Mexikos) einen Anstieg von 7,7 % bedeutet; in Ecuador gab es zwischen dem 1. Januar und dem 16. November 2020 insgesamt 101 Femizide (darunter 5 Transfeminizide); in Argentinien belief sich die Zahl auf 168.“ (Feministische Überlegungen zur Gewalt, S. 46)

Als Ursachen führen die Autorinnen die Isolation der Frauen im privaten Haushalt während der Lockdowns, aber auch die zunehmende Gewalt gegen obdachlose, auf der Straße lebende Frauen, Sexarbeiterinnen und trans Menschen an.

Bemerkenswert an den Zahlen zu Femiziden und Feminziden in Lateinamerika und der Karibik ist schließlich auch ein Vergleich zur Lage in den USA. In den Jahren 2015 – 2020 fielen dort je 100.000 Einwohnerinnen 0,8 bis 0,84 Frauen einem häuslichen oder verwandtschaftlichen Femizid zum Opfer, allein 2020 waren das 1.420. Pro 100.000 Einwohnerinnen lag die Zahl der Frauenmorde in diesem Zeitraum konstant über der Zahl 2, betrug in absoluten Zahlen nie weniger als 3.333 (2015).

Auch wenn Daten bezüglich der Zunahme von Frauenmorden und Femiziden während der Pandemie bisher nur lückenhaft vorliegen, so dürften die signifikanten Zunahmen, wie sie sich in Mexiko zeigen, auch für die meisten anderen Länder und Regionen gelten, vor allem für die halbkoloniale Welt. Das legen andere Untersuchungen oder Belege für die Zunahme von häuslicher Gewalt nahe, die sich auch in der massiven Zunahmen von Notrufen ausdrückt. Zweitens haben wirtschaftliche Krise und Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 generell die Ursachen von Gewalt gegen Frauen und von Femiziden verschärft und erstere zugleich stärker an den Haushalt gefesselt.

Erklärungen und Ursachen

Zu Recht verweisen viele linke Feminist:innen und Aktivist:innen der Frauenbewegung darauf, dass die Beschränkung auf Femizide, partnerschaftliche („intime“) und verwandtschaftliche Morde zwar eine erschreckende und extreme Form häuslicher, patriarchaler Gewalt zum Vorschein bringt. Betrachten wir jedoch nur diese, verengt dies den Blick. Ein beträchtlicher Teil intentionaler Morde findet außerhalb dieser familiären Sphäre statt. Dies betrifft im Besonderen rassistisch, ethnisch oder nationale Unterdrückte und im Allgemeinen Frauen und Mädchen in den halbkolonialen, vom Imperialismus ausgebeuteten Ländern sowie Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität marginalisiert werden.

Familie, Geschlechterrollen, Akkumulation

Doch betrachten wir zunächst den intimen, partnerschaftlichen oder verwandtschaftlichen Femizid. Er findet an einem bestimmten gesellschaftlichen Ort, im Rahmen einer bestimmten Institution statt: der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung (z. B. der intimen Partner:innenschaft). Der Femizid bildet dabei häufig den Endpunkt einer langen Reihe von „partnerschaftlicher“ Gewalt und Missbrauch. Gewalt und Unterdrückung sind grundsätzlich der Familie inhärent, sei es als unmittelbares, „privates“ Verhältnis zwischen männlichen Tätern und weiblichen Opfern, sei es als Ort der Vermittlung und Rechtfertigung der Normen, Regeln, moralischen Werte und Geschlechterrollen. Doch das enthebt uns nicht der Notwendigkeit, zwischen der Ausprägung, Form und Ursache zwischen verschiedenen Klassen vor dem Hintergrund verschiedener gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gesamtlagen zu unterscheiden. Nur so können wir historisch spezifische Veränderungen begreifen und den Kampf gegen Femizide als extremsten Ausdruck von Gewalt gegen Frauen zielgerichtet führen.

Zunächst unterscheiden sich die Familien verschiedener Klassen. Jene der herrschenden genießen natürlich das Privileg, dass für sie kein Arbeitszwang existiert. Alle ihre Mitglieder leben von der Aneignung der Arbeit anderer – und können auch im privaten Haushalt andere für sich arbeiten lassen.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt sich das grundlegend anders dar. Der Mann oder Familienvater fungiert, jedenfalls dem Anspruch nach, als Ernährer, der den größten Teil des Haushalts- oder Familieneinkommens verdient. Die Frau gilt als Hausfrau. Auch wenn diese bürgerliche Familienform für das Proletariat erst im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus etabliert wurde und nie „rein“ existierte, wurde sie zur prägenden ideellen Form und damit auch zu einem Kern reaktionärer Geschlechterrollen. Die Verallgemeinerung dieser Ideologie basiert auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Um relativ friktionsfrei und dauerhaft auch in der Klasse der Lohnabhängigen weltweit etabliert und reproduziert werden zu können, ist sie aber an einen bestimmten Stand der Akkumulation des Kapitals gebunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte diese Familienform in den imperialistischen Metropolen, in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst unter den bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen in den Halbkolonien etabliert werden, wenn auch oft nur ansatzweise. Zugleich unterhöhlte die Entwicklung der Kapitalakkumulation auch schon damals die bürgerliche Familie, weil die wirtschaftliche Expansion auch Lohnarbeiterinnen erforderte.

Dies unterminierte objektiv die Rolle des Mannes und bildete eine der Ursachen für die Entstehung der zweiten Welle der Frauenbewegung und für den Kampf um rechtliche Gleichheit sowie für die Thematisierung häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder ab Ende der 1960er Jahre. Allerdings fanden diese Veränderungen vor dem Hintergrund einer expansiven kapitalistischen Akkumulation statt, die während des sog. langen Booms die Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse und Umverteilungsspielräume ermöglicht hatte. Dies betraf sowohl Lohneinkommen und Kaufkraft als auch die Ausdehnung des Soziallohnes (staatliche Dienstleistungen, Sozialversicherung, sog. Sozialstaat).

Mit der Wende zum Neoliberalismus und der kapitalistischen Globalisierung und erst recht in den letzten Jahrzehnten veränderte sich das Bild grundlegend – und das noch einmal seit der globalen Krise 2008.

Die Arbeiter:innenklasse wuchs zwar auch unter den Bedingungen der strukturellen Krise und der Überakkumulation des Kapitals weiter. Das Wachstum der Lohnabhängigen war und ist jedoch wesentlich eines in „unsicheren“, prekären Verhältnissen oder im informellen Sektor beschäftigten Teils. Das betrifft in besonderem Ausmaß den Zuwachs an lohnarbeitenden weiblichen Arbeitskräften. Zugleich ist für immer größere Teile der Klasse der Lohn so weit gesunken, dass der Mann längst nicht mehr alleine die Familien ernähren kann. Die Lohnarbeit der Frau, oft auch der Kinder wird zur Existenzbedingung der Reproduktion der Klasse – und selbst dies reicht oft nicht einmal aus.

Hierbei handelt es sich um kein konjunkturelles Phänomen, das mit Rezessionen kommt und geht. Vielmehr führten massive Veränderungen und Angriffe zu Deregulierung, Lohnsenkungen, Privatisierungen und zur Zerstörung von sozialen Sicherungssystemen, um so dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken und die Profite vor allem des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern. Dass immer größere Teile der Arbeiter:innenklasse gezwungen sind, ihre Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen, stellt ein grundlegendes Kennzeichen der aktuellen Periode dar, vor allem für Lohnabhängige im globalen Süden und für rassistisch unterdrückte und migrantische Arbeitskräfte. Diese Entwicklung bedroht jedoch längst auch die Masse der Lohnabhängigen in den Metropolen und selbst Teile der Arbeiter:innenaristokratie.

Vor diesem Hintergrund können wir verstehen, warum häusliche Gewalt und Femizide in der gegenwärtigen Periode zunehmen, warum die strukturelle Krise des Kapitalismus sowie die Ausweitung neokolonialer, imperialistischer Ausbeutung und rassistischer Unterdrückung diese extremen Ausprägungen der Unterdrückung verstärken.

Die Krise unterminiert die Rolle des Familienoberhauptes, des männlichen Ernährers. Sein Rollenversprechen, die Familie zu versorgen, kann er, unabhängig von seinem Willen, nicht länger erfüllen. Anders als in der Periode realer ökonomischer Expansion, in der die Einkommen der Familie über das bisherige Niveau und damit die ökonomische Unabhängigkeit der Frau stiegen, ist mehr und mehr Frauen aus der Arbeiter:innenklasse dieser Weg unter den Bedingungen einer strukturellen Krise verwehrt. Sie sind wirtschaftlich enger an die familiäre Hölle gekettet.

Diese Krise der Familie, aus der es aufgrund sinkender Einkommen und der Zerstörung öffentlicher und sozialer Versorgungseinrichtungen kein Entkommen gibt, bildet die strukturelle Basis für die Zunahme häuslicher Gewalt bis hin zum Femizid in der proletarischen Familie oder Partner:innenschaft. Während der Kapitalismus die ökonomischen Grundlagen der Arbeiter:innenfamilien (und auch jener der armen Bauern und Bäuerinnen und unteren Schichten des Kleinbürger:innentums) und damit auch die damit einhergehenden Geschlechterrollen, die Charaktermasken der Familienmitglieder unterminiert, in die sie hineingeboren und hinein sozialisiert werden, verunmöglicht er eine Auflösung dieses Widerspruchs. Die bürgerliche Gesellschaft selbst erweist er sich als größtes Hindernis, diese unhaltbare Form zu überwinden. Einen fortschrittlichen Ausweg bietet hier nur der Kampf der Lohnabhängigen und vor allem der proletarischen Frauen. Wo diese Perspektive fehlt, dringt der Widerspruch, in dem die Familie gefangen ist, in Form „privater“ Gewalt an die Oberfläche. Der Mord bildet die ultimative, extremste Form, worin der demoralisierte, in seiner eigenen Rolle versagende Ernährer sich selbst und seiner Frau noch einmal seine „Überlegenheit“ beweist.

Hier wird deutlich, wie eng der Kampf gegen Femizide und häusliche Gewalt mit der kapitalistischen Krise zusammenhängt – und warum dies besonders die ärmsten, am stärksten unterdrückten und ausgebeutetsten Teile der Arbeiter:innenklasse betrifft. Die barbarisierenden Tendenzen der gegenwärtigen strukturellen Krise manifestieren sich auch in der Zunahme von Femiziden. Die Krise, die wesentlich auch eine Krise der Reproduktionsbedingungen der Klasse ist, befördert natürlich die Zunahme von Gewalt und ihrer Extremform, von Chauvinismus und Sexismus. Dies stellt jedoch keinen Automatismus dar, der unabhängig von Bewusstsein, vom Organisationsgrad und der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse vor sich geht. Ob sich die reaktionären Tendenzen durchsetzen, ob sie zur Vertiefung der Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten führen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Klasse im Kampf gegen Femizide und ihre tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu vereinen.

Liberalismus und Rechtsruck

Der Kapitalismus erzeugt nicht nur die prekären Verhältnisse, er wirkt zugleich als Brandbeschleuniger – und zwar nicht nur beim Abbau sozialer Leistungen und bei der immer weiteren Durchsetzung neoliberaler Angriffe.

Für den „demokratischen“, liberalen Flügel der Bourgeoisie und große Teile des bürgerlichen, westlichen Feminismus’ erscheint die Zunahme von Femiziden und häuslicher Gewalt vor allem als ein Phänomen der Rückständigkeit der Männer. Unbestreitbar lässt sich dies bei den Motiven der einzelnen Täter erkennen. Das Problem des bürgerlichen Feminismus besteht jedoch darin, diese Rückständigkeit bis hin zum offenen Frauenhass nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, sondern als individuelle Eigenschaft und persönlichen Mangel an Bildung, Aufklärung und „Kultur“. Als Täter und Tatorte erscheinen daher vorzugsweise „verrohte“, proletarische oder subproletarische Männer und angeblich „rückständige“ Länder und Glaubensgemeinschaften.

Daher präsentieret liberaler, bürgerlicher Feminismus westliche Demokratie und Marktwirtschaft als Lösung zur Bekämpfung von Femiziden. Er individualisiert dabei im Grunde das Problem. Der Femizid erscheint als individuelle Gewalttat. Natürlich ist er auch immer eine solche. Dies leugnen weder Marxist:innen noch linke Feminist:innen. Aber der wesentliche Unterschied besteht darin, dass es diesen darum geht, nicht nur den Blick auf die einzelne Tat zu richten, sondern auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang.

Dieser wird von bürgerlich-liberalen oder selbst von bürgerlich-reformistischen Kräften allenfalls als zusätzlicher Nebenfaktor in Betracht gezogen, in der Regel ausgeblendet. Und das aus gutem Grund. Würden die gesellschaftlichen Ursachen betrachtet, so müssten auch die Profiteur:innen dieser Verhältnisse, die großen (und auch kleineren) Ausbeuter:innen, vor allem aber die großen kapitalistischen Konzerne, ihre Regierungen und Institutionen, die für die Verelendung der proletarischen Männer und Frauen verantwortlich sind, ins Visier genommen werden. Da der bürgerliche, liberale Feminismus jedoch selbst auf dem Boden dieser Ausbeutungsverhältnisse und imperialistischen Ordnung steht, also den Klassenstandpunkt des Kapitals einnimmt, muss er sich notwendig als unfähig erweisen, die tieferen Ursachen von Femiziden zu begreifen. Im Gegenteil: Er muss letztlich jene gesellschaftlichen Verhältnisse beschönigen und verteidigen, die immer wieder erst systematische Gewalt gegen Frauen und Femizide hervorbringen.

Doch damit nicht genug. Im Zuge der Krise und Unterminierung der Familien und ihrer Rollenbilder tritt auch eine reaktionäre, bürgerliche und kleinbürgerliche Gegenoffensive als Teil eines generellen Rechtsrucks auf den Plan.

Von dieser geht zwar in der Regel niemand so weit, individuelle Femizide offen zu rechtfertigen. Wohl aber verklären Rechte und reaktionäre, antifeministische Kräfte sie zur Reaktion auf die Zerstörung der angeblich natürlichen Rolle des Mannes (und der Frau). „Feminismus“, „Genderwahn“, feministische und Frauenbewegungen sowie der Queer-Aktivismus hätten gewissermaßen die natürliche Ordnung der Dinge zerstört, würden die „normalen“ Männer (und Frauen) unterdrücken und an den Rand drängen, die an ihren tradierten Normen, ihrer Arbeitsteilung, Lebensweise samt einer gewissen Dosis Machismus und Sexismus festhalten wollten.

Diese Ideologie, dieses „Narrativ“ stellt die Realität nicht nur auf den Kopf. Sie blendet zugleich auch die wirklichen Ursachen für die Unterminierung der bürgerlichen Familien durch Kapital, Markt und Konkurrenz aus. Auch das ist kein Zufall. Verschiedenste rechtspopulistische, rechtskonservative und rechtsextreme Kräfte, ob nun Trump oder Bolsonaro, AfD, FPÖ, Identitäre oder reaktionäre Islamisten, vertreten einen aggressiven Antifeminismus. Zugleich verteidigen sie die Marktwirtschaft – und sei es in einer idealisierten, kleinbürgerlichen, nationalistischen oder völkischen Version.

Die durchaus reale Krise der Familie und damit verbundene Unterhöhlung der tradierten Geschlechterrollen werden nicht als Resultat der Entwicklungslogik des Kapitalismus begriffen. Sie erscheinen vielmehr als Ausdruck des Angriffs auf das natürliche, vorgeblich harmonische Verhältnis zwischen Mann und Frau. Der Femizid wird folglich als allenfalls tragisches Resultat des „widernatürlichen“ Angriffs auf eine angeblich natürliche Ordnung verstanden, ja letztlich entschuldigt.

Die reaktionäre Kur ist auch einfach: Rückkehr zur tradierten Ordnung! Würden sich Frauen gemäß ihrer natürlichen Rolle verhalten, gebe es, dieser Sicht zufolge, auch keinen Grund mehr für Männer, auszurasten oder ihre Liebste in Rage zu bringen.

Ergänzt wird dieses Narrativ v. a. im Westen durch einen guten Schuss Rassismus, indem zwischen Femiziden von Männern der eigenen imperialistischen Nation und jenen der „rückständigeren“ Völker unterschieden wird. Unter weißen deutschen oder US-Amerikaner:innen stellt demzufolge der Femizid letztlich die Tat eines Einzeltäters, vorzugsweise aus „zerrütteten“, asozialen Verhältnissen dar. Der gute Deutsche behandelt seine Frau trotz ständigen feministischen Kulturkrieges und Genderwahns gut. Solche moralische Höhe attestiert die politische Rechte freilich nur der herrschenden Nation. Bei migrantischen Männern, Schwarzen oder Muslimen liegt die Sache anders. Sie mordeten, weil sie rückständig und letztlich Menschen 2. Klasse seien. Dieser Rassismus verträgt sich nicht nur gut mit Imperialismus und Sozialchauvinismus. Er bildet zugleich eine ideologische Brücke zu bürgerlich-feministischen Kräften.

Die rechten Strömungen begnügen sich freilich längst nicht damit, reaktionäres Gedankengut zu verbreiten und ebensolche Forderungen zu stellen. Sie verklären und verharmlosen nicht nur die Ursachen von Femiziden. Sie begünstigen diese aktiv, indem sie ein entsprechendes politisch-ideologisches Klima schaffen. Indem sie das patriarchale Familienoberhaupt, dessen reaktionäre, unterdrückerische Rolle durch den Kapitalismus selbst unterminiert wird, zu einem „Opfer“ stilisieren, proklamieren sie zugleich deren Wiederherstellung als zentrales Ziel. Damit nehmen sie nicht nur in Kauf, dass manche Männer dies als zusätzliche Rechtfertigung ansehen, die Wiederherstellung der „Ordnung“ in die eigene Hand zu nehmen. Sie agieren auch als Bewegung, die sich den Rollback von Frauenrechten auf ihre Fahnen schreibt und aggressiv durchzusetzen versucht. Darüber hinaus begünstigen etliche dieser Bewegungen direkt bestimmte Formen von Femiziden, die außerhalb der Sphäre von Partnerschaft, Familie und Verwandtschaftsbeziehungen stattfinden.

Feminizide im Herrschafts- und Kapitalinteresse

Bisher haben wir uns mit partnerschaftlichen, intimen und verwandtschaftlichen Femiziden beschäftigt. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Der Täter will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Diese Form der Frauenmorde bildet aber nur einen großen Teil aller Femizide/Feminizide. Einen zweiten, großen Bereich stellen solche dar, die zur Durchsetzung eines Ausbeutungs- und/oder Herrschaftsinteresses außerhalb der Familie, Parter:innenschaft oder Verwandtschaftsbeziehung begangen werden.

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen an andere zu senden. Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher:innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter, wenn schon nicht persönlich, so doch als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder der Mord an Frauen soll in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird, dies auch allen anderen droht. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute immer wieder in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese – in einigen Ländern Afrikas mit Zutun von evangelikalen Sektenführern – der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über, die dieses anderweitig nutzen wollen, für eine Produktion, die weniger auf Selbstversorgung, sondern einen städtischen oder globalen Markt ausgerichtet ist. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird. Er wird in der Regel öffentlich vollzogen.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen sucht oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter:innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgt.

Wie beim Mord durch die Bande ist der Feminizid hier eng mit der Etablierung der gewalttätig oder auch ideologisch abgesicherten Vorherrschaft der Täter über eine bestimmte Gemeinschaft verbunden.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Anderer Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen, z. B. an Muslima in Indien durch rechte und protofaschistische Hindufundamentalisten. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner:innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetztes Mittel im Krieg und Bürger:innenkrieg dar.

Die Verknüpfung von Feminiziden mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Die Veröffentlichung von Berichten und Zahlen ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungene/n öffentliche/n Untersuchungen. Das 2021 erschienene Buch „Feminizide and global accumulation“ dokumentiert exemplarisch wichtige Beispiele und Kämpfe, die auf einer internationalen feministischen Konferenz dargestellt und diskutiert wurden. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid im Interesse von Kapital und reaktionären Kräften politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide, ihr Ausmaß und ihre Ursachen dürfen nicht nur nicht relativiert oder weggeredet werden, sie müssen vielmehr in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter:innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter:innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, also Bau und Errichtung von Frauenhäusern, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit letzteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter:innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung um diese Kämpfe aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen (Ausbeutung bestimmter Arbeitskräfte, gewaltsame Aneignung von Ressourcen wie Grund und Boden) steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter:innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte des Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.




25. November: Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1170, 25. November 2021

Der 25. November ist der internationale Tag gegen Gewalt an Frauen, der seit 1981 jährlich zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt jeder Form gegenüber Frauen und Mädchen abgehalten wird. Ob Femizide, Zwangsheirat, Vergewaltigungen, Zwangsprostitution, häusliche Gewalt oder sexuelle Belästigung – die Liste, wie diese Gewalt aussehen kann, ist unendlich lang. Daraus lässt sich erahnen: Wir haben es mit dem bitteren Alltag unserer Gesellschaft zu tun. Diese Manifestationen von Unterdrückung sind an allen Orten anzutreffen, auch wenn Frauen aus den ärmeren Schichten noch einmal verstärkt betroffen sind. Laut der Hilfsorganisation WHO stellt diese Gewalt gegen Frauen eines der größten Gesundheitsrisiken weltweit und laut UNICEF die häufigste Menschenrechtsverletzung dar.

Auswirkungen der Pandemie

Ob beruflich oder privat, durch die Corona-Pandemie hat sich die Lage von Frauen nochmals massiv verschlechtert. Allgemein gilt: Frauen sind die großen Verliererinnen. Ein Satz, der nicht nur für Deutschland oder Europa, sondern weltweit gilt. Im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wurden teilweise ganze Branchen wie die Gastronomie oder andere Dienstleistungsbereiche stark heruntergefahren oder sogar zeitweise ganz geschlossen. Doch diese für den Gesundheitsschutz notwendigen Maßnahmen gingen nicht mit voller sozialer Absicherung der Beschäftigten einher, in vielen Ländern gab es überhaupt keine.

Dies betraf vor allem Frauen, da deren Anteil in diesen Berufen doch überdurchschnittlich hoch ist. In Deutschland beispielsweise beträgt dieser rund 64 %. Laut dem WEF (World Economic Forum; Weltwirtschaftsforum) verdienen Frauen weltweit durchschnittlich nur 68 % dessen, was Männer für dieselbe Arbeit erhalten würden. In den Ländern mit der geringsten Kaufkraftparität sind es sogar nur 40 %. Auch hier hat die Pandemie die Situation für Frauen deutlich verschlechtert. Erste Untersuchungen deuten bereits darauf hin, dass das Lohn- und Gehaltsgefälle sich im Zuge der Pandemie um 5 % vergrößert hat.

Doch insbesondere der Anstieg der Gewalt gegen Frauen innerhalb der Pandemie ist erschreckend.

So nahmen während des ersten Lockdowns mit Ausgangssperren in Frankreich die Fälle häuslicher Gewalt um 30 Prozent zu. In Spanien stiegen sie in den ersten beiden Aprilwochen 2020 bei der  spanischen Hotline für häusliche Gewalt um 47 %. Und in Deutschland?

Hierzulande listet die Statistik des BKA für das vergangene Jahr 2020 148 031 Opfer von Partnerschaftsgewalt auf. Das ist eine Steigerung um 4,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt waren  80,5 Prozent der Betroffenen weiblich und 139 Frauen sind im Zuge der erlebten Partnerschaftsgewalt gestorben. Beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ hat die Pandemie deutlichere Spuren hinterlassen als in der Statistik des BKA. Petra Söchting, die Leiterin des Hilfetelefons, spricht von insgesamt 51 400 Beratungen im vergangenen Jahr, 15 Prozent mehr als 2019. Die Zahl der Beratungen speziell zu Gewalt in Partnerschaften sei sogar um 20 Prozent gestiegen. Im ersten Lockdown habe es einen deutlichen Anstieg gegeben, seither lägen die Anfragen auf durchgehend hohem Niveau.

Gleichzeitig muss bewusst sein, dass die Dunkelziffer der erlebten Gewalt höher auszufallen hat. Denn die Lockdowns im Rahmen der Pandemie haben es auch schwerer gemacht, sich an Hilfestellen zu wenden, da die Überwachung und Kontrolle durch die Gewalt ausübenden Partner stärker geworden ist. Insgesamt werfen die Zahlen aber folgende Fragen auf: Woher kommt die Gewalt gegen die Frauen, die so allgegenwärtig ist? Und warum hat sich die Situation mit der Pandemie so drastisch verschlechtert?

Wurzel der Gewalt

Wichtig zu verstehen ist, dass Gewalt gegen Frauen keine Frage der Bildung ist. Wenn dem so wäre, dann würde sie nur in einem gewissen Teil der Gesellschaft zu finden sein und könnte allein durch Aufklärungsarbeit verschwinden. Ebenso wenig weit bringt uns die Erklärung, dass Gewalt gegen Frauen in der „Natur“ von Männern liegt. Wäre dass der Fall, müsste man entweder Männer isolieren – oder die Gewalt hinnehmen. Problematisch an beiden Erklärungsversuchen ist ebenso, dass Gewalt gegen Frauen oftmals als individuelles Problem erscheint. Doch dem ist nicht so.  Gewalt gegen Frauen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und hat eine reale Basis.

Aus marxistischer Sicht ist eine der Hauptursachen von Frauenunterdrückung die dem Kapitalismus innewohnende Trennung von gesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktionsarbeit. Diese schafft neben schlechterer Position für Frauen auf dem Arbeitsmarkt (s. o.) Abhängigkeiten – beispielsweise vom Lebenspartner oder Ehemann. Wesentlich zur Aufrechterhaltung der Unterdrückungsverhältnisse tragen subtil wirkende gesellschaftliche Mechanismen bei wie z. B. geschlechtsspezifische Sozialisierung und damit die Reproduktion stereotyper Verhaltensweisen. Es sind eben keine natürlichen Vorprägungen, die automatisch für geschlechtliche Unterdrückung verantwortlich sind. Physische Gewalt ist dabei „nur“ ein Extrem, die sichtbare Spitze des Eisberges von (Frauen-)Unterdrückung.

Die Gewalt gegen Frauen im Zuge der Pandemie ist dabei aufgrund verschiedener Faktoren gestiegen: Zum einen haben der Jobverlust sowie die sinkenden Einkommen Frauen ökonomisch an die Familie gebunden. Das verstärkt die Abhängig vom Ort, an dem man Gewalt erfährt. Das bindet sie ökonomisch stärker an die Familie, macht sie schutzloser gegenüber häuslicher Gewalt. Zusätzlich steigt die reproduktive Arbeit, die im Haushalt getätigt werden muss, was die Doppelbelastung der Frauen erhöht. Sie werden also unter Bedingungen einer kapitalistischen Krise, die durch die Pandemie verstärkt wird, mehr in die klassische, reaktionäre Geschlechterrolle gedrängt.

Der Kampf gegen Gewalt

Der Kampf gegen Gewalt muss sich daher auch gegen die Ursachen der Unterdrückung wenden. Das heißt, dass wir für die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen sowie die Beendigung der geschlechtlichen Arbeitsteilung kämpfen müssen. Praktisch bedeutet das zum einen, für gleichen Lohn für gleiche Arbeit einzustehen sowie für ein Mindesteinkommen, das an die Inflation angepasst wird. Das beugt der oben beschriebenen ökonomischen Abhängigkeit vor und ermöglicht, dass Frauen sich besser von Gewalttätern trennen zu können sowie weniger von Altersarmut betroffen sind. Gleichzeitig werden damit Hindernisse für die gleiche Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben reduziert.

Zum anderen ist eine zentrale Forderung die Vergesellschaftung der Hausarbeit. Diese dient dazu, Frauen aus der Doppelbelastung durch Lohn- und unbezahlte Hausarbeit zu befreien, aber auch die geschlechtliche Arbeitsteilung zu beenden, so dass Hausarbeit nicht mehr unbezahlt im Privaten stattfindet, sondern gesamtgesellschaftlich organisiert wird. Praktische Schritte in diese Richtung wären beispielsweise die Einrichtung von kostenlosen Kantinen und Waschküchen, der flächendeckende Ausbau von Kindergärten mit massiver Aufstockung von Personal. Eine vollständige Vergesellschaftung der Hausarbeit wird im Kapitalismus jedoch nie möglich sein. Dieses Ziel muss daher mit dem Kampf gegen den Kapitalismus selbst verbunden werden.

Daher gilt es, den Kampf gegen Gewalt an Frauen mit sozialen, klassenspezifischen Forderungen und dem für die Vergesellschaftung der Hausarbeit zu verbinden:

  • Organisierte Selbstverteidigung von Frauen gegen sexistische und sexualisierte Übergriffe auch gemeinsam mit anderen unterdrückten Gruppen und der ArbeiterInnenbewegung! Keine Frau darf der Gefahr von Vergewaltigung und Missbrauch ausgeliefert werden!
  • Massiver Ausbau von Schutzräumen und Beratungszentren für Betroffene häuslicher und sexistischer Gewalt und familiärer Unterdrückung, auch für geflüchtete Frauen! Finanzierung dieser Maßnahmen durch den Staat! Selbstverwaltung und Kontrolle über die Schutzräume und Frauenhäuser durch die Betroffenen!
  • Gegen alle kulturellen oder religiösen Praktiken, die das körperliche Selbstbestimmungsrecht von Frauen angreifen!

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Massive Erhöhung der Einkommen und Löhne der Beschäftigten in Care-Berufen, im Einzelhandel und in Niedriglohnsektoren!

  • Ausbau von Kinderbetreuungs-, Jugend- und Bildungseinrichtungen!
  • Kämpfen wir gemeinsam für die Vergesellschaftung der Hausarbeit!



Definitionsmacht – eine politische Sackgasse

Martin Suchanek, Infomail 1157, 3. August 2021

In den letzten Jahren erfreut sich das Konzept der Definitionsmacht einer immer weiteren Verbreitung in der linken Szene, vor allem unter autonomen, postautonomen und feministischen Gruppen und Zusammenhängen. Auf den ersten Blick scheint es auch Probleme im Kampf gegen sexuelle Grenzüberschreitungen, Gewalt oder Vergewaltigungen zu lösen, die uns in einer Gesellschaft auf Schritt und Tritt begegnen, in deren Grundstruktur die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen eingeschrieben ist.

Diese systematische Unterdrückung spielt sich in regelmäßiger sexueller und sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen ab. So wurde allein in Deutschland rund ein Drittel aller Frauen Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. In den letzten Jahren müssen wir zudem in vielen Ländern einen Anstieg dieser Verbrechen registrieren.

Gleichzeitig wissen wir alle, wie erniedrigend und retraumatisierend Ermittlungsverfahren und Prozesse ablaufen, wie es erst gar nicht zur Anklage gegen zumeist männliche Täter kommt oder wie oft Prozesse mit einem Freispruch mangels Beweisen enden. Opfer sexueller Gewalt erleben ihre Erniedrigung, Misshandlung, Vergewaltigung gewissermaßen ein zweites Mal. Die oft sexistischen Strukturen bei Ermittlungsbehörden, bei Staatsanwaltschaft und Polizei sowie vor Gericht führen dazu, dass viele Opfer die Tat erst gar nicht zur Anzeige bringen. Hinzu kommt, dass Frauenfeindlichkeit und Sexismus auch das vorherrschende Bewusstsein prägen, so dass v. a. Formen häuslicher Gewalt erst gar nicht als sexuelle oder gewaltsame Übergriffe erscheinen, auch wenn dies rechtlich anerkannt ist.

Grundannahme der Definitionsmacht

Angesichts dieser Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft erscheint das Konzept der Definitionsmacht als Lösung oder zumindest als klare Kräfteverschiebung zugunsten der Opfer, die ansonsten ungehört und nicht anerkannt bleiben. Auch wenn sich die VertreterInnen dieses Konzepts in etlichen Punkt, z. B. hinsichtlich dessen Reichweite oder der Konsequenzen, unterscheiden, so gibt es einen grundlegenden gemeinsamen Ausgangspunkt:

Nur die betroffene Person kann definieren, ob wann und welche sexuelle Grenzüberschreitung stattgefunden hat.

So heißt es beispielsweise in einer zusammenfassenden Darstellung:

„1. Definition durch Betroffene

Sexualisierte Gewalt ist das, was ein betroffener Mensch als solches erlebt.

Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, was sexualisierte Gewalt ist und was nicht.

Insbesondere sollte kein_e Betroffene_r irgendwem Details mitteilen müssen, wenn sie oder er es nicht selbst möchte.

Details sind nicht nötig, um irgendwem zu glauben oder sich „ein Bild machen“ zu können.

Es sollte ausreichen, wenn Betroffene definieren, was passiert ist und was für einen Umgang sie sich damit wünschen.“

(Thesen zur Definitionsmachtsdiskussion; https://www.kommunikationskollektiv.org/wp-content/uploads/2014/07/Thesen-zur-Definitionsmachtsdiskussion-bei-Koko.pdf)

Oder in einem anderen Papier: „Dieses Konzept sieht vor, dass die betroffene Person die einzige Person ist, welche definieren kann, wann ein Übergriff oder eine Grenzüberschreitung stattfindet. Situationen werden von Mensch zu Mensch anders wahrgenommen, deshalb kann es keine allgemeingültige Definition eines Übergriffs geben.“ (https://awarenetz.ch/wp-content/uploads/2018/07/Glossar.pdf)

Die Tatdefinition der Betroffenen gilt also als gleichbedeutend mit der Definition der Tat selbst. Es geht also nicht nur um die berechtigte und unserer Meinung nach selbstverständliche Forderung, die subjektive Einschätzung und das Empfinden des Opfers als solches anzuerkennen. Vielmehr geht es bei der Definitionsmacht darum, das subjektiv Erfahrene oder Erlebte zu einer allgemeinen Bestimmung zu machen, das Einzelne mit dem Allgemeinen gleichzusetzen.

Die Stärke der Definitionsmacht und ihre Attraktivität macht gerade die Betonung der Erfahrung der Betroffenen aus. Sie verspricht dadurch, das Opfer sexistischer, gewalttätiger, rassistischer, sozial stigmatisierender Handlungen ein Stück weit aus seiner real erlebten und empfundenen Ohnmacht zu erheben. Auch wenn diese Machtumkehr nur auf individueller Ebene stattfindet und noch keine Perspektive der Abschaffung der Gewalt an sich inkludiert, kann man leicht nachvollziehen, dass sie als situativ hilfreiches Mittel wahrgenommen wird, auch wenn sie sich längerfristig und grundsätzlich als problematisches Mittel darstellt.

Hinzu kommt, dass sie das Opfer keinen Befragungen und Nachfragen aussetzt. Gerade angesichts des sexistischen und rassistischen Charakters von Polizei, Justiz und aufgrund der vorherrschenden Ideologie erspart das den Betroffenen tatsächliche weitere Verletzungen, jedenfalls solange der Wirkungsrahmen der Definitionsmacht auf außergerichtliche Auseinandersetzungen und ein bestimmtes Submilieu der Gesellschaft, eine Szene, begrenzt bleibt.

Subjektivismus und Relativierung

Den VerteidigerInnen der Definitionsmacht ist durchaus bewusst, dass diese auch dazu führen kann, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt und verurteilt werden. Sie verweisen jedoch darauf, dass der allen Untersuchungen zufolge relative geringe Prozentsatz von falschen Beschuldigungen bedeutet, dass dieser Nachteil durch den Vorteil einer Stärkung der Opfer wettgemacht würde. Hinzu kommt, dass die Anwendung der Definitionsmacht in der Regel auf linke Milieus beschränkt wird und das Verhältnis zur bürgerlichen Gerichtsbarkeit und Staatlichkeit dabei merkwürdig unreflektiert bleibt. Bevor wir jedoch darauf näher eingehen und den Rückfall der Definitionsmacht hinter bürgerliche Rechtsvorstellungen betrachten, müssen wir noch ein anderes Problem betrachten, das sich aus der inneren Logik des Konzepts selbst ergibt.

Gemäß ihm wird die Tat, deren Charakter und Umfang nur vom Opfer bestimmt. Die inkludiert aber auch, dass die Tat selbst gemäß der jeweiligen subjektiven Definition relativiert wird, sobald verschiedene Opfer einer bestimmten Tat verschiedene Definitionen zugrunde legen. Nehmen wir an, dass drei verschiedene Betroffene Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, dass diese drei jedoch verschiedene Definitionen von Vergewaltigung vertreten.

  • Opfer A definiert das Nichtbeachten eines Ja = Ja als Vergewaltigung
  • Opfer B definiert das Ignorieren eines klaren Nein als Vergewaltigung
  • Opfer C definiert nur einen physisch erzwungenen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung

Nehmen wir weiter an, die Täter hätten gegenüber den Opfern A bis C denselben Übergriff begangen. Nehmen wir an, alle drei Täter haben das Ja = Ja nicht beachtet, wohl aber ein klares Nein akzeptiert. So würde Opfer A die Tat als Vergewaltigung definieren, die Opfer B und C nicht.

Die Parameter für obiges Beispiel sind recht einfach definiert. Das reale Leben kennt jedoch noch viele Abstufungen zwischen diesen, die zeigen, dass die Definition im Einzelfall nicht so einfach ist. Wenn wir den Ausgangspunkt der Definitionsmacht zugrunde legen, dass letztlich das jeweilige Opfer definiert, ob ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung stattfand, so erhalten wir im obigen Beispiel 3 Definitionen und je mehr wir differenzieren, umso mehr ergeben sich.

Wenn wir die Definitionsmacht ernst nehmen und in ihren Konsequenzen zu Ende denken, so bedeutet das nicht nur, dass das Opfer Tat und Täter definieren kann, es bedeutet auch, dass ein Mensch, der dieselbe Tat begangen hat, in einem Fall Täter, in einem anderen kein Täter wäre. Damit wird ihm letztlich ein Mittel zur Relativierung der eigenen Tat in die Hand gegeben.

Allgemein gültige Kriterien für eine Definition von Vergewaltigung oder eine Kategorisierung sexueller Übergriffe können wir auf Basis der Definitionsmacht nicht erhalten. Auch wenn wir in Rechnung stellen, dass die Abgrenzung verschiedener Arten   sexueller Grenzüberschreitungen schwierig ist, dass es Übergangsformen gibt, so setzt die Bezeichnung einer bestimmten Tat als schwere sexuelle Grenzüberschreitung oder gar als Vergewaltigung immer schon einen allgemein geprägten Begriff ebendieser voraus.

Nur so können andere Menschen überhaupt verstehen, was die Betroffene meint und welche Tat der Täter begangen hat bzw. was ihm vorgeworfen wird. Natürlich kann dieser Begriff selbst einem Bedeutungswandel unterzogen sein und es mag verschiedene Auffassungen über diesen geben (z. B. weitere und engere Definitionen von Vergewaltigung oder sexueller Grenzüberschreitung), aber auch diese finden im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses statt. Unwillkürlich werden andere Menschen die Bezeichnung der Tat auf ihren gesellschaftlich vorherrschenden Begriff beziehen.

Werden Vergewaltigungen oder andere Formen schwerer sexueller Grenzüberschreitungen nur noch rein subjektiv gefasst und wird ihre Bedeutung dementsprechend ausgeweitet, so werden die Begriffe notwendigerweise schwammiger und inhaltsleerer. In unserem Beispiel wären sowohl ein physisch erzwungener Geschlechtsverkehr als auch ein Nichtbeachten eines Ja = Ja eine Vergewaltigung. Der Vorwurf und die Tatbezeichnung umfassen eine so große Bandbreite, dass es Dritten unklar sein muss, was eigentlich vorgefallen ist. Je weiter der Begriff einfach subjektiv aufgeweitet wird, umso vieldeutiger würde er werden. Zugleich würde das Vergewaltigern erlauben, sich hinter diesem vagen Begriff zu verstecken. Die Definitionsmacht würde also paradoxerweise zu einer Entschuldung gerade der schlimmsten Täter beitragen. Selbst ihr Versprechen, die Opfer zu empowern/ermächtigen, würde sich als hohl und letztlich unmöglich erweisen, wenn ihre Grundsätze allgemein würden.

Die Behauptung, dass es keine objektiven Kriterien für eine Vergewaltigung geben und dass diese nur subjektiv von der Betroffenen definiert werden könne, erweist sich bei näherer Betrachtung als hochproblematisch. Aus der Tatsache, dass die Definition dieser Tat (wie jeder anderen Form sexueller Grenzüberschreitung) immer auch von gesellschaftlich vorherrschenden Normen und damit von Klasseninteresse und Patriarchat geprägt ist, folgt keineswegs, dass es daher nur eine subjektive Definition dieser Taten geben könne. Die vorherrschende Definition (auch die strafrechtliche) muss vielmehr selbst als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, des Kampfes gegen Frauen- und geschlechtliche Unterdrückung sowie des Klassenkampfes in allen seinen Dimensionen begriffen werden. Dieser Kampf verläuft bekanntlich zäh und langwierig, aber kann auch zu Teilerfolgen führen. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1992 überhaupt als Straftat rechtlich anerkannt und 2004 schließlich zu einem Offizialdelikt. Diese rechtliche Verbesserung, die auch mit einer Bedeutungsausweitung des Begriffs der Vergewaltigung einherging, wäre mit einem rein subjektivistischen Begriff nicht möglich. Folgt man der Eigenlogik der Definitionsmacht, könnte eine Vergewaltigung allenfalls ein Antragsdelikt sein, dürften Ermittlungsverfahren und Prozess erst nach Anzeige durch die Betroffenen einsetzen. Darüber hinaus lässt sich der Kampf um politische und soziale Reformen (geschweige denn um eine andere Gesellschaft) ohne verallgemeinernde Begriffe und Forderungen nicht führen.

Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn wir aus dem Kreis der Debatten in linken Szenemilieus heraustreten und das Verhältnis der Definitionsmacht zum bürgerlichen Recht und zur Gesellschaft insgesamt betrachten.

Definitionsmacht und bürgerliches Recht

Die Definitionsmacht geht notwendigerweise auch mit einer Absage an bestimmte Normen des bürgerlichen Rechts einher. Gemäß dem Grundsatz, dass nur der Betroffenen ein Recht auf die Definition der Tat zukommt, gibt es auch kein Recht auf Stellungnahme, geschweige denn auf Verteidigung für den Beschuldigten. Je nach Interpretation des Konzepts gibt es verschiedene Vorstellungen darüber, ob über etwaige Sanktionen (z. B. Ausschluss, Outing des Beschuldigten, Bedingungen eines weiteren Verbleibs im Zusammenhang) ebenfalls das Opfer oder die Gruppe entscheidet.

Solange dieser Umgang auf eine linke Kleingruppe beschränkt bleibt, so halten sich die Konsequenzen noch im Rahmen. Schließlich steht es jeder Gruppierung frei, die Kriterien für ihre Mitgliedschaft selbst festzulegen, mögen diese Umgangsnormen auch das Recht auf Verteidigung eines Beschuldigten aushebeln.

Weitaus problematischer wird es freilich, wenn dieses Prinzip über eine noch relative genau definierte Kleingruppe hinaus für ein ganzes Milieu, ein Bündnis oder eine Bewegung zur Anwendung kommen soll. Auch wenn die AnhängerInnen der Definitionsmacht oft betonen, dass sie Gültigkeit für dieses Konzept außerhalb des bürgerlichen Rechtssystems beanspruchen, so wird hier deutlich, dass es um allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit geht, die sich im Idealfall auf alle oppositionellen Kräfte und Bewegungen erstrecken und irgendwann zum vorherrschenden gesellschaftlichen Modell werden soll.

Die Definitionsmacht präsentiert sich dabei als Schritt vorwärts gegenüber dem bürgerlichen Recht. Zu Recht werden die sexistischen und frauenfeindlichen Praktiken von Ermittlungsbehörden und Gerichten angeprangert, das bürgerliche Recht als solches verdammt.

Übersehen wird dabei jedoch, dass die Definitionsmacht in Wirklichkeit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts, vor allem die Unschuldsvermutung des Beschuldigten und des Rechts auf Verteidigung gegen die Beschuldigung, zurückfällt.

Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht nicht so dramatisch. Schließlich ist die Zahl von falschen Beschuldigungen gemäß vorliegenden Untersuchungen relativ gering, so dass man falsche Verurteilungen unter „ausgleichende“ Gerechtigkeit verbuchen könnte. Dies ist aber nicht nur reichlich zynisch und unglaubwürdig für Menschen, die eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung (und damit auch von Willkür) erkämpfen wollen – es verkennt auch die grundlegenden Probleme.

Ironischerweise wird an dieser Stelle davon abstrahiert, dass Staat und Öffentlichkeit selbst einen Klassencharakter haben. Die Durchsetzung der Definitionsmacht im Rahmen des bürgerlichen Staates oder auch nur deren Akzeptanz im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs würde natürlich der herrschenden Klasse auf staatlich/rechtlicher Ebene, aber auch im Betrieb zusätzliche Möglichkeiten zum Kampf gegen die ArbeiterInnenklasse in die Hand geben.

Als revolutionäre Organisation messen wir unsere Positionen nicht daran, ob sie sich in Kleinstgruppen anwenden und praktizieren lassen, sondern ob sie dazu taugen, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuzeigen. Bezogen auf die gesamte Gesellschaft hebelt die Definitionsmacht eine historische Errungenschaft des bürgerlichen Rechts aus, nämlich das auf Verteidigung eine/r Angeklagten und auch die Unschuldsvermutung. Letztere wird zwar im bürgerlichen Recht selbst an einigen Stellen im Interesse der herrschenden Klasse – z. B. im Arbeitsrecht – relativiert. Im Strafrecht, wo der Staat als Ankläger auftritt, ist das üblicherweise jedoch nicht der Fall – und das stellt eine große und hart erkämpfte Errungenschaft dar. Würde die Definitionsmacht dort zu einem Rechtsgrundsatz werden, so würde das der staatsanwaltschaftlichen Willkür natürlich Tür und Tor öffnen. Nachdem wir wissen, dass die herrschende Klasse letztlich vor nichts zurückschreckt, um ihre Stellung zu verteidigen, wenn sie diese als gefährdet betrachtet, wäre es grob fahrlässig und dumm, ihr solche Möglichkeiten einzuräumen.

Einige VertreterInnen der Definitionsmacht behaupten ferner, dass sie mit diesem Konzept zwar nicht auf dem Boden des bürgerlichen Rechts, dafür aber auf jenem der Moral stehen. Doch auf welcher? Hat diese etwa keinen Klassencharakter? Und welchen Fortschritt soll eine Moral verkörpern, die Errungenschaften des bürgerlichen Rechts entstellt? Würde sie zu einer allgemeinen Regel, würde die Definitionsmacht schließlich keinen Schritt Richtung befreiter Gesellschaft, sondern ein Zurück zu vorbürgerlichen Zuständen darstellen, mit welcher Moral dies auch immer gerechtfertigt sein mag.

Die Definitionsmacht stellt, unabhängig von den Intentionen ihrer AnhängerInnen, ein reaktionäres Konzept dar, das die Linke und die ArbeiterInnenklasse kategorisch zurückweisen müssen.

Methodisches

Unsere Organisation hat die Definitionsmacht in den letzten Jahren abgelehnt – und wie wir gezeigt haben, aus guten Gründen. Das zentrale Problem besteht methodisch im Grunde darin, dass sie die Frage vom Standpunkt des Einzelindividuums aus betrachtet, vom Standpunkt von Opfer und Täter als Individuen, die einander gegenüberstehen. Für die Definitionsmacht besteht die Gesellschaft im Grunde aus einzelnen Individuen, deren subjektive Erfahrung wird zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit. Unterdrückte Gruppen erscheinen auf dieser Grundlage bloß als eine Menge von Menschen, die gemeinsame Merkmale teilen, die ihnen z. B. eine gemeinsame diskriminierte (oder privilegierte) Stellung zukommen lassen. Aus dieser erwächst essentialistisch, quasi als Natureigenschaft von Opfern, ein privilegierter Zugang zur Wahrheit im Sinne der Identitätspolitik (zur ausführlichen Kritik: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/03/06/identitaet-als-politisches-programm-marxismus-und-identitaetspolitik/), deren Verlängerung das Konzept darstellt.

Für den Marxismus hingegen sind Klassen oder gesellschaftlich Unterdrückte nicht einfach eine Ansammlung vieler Individuen, sondern gesellschaftlich Gruppen, die durch ihre Stellung im Gesamtzusammenhang von Produktion und Reproduktion, also im Rahmen einer gesellschaftlichen Totalität bestimmt werden. Wo die bürgerliche Wissenschaft den Klassenbegriff verwendet, so stellt dieser jeweils voneinander abgegrenzte Gruppen (z. B. von EinkommensbezieherInnen in der Soziologie) dar. Für den Marxismus hingegen ist wesentlich, dass Klassen nur im Verhältnis zu anderen Klassen begriffen werden können (also kein Kapital ohne Lohnarbeit, keine Lohnarbeit ohne Kapital). Der Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit bildet den wesentlichen, grundlegenden  Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, weil er sich auf die Stellung der Hauptklassen im Produktionsprozess bezieht. Die Pole des Gegensatzes stehen einander nicht nur gegenüber, sondern durchdringen sich auch, reproduzieren einander. Dies trifft, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch auf Unterdrückungsverhältnisse zu.

Betrachten wir Betroffene und Täter nur als einander gegenüberstehende Individuen, so verschwindet dieses gesellschaftliche Verhältnis tendenziell. Gleichwohl bestimmen diese auch die jeweilige konkrete Opfer-Täter-Relation immer schon mit, sind dieser letztlich vorausgesetzt. Opfer und Täter werden sie vor dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung. Dazu gehören auch bestimmte Vorstellungen von Opfer und Täter, bestimmte Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Bestrafung, der Arten von Strafen (Gefängnis, Folter, Todesstrafe), dem Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung der einzelnen AkteurInnen und allgemein als zu bestrafende Verbrechen anerkannter Taten.

Der Blick auf das jeweils individuelle Verhältnis von Opfer und Täter als einander ausschließende Bestimmungen hat durchaus ein gewisses Recht, solange wir nur den Einzelfall betrachten. Größere Unterdrückungszusammenhänge manifestieren sich zwar im Rahmen eines gesellschaftlichen Verhältnisses, aber natürlich ist jedes Opfer immer auch konkretes, einzelnes von einem oder mehreren konkreten Tätern. Zu Recht fordert zudem jedes Opfer auch eine individuelle Anerkennung der spezifischen Tat, eine besondere Form der Wiedergutmachung und den Schutz vor weiteren Übergriffen. Daher muss auch jeder einzelne Fall immer spezifisch untersucht werden. Dazu bedarf es auch gesellschaftlich allgemeiner, anerkannter Institutionen, um unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände Recht zu sprechen.

Linke Organisationen, ArbeiterInnenbewegung und Gesellschaft

Gesamtgesellschaftlich bedarf es daher eines Schutzes der individuellen Opfer sowie von Strafen, der Prävention und Resozialisierung bezüglich der Täter (wie im Grunde bei allen anderen Verbrechen auch). Solange die ArbeiterInnenklasse nicht die politische Macht erobert und die bürgerlichen Gerichte ersetzen kann, repräsentiert der bürgerliche Staat das gesellschaftlich Allgemeine. In der bestehenden Gesellschaft ist dieses zwar immer ein falsches Allgemeines, weil der Staat selbst ein Klassenstaat ist und die Unterdrückungsverhältnisse der Gesellschaft reproduziert.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Linken oder der ArbeiterInnenklasse die bestehenden Institutionen, Verfahren, demokratischen und materiellen Rechte von Opfern sexueller Gewalt gleichgültig sein dürfen. Im Gegenteil. Anders als vielen VertreterInnen der Definitionsmacht geht es uns nicht darum, eine besondere, für eine linke oder „fortschrittliche“ Szene oder ein bestimmtes Milieu gültige Form des Umgangs mit sexuellen Grenzüberschreitungen oder sexueller Gewalt zu schaffen.

Natürlich sollen linke Organisation oder auch ArbeiterInnenorganisationen wie Gewerkschaften strenge Regeln einführen, die sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt in den eigenen Organisationen sanktionieren – bis hin zum Ausschluss. Sie werden dabei strengere Kriterien anwenden als der bürgerliche Staat, aber sie werden bei internen Untersuchungen das Recht auf Verteidigung des Beschuldigten garantieren. Vor allem aber muss ihnen bewusst sein, dass sich ihre internen Strukturen erstens und vor allem darauf beziehen, sexistisches (und anderes rückschrittliches) Bewusstsein und Verhalten zu problematisieren und zurückzudrängen, um die gemeinsame Kampfkraft zu stärken. Das schließt auch ein, dass gesellschaftlich Unterdrückte das Recht auf eigene, gesonderte Treffen haben müssen, um den Kampf gegen Sexismus auch in den eigenen Organisationen voranzubringen. Zweitens müssen Vorwürfe von schwerem oder wiederholtem sexistischen Verhalten von Untersuchungskommissionen geprüft werden, die mehrheitlich aus Unterdrückten zusammengesetzt sind. Diese müssen darauf abzielen, vor allem die Betroffenen zu stärken, und, für den Fall einer erwiesenen Schuld, Maßnahmen in besonders erschweren Fällen ergreifen, bis hin zum Ausschluss.

Forderungen und bürgerlicher Staat

Diese Vorgehensweise in der ArbeiterInnenklasse, in sozialen Bewegungen oder in linken Organisationen sollte jedoch nicht als Ersatz für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Gesellschaft betrachtet und auch nicht damit verwechselt werden.

Wenn wir Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, uns für demokratische Reformen von Justiz, Strafrecht, finanzielle und andere materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, so nicht weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte, sondern als Teil des umstrittenen Kampffeldes für eine zukünftige Gesellschaft betrachten. Dies würde folgende Aspekte inkludieren:

a) Schutz der Opfer sexueller und sexualisierter Gewalt durch Aufbau von Frauenhäusern; Ausbau von Hilfeeinrichtungen. Diese müssten durch den Staat voll finanziert und von den betroffen Frauen und sexuell Unterdrückten selbst verwaltet werden. Die Betreuung der Betroffenen erfordert auch den massiven Ausbau und den kostenlosen Zugang zu Beratungsstellen und therapeutischen Einrichtungen, so dass die Betreuung der Opfer professionell und durch geschultes Personal erfolgen kann.

b) Kontrolle aller Schritte der Ermittlung durch VertreterInnen von Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Betroffene müssen das Recht auf Beistand von Personen ihres Vertrauens bei Befragungen und auf Ablehnung der befragenden BeamtInnen haben.

c) Wahl von LaienrichterInnen aus den Reihen von Frauenorganisationen, sexuell Unterdrückten und der arbeitenden Bevölkerung statt zumeist männlicher, weißer Berufsrichter.

d) Ausbau von Programmen zur Resozialisierung von Gewalttätern unter Kontrolle von Gewerkschaften und Frauenorganisationen.

e) Thematisierung von sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in der Erziehung, in den Betrieben, um diese zurückzudrängen, Opfer zu schützen und bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu helfen. Selbstverteidigung sowie das Caucusrecht für Unterdrückte auf allen Ebenen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung sind zusätzlich nötig.




Femizide in Österreich: Keine einzige weniger – aber wie?

Aventina Holzer, Infomail 1154, 15. Juni 2021

Mit bereits mindestens 14 Femiziden (Stand: 28.5.2021), also Morden an sexistisch unterdrückten Personen aufgrund von deren Unterdrückung (meistens von Frauen), schreibt Österreich im Jahr 2021 negativ Geschichte. Es ist eines der wenigen EU-Länder, wo regelmäßig mehr Frauen als Männer umgebracht werden. 2017 war es sogar das einzige. Was will uns aber jetzt dieser spezielle Fokus auf Frauenmorde sagen? Woran liegt die spezielle Situation in Österreich? Und vor allem: Was können wir dagegen machen?

Das Wort Femizid (lat.: femina; dt. Frau und lat.: caedes; dt. Tötung, Ermordung) kommt ursprünglich aus England (femicide) wurde dort aber eigentlich nur als Begriff für „Mord an einer Frau“ verwendet. Erst später kam eine dezidiert feministische Bedeutung dazu, die Diana Russell, eine US-amerikanische Soziologin, prägte: die „Hass-“ (auch frauenfeindliche/misogyne) Tötung einer Frau durch einen Mann. Es handelt sich zwar um eine frauenspezifische Situation, betrifft aber durchaus auch Leute, die nicht weiblich sind, oder bestimmte Frauen wegen Überschneidungen von Unterdrückung heftiger. Zum Beispiel kann eine nicht-binäre Person (also eine Person mit einer Geschlechtsidentität jenseits von „männlich“ oder „weiblich“) auch Opfer eines Femizids werden, wenn das Gegenüber die Person als weiblich wahrnimmt. Ähnliches gilt auch für Trans-Männer, also Männern, die bei der Geburt, als weiblich definiert wurden. Heftiger sind zum Beispiel aber auch Morde an Frauen mit nichtweißer Hautfarbe und Transfrauen, wo zu ihrer Unterdrückung als Frau auch noch andere dazukommen (in dem Fall Rassismus und Transphobie), was sich dann meistens in höheren Mordraten äußert.

Bedeutungen

Der Begriff „Femizid“ hat in moderner Verwendung fünf verschiedene Bedeutungen, wovon aber einige auch mehrere Interpretationen zulassen. Es gibt den soziologischen Ansatz, der sich primär mit der „Warum“-Frage von Frauenmorden beschäftigt und keine Unterscheidung darin macht, wer den Mord tatsächlich begangen hat, und eigentlich alle Tötungen an sexistisch unterdrückten Menschen betrachtet. Hier ist dann die Besonderheit hervorzuheben, dass Morde an Frauen am häufigsten im primären Umfeld verübt werden, was bei Männern überwiegend nicht der Fall ist. Weitergedacht wird diese Definition auch mit dem sogenannten „dekolonialen Ansatz“, der einen speziellen Fokus auf Gewaltverbrechen an Frauen aufgrund von (post-)kolonialen Machtstrukturen erforscht. Der Menschenrechts- und der kriminologische Ansatz sind der Versuch, eine Anleitung für bürgerliche Rechtsstaaten zu schaffen, um Femizide zu kategorisieren und Sanktionen dagegen zu verhängen. Die Definitionen sind hier deswegen für die politische Einschätzung relativ unbedeutend. Der letzte und vermutlich bekannteste Ansatz ist der feministische Femizidbegriff, der vor allem dazu dienen soll, die patriarchalen, systematischen Gewaltmuster unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Die bekannteste Definition dieses Ansatzes ist: „Morde an Frauen durch Männer, weil sie Frauen sind.“ Diese Definition soll möglichst alle männlichen, sexistischen Muster abdecken (der Femizid als Spitze der patriarchalen, männlichen Gewalt an Frauen) und wird auch bewusst von „female-on-female murder“ (dt. Frauen, die Frauen töten) abgegrenzt, was auf andere sexistische Muster zurückzuführen ist. Der Begriff wird auch oft für seine Breite kritisiert, die es schwierig macht, Probleme präzise zu thematisieren und zu kritisieren und auch gezielt zu lösen.

Im lateinamerikanischen Raum, aus der dort existierenden feministischen Bewegung heraus, die einen sehr starken Fokus auf Gewalt an Frauen und den Kampf gegen „machismo“ (männlich chauvinistische Sozialisierung und Gesellschaft) legt, wurde der Begriff ab den 1990er Jahren auch sehr stark verwendet. Hier gibt es sehr viele Frauenmorde. Jeden Tag werden durchschnittlich 12 Frauen in Lateinamerika getötet und unter den 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten sind 14 lateinamerikanische. Marcela Lagarde prägte den Begriff des „Feminizids“, der zusätzlich betonen soll, wieso Morde an Frauen auch ein Versagen der (staatlichen) Institutionen sind, und noch weiter auf die Systematik der Problematik hinweist. In 16 lateinamerikanischen Ländern gibt es mittlerweile eigene Straftatbestände zu Femiziden oder zumindest zu geschlechtsspezifischer Tötung. Dieser „Fortschritt“ ist aber natürlich nicht primär dem Begriff zu verdanken, sondern der starken und kämpfenden antisexistischen Bewegung in Lateinamerika, speziell auch unter dem Banner von „ni una menos“ (keine einzige weniger“), einer Bewegung, die in Argentinien ihren Anfang nahm.

Was macht den Femizidbegriff aus?

Ist er nicht etwas zu unkonkret, um als politischer Begriff nützlich zu sein? Ja und nein. Auf der einen Seite macht der Begriff, das was er machen soll, ganz gut. Es wird dadurch provokant auf einen speziellen Missstand in der Gesellschaft aufmerksam gemacht, der normalerweise, so wie viele Erfahrungen von marginalisierten Gruppen, unsichtbar bleibt – nämlich unter welchen Umständen und warum Frauen umgebracht werden.

Der Einwand, dass damit ja quasi jedem Mord ein sexistisches Handlungsmotiv unterstellt wird, ist nur begrenzt berechtigt. Sexismus (genauso wie andere Formen der gesellschaftlichen Unterdrückung) ist ein fundamentaler und systematischer Teil unserer Gesellschaft, damit also auch ein fixer Bestandteil unserer Sozialisierung sowie der gesamten sozialen Verhältnisse. Wir werden ja allesamt auch durch unsere Umstände geprägt. Das heißt aber auch im Umkehrschluss, dass in vielen Gewaltverbrechen an gesellschaftlich unterdrückten Menschen genau diese Unterdrückung eine (wenn oft auch unbewusste) Rolle spielt. Was allerdings ein Problem ist und oft in radikalfeministischen Kreisen betont wird, ist der Fokus auf Männer und männliche Gewalt. Es stimmt, dass die allermeisten Frauenmorde (und Morde insgesamt) von Männern begangen werden, ähnlich wie bei anderen Gewaltverbrechen. Zeitgleich sollte der Umkehrschluss aber nicht zugelassen werden, dass es dabei um irgendetwas inhärent Männliches geht, also „den Mann“ als den Feind „der Frau“ darzustellen. Es geht hier um ein klar systematisches, soziales Problem. Männer und Frauen werden beide von unserer systematisch sexistischen Welt geprägt. Die Auswirkungen sind aber sehr unterschiedlich und führen bei Männern strukturell viel häufiger zu Gewaltausübung. Auch das Zuschreiben des Problems an ein abstraktes, überhistorisches Patriarchat ist zu ungenau.

Es gibt patriarchale Strukturen (übrigens auch schon sehr lange in unterschiedlichster Form) in unserem Gesellschaftssystem, aber das Gesellschaftssystem, das diese konkret ausformt und reproduziert, ist der Kapitalismus und nicht die abstrakte „männliche Vorherrschaft“. Der Kapitalismus (unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem) profitiert enorm davon, Muster älterer Gesellschaften zu übernehmen und Gruppen systematisch gegeneinander auszuspielen und somit auch mehr Profit aus ihnen erwirtschaften zu können. Das macht das Aufrechterhalten von solchen Strukturen überhaupt erst möglich und (was im Kapitalismus natürlich das Wichtigste ist) profitabel.

Prinzipiell ist der Begriff des Femizids also sinnvoll und man kann ihn durchaus in die Diskussion einbringen. Klar und genau ist er aber nicht, was auch bedeutet, dass er nicht unbedingt in jeder Situation nützlich ist. Deshalb braucht es eine klarere Diskussion innerhalb der antisexistischen Bewegung, um ihn mit Leben zu füllen und auch als Instrument der Analyse verwenden zu können. Jeden Mord an Frauen als Femizid zu bezeichnen, ist plakativ (leider zwar viel zu oft richtig), aber führt auch zu einer ungenauen Verwendung einer Begrifflichkeit, die ja auch dazu beitragen soll, die Problematik, die sie beschreibt, zu bekämpfen.

Lage in Österreich

Um wieder zurückzukommen auf Österreich: Fast alle der diesjährigen Morde an Frauen sind in einer intimen (Ex-)Partnerschaft begangen worden. Das reiht sich in einen internationalen Trend ein. Laut UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime; Amt der Vereinten Nationen zu Drogen und Verbrechen – Stand 2017) liegt der weltweite Anteil an weiblichen Mordopfern bei 19 %, aber bei Morden durch Intimpartner und Familie bei 64 % und durch Intimpartner allein bei 82 %. Dazu kommt noch die Tatsache, dass die meisten Morde in intimen Partnerschaften durch Frauen in Notwehr und/bzw. nach langwieriger Gewalterfahrung in der Beziehung geschehen. Was nun in Österreich speziell ist, ist, dass es ein Land mit einer sehr geringen Mordrate und einer verschwindend niedrigen Bandenkriminalität ist (welche weltweit vermutlich die meisten Morde an Männern verursacht). Deshalb werden auch mehr Frauen als Männer getötet.

Böse (und vor allem uninformierte) Zungen würden bei diesen Zahlen behaupten, dass es sich ja nur um ein paar Morde im Jahr handle. Und wenn überhaupt, sollte man sich doch viel eher um die Morde an Männern kümmern, wenn die doch einen Großteil ausmachen. Vorneweg: Jeder Mord ist schrecklich und es ist eine zentrale Aufgabe im Kampf für eine gerechte Gesellschaft, alle Systematik (z. B. Armut) und Sozialisierung, die zu ihnen führt, abzuschaffen. Aber bei den Zahlen zu Morden an Frauen müssen wir auch ganz klar festhalten, dass Femizide „nur“ die oberste Spitze eines sehr, sehr tiefen Eisberges sind. Einen Mord zu begehen, ist logischerweise die drastischste Form der Gewalt, die Sexismus annehmen kann. Davor kommen häusliche und sexualisierte Gewalt, verbale und körperliche Belästigung und vieles mehr. Dinge, die diese Sachen „möglich“, damit auch tolerierbarer bzw. „normaler“ machen, sind Objektifizierung, Ungleichbehandlung in Ausbildung und Beruf, Doppel- und Mehrfachbelastung durch zusätzliche Hausarbeit und Kindererziehung, ökonomische Abhängigkeit, ideologische Überhöhung des Mannes, der Druck, die emotionale Last des Partners zu tragen, und vieles andere auch. Diese Zusammenhänge sind nicht zufällig, sondern haben System in der Art und Weise, wie Reproduktion im Kapitalismus stattfindet. Unter diesen Umständen ist es besonders wichtig, auf spezielle Aspekte sozialer Unterdrückung aufmerksam zu machen und dagegen anzukämpfen. Denn „nur“ weil nicht alle Beziehungen zum Mord einer Person führen, heißt es nicht, dass es nicht eine enorme Menge an Gewalt und sexistischer Unterdrückung gibt, gegen die wir kämpfen müssen. Das führt aber nun zu einer weiteren Frage: Was können wir eigentlich tun?

Kampagne

In Wien organisiert zumindest seit September das feministische, autonome Kollektiv „claim the space“ (unter anderem bestehend aus: AG Feministischer Streik, Kollektiv lauter*, Ni Una Menos Austria, Hispano feministas, Kollektiv antikoloniale Interventionen) nach jedem Femizid in Österreich eine Kundgebung. Ziel davon ist, der Opfer zu gedenken, der eigenen Wut und Trauer Luft zu machen, aber auch sich buchstäblich den Platz zu nehmen für dieses und zusammenhängende Themen und Aufmerksamkeit auf die systematische Problematik zu lenken. Das ist prinzipiell gut und wichtig und hat auch maßgeblich zu einer Veränderung der (medialen) Diskussion geführt (das Wort Femizid wird in Österreich zum Beispiel noch nicht besonders lange verwendet). Aus einem ihrer Aufrufe geht das auch nochmal klar hervor: „Wir wollen uns Raum nehmen für eine inhaltliche Auseinandersetzung über patriarchale Gewalt und darüber, wie eine weitere Politisierung von Feminiziden aussehen kann. Wir wollen unser Wissen über feministische Praktiken und Kämpfe miteinander teilen und uns gemeinsam überlegen, wie unsere gemeinsame Praxis in Wien gegen patriarchale Gewalt aussehen kann. Und wir wollen einen Raum schaffen, um über unsere Wut zu sprechen, aber auch über unsere Trauer, unsere Ohnmacht, unsere Zermürbtheit.“

Auch wenn die Arbeit des Kollektivs sehr wichtig ist, gibt es doch einige Punkte, die über diese Forderungen hinaus aufgeführt werden müssen. Ein Problem liegt in der Analyse, in der Organisierung dieses Kampfes, nur FLINTA (also Frauen, Lesben, Interpersonen, nichtbinäre Personen, Transpersonen und Agenderpersonen) Personen zuzulassen. Es ist vollkommen nachvollziehbar, dass sich Menschen mit einer spezifischen Unterdrückung oft nicht wohl in Kontexten fühlen, wo andere Menschen dabei sind, die (gesellschaftlich gesehen) von dieser Unterdrückung profitieren. Zeitgleich braucht es aber für den Kampf gegen Femizide einen gemeinsamen Kampf aller Menschen, die im Kapitalismus unterdrückt und/oder ausgebeutet werden. Das inkludiert auch Männer. Männer sind nicht die „Unterdrücker“ in diesem System, auch wenn viele sicher sexistisch unterdrückerisch sind oder davon profitieren, dass Frauen unterdrückt werden. Die UnterdrückerInnen sind die, die die Macht in diesem System ausüben, die versuchen, Menschen gegeneinander auszuspielen, um kollektive Handlungen und Kämpfe zu verhindern.

Innerhalb einer breiten Bewegung muss es natürlich den Raum geben für Menschen mit spezifischer Unterdrückung, sich gesondert treffen zu können und bestimmte Bereiche des Kampfes zu organisieren sowie eigene politische Positionen zu formulieren. Es ist auch wichtig, dafür zu sorgen, dass Menschen mit bestimmten gesellschaftlichen Privilegien nicht die gesamte Bewegung dominieren, was aus bestimmten Machtgefällen heraus häufiger passiert. Dafür braucht es demokratische Strukturen und bestimmte Mechanismen (zum Beispiel Quoten innerhalb von Bündnissen bzw. für bestimmte Gremien und Rollen) die gegensteuern und marginalisierten Menschen den Platz in der Bewegung einräumen, der ihnen zusteht. Es gibt auch ein gewisses Problem, was die Position von „claim the space“ zu Parteien und parteiförmigen Organisationen angeht. Es wird ihnen oft die Vereinnahmung von Protesten vorgeworfen, was natürlich nicht der Fall sein sollte. Zeitgleich ist die logische Ableitung daraus, nicht mit bestimmten Organisationen zusammenzuarbeiten, ein heftiger Fehlschluss. Es braucht ein starkes Bündnis, das eine Bewegung anleiten kann, die aus unterschiedlichen Gruppen zusammengesetzt ist, demokratisch legitimiert und klar positioniert. Autonome Taktiken (damit auch das Ausschließen von Parteien und parteiförmigen Organisationen), auch wenn sie nicht immer per se falsch sind, führen nicht zu dem, was der Kampf gegen Femizide braucht – einer Bewegung, die gestellte Forderungen nicht nur ansprechen kann, sondern erkämpft.

Welche Bewegung?

Wie soll aber eine solche dann eigentlich aussehen? Was für Forderungen braucht sie? Die erste Frage hängt für revolutionäre KommunistInnen klar mit dem Klassenkampf zusammen. Innerhalb des kapitalistischen Systems haben die ArbeiterInnen (also fast alle lohnabhängigen Menschen, die primär zur direkten Reproduktion des Staates und damit des kapitalistischen Systems beitragen) am meisten Macht, dadurch, dass sie mittels Arbeitsverweigerung, extremen Druck aufbauen können. Eine Bewegung unterdrückter Menschen muss auch immer einen Anschluss an die ArbeiterInnenbewegung suchen und einen Fokus auf die ArbeiterInnenklasse richten, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben möchte. Natürlich sind Forderungen nicht nur durch Arbeitskämpfe durchzuringen, aber wenn es um den langfristigen Kampf gegen Sexismus geht, ist das unerlässlich. Momentan steht die Linke allerdings an einem Punkt, wo das schwierig umzusetzen ist. Was ein erster Schritt in diese Richtung wäre, wären Bündnispolitik bzw. eine Einheitsfront zwischen unterschiedlichen (linken) Gruppierungen mit dem Ziel, auch Gewerkschaften hineinzuziehen und starke Proteste zu organisieren.

So eine Bewegung muss natürlich fordern, dass Gewaltschutzmaßnahmen ausgebaut werden. Dafür gibt es viele unterschiedliche Ansätze, die man innerhalb so einer Bewegung auch immer weiter ausarbeiten muss. Frauenhäuser und Täterberatung sind dabei nur einige wenige wichtige Konzepte und Dinge, für die viel mehr Geld ausgegeben werden muss.

Auch wenn wir solche Sachen vom Staat fordern, vertrauen wir aber nicht auf ihn. Der bürgerliche Staat ist ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse und hat eine nicht zufällige Rolle in der Untätigkeit, was Femizide angeht. Deshalb müssen wir andenken, der häufigen Gewalt gegenüber eigene Selbstverteidigungsstrukturen der Unterdrückten aufzubauen. Dabei geht es nicht um autonome Kleingruppen, die um die Häuser ziehen, um Männern Angst zu machen, sondern um einen kollektiven Zusammenschluss von sexistisch unterdrückten Leuten, die sich gemeinsam ausbilden, Schutz vor allem auch durch Masse erreichen und sich somit aktiv dort verteidigen, wo der Staat versagt und auch immer versagen wird. Dazu gibt es weltweit viele Beispiele, vor allem in Lateinamerika und Indien.

Schlussendlich muss diese Bewegung aber auch mit dem kapitalistischen System brechen. Das klingt etwas voreilig, wenn man bedenkt, wie weit wir noch von so einem Bündnis, geschweige denn einer Bewegung entfernt sind. Aber wie bereits erklärt. ist die Systematik von Gewalt an Frauen im Kapitalismus kein Zufall. Er wird diese Unterdrückungsverhältnisse immer wieder reproduzieren. Verbesserungen, die erkämpft wurden, werden ohne eine ständig kämpfende Bewegung, die sich dagegen stellt, an Tiefpunkten des Klassenkampfs wieder zurückgenommen. Es ist ein ständiges Schwimmen gegen den Strom. Wenn wir Sexismus, und damit auch Femizide, endgültig überwinden wollen, brauchen wir ein anderes Gesellschaftssystem, das auf einer anderen ökonomischen Basis wirtschaftet und damit auch eine andere Sozialisierung der Gesellschaft zulässt. Das können wir nur erreichen, wenn wir den Kapitalismus stürzen und für den Kommunismus kämpfen, wo es keine systemische Unterdrückung und Ausbeutung mehr gibt.




Türkei: Frauen wehren sich gegen Erdogans verschärfte Diktatur

Jürgen Roth, Infomail 1144, 2. April 2021

Gegen den Rückzug der Türkei aus der sogenannten Istanbul-Konvention protestierten am vorletzten Wochenende Tausende im ganzen Land.

Federstrich

Die Istanbul-Konvention war 2011 vom Europarat als europaweiter Rechtsrahmen erarbeitet worden, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und bekämpfen. Erdogan hatte damals – noch als Ministerpräsident – das Abkommen am Ort der finalen Einigung unterzeichnet. Frauenorganisationen kritisierten mehrfach, dass auf Grundlage der Konvention erlassene Gesetze von den Gerichten nicht konsequent umgesetzt wurden. Die Frauenkoalition Türkei rügte, der Ausstieg bestärke Mörder, Belästiger und Vergewaltiger. Der Europarat und der EU-Außenbeauftragte Joseph Borrell stimmten in den Chor der KritikerInnen ein. Der Chef der kemalistischen Oppositionspartei, Kemal Kiliçdaroglu, bemängelte v. a., dass Erdogan „mit einem Federstrich“ per Dekret den Austritt vollzogen habe. Auch der Abgeordnete der Deva-Partei, Mustafa Yeneroglu, kritisierte hauptsächlich die Art des Vollzugs. Ins gleiche Horn stieß sogar der AKP-Justizminister, Abdülhamit Gül, der eine Abstimmung im Parlament verlangte.

Kein Vertrauen in Staat, Parlament und Gerichte!

Frauen sind gut beraten, sich nicht auf die Justiz, den Staat und die Parlamente zu verlassen. Sie sollten ebenso wenig der Sorte „Widerständler“ vom Schlage der unsicheren Kantonisten aus AKP, CHP und Deva-Partei vertrauen. Es ist nur zu begrüßen, dass so viele spontan auf die Straßen gingen unmittelbar nach Verkündung der Entscheidung! Die türkischen Frauen brauchen die weltweite Solidarität der internationalen Frauenorganisationen und ArbeiterInnenbewegung. In Zusammenarbeit mit der ArbeiterInnenklasse sollten sie eine Massenkampagne gegen Gewalt gegen Frauen und für organisierten Selbstschutz eintreten, statt ihr Schicksal in die Hände der sexistischen Polizei zu legen. Die im Gefolge einer verheerenden Wirtschaftskrise und der Coronapandemie sind es v. a. die Frauen, die die Hauptlast tragen. Sexistische Gewalt ist „nur“ die Spitze des Eisbergs. Machtvolle Massenaktionen wie die vom vorletzten Wochenenden können im Zusammenhang mit Forderungen gegen die Auswirkungen der Krise den Auftakt bilden, um mit entsprechenden Forderungen gerüstet das Blatt in der Türkei und anderswo zu wenden:

  • Gegen Sexismus und männlichen Chauvinismus!
  • Selbstbestimmung über den eigenen Körper!
  • Gesundheitsschutz für alle!
  • Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!
  • Kampf gegen Entlassungen, Einbezug ins Berufsleben!
  • Nein zu Sozialabbau und Privatisierung – Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Erdogan krempelt die Türkei weiter um

Mit seinem Rückzug aus der Konvention bedient er den wachsenden Einfluss seiner religiös-konservativen Massenbasis. Er tauscht Führungspositionen mit seinen unmittelbaren Gefolgsleuten aus wie an der Bogaziçi-Universität. Die linke, prokurdische Partei der Völker (HDP) soll per Verbot zum Schweigen gebracht, ihr Artikulationsraum eingeschränkt werden.

Seit 2011 begibt er sich innenpolitisch immer mehr auf einen restaurativen Weg. Außenpolitisch will er das Land zu einer regionalen Hegemonialmacht formen. Zum ersten Mal seit 17 Monaten flog die Luftwaffe wieder Angriffe auf kurdische Gebiete in Syrien.

Zeitgleich mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention feuerte Erdogan den Zentralbankchef Naci Agbal. Dieser hatte den Leitzins von 17 auf 19 Prozent erhöht. Die galoppierende Inflation (im Februar 15 %, bei Nahrungsmitteln 18,4 %) will er mit niedrigeren statt höheren Zinsen bekämpfen. Unterstützung erhält er dabei von einem Konglomerat regierungsnaher Unternehmerfamilien, die von staatlichen Aufträgen profitieren. Als Halbkolonie unterliegt die Türkei einem Dilemma, ganz anders als in den imperialistischen Metropolen: Ein Absinken der eigenen Währung nutzt zwar Export und Tourismus, aber viele Unternehmen sind in Fremdwährung verschuldet, bekommen Schwierigkeiten beim Schuldendienst. Mieten und Hypotheken werden ebenfalls of in US-Dollar abgeschlossen. Schwankende Kurse führen zudem zu höheren Risikoaufschlägen bei Krediten für türkische Unternehmen. Bei Gas und Benzin spüren die Leute die Wechselkurse sofort.

Im November hatte Erdogan bereits Agbals Vorgänger entlassen, woraufhin seine Schwiegersohn, Berat Albayrak, als Finanzminister (!) zurückgetreten war. Das erneute Stühlerücken in der Zentralbank lässt Albayraks Stern wieder steigen.

Ideologisch wird diese Klientelpolitik verbrämt mit dem Rückgriff auf konservative Werte. Der neue Zentralbankpräsident, Sahap Navicioglu, steht diesem Kurs ebenso nahe wie der neue Chef des Statistikamts TÜIK, Sait Erdal Dincer. Seine beiden Vorgänger waren binnen einer guten Woche gefeuert worden. Gegen die Opposition laufen annähernd 300 Anträge auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität.

Der Protest der Frauen kann sich als Stich ins Wespennest erweisen, wenn es gelingt, ihren Kampf mit dem gegen Inflation, Pandemie, Wirtschaftskrise und für das nationale Selbstbestimmungsrecht zu verbinden. Dafür braucht es jedoch auch einen vollständigen Bruch der türkischen Linken mit ihrem stalinistischen und kemalistischen Erbe und den Kampf für eine neue, revolutionäre ArbeiterInnenpartei auf Grundlage eines Programms der permanenten Revolution.