Krankenhausreform: Kliniksterben in zwei Stufen

Jürgen Roth, Neue Internationale 276, September 2023

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte eine „Revolution“ angekündigt, doch seine Krankenhausreform endete als laues Lüftchen nach der Einigung mit seinen Länderkolleg:innen. Doch über die bundesdeutsche Kliniklandschaft wird sie als Orkan fegen, der Schneisen der Verwüstung hinterlassen wird.

Drohendes Defizit

Nach einem für 2023 gestopften Milliardenloch droht für 2024 ein erneutes Defizit. 2022 erzielten die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) noch ein Plus von 451 Millionen Euro. Die Einnahmen hatten sich pro Mitglied durch reguläre und Zusatzbeiträge um 4,37 % erhöht, die Ausgaben nur um 4,09 %. Doch die strukturellen Finanzierungsprobleme sind längst nicht beseitigt. Ihr Spitzenverband moniert, dass der Bund sich mehr an der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen wie Schwangerschafts- und Mütterversorgung beteiligen müsse. Das brächte allein 10 Milliarden zusätzlich ein.

Eigentlich wollte das Bundesgesundheitsministerium bis zum 31. Mai 2023 Empfehlungen für eine „stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ vorgelegt haben. Daraus wurde nichts. Die Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro für 2023 wurde mit einmaligen Maßnahmen geschlossen. Unter anderem wurden Reserven der GKV und des Gesundheitsfonds, eines bürokratischen Monsters zwecks Risikoausgleichs zwischen den einzelnen Kassen, um 7,2 Milliarden abgebaut und der Zusatzbeitrag stieg von 1,36 auf 1,51 % (2,5 Milliarden).

Der GKV-Spitzenverband favorisiert eine Neuausrichtung der Krankenhausversorgung und fordert eine Verminderung der Klinikanzahl um 400 auf 1.250. Dabei wurden seit Einführung der Fallpauschalen (DRGs) 2004 ein Viertel aller Kinderkliniken geschlossen, 40 % Betten abgebaut, obwohl die Zahl der Kinder in Deutschland von 9,8 Millionen 2013 auf 10,9 Millionen 2022 zugenommen hat. Bis 2025 wird ein Viertel der Kinderärzt:innen in den Ruhestand gehen.

Ursachen

Bei Fortschreibung der Ertragsabschlüsse von 2021 bis 2023 droht bereits dieses Jahr 18 % der Krankenhäusern die Insolvenz, 2030 44 %. Ende diesen Jahres schrieben dann 47 % keine schwarzen Zahlen, 2030 58 %. Seit Beginn der Pandemie haben sie insgesamt 13 % weniger Patient:innen. Im Jahr 2021 waren die 437.000 Betten der Allgemeinkrankenhäuser nur zu 66 % ausgelastet. Der Krankenhaus-Rating-Report fordert denn auch einen Abbau auf 310.000 Betten, 1.165 Einrichtungen würden ausreichen. Diese Berechnung bleibt also noch unter der Zahl des GKV-Spitzenverbands.

Zudem wird es im Gegensatz zu akuten Pandemiezeiten keinen staatlichen Rettungsschirm mehr geben. 20 % der noch stationär erbrachten Leistungen könnten künftig ambulant erfolgen, so der Report. Doch die Hoheit über den stationären Sektor liegt bei den Ländern. Baden-Württemberg und Bayern verzeichnen mit 40 % den höchsten Anteil von Häusern mit Verlusten. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) verlangt ein Vorschaltgesetz zum Inflationsausgleich. Die Erlössteigerungen von insgesamt 6,5 % für 2022 und 2023 seien bei Preissteigerungen um 17 % unzureichend. Monat für Monat verschuldeten sich die Häuser um weitere 600 Millionen Euro.

Kernpunkte der Reform stoßen auf Widerstand

Dazu zählen 1. eine Änderung des Vergütungssystems, 2. Neuordnung mit Versorgungsstufen, 3. Einführung von Leistungsgruppen. Spezialisierung und Konzentration werden hierbei mit Qualitätsverbesserung gleichgesetzt. Bei ausbleibender Reform wird eine Rationierung von Leistungen befürchtet.

Am 29. Juni 2023 erzielte die Bund-Länder-Runde keine Einigung. Die Länder blockierten eine einheitliche Regelung der Level (Versorgungsstufen) und schrieben weitere Ausnahmen zu den vorgesehenen Leistungsgruppen fest. Die DKG schätzt die finanziellen Belastungen infolge Kapazitätsverlagerungen, Fusionen und Neubauten auf einen Betrag zwischen 24 und 50 Milliarden Euro. Lauterbach verweigerte sich dem Ansinnen des Vorschaltgesetzes. Auch die Bundesländer hätten keine Möglichkeit, hier finanzielle Unterstützung zu leisten. Einzig das Konzept der Vorhaltepauschalen, die die Abrechnung nach DRGs aufweichen sollen, traf auf Zustimmung.

Am 29. Juni blieb von der Verpflichtung zur Einteilung in verschiedene Level lediglich ihr Charakter als Empfehlung über. Der Bund will aber im Rahmen einer sog. Transparenzoffensive eine Qualitätsbewertung der Kliniken offenlegen mit Daten zu Komplikationsraten, Fallzahlen, Facharztdichte und Pflegepersonalausstattung.

Vorhaltekosten, die unabhängig, ob Patient:innen behandelt werden, entstehen, sollen je nach Leistungsgruppe ermittelt werden. In der Übergangszeit wird ihr Anteil je nach Leistungsgruppe auf zwischen 20 und 40 % festgesetzt und für die vereinbarte Fallzahl dem Krankenhaus ausbezahlt unabhängig davon, ob diese auch erreicht wurde. Jede Fallpauschalenabrechnung wird um diesen Anteil gekürzt.

Ökonomisierung geht weiter

Eine Revolution sucht man in diesem Regelwerk vergebens. Die Reform soll budgetneutral gestaltet sein, also nichts kosten. Der Warencharakter der Behandlung bleibt erhalten, weil die Abrechnung über DRGs weiter erfolgt, wenn auch mit Abschlägen. Die tatsächlichen Vorhaltekosten werden nicht refinanziert, sondern als auf Fallzahlen bezogene Pauschalen erstattet. Eine zweckgebundene Verwendung ist nicht vorgeschrieben, so dass sie als Gewinne ausgeschüttet werden können.

Die um ihr wirtschaftliches Überleben ringenden Einrichtungen werden die Reform gar nicht erleben oder sie wird ihnen nicht helfen, da sie budgetneutral umgesetzt werden soll. Während niemand auf die Idee käme, die Feuerwehr für ihre Löscheinsätze zu bezahlen oder Gewinne zu erwarten, ist das beim stationären Sektor grundsätzlich anders. Letztlich bleibt für viele Häuser nur die Wahl zwischen kaltem oder reguliertem Strukturwandel, Sterben vor der oder durch die Reform.

Einigung

Am Montag, den 10. Juli 2023, erfolgte dann doch noch rechtzeitig zur Parlamentssommerpause die Einigung zu den Eckpunkten einer zukünftigen Krankenhausreform zwischen Bund und Ländern mit einer Gegenstimme aus Bayern und einer Enthaltung aus Schleswig-Holstein. Somit kann Lauterbachs Hoffnung aufgehen, das Gesetz nach den Lesungen in beiden Kammern zum 1. Januar 2024 in Kraft treten zu lassen. Die Veröffentlichung der Qualitätsdaten je Haus soll die Länder zum Handeln zwingen. Diese können entscheiden, ob sie 2025 oder 2026 in die Umsetzung gehen. Die Länder können als Plus verbuchen, dass sie bei der Definition von Leistungsgruppen mitwirken können und ihnen ihre jahrelange Unterfinanzierung der Investitionskosten nicht vorgehalten wird, die dazu geführt hat, dass die Kliniken auf Kosten von Personal und Patient:innen zum Ausgleich gezwungen wurden, mit noch mehr Fällen mehr Geld zu verdienen. Der Bund kreidet sich als Plus an, dass es kein zusätzliches Geld geben wird.

Lauterbach wurde nicht müde zu betonen, dass die Reform eine „Existenzgarantie für kleine Kliniken auf dem Land“ bedeute. Die „Revolution“ der Vorhaltepauschalen – der Minister sprach sogar von 60 % – ermögliche das. Es ist genau umgekehrt: Sie erhalten nur Kliniken, die entsprechende Qualitätskriterien bzgl. Ausstattung, Personal und Behandlungserfahrungen – sprich hohen Fallpauschalen – erfüllten. Sie nutzen also v. a. den Versorgungsstufen II und höher, je höher desto mehr – und der Volksverdummung durch den Bundesgesundheitsschwätzer!

Über den Sommer soll nun eine Arbeitsgruppe mit Vertreter:innen des Bundes sowie aus dem SPD-geführten Hamburg, dem grünen Baden-Württemberg, dem CDU-regierten Nordrhein-Westfalen und dem rot-roten Mecklenburg-Vorpommern ein Gesetz entwerfen. Nach Beschluss durch Bundestag und Bundesrat bis zum Jahresende soll es 2024 und 2025 in entsprechende Landesgesetze gegossen und jeweils ein Jahr später mit der Umsetzung begonnen werden.

Aufkommende Skepsis

DKG-Vorstand Gerald Gaß bemängelte, kaum waren die Eckpunkte festgezurrt, die vielen Prüfaufträge und Auswertungsanalysen, die noch realisiert werden müssten. Er fürchtete, die Mehrfachdokumentationspflicht werde durch die Vorhaltepauschalen noch größer. Zu den regionalen Gesundheitszentren gebe es keine genauen Vorstellungen. Ein Gerangel über die Zuständigkeiten sei zwischen Bundesländern und Kassenärztlichen Vereinigungen zu erwarten. Unklar bleibe auch, wer in welchem Umfang den Transformationsfonds finanzieren solle, klar indes, dass Konsens herrsche, dass vor der Reform Standorte verlorengehen würden, denn die Erlöse hinkten hinter den Kostensteigerungen (Inflation!) her. Ein Vorschaltgesetz sei ja dezidiert abgelehnt worden. Ins gleiche Horn tutete der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags Helmut Dedy. Zwar wollten einige Bundesländer ihre vernachlässigten Investitionen aufstocken, doch schon jetzt seien Finanzierungsprobleme mit Händen zu greifen. Laut Minister Lucha (Baden-Württemberg) erkennt die dortige GKV die Tarifsteigerungen in der Psychiatrie nicht an.

Im Gegenzug kritisierten die gesetzlichen Krankenkassen Pläne von Bund und Ländern, mit Zuschlägen für einzelne Leistungsgruppen in ihre Taschen zu greifen. Die Vorsitzende der Ärzt:innengewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, wies darauf hin, schon die Zusammenlegung von Abteilungen und Umbauten seien nicht zum Nulltarif zu haben. Dem Deutschen Pflegerat fehlt eine jetzt gebotene neue Kompetenzverteilung der Gesundheitsfachberufe, sprich ein Bedeutungszuwachs für die Pflege.

Kritik der Linkspartei

„Integrierte Versorgung statt Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft“ lautet ein 14-seitiges Konzept, das u. a. von den Bundestagsabgeordneten Kathrin Vogler und Ates Gürpinar sowie gesundheitspolitischen Sprecher:innen aus 8 Bundesländern erarbeitet wurde. Hintergrund sei die „Zurückdrängung“ von Profit und Kostendruck. Auch der Linksreformismus verschreibt sich also fruchtloser Sisyphusarbeit als Transformationsstrategie, als sei die zentrale Akkumulationsdynamik unterm Kapitalismus eine lässliche Option. Parteivorsitzende Janine Wissler beschwichtigte gleich die bürgerliche Öffentlichkeit. Man habe es, versichert sie, nicht auf die Enteignung privater Kliniken abgesehen, sondern um einen rechtlich sicheren Weg zur Entprivatisierungs- und Rekommunalisierungsoffensive. Hauptsache legal und dem Kapital nichts gestohlen, so ist der Weg zum Sozialismus für die Genossin zwar verbaut, aber „rechtlich sicher“. Solche Worte erinnern an den Tenor sämtlicher „Sozialisierungs“- und DWE-&-Co.-Expert:innenkommissionen zur Verschleppung und Verhinderung der Enteignung.

Statt Fallpauschalen Erstattung der tatsächlichen Kosten und Ausgleich der Defizite durch die öffentliche Hand. Der Stein der Weisen ist das nicht! Vor der Einführung der DRGs erstatteten die Krankenkassen nicht die tatsächlichen Kosten, sondern zurrten in zähen Verhandlungen das Budget mit jeder einzelnen Klinik fest. Und warum soll die öffentliche Hand das finanzieren statt durch eine Reichensteuer?

Ferner bemängelt DIE LINKE die fehlende Finanzierung, auch der Investitionskosten durch die Länder und warnt vor der Existenzgefahr für viele Häuser – vor der Reform wie durch sie selbst. In der Hauptstadt könnte von 60 nur die Hälfte übrigbleiben. Schon jetzt erhielten manche keine Kredite mehr und Fachkräfte bewerben sich nicht bei kleinen Einrichtungen. Die Auswahl der Reformberater:innen durch den Bundesgesundheitsminister sei undemokratisch. Patient:innen- und Beschäftigtenvertretungen fehlten, Arbeitsbedingungen stünden nicht zur Debatte. Als künftiges Rückgrat einer wohnortnahen und integrierten Gesundheitsversorgung empfiehlt DIE LINKE Versorgungszentren in kommunaler Trägerschaft mit ambulanten, stationären und notfallmedizinischen Leistungen aus einer Hand und Anbindung an Krankenhäuser höherer Versorgungsstufen. Zu einer Rettungsstelle dürften höchstens 30 Fahrminuten liegen. Dass diesem richtigen Vorschlag zur Einebnung der Unterschiede zwischen ambulantem und stationärem Sektor seitens der niedergelassenen Ärzt:innenschaft erbitterter Widerstand entgegenschlagen wird, darauf sollte sich die Linkspartei allerdings einstellen. Sie will nach der Reform wegfallende Häuser entweder mit Zuschüssen erhalten (von wem?) oder in medizinische Versorgungszentren nach skandinavischem Vorbild (mit Gemeindepflegekräften) umgewandelt sehen.

Bei aller Kritik ist dieses Konzept doch der Kritik am Strohhalm im Auge der Reform überlegen und in etlichen Punkten unterstützenswert.

Gemeingut in Bürger:innenhand (GiB)

Wesentlich härter als DIE LINKE geht GiB mit der geplanten Reform ins Gericht. Eine Analyse des Bundesgesundheitsministeriums selbst (!) bestätigt, dass demnach 40 % keine stationäre Allgemein- und Notfallversorgung anbieten, weil sie entweder zu ambulanten Gesundheitszentren oder reinen Fachkliniken „abgestuft“ werden. Die lautstarke Opposition der Länder sei lediglich Symbolpolitik. Klaus Holetschek (Gesundheitsminister Bayerns, CSU) habe gegen die Eckpunkte gestimmt, weil Lauterbachs Versorgungsstufen (Level) das Angebot in der Fläche reduzierten. Das tun aber auch die von ihm favorisierten Leistungsgruppen. Die Landesregierungen, die seit Jahren gesetzlich vorgeschriebene Investitionsmittel zurückhielten, könnten diese nun im Zuge des Reformkahlschlags ganz legal einsparen. Durch geplante Umwandlungen und Schließungen seien weit über 100.000 Stellen betroffen, es drohten weitere Wege zum Arbeitsplatz, noch mehr Bürokratie und Arbeitsverdichtung und der Verlust von Ausbildungsplätzen. Über das Programm der LINKEN hinaus fordert die Bürger:innenbewegung Renditeverbot und in 30 Minuten erreichbare Allgemeinkrankenhäuser mit mindestens den Abteilungen Chirurgie, Innere Medizin, Gynäkologie, Geburtshilfe, Intensivmedizin und Basisnotfallversorgung.

Lauterbach sei es gelungen, sein Prinzip von der Verwaltung des Mangels durchzusetzen. Zuvor hatte er in den Haushaltsberatungen so viele Kürzungen geschluckt wie kein anderes Ressort. Zum ganzen Prozedere passe auch die neue Richtlinie zur Ersteinschätzung in der ambulanten Notfallversorgung, wonach künftig in Rettungsstellen Patient:innen ohne ärztliche Begutachtung abgewiesen werden dürften. Die Einschätzung, Klinikschließungen könnten dem Markt mehr Personal zur Verfügung stellen und Geld für die Behandlungen sparen, weist GiB als Legende zurück. Werden an anderer Stelle mehr Patient:innen behandelt, braucht man dort auch mehr Personal. Viele Beschäftigte wollten aber gar nicht wechseln und bei größeren Konzentrationsprozessen dem Beruf den Rücken kehren. Auch Maximalversorger würden pro Bett mindestens die gleichen Summen brauchen.

Dem Fazit der GiB ist Recht zu geben: „Bis 2026 werden wir ein regelloses Sterben unter den 60 Prozent der Kliniken erleben, die seit Jahren rote Zahlen schreiben. Mit Inkrafttreten der Reform kommt die Phase des geregelten Kliniksterbens – dann steuert der Bund die Schließungen über seine Qualitätsvorgaben, die festlegen, dass kleine Krankenhäuser zumachen und ihr Personal an Großkliniken abgeben müssen.“ (GiB-Infobriefe 1.6.2023 und 13.7.2023)

Kliniksterben in zwei Stufen eben!

Gegenwehr und Forderungen

Doch weder DIE LINKE noch GiB gehen über mehr oder weniger richtige Vorschläge, Lobbyismus und Parlamentarismus hinaus.

Forderungen wie Gemeineigentum unter demokratischer Verwaltung verklären dagegen sowohl den bürgerlichen Staat wie seine Demokratie. Sie umgehen nicht nur die Frage der entschädigungslosen Enteignung bei der Wiederverstaatlichung der privaten Klinikketten, sondern suggerieren, staatskapitalistisches Eigentum sei schon Vergesellschaftung (Gemeineigentum). Der staatliche und frei-gemeinnützige Krankenhaussektor hinderte die herrschende Klasse in der BRD in der Vergangenheit ja nicht an umfangreichen Kostendämpfungsprogrammen, die schließlich über zahlreiche Stufen zur immer mehr gesteigerten Umwandlung in die heutige weiße Fabrik geführt haben und weiter führen werden.

Dagegen können nur Klassenkampfmethoden bis hin zum Generalstreik den geplanten Kahlschlag wirksam verhindern!

Erste Ansprechpartnerin dafür sollte die Krankenhausbewegung sein, von der der Startschuss dafür auf einer Strategiekonferenz gegen Krankenhausumstrukturierungen fallen muss. Schließlich hat sie für Entlastung zumindest teilweise erfolgreich bekämpft und sollte eine solche „Lösung“ der Personalknappheit unbeugsam bekämpfen.

Doch reicht ein Tarifvertrag dafür nicht. Auf Regierungskommission, ja selbst auf skeptische Bundesländer und DKG dürfen wir uns nicht verlassen! Die Arbeiter:innenbewegung braucht ihre eigene politische Gegenmacht in Gestalt von Kontrollräten über das gesamte Gesundheitswesen einschließlich seiner Finanzierung durch Progressivsteuern und gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle unter Kontrolle von Gewerkschaften, Beschäftigten und Patient:innen, um den Weg zu seiner nachhaltigen, integrierten, letztendlichen sozialistischen Umgestaltung einschlagen zu können.




Krankenhäuser: großer Kahlschlag geplant

Jürgen Roth, Neue Internationale 273, Mai 2023

In diesem Sommer soll das neue Krankenhausreformgesetz verabschiedet werden. Wenn sich die Vorstellungen der Regierungskommission um Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach durchsetzen, wird es damit zum größten Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kommen.

Vom Beifall in der Coronapandemie zum Kliniksterben

Was wurde doch das Krankenhauspersonal für seinen unermüdlichen Einsatz während der Pandemie mit Beifall von den Balkonen bedacht! Manche glaubten bereits, das Rad würde sich zurückdrehen, bessere Ausstattung und Arbeitsbedingungen sowie mehr Personal in den Kliniken seien die unvermeidliche Lehre aus den Defiziten, die das Virus damals im BRD-Gesundheitswesen schonungslos aufgedeckt hatte. Die Vorschläge der Bertelsmann-Stiftung, die Zahl der Krankenhäuser um zwei Drittel zu reduzieren, schienen damit endgültig vom Tisch. Doch ausgerechnet die, die unter Höchstlast Coronapatient:innen versorgt haben, sind jetzt akut von der Insolvenz bedroht.

Zahlen und Fakten

Beispiel Niedersachsen: Existierten in diesem Bundesland vor wenigen Jahrzehnten noch über 200 Kliniken, gelten derzeit 40 von noch verbliebenen 168 in den kommenden 10 Jahren als vom Aus bedroht. Laut Bundesrechnungshof steht bundesweit ein Zehntel kurz vor der Insolvenz, 40 % schrieben rote Zahlen. Gab es 1980 noch 3.783 Krankenhäuser mit 879.605 Betten, sind es heute noch knapp 2.000 mit etwa 500.000. Der Anteil in öffentlich-rechtlicher Hand ist auf 29 % geschrumpft, der privater Träger hat sich zwischen 1991 und 2018 von 15 % auf 37 % mehr als verdoppelt. Die NRW-Landesregierung gab eine Studie in Auftrag, der zufolge 60 % der dortigen Krankenhäuser zu schließen seien. Über 40 mussten seit 2020 schließen, darunter allein 13 im Jahr 2022. Die Zahl der akut bedrohten Kliniken erreicht aktuell mit 74 Einrichtungen einen traurigen Rekord.

Die Logik der Umgestaltung der Krankenhauslandschaft, die schon seit Jahren läuft, trifft v. a. kleinere Einrichtungen auf dem Land und läuft auf weniger, aber größere hinaus. Der Krankenhausstrukturfonds trägt dazu bei, dass Schließungen, Konzentrations- und Umwandlungsvorhaben auch noch mit Geld belohnt werden. Neben 34 in den letzten Jahren darunter fallenden Häusern wurden allein zwischen 2016 und 2018 36 Abteilungen an weiteren 24 Standorten geschlossen.

Gründe und Folgen

Die BRD finanziert ihre Krankenhäuser seit 1972 nach einem dualen System. Für den Bau, Unterhalt und für Investitionen sind die Bundesländer zuständig. Die laufenden Betriebskosten (Personal, Material) tragen die Krankenkassen. Beide Finanzierungssäulen werden seit Jahren vernachlässigt und untergraben.

Während die Inflationsentwicklung zwischen 2000 und 2021 – von der aktuell wesentlich höheren gar nicht zu reden – eine Investitionssteigerung von mehr als einem Drittel verlangt hätte, hat sich die Investitionsfinanzierung durch die öffentliche Hand den letzten 20 Jahren halbiert (2017: 44,3 %)! Der Krankenhaus Rating Report 2020 errechnete für mehr als ein Drittel der Häuser (600) ein mittleres bis hohes Insolvenzrisiko. Die Kliniken müssen, um überleben zu können, die fehlenden Investitionen aus Eigenmitteln aufbringen oder Kredite aufnehmen. Ihre Bilanzbelastung durch Schuldendienste hat sich im gleichen Zeitraum vervierfacht!

Bis zur Jahrtausendwende wurde die 2. Finanzierungssäule durch Kostenerstattung geprägt. Für jeden Tag Liegezeit erhielt die Klinik eine Pauschale, den Tagessatz. Dieses Verfahren löste der Gesetzgeber zwischen 1999 und 2002 durch die diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs) ab, es wurde nach Zahl und Schwere der behandelten Fälle gezahlt. Liegezeitverkürzung und Fallzahlerhöhung waren die Folge. Trotz massiver Stellenstreichungen – allein in der Pflege 60.000 – erhöhte sich die Patient:innenzahl um ein Fünftel. Folglich stieg der Arbeitsdruck enorm.

Aus den DRGs ergibt sich der Case Mix Index als Durchschnitt aller Diagnosepauschalen, die ein Haus den Krankenkassen zur Abrechnung vorlegt. Das Fatale an diesem Bezahlsystem ist die Verknüpfung der medizinischen Tätigkeit und Diagnose mit der Höhe der Erlöse. Tausende Kodierfachkräfte und Medizincontroller:innen ringen mit wiederum Tausenden ihrer Pendants bei den Kassen um jeden Cent.

Das Versagen der dualen Finanzierung, die Tatsache, dass jetzt Bilanzen – nicht medizinische Notwendigkeit – den Ausschlag gaben, bildet den Hintergrund für Schließungen und Privatisierungen. Heute steht Deutschland mit der Zahl der privatisierten Krankenhausbetten an der Weltspitze, noch vor den USA, denn immer mehr Kommunen können die Defizite nicht mehr ausgleichen. Weil das DRG-System die kinderärztliche Tätigkeit völlig unterbewertet, schlossen viele Kinderkliniken. Einen ähnlichen Weg geht die Geburtshilfe mit der Schließung zahlreicher Kreißsäle.

Die Erlaubnis, Gewinne machen zu dürfen – ein weiterer Meilenstein im Umbau der Krankenhauslandschaft zu einer Industrie wie jede andere –, führte neben der Einführung der DRGs ab den 1990er Jahren zu einem Privatisierungsschub. Die Privaten spezialisieren sich v. a. auf aufwendige Behandlungen, während Erhaltung und Grundversorgung schlecht vergütet werden. Durch Personaleinsparungen und Auslagerungen von Tätigkeiten an externe Dienstleister:innen bzw. outgesorcte Tochterunternehmen mit schlechteren Tarifverträgen für die Beschäftigten lassen sich Gewinne erzielen bzw. Defizite reduzieren.

Konturen der drohenden Krankenhaus„reform“

Im 1. Pandemiejahr schlossen doppelt so viele Kliniken (20) wie im Durchschnitt der Vorjahre. Dazu kamen 22 Teilschließungen und 50 von Schließungen bedrohte Einrichtungen, von denen 31 bereits feststanden. Im Koalitionsvertrag der Ampelbundesregierung wurde das Problem der flächendeckenden Klinikschließungen und der klinischen Unterversorgung mit keinem Wort erwähnt. Das DRG-System wurde nicht grundlegend in Frage gestellt.

Ein Teil der Kliniken kam kurzfristig im 1. Pandemiejahr mit einer Entlastung durch die Krise. Unmittelbar danach häuften sich die Hiobsbotschaften. Unter anderem Energie- und Beschaffungskosten stiegen schneller als die Erlöse. 60 % erwarten für 2022 tiefrote Zahlen. Folglich hatte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) im Vorfeld des Treffens der Gesundheitsminster:innen des Bundes und der Länder Anfang Januar 2023 Forderungen nach mehr Geld angemeldet. Sie kritisierte die von der Expert:innenkommission der Bundesregierung für die geplante Krankenhausreform unterbreiteten Pläne für die Minister:innenkonferenz. Diese schlug 3 neue Vergütungskriterien vor: Vorhalteleistungen, Versorgungsstufen und Leistungsgruppen. Vorhaltung bedeutet, dass feste Beträge für Personal und Medizintechnik einer Notaufnahme fließen sollen, unabhängig davon, ob diese ständig gebraucht werden. Strittig blieb die Einteilung in 3 Level mit entsprechender Förderung: Kliniken der Grundversorgung für Notfälle und einfache chirurgische Eingriffe, Regel- und Schwerpunktversorgung und die dritte Gruppe der Maximalversorger. Neben dem Dilemma, sich nicht mit Fragen der Planung und Investitionsuntererfüllung durch die Länder beschäftigt zu haben, betrachtet der Kommissionsentwurf Gesamtkosten und Finanzierungsquellen nicht für den gesamten Gesundheitsbereich als Paket. Zu Recht forderte im Kontrast dazu der Sozialverband VdK eine vollständige Abkehr von jeder Gewinnorientierung und die Aufgabe der Fallpauschalen. Ein Bündnis aus 9 Initiativen, darunter Krankenhaus statt Fabrik, setzt sich für eine Gemeinwohlorientierung und Gewinnverbot im Sektor neben verbindlichen Personalschlüsseln und demokratischer Planung und Steuerung ein.

Der Vorschlag der Kommission wundert angesichts ihrer Zusammensetzung nicht: 14 Professor:innen, Führungskräfte des Sanakonzerns, Chefärzt:innen, Sozialrechtler:innen, aber niemand aus Gewerkschaft, Pflege oder Berufsverbänden. Umso dringender war es geboten, dass die Minister:innenkonferenz den Eindruck erwecken wollte, mit einem milden Zurückfahren der DRGs (Vorhaltung) die Probleme der stationären Versorgung lösen zu können. Dieses Zuckerbrot unterm Schlagwort Entökonomisierung soll aber die weit gewichtigeren Peitschen Versorgungsstufen und Leistungsgruppen übersehen helfen.

Pferdefüße

Auch wenn einige Bundesländer und die DKG betonten, eine „Eins-zu-eins-Umsetzung“ werde es nicht geben, deutet eine solche „Kritik“ mehr Kompromissbereitschaft als Kampfeswillen an.

1.) Das Zwei-Säulen-Modell aus Vorhaltung und Fallpauschalen (Hybridfinanzierung) führt ja nicht dazu, dass mehr Geld bei den Krankenhäusern ankommt. Es soll kostenneutral gestaltet und mit einem Budgetdeckel versehen werden. Die beiden weiteren Vorschläge – Einführung der Krankenhauslevel und Leistungsgruppen – zielen direkt auf eine radikale Veränderung der stationären Versorgung.

2.) Level 1i (Grundversorgung ohne ärztliche Anwesenheitspflicht 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche; Gesundheitszentren) soll nicht ärztlich, sondern von ausgebildeten Pflegekräften geleitet werden und nur über stationäre Pflegebetten verfügen. Ärztliche Verfügbarkeit rund um die Uhr ist nicht vorgesehen. Soll’s etwa der auf dem Land schon heute ausgedünnte niedergelassene Bereich mit der ärztlichen stationären Versorgung richten? Absurd! Den Vogel schießt der Kommissionsvorschlag aber mit der Einbeziehung der Angehörigen in die Pflege ab. Es ist davon auszugehen, dass die bundesweit 657 Krankenhäuser, die laut Gemeinsamem Bundesausschuss die Anforderungen an Notfallstufen nicht erfüllen, als Krankenhäuser zu existieren aufhören und Level-1i-Einrichtungen degradiert werden.

Solche des Levels 1n (Grundversorgung für Notfälle und einfache chirurgische Eingriffe) bleiben als solche erhalten, allerdings nur auf Basisniveau (Innere Medizin, Chirurgie, Notfallaufnahmen) – ohne Geburtshilfe!

3.) 128 (!) Leistungsgruppen werden z. B. die Innere Medizin rigoros aufsplitten. Rigide Mengenvorgaben, die automatisch Qualitätszuwachs und -sicherung suggerieren sollen verbieten Häusern mit vorhandener Kompetenz und Erfahrung zukünftig bestimmte Behandlungen. Fällt z. B. während einer Bauchspeicheldrüsen-OP der Herzschrittmacher aus, muss das Krankenhaus für die Leistungsgruppe Herzkrankheiten zugelassen sein, sonst darf es die erforderlichen Gegenmaßnahmen nicht durchführen. Behandelt es dennoch, dem Überleben des/r Patient:in zuliebe, wird es von den Krankenkassen abgestraft. Medizinisch unnötige Operationen werden zunehmen, wenn der Druck gegen Jahresende steigt, die erforderlichen Mengenvorgaben erfüllen zu müssen, um die Leistungsstufen„kompetenz“ beizubehalten.

4.) Alle 3 Reformvorschläge erfordern zusätzlichen Dokumentations- und Verwaltungsaufwand über das bisher durch die Abrechnung nach Fallpauschalen bereits bedingte eklatant hohe Maß von einem Drittel der Arbeitszeit hinaus. Fälle wie o. a. Pankreas-OP führen zu gesteigerten Auseinandersetzungen mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen.

Auch bei einer abgemilderten Umsetzung der Reform wird die durchschnittliche Lebenserwartung sinken. Wenn von 810 Geburtsstationen noch 428 übrig bleiben, werden mehr Mütter und Kinder sterben. In allen Bereichen werden sich die Wartezeiten verlängern. Das Beispiel Britannien winkt. Angesichts sinkender Klinikzahlen werden sich die der ausgebildeten Pflegekräfte parallel verringern, wird die ärztliche Ausbildung unter weiterer Spezialisierung leiden, werden ganzheitliche Behandlungsansätze aus dem Blickfeld verschwinden, weil sich die verbleibenden Einrichtungen auf Leistungsgruppen spezialisieren müssen.

Hinzu kommen: mangelnde ärztliche Versorgung in den Einrichtungen des Levels 1; noch längere Anfahrtswege bis zu den Kliniken der Level 2 ( Regel- und Schwerpunktversorgung) und 3 (Maximalversorger wie Unikliniken); Unklarheit, welche Klinik bei welchen Notfällen und Krankheitsbildern aufgesucht werden sollen inkl. damit über das schon jetzt überlastungsbedingte hohe Maß hinausgehender verbundener Abweisung von Patient:innen, unerträglich lange Wartezeiten auf Diagnosen und Behandlungen in den verbleibenden Kliniken und Rettungsstellen.

Gegenwehr und Forderungen

Das rührige Bündnis für Klinikrettung hat seit Jahren erheblich dazu beigetragen, auf das Kliniksterben aufmerksam zu machen und sich gründlich recherchierend energisch gegen die geplante „Reform“ ins Zeug gelegt. Mehr als 15.000 unterzeichneten eine Petition dagegen. Zu den ersten Unterzeichner:innen gehörte der heutige Bundesgesundheitsminister! Den Forderungen nach Selbstkostendeckung ist ebenso zuzustimmen wie denen des VdK und der 9 Initiativen. Die SoL fügt ihnen in ihrer 1. Ausgabe von Antiserum – Publikation der SoL für ein öffentliches Gesundheitswesen nach Bedarf, nicht für Profit die nach Überführung u. a. des Krankenhaussektors in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung hinzu. Doch in doppelter Hinsicht wird von ihnen die Klassenfrage nur ungenügend aufgeworfen. Bürger:innenbewegungen und Lobbyismus, stellen zwar kein Hindernis dar, sie und ihre Forderungen zu unterstützen. Ja, auch wir haben die Petition unterschrieben und fordern alle Leser:innen auf, es uns gleichzutun. Doch nur Klassenkampfmethoden bis hin zum Generalstreik können den geplanten Kahlschlag wirksam verhindern!

Erste Ansprechpartnerin dafür sollte die Krankenhausbewegung sein, von der der Startschuss dafür auf einer Strategiekonferenz gegen Krankenhausumstrukturierungen fallen muss. Schließlich hat sie für Entlastung zumindest teilweise erfolgreich bekämpft und sollte eine solche „Lösung“ der Personalknappheit unbeugsam bekämpfen.

Doch reicht ein Tarifvertrag dafür nicht. Auf Regierungskommission, ja selbst auf skeptische Bundesländer und DKG dürfen wir uns nicht verlassen! Die Arbeiter:innenbewegung braucht ihre eigene politische Gegenmacht in Gestalt von Kontrollräten über das gesamte Gesundheitswesen einschließlich seiner Finanzierung durch Progressivsteuern und gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle unter Kontrolle von Gewerkschaften, Beschäftigten und Patient:innen, um den Weg zu seiner nachhaltigen, integrierten, letztendlichen sozialistischen Umgestaltung einschlagen zu können. Forderungen wie Gemeineigentum unter demokratischer Verwaltung verklären dagegen sowohl den bürgerlichen Staat wie seine Demokratie. Sie umgehen nicht nur die Frage der entschädigungslosen Enteignung bei der Wiederverstaatlichung der privaten Klinikketten, sondern suggerieren, staatskapitalistisches Eigentum sei schon Vergesellschaftung (Gemeineigentum). Der staatliche und frei-gemeinnützige Krankenaussektor hinderte die herrschende Klasse in der BRD in der Vergangenheit ja nicht an umfangreichen Kostendämpfungsprogrammen, die schließlich über zahlreiche Stufen zur immer mehr gesteigerten Umwandlung in die heutige weiße Fabrik geführt haben und weiter führen werden.




Wir fordern: Abmahnung von Leonie Lieb muss zurückgenommen werden

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (vernetzung.org), Infomail 1218, 29. März 2023

Der Münchner Stadtrat plante die Schließung der Geburtshilfestation im Klinikum Neuperlach im Jahr 2024. Das hätte einen Rückschritt für eine wohnortnahe, sichere und qualitativ hochwertige Geburtshilfe im Münchner Osten bedeutet. Die betroffenen Beschäftigen haben deshalb im November 2022 eine Petition für den Erhalt der Abteilung gestartet. Mehr als 22.000 Menschen stimmten ihren Argumenten zu und unterschrieben die Petition. Außerdem organisierten sie eine Kundgebung in Neuperlach, besuchten die Stadtratsparteien, um sie an ihr Anliegen zu erinnern und traten in der Presse auf. Durch diesen öffentlichen Druck konnten sie die Stadtratsfraktionen der SPD und der Grünen dazu bewegen, die Entscheidung über den Erhalt der Station bis 2028 zu verschieben.

In einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt sprach Leonie über das Engagement für den Erhalt des Kreißsaals und den Zusammenhang zwischen der drohenden Zusammenlegung des Kreißsaals mit dem Klinikum Harlaching und einem profitorientierten Gesundheitssystem. Die Klinik reagierte darauf mit einer Abmahnung, die sie formal mit einem angeblichen Verstoß gegen eine Dienstanweisung begründete. Wir verstehen die Abmahnung von Leonie als Einschüchterungsversuch gegen das Engagement für den Erhalt der Geburtshilfeabteilung. Wir fordern die Klinikleitung deshalb dazu auf, die Abmahnung zurückzunehmen. Wir rufen insbesondere Betriebsgruppen, Gewerkschaften, Parteien und Verbände dazu auf, sich mit Leonie und dem gesamten Team zu solidarisieren.

Mit der folgenden Unterschrift erkläre ich mich mit einer Veröffentlichung einverstanden.

* Bis zum 23. März haben über 300 Personen die Petition unterzeichnet. Die Unterschriften werden in den kommenden Tagen gesammelt und veröffentlicht.

Auswahl an Unterzeichenenden:

Yasmin Fahimi, DGB-Vorsitzende, IGBCE

Ates Gürpinar, MdB, die LINKE, ver.di / GEW

Stefan Jagl, Fraktionsvorsitzender der Fraktion DIE LINKE/Die PARTEI im Münchner Stadtrat, ver.di

René Arnsburg, Landesbezirksvorstand Berlin-Brandenburg, ver.di

Seija Knorr-Köning, Barmherzige Brüder, ver.di

Inés Heider, Kepler-Schule Berlin-Neukölln, GEW

Rojhat Altuntas, FAKS Giesing, GEW

Yunus Aktas, Vivantes Neukölln Azubi, ver.di

Anika Rzepka, Vivantes Service Gesellschaft, ver.di und KGK

Unterzeichnen:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSf4Xt-ZR0cRuqg7hxtdthyfET1Foymxw-1YF_PvyaVrTLyBHw/viewform




Spanien: Massenproteste gegen Verfall des Gesundheitswesens

Ernst Ellert, Infomail 1217, 22. März 2023

Vor den Kommunal- und Regionalwahlen im kommenden Mai erhebt sich in Spanien eine riesige Protestwelle gegen die Verschlechterung der medizinischen Grundversorgung.

Madrid

Deren Speerspitze bildet die Hauptstadtregion. Hier regiert seit 2019 Isabel Diaz Ayuso (PP; Volkspartei). Die Konservativen stützen sich auf die neoliberalen Ciudadanos (Bürger:innen) und die ultrarechte Vox (Die Stimme). Am Sternmarsch im vergangenen November hatten sich 700.000 beteiligt. Am 12. Februar 2023 wurde ein neuer Rekord mit 1 Million erreicht. Am 1. und 2. März wurden die Notfallstationen bestreikt. Ayuso reagierte darauf, indem sie 100 % der Beschäftigten zur Minimalversorgung verdonnerte. Für den 26. März ist wieder eine Großdemonstration angesetzt.

Die Initiative „Grundversorgung für alle“ setzt auf zivilen Ungehorsam. Ihre Mitglieder ketten sich an Gesundheitsstationen. Die Pflegerin Cristina Sanz findet es nur richtig, dass sich die Bewegung explosiv ausbreitet. Verhandlungen hätten zu nichts geführt. Stattdessen sei eine Ausnahmesituation eingetreten, da Ayuso sogar das Sammeln von Unterschriften verbiete. Rosa López, Sprecherin der Gewerkschaft Summat, prüft eine Strafanzeige wegen Aushebelung des Streikrechts durch die Dienstverpflichtungen.

Drittklassige Grundversorgung

Im von Korruptionsskandalen geschüttelten Madrid zeigt sich das Missverhältnis im Gesundheitswesen besonders scharf. Der Hauptstadtfaktor führt dazu, dass es sich um die Region mit dem höchsten Durchschnittseinkommen handelt. Doch mit nur zehn Prozent des Budgets an Ausgaben für die Grundversorgung liegt sie abgeschlagen auf dem letzten Platz. Internationale Standards, die Ärzt:innen und Pfleger:innen durchsetzen wollen, sehen dagegen 25 % vor.

Einst verfügte Spanien gerade in einer funktionierenden Grundversorgung über ein relativ gut ausgestattetes und günstiges Gesundheitssystem. Nach Ansicht vieler Ärzt:innen soll dies geschleift werden mit dem Ziel, die Menschen in Privatversicherungen zu drängen. Zwar seien die Policen noch relativ günstig, aber nur, weil die Unternehmen bei Komplikationen oder in teuren Fällen die Behandlung doch wieder ans öffentliche Gesundheitswesen abgeben. So fahren die Versicherungsgesellschaften trotz vergleichsweise niedriger Tarife noch Gewinne ein, solange es noch funktioniert. Was eine Versicherung kosten würde, die auch teure Krebsbehandlungen und Operationen abdeckt, zeigt sich in den USA: monatlich mehrere hundert Euro.

Baskenland

Im Baskenland regte sich ebenfalls Widerstand gegen den seit 2010 eingeschlagenen Liberalisierungskurs. Am 24. Februar 2023 erlebten die Metropolen Bilbao, San Sebastián und Vitoria große Kundgebungen mit mehreren zehntausend Menschen. Den Hintergrund dafür bildet, dass die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung bei den Regionen liegt, so dass es überall Proteste gibt.

Manuel Ferran Mercadé, Berater der „Spanischen Vereinigung für Familien und Gemeinschaftsmedizin“ (semFYC) und Sprecher für den Bereich der Grundversorgung der Basisorganisation „SOS Bidasoa“ in Irun, merkte an, dass sich verhältnismäßig wenige junge Menschen an den Kundgebungen beteiligt hatten. Doch er hob auch hervor, dass alle Gewerkschaften mobilisierten. Allein im Gesundheitswesen gibt es eigene Gewerkschaften. Dazu kommen die allgemeinen. Normalerweise liegen die der Ärzt:innen und Pfleger:innen, die baskischen mit den spanischen miteinander im Clinch. Die baskischen ELA und LAB setzen eher auf Konfrontation, die spanischen CCOO und UGT auf Sozialpakte. Mit dem Vorgehen der Regionalregierung, die den Dialog scheut und nur Verlautbarungen und Ankündigungen abgibt, ist diese seltene Einmütigkeit zu erklären. UGT und CCOO haben in den baskischen Provinzen gegen die Politik der Bundesregierung mit demonstriert, in der die Baskisch-Nationalistische Partei und Sozialdemokratie den Ton angeben.

Gesundheitsökonomie auf Spanisch

Das Baskenland rühmt sich, über das beste Gesundheitswesen im spanischen Staat zu verfügen. Trotzdem gehen auch hier Beschäftigte und Patient:innen auf die Barrikaden. Grund dafür ist die seit der Jahrtausendwende einsetzende brutale Unterfinanzierung, die mit der Zentralisierung im Gesundheitssystem zu tun hat. Zuvor gab es zwei Haushalte: einen für die Grundversorgung und einen für die Kliniken. Deren Integration setzte im Baskenland erst vor 10 Jahren ein. Es gibt auch hier jetzt nur noch einen Haushalt und eine:n Chef:in. Zulasten der Grundversorgung floss das meiste Geld in den stationären Bereich. Je stärker man die Grundversorgung ausbluten ließ, umso mehr Menschen landeten zur teuren Behandlung in den Krankenhäusern.

Bei den Gesundheitsausgaben liegt das Baskenland über, im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung unter dem Landesdurchschnitt. Es gibt zwar weniger Privatkliniken, wie Mercadé bemerkt, doch wird viel Geld für externe Beratung rausgeschmissen und Material gekauft, das kein/e Arzt/Ärztin bestellt hat.

Die langen Wartelisten werden mit dem Fehlen ärztlichen Personals begründet. In Bezug zur Bevölkerungszahl scheint es jedoch ausreichend. Spanien ist weltweit das Land mit der zweithöchsten Zahl medizinischer Fakultäten. Doch ein Gutteil der Ausgebildeten wandert in den privaten Sektor, nicht in den öffentlichen. Noch weniger finden sich in der Grundversorgung mit schlechten Arbeitsbedingungen und mieser Bezahlung. Angesichts der Ausbildungszeitdauer von durchschnittlich 11 Jahren bräuchte es eine vernünftige Planung in einem integrierten Gesundheitssystem, damit Mediziner:innen und Pfleger:innen abwechselnd auf allen Positionen und in allen Sektoren bei einheitlicher Ausbildung zum Einsatz kommen können. Die zweite Voraussetzung dafür: Abschaffung des privaten Gesundheitswesens!

Personalmangel – wie in Deutschland

In wenigen Jahren werden 30 % der Ärzt:innen in Rente gehen und Spanien wird vor einem großen Personalproblem stehen, das nicht durch kurzfristige Erhöhung der Studierendenzahl zu bewältigen sein wird. Auch „unsere“ Unternehmen klagen über Fachkräftemangel, ohne sich dabei an die eigene Nase zu fassen. Bei allen Unterschieden bilden in Deutschland wie Spanien die Kliniken das Einfallstor für den Einzug des Kapitals in den Gesundheitsbetrieb. In Spanien geht das zulasten eines rationalen Systems der Grundversorgung durch Integration, Zentralisierung und Privatisierung von Gesundheitsanbieter:innen wie Krankenversicherungen.

In Deutschland wurde der Krankenhausbereich schon in den frühen 1970er Jahren aus der öffentlichen Finanzierung durch die Gemeinden (Kameralistik) entlassen und auf ein duales Regime (Betriebskosten erstatten die Krankenkassen, Investitionen die Bundesländer) eingeführt. Schließlich wurde auf einen vollständigen inneren Markt (Fallpauschalen) umgestellt mit der Folge gesteigerten Personalmangels, zunehmender Arbeitshetze, Schließungen und Privatisierungen sowie übermäßig zunehmenden  planbaren Operationen einer- und blutigen Entlassungen bei „unprofitablen“ Fällen andererseits.

Der Siegeszug des Neoliberalismus geht aber zunehmend dem einstigen Standbein des BRD-Gesundheitswesens an den Kragen – der niedergelassenen Ärzt:innenschaft und ihren Praxen, die wie Kleinbetriebe fungieren. In Gestalt der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), oft an Kliniken vor Ort angebunden, entsteht eine Konkurrenz, die an die Polikliniken der DRR erinnert. Allerdings werden die heutigen nur zum Zwecke größtmöglicher Rentabilität betrieben wie der ganze kranke Laden, der sich Gesundheitswesen nennt. Seine Rettung kann indes nicht im Zurück zur „Idylle“ der kleinen Praxen liegen.

Internationale Verbindung

Ein Vergleich der Krise des Gesundheitswesens in Spanien mit Deutschland wie mit praktisch allen anderen Ländern Europas verdeutlicht, dass wir es mit einem länderübergreifenden Phänomen zu tun haben. Das betrifft auch die Mobilisierung des Personals. Doch auch, wenn sie allesamt Resultat der kapitalistischen Krise und neoliberaler Angriffe, von Einsparungen und Privatisierungen sind, so werden die Kämpfe bislang nebeneinander, national oder gar lokal beschränkt geführt. Dabei schreien Forderungen wie die Verstaatlichung des gesamten Gesundheitswesens unter Kontrolle der Beschäftigten und Patent:innen, nach einem freien und garantierten Zugang für alle und nach ausreichender Finanzierung und Ausbau des Gesundheitswesens durch die Besteuerung des Kapitals geradezu nach einer gemeinsamen, international koordinierten Bewegung.




Frauengesundheit: Who cares?

Resa Ludivien, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Im Carebereich arbeiten mehrheitlich Frauen. Wir sind die Ersten in der Familie, die angerufen werden, wenn mal wieder jemand kränkelt oder emotionale Arbeit geleistet werden muss. Aber wer denkt eigentlich an uns?

Vielfältige Aspekte der Frauengesundheit

Frauengesundheit umfasst vieles. Neben dem Zugang zu Medikamenten, der körperlichen Unversehrtheit und Schutz vor Gewalt betrifft sie auch die sexuelle Gesundheit. Gemeint ist damit neben dem Zugang zu Verhütungsmitteln, der Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten auch die Sicherstellung medizinischer Versorgung bei Geburten.

In Zeiten der Krise werden diese Angebote geringer und konservative Ideologien sind auf dem Vormarsch. Hinzu kommen teilweise enorme Staatsschulden, vor allem in Halbkolonien. Schauen wir beispielsweise nach Afghanistan, so ist die Ausgangslage der Frauen auch beim Thema Gesundheit verheerend. Nicht nur, dass sie nach der Machtübernahme der Taliban aus weiten Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Durch die unsichere Lage haben sich auch westliche Hilfsorganisationen (NGOs) weitestgehend zurückgezogen. Vor Ort ist nicht mal mehr die alltägliche Nahrungsmittelversorgung gewährleistet. Wie soll Mädchen und Frauen dann noch Schutz vor sexualisierter Gewalt oder eine sichere Geburt ermöglicht werden?

Auch die weltweite Coronapandemie hat uns relativ schnell gezeigt, dass besonders Frauen und ihre Gesundheit wenig im Fokus stehen. Neben der Mehrfachbelastung durch Lohn- und Reproduktionsarbeit barg die Zeit in Isolation und Lockdown für uns Frauen noch eine besondere Gefahr: häusliche Gewalt. Frauen, die in solch einer Situation leben, konnten diesem Umfeld kaum bzw. überhaupt nicht entfliehen oder sich entsprechende Hilfe suchen. Zusätzlich führte der gesamtgesellschaftliche Stress in der Pandemie dazu, dass häusliche Gewalt generell angestiegen ist. Doch auch ohne Pandemie bestehen viele weitere Faktoren, welche die Gesundheit von Frauen bedrohen. Denken wir allein an die vielen Betroffenen sexualisierter Gewalt und deren  Auswirkungen auf Körper und Psyche.

Auch der Zugang zu Medikamenten und allgemeiner Gesundheitsversorgung ist für Frauen generell schlechter als für Männer und nimmt in Krisenzeiten weiter ab. So konnte man beispielsweise inmitten der Coronapandemie einen deutlichen Anstieg der Müttersterblichkeit um bis zu 30 % verzeichnen. Gründe hierfür waren überlastete Krankenhäuser, Mangel an Hebammen oder schlicht ein unzureichendes und nicht flächendeckendes Gesundheitssystem. Auch Rassismus im Kreissaal ist häufig anzutreffen. So ist die Sterblichkeit schwarzer Frauen während der Geburt in den USA doppelt so hoch wie bei weißen, unabhängig von weiteren Faktoren wie etwa dem Einkommen. Hinzu kommt, dass Hilfsangebote zu Schwangerschaftsvorsorge und Familienplanung ebenso wie  Anlaufstellen zur Beratung bei Schwangerschaftsabbrüchen oder Fällen von körperlicher/sexualisierter Gewalt deutlich reduziert wurden. In vielen Ländern gibt es nach wie vor für Mädchen und Frauen keinen gesicherten Zugang zu Verhütungsmitteln oder der „Pille danach“. Zusätzlich kommt hinzu, dass geschlechtsspezifische Symptomatiken bei verschiedenen Krankheiten noch kaum beachtet werden. Beispielsweise werden bei Frauen weitaus häufiger Herzinfarkte übersehen, weil hier meist der charakteristisch ausstrahlende Schmerz fehlt.

Neben dem Geschlecht und der Klassenzugehörigkeit spielt leider auch die Hautfarbe häufig eine Rolle. Viele Mediziner:innen sind noch bis vor kurzem davon ausgegangen, dass schwarze Menschen ein geringeres Schmerzempfinden hätten. Dies führte meist zu einem ungenügenden Zugang zu ausreichend starken Schmerzmitteln während Behandlungen im Krankenhaus.

Inflation und steigende Preise

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind wir weltweit mit Inflation und steigenden Preisen konfrontiert. So beträgt sie im Iran derzeit rund 51 %, in der Türkei erreichte sie im November 2022 sogar mehr als 84 %. Auch hier sind wir Frauen mal wieder besonders hart betroffen. Sich bei hohen Lebensmittelpreisen im Krankheitsfall Medikamente leisten zu können, wird für Arbeiter:innen immer schwieriger. Vor allem auch deshalb, weil Frauen im Zuge der Pandemie deutlich häufiger von Entlassungen betroffen waren als Männer. Zusätzlich begegnen uns derzeit an jeder Ecke Lieferengpässe. Besonders präsent waren sie vor Weihnachten in den Medien, als Fiebermittel für Kinder, aber auch weitere Schmerzmittel knapp wurden. Etwas, das man in Deutschland bisher so nicht kannte. Ursache hierfür sind globale Logistik und die herrschende Wertschöpfungskette. Die Produktion günstiger Inhaltsstoffe, wie Ibuprofen oder verschiedener Antibiotika, wird meist nach Asien ausgelagert. Die wertschöpfenden Schritte am Ende, z. B. Abfüllung und Verpackung, finden dagegen weiterhin in den westlichen Industriestaaten statt. In manchen Ländern wie dem Iran erschweren zusätzlich Sanktionen den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten.

Gesundheit im Kapitalismus

Zunächst einmal arbeiten Pharmakonzerne im Kapitalismus natürlich profitorientiert. Das heißt, dass sich die Erprobung und Testreihen an der gesellschaftlich herrschenden Gruppe orientieren: weiße cis-Männer. Die Verträglichkeit von Medikamenten wird an ihnen erprobt, Frauen oder gar Kinder werden bei der Entwicklung von neuen Medikamenten kaum berücksichtigt. Hier benötigen wir eine geschlechtsspezifische Medikamentenentwicklung. Die Betonung von „Cis“ ist in diesem Kontext wichtig, weil queere Menschen nicht nur beim regulären Besuch von Arztpraxen und Krankenhäusern ständiger Diskriminierung ausgesetzt sind, vom Blutspenden über das Infragestellen der geschlechtlichen Identität. Ebenso sind die Behandlungskosten häufig sehr hoch und muss deren Bezahlung in langen Prozessen erstritten werden. In halbkolonialen Ländern kommen noch ihre Verfolgung und Unterdrückung dazu, die sie häufig komplett von der Gesundheitsversorgung ausschließen.

Eine Ursache für die angesprochenen Probleme für Frauen und queere Menschen ist zum einen deren besondere Stellung innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Im Kapitalismus existiert eine Trennung zwischen gesellschaftlicher Produktion und der im Privaten meist von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit. Dies führt zu einem deutlich schlechteren Zugang zum Arbeitsmarkt, geringeren Löhnen und häufig zu einer finanziellen Abhängigkeit vom Partner. Hinzu kommt, dass durch die geschlechtsspezifische Rollenverteilung vorherrschende Stereotype weiter reproduziert werden. Kapitalismus ist daher, auch aufgrund globaler Konkurrenz, eng mit Sexismus und Rassismus verwoben. Hinzu kommt, dass im Gesundheitswesen deutlich weniger Profit generiert werden kann und daher die Kosten hierfür gerne auf die Gesamtgesellschaft abgewälzt werden. Um die angesprochenen Ursachen zu beseitigen, muss der Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen mit dem gegen den Kapitalismus verbunden werden. Wir brauchen ein Gesundheitssystem unter Arbeiter:innenkontrolle, welches sich nicht an Profiten, sondern an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert. Die Pharmaindustrie muss enteignet und ebenfalls unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt werden. Die bestehenden Patente müssen enteignet und nationale Produktionsstätten in Halbkolonien aufgebaut werden. Ebenso sind Ausbau und Förderung von Gendermedizin mit Berücksichtigung aller unterdrückten Gruppen der Gesellschaft unter Arbeiter:innenkontrolle von zentraler Bedeutung.




Ende der Pandemie?

Katharina Wagner, Neue Internationale 271, Februar 2023

„Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei“. Diese lang ersehnten Worte stammen aus einem Ende Dezember dem „Tagesspiegel“ gegebenen Interview von Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Charité. Aus dem Coronavirus sei mittlerweile ein endemisches geworden, wie Ende Oktober 2022 auch vom Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, mitgeteilt.

Unter Endemie versteht man einen Zustand, in dem Krankheitsfälle mit einem Erreger in einer bestimmten Population oder Region, wie etwa Deutschland, fortwährend gehäuft auftreten. Das Virus Sars-CoV-2 verschwindet demnach nicht mehr vollständig, sondern wird zukünftig mit relativ konstanten Erkrankungszahlen dauerhaft auftreten. Innerhalb deren herrscht eine breit vorhandene Immunität innerhalb der Bevölkerung. Möglich wird dies einerseits durch bereits überstandene Infektionen und andererseits durch verabreichte Impfungen. Das Immunsystem wird mit einem bereits bekannten Erreger konfrontiert und kann daher spezifischer und vor allem deutlich schneller reagieren. Dies sorgt generell für weniger Ansteckungen und mildere Krankheitsverläufe.

Reaktionen seitens der Politik

Die politischen Entscheidungsträger:innen reagierten prompt. Bereits kurz nach Veröffentlichung des Interviews forderte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) via Twitter zum wiederholten Male eine Abschaffung aller Coronaschutzmaßnahmen. Da aus Sicht mehrerer Wissenschaftler:innen das Risiko einer Infektion durch höhere Immunisierungsraten innerhalb der Bevölkerung gesunken sei und das Virus mittlerweile endemisch vorkomme, seien die noch geltenden Maßnahmen nicht verhältnismäßig und daher nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch dass Christian Drosten sich Mitte Januar noch einmal zu seinem Interview äußerte und von einem Missverständnis sprach, ein Ende der Pandemie könne gesichert nur rückblickend nach dem Winter definiert werden, führte bei den Politiker:innen zu keinem Umdenken.

Das Interview gab auch den Anstoß zu einer breit geführten Diskussion über eine generelle Abschaffung bekann-ter Schutzmaßnahmen wie beispielsweise der Maskenpflicht im Nah- und Fernverkehr bereits vor Ablauf des Infektionsschutzgesetzes am 7. April 2023. Während sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und sein Parteigenosse und Bundeskanzler Olaf Scholz zunächst zurückhaltend äußerten, kamen Zweifel von Seiten der Wirtschaft. Die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, befürchtet bei einem früheren Wegfall der Schutzmaßnahmen eine Schwächung der heimischen Industrie aufgrund eines möglichen Anstiegs an Atemwegserkrankungen und Coronainfektionen. Befürworter:innen für die frühzeitige Abschaffung der Maskenpflicht finden sich aber auch außerhalb der Politik. So ist nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden der Deut-schen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, der Bevölkerung ein unverändertes Fortbestehen der Maßnahmen bis zum 7. April nicht mehr vermittelbar. Schlussendlich wurde dann Mitte Januar das vorzeitige Ende der Maskenpflicht im Nah- und Fernverkehr beschlossen. Ab dem 3. Februar 2023 entfällt sie auch im letzten Bundesland Thüringen. Darüber hinaus soll sie dann nur noch in  Pflegeheimen, Krankenhäusern sowie Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen gelten.

Weitere Möglichkeiten zur Aufhebung von Schutzmaßnahmen zwecks Eindämmung von Coronainfektionen wurden bereits vor dem Erscheinen des Interviews beschlossen. So wurde unter anderem die Isolations- und Quarantänepflicht in Bayern und Baden-Württemberg bereits Mitte November aufgehoben. Zahlreiche andere Bundesländer haben diese seither ebenfalls ausgesetzt. Nur in 7 Bundesländern besteht derzeit weiterhin eine Isolationspflicht.

Auch der Zugang zu kostenlosen Tests wurde bereits Ende November deutlich eingeschränkt. Das sogenannte „Freitesten“ nach einer Infektion wird seit dem 16.1.2023 zudem an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Zugang haben demnach nur noch medizinisches Personal vor Wiederaufnahme der Tätigkeit sowie bis Ende Februar weiterhin Besucher:innen von Pflegeeinrichtungen bzw. Kliniken. Alle anderen müssen die durchgeführten Tests aus eigener Tasche bezahlen. Begründet wird dies mit Lockerungen in Bezug auf die Isolationspflicht und der daraus resultierenden fehlenden Notwendigkeit, Tests zur Beendigung der Isolation aus Bundesmitteln zu finanzieren.

Rekordkrankenstand im Dezember

Die bereits angesprochene Diskussion kam allerdings zur Unzeit. Sie fand innerhalb einer europaweiten und recht frühen Welle von Influenza (Grippe) und Atemwegserkrankungen, hervorgerufen meist vom besonders für Säuglinge und Kleinkinder gefährlichen RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus), statt. Hinzu kamen weiterhin Coronainfektionen. Um die Gefährdung für die nationalen Gesundheitssysteme und die Bevölkerung zu reduzieren, wurde europaweit für Impfungen gegen Influenza und COVID-19, vor allem für anfällige und gefährdete Gruppen, geworben. All dies zusammen führte zu einem Rekordkrankenstand von rund 10 % der Beschäftigten in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Medizinische Labore waren überlastet und konnten Proben nicht rechtzeitig auswerten. Viele Krankenhäuser mussten in den Notbetrieb gehen und sogar Operationen verschieben. Besonders hart betroffen waren demnach vor allem die Kinderstationen, hauptsächlich da hier der Fachkräftemangel wegen erforderlicher Zusatzausbildung noch deutlicher zu spüren ist. Daher konnte man auch nicht einfach Personal von Erwachsenenstationen abziehen, wie von Karl Lauterbach als Lösung des akuten Personalmangels vorgeschlagen. Seitens der DKG wurde auch der Ruf nach Aussetzung der Personaluntergrenzen sowie ein Abbau von Bürokratie und Dokumentationspflichten geäußert. Auch könnten coronapositive, aber symptomfreie Pflegekräfte dennoch auf den Stationen eingesetzt werden, um den fehlenden Personalmangel zu minimieren.

Bilanz der Pandemie

Betrachten wir rückblickend die Arbeit der Bundesregierung zur Bewältigung der Pandemie, fällt das Fazit eindeutig negativ aus.

Zu Beginn im Frühjahr 2020 wurde noch auf eine „Flatten-the-curve-Strategie“ gesetzt. Dabei wird versucht, die Infektionszahlen soweit zu reduzieren, dass ein Kollaps des Gesundheitswesens verhindert wird. Das Ziel ist eine Bewältigung der Krankheitsfälle mit den bestehenden Kapazitäten an Infrastruktur und Personal. Wir erinnern uns alle noch an den ersten Lockdown inklusive flächendeckender Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen. Auch die Maskenpflicht und Abstandsregeln im öffentlichen Raum wurden damals eingeführt ebenso wie die Schließung von nicht zwingend notwendigen Einrichtungen wie Fitness- oder Nagelstudios. Besonders hart traf es dabei auch die Kultur- und Gastronomiebranche. Zahlreiche Arbeitsplätze wurden in dieser Zeit abgebaut, auch wenn die Bundesregierung durch Milliardenbeträge und Kurzarbeit mit Geld der Steuerzahler:innen gegenzusteuern versuchte. Zu diesem Zeitpunkt wurde dies noch von weiten Teilen der Industrie mitgetragen. Man erhoffte sich dadurch doch eine deutliche Reduzierung der Krankenstände, welche die heimische Wirtschaft extrem belastet und die globale Wettbewerbsfähigkeit enorm geschwächt hätten. Andere Länder wie etwa Schweden setzten dagegen zu Beginn auf eine sogenannte „Durchseuchungsstrategie“ – ohne Verbote oder gesetzliche Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Abstandsregeln. Allerdings zeitigte diese für das Land verheerende Folgen. Schweden gehört innerhalb Europas zu den Ländern mit den höchsten Todeszahlen im Bezug auf COVID-19 und sah sich in weiterer Folge ebenfalls dazu gezwungen, auf die deutsche Strategie zur Eindämmung von Infektionen überzugehen.

Tatsächlich gelang es der Politik, die Infektionszahlen zu reduzieren und einen völligen Kollaps des Gesundheitswesen zu verhindern. Allerdings muss hierzu gesagt werden, dass die Pandemie die bestehenden Probleme im Gesundheitswesen, allen voran Personalmangel, aber auch fehlende Behandlungskapazitäten aufgrund unzureichender Investitionen, einer breiteren Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt hat.

Kapitalinteressen vs. Gesundheitsschutz

Die Hauptmotivation aller genannten Entscheidungen seitens der Politik im Zuge der Pandemiebekämpfung muss in der vorherrschenden kapitalistischen Produktionsweise und der globalen Wettbewerbsfähigkeit gesucht werden. Lockdowns mit flächendeckenden Schließungen ganzer Branchen und schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte werden daher nicht nur von Teilen der Bevölkerung, sondern auch von Seiten der Wirtschaft abgelehnt. Diese sorgt sich schließlich um ihre globale Wettbewerbsfähigkeit und Produktivitätsvorteile gegenüber der internationalen Konkurrenz. Es geht wieder einmal um die Interessen des gesamten Kapitals, welche vor dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung rangieren.

Gesellschaftliche Bereiche wie Bildung oder Gesundheitswesen stehen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil außerhalb der kapitalistischen Profitinteressen. Hier kann nicht flächendeckend ein sogenannter Mehrwert generiert werden. Aus diesem Grund findet in den genannten Bereichen häufig eine Umlage der Kosten auf alle Bürger:innen und Versicherten statt. Deutlich wurde dies beispielsweise an den staatlichen Hilfen für die Beschaffung zusätzlicher Intensivbetten zu Beginn der Pandemie. Eine weitere Folge dieses Umstandes sind auch fehlende Investitionen, welche dringend benötigt würden, um den bereits lange vor der Pandemie herrschenden Personal- und Fachkräftemangel zu beheben oder eine flächendeckende und gute Versorgung mit medizinischen und bildungstechnischen Einrichtungen sicherzustellen. Auch wenn Karl Lauterbach u. a. wegen der erst überstandenen Rekordwelle Ende 2022 zu einer dringenden Klinikreform aufgerufen und diese auf die Tagesordnung gesetzt hat, wird auch dies wohl keine Wende bringen. Eine gute Gesundheitsversorgung und ein ausreichender Schutz vor neuartigen Infektionskrankheiten kann nur unter Kontrolle der Patient:innen, der Beschäftigten im Gesundheitswesen und allgemein aller Lohnabhängigen sichergestellt werden.

Um Millionen Tote und Geschädigte (Long-Covid) zu vermeiden, hätten sich diese zu Beginn der Pandemie dafür einsetzen müssen, die Weltbevölkerung mit wirksamen Vakzinen zu schützen. Dazu mussten deren Patente und Herstellungsverfahren entschädigungslos enteignet werden. Eine weitere wichtige Maßnahme wäre eine bezahlte Quarantäne für alle Beschäftigten von genügend langer Dauer außer in lebensnotwendigen Bereichen wie z. B. dem Gesundheitswesen gewesen (Zero-Covid-Strategie). Auch die Finanzierung und Umsetzung dieser Maßnahmen erfordert jedoch eine Politik, die sich gegen die herrschenden Kapitalinteressen richtet.




Britannien: Tod durch tausendfache Kürzungen im Gesundheitswesen

Rebecca Anderson, Infomail 1208, 27. Dezember 2022

Die Winterkrise im britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) ist so akut wie nie zuvor. Die Zahl der Betten, die von Patient:innen belegt sind, die seit mehr als drei Wochen im Krankenhaus liegen, ist die höchste in den letzten fünf Wintern. Neunzehn von zwanzig Betten auf den Stationen in England sind voll ausgelastet. Dies geht einher mit einer Krise des Notfallversorgungssystems. Fast drei von zehn Patient:innen, die mit dem Rettungswagen eingeliefert werden, müssen vor den Krankenhäusern Schlange stehen, die zu voll sind, um sie aufzunehmen – etwa doppelt so viele wie vor der Pandemie.

Plan zur Zerschlagung des NHS

7,2 Millionen Menschen stehen in England auf Wartelisten für Krankenhausbehandlungen – 60 % mehr als vor der Pandemie. In Schottland steht jede/r Siebte auf einer Warteliste, und die Zahl in Wales hat einen neuen Höchststand erreicht. Die Versicherungsfirma Confused.com wirbt derweil damit, eine private Krankenversicherung abzuschließen, um diese Wartelisten zu umgehen. All dies ist Teil eines langfristigen Plans zur Zerschlagung des NHS, zu dem auch gehört, ihm die Mittel zu entziehen, die in Behandlungsgeräte und Gehälter fließen, die eine ausreichende Zahl von Beschäftigten im Gesundheitswesen anziehen können.

Der NHS, um den die Patient:innen in den USA und vielen Teilen Europas einst beneidet wurden, gerät immer mehr ins Hintertreffen und droht zu einer Zweiklassenmedizin mit Privilegien für die Ober- und Mittelschicht und einer marginalen Versorgung für die Arbeiter:innenklasse und die Armen umgewandelt zu werden, ähnlich dem Medicaid-System in den USA.

Der britische Gesundheitsminister Stephen Paul („Steve“) Barclay beharrt darauf, dass lange Wartelisten und überfüllte Krankenhäuser nicht das Ergebnis von Unterfinanzierung seien. Allerdings betrugen die durchschnittlichen jährlichen Investitionsausgaben im Vereinigten Königreich zwischen 2010 und 2019 5,8 Mrd. Pfund, verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 38,8 Mrd. Pfund, was bedeutet, dass Großbritannien über weitaus ältere und weniger gut gewartete Einrichtungen verfügt, und zwar in geringerer Zahl.

Im Rahmen des Sparprogramms der Regierung nach der Rezession von 2007 wurde die Finanzierung des NHS zwischen 2008 und 2018 gekürzt. Jede der aufeinanderfolgenden Regierungen hat behauptet, die Mittel für den Gesundheitssektor zu erhöhen, aber damit das NHS-Budget wirklich gestiegen wäre, müsste es sowohl mit der Inflation als auch mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. Real sind die Mittel für den NHS heruntergefahren worden. Zwischen 1949/50 und 2016/17 stiegen die Gesundheitsausgaben im Durchschnitt um 3,3 % pro Jahr. Betrachtet man jedoch nur den Zeitraum zwischen 2009/10 und 2016/17, so sinkt dieser Durchschnitt deutlich auf 0,6 % und liegt damit weit unter der Inflationsrate.

Obwohl die Mittel für den NHS während der Pandemie aufgestockt wurden, konnten die Probleme, die bereits durch die chronische Unterfinanzierung entstanden waren, nicht gelöst werden. Der NHS war zu Beginn des Jahres 2020 bereits am Rande der Belastungsgrenze. Er verfügte über 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner:innen, verglichen mit 29,2 in Deutschland, 12,5 in Italien und 10,6 in Südkorea.

Personalmangel

Derzeit sind 133.400 Stellen unbesetzt, darunter 47.500 Stellen in der Krankenpflege. Der derzeitige Trend bewegt sich dahin, dass immer mehr Stellen frei werden – mehr Pflegepersonal verlässt den Beruf, als neu hinzukommt. Das Royal College of Nursing (Königliche Pflegepersonalausbildungsstätte, RCN) fordert eine über der Inflationsrate liegende Lohnerhöhung nicht nur für die bestehenden Arbeitskräfte, deren Löhne seit Jahren niedrig gehalten werden, sondern auch, um die Personalbeschaffung zu unterstützen.

Ein wichtiger Teil des Plans der Regierung zum Abbau des Covid-Rückstands ist eine verstärkte Werbekampagne im Ausland mit dem Ziel, bis 2021/22 10.000 internationale Arbeitskräfte einzustellen.

Die Behandlung internationalen Pflegepersonals durch den NHS wurde jedoch vom RCN kritisiert. Der Verband setzt sich für eine „ethische internationale Rekrutierung“ ein und verweist auf weit verbreitete Probleme mit hohen Gebühren für die vorzeitige Ausreise in Höhe von bis zu 14.000 Pfund, mit denen Arbeiter:innen unter Druck gesetzt werden, ihre Verträge einzuhalten oder die Gebühren unter Androhung der Abschiebung zurückzuzahlen. Das RCN ist auch besorgt darüber, dass die angeworbenen Arbeitskräfte darüber getäuscht werden, wie einfach es sei, Familienangehörige ins Vereinigte Königreich zu holen, und dass sie, wenn sie entdecken, wie schwierig es ist, sich im britischen Einwanderungssystem zurechtzufinden, bereits in einen Vertrag gebunden sind.

Der NHS hat auch Probleme, das vorhandene Personal zu halten: 16 % der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen wollen die Branche ganz verlassen, wobei sie Personalmangel, Bezahlung und Arbeitsbelastung als Gründe anführen. Es ist ein Teufelskreis, denn je weniger NHS-Mitarbeiter:innen vorhanden sind, desto größer wird der Druck auf diejenigen, die bleiben. Allein im August 2021 gab es zwei Millionen Fehltage wegen Krankheit, ein Viertel davon wegen psychischer Probleme.

Tod durch tausend Einschnitte

In den 1980er Jahren wollte Margaret Thatcher den NHS vollständig privatisieren, da sie ihn als einen weiteren Teil des „Sozialismus“ betrachtete, den sie unbedingt zerstören wollte. Eine Revolte im Kabinett hielt sie jedoch davon ab, so dass sie den Chef des Supermarktkonzerns Sainsbury, Roy Griffiths, mit der „Reform“ beauftragte. Den Ärzt:innen wurde die Führung in den Krankenhäusern entzogen und sie wurde einer Kaste von hochbezahlten Leuten aus der Privatwirtschaft übergeben, die den Dienst wie ein Unternehmen führen sollten. Ein neoliberaler US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Alain Enthoven, riet dazu, die Disziplin des Marktwettbewerbs einzuführen.

Die Verwaltungskosten verdoppelten sich über Nacht. Als die Labour-Partei unter Tony Blair 1997 einen erdrutschartigen Wahlsieg errang, wurde der Marktöffnungsprozess trotz der im Wahlprogramm gemachten Zusagen nicht rückgängig gemacht. Der Schatzkanzler Gordon Brown weitete die Private Finance Initiative (Privatfinanzinitiative, PFI) der Tories sogar noch aus und nutzte sie für den Bau von Krankenhäusern, die damit faktisch in den Besitz des privaten Sektors übergingen.

Als die Tories 2010 an die Regierung zurückkehrten, brachte der Hardliner-Gesundheitsminister Andrew Lansley 2011 das Gesundheits- und Sozialfürsorgegesetz ein, das den NHS in eine völlig neue Phase der Privatisierung führte. Das Gesetz von 2012 öffnete alle NHS-Dienste für Ausschreibungen, offen für konkurrierende private Unternehmen.

Trotz der Empörung unter der Ärzt:innenschaft und dem Pflegepersonal haben private Unternehmen wie Virgin und Circle ihre Warnungen einfach übertönt. Schlimmer noch: Unison, die größte Gewerkschaft des Gesundheitswesens, rief während der gesamten fünf Jahre der Regierung von David Cameron zu keinem einzigen Streik und keiner einzigen Demonstration auf, und die Gesundheitsminister Lansley und Jeremy Hunt setzten die Aufteilung des Dienstes in kleinere regionale Systeme mit der Befugnis zu entscheiden, welche Dienste verfügbar sein werden und wer sie erbringen würde, mühelos fort. Bis 2017 gingen 43 % des Gesamtwerts dieser Verträge an den privaten Sektor. Allein Virgin erhielt den Zuschlag für NHS-Aufträge im Wert von über einer Milliarde Pfund.

Die Kampagnengruppe Keep Our NHS Public (Unser Gesundheitsdienst muss öffentlich bleiben) zeigte auf, dass die aktuelle „Marktreform“, der Long Term Plan (Langfristiger Plan), die Kosten senkt, indem sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung einschränkt, die Qualität mindert und profitorientierte Unternehmen wie die US-Giganten McKinsey, UnitedHealth und Kaiser Permanente einbezieht.

Darüber hinaus wird das „Nationale“ aus dem NHS herausgenommen, indem er in lokale Integrierte Versorgungssysteme mit ihren eigenen, streng kontrollierten Budgets aufgeteilt wird, was bedeutet, dass Gebiete mit einem höheren Grad an schlechter Gesundheitsversorgung – Merseyside, Newcastle, Hackney – mit ihren eigenen Problemen fertigwerden müssen. Der NHS England hat bereits 83 Organisationen mit dieser Aufgabe betraut, von denen 76 private Unternehmen sind, 23 mit Sitz in den USA, darunter Centene, Cerner, Deloitte, GE Healthcare, IBM, McKinsey und Optum, der britische Zweig von UnitedHealth.

Der Plan wird dazu führen, dass die Gesundheitsversorgung zu einer weiteren Ware wird, die internationalen Handelsabkommen unterliegt: Der NHS wird zu einem Logo, das auf private Unternehmen aufgeklebt wird. Die Zukunft kann man in den USA besichtigen, wo die Gesundheit eine Ware ist und Menschen, die sich keine Versicherung leisten können, oft ohne Notfallbehandlung sterben und Arztrechnungen Menschen in den Bankrott treiben.

Wer zahlt?

Der NHS benötigt zweifelsohne eine massive Finanzspritze, sowohl um den Bedarf an höheren Gehältern und mehr Personal als auch den Investitionsbedarf für neue Krankenhäuser und Ausrüstung zu decken. Die Gebühren für Medizinstudent:innen- und Pflegeschüler:innen müssen abgeschafft und ein Stipendium in Höhe eines existenzsichernden Lohns wieder eingeführt werden, ebenso wie kostenlose, hochwertige Kinderbetreuung vor Ort, um den Bedürfnissen der Eltern gerecht zu werden. Die Gebühren für die vorzeitige Ausreise internationaler Krankenschwestern und -pfleger sollten abgeschafft werden, ebenso wie die Einwanderungsbestimmungen, die ihnen mit Abschiebung drohen und sie von ihren Familien trennen.

Unsere Antwort muss lauten, dass die Reichen und die Großkonzerne gezwungen werden müssen, für die Krise des NHS zu zahlen, genauso wie sie gezwungen werden müssen, für die Krise der Lebenshaltungskosten und die kommende Rezession zu zahlen.

Grundsätzlich muss das Gesundheitswesen wieder vollständig in öffentliches Eigentum überführt, ohne Entschädigungszahlungen an die Profiteur:innen, und unter der demokratischen Kontrolle von Beschäftigten und Patient:innen betrieben werden. Alle privaten Finanzierungsinitiativen (PFIs) gehören abgeschafft.

Wir müssen auch die Pharmakonzerne und all jene enteignen, die durch die Ausbeutung von Kranken riesige Profite erpressen, und zwar unter der Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und ohne einen Pfennig Entschädigung für die Bosse.

Für die Krise des NHS sind Regierungen der Bosse, einschließlich derjenigen von New Labour, maßgeblich verantwortlich. Die Gewerkschaften sollten als Preis für die Finanzierung der nächsten Wahlkampagne von Labour darauf bestehen, dass das Parteiprogramm oben skizzierte Maßnahmen enthält. Deshalb geht es beim aktuellen Streik um mehr als nur Löhne. Es geht um das Überleben des NHS – und der öffentlichen Dienste und der sozialen Sicherung im Allgemeinen.




Krankenhauspflege: Streiks und Reformen

Jürgen Roth, Infomail 1205, 30. November 2022

Nach bundesweiten Warnstreiks und 5 Verhandlungsrunden einigten sich Gewerkschaft und Klinikleitung lt. ver.di-Pressemitteilung vom 11.11.2022 auf einen Tarifvertrag bei der Sana AG.

Sana AG

Rund 10.000 Beschäftigte fallen unter den Konzern(haus)tarifvertrag. Deren Entgelte erhöhen sich – allerdings erst ab 1.6.2023 – um 7 %, mindestens aber 200 Euro. Zudem wurden Einmalzahlungen (2.000 Euro 2022, 500 Euro 2024) sowie höhere Zulagen vereinbart. Darüber hinaus gibt es ein Angebot des Konzerns, Teil der eigenen privaten betrieblichen Krankenversicherung zu werden.

Dem Abschluss waren Warnstreiks in Berlin und Nürnberg vorgegangen, nach die Beschäftigten schon im Oktober die Arbeit niedergelegt hatten. Zur 5. Verhandlungsrunde hatte ver.di zu einer Demo am Stammsitz in München mobilisiert. In Hof (Oberfranken) hatte am 14.10. etwa die Hälfte aller Pflegekräfte die Arbeit niedergelegt. In Nürnberg und Pegnitz erreichten die Warnstreiks am 20.10. ihren ersten Höhepunkt. Am gleichen Tag umzingelten die Lichtenberger:innen die ver.di-Zentrale in Berlin, wo die Verhandlungen stattfanden. Auf dieser Kundgebung erzählten Pflegende von Fortbildungen, die sie selbst bezahlen müssen und oft nicht mit Lohnsteigerungen verbunden sind, von überbelegten Kinderintensivbetten und der Arroganz ihrer Chef:innen, man könne ja das Unternehmen wechseln, wenn einem die Zustände nicht passten.

Ergebnisdetails

Im Einzelnen sieht das Tarifergebnis folgende Regelungen vor: Die Tabellenentgelte steigen zum 1. Juni 2023 um 7 Prozent, mindestens jedoch um 200 Euro monatlich; die Vergütungen für Auszubildende erhöhen sich zum selben Zeitpunkt um 100 Euro pro Monat. Ende dieses Jahres erhalten die Beschäftigten (Teilzeit anteilig) eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung in Höhe von 2.000 Euro; Auszubildende erhalten dann eine Einmalzahlung in Höhe von 750 Euro. Zum 30. April 2024 erhalten die Beschäftigten (Teilzeit anteilig) eine weitere Einmalzahlung von 500 Euro, die für langjährig Beschäftigte um 100 Euro aufgestockt wird. Auszubildende bekommen zum selben Zeitpunkt noch einmal 200 Euro. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit bis 30. April 2024. Zudem werden die Zulagen, unter anderem für Wechselschicht und die Pflegezulage deutlich erhöht, ebenso die Zuschläge für Nachtarbeit und der Zuschuss zur betrieblichen Altersvorsorge. Neu eingeführt wird eine monatliche Zulage für langjährig Beschäftigte: Ab 20 Jahren bei Sana sind es 50 Euro, ab 30 Jahren 75 Euro und ab 40 Jahren 100 Euro.

Die Tarifkommission kündigte eine Mitgliederbefragung an, die bis zum 25.11.2022 abgeschlossen sein sollte. Natürlich ist deren Ergebnis nicht bindend, weil es nicht zum Vollstreik nach Urabstimmung kam.

Was ist mit Entlastung?

Für viele Beschäftigte ist ein Entlastungstarifvertrag eine weitere Option. So ist z. B. die Klinik in Berlin-Lichtenberg gut organisiert. Scheinbar großzügig erklärte ver.di, man werde die Kolleg:innen dabei unterstützen, sollten sie sich dafür entscheiden. Abgesehen davon, dass eine solche Entscheidung ohne funktionierende gewerkschaftliche Betriebsgruppe bzw. Vertrauensleutekörper schon kaum zu treffen sein wird, dürfte im unwahrscheinlichen Fall ihres Zustandekommens der Apparat bestenfalls auf einen Häuserkampf einschwenken. So schiebt er die Verantwortung und Initiative an die Basis weiter. Kein Wunder, wo er doch mal wieder wie bisher stets üblich Lohn- und Entlastungstarif künstlich trennt.

Nebenbei bemerkt: In punkto Tarifvertrag Entlastung stellt sich die GEW Berlin gerade als Speerspitze mit dem 6. Warnstreik im Lauf der letzten Woche (3.000 plus Teilnehmer:innen) auf. So erfuhren wir dort, dass die Aufnahme von Entlastungsforderungen durch Druck auf den bundesweiten Apparat in der nächsten Ländertarifrunde erfolgen soll. Diesem Beispiel folgt die Gewerkschaft ver.di für die nichtärztlichen Krankenhausbeschäftigten leider nicht, sondern beschränkt sich auf flächendeckende Tarifrunden nur in der Frage der Entlohnung, nicht Entlastung. Hier blieb es beim „Häuserkampf“ großer Kliniken wie an den Universitäten oder bei Vivantes Berlin.

Chancen

Die Sana AG ist Deutschlands drittgrößter privater Krankenhauskonzern, betreibt 44 Akutkrankenhäuser, 3 Herzzentren, 4 orthopädische Fach- und 3 Rehakliniken, 4 Pflegeheime und 28 Medizinische Versorungszentren. Insgesamt arbeiten 36.000 Menschen bei Sana.

Unter den Konzerntarifvertrag fallen aber nur 20 Kliniken. Das ist nur etwas mehr als ein Viertel aller Beschäftigten. Zunächst hatte ver.di einen Sockelbetrag von 150 Euro und 8 % linear für eine Laufzeit von 12 Monaten gefordert.

Kurz zuvor kämpften die Beschäftigten der 4 Unikliniken Baden-Württembergs für bessere Bedingungen und höhere Löhne und legten die Arbeit nieder. Ebenfalls wird es wohl demnächst im Bereich der ärztlichen Klinikbeschäftigten zu Arbeitskampfmaßnahmen kommen. Der Marburger Bund, bei dem die überwältigende Mehrheit organisiert ist, tritt in Verhandlungen ein.

Diese Beispiele zeigen: Es tut sich was! Gerade das Beispiel Sana zeigt, dass auch in privaten Konzernkliniken Streikbereitschaft existiert, auch wenn sie von der ver.di-Spitze nur unzulänglich ausgeschöpft wird. Umso wichtiger wird es für alle Krankenhausbeschäftigten, dagegen und für flächendeckende Entlastungspläne über alle Berufsgruppen hinweg eine innergewerkschaftliche Opposition zu bilden und sich der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) anzuschließen. Das gilt auch für den Marburger Bund.

Vorsicht Krankenhaus„reform“!

Der Bundesvorstand der Linkspartei hat Alternativen zu Lauterbachs Plänen für eine Krankenhausreform verabschiedet. Insbesondere moniert er, dass die Abschaffung der DRGs (Fallpauschalen) nicht auf der Tagesordnung der Ampelkoalition steht. Deren Aussetzung (!) zumindest für die Kinderstationen hatte der Bundesgesundheitsminister noch im Oktober angekündigt.

DIE LINKE fordert ein Halte- und Rückholprogramm des Bundes für Pflegekräfte, die ihren Job verlassen haben. Eine Zulage von 500 Euro monatlich soll aus einem Bundesfonds finanziert werden. Was ist mit denen, die ihre Arbeitszeit reduziert haben, um sie wieder aufzustocken? Zudem gibt es noch 2 Pferdefüße: a) Statt Lohnsubvention für einige zu betreiben, müssten alle eine gleich höhere Bezahlung erhalten; b) der Bund soll nicht nur zahlen, sondern alle Kliniken enteignen und unter seiner oder Regie anderer Gebietskörperschaften verstaatlichen sowie einen integrierten nationalen Gesundheitsdienst organisieren gemäß dem organisatorischen Vorbild des NHS in Britannien.

Ferner fordert der Bundesvorstand: Pflegepersonalschlüssel für bundesweit 100.000 zusätzliche Pflegestellen; Gewinnverbot für Krankenhäuser; Bundesfonds zur Rekommunalisierung privatisierter Kliniken.

Doch wie will man Ersteres ohne Abschaffung der Fallpauschalen und des Klinikwettbewerbs umsetzen? Und sollen bei der Rekommunalisierung die Klinikaktionär:innen entschädigt werden, vielleicht sogar zum Börsenwert?

Sicher eine wünschenswerte Initiative trotz mancher Lücken, doch nicht mehr als fromme Reformwünsche vom Weihnachtsmann. Perspektiven der Umsetzung mittels Kampfmaßnahmen werden gar nicht erwähnt. Dabei ist zu befürchten, dass die kleinen, aber in der stationären Grundversorgung elementaren Krankenhäuser zugunsten ambulanter Zentren geschlossen werden sollen. Wir werden über die konkreten Pläne informieren.

Zweitens zeigen die Erfahrungen mit den bisherigen Entlastungstarifverträgen, dass es nicht zur Personalaufstockung gekommen ist. Wie auch, wenn nicht mehr Geld ins System fließt? Das scheitert aber an der finanziellen Lage der Krankenkassen. Gewerkschaften und DIE LINKE wären gut beraten, ihre Mitglieder auf den drohenden Kahlschlag bei der stationären Grundversorgung abseits von Großstädten ebenso aufmerksam zu machen wie auf die notwendige Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen.

  • Kein Krankenhauskahlschlag! Gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle und ohne Beitragsbemessungsobergrenzen! Entschädigungslose Verstaatlichung aller Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten!



Streik der Unikliniken NRW beendet

Jürgen Roth, Infomail 1193, 21. Juli 2022

In der Nacht von Montag auf Dienstag einigten sich die Leitungen der 6 Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) auf einen Tarifvertrag Entlastung (TVE).

Hartes Brot

Der nach Gewerkschaftsangaben längste Streik im Gesundheitswesen ist vorbei. Nach 79 Tagen Arbeitskampf einigten sich beide Seiten auf einen TVE. Es war beileibe kein leichter!

Anfang des Jahres hatten die Beschäftigten ein 100-Tage-Ultimatum für einen TVE verabschiedet. Das Kalkül dahinter: die damals amtierende schwarz-gelbe Landesregierung werde wohl kaum riskieren, dass dieses 2 Wochen vor der Wahl auslaufe und ein großer Streik ausbreche. Sie irrten gründlich! Alter und neuer Gesundheitsminister Laumann (CDU) und Landesregierung schoben bürokratische Probleme vor: Die Unikliniken könnten nicht aus dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) ausscheiden, dies sei auch nicht im Interesse ver.dis.

Was sie „vergaßen“ zu erwähnen: Sie hatten sich gar nicht erst bei den Verbänden der „Landesarbeitgeber:innen“ für die Aufhebung von deren Blockadehaltung gegen einen bundesweit geltenden TVE eingesetzt, sondern drohten mit der Keule eines Rauswurfes aus der Tarifgemeinschaft, um auch den landeseigenen AdL (Arbeitgeberverband des Landes NRW), in dem sie ja schließlich die Unternehmensseite verkörpern, nicht mit solchem „Schnickschnack“ zu belasten.

Die Streikenden waren überdies mit einer Klage der Uniklinik Bonn vor 2 Arbeitsgerichtsinstanzen zwecks einstweiliger Verfügung zur Aussetzung des Streiks sowie einer nahezu vollständigen Mediensperre über ihre Arbeitsniederlegung konfrontiert. Das hielt sie nicht ab, ihre Stärken eindrucksvoll zu demonstrieren. Notdienstvereinbarungen sahen Bettensperrungen (1.800) und Abteilungsschließungen (50) vor, auch wenn das Landesarbeitsgericht Köln auf Klage der UKB hin die Öffnung zusätzlicher 25 OP-Säle in 2. Instanz landesweit anordnete. Machtvolle Kundgebungen und Demonstrationen, zuletzt am 21.6. in Münster und am 29.6. in Düsseldorf, Solidaritätsbekundungen bis in weite Teile der sog. Zivilgesellschaft hinein und die Vorstellung des Schwarzbuchs Krankenhaus in einer gerammelt vollen Kölner Kirche trugen das Ihrige dazu bei, der Verweigerungshaltung der „Arbeitgeber:innenseite“ die Stirn zu bieten.

Ergebnis

2018 hatte ein fast gleich langer Streik an den Unikliniken Düsseldorf und Essen dort bereits zu einer Entlastung des Personals geführt. Doch wurde dieser von ver.di im Vorfeld der diesjährigen Auseinandersetzungen gekündigt. Die Unterschreitung der vereinbarten Mindestpersonalbesetzung blieb weitgehend konsequenzlos. Nach Abstimmung an den 6 Klinikstandorten segnete am Dienstagnachmittag auch die 75-köpfige Tarifkommission die Einigung mit überwältigender Mehrheit ab. Ob der Rat der 200 tatsächlich dabei wie versprochen das letzte Wort behielt, erschließt sich aus den Medienberichten nicht. Seit Mittwochmorgen ist der Streik ausgesetzt.

Der TVE gilt erst ab 1.1.2023. Für große Teile des Pflegepersonals wurde ein schichtgenaues Verhältnis von Beschäftigten zu Patient:innen festgelegt. Wird dieses unterschritten bzw. kommt es zu anderweitigen zusätzlichen Belastungen, erhalten die Beschäftigten entweder finanziellen Ausgleich oder einen Belastungspunkt. Für 7 gibt es 1 Tag Freizeitausgleich. Im 1. Jahr der Umsetzung können so bis zu 11, im 2. 14 und im 3. 18 Tage herauskommen. Erstmals wurden für viele Gruppen außerhalb der Pflege Mindestbesetzungen und Entlastungsausgleiche vereinbart (Radiologie, Betriebskitas, Therapeut:innen). Auszubildende erhalten mehr persönliche Anleitung und Tage für die Selbstlernzeit, Mindeststandards für Praxisanleitung und Zahl der Lehrkräfte sowie Belastungsausgleich bei Unterschreitungen.

Das kurze Streichholz zog das Personal in Servicebereichen, IT und Technik. Hier wurden pro Krankenhaus lediglich 30 zusätzliche Vollzeitstellen ausgehandelt, was zu vielen Diskussionen in den Belegschaften geführt haben soll.

Bewertung

Das Berliner Ergebnis wurde übertroffen, weil erstmals auch außerpflegerische Bereiche erfasst wurden. Katharina Wesenick, Landesfachbereichsleiterin Gesundheit im ver.di-Landesbezirk NRW, spricht von einem „wichtigen Etappensieg“, man habe die eigene Gesundheit und das Patient:innenwohl gegen die „Profitlogik“ im Krankenhaus durchsetzen müssen. An der Streikbewegung seien der demokratische Prozess, die große Beteiligung der Beschäftigten und deren Selbstermächtigung gewesen. Tausende hätten sich nicht nur am Streik, sondern auch als Expert:innen ihrer Arbeitssituation an Aushandlungsprozessen beteiligt.

Diesem Euphemismus können wir uns nur bedingt anschließen. Zum Ersten: Die Kliniken haben anderthalb Jahre Zeit, ihre Computersysteme auf das neue System umzustellen, was sich nicht in nennenswerter Aufstockung der IT niederschlägt! Für diese Übergangsphase gelten die vereinbarten Belastungsausgleiche nicht, sondern pauschal 5 Entlastungstage (nur) fürs Pflegepersonal.

Zum Zweiten: Interventionsmöglichkeiten des Personals bei Unterschreitung der Mindestbemessungsgrenzen wie Aufnahme- und Behandlungsstopps inkl. Bettensperrungen und Abteilungsschließungen finden ebenso wenig Niederschlag wie in Berlin. Kommt es also bei gleicher oder zunehmender Zahl von Fällen bzw. Fallschwere nicht zur Neueinstellung von Personal – bundesweit fehlen 200.000 Stellen allein in der Pflege –, droht eine Art von Langzeitarbeitskonto, dessen freie Tage sich zwar hübsch summieren, die die Beschäftigten aber mit ins Grab nehmen können.

Zum Dritten: Der Häuserkampf geht weiter, auch wenn Wesenick von einem flächendeckenden Ergebnis faselt. Schlimmer noch: Der TVE gilt nicht für den AdL! Der neue Landtag änderte das Hochschulgesetz und signalisierte so grünes Licht für das Ausscheiden der Unikliniken aus der Tarifgemeinschaft zwecks Abschlussmöglichkeit für einen TVE. In einem Anerkennungstarifvertrag ist festgelegt, dass sie in den kommenden 7 Jahren sämtliche Tarifregelungen des öffentlichen Dienstes der Länder (TV-L) automatisch übernehmen (Arbeitszeit, Entgelt, betriebliche Altersversorgung … ). Und danach? Bedeutet dies etwa, dass das gewerkschaftlich organisierte Uniklinikpersonal während der nächsten 3 – 4 TV-L-Runden außen vor bleibt, wo es doch neben angestellten Lehrer:innen und Erzieher:innen in den letzten Jahren deren Speerspitze darstellte? Die Befürwortung der Änderung des Hochschulgesetzes durch ver.di-NRW stellt also ggü. Berlin eine Verschlechterung dar.

Zum Vierten: Immer wieder suggerierte die ver.di-Führung ihren Mitgliedern, ein TVE finanziere sich wie von selbst. Doch zahlen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) nur die von Spahns Pflegepersonalstärkungsgesetz eingeräumten mageren zusätzlichen Stellen direkt am Krankenbett. Des Weiteren wurde sie nicht müde, den Beschäftigten zu versichern, der Staat werde die übrig gebliebene Lücke zur notwendigen Personalaufstockung schließen und man hoffe auf einen starken Anreiz für Personalaufbau durch den abgeschlossenen Tarifvertrag. Doch der Landtagsbeschluss deckt nur die Bezahlung des Anerkennungstarifvertrags für 7 Jahre ab, denn die Unikliniken hatten sich bis zuletzt gegen die durch den TVE entstehenden Zusatzkosten mit Händen und Füßen gesträubt und angedroht, dies durch Abstriche am TV-L wettzumachen.

Die Erfahrung der siegreichen Beschäftigten an der Charité und bei Vivantes Berlin beweist: All das sind Phantastereien! Der Senat betonte dort ausdrücklich, er dürfe lt. Krankenhausfinanzierungsgesetz den laufenden Betrieb gar nicht subventionieren, und erhöhte lediglich das Budget für Investitionen in die Substanz, zu denen er demnach verpflichtet ist. Trotz dieser Erhöhung bleibt es lt. Berliner Krankenhausgesellschaft immer noch weit unter dem an Instandhaltung und Erneuerung von Gebäuden und Technik Nötigem. Das Krankenhausfinanzierungsgesetz gilt auch für NRW ebenso wie die langjährige Vernachlässigung der Pflichten durch die Landesregierung und das Subventionsverbot für den laufenden Betrieb.

Für ein Nein in der Urabstimmung!

Aus all diesen Gründen sollten die Gewerkschaftsmitglieder das Ergebnis ablehnen und den Streik wiederaufnehmen. Wichtig ist, die von Wesenick beschriebenen demokratischen Prozesse an der Basis – ja, diese ist umfänglicher als früher in die Auseinandersetzungen einbezogen und darf ihre Meinung äußern – auf die Kampfesführung auszuweiten: der Rat der 200 muss auf Mitgliederversammlungen als Streikkomitee und verhandlungsführende Tarifkommission gewählt werden, jederzeit neu wählbar und rechenschaftspflichtig sein. Ferner muss er als Kern von nach den gleichen direkt- oder rätedemokratischen Prinzipien fungierenden Veto-, Inspektions- und Kontrollorganen operieren, die die Umsetzung des TVE überwachen und energische Schritte einleiten, wirklich massenhaft zusätzliches Personal einzustellen. Dabei kommt man um die Frage der Finanzierung nicht herum. Eine einheitliche staatliche Zwangskrankenversicherung für alle mit progressiven Betragssätzen muss ebenso her wie eine Finanzierung der Investitionsmittel durch progressive Besteuerung von Gewinnen, Einkommen und Vermögen.

Nach der Urabstimmung gilt als unmittelbare Aufgabe der Opposition gegen die bisherigen TVEs: Einberufung einer Konferenz aller Beschäftigten in Gesundheitswesen, Alten- und Behindertenbetreuung einzuberufen, um die ver.di-Führung zur Aufnahme eines Kampfes um einen bundesweit geltenden TVE aufzunehmen bis hin zum politischen Streik aller Gewerkschaften des DGB und darüber hinaus (GDL, Marburger Bund, UFO, Gorillas … ) für eine gesetzlich verbindliche Personalregelung, entschädigungslose Verstaatlichung der Privatkliniken, Wegfall der Fallpauschalen und Ersatz durchs Selbstkostenprinzip. Diese Personengruppe gilt es ferner, für die Idee einer klassenkämpferischen, antibürokratisch-oppositionellen Gewerkschaftsbasisbewegung zu gewinnen. Schließt Euch der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) an! Damit könnte ein wichtiger Grundstein auf dem Weg zu einem integrierten, sozialistischen Gesundheitswesen gelegt werden.

Weitere Artikel zum Streik

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/06/unikliniken-nrw-im-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/27/uniklinken-in-nordrhein-westfalen-4-wochen-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/06/18/nrw-unikliniken-in-der-8-streikwoche-licht-und-schatten/




Gesundheitsminister:innenkonferenz in Magdeburg: ver.di-Mitglieder fordern Entlastung

Ernst Ellert, Infomail 1191, 22. Juni 2022

Es ist schon zu einem Ritual geworden: Alljährlich treffen sich die Gesundheitsminister:innen der Länder und des Bundes zu einer Konferenz, diesmal in der Hauptstadt Sachsen-Anhalts.

Nur das Wetter war heiß

Ca. 250 Gewerkschafter:innen waren aus vielen Bundesländern angereist und marschierten vom Jerichower Platz zum Tagungsort Dorint-Hotel Herrenkrug ganz im Osten Magdeburgs. Ein Drittel bis die Hälfte stammte aus Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Daneben waren sichtbar vertreten Kolleg:innen aus Baden-Württemberg (Crailsheim) und Rheinland-Pfalz (Uniklinik Mainz).

Ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler hielt eine kurze Rede, in der sie den in die 8. Woche gehenden Streik der 6 Unikliniken in Nordrhein-Westfalen als lobendes Beispiel zwar erwähnte, aber nichts darüber verriet, wie dieser Kampf nach Ansicht des Bundesvorstands gewonnen und auf die gesamte Republik ausgedehnt werden kann. Der dortige Arbeit„geber“:innenverband (AdL) und die 6 Klinikvorstände halten sich bisher mit Angeboten zurück, die über eine sich durch die Krankenkassen finanzierende Personalaufstockung für bettenführende Bereiche der Pflege hinausgehen. Ver.di NRW hatte diese zu Recht abgelehnt, weil sie nur einen Teil der Pflege und schon gar nicht Abteilungen außerhalb ihrer betreffen. Der Rat der 200 (Teamdelegierte aus allen Bereichen der 6 Krankenhäuser) hatte just am 21. Juni einen offenen Brief an Landesregierung und Unternehmenseite formuliert, der zu einem ernsthaften Angebot mahnt.

Reden

250 Leute machten ihrem Unmut zwar Luft, doch kann die Mobilisierung durch ver.di angesichts der geringen Teilnehmer:innenzahl und der Lage in NRW nur als lauwarm gelten. Lediglich das Wetter legte einen drauf.

In den Reden zweier Auszubildenden über ihre Situation und von Lilian Kilian zur Situation in der Psychiatrie gab es zwar auch Anklänge von Unzufriedenheit mit den Versprechen aus Politik und vonseiten der Krankenhausunternehmen. So habe sich die Situation seit Einführung der Fallpauschalen (DRGs) weiter verschlechtert. Folglich seien die Unterstützungsbekundungen nur leerer Trost. Das DRG-System müsse fallen und mit ihm die auf Gewinn ausgerichtete betriebswirtschaftliche Logik.

Fast in einem Atemzug wurde aber wieder auf die kostendeckende Möglichkeit der Refinanzierung von Entlastungsverträgen (s. o.) verwiesen, was nur für wenige Bereiche und auch dort nur bedingt gilt. Als zweite Mär, auf die auch schon die Streikenden in Berlin hereinfielen und gegen die auch die in NRW nicht immun sind, wurde verbreitet, „die Politik“, vorher noch als Vereinigung für billigen Seelentrost dargestellt, möge und könne doch den Rest bezahlen.

Die Länder sind jedoch im Zuge des dualen Krankenhausfinanzierungsgesetzes „nur“ verpflichtet, technische und bauliche Investitionsmittel zur Verfügung zu stellen und tun dies zusehends ungenügender. Den laufenden Betrieb dürfen sie demnach gar nicht abdecken. Das ist Aufgabe der Krankenkassen. Darauf hatte jüngst der Berliner Senat hingewiesen – natürlich nach der Tarifrunde, während der er die Streikenden hingegen diesbezüglich in Arglosigkeit wog.

Forderungen

Ver.di hatte unter folgenden Forderungen nach Magdeburg mobilisiert:

  • PPR 2.0 in der Krankenhauspflege kurzfristig in Kraft setzen
  • Bedarfsgerechte und verbindliche Personalbemessung in der Altenpflege schnell und vollumfänglich umsetzen
  • Psychiatrie-Personalverordnung zu 100 Prozent einhalten
  • Besonders in der Altenpflege: flächendeckende Entlohnung nach relevanten Tarifverträgen
  • Bedarfsgerechte und solidarische Finanzierung
  • Schluss mit Kommerzialisierung und Profitmaximierung im Gesundheitswesen 

Diese sind allesamt unterstützenswert. Doch mit o. a. sozialpartnerschaftlicher Orientierung der Gewerkschaftsführung werden sie nicht umsetzbar sein. Im 1. Schritt gilt es deshalb einzuklagen, dass ver.di von ihrer bisherigen Strategie der Entlastungskampagne als bestenfalls Kampf in einzelnen Häusern abrückt und sie auf alle Krankenhäuser, psychiatrische Einrichtungen und Altenpflegeheime ausdehnt. Die Teilnehmer:innen heute in Magdeburg hätten dafür volles Verständnis gehabt.