China: Die Jahrhundertfeier der Kommunistischen Partei (Teil 2)

Teil 2, Peter Main, Infomail 1154, 4. Juli 2021

Nach Chiangs Putsch vom 20. März zögerte die Führung der KP Chinas, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen und wartete auf eine Antwort aus Moskau auf diesen feindlichen Akt des von der KI (Kommunistische, III. Internationale; Komintern) am meisten umworbenen GMD-Führers (GMD: Guomindang, Kuomintang = Nationale Volkspartei Chinas, Partei der nationalen Bourgeoisie). Intern entschieden sich Chen Duxiu und das Zentralkomitee jedoch dafür, ein Bündnis mit der „Linken GMD“ von Wang Jingwei, die nun in Wuhan ansässig war, und eine Stärkung der von der KP geführten bewaffneten Einheiten der Nationalrevolutionäre Armee (NRA) vorzuschlagen.

Innerhalb weniger Wochen nach dem Putsch, nachdem er seinen Griff auf Guangzhou gefestigt hatte, ordnete Chiang Beschränkungen für die Tätigkeit von KommunistInnen innerhalb der GMD an: Sie durften keine Abteilungen der Partei mehr leiten, konnten nicht mehr als ein Drittel der Plätze in Komitees einnehmen, durften die Werke von Sun Yat-sen nicht kritisieren, keine Einheiten bewaffnen und mussten die Namen aller KP-Mitglieder aushändigen.

Chen forderte nun, dass die KP Chinas aus der GMD austreten und das Bündnis, das immer noch als strategisch notwendig angesehen wurde, als unabhängige Partei eingehen solle. Der KI-Vertreter Michail M. Borodin, der nun seine Befehle aus Moskau erhalten hatte, bestand jedoch darauf, dass dies eine Überreaktion wäre. Stalins Rat folgend, überzeugte er das Zentralkomitee, dass es im Interesse der Einheit und der strategischen Notwendigkeit des Bündnisses Chiangs Befehle lediglich als Klärung der Verantwortlichkeiten akzeptieren sollte, und wies darauf hin, dass dieser auch gegen einige führende Rechte vorgegangen sei.

Im Herbst 1926 begann Chiang die Mobilisierung für die Nordexpedition, den Vormarsch der NRA in 3 Stoßrichtungen, dessen erstes Ziel es war, die KriegsherrInnen zu besiegen, die die Provinzen südlich des Jangtsekiang-Flusses kontrollierten. Nun war alles darauf ausgerichtet, und die KP Chinas stürzte sich in die Unterstützung des Vorstoßes, indem sie ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen in Gewerkschaften und Verbänden mobilisierte. In Hunan zum Beispiel wurden 500.000 in die Bauern-/Bäuerinnenorganisationen aufgenommen, von denen viele die Armee mit wichtigen Informationen und Unterstützung versorgten. In ähnlicher Weise wurden in den Städten neue Gewerkschaften gegründet, die nicht nur Streiks um Löhne und Arbeitsbedingungen führten, sondern auch für politische Rechte und gegen die imperialistischen Hinterleute der KriegsherrInnen.

Vor dem Hintergrund dieser rasanten militärischen Fortschritte beschloss die KI, die GMD als „sympathisierende Sektion“ in ihre Reihen aufzunehmen, was den Glauben unterstrich, dass sich die langjährige Strategie der Allianz mit ihr nun auszahlte. Doch vor Ort war die Lage eine andere. In Bezirken, die direkt unter der Kontrolle von Chiangs Truppen standen, gab es Berichte über die Schließung der neu gegründeten Gewerkschaften und Maßnahmen gegen Bauern und Bäuerinnen, die Land besetzten.

Shanghai

Nach zwei gescheiterten Versuchen ergriffen am 21. März 1927 die von der chinesischen KP geführten Gewerkschaften von Shanghai, die insgesamt 800.000 ArbeiterInnen zählten, erfolgreich die Kontrolle über Chinas größte Stadt, vertrieben den Kriegsherren (warlord), der sie mit Hilfe der ausländischen Mächte unterdrückt hatte, und setzten eine provisorische Regierung ein. Im Einklang mit der Parteipolitik wurden mehrere VertreterInnen der Wirtschaft in dieses Gremium aufgenommen, und es beschloss, nicht die Internationale Siedlung zu betreten, aus Angst, einen imperialistischen Gegenangriff zu provozieren.

Angesichts der Erfahrungen in Kanton nur ein Jahr zuvor erkannten die in Shanghai anwesenden Mitglieder des Zentralkomitees die Wahrscheinlichkeit einer Repression durch Chiang, dessen Armee sich schnell der Stadt näherte. Sie schlugen vor, sich auf eine bewaffnete Offensive vorzubereiten, aber auch die Unterstützung der linken GMD in Wuhan zu gewinnen. Noch bevor ihr Vorschlag in Wuhan ankam, schlug Chiang zu.

In einem konzertierten Angriff, an dem nicht nur seine eigenen Truppen, sondern auch Polizei, ausländische Sicherheitseinheiten und die Triaden, Chinas Mafia, beteiligt waren, wurde am 12. April 1927 ein Pogrom gegen die ArbeiterInnenviertel entfesselt. In tagelangen Kämpfen wurden Tausende getötet und alle Gewerkschafts- und Parteibüros geplündert.

Selbst diese Katastrophe führte nicht zu einem grundlegenden Kurswechsel der KI. Als Reaktion auf das Massaker schlossen Wang Jingwei und die Regierung der Linken GMD Wuhan Chiang aus. Der KI-Vertreter, Manabendra Nath Roy, interpretierte dies als Säuberung der Rechten, so dass die linke GMD als nationale revolutionäre Führung übrig blieb. Dies entsprach der in Moskau beschlossenen Linie Stalins, der erklärte, dass die GMD nun zum Organ der „revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ geraten würde. Dementsprechend rief die KP Chinas am 30. Juni die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen Chinas auf, die Führung der Regierung in Wuhan und der GMD zu akzeptieren.

Trotzki hingegen, der bereits im März eine unabhängige Partei gefordert hatte, kam nun zu dem Schluss, dass die chinesische Revolution nur gelingen würde, wenn sie die Rätemacht der ArbeiterInnen und BäuerInnen etablieren würde – oder sie würde überhaupt keinen Erfolg haben können.

Trotz der Unterstützung durch die internationale Führung der KI entschied sich die „linke“ GMD unter Wang Jingwei tatsächlich dafür, ein Bündnis mit Chiang zu suchen. Am 15. Juli befahl er den Ausschluss aller KommunistInnen aus der GMD. Die gesamte Strategie der KP Chinas war zusammengebrochen, Chen Duxiu übernahm die Verantwortung und trat als Generalsekretär zurück.

Stalins Reaktion auf diese Katastrophe bestätigt Trotzkis Charakterisierung seiner Politik zu dieser Zeit: „bürokratischer Zentrismus“, d. h. in Ermangelung eines wissenschaftlich fundierten Programms die Fähigkeit, unter dem Eindruck der Ereignisse von einem Extrem ins andere zu schwanken, zum Beispiel vom Opportunismus zum Sektierertum. Stalin kam zu dem Schluss, dass der Ausschluss der KP Chinas beweise, dass der Klassenkampf nun ein qualitativ höheres Niveau erreicht habe, so hoch, dass eine militärische und politische Offensive gerechtfertigt sei.

Herbsternte-Aufstand

In den nächsten drei Monaten wurde eine Reihe von Städten und ländlichen Gebieten von KP China-geführten Truppen und den bewaffneten Einheiten der Partei eingenommen. Der erste Aufstand, in Nanchang (Hauptstadt der Provinz Jiangxi in Zentralchina), dauerte drei Tage, bevor reguläre GMD-Truppen angriffen und eine kleine Gruppe von Überlebenden zwangen, in die Berge von Jinggangshan (im Grenzgebiet der Provinzen Jiangxi und Hunan) zu fliehen. Beim „Herbsternte-Aufstand“ in Hunan nahm eine Truppe von 3.000 Personen mehrere Provinzstädte ein, aber auch hier erwies sie sich den regulären Truppen nicht gewachsen und wieder konnten nur kleine Gruppen, darunter Mao Zedong (Mao Tse-tung), in die Berge fliehen. Der „Hailufeng-Sowjet“ unterschied sich dadurch, dass es sich in erster Linie um eine bäuerliche Bewegung handelte, die Ländereien eroberte und etwa 300.000 Menschen mobilisierte, aber sie konnte sich nicht mit städtischen Kräften verbinden und wurde bald von den GMD-Truppen unter großen Verlusten aufgerieben.

Der letzte Akt in dieser schlecht durchdachten und verzweifelten Strategie war die Guangzhou-Kommune im Dezember 1927. Diese stützte sich auf die Organisationen und Kader, die zur Zeit des Generalstreiks in Hongkong gebildet worden waren, konnte aber nur drei Tage lang standhalten. Der GMD-Bericht über ihre Niederschlagung zählte 5.700 Tote. Diese Zahl allein ist schon schrecklich genug, vermittelt aber nicht das ganze Ausmaß der Niederlage für die gesamte chinesische ArbeiterInnenklasse, die diese „Aufstände“ herbeiführten. Nicht nur wurden viele, vielleicht die meisten der erfahrenen politischen und gewerkschaftlichen Kader getötet und ihre Organisationen aufgelöst, sondern auch jegliches Vertrauen, das die ArbeiterInnenklasse insgesamt noch in die Kommunistische Partei, ja in jede politische Organisation gehabt haben könnte, wurde völlig zerstört.

Die Niederlagen in China fielen mit tiefen Spaltungen innerhalb der KI und der sowjetischen Parteiführungen zusammen und trugen dazu bei. Kurz gesagt, der Schwenk vom Opportunismus zum Ultralinkstum, der in China zu beobachten war, wurde auch der sowjetischen Partei und der gesamten Internationale aufgezwungen. Die „Generallinie“ dieser Dritten Periode lautete, dass der Kapitalismus in eine Krisenperiode eintrete, in der es für kommunistische Parteien notwendig sei, sich auf revolutionäre Situationen vorzubereiten und alle Beziehungen zu anderen Parteien zu vermeiden, die sich garantiert auf die Seite des Kapitals stellen würden.

Der Beweis für dieses Szenario in China war die Unfähigkeit von Chiang Kai-shek (Tschiang Kai Schek), die verschiedenen Kriegsherrn zu unterwerfen, die sowohl seine Versuche, das Land unter seiner Herrschaft zu vereinen, als auch die von Gruppen von KommunistInnen in verschiedenen abgelegenen und bergigen Regionen errichteten „sowjetischen Basiszonen“ endgültig zu beseitigen, weiterhin vereitelten.

Der Hauptverfechter der KI-Linie in China sollte Li Lisan sein. Er wurde nach dem sechsten Parteitag, der aus Sicherheitsgründen in Moskau tagte und an dem die FührerInnen der „sowjetischen Basen“ nicht teilnahmen, zum Leiter der Propagandaabteilung ernannt. Lis Gesamtstrategie, die sich aus der Perspektive der KI des aufsteigenden Klassenkampfes ableitete, sah die Umgruppierung der verstreuten Kräfte der Partei zur Vorbereitung einer erneuten Offensive vor, die die Partei in die Städte zurückbringen sollte. In diesem Szenario würde es keine Bündnisse mit anderen Kräften geben, keine Zugeständnisse an die Kleinbourgeoisie, auch nicht auf dem Land.

Aus ganz pragmatischen Gründen lehnten Mao und andere FührerInnen jedes Element dieser „Li-Lisan-Linie“ ab, von der sie glaubten, dass sie nicht nur die militärische Situation falsch einschätzte, sondern auch das Potenzial für Bündnisse mit den „Mittelschichten“, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. In den Basisgebieten zum Beispiel setzten sie zwar eine recht radikale Landumverteilung durch und schafften die Pachtzahlungen ab, konfiszierten aber nur das Land der GroßgrundbesitzerInnen, nicht das der „Mittelbauern und -bäuerinnen“.

Trotz ihrer bösen Ahnungen blieben sie jedoch disziplinierte KP-Mitglieder, und als ihnen befohlen wurde, zur Unterstützung der geplanten Aufstände in Changsha, Nanchang und Wuhan zu mobilisieren, gehorchten sie den Befehlen. Das Ergebnis dieser militärischen Abenteuer war wiederum katastrophal. Changsha wurde zehn Tage lang besetzt, doch dann eroberten Chiangs Truppen die Stadt zurück – und schlachteten alle verbliebenen KommunistInnen ab, die im Untergrund geblieben waren, um den Aufstand vorzubereiten. Der Zusammenbruch in Changsha überzeugte Mao und Zhu De, dass ihr geplanter Angriff auf Nanchang aufgegeben werden sollte, und zusammen mit He Longs Truppen, die ursprünglich Wuhan zugeteilt waren, kehrten sie in ihr „Basisgebiet“ zurück.

Li Lisan

Das Changsha-Debakel erwies sich als ein Wendepunkt in der Entwicklung des Programms der KPCh. Obwohl Li Lisan abgesetzt wurde, blieb die offizielle Parteiführung, gestärkt durch die Rückkehr von StudentInnen aus Moskau, unter der Führung von Wang Ming, an die Analyse der KI gebunden. Mit Sitz in Shanghai wurde sie jedoch in eine Untergrundexistenz gezwungen, während sich im Jiangxi-Sowjet, in den Mao und seine Kräfte von Jinggangshan übergesiedelt waren, de facto eine neue Führung mit einem ganz anderen politischen Programm herausbildete.

Diese lehnte im Wesentlichen die ultralinke Opposition gegen Bündnisse ab und kehrte zur Perspektive einer nationalen demokratischen Revolution zurück, die Verbündete aus der „nationalen Bourgeoisie“ sowie dem städtischen und ländlichen Kleinbürgertum benötigen würde. Eine formale Loyalität zur marxistischen Orthodoxie wurde durch das Beharren darauf aufrechterhalten, dass die führende Rolle vom Proletariat gespielt werden würde, aber in Wirklichkeit hatte diese Partei überhaupt keinen Kontakt zu den Städten oder der ArbeiterInnenklasse – und würde für die meisten der nächsten zwanzig Jahre über keinen verfügen.

Der wahre Inhalt der Formel war, dass die Kommunistische Partei die führende Rolle spielen würde. Hier sehen wir eine Parallele zu Trotzkis durchdringender Einsicht, als er den Fehler aufdeckte, der erklärte, wie es dazu kam, dass die ursprünglich engagierten bolschewistischen RevolutionärInnen die schrecklichsten Verbrechen gegen die ArbeiterInnenklasse  begehen konnten: „Sie dachten, SIE seien die Revolution“. In ähnlicher Weise kamen Mao und seine GenossInnen zu dem Glauben, dass SIE, in Form der Partei, die Revolution seien. Das rechtfertigte jede Taktik und jedes Manöver im Kampf um den Erhalt ihrer Macht.

Dies erlaubte ihnen nicht nur, die offiziellen Perspektiven der Partei aufzugeben, sondern auch ihre Priorität der städtischen Organisation. Von nun an würde die Machtübernahme in den Städten voraussetzen, dass man zuerst die Macht auf dem Lande übernimmt. Diese Strategie, zusammen mit dem Programm, das sie rechtfertigte, und der Taktik, mit der sie umgesetzt werden sollte, wurde jedoch erst nach der endgültigen Niederlage der von der Sowjetunion unterstützten Führung auf der Zunyi-Konferenz im Januar 1935 als offizielle Linie der Partei angenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die organisatorischen Techniken und politischen Verfahren, die ursprünglich angenommen wurden, um das Überleben zu sichern, zu einer systematischen politischen Praxis verfestigt.

Zu keinem Zeitpunkt in der Entwicklung oder Konsolidierung des „Maoismus“ gab es jemals eine Anerkennung oder ein Programm für den Aufbau demokratisch kontrollierter ArbeiterInnenorganisationen, die sowohl den Kampf gegen den Kapitalismus führen als auch die Grundlage des zukünftigen revolutionären ArbeiterInnenstaates bilden würden. Tatsächlich spielte der Marxismus – abgesehen von der Anerkennung der Existenz von Klassen und Klasseninteressen innerhalb der Gesellschaft und des Imperialismus als Weltsystem –, verstanden als Analyse des Kapitalismus und als Programm für seinen internationalen Sturz und seine Ersetzung durch eine internationale Planwirtschaft unter der Kontrolle von ArbeiterInnenräten, keine operative Rolle im Maoismus, dessen Programm eine Verschmelzung von Stalinismus und revolutionärem chinesischen Nationalismus darstellte.

Volksfront

Auf internationaler Ebene führte der Aufstieg des nationalsozialistischen Deutschlands dazu, dass die Kommunistische Internationale die ultralinke Politik der Dritten Periode nunmehr ablehnte. Stattdessen übernahm Stalin die Volksfrontstrategie, d. h. eine Politik der Suche nach Bündnissen mit bürgerlichen Kräften auf der Grundlage einer Politik, die nicht mit deren Interessen kollidierte. Für Mao bestätigte diese Politik effektiv seine eigene. So ist seine Annahme der Volksfront in Form der „Zweiten Einheitsfront“ mit der Guomindang im Krieg gegen Japan kein Beweis für eine sklavische Unterordnung unter Moskau, sondern eher eine zufällige Übereinstimmung von Maos bevorzugter Strategie mit der von Stalin.

Mit dem Ausbruch des Krieges 1937 behielt Mao zwar seine eigene geografische Basis in Yenan bei, unterstellte seine Kräfte aber dennoch dem Gesamtkommando von Chiang Kai-shek. Dies nahm zwar die Form der von der KI in ihrer revolutionären Periode entwickelten Taktik der „antiimperialistischen Einheitsfront“ an, unterschied sich aber inhaltlich dadurch, dass Mao mitnichten die ArbeiterInnenklasse und die BäuerInnenschaft Chinas vor der unvermeidlichen Unzulänglichkeit von Chiangs Führung warnte und ihn stattdessen in den Himmel lobte. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dies eher Naivität als zynisches Kalkül war oder dass Mao nicht immer Verrat von Chiang erwartete und die Absicht hatte, sich gegen ihn zu wenden, wenn die Zeit reif war. Der Fehler lag im Versäumnis, die ArbeiterInnenklasse und die BäuerInnenschaft vor der Notwendigkeit zu warnen, ihre eigenen Kampfkräfte zu entwickeln. Die Kombination von Maos Vertrauen in den Guerillakrieg und die politische Strategie der Volksfront brachte das Konzept des „Volkskriegs“ hervor, das zu einem zentralen Bestandteil des Maoismus werden sollte.

Der Block der vier Klassen beschränkte sich nicht auf den Krieg gegen Japan, sondern erstreckte sich auch auf das vorgeschlagene Regierungsprogramm der „Neuen Demokratie“ – das maoistische Äquivalent der „kapitalistischen“ Entwicklungsstufe, die im stalinistischen Etappe-Modell als notwendig vor der sozialistischen Revolution dargestellt wurde. Es wurde nie ein Zeitrahmen für die Dauer dieser Etappe definiert, aber es sollte angemerkt werden, dass das Modell für den „Sozialismus“, der folgen sollte, von der Sowjetunion geliefert wurde. Nach der Niederlage Japans hielt Mao an seiner Forderung nach einer Volksfrontregierung fest. Als Chiangs Verrat zu Spaltungen in der GMD führte, begrüßte Mao diejenigen, die sich von Chiang loslösten, als „nationale Bourgeoisie“. Dies ebnete den Weg zu einer Koalitionsregierung mit diesen dissidenten Elementen der GMD über ein Programm der kapitalistischen Entwicklung nach der „Befreiung“ von 1949, also einer Volksfrontregierung.

Fazit

Die Jahre bis 1949 einfach als die Periode der „Neuen Demokratie“ zu charakterisieren, verschleiert sowohl die dramatischen Ereignisse dieser Jahre als auch die Konsequenzen, die sie für den Charakter der chinesischen KP hatten, als sie schließlich an die Macht kam. Das Verhältnis zwischen der jungen Partei der frühen zwanziger Jahre und der sich schnell ändernden Politik der Kommunistischen Internationale führte nicht nur zu einer Niederlage, sondern zur physischen Vernichtung der meisten Parteikader und ihrer AnhängerInnen aus der ArbeiterInnenklasse.

Die Partei, die sich schließlich in Yenan etablierte und sich daran machte, den politischen und militärischen Apparat aufzubauen, der sie schließlich an die Macht bringen sollte, unterschied sich qualitativ von der Partei, die unter der irreführenden Leitung der Kommunistischen Internationale die Zweite Revolution von 1925-27 ausfocht und verlor.

Schon vor der endgültigen Niederlage von Chiang Kai-shek war die KP Chinas die Partei einer militärisch-bürokratischen Kaste. Obwohl ihre soziale Basis außerhalb der Städte lag, konnten sowohl ihr Volksfrontprogramm als auch ihre Organisationsstrukturen leicht Elemente des bestehenden bürgerlichen Staatsapparats assimilieren. Im Gegensatz dazu hatte sie fast keine Kontakte oder Wurzeln in der städtischen ArbeiterInnenklasse.

Die spätere Geschichte der Partei und Chinas haben wir an anderer Stelle behandelt. Anlässlich des hundertsten Jahrestags der Gründung dieser Partei ist der Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen Partei der ArbeiterInnenklasse, die nicht dem Großmachtstatus, sondern der internationalen Revolution verpflichtet ist, die Erkenntnis, dass die „Kommunistische Partei Chinas“ jetzt den Regierungsapparat einer imperialistischen Macht verkörpert.

Link zum Teil 1: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/07/02/china-die-jahrhundertfeier-der-kommunistischen-partei/



China: Die Jahrhundertfeier der Kommunistischen Partei

Teil 1, Peter Main, Infomail 1154, 2. Juli 2021

Der 1. Juli ist das von der Kommunistischen Partei Chinas gewählte Datum, um den hundertsten Jahrestag ihrer Gründung zu feiern. In China wird es kein Ende der öffentlichen Feierlichkeiten geben, wenn sich Staats- und ParteifunktionärInnen im Ruhm ihrer Errungenschaften sonnen – in China ist die Trennung zwischen Staat und Partei schwer zu ziehen. Das große Thema wird ohne Zweifel der Kontrast zwischen damals und heute sein, sowohl für die Partei als auch für das Land. Die Partei wurde von einem Dutzend hauptsächlich junger Intellektueller gegründet, die eine Gesamtmitgliederzahl von nur 56 repräsentierten und gezwungen waren, sich auf einem Boot auf einem See zu treffen, um der Überwachung zu entgehen. Heute ist sie eine massive Organisation mit 92 Millionen Mitgliedern, die effektiv alle Aspekte des Lebens im Lande kontrolliert.

Die Rolle der Partei bei der Transformation des Landes selbst, von der gedemütigten, besetzten, zerstückelten Halbkolonie im Jahr 1921 zum heute zweitmächtigsten Land der Welt, wird natürlich die Reden dominieren. Ein paar ausgewählte Meilensteine werden hervorgehoben; der Lange Marsch, der antijapanische Krieg, die Gründung der Volksrepublik 1949, aber vor allem das außerordentliche Wirtschaftswachstum der letzten 30 Jahre wird als Beweis für die Legitimität des Machtmonopols der Partei präsentiert. Bei all diesen Rückblicken wird das Tian’anmen-Massaker von 1989 (auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens in Peking) in bequemer Weise übersehen.

Auf der ganzen Welt werden ExpertInnen und KommentatorInnen, die Chinas wirtschaftlichen Erfolg zähneknirschend bewundern, ein ähnliches Bild der letzten 100 Jahre zeichnen und sich mit der Erklärung trösten, dass China erst zu wachsen begann, als es den „Kommunismus“ hinter sich ließ und sich für den Kapitalismus entschied.

Unzufriedenheit

Doch trotz aller offiziellen Feierlichkeiten und Selbstbeweihräucherung werden nicht alle in China feiern. In den vergangenen Jahren haben die Menschen in Hongkong den Jahrestag der Rückgabe des Territoriums an China genutzt, um zu Millionen zu demonstrieren und ihre demokratischen Rechte einzufordern. Nicht so in diesem Jahr. Auch in Xinjiang (autonome Region der uigurischen Nationalität) wird es nichts zu feiern geben.

Unabhängig von diesen eklatanten Beispielen von Massenunzufriedenheit gibt es in China auch andere, die sich gegen die gesamte Politik der kapitalistischen Entwicklung stellen. Dazu gehören z. B. die studentischen MarxistInnen von der Pekinger Universität, die nach Shenzhen in der Nähe von Hongkong reisten, um streikende ArbeiterInnen zu unterstützen. (Siehe https://fifthinternational.org/content/100-years-chinese-revolution) Solche AktivistInnen, die eine deutliche Ähnlichkeit mit den ersten GründerInnen der Kommunistischen Partei haben, erkennen, dass die nach 1992 eingeführte Wirtschaftspolitik viel mehr als nur eine weitere „Reform“ war, sie markierte eine qualitative Veränderung der gesamten Wirtschaftsstruktur. Mit dem Abbau der staatlichen Planung und dem Ende der garantierten Löhne, Arbeitsplätze und anderer Rechte, der „eisernen Reisschüssel“ für die städtischen ArbeiterInnen, wurden Marktverhältnisse eingeführt, und die Arbeitskraft wurde zu einer Ware, die gekauft und verkauft werden kann.

Geschichte

Unter den GegnerInnen der Parteipolitik nach 1992, sicherlich unter den Pekinger StudentInnen, ist eine „alternative“ Geschichte, die ähnlich wie die „Samisdat“-Literatur der alten Sowjetunion produziert und verbreitet wird, sehr einflussreich. In ihrem Eröffnungskapitel erklärt sie: „Die Geschichte von 1919 bis heute wird in vier verschiedene Perioden unterteilt: 1919–1949, die Periode der Neuen Demokratischen Revolution; 1949–1978, die Periode des sozialistischen Aufbaus und der ,fortgesetzten Revolution’; 1978–1992, die Periode der parallelen Reformen von Planung und Markt; und 1992–heute, die Periode der marktorientierten Reformen.“ Allerdings beschränkt sie ihre eigene Analyse auf den Zeitraum 1949–1966, also bis zur „Kulturrevolution“.

Eine solche Fokussierung ist verständlich, da Mao Zedong (Mao Tse-tung) selbst die Kulturrevolution als seinen Kampf gegen die „kapitalistischen DrahtzieherInnen“ bezeichnete, zu deren AnführerInnen Deng Xiaoping gehörte, der später die „Marktreformen“ von 1992 überwachte.

Doch obwohl es richtig ist, eine solche Geschichte mit 1919, dem Jahr der Bewegung des Vierten Mai, zu beginnen, zieht es einen Schleier über entscheidende Ereignisse und Entwicklungen in den 1920er und 1930er Jahren, die die KPCh von einer revolutionären Partei in die Vertreterin einer bürokratisch-militärischen Kaste verwandelten, die bereit war, jede Maßnahme zu ergreifen, um ihre eigene Macht zu erhalten.

Obwohl der Gründungskongress der Partei kaum mehr tun konnte, als eine Reihe von Prinzipien, Aufgaben und Zielen zu verabschieden, sagen diese allein schon viel über den Charakter der Partei aus und wie sich ihre Prinzipien verändert haben. Neben der Bestätigung der Absicht, eine Partei nach bolschewistischem Vorbild zu gründen, bekannte sich der Kongress zur Solidarität mit Sowjetrussland, zur Organisierung der ArbeiterInnenklasse in Gewerkschaften und zum Selbstbestimmungsrecht für die Mongolei, Tibet und … Xinjiang und brachte die Hoffnung auf eine spätere Föderation mit China zum Ausdruck.

Kommunistische Internationale

Neben den 12 Delegierten nahm auch Hendricus (Henk) Sneevliet, alias „Maring“, ein Delegierter der Kommunistischen Internationale (KI), am Gründungskongress teil, was die enge Einbindung Moskaus in die Unterstützung und Führung der jungen Partei verdeutlicht. Die Internationale selbst war erst 1919 gegründet worden und hatte die Aufgabe, die Strategie und Taktik der Russischen Revolution zu kodifizieren, die seit der Zeit von Marx und Engels gemachten theoretischen Fortschritte, insbesondere zur nationalen Frage und zur Analyse des Imperialismus, zu integrieren und ein internationales Programm zu entwickeln, um ihre immer noch sehr heterogenen Sektionen zu leiten, noch lange nicht abgeschlossen.

Differenzen auf allen Ebenen der KI und zwischen der KI und der KP China sollten eine entscheidende und letztlich verhängnisvolle Rolle in der Entwicklung der chinesischen Partei spielen. Auf keine Frage traf dies mehr zu als auf die Beziehungen zur wichtigsten bürgerlichen Partei, der Guomindang (Kuomintang, GMD), von Sun Yat-sen, der nach dem Sturz der kaiserlichen Qing-Dynastie (Mandschu-Dynastie) 1911 (Xinhai-Revolution) kurzzeitig zum Präsidenten der Republik China ernannt worden war, nun aber seinen Sitz in Guangzhou (Kanton) in Südchina hatte.

Die führenden Köpfe der KP Chinas, Chen Duxiu und Li Dazhao, hatten eine schlechte Meinung von all diesen Personen und sahen die neue Partei als einen sauberen Bruch mit all ihren Intrigen und Machenschaften an. Für sie war die Perspektive im Wesentlichen eine, dem Weg der Bolschewiki zu folgen, rigorose Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse im Kampf um die Macht und einen Staat nach sowjetischem Vorbild. Im Jahr zuvor hatte die KI jedoch Lenins Position zur nationalen Frage angenommen, die anerkannte, dass im Kampf gegen den Imperialismus in den kolonialen und halbkolonialen Ländern bürgerliche NationalistInnen eine fortschrittliche Rolle spielen könnten und dass daher Bündnisse mit solchen Kräften angebracht seien.

Im Lichte dessen und weiterer Diskussionen auf dem dritten Kongress der KI Anfang 1921 wurde der KP Chinas geraten, der GMD beizutreten und die Netzwerke und Unterstützung von Sun zu nutzen, um ihre eigene Aufgabe der Organisierung und Politisierung der ArbeiterInnenklasse voranzubringen. Der Rat war nicht willkommen, aber unter dem Druck aus Moskau wurde vereinbart, dass die GenossInnen individuell der GMD beitreten würden. In Wirklichkeit ist „Beitritt“ ein ziemlich irreführender Begriff. Die GMD war keine Partei im modernen Sinne, sie war kaum mehr als eine lose Ansammlung von AnhängerInnen Sun Yat-sens. Der potenzielle Nutzen einer Zusammenarbeit mit ihr zeigte sich jedoch bei einem Streik der Seeleute in Hongkong Anfang 1922, als die von der GMD organisierte finanzielle Unterstützung entscheidend für den Sieg war.

In den nächsten zwei Jahren profitierte die chinesische KP eindeutig von der Arbeit in der GMD. Nach einem kurzen Exil in Shanghai (Schanghai) wurde Sun zurück nach Guangzhou eingeladen, um eine Regierung zu bilden. In der Zwischenzeit hatte es umfangreiche Kontakte mit Moskau gegeben, wobei sowohl wirtschaftliche als auch militärische Unterstützung für die GMD geplant war, und es wurde vereinbart, dass die KP nicht nur als Partei beitreten, sondern sich auch an der Reorganisation der GMD als Massenmitgliederpartei beteiligen sollte.

Auf dem Gründungskongress der GMD als Massenpartei im Januar 1924 wurde ihre Mitgliederzahl mit 11.000 angegeben, von denen 500 auch Mitglieder der KP Chinas waren. Die Rolle der KommunistInnen wurde anerkannt, als 10 von ihnen in das Zentrale Exekutivkomitee der Partei gewählt wurden.

Das Potenzial der neuen Parteiorganisation zeigte sich bald, sowohl was die Rekrutierung als auch die Rolle der sowjetischen Unterstützung betraf. Dutzende von GMD-Mitgliedern, nicht alle auch in der KP organisiert, wurden zur politischen und militärischen Ausbildung nach Moskau geschickt, darunter auch Chiang Kai-shek (Tschiang Kai Schek), der später eine zentrale Rolle in Chinas Geschichte spielen sollte. Innerhalb Chinas steigerte die Einrichtung von Abteilungen zur Organisierung sowohl der städtischen ArbeiterInnen als auch der Bauern und Bäuerinnen nicht nur die Mitgliederzahl, sondern auch die Erwartungen an schnelle Fortschritte.

Wie brisant diese Kombination sein konnte, zeigte sich im Jahr darauf in Shanghai. Am 30. Mai eröffneten britische Truppen in der dortigen internationalen Siedlung das Feuer auf eine Demonstration chinesischer ArbeiterInnen, die gegen die Ermordung eines Streikenden durch einen japanischen Vorarbeiter in einer japanischen Fabrik protestierten – allein die Umstände sagen viel über das damalige China aus. Zehn DemonstrantInnen starben und 50 wurden verletzt. Am nächsten Tag wurde der Shanghai General Council of Labour (allgemeiner ArbeiterInnenrat) gegründet, der von KommunistInnen geführt wurde, und rief einen Generalstreik aus, der 160.000 Menschen für mehr als drei Monate mobilisierte. Unterstützt wurde er durch eine riesige Solidaritätskampagne, die von einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften, StudentInnenverbänden und Gruppen von Geschäftsleuten koordiniert wurde, also genau den Teilen der Gesellschaft, die die GMD repräsentierte.

Hongkong

Eine solche Bewegung konnte nicht eingedämmt werden. Am 23. Juni 1924 eröffneten britische und französische Truppen in Guangzhou erneut das Feuer auf chinesische DemonstrantInnen, töteten 52 und verletzten 100. Als Reaktion darauf rief eine ähnliche Reihe von Organisationen zum Generalstreik gegen die britische Kolonie Hongkong auf. Tausende von ArbeiterInnen verließen Hongkong und wurden in Guangzhou untergebracht, aber es handelte sich nicht nur um einen Abzug von Arbeitskräften. Das gewählte Streikkomitee organisierte eine Blockade von Hongkong, komplett mit bewaffneten Marinepatrouillen, um zu verhindern, dass Nachschub die Insel erreichte, und Straßensperren in der gesamten Provinz Guangdong. Da sich die Aktivitäten des Komitees auf die Unterstützung der Streikenden und ihrer Familien sowie auf die Koordinierung der Solidarität weit über das Gebiet der Regierung von Kanton hinaus ausweiteten, wurde es als „Regierung Nummer zwei“ bekannt. Der Streik dauerte bis zum Oktober des folgenden Jahres und war damit wahrscheinlich der längste Streik dieser Art in der Geschichte.

In Moskau ermutigten diese Entwicklungen einen opportunistischen Trend, der sich nach der Niederlage der deutschen Revolution von 1923 entwickelt hatte. Unter Grigori Sinowjew sah die Exekutive der KI im Bündnis mit der GMD den Schlüssel zu einem zukünftigen prosowjetischen, antiimperialistischen China, einen riesigen Gewinn, der ein Modell für ähnliche Bündnisse und Siege anderswo darstellen würde. Als Sun Yat-sen im März 1925 starb, setzte sie ihre Hoffnungen auf Chiang Kai-shek, den sie immerhin ausgebildet hatte und der nun Leiter der Whampoa-Militärakademie (Armeeoffiziersakademie der chinesischen Nationalpartei, GMD) der Regierung von Kanton war.

Das schiere Ausmaß der antiimperialistischen Bewegung ließ in der Tat die Aussicht auf eine Wiedervereinigung Chinas aufkommen, löste eine Wiederbelebung der Massenbewegungen sowohl der ArbeiterInnen- als auch der BäuerInnenschaft aus und ermutigte die chinesischen Wirtschaftsorganisationen, die GMD zu unterstützen. Die Schlüsselrolle, die die gut organisierten und politisch gebildeten Mitglieder der chinesischen KP spielten, spiegelte sich im sehr schnellen Wachstum der Partei wider, von 1.000 vor dem Shanghai-Streik auf 30.000 auf dem Höhepunkt des Generalstreiks in Hongkong.

Die Mobilisierungsfähigkeit der KP und der von ihr geführten Gewerkschaften begann jedoch innerhalb der GMD die Alarmglocken läuten zu lassen. Zunehmend organisierten sich in den chinesischen Betrieben Gewerkschaften mit Forderungen nach Löhnen, Arbeitsbedingungen und Rechten, wie sie in den ausländischen Betrieben erkämpft wurden. Geschäftsleute, die von der Blockade ausländischer Firmen stark profitiert hatten und die GMD zur Unterstützung der Streikenden finanzierten, begannen nun, ihre Unterstützung auf GMD-Figuren zu richten, die die Rolle der KP Chinas innerhalb „ihrer“ Partei in Frage zu stellen begannen.

Unweigerlich begann sich die Realität gegensätzlicher Klasseninteressen bemerkbar zu machen. Linke und rechte Flügel der GMD bildeten sich nicht nur über innenpolitische Fragen, sondern auch über das Verhältnis zur Sowjetunion und zur Kommunistischen Internationale. Diese Spannungen wurden auch in Moskau zur Kenntnis genommen und führten zu einem internen Streit über die zukünftige Strategie. Bereits im Mai 1925 sprach Stalin davon, die GMD in eine „ArbeiterInnen- und BäuerInnenpartei“ umzuwandeln, innerhalb derer die KP Chinas die Führung der nationalen Revolution ausüben könnte.

Auf dem zweiten Kongress der GMD im Januar 1926 waren die prosowjetischen Elemente eindeutig immer noch dominant, und das neue Exekutivkomitee ging so weit, die Aufnahme in die Kommunistische Internationale formell zu beantragen. Obwohl der Antrag nicht endgültig beantwortet wurde, ermutigte allein die Tatsache, dass er gestellt worden war, die sowjetischen BeraterInnen und die KP Chinas, ihre Positionen sowohl in der kantonalen Regierung als auch in der GMD-Organisation zu stärken. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse nun zu bewegen schienen, alarmierte den rechten Flügel der Partei und bereitete die Bühne für Chiang Kai-sheks Versuch, das durch den Tod von Sun Yat-sen hinterlassene Vakuum zu füllen.

Am 20. März 1926 verhafteten Chiangs Truppen KP-AktivistInnen in Militäreinheiten, entwaffneten die Streikposten des Hongkonger Streikkomitees und zwangen Wang Jingwei, den Vorsitzenden der nationalistischen Regierung, Guangzhou zu verlassen. An seiner Stelle setzte Chiang im Wesentlichen eine Militärregierung ein. Dieser „Putsch vom 20. März“ beendete keineswegs die Massenmobilisierungen der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen in ganz Südchina, aber er stellte die Frage in den Raum: Wer sollte regieren?

Teil 2: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/07/04/china-die-jahrhundertfeier-der-kommunistischen-partei-teil-2/



Völkermord an Ovaherero und Nama: Selbstgerechtes Land der Täter

Robert Teller, Neue Internationale 256, Juni 2021

Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt wieder Verantwortung in der Welt. Das tat auch bereits ihr völkerrechtlicher Vorläufer, das Deutsche Reich. 1884-1885 hielt Otto von Bismarck die „Berliner Konferenz“, auch Kongokonferenz genannt, ab. Eingeladen waren jene Mächte, die sich an der „Zivilisierung Afrikas“ beteiligen wollten oder dies bereits taten. Bekannt ist, dass der deutsche Imperialismus dabei keine nachhaltigen Erfolge feiern konnte. Nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Vertrag 1919 nicht nur das deutsche Kolonialreich vollständig unter die Siegermächte aufgeteilt, sondern auch „Deutschlands Versagen auf dem Gebiet der kolonialen Zivilisation“ vertraglich festgehalten. Als moralische Instanz kam Deutschland auch in den folgenden 100 Jahren nicht wieder auf die Beine.

Die etwa 3 Jahrzehnte deutscher Kolonialherrschaft in Afrika waren von zahllosen Aufständen und blutigster Repression durch die deutschen Truppen geprägt. Im damals „Deutsch-Südwestafrika“ genannten heutigen Namibia gipfelte dies in der Ermordung der Mehrheit der Ovaherero (auch als „Herero“ bezeichnet) und einer enormen Zahl von Angehörigen der Nama und anderer Bevölkerungsgruppen. Zu den berüchtigtsten deutschen Gräueltaten in Afrika gehört die „Schlacht am Waterberg“ ab dem 11. August 1904. Etwa 60.000 Ovaherero wurden von Einheiten der deutschen „Schutztruppe“ unter Befehl von Generalleutnant Lothar von Trotha umzingelt. Den Ovaherero gelang der Ausbruch aus dem Kessel und damit zunächst die Flucht. Die deutschen Truppen verfehlten den von der militärischen Führung erwarteten „vollständigen Sieg“ über die Aufständischen und die bei ihnen versammelten unbewaffneten Angehörigen. Unvorbereitet auf einen längeren Kampf in der unwirtlichen Landschaft entschied sich von Trotha, die Ovaherero in der Wüste Omaheke zu isolieren und ihnen den Zugang zu Wasserstellen zu verwehren. Wenigen gelang die Flucht ins britische Kolonialgebiet, viele verdursteten. Die Ermordung der flüchtenden Ovaherero ordnete von Trotha explizit am 2. Oktober in seiner als „Vernichtungsbefehl“ berüchtigt gewordenen Bekanntmachung an. Später im Leben bilanzierte jener wie folgt: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen.“

Moral und Recht

Moral ist, wenn man moralisch ist, aber damit tut sich der deutsche Imperialismus schwer. Nachfahren der damals Ermordeten fordern seit Jahrzehnten eine offizielle deutsche Anerkennung der Verantwortung für den Völkermord, eine Entschuldigung und direkte Reparationszahlungen an Organisationen, die die damals betroffenen Bevölkerungsgruppen heute repräsentieren. Das kürzlich beschlossene Abkommen wird von den Betroffenenverbänden einhellig abgelehnt. Ein Hauptargument ist dabei die Weigerung der deutschen Regierung, sowohl ein Verhandlungsmandat dieser Organisationen als auch deren kollektiven Anspruch auf Entschädigung anzuerkennen. Verhandelt wurde von deutscher Seite aus mit VertreterInnen der namibischen Regierung, die ihrerseits ein Mitspracherecht der Verbände ablehnte. Wie der Kolonialstaat damals erfüllt insoweit auch der halbkoloniale Staat heute als historisches Erbe die Funktion, den Bevölkerungsgruppen ihre kollektiven Rechte zu verweigern.

Wünschenswert wäre vom Standpunkt des deutschen Imperialismus sicherlich eine moralische Reinwaschung. Problematisch hingehen wäre es, dabei Tür und Tor zu öffnen für die Geister der Vergangenheit, die an anderen Ecken des Kontinents noch lauern. Daher hatte sich die damalige Schröder-Bundesregierung zum runden Jubiläum 2004 entschlossen, in warmen Worten die „geteilte Geschichte“ zu bedauern und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul (SPD) zum Bußgang an den Waterberg zu schicken. In ihrer Rede vor dem gespanntem Publikum verhaspelte sie sich. Das Wort „Völkermord“ war gefallen und die Büchse der Pandora geöffnet. Seither sind die Bemühungen dieser und aller nachfolgenden bundesdeutschen Regierungen darauf gerichtet gewesen zu begründen, dass es einen kleinen, aber feinen Unterschied gibt zwischen einem Völkermord in einem historischen oder auch moralischen Sinne einerseits und im juristischen andererseits. Juristisch wurde der Völkermord nämlich erst 1948 in der UNO-Völkermordkonvention definiert und geächtet. Heißt: Von Trotha und das Kaiserreich hätten ja nicht ahnen können, dass sich ihr Völkermord einmal an derartigen Rechtsnormen würde messen lassen müssen, und somit seien sie unschuldig im Sinne der Anklage. Die Konvention zur Verhinderung des Völkermordes wird hier kurzerhand zur Grundlage seiner juristischen Rechtfertigung.

„Aussöhnung“

Hieraus ergab sich im angestrebten Aussöhnungsprozess erheblicher Gesprächsbedarf, der seit 2015 mehr als fünf Jahre Geheimverhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung erforderte. Kürzlich wurde die Einigung auf ein Aussöhnungsabkommen mit der namibischen Regierung verkündet, präsentiert von einem sich moralisch schuldbewusst gebenden Außenminister Heiko Maas. Der genaue Inhalt des Abkommens ist allerdings so gut, dass er nach wie vor von offizieller Seite geheimgehalten wird.

Laut Süddeutscher Zeitung ist jedoch bekannt, dass Punkt 10 dessen wie folgt lautet: „Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.“ So hat es die mit Worten jonglierende Diplomatie also doch vollbracht, einen Völkermord aus Sicht der TäterInnen moralisch anzuerkennen, ohne jedoch juristisch dafür belangt zu werden.

Opfer

Die Ovaherero Traditional Authorities (OTA) und die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) erklärten zu dem Abkommen:

„Das sogenannte Versöhnungsabkommen […] ist ein deutscher PR-Coup und ein Verrat durch die namibische Regierung. […] Offensichtlich hat Deutschland noch immer keine Absicht, anzuerkennen, dass von Trotha einen Völkermord im Sinne des Völkerrechts verübt hat – folglich habe Deutschland kein Verbrechen gegen die Menschheit begangen und beabsichtigt nicht, sich für irgendein Verbrechen des Völkermords zu entschuldigen – insbesondere nicht gegenüber den Nachfahren der Opfergemeinschaften!  […]

Hinter der sogenannten ,Kompensation‘ zugunsten von ,sozialen Projekten‘ verbirgt sich nur die fortgesetzte deutsche Finanzierung namibischer Regierungsprojekte wie NDP5 (Nationaler Entwicklungsplan 5) und ,Vision 2030′, wie es der Premierminister im namibischen Parlament am 16. März 2021 dargestellt hat.“

Auch das Bündnis „Völkermord verjährt nicht“ weist das Abkommen zurück und fordert eine völkerrechtliche Anerkennung des Genozids und hiermit verbundene Reparationsleistungen. Die jetzt verkündete sogenannte Entschädigung ist am Ende doch nichts anderes als die Finanzierung lokaler StatthalterInnen des Imperialismus, keine Reparation gegenüber Betroffenen.

Was bleibt, ist die Frage, warum sich die BRD überhaupt diese Blöße gibt, wenn doch die kaiserlichen Methoden des Kolonialkriegs eigentlich rechtlich unangreifbar sind. Liegt es am Ende nicht vielleicht doch eher daran, dass auch heute wieder imperiale Interessen auf dem afrikanischen Kontinent aneinandergeraten und ein schuldbewusstes „friendly face“ dabei im Wettlauf mit dem chinesischen und US-Imperialismus von Vorteil sein kann?




USA: Die Wurzeln des grassierenden antiasiatischen Hass

Benji Weiss, Workers Power USA, Infomail 1144, 31. März 2021

In dem Jahr seit der Ermordung von George Floyd trat einmal mehr die harte Realität des Rassismus zutage, den AfroamerikanerInnen 150 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei und ein halbes Jahrhundert nach der Bürgerrechtsbewegung immer noch erleben.

Auch Trumps Unterstützung durch und Billigung von weißen RassistInnen, seine Beschimpfung derjenigen, die Grenzen im Süden der USA überqueren wollen, und der sogenannten Illegalen als „krankheitsübertragende Kriminelle“ unterstrichen die Tatsache, dass auch viele andere Gemeinschaften heute Zielscheibe von Rassismus sind.

Gewalt bis zum Mord

Eine Serie von Schießereien in drei Massagesalons und Kurbädern in Atlanta, Georgia, am 16. März, lenkte die Aufmerksamkeit auf die rassistische Gewalt gegen Menschen asiatischer Herkunft. Sechs der 8 Opfer waren Migrantinnen aus diesem Kontinent. Dies wiederum unterstrich die Tatsache, dass verbale Beschimpfungen und körperliche Angriffe, die manchmal sogar in Mord gipfeln, eine allzu regelmäßige Erfahrung für AmerikanerInnen chinesischer, koreanischer, philippinischer, japanischer, vietnamesischer und anderer asiatisch-pazifischer Herkunft sind.

Die Tragödie von Atlanta hat eine landesweite Debatte ausgelöst, der sich der Staat und die Medien nicht entziehen können. Im Januar wurde der 84-jährige Vicha Ratanapakdee, thailändischer Herkunft, bei seinem Morgenspaziergang in San Francisco zu Boden gestoßen; zwei Tage nach dem Überfall starb er. In New York City wurde einem 61-jährigen Mann , der von Philippinen stammte, mit einem Paketmesser das Gesicht aufgeschlitzt, während in Oakland, Kalifornien, ein 91-jähriger Mann zu Boden geworfen wurde. In diesem Jahr wurden dort bereits 20 solcher gewalttätigen Angriffe gemeldet.

Ein Anfang des Monats veröffentlichter Bericht des „California State University’s San Bernadino Center for the Study of Hate and Extremism“, einem Institut für Studien zu Hass und Extremismus, verweist auf einen 150-prozentigen Anstieg antiasiatischer Hassverbrechen in den größten Städten Amerikas im Verlauf der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020.

Laut dem Bericht sind nicht nur diese Fälle um 150 Prozent gestiegen, von 49 im Jahr 2019 auf 120 im Jahr 2020, sondern dies geschah, während die Hassverbrechen insgesamt um 6 Prozent zurückgingen, von 1.877 im Jahr 2019 auf 1.773 im Jahr 2020. Ein Bericht der politischen Gruppe „Stop AAPI Hate“ (Stopp dem Hass gegen asiatische AmerikanerInnen und Leute von den pazifischen Inseln) katalogisierte außerdem rund 3.800 rassistische Vorfälle, die sich gegen asiatische Menschen in den USA richteten, darunter auch schwere Verbrechen.

Antichinesische Hetze

Dieser rasante Anstieg hängt eindeutig damit zusammen, dass Donald Trump die Tatsache aufgriff, dass die weltweite Pandemie in Wuhan begann, um auf Fox News zu behaupten, dass das Virus im Institut für Virologie in dieser Stadt begann und dass die Weltgesundheitsorganisation dies vertuscht habe, weil China sie irgendwie in der Tasche habe. Von da an nannte Trump Covid-19 regelmäßig „chinesische Grippe“ oder „das chinesische Virus“. QAnon und andere VerbreiterInnen wirrer Verschwörungstheorien behaupteten, es handele sich tatsächlich um einen chinesischen Bazillus der biologischen Kriegsführung, der die US-Wirtschaft absichtlich zu Fall bringen solle. All dies half bequem, um die eigene unverantwortliche Weigerung der Regierung zu vertuschen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, was dazu führte, dass die USA den schlimmsten Ausbruch der Welt verzeichneten.

Damit verbunden ist die sowohl von offen reaktionären als auch von vermeintlich „progressiven“ Elementen der herrschenden Mächte verbreitete Darstellung, dass China eine Bedrohung für „unsere Lebensweise“ darstellt. Es ist viel über Chinas Aggression gegenüber Taiwan und im Südchinesischen Meer gesagt worden. Es wurde viel über die Verfolgung der UigurInnen, der TibeterInnen und derjenigen, die für demokratische Rechte in Hongkong kämpfen, gesagt. Natürlich sind diese Anschuldigungen wahr, aber wenn sie von einer Regierung und den einflussreichen Medien kommen, die ebenso schändliche Verbrechen vertuschen, die von Amerikas eigenen Verbündeten begangen werden, ist das einfach die reinste Heuchelei.

Um nur einige Beispiele zu nennen, gibt es den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, der einen völkermörderischen Krieg im Jemen führt, oder Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi, der 70.000 – 100.000 politische Gefangene in seinen Gefängnissen gefangen hält. Trotz dieser Verbrechen unterzeichneten die USA 2017 einen 110-Milliarden-Dollar-Deal für Waffenlieferungen an die Saudis und schicken jährlich etwa 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe nach Ägypten.

Dann ist da noch Amerikas engster Verbündeter, Israel, mit seiner unerbittlichen Verfolgung der PalästinenserInnen, die zum Teil von den USA finanziert wird. Washington könnte all diese Barbarei stoppen, indem es den Hahn der militärischen und wirtschaftlichen Hilfe und Investitionen zudreht, aber es tut es nicht. Warum nicht? Weil keine imperialistische Macht sich von den Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte leiten lässt oder jemals ließ, sondern ihre eigene Ausbeutung anderer Völker auf der ganzen Welt mit allen Mitteln verteidigt und ausweitet.

In der Tat war der Rassismus untrennbar mit dem Kapitalismus seit seiner frühesten Phase verbunden, als Millionen von AfrikanerInnen als SklavInnen nach Amerika transportiert wurden und der europäische Kolonialismus einen großen Teil der indigenen Völker von Gebieten auf der ganzen Welt auslöschte. Auch im industriellen Kapitalismus wurde er eine riesige Anzahl von chinesischen KontraktarbeiterInnen verwendet, um seine Eisenbahnen und Kanäle zu bauen. Er rechtfertigte diese verschiedenen Formen der Superausbeutung und Zwangsarbeit mit der Behauptung, dass seine Opfer von Natur aus unzivilisiert seien, in der Tat, weniger als gleichwertige menschliche Wesen. Ja, die Nazis hatten VorgängerInnen in den sogenannten demokratischen Nationen.

Imperialistische Rivalität und Rassismus

Jahrzehntelang war die amerikanische Bourgeoisie glücklich, hochprofitable Geschäfte mit China zu machen, da sie es als einen Markt für US-Produkte sah, einen Ort, an den sie die Produktion ihrer Konzerne auslagern konnte, während sie gleichzeitig die Restauration des Kapitalismus als Beweis für ihre globale Überlegenheit bejubelte. Warum also die zunehmende Hysterie und Feindseligkeit gegenüber China im letzten Jahrzehnt, beginnend mit Obamas militärischer Schwerpunktorientierung nach Asien, über Trumps Handelskrieg bis hin zu Bidens Menschenrechtskreuzzug?

All dies hat wenig oder nichts mit den sehr realen Verfehlungen der chinesischen Regierung zu tun. Vielmehr geht es darum, die imperialen Interessen der USA zu schützen und auszuweiten, die Dominanz der amerikanischen multinationalen Konzerne gegen die aufstrebende Wirtschaftsmacht China zu schützen. Die einzigen, die von der Verschärfung dieses Konflikts profitieren, der jetzt nicht mehr nur eine Frage des Handels ist, sondern einen militärischen Aspekt annimmt, sind Amerikas KapitalistInnen.

Wenn die USA die Leiden der UigurInnen oder die Unterdrückung der Demokratiebewegung in Hongkong anprangern oder die wachsende chinesischen Wirtschaftskraft in der sog. Dritten Welt „entdecken“, so werden diese nur als propagandistische Werkzeuge benutzt, um die eigene wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft der USA in der Welt aufrechtzuerhalten. Solche Propaganda hilft dem berechtigten Widerstand gegen Xi Jinpings Verbrechen wenig bis gar nicht.

US-KommentatorInen und -PolitikerInnen haben den wachsenden Einfluss Chinas als Großinvestor im globalen Süden, insbesondere in Afrika, hervorgehoben, manche nennen dies sogar Imperialismus. Damit haben sie Recht. Was wir sehen, ist in der Tat die Entwicklung eines neuen Rivalen zum US-Imperialismus. Dass sich die USA darüber beschweren, ist angesichts der Rolle, die sie den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts über gespielt haben, in der Tat dreist.

Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten die USA zusammen mit Britannien, Japan und Frankreich, China zu zerschlagen. Dann blockierten sie nach der Revolution von 1949 die Volksrepublik und stärkten später effektiv Mao Zedongs stalinistisches Regime. Nachdem sich dieses Regime mit dem Tiananmen-Massaker und der Restauration des Kapitalismus vor dem Zorn des eigenen Volkes gerettet hatte, pumpten US-Konzerne Milliarden hinein, um die neuen Profitmöglichkeiten zu nutzen. Was sie jetzt ablehnen und hassen, sind nicht die Verbrechen von Xi Jinping, sondern die aufsteigende Macht und Rivalität des chinesischen Imperialismus.

Xi Jinping stellt keine größere Bedrohung für die amerikanische ArbeiterInnenklasse dar als „unsere eigene“ Regierung und die großen Konzerne, ja sogar weniger. Indem sie den Hass auf das Fremde im Ausland und auf die Menschen asiatischer Herkunft zu Hause schüren, wollen unsere Bosse, dass die arbeitenden Menschen ihnen die Lüge abkaufen, dass die USA eine gutartigere, demokratischere Form der Unterdrückung und des Imperialismus sind, nur weil sie im eigenen Land gewachsen ist. Das treibt die Menschen nur dazu, ihre eigene Unterdrückung zu verstärken, indem sie Menschen hassen, die nur oberflächlich anders sind als sie selbst und dabei ihre/n wahre/n FeindIn nicht erkennen. Aber, wie Karl Liebknecht 1914 in berühmten Worten sagte: „Der Hauptfeind steht in unserem eigenen Land.“

Wurzeln des antiasiatischen Rassismus

Der Rassismus gegen asiatische AmerikanerInnen hat tiefe Wurzeln. Chinesische ArbeitsmigrantInnen kamen in den späten 1840er Jahren in die Goldminen und spielten dann in den 1850er Jahren eine große Rolle beim Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien. Teile der weißen ArbeiterInnenschaft, die selbst erst kürzlich vor der Unterdrückung in Europa eingewandert waren, wurden aufgepeitscht und forderten, dass die „Coolies“ (TagelöhnerInnen) ausgeschlossen oder zurück in ihre Heimat geschickt werden sollten. In Kalifornien entschied der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates, dass ChinesInnen nicht vor Gericht aussagen durften, weil sie „eine Rasse von Menschen sind, die von der Natur als minderwertig gezeichnet wurde und die unfähig zu Fortschritt oder intellektueller Entwicklung sind.“

In den Jahren 1875 und 1882 wurden antichinesische Einwanderungsgesetze erlassen, die bis 1942 in Kraft blieben, als das nationalistische China ein Verbündeter der USA gegen Japan war. Zur gleichen Zeit wurden 120.000 japanische AmerikanerInnen, 62 Prozent von ihnen vollwertige US-StaatsbürgerInnen, für die Dauer des Krieges in unwirtlichen Wüstenlagern interniert. In den 1890er Jahren wurde eine heftige sinophobe Kampagne rund um die Idee der „gelben Gefahr“ aufgepeitscht. Ihr Ursprung lag im zaristischen Russland, von wo aus sie schnell vom kaiserlichen Deutschland aufgegriffen und dann in die „Great Republic“ (Großartige Republik) exportiert wurde. Hier wurde sie nicht nur von nativistischen (Nativismus: Lehre von den unveränderlichen Erbanlagen; die Red.) und Jim-Crow-ReaktionärInnen (Jim Crow: segregationistische Rassengesetzgebung in den US-Südstaaten; die Red.), sondern auch von Teilen der ArbeiterInnenbewegung eifrig aufgenommen. Sie ist ein wahrer geborener Zwilling des Antisemitismus.

Einige GewerkschafterInnen, vor allem in den FacharbeiterInnengewerkschaften, die bereits versucht hatten, irische EinwanderInnen und dann schwarze ArbeiterInnen auszuschließen, argumentierten, dass chinesische ArbeiterInnen „unfähig seien, sich zu organisieren“. Samuel Gompers, der berüchtigte antimarxistische Führer der American Federation of Labour, schrieb 1902 ein Pamphlet mit dem Titel „Meat vs. Rice. American Manhood versus Asiatic Coolieism: Which shall Survive?“ („Fleisch gegen Reis. Amerikanische Mannhaftigkeit gegen asiatisches Kulidasein: Was wird überleben?“) Die Bilanz der 1901 gegründeten Socialist Party of America war jedoch nicht viel besser. Sie war „farbenblind“ gegenüber dem Rassismus gegen schwarze ArbeiterInnen, ignorierte Jim Crow im Süden und prangerte die Ankunft von eingewanderten ArbeiterInnen aus China oder Japan an.

Als die Zweite Internationale auf ihren Konferenzen in Amsterdam (1904) und Stuttgart (1907) Einwanderungskontrollen verurteilte, wurde dies von einer Mehrheit der US-Delegierten entschieden abgelehnt, insbesondere von einem der wichtigsten Führer der Partei, Morris Hilquit. Er schloss sich den holländischen und australischen Delegierten an und unterstützte eine Resolution, die sich gegen die Einreise von ArbeiterInnen aus „rückständigen Rassen“, also ChinesInnen und JapanerInnen, in die USA und nach Europa aussprach. Victor L. Berger, ein weiterer führender Sozialist und selbst ein österreichisch-jüdischer Einwanderer, forderte, dass die USA „ein Land des weißen Mannes“ bleiben müssten.

Sogar ein prominenter Marxist aus der Zeit vor 1914, Gerhard Ernest Untermann Sr., der Übersetzer der drei Bände von Marx‘ Kapital, war ein unverhohlener weißer Rassist und sagte: „Ich bin entschlossen, dass meine Rasse in diesem Land und in der Welt die Oberhand haben soll.“ Es bedurfte eines harten Kampfes, zuerst von den revolutionären SyndikalistInnen der IWW (Industriearbeiterinnen der Welt), dann von den US-KommunistInnen in den 1920er Jahren und den TrotzkistInnen in den 1930er Jahren, um den Rassismus gegen Schwarz und AsiatInnen unter Teilen der weißen ArbeiterInnen zu bekämpfen. Das ist ein Kampf, den wir heute wieder führen müssen.

Den antirassistischen Kampf und den Kampf der ArbeiterInnenklasse vereinen

Glücklicherweise hat die „Black Lives Matter“-Bewegung jedoch bereits eine große Anzahl weißer AntirassistInnen, insbesondere junge Menschen, Frauen und die anschwellenden Reihen der Democratic Socialists in antirassistische Mobilisierungen einbezogen.

Als KommunistInnen müssen wir für den Schutz der demokratischen Rechte aller unterdrückten Menschen kämpfen: von Frauen, vo rassistisch, national und ethnisch Unterdrückten, ImmigrantInnen und LGBTQI+-Menschen. Wir müssen gegen die reaktionären, nativistischen und anderweitig chauvinistischen Elemente kämpfen, die zeitweise die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen durchdrungen haben, und die Kämpfe der asiatischen sowie aller unterdrückten ethnischen und nationalen Gruppen gegen rassistische Angriffe und Diskriminierung unterstützen.

Am 21. März fand in Birmingham eine Kundgebung mit dem Slogan „Stop Asian Hate“ (Stopp dem Hass gegen AsiatInnen) statt, die von Weißen, Schwarzen, Latinx (Latinos/Latinas) unterstützt wurde, aufgerufen von, der Alabama Asian Cultures Foundation (Asiatische Kulturstiftung Alabama), Black Lives Matter, Hispanic Interest Coalition of Alabama (Hispanische Interessenkoalition Alabama), die Vietnamesische Studentische Assoziation an der Universität von Alabama in Birmingham und anderen. Die RednerInnen setzten den antiasiatischen Rassismus in Beziehung zu den Erfahrungen schwarzer Menschen und der Notwendigkeit, gegen alle Formen von Rassismus und weißer Vorherrschaft zu kämpfen. Aber wir müssen auch alle Versuche bekämpfen, von welcher Seite auch immer, verschiedene Teile der rassistisch Unterdrückten, wie AsiatInnen und Schwarze, gegeneinander aufzuhetzen.

Wir können nicht auf den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft hinarbeiten, ohne alle Systeme der Unterdrückung anzugreifen. Die gesamte ArbeiterInnenklasse muss die Aufstachelung unserer HerrscherInnen zum Kampf gegeneinander zurückweisen. Der wahre Feind von uns allen sind die KapitalistInnenklasse und alle Systeme, die ihr dienen. Das bedeutet nicht, dass wir in irgendeiner Weise „farbenblind“ gegenüber den verschiedenen Formen von Rassismus und Unterdrückung und deren Bedeutung sind. Wir müssen alle Beispiele von Unterdrückung und Ausbeutung bekämpfen, um ein unbesiegbares Instrument des Kampfes aufzubauen: eine unabhängige Partei der ArbeiterInnenklasse und eine neue Internationale zum Kampf gegen den globalen Kapitalismus. Das Wachstum der DSA, die Bestrebungen, Amazon gewerkschaftlich zu organisieren, geben auch dafür Hoffnung.

Die ArbeiterInnen müssen für die Niederlage des Imperialismus und Kapitalismus in allen anderen Ländern ebenso kämpfen wie in unserem eigenen. Wie Marx in jenem grundlegendsten Dokument der revolutionären Arbeiterbewegung, dem Kommunistischen Manifest, sagte, haben die arbeitenden Menschen kein eigenes Land: Wir können und müssen uns vereinigen.




Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Ursachen abschaffen!

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Dass während der Corona-Pandemie häusliche und sexualisierte Gewalt gegen Frauen drastisch angestiegen ist, wird mittlerweile allgemein anerkannt. Eine Studie der UN-Frauenorganisation (Einheit der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung der Frauen, kurz: UN Frauen; United Nations Entity for Gender Equality and the Empowerment of Women, UN Women) verweist auf eine Zunahme der Hilferufe bei nationalen Hotlines von 25–30 %.

Das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen und Mädchen war schon vor der Pandemie erschreckend. Nach internationalen Studien wird jede dritte Frau mindestens einmal geschlagen, vergewaltigt oder ist auf andere Weise Gewalt ausgesetzt.

Naturgemäß sind diese Zahlen Indikatoren und Schätzungen, weil ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird. Schon vor Corona fand Gewalt gegen Frauen und Mädchen vor allem im engsten Umfeld, im Heim und der Familie statt, die oft als Orte der Geborgenheit und des Schutzes idealisiert werden. Häusliche Gewalt gegen Frauen bildete also schon in den letzten Jahren deren häufigste Form – und das in vielen Ländern (darunter auch in Deutschland) mit einer steigenden Tendenz.

Der weitere dramatische Anstieg im letzten Jahr wird oft mit der räumlichen Nähe und Enge sowie größerem Stress durch Homeoffice und soziale Isolation begründet. Offensichtlich hat die Pandemie den Fokus auf diese privateste aller Sphären richten müssen, um zu verdeutlichen, dass die Wohnung allzu oft keinen Schutzraum für Frauen (und Kinder), sondern für den Täter darstellt, der Gewaltverbrechen vor der Öffentlichkeit verbirgt.

Dennoch bleibt die Frage: Ist Gewalt gegen Frauen ein Phänomen, das mit einer prekärer werdenden Situation zunimmt und somit ökonomische, sicherlich auch psychologische Gründe hat? Oder ist sie per se mit Männlichkeit verbunden und in deren Natur angelegt? Wie hängt Gewalt gegen Frauen mit Kapitalismus, Ausbeutung und systematischer Unterdrückung zusammen?

Diesen Fragen wollen wir uns im folgenden Artikel widmen, weil davon auch abhängt, welche Politik, welches Programm zur Bekämpfung dieser Gewalt und ihrer Ursachen notwendig ist.

Gewalttätigkeit des Mannes: genetisch bedingt?

Unterdrückung von und Gewalt gegen Frauen hat aus radikal-feministischer Sicht ihre Grundlage oftmals in Faktoren wie der Rolle der Frau bei der Reproduktion auf der einen und dem Wesen des Mannes bzw. der Frau auf der anderen Seite. Essentialistische Argumente, wonach Männer „aggressiver“ sind und „ihre Dominanz ausnutzen“, blenden soziale Gegebenheiten zugunsten biologischer nahezu vollständig aus. Einige gehen sogar so weit, Frauen und Männer als eigenständige Klassen anzusehen, losgelöst von ihrer Stellung im Produktionsprozess oder ihrem Zugang zu Produktionsmitteln.

Die deterministische Perspektive, wonach Männer „von Natur aus“ zu Gewalt neigen und aggressives Handeln im männlichen Geschlecht verwurzelt ist, lehnen wir als MarxistInnen aus verschiedenen Gründen ab. Wenn dem so wäre, hätten wir es mit biologischen Konstanten zu tun. Unabhängig von allen äußeren Umständen und somit sozialen Gegebenheiten würden Männer zu allen Zeiten der Geschichte per Geburt den Hang zu Gewaltbereitschaft in sich tragen, im vermeintlichen Gegensatz zur „weiblichen Natur“. Ein Ende des Geschlechterkampfes wäre, folgt man diesem Denkschema in aller Konsequenz, schwer möglich, da die gegebene „männliche Natur“ unveränderbar wäre.

Janet Sayer widerlegt solche und ähnliche Annahmen in ihrem Buch „Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives“. Schon die simple Tatsache, dass durch die Mechanisierung körperliche Kraft eine geringere Rolle im Produktionsprozess spielte, verdeutlicht, dass „natürliche“ Kraftunterschiede spätestens seit der Industrialisierung nicht mehr als (alleiniges/primäres) Argument für die althergebrachte Arbeitsteilung, anhaltende Unterdrückung und Gewaltausübung gegen Frauen herangezogen werden können.

Rezepte des liberalen Feminismus

Am einfachsten wird die Unzulänglichkeit der Argumentation des liberalen Feminismus offenbar: persönliche Freiheit und rechtliche Gleichstellung würden gewissermaßen automatisch zur Emanzipation der Frau führen. Abgesehen von bis heute geführten Debatten um Frauenquoten, die sich oft nur auf eine Minderheit ohnehin privilegierter Vorstandsposten beziehen, hat sich die liberale Gleichheitsillusion nicht bestätigt. Dennoch lohnt ein Blick auf das Argumentationsmuster liberaler FeministInnen.

Anders als der biologisch-deterministische Ansatz radikaler FeministInnen vertritt der liberale Feminismus, wie Sayers hervorbebt, vorrangig die Sichtweise, dass die geschlechtliche Unterdrückung ein Hindernis für den freien Markt und dessen Entfaltung darstellt. Dieser Aspekt kann nicht genug betont und ebenso kritisiert werden: Es geht bei dieser Idee weder um die Befreiung der Frau als Selbstzweck oder humanistisch-emanzipatorischen Akt, sondern vor allem um das „Funktionieren“ der Ökonomie und die rein formelle Gleichheit. Liberaler Feminismus kann nicht erklären, weshalb trotz formell verankerter Gleichberechtigung der Geschlechter in den Verfassungen „liberaler“ Demokratien Ungleichheit weiterhin existiert, Gender Pay Gap, Teilzeitfalle und „Gläserne Decke“ seien hier nur als Schlagworte genannt.

Idealismus, Strukturalismus und historischer Materialismus

Die Mehrzahl feministischer Theorien ist entweder strukturalistisch (Männer sind unabänderlich gewalttätig) oder idealistisch (der Wille der Männer stiftet allein Geschichte), führt somit zu einem „umgekehrten“ Geschlechterkampf. Darüber hinaus sind diese Ansätze allesamt ungeschichtlich, d. h. sie lassen außer Acht, dass Frauenunterdrückung und Gewalt gegen Frauen ein Resultat menschlicher Geschichte, also menschengemacht sind.

Frauenunterdrückung ebenso wie jedwede soziale Unterdrückung muss geschichtlich erklärt werden. Als MarxistInnen orientieren wir uns bei der Analyse an einer Geschichtsschreibung,  die ausgehend vom grundlegenden Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, der Arbeit und der von ihr eingegangenen Gesellschaftsverhältnisse die Gesamtheit aller Gesellschaftsbeziehungen untersucht (Totalitätsverständnis). Diesem Verständnis gemäß ist die Geschichte nicht nur die von Staaten und Politik, nicht nur die „großer Männer“ und ihres Willens, ihrer Charaktereigenschaften, sondern aller Gesellschaftsmitglieder, v. a. der arbeitenden Klassen, der Frauen, Jugendlichen und Kinder.

Marxistische Erklärung

Wir als MarxistInnen können Phänomene wie Gender Pay Gap erklären, was liberaler und radikaler Feminismus nicht können: Sie liegen darin begründet, dass Frauen und Männer dem Produktionsprozess verschiedenartig ausgesetzt sind. Frauen sind aufgrund Jahrtausende währender geschlechtlicher Arbeitsteilung seit Beginn der Sesshaftigkeit, die die Voraussetzungen für den Übergang zur Klassengesellschaft im Ackerbau schuf (neben der auch nomadisierend betriebenen Viehzucht, die von Beginn an eine männliche Domäne war), ans Haus gefesselt.

Damit konzentrieren sie sich auf den inneren Kern der Reproduktion des unmittelbaren Lebens (Kindererziehung, Hausarbeit für den privaten Bedarf der einzelnen Familien), während Männer den „Gesellschaft stiftenden“ Teil der Arbeit (Hofarbeit als wesentliche Quelle des Mehrprodukts, der Revenue für die jeweils ausbeutenden Klassen, Handel, Handwerk – also gesellschaftliche Tauschoperationen bedingende Tätigkeiten) überwiegend verrichten. Innerhalb der LohnarbeiterInnenfamilie, in der die Urproduktion eigener Lebensmittel mangels Besitz an Grund und Boden weitestgehend weggefallen ist, fehlt sogar jeglicher Produktionsanteil der proletarischen Hausfrau im eigenen Zuhause. Sie ist „nur“ noch für die unentlohnte Subsistenzreproduktion und den darüber vermittelten Anteil an der (Wieder-)Herstellung der Ware Arbeitskraft verantwortlich.

Ihre Diskriminierung in einer Gesellschaft wie der bürgerlichen, die nur die Produktion von (mehr) Geld und v. a. Kapital als sozial wertvoll im wahrsten Sinne des Wortes anerkennt, ist also noch umfassender als in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Ihre Arbeitskraft gilt nicht nur als quantitativ geringer, sondern qualitativ: sie schöpft keinen Tauschwert. Bei der Proletarierin im Produktionsprozess wirkt sich zusätzlich die geschichtlich ererbte und ans Wertgesetz angepasste geschlechtliche Arbeitsteilung als strukturell ungleicher Lohn aus.

Bürgerliche Demokratie schafft unterdrückerische Spaltungslinien nicht ab

Auch in Gesellschaften mit bürgerlicher Demokratie und formaler Gleichstellung der Geschlechter stößt diese Gleichheit in der kapitalistischen Produktionsweise und der damit einhergehenden Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse an ihre Grenzen.

Der Kapitalismus profitiert von einer zementierten Ungleichheit der Geschlechter wie auch von der Konkurrenz entlang weiterer Spaltungslinien: Jung gegen Alt, Stadt- gegen Landbevölkerung, Volk und Nation gegen MigrantInnen, um nur einige zu nennen. Der Fokus auf immer nur einen dieser Teilaspekte bzw. eine Spaltungslinie verschleiert die eigentlichen Klassenwidersprüche, deren Dynamiken die jeweiligen Geschichtsepochen prägen. Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeigt sich, dass eben nicht alle, d. h. nicht alle Frauen, gleichermaßen von Gewalt betroffen sind. Bestimmte Formen von (sexualisierter) Gewalt treffen hauptsächlich oder besonders stark Frauen aus der ArbeiterInnenklasse oder der Bauern-/BäuerInnenschaft – und hier wiederum aus den unteren Schichten: z. B. Frauenhandel, Zwangsprostitution, systematische Gewalt von kriminellen Banden in Slums und Armenvierteln, Vergewaltigungen und Gewalt als Mittel in (Bürger-)Kriegen. Hinzu kommt, dass die ökonomische Abhängigkeit der Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, aber auch aus Teilen des KleinbürgerInnentums von ihren Männern viel größer ist – nicht, weil die Männer schlechter als jene der Bourgeoisie wären, sondern aufgrund ihrer Klassenlage.

Es handelt sich also auch bei diesem Themenkomplex um eine Klassenfrage, die nicht isoliert vom Gesamtsystem betrachtet werden darf. Der Kapitalismus ist für uns MarxistInnen nicht nur ein Produktionssystem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Seine Logik wirkt in alle Lebensbereiche, prägt unser Denken und Handeln und formt unsere Gesellschaft demnach auch abseits des Arbeitsplatzes mehr, als uns oftmals bewusst ist.

Soziale Unterdrückung und Ideologie

Der Kampf gegen Gewalt muss sich gegen die Ursachen der Unterdrückung wenden. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle von Ideologie, die den Fortbestand der kapitalistischen Gesamtordnung sichert. Gemeinhin werden die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse – auch von den Ausgebeuteten – als legitim erachtet. Opfer und Täter werden individualisiert, was dazu führt, dass selbst bei konkreten Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen kein organisiertes Handeln aus dem Kollektiv heraus erfolgt, sondern Vereinzelung vorherrscht. Allein das erschwert schon das Erstatten einer Anzeige enorm. So individualisiert der Untersuchungs- und Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche Polizei und Justiz die Frauen und reproduziert strukturell die Ohnmachtserfahrung des Opfers.

Aus marxistischer Sicht ist eine der Hauptursachen von Frauenunterdrückung die dem Kapitalismus inhärente Trennung von gesellschaftlicher Produktion und privater Haus- und Sorgearbeit. Diese schafft neben schlechterer Position für Frauen auf dem Arbeitsmarkt (s. o.) Abhängigkeiten – beispielsweise vom Lebenspartner oder Ehemann.

Wesentlich zur Aufrechterhaltung der Unterdrückungsverhältnisse tragen subtil wirkende gesellschaftliche Mechanismen bei wie z. B. geschlechtsspezifische Sozialisierung und damit die Reproduktion stereotyper Verhaltensweisen. Es sind eben keine natürlichen Vorprägungen, die automatisch für geschlechtliche Unterdrückung verantwortlich sind. Physische Gewalt ist dabei „nur“ ein Extrem, die sichtbarste Spitze des Eisberges von (Frauen-)Unterdrückung.

Zunahme der Gewalt und Klassenkampf

Aber wie die Zahlen zeigen, handelt es sich um eine gigantische „Spitze“. Die Zunahme von Gewalt gegen Frauen – auch im öffentlichen Bereich – muss vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen verstanden werden, die die inneren Spaltungen der ArbeiterInnenklasse und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung noch prekärer machen.

Die letzten Jahrzehnte waren hinsichtlich der Lage der Frauen im Berufsleben durch eine widersprüchlichen Entwicklung geprägt. Einerseits wurden öffentlich organisierte Teile der Reproduktionsarbeit zurückgefahren oder privatisiert (und damit verteuert), andererseits nahm aber die Zahl der erwerbstätigen Frauen, wenn auch oft in Teilzeitstellen, zu – in manchen halbkolonialen Ländern wie z. B. Indien sogar in einem sehr großen Ausmaß. Frauen leisten also nicht nur den größten Teil der privaten Hausarbeit, auch ihr Anteil an der gesamten Lohnarbeit steigt.

Dies unterminiert die bestehende Arbeitsteilung. Vor dem Hintergrund einer strukturellen Krise des Kapitalismus und erst recht der Verheerung durch die Pandemie bringt diese Entwicklung die Kräfte der Reaktion auf verschiedene Weise auf den Plan, die sie als angebliche „Feminisierung“ und einen imaginierten „Genderwahn“ brandmarken. Den aggressiven Antifeminismus des Rechtspopulismus können wir dabei nur verstehen, wenn wir die Klassenlage des KleinbürgerInnentums und der von Deklassierung bedrohten Mittelschichten in der Krise begreifen. Die Ausweitung von Lohnarbeit der Frauen wird – obwohl zumeist auf schlechter entlohnte, prekäre Arbeitsverhältnisse konzentriert und in den „besseren“ Berufen noch immer krass unterpräsentiert – zur angeblichen „Förderung“ oder gar Bevorzugung von Frauen (und rassistisch Unterdrückten) verkehrt. Die reale und durchaus berechtigte Abstiegsangst angesichts verschärfter Konkurrenz und Krise wird nicht den kapitalistischen Verhältnissen, sondern „den Frauen“ oder „den Minderheiten“ angelastet. Der Feminismus erscheint als Gefahr, die die hart arbeitenden Männer in den Ruin treiben würde. Da die Führungen der ArbeiterInnenklasse zumeist eine passive, wenn nicht gar chauvinistische Haltung gegenüber lohnabhängigen Frauen einnehmen, können rechtspopulistische oder gar (halb-)faschistische Kräfte auch rückständige ArbeiterInnen für ihre reaktionäre Demagogie gewinnen.

Die aktuelle Zunahme von Gewalt gegen Frauen muss auch in diesem Kontext begriffen werden. Die in den letzten Jahren entstehenden Frauen*streiks und die Bewegung Ni una menos, die in Argentinien ihren Ausgang nahm, weisen dem Kampf gegen Femizide sowie Gewalt gegen Frauen und sexuell Unterdrückte zu Recht eine zentrale Stelle zu.

Dieser inkludiert notwendigerweise den Schutz vor den Tätern. Dabei dürfen sich die Frauen nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen, sondern es müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden, die von der gesamten ArbeiterInnenbewegung und der Unterdrückten getragen werden.

Gegen häusliche Gewalt braucht es als direkte Maßnahme öffentlich finanzierte, selbstverwaltete Frauenhäuser und Beratungsangebote.

Eine weitere politische Forderung muss sich auf den flächendeckenden Ausbau an Kinderbetreuungsangeboten beziehen, damit Frauen eine Erwerbstätigkeit ermöglicht wird, deren Lohn zum Leben reicht und nicht durch Teilzeit in Aufstockung und später Altersarmut durch Mindestrente endet, was überproportional Alleinerziehende trifft. Daran zeigt sich auch, mit welch finanziellen Einbußen eine Trennung vom Partner oftmals verbunden ist und warum viele Frauen trotz Gewalterfahrung in einer toxischen Beziehung verharren.

In den Gewerkschaften, in den Betrieben wie auch in den Wohnvierteln müssen Kampagnen und Beratungsstellen organisiert werden, die sich gegen jede Form von männlichem Chauvinismus und Gewalt gegen Frauen richten, die Opfer unterstützen und für eine Verhaltens- und Bewusstseinsänderung der Männer wirken.

Damit eine solche Kampagne erfolgreich sein kann, darf sie nicht nur als Frage individuellen Verhaltens begriffen werden, sondern auch als eine des kollektiven Ringens gegen den Einfluss reaktionärer Bewusstseins- und Verhaltensformen in der ArbeiterInnenklasse.

Der Kampf gegen diese Gewalt muss daher verbunden werden mit dem um gleiche Rechte, gleichen Lohn und Arbeitsbedingungen. Er muss verbunden werden mit der Forderung nach Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit, d. h. einer doppelten Überwindung der Vereinzelung – sowohl der häuslichen Tätigkeiten als auch der Gebundenheit der Frau an die (Klein-)Familie.

Zur Umsetzung dieser Forderungen müssen wir uns zusammenschließen und eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, die sich als Teil einer neuen revolutionären Internationale sieht und für die Befreiung aller Menschen eintritt.

Literaturquellen

Engels, Friedrich (1878): Gewaltstheorie, in: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Online verfügbar unter http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_136.htm

Sayers, Janet (1982): Biology and the Theories of contemporary feminism, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 173–203.

Sayers, Janet (1982): Physical strength, aggression, and male dominance, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 65–83.




Marxistische Imperialismustheorie: Bestandsaufnahme und Aktualisierung

Martin Suchanek, Revolutionäre Marxismus 53, November 2020

1. Einleitung

Der Begriff Imperialismus ist wieder modern geworden. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus und der Restauration des Kapitalismus in den ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten [i], mit dem Beginn der Globalisierung und dem scheinbar endgültigen, wenn auch kurzlebigen Triumph der Bourgeoisie schien er in der Öffentlichkeit marginalisiert. Die Möchtegern-ChefideologInnen des Weltkapitalismus schwärmten vom „Ende der Geschichte“ [ii], proklamierten naiv wie seit über einem Jahrhundert nicht mehr den angeblich endgültigen Triumph der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft. Nicht nur die reformistischen Führungen der ArbeiterInnenbewegung passten sich dem Zeitgeist an, sondern auch die „radikale“ Linke stimmte teils zähneknirschend, teils euphorisch in den Kanon ein.

In dieser Periode des scheinbar endgültigen Triumphs des Kapitalismus wirkten auch alle Theorien überholt, die von den inneren Widersprüchen dieser Produktionsweise ausgehen, die darauf pochen, dass dieses System auf der Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse, der Aneignung der Reichtümer der sog. „Dritten Welt“ und der Natur beruht. Die bürgerliche Gesellschaft hätte in den Zeiten der kapitalistischen Globalisierung auch ihre inneren Krisen hinter sich gelassen, so jedenfalls die vorschnelle Hoffnung ihrer ApologetInnen bis hinein ins vormals linke Lager.

Der Sieg des Kapitalismus im Kalten Krieg manifestierte sich notwendigerweise auch als ideologischer. In den 1990er Jahren und am Beginn dieses Jahrhunderts schien also jede Theorie „veraltet“ und „überholt“, die von einer materialistischen Analyse des Kapitalismus als Klassengesellschaft und des Imperialismus als ökonomisch-politischer Ordnung ausging. Ihre Widerlegung bedurfte im journalistischen wie im bürgerlich-wissenschaftlichen Diskurs eigentlich keiner Argumente. Es reichte der Verweis auf die vordergründige „Macht des Faktischen“.

An die Stelle der Klassentheorie traten oft geradezu reaktionäre weltanschauliche und geistige Strömungen wie der Postmodernismus, die bis heute in der akademischen Welt, vor allem in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften eine dominierende Rolle spielen. Auch wenn sich diese Strömungen oftmals als „links“ präsentieren und die Überwindung des angeblich überholten Gegensatzes von bürgerlicher Wissenschaft und marxistischer Theorie proklamieren, stellen sie ideologisch eine Kapitulation dar, eine Regression zum subjektiven Idealismus und Irrationalismus. Die verschiedenen Spielarten des Postmodernismus eint letztlich, dass sie jeden Versuch, die Entwicklungsdynamik einer Gesellschaftsformation, deren innere Triebkräfte, Widersprüche und Gesetzmäßigkeiten zu entschlüsseln, als bloß subjektives „Narrativ“, also bloße gedankliche Konstruktion verwerfen. Allein dieser Anspruch einer objektiven Fundierung linker Politik wird als Form der „Unterwerfung“ der Menschen unter eine „Konstruktion“ und als „Herrschaftsanspruch“ denunziert. Damit verwirft der Postmodernismus zugleich jeden Versuch, die Entwicklungsdynamik von Geschichte und Gesellschaft zu entschlüsseln, die der Menschheit bisher als blinde, außerhalb ihrer Kontrolle liegende Macht entgegentraten. Nichts demonstriert den reaktionären, antiemanzipatorischen Charakter der neumodischen „kritischen“ bürgerlichen Antitheorie deutlicher als ihr vehementes Bestreiten auch nur der Möglichkeit, dass die Menschheit gesellschaftliche Beziehungen und ihr Verhältnis zur Natur bewusst gestalten könnte.

Aus der behaupteten Unmöglichkeit und Verwerflichkeit einer materialistischen Theorie der Gesellschaft folgt die kategorische Ablehnung jeder objektiven Fundierung revolutionärer und notwendigerweise auch jeder proletarischen Klassenpolitik. Wie kritisch sich die IdeologInnen postmoderner Theorie gegenüber den Normen und Sitten der bürgerlichen Gesellschaft, ja gegenüber dieser selbst wähnen mögen, steht doch der Marxismus (oder was sie dafür halten) im Mittelpunkt ihrer Kritik und Polemik. Dies ist kein Zufall. Die bürgerlichen Theorien der Gesellschaft und die Erkenntnistheorie haben längst den Anspruch auf eine rationale, historische Erklärung und Rechtfertigung der Geschichte sowie auf die Ausarbeitung einer wissenschaftlich fundierten, umfassenden Weltanschauung aufgegeben [iii]. Im Gegensatz dazu versucht der Marxismus, nicht nur die Gesellschaft, ihre inneren Widersprüche und damit auch ihre Historizität zu verstehen. Er begründet auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer rationalen, von den Menschen bewusst gestalteten Produktion und Reproduktion der Gesellschaft und des Verhältnisses von Mensch und Natur.

Die marxistische Kapitalismus- und Imperialismustheorie mündet daher notwendigerweise immer in einer Revolutionstheorie, untrennbar verbunden mit der Frage der Subjektbildung und der rationalen Neugestaltung der Gesellschaft auf Basis einer Planwirtschaft.

Wo der Imperialismusbegriff in den neuen postmodernen oder auch in den postkolonialen Theorien auftaucht, ist er seines Bezugs zur marxistischen Kapitalismustheorie, zum Klassenbegriff und auch zur Theorie Lenins und anderer RevolutionärInnen vollständig beraubt [iv].

Neben diesen direkt reaktionären Auffassungen brachte die Globalisierungsperiode jedoch auch Konzeptionen hervor, die bestimmte Aspekte der Entwicklung des globalen Kapitalismus hervorhoben und oft genug auch einseitig überbetonten. Dazu gehören zum Beispiel Werke wie Negris und Hardts „Empire“ [v] und dessen Behauptung, dass der Gegensatz von Empire und Multitude den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital abgelöst habe, dass an die Stelle des Imperialismus ersteres getreten sei[vi]. Die häufigen und heftigen Kriegszüge und Interventionen der Großmächte seit dem Beginn des Jahrtausends ließen die eklektische Theorie, die ihrerseits zahlreiche Anleihen beim Postmodernismus gemacht hatte, zunehmend empirisch fragwürdig erscheinen. Etliche ihrer Gedanken wirken jedoch bis heute nach. Einerseits schwingt die Konzeption der Multitude weiter in der postautonomen Theorie und Politik fort, andererseits knüpfen z. B. Postkapitalismustheorien wie jene von Paul Mason mehr oder minder offen an Hardt und Negri an – so z. B. mit der Vorstellung, dass der Mehrwert „unmessbar“ werde und aufgrund der enorm gestiegenen Arbeitsproduktivität verschwinde.

Schon im ersten Jahrzehnt der Globalisierungsperiode wurde dieser ideologische Schein mehr und mehr durch die reale Entwicklung desavouiert. Die historische Krise der Weltwirtschaft und der Globalisierung trat für alle, die sich noch einen Funken klaren Verstandes bewahrt hatten, spätestens seit 2008 immer deutlicher zutage. Ihre krisenhafte Eruption hatte sich schon lange davor vorbereitet.

Eine Folge dieser realen Entwicklung bestand und besteht darin, dass die Begriffe Kapitalismus und Imperialismus wieder ins öffentliche Bewusstsein rückten. Allein das weist schon darauf hin, dass der Mainstream der bürgerlichen Wissenschaft über kein begriffliches Instrumentarium verfügt, auch nur einigermaßen tief unter die Oberfläche der Erscheinungsformen des realen Wirtschaftslebens, des Weltmarktes und des darauf aufbauenden globalen politischen Systems zu dringen und die realen Bewegungsgesetze dieser Ordnung, ihre innere Dynamik zu fassen. Nicht nur der Neoliberalismus, alle anderen mehr oder weniger obskuren bürgerlichen sozialwissenschaftlichen Theorien des letzten halben Jahrhunderts haben sich bis auf die Knochen blamiert. Das offenbart – nebenbei bemerkt –, dass die bürgerliche Gesellschaftswissenschaft in der imperialistischen Epoche im Wesentlichen stagnierte oder regredierte, zu einer ideologischen Magd einer historisch überfälligen, reaktionär gewordenen imperialistischen Bourgeoisie verkam.

Die Krise manifestiert sich  nicht nur als eine ökonomische und politische. Sie begann auch, die Köpfe durchzurütteln. Begriffe wie Kapitalismus haben nun Konjunktur, insbesondere im linken Diskurs. Kaum eine Neuerscheinung auf dem Markt der Ideen, die nicht auch wieder vom Imperialismus spricht. Autoren wie David Harvey bemühen sich um den „neuen“ Imperialismus [vii]. In einer seiner letzten Arbeiten, „Konkurrenz für’s Empire“ [viii] , rekurriert Elmar Altvater, jahrzehntelang Ideengeber des akademischen Marxismus, auf den Imperialismusbegriff, dessen Bedeutung er und die Berliner Weltmarktschule lange relativiert hatten. Auch Joachim Bischoff, der den Lenin’schen Imperialismusbegriff eigentlich verwirft, kommt in seinem Buch „Die Herrschaft der Finanzmärkte“ nicht umhin, das Vordringen des Finanzkapitals zu konstatieren, auch wenn er dies für eine atypische Entwicklung des Kapitalismus hält [ix]. Die Zeitschrift Prokla widmet mehrere Schwerpunkte der Imperialismustheorie und neueren Entwicklungen [x]. Die indischen AutorInnen Patnaik [xi] versuchen eine alternative Fundierung der Imperialismustheorie. Bei zentristischen, also zwischen Reformismus und revolutionärem Marxismus schwankenden Strömungen und TheoretikerInnen finden wir eine Hinwendung und verstärkte Rezeption der Imperialismustheorie, auch wenn sie zentrale Erkenntnisse der Lenin’schen Theorie ablehnen, insbesondere die Konzeption der ArbeiterInnenaristokratie.

In diesem Artikel können wir die verschiedenen Ansätze keiner detaillierten Kritik unterziehen, das wird weiteren Arbeiten vorbehalten sein. An dieser Stelle geht es uns vielmehr darum aufzuzeigen, dass der zunehmende Rekurs auf den Begriff Imperialismus – einschließlich der Debatten zu seiner theoretischen Fundierung – die Realität einer globalen Krise ausdrückt.

Deren umfassender Charakter drängt geradezu zur Bezugnahme auf eine Theorie, die die Totalität der internationalen Entwicklung, ja, auch des Mensch-Natur-Verhältnisses zu fassen vermag. Die Hinwendung oder wenigstens Reflexion auf die Marx’sche Kapitalismuskritik und auf die Imperialismustheorie stellt daher keine zufällige Entwicklung dar, sondern liegt schlichtweg daran, dass diese überhaupt das Problem auf eine umfassende Art zu erklären versuchen. Eine der wenigen linksbürgerlichen ökonomischen Theorien, auf die daher in Krisenperioden auch verstärkt rekurriert wird, stellt  der Keynesianismus dar, gerade weil er die Krisenhaftigkeit der Marktwirtschaft anerkennt und nach einer makroökonomischen und gesamtgesellschaftlichen, wenn auch bürgerlichen Antkrisenpolitik sucht.

Nur die Marx’sche Analyse des Kapitals und seiner Bewegungsgesetze ermöglicht jedoch ein tiefgehendes und radikales Verständnis der aktuellen Krise, ihrer Erscheinungsformen wie ihrer tieferen Ursachen. Eine materialistische Theorie muss versuchen, den Begriff des Imperialismus, die Besonderheiten dieser Epoche sowie einzelne Entwicklungsstadien oder Perioden innerhalb dieser Formation aus den Begriffen der Marx’schen Kapitalanalyse herzuleiten und zu erklären.

Diesen Anspruch versuchten so unterschiedliche AutorInnen wie Lenin, Luxemburg, Hilferding, Bucharin, Trotzki – um nur einige zentrale zu nennen – einzulösen. Im folgenden Text werden wir sie einer kurzen kritischen Würdigung unterziehen. Im Zentrum des Interesses steht jedoch die Theorie Lenins, weil sie die Gesamtheit des Imperialismus am besten zu fassen vermag. Ihr entscheidender Vorzug besteht gerade darin, dass Lenin den Imperialismus nicht bloß als ökonomisches und schon gar nicht als rein politisches Phänomen verstand, sondern als politisch-ökonomische Totalität, als Entwicklungsstadium einer Gesellschaftsformation.

Die Stärke seiner Theorie besteht, wie wir sehen werden, darüber hinaus darin, dass er den Imperialismus als globales Verhältnis begriff, also von der Realität eines Weltmarktzusammenhangs und einer darauf basierenden Weltordnung, eines globalen Systems, ausging. Dies bildet im Übrigen auch eine Schnittstelle zu der Theorie der permanenten Revolution Leo Trotzkis, gewissermaßen das Alter Ego von Lenins Theorie.

Eine an Lenin und Trotzki anknüpfende Imperialismustheorie erlaubt bei aller Kritik im Einzelnen, die gegenwärtige Periode im Rahmen der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu verstehen. Nur die darauf basierenden programmatischen und politischen Schlussfolgerungen und die darin verkörperte Methode, wie sie von Marx und Engels grundgelegt und später im Kampf der internationalistischen Linken der Zweiten Internationale, vom Bolschewismus, von der Dritten Internationale unter Lenin und Trotzki, dem Kampf der ILO und der frühen Vierten Internationale entwickelt wurden, liefern eine Grundlage für die politische Bewaffnung, das unverzichtbare Werkzeug der Führung der kommenden Revolution, einer neuen, Fünften Internationale, deren Aufbau die große Aufgabe unserer Zeit ist.

Wenn wir von der historischen Bestätigung des Marxismus sprechen, so heißt das natürlich nicht, dass wir es mit einer Sammlung überhistorischer Wahrheiten, einer abgeschlossenen Wissenschaft zu tun hätten, die nur wie ein Tableau über aktuelle Ereignisse gestülpt werden müsse, um dann das „richtige“ Ergebnis zu erhalten. Wie wir weiter unten zeigen werden, war die Lenin’sche Imperialismustheorie allen anderen Theorien auch in der II. und III. Internationale aufgrund ihres Epochenbegriffs zwar qualitativ überlegen, keineswegs jedoch frei von eigenen begrifflichen Schwächen. Noch weniger konnte sie natürlich alle weiteren Entwicklungen einfach „vorwegnehmen“.

Dass die Imperialismustheorie seit den 1920er Jahren trotz einiger Versuche wenig weiterentwickelt wurde, dass wir bis heute – und sei es auch noch so „kritisch“ – auf die AutorInnen des Beginns des 20. Jahrhunderts mehr als auf andere rekurrieren, bedarf einer Erklärung. Die Degeneration der ArbeiterInnenbewegung, die Verbürgerlichung der Sozialdemokratie, die Bürokratisierung der Sowjetunion und das Verkommen dieses „Marxismus“ zu einer Herrschaftsideologie der Staatsbürokratie und ihrer Gefolgsleute in Ost und West stellen dafür eine zentrale Ursache dar. Die revolutionäre Minderheit der ArbeiterInnenbewegung, die sich in den 1930er Jahren und 1940er Jahren um den Aufbau einer neuen, revolutionären Vierten Internationale und die Verteidigung des kommunistischen Programms formierte, blieb marginalisiert und versackte selbst in Opportunismus und/oder SektiererInnentum.

Dies hatte unvermeidlich auch theoretische Konsequenzen. Die Weiterentwicklung der Lenin’schen Theorie blieb auf der Strecke. Sie wurde wie z. B. in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus vereinseitigt, entstellt und zur Begründung klassenübergreifender Bündnisse wie der antimonopolistischen Demokratie missbraucht. Andere AutorInnen wie z. B. Mandel in seiner Theorie des „Spätkapitalismus“ knüpften zwar an Lenins Theorie an, aber ihr Versuch, die Entwicklung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären, enthielt wichtige Revisionen des Marxismus (z. B. eine eklektische Krisentheorie oder Zugeständnisse an die Theorie der langen Wellen) und oft genug ein eklektisches Nebeneinander. Nichtsdestotrotz bilden Arbeiten wie jene von Mandel einen Referenzpunkt bis heute, weil er sich als einer der wenigen überhaupt die Aufgabe stellte, eine umfassende Theorie der Entwicklung des Kapitalismus bis in die 1980er und 1990er Jahre auszuarbeiten.

Zweifellos lassen sich auch in den Arbeiten anderer AutorInnen wichtige Elemente finden, an denen es anzuknüpfen gilt. Besonders hervorgehoben seien an dieser Stelle nur Henryk Grossmann [xii], Paul Mattick [xiii] und Roman Rosdolsky [xiv].

Insgesamt zeichnet die Entwicklung der marxistischen Theorie nach 1945 jedoch aus, dass Imperialismus- und Krisentheorie weitgehend voneinander getrennte Wege gehen, dass viele, die an der Marx’schen Krisentheorie festhalten, keinen Bezug zur Imperialismustheorie herstellten oder herstellen wollten. Umgekehrt verwerfen zahlreiche nach 1945 entwickelte Imperialismustheorien die von Marx entwickelten grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, die die Krisen im Kapitalismus erklären, insbesondere das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate.

Schließlich mutierte die Imperialismustheorie bei etlichen „marxistischen“ und linksradikalen Strömungen und Gruppierungen von einer Theorie der Analyse der konkreten Situation zu einer rein formellen Selbstvergewisserung, als ob die wesentliche Leistung einer revolutionären Theorie einzig darin bestünde, den „Charakter“ einer bestimmten Entwicklungsphase zu bestimmen. Wir wollen das Problem im folgenden Absatz verdeutlichen.

So ist es zweifellos richtig, „die Globalisierung“ als einen Abschnitt der imperialistischen Epoche zu charakterisieren, in dem die Wesensmerkmale des Imperialismus hervortreten. Ich habe damit aber noch gar nichts ausgesagt, was diese Periode von anderen, in ihrer Erscheinungsform sehr verschiedenen Abschnitten der Epoche unterscheidet. Ich habe daher auch gar nichts ausgesagt darüber, welche Formen des Klassenkampfes, welche politischen und sozialen Fragen im Vordergrund stehen, geschweige denn über die spezifische Entwicklungsdynamik innerhalb der Periode, das Zusammenwirken von Politik und Ökonomie, von Basis und Überbau, über die konkrete Verlaufsform der Zuspitzung der Widersprüche. Vor allem habe ich damit gar nichts ausgesagt über die Programmatik, über Strategie und Taktik. Das Ganze wird vielmehr zu einer mehr oder weniger dürren und sterilen „allgemeinen Wahrheit“ – die auch äußerst begrenzt ist, weil sie über die konkrete Lage keine konkrete Aussage zu treffen vermag, weil sie eben nicht hilft, eine konkrete Situation genauer zu verstehen und somit zielgerichteter zu handeln. Eine solche Herangehensweise verurteilt also nicht nur zu Sterilität gegenüber der aktuellen Periode oder Situation. Sie macht letztlich auch den Epochenbegriff oder den Begriff des Imperialismus (oder, wenn dieselbe Herangehensweise verwendet wird, auch jenen des Kapitalismus) zu einer schalen Angelegenheit. Dies insbesondere, weil so auch nicht geklärt wird, warum sich der Imperialismus als historische Epoche in so unterschiedlichen Formen präsentieren kann, welche Faktoren nicht nur die Entwicklung innerhalb einer Periode bestimmen, sondern auch, welche ihre krisenhaften Übergänge determinieren.

Wir haben uns mit diesem Punkt so lange aufgehalten, weil die Bestimmung des Verhältnisses von Epoche zu längeren und kürzeren Perioden der Entwicklung, zu den zyklischen Bewegungen der Kapitalakkumulation einen zentralen Problempunkt bildete, um den die Debatten über die Imperialismus- und Krisentheorie nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Zusammenbruch und Degeneration der Vierten Internationale kreisten.

2. Kapitalismus als historische Gesellschaftsformation

Wie alle MarxistInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte auch Lenin, den Imperialismusbegriff aus den Kategorien der Marx’schen Kapital- und Gesellschaftstheorie herzuleiten. Die Überlegenheit seiner Auffassung lässt sich nur schwer verstehen, wenn wir nicht auf letztere eingehen. So wird auch verständlich, worin eigentlich die Schwächen konkurrierender Theorien z. B. jener Hilferdings, Luxemburgs oder Bucharins liegen. Bevor wir uns mit den Konzeptionen des linken Flügels der II. Internationale und der frühen III. Internationale beschäftigen, müssen wir jedoch auf für unsere Darlegung wesentliche Besonderheiten und Schlussfolgerungen der Marx’schen Theorie zu sprechen kommen.

Im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) gibt Marx einen kurzen und bekanntgewordenen Abriss über das Verhältnis von ökonomischer Basis einer Gesellschaft zu ihrem politischen, ideologischen, geistigen, staatlichen etc. Überbau.

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. (…)

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. (…)

Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ [xv]

Für unsere weitere Betrachtung der Imperialismustheorie entscheidend ist, dass Marx eine historische Gesellschaftsformation als Einheit von ökonomischer Basis und dem entsprechenden politischen und ideologischen, ideellen usw. Überbau betrachtet.

Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bestimmen die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, ganz so wie die feudalen die Feudalgesellschaft oder die Kaufsklaverei die Antike. Marx verweist darauf, dass die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse die ökonomische Basis der Gesellschaft bildet. So existieren z. B. im Kapitalismus neben den kapitalistischen noch weitere Formen. Je mehr die dominante Produktionsweise expandiert, jeden Winkel der Erde erreicht, jede chinesische Mauer überwindet, den Weltmarkt weiterentwickelt, je mehr die Unterordnung der Lohnarbeit unter das Kapital voranschreitet, werden andere Produktionsverhältnisse entweder aufgelöst und zerstört oder mehr und mehr der kapitalistischen untergeordnet, dieser funktional einverleibt. Hinsichtlich bestimmter Produktionsformen lassen sich beide Phänomene beobachten, z. B. beim Kleineigentum an Produktionsmitteln und damit der Reproduktion des KleinbürgerInnentums als auch bei der privaten Hausarbeit.

In bestimmten Phasen der Entwicklung entstehen sogar Formen vorhergehender Ausbeutungsverhältnisse neu. So war z. B. die Sklaverei in den Amerikas ein Resultat und Mittel der kapitalistischen Durchdringung und Expansion, wobei sich diese grundlegend von der antiken unterscheidet, weil sie immer schon auf den kapitalistischen Weltmarkt bezogen war, ja ein entscheidendes Mittel zu dessen Herstellung. Daher bezeichnet Marx den/die SklavInnen ausbeutende/n PlantagenbesitzerIn auch zu Recht als KapitalistIn. „Daß wir jetzt die Plantagenbesitzer in Amerika nicht nur Kapitalisten nennen, sondern daß sie es sind, beruht darauf, daß sie als Anomalien innerhalb eines auf der freien Arbeit beruhenden Weltmarkts existieren.“ [xvi] Ebenso entstehen feudale Formen der Ausbeutung in Indien erst als direkte Folge des Kolonialismus und der Integration in das britische Welt- und Handelsimperium.

Schließlich bildet die private Hausarbeit der LohnarbeiterInnen eine, dem Kapitalverhältnis untergeordnete und von diesem bestimmte Produktionsweise, die zwar Ähnlichkeiten mit der Subsistenzproduktion aufweist, sich von dieser jedoch grundlegend unterscheidet. Sie ist nämlich – ähnlich der Sklaverei in den Amerikas – fest in die Welt der Warenproduktion und des Warentausches eingebunden, weil die LohnarbeiterInnen ihre Lebensmittel, ihre Wohnung … als Waren kaufen und dazu ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.

Für Marx bedeutet die ökonomische Struktur also keineswegs die Existenz nur einer Produktionsweise. Entscheidend ist vielmehr, dass in den jeweiligen historischen Gesellschaftsformationen eine bestimmte Produktionsweise die gesamte ökonomische Struktur der Gesellschaft bestimmt. Große historische Umbrüche stellen auch dieses Verhältnis in Frage. So entwickelt sich die kapitalistische Produktionsweise schon in der Übergangsepoche der Neuzeit und drängt die feudale immer mehr zurück. Politisch entspricht dem der Absolutismus als Übergangsregime. Die bürgerliche Revolution kann sich also auf die Herausbildung wesentlicher Elemente einer ihr entsprechenden Produktionsweise schon vor ihrem Sieg stützen, die ökonomische Vorherrschaft der Bourgeoise beginnt sich bereits mehr und mehr zu entwickeln, bevor sie die politische endgültig erringt.

Für die proletarische Revolution ist das unmöglich, weil sich keine sozialistische Produktionsweise im Kapitalismus entwickelt, ja nicht entwickeln kann. Wohl aber bilden sich die Voraussetzungen für eine bewusste, rationale, globale Planung. Um dies zu erreichen, muss aber das Proletariat zuerst die politische Macht erobern.

Darum ist auch die Kapitalismustheorie, die Analyse des antagonistischen Charakters der Produktionsweise für Marx und Engels so eng mit der Revolutionstheorie verflochten. Für sie besteht der ganze Zweck der Kritik der politischen Ökonomie schließlich darin, die Bedingungen, die Notwendigkeit und das Programm der proletarischen Machtergreifung wissenschaftlich zu unterfüttern.

Wenn wir – wie alle MarxistInnen – von Imperialismus sprechen, so meinen wir eine bestimmten Epoche der kapitalistischen Entwicklung, genauer der Entwicklung der kapitalistischen oder bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Der Imperialismus wird bestimmt als Epoche des Übergangs und Niedergangs des Kapitalismus und zwar in einem spezifischen Sinn. Die Produktionsverhältnisse sind zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte, der Entwicklung der Gesellschaft geworden. Der Kapitalismus hat aufgehört, eine fortschrittliche Produktionsweise zu sein und zwar in den beiden Bestimmungen:

1. Die Zerstörung vorkapitalistischer Produktionsweisen und sich darauf erhebender politischer Formen ist im globalen Maßstab vollzogen. Wo sie fortbestehen, existieren sie entweder weiter als in den Weltmarkt eingebettete, funktionale Formen oder als Marginalien.

2. Die Bildung der zentralen Voraussetzungen für eine globale, bewusst gelenkte Produktionsweise – große Industrie und ArbeiterInnenklasse – ist auf globaler Ebene erfolgt.

Keineswegs darf diese Bestimmung damit verwechselt werden, dass in der imperialistischen Epoche die Produktivkräfte dauerhaft stagnieren würden oder überhaupt dauerhaft stagnierten könnten. Diese, oft katastrophistisch konnotierten Interpretationen finden sich teilweise im Stalinismus der Dritten Periode, teilweise im zentristischen Nachkriegstrotzkismus. Sie gehen davon aus, dass die Stagnation der Produktivkräfte Voraussetzung für den revolutionären Charakter einer bestimmten Epoche oder Geschichtsperiode wäre.

Geht man nämlich einmal davon aus, dass die Möglichkeit der proletarischen Revolution von der Stagnation der Produktivkräfte abhängt, so muss diese geradezu ständig „bewiesen“ werden, will man nicht gegen den eigenen revolutionären Willen zum Utopismus abgleiten. Dann muss – was jeder revolutionären Theorie schlecht zu Gesicht steht – die reale Entwicklung umgedeutet werden. Die gigantische Entwicklung der Produktivkräfte seit 1945 wird geleugnet und zur „Entwicklung“ von „Destruktivkräften“ umbenannt. Dass damit nichts gewonnen ist, liegt auf der Hand.

Methodisch betrachtet wurde ein dialektisches Widerspruchsverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf die Betrachtung einer Seite reduziert. Für die kapitalistische Produktionsweise ist es jedoch gerade kennzeichnend, dass sie die Produktivkräfte ständig, wenn auch auf Kosten von ArbeiterInnen und Natur (insofern natürlich destruktiv!) umwälzen muss. Die Umwälzung erfolgt notwendig krisenhaft, gelingt, historisch betrachtet, immer schwieriger und geht daher tendenziell mit immer größeren gesellschaftlichen Konflikten einher.

Der Begriff der Gesellschaftsformation inkludiert darüber hinaus neben den Produktionsverhältnissen auch den gesamten Überbau – und somit auch das Verhältnis zwischen allen Klassen, sowie die staatlichen und internationalen Verhältnisse.

Gesellschaftsformation und Staat

Marx und Engels verwiesen in ihren Untersuchungen und Analysen von Staats- und Herrschaftsformen, Ideologien usw. immer wieder darauf, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der verschiedenen Nationalökonomien, deren historisch bedingte Unterschiede, ihre verschiedenartige Integration in den Weltmarktzusammenhang usw. eine enorme Formenvielfalt und Kombinationen des staatlichen, ideellen, institutionellen und gesellschaftlichen Überbaus hervorbringen.

So entfaltete sich die kapitalistische Produktionsweise über einen langwierigen und blutigen Prozess des Klassenkampfes bekanntlich zuerst in England. Die epochemachende, weltgeschichtliche Umwälzung vollzieht sich jedoch im ökonomisch eigentlich rückständigeren Frankreich – ein früheres Beispiel für das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung. Andererseits bildet Deutschland, das Land der gescheiterten Revolutionen, ein Musterbeispiel für die Umwälzung der Produktionsweise durch eine Klassenallianz von aufstrebendem Großkapital und Aristokratie. Bonapartismus und Verpreußung bilden die entsprechende staatliche und ideologische Überbauform. Der US-amerikanische Kapitalismus hingegen brauchte weder feudale Überreste hinwegzufegen, noch bedurfte es eines Kompromisses mit tradierten herrschenden Klassen und Herrschaftsformen. Die bürgerliche Gesellschaft entwickelte sich ohne Rücksichtnahme auf diese, zugleich jedoch auf Basis von Sklaverei, Vertreibung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung.

Unbeschadet dieser enormen Unterschiede des gesellschaftlichen Lebens, der Öffentlichkeit wie der gesamten ideologischen Sphäre können, wie Marx und Engels immer wieder hervorheben, diese berechtigterweise als bürgerliche Staaten und Gesellschaften charakterisiert und begriffen werden, weil sie auf derselben ökonomischen Grundlage, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhen.

„Und nun gar der wüste Mißbrauch, den das Programm mit den Worten ‚heutiger Staat’, ‚heutige Gesellschaft’ treibt, und den noch wüsteren Mißverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet!

Die ‚heutige Gesellschaft’ ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der ‚heutige Staat’ wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußisch-deutschen Reich als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten Staaten. ‚Der heutige Staat’ ist also eine Fiktion.

Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von ‚heutigem Staatswesen’ sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.“ [xvii]

Die Institutionen des Überbaus dienen nicht nur der gewaltsamen wie auch ideologischen, über bürgerliche Medien, Wissenschaft und Öffentlichkeit vermittelte Sicherung der Herrschaft des Kapitals. Der Staat muss auch als Garant der Reproduktion des Kapitalverhältnisses, als Sachwalter des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, als ideeller Gesamtkapitalist fungieren.

Um diese Rolle erfüllen zu können, muss er als über den Klassen und einzelnen Kapitalfraktionen stehend erscheinen, als Sachwalter des gesellschaftlich Allgemeinen. Schon bei Betrachtung der Oberflächenerscheinungen der Gesellschaft – z. B. empirisch der Resultate staatlicher Entscheidungen, Gesetze und auch des konkreten Handelns von Gerichten, Behörden, Polizei und anderen ehrwürdigen Institutionen – wird rasch klar, dass  die Ideologie der Gleichheit, die die kapitalistische Warenproduktion notwendigerweise erzeugt und reproduziert und als deren Sachwalter der Staat erscheint, mit der Reproduktion und Verstärkung der reellen Ungleichheit einhergeht, wenn auch in einer durchaus elastischen Form.

Das liegt einerseits an den Kämpfen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten, die progressive Reformen und eine Ausdehnung demokratischer Rechte erzwingen können, freilich ohne dass dabei die klassenspezifische Substanz des Staatsapparates berührt wird. Nicht zuletzt durch diesen Druck erweist sich der bürgerliche Staat als  überaus wandlungs- und anpassungsfähig, wenn es darum geht, solche erzwungenen Reformen in das Gesamtsystems zu integrieren und seine Herrschaftsform zu modifizieren. Fast alle bedeutenden gesetzlichen und sozialen Reformen gingen aus sozialen und politischen Konflikten hervor, einschließlich von revolutionären Kämpfen oder BürgerInnenkriegen. Rosa Luxemburg bringt diese Dialektik von Reform und Revolution als eine der Ersten auf den Punkt, wenn sie die gesetzliche Reform als Nebenprodukt, als Resultat des revolutionären Klassenkampfes bestimmt. [xviii]

Die Tatsache, dass solche Reformen durchsetzbar sind, verweist nicht nur darauf, dass der Kampf um Verbesserungen ein notwendiges, wenn auch beschränktes Moment des Klassenkampfes darstellt. Diese Form der Veränderung bildet – ganz ähnlich wie der erfolgreiche gewerkschaftliche Kampf um Verbesserungen – zugleich auch eine Wurzel von Illusionen in die Reformierbarkeit des Gesamtsystems. Die relativ elastische demokratische Herrschaftsform des Kapitals erweist sich als Mittel zur Integration vor allem der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums, aber auch der ArbeiterInnenklasse oder jedenfalls ihrer privilegierteren Schichten ins politische und institutionelle System. Wie Marx und Engels immer wieder verdeutlichen, ändert das jedoch nichts am Klassencharakter des Staates. Auch die demokratischste Republik bleibt eine Form der demokratisch verhüllten Diktatur des Kapitals.

Gerade dass in der demokratischen Republik Unterschiede des Besitzes und des Reichtums offiziell keine Ungleichheit ausmachen sollen und LohnarbeiterInnen und KapitalbesitzerInnen als gleich erscheinen, erweitert die Möglichkeiten zur Integration von Ausgebeuteten und Unterdrückten. So wie das Lohnarbeitsverhältnis selbst eine gewisse „Elastizität“ aufweist, so fließt in die Ausgestaltung des bürgerlichen Staates immer auch ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis ein, das seinerseits auch die Vorstellung von dessen scheinbarer Klassenneutralität verstärkt. Damit hängt außerdem zusammen, dass der Staat selbst die allgemeinen Reproduktionsbedingungen des Gesamtkapitals sichern muss, und zwar auch gegen widerstreitende Teile der herrschenden Klasse. Weil sich die Hauptklassen der Gesellschaft aus freien, formell gleichen Individuen, aus WarenbesitzerInnen zusammensetzen, deren Mitglieder selbst in einem Konkurrenzverhältnis stehen (wenn auch in einem für die Klasse der KapitalistInnen und der LohnarbeiterInnen jeweils spezifischen), so muss der Staat notwendigerweise als scheinbar über den Klassen erscheinen.

Ideeller Gesamtkapitalist

Damit der Staat als ideeller Gesamtkapitalist agieren kann, muss er bis zu einem gewissen Grad auch unterschieden sein von der KapitalistInnenklasse oder selbst von deren dominierenden Fraktionen. Mandel führt dies in der Einleitung zu Trotzkis „Schriften über Deutschland“ [xix] recht plastisch anhand der Politik des New Deal aus:

„Die artikulierte Mehrheit der amerikanischen Großbürger schrie Zeter und Mordio über Roosevelts ,New Deal’; sogar Trumans ‚Fair Deal’ wurde mit nicht wenig Geschrei über ‚schleichenden Sozialismus’ beantwortet. Aber kein objektiver Beobachter der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft der letzten 35 Jahre könnte heute bestreiten, daß sich in dieser Epoche die Akkumulation des Kapitals erweitert und nicht eingeschränkt hat; daß die amerikanischen Großkonzerne unvergleichbar reicher und mächtiger geworden sind, als sie in den zwanziger Jahren waren; daß die Bereitschaft anderer Gesellschaftsklassen – hauptsächlich der Industriearbeiterschaft – die Herrschaft dieser Konzerne unmittelbar gesellschaftlich und politisch in Frage zu stellen, geringer geworden ist, als sie während und sofort nach der großen Wirtschaftskrise war.“ [xx]

Ob der New Deal dem Interesse des US-amerikanischen Gesamtkapitals entspricht, zeigt sich nicht daran, ob alle oder selbst die Mehrheit der Konzerne diesem von Beginn an zustimmt. Im Gegenteil. Da das Kapital als konkurrierende Einzelkapitale in Erscheinung treten muss, erfordert die Herausbildung eines Gesamtinteresses der Klasse einen politischen, staatlichen Vermittlungsprozess, der notfalls auch gegen die unmittelbaren Einzelinteressen durchgesetzt werden muss.

Internationaler Charakter

Abschließend müssen wir beim Marx’schen Begriff der bürgerlichen Gesellschaftsformation darauf eingehen, dass diese (auch im Unterschied zu vorhergehenden) immer schon als globale betrachtet und gedacht werden muss. Dieser Gedanke wird bereits im Kommunistischen Manifest betont, wo Marx und Engels darauf verweisen, dass eine Besonderheit des Kapitalismus und dessen historisch fortschrittliche Mission gerade darin bestehen, dass sich die Bourgeoisie im Unterschied zu vorhergehenden herrschenden Klassen revolutionär gegenüber vorkapitalistischen Produktionsweisen verhält. Es gehört zum Wesen des Kapitals, diese zurückzudrängen, zu zerstören. Es drängt zur globalen Expansion, nistet sich ein, überwindet chinesische Mauern.

„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.“ [xxi]

In den Grundrissen legt Marx dar, dass der Weltmarkt im Begriff des Kapitals eingeschrieben ist, von diesem vorausgesetzt und geschaffen wird. „Wie das Kapital daher einerseits die Tendenz hat, stets mehr Surplusarbeit zu schaffen, so die ergänzende, mehr Austauschpunkte zu schaffen; d. h. hier vom Standpunkt des absoluten Mehrwerts oder Surplusarbeit aus, mehr Surplusarbeit als Ergänzung zu sich selbst hervorzurufen, au fond (im Grunde) die auf dem Kapital basierte Produktion oder die ihm entsprechende Produktionsweise zu propagieren. Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben.“ [xxii]

Die Tendenz zur Schaffung des Weltmarktes, das „propagandistische“ Wirken des Kapitals prägt seine Entwicklung von Beginn an. Die koloniale Expansion, die „Entdeckung“ Lateinamerikas und von dessen Reichtümern verleiht der Ausbreitung des Kapitalismus in England einen mächtigen Impuls, der durch die bloß innere Akkumulation viel langsamer und langwieriger erfolgt wäre. Im Unterkapitel „Genesis des industriellen Kapitalisten“, Teil der Abhandlung über die sog. ursprüngliche Akkumulation im Ersten Band des „Kapital“, verweist Marx darauf, dass sich die Genesis der/s industriellen KapitalistIn in einem engen Zusammenhang mit dem Weltmarkt vollzog:

„Die Genesis des industriellen Kapitalisten ging nicht in derselben allmählichen Weise vor wie die des Pächters. Zweifelsohne verwandelten sich manche kleine Zunftmeister und noch mehr selbständige kleine Handwerker oder auch Lohnarbeiter in kleine Kapitalisten und durch allmählich ausgedehntere Exploitation von Lohnarbeit und entsprechende Akkumulation in Kapitalisten sans phrase (schlechthin). In der Kindheitsperiode der kapitalistischen Produktion ging’s vielfach zu wie in der Kindheitsperiode des mittelaltrigen Städtewesens, wo die Frage, wer von den entlaufnen Leibeignen soll Meister sein und wer Diener, großenteils durch das frühere oder spätere Datum ihrer Flucht entschieden wurde. Indes entsprach der Schneckengang dieser Methode in keiner Weise den Handelsbedürfnissen des neuen Weltmarkts, welchen die großen Entdeckungen Ende des 15. Jahrhunderts geschaffen hatten.“ [xxiii]

Vielmehr erlaubt die koloniale Plünderung, also die Herausbildung eines Weltmarktes – vermittelt über die Entwicklung des Wucher- und Handelskapitals – eine extreme Beschleunigung der Akkumulation der Industrie, die Schaffung der eigentlichen kapitalistischen Produktionsweise in jenen Ländern wie England, wo die feudalen Verhältnisse auf dem Land bereits aufgelöst oder jedenfalls in Auflösung begriffen waren, eine disponible Klasse doppelt freier LohnarbeiterInnen zur Verfügung stand. Marx bringt die Verhältnisse sarkastisch auf den Punkt:

„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz. Er wird eröffnet durch den Abfall der Niederlande von Spanien, nimmt Riesenumfang an in Englands Antijakobinerkrieg, spielt noch fort in den Opiumkriegen gegen China usw.

Die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“ [xxiv]

Die Schaffung einer universellen, die Partikularität vorhergehender Produktionsweisen überwindenden, auf den Weltmarkt bezogenen Produktionsweise stellt für Marx und Engels einen historischen Fortschritt dar – trotz des von ihnen geschilderten, notwendigerweise extrem brutalen und gewalttätigen Prozesses in Bezug auf die Herausbildung der ArbeiterInnenklasse und der kolonialen Ausbeutung. Der Kern des geschichtlichen Fortschritts besteht für Marx nämlich nicht in der Schaffung einer kapitalistischen Ökonomie und der bürgerlichen Gesellschaft als solcher, sondern darin, dass dies eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung einer zukünftigen universellen Entwicklung der Menschen ist. [xxv]

Die Frage der Expansion des Kapitalverhältnisses und des Weltmarkts inkludiert daher auch in einem anderen Sinn ein grundlegend historisches Moment. Sobald es sich gemäß seiner eigenen technischen Grundlage – der großen Industrie – durchgesetzt hat und der Weltmarkt etabliert ist, hört die Bourgeoisie auf, eine fortschrittliche Klasse zu sein. Die Welt ist unter die großen Kapitale und Mächte aufgeteilt, die ihrerseits auch den Eintritt und die Form der Weltmarktintegration der sog. Dritten Welt bestimmen.

Alle marxistischen Imperialismustheorien beziehen sich im Grunde auf ein solches, historisches Stadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation, mögen ihre Erklärungsansätze auch sehr verschieden sein. Auch eine Aktualisierung und Weiterentwicklung der Lenin’schen Imperialismustheorie muss vom internationalen Charakter des Kapitalismus ausgehen – oder sie ist im Voraus zum Scheitern verurteilt.

Obiges Zitat enthält schließlich auch die zentralen Elemente der Marx’schen Revolutionstheorie und den historisch-spezifischen Charakter der proletarischen Revolution. Die bürgerliche Gesellschaft bildet den Abschluss der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“, die kapitalistische die letzte antagonistische Form des Produktionsprozesses. Damit ist auch die zentrale Rolle der klassenbewussten Organisierung des Proletariats grundgelegt – die Formierung der revolutionären Partei.

3. Kapitalbegriff, Krisentheorie und Imperialismus

Marx’ politischer Ökonomie geht es u. a. darum, die Notwendigkeit der Verschärfung der inneren Widersprüche des Kapitalismus darzulegen, die Notwendigkeit der Krise, der Lösung, Aufhebung dieser inneren Widersprüche der Gesellschaftsformation.

Dem Kapitalbegriff von Marx ist daher die Möglichkeit und Notwendigkeit der Krise immanent, nichts von außen Hineingetragenes. Vielmehr legt er nicht nur die Unvermeidbarkeit der Krisen, sondern auch die in der widersprüchlichen Kapitalbewegung angelegten Tendenzen zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise dar.

Im ersten Band leitet er die historischen Entwicklungstendenzen des Kapitals her:

„Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ [xxvi]

In diesem Zitat wird schon deutlich, dass das Kapital selbst die eigentliche Schranke der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist.

„Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen.

Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinen Zwecken anwenden muß und die auf die unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“ [xxvii]

In diesen wie in vielen anderen Passagen von Marx und Engels zeigt sich, dass die Marx’sche Theorie im Kern eine Krisentheorie darstellt. Die Produktionsweise strebt auf das Eklatieren ihrer inneren Widersprüche zu. Entscheidend ist dabei, dass die Entwicklung der Produktivkräfte an einem bestimmten Punkt selbst zu einer Schranke für die weitere Verwertung des Kapitals wird, dass sie, wie es Marx in den Grundrissen ausdrückt, „die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen.“ [xxviii]

Der tendenzielle Fall der Profitrate führt dazu, dass ab einem bestimmten Punkt der Stachel der Akkumulation erlahmt, die Verwertung des neu geschaffenen Profits nicht mehr profitabel erscheint für das Gesamtkapital – Stagnation und Krise sind die Folge, deren einziger Ausweg in der Vernichtung überschüssigen Kapitals besteht. Dies zeigt für Marx zugleich die historischen Grenzen, die Überholtheit der kapitalistischen Produktionsweise selbst an und die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Produktion der Kontrolle der Bourgeoisie zu entreißen und in bewusster Form zu gestalten.

„In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice (Rat) gegeben wird, to be gone and to give room to a higher stage of social production (abzutreten und einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion Raum zu geben).“ [xxix]

In diesem Sinne vertritt Marx durchaus eine Zusammenbruchstheorie oder kann man von einer Tendenz zum Zusammenbruch sprechen, die immer wieder historische Krisen nicht nur der Akkumulation, sondern der gesamten Gesellschaftsformation hervorbringt. In seiner Arbeit „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ würdigt Roman Rosdolsky nicht nur zu Recht die Verdienste von Luxemburg und Grossmann bei der Verteidigung der Marx’schen Theorie und verweist auf die Ursachen der Angriffe auf die „Zusammenbruchstheorie“: „Die Behauptung, Marx hätte keine ‚Zusammenbruchstheorie’ aufgestellt, ist wohl vor allem auf die revisionistische Auslegung des Marxschen ökonomischen Systems vor und nach dem ersten Weltkrieg zurückzuführen.“ [xxx]

Zweifellos wurde die „Kritik“ an der sog. Zusammenbruchstheorie auch dadurch gerechtfertigt, dass ihren VertreterInnen unterstellt wurde, dass sie nicht nur von einer Krisentendenz ausgegangen seien, sondern auch deren Unüberwindbarkeit oder eine unvermeidliche Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus unterstellen würden.

Im marxistischen Verständnis bedeuten solche Krisen oder Krisenperioden jedoch keinesfalls, dass es einen rein ökonomisch fixierbaren Endpunkt des Kapitalismus gibt oder auch nur geben könne. Ein Zusammenbruch stellt immer eine zeitlich begrenzte Phase dar, die auf verschiedenen Wegen möglich ist. Erstens durch eine massive Kapitalvernichtung und eine Neuordnung der Verhältnisse durch die herrschende Klasse – und sei es durch den Gebrauch barbarischer Mittel wie Krieg, Eroberung, diktatorische oder gar faschistische Herrschaft. Zweitens die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch eine sozialistische Weltrevolution, also die fortschrittliche Aufhebung der inneren Widersprüche, wie sie Marx skizziert. Drittens kann eine historische Krise mit der Vernichtung der Hauptklassen der Gesellschaft und deren Regression in die Barbarei (oder im Extremfall der Vernichtung der Menschheit oder ihrer natürlichen Lebensgrundlagen) enden. Allein das verweist auf die entscheidende Bedeutung des subjektiven Faktors, der Entwicklung von revolutionärer Organisation und des Klassenbewusstseins für eine gesellschaftliche Umwälzung.

Daher kann sich eine revolutionäre Theorie der Gesellschaft niemals nur auf die Enthüllung der inneren Bewegungsgesetze der Kapitalismus beschränken, sondern sie muss die Notwendigkeit ihrer Verschärfung und der schließlichen revolutionären Aufhebung dieser Widersprüche ins Zentrum rücken. Jede marxistische Imperialismustheorie ist daher notwendig eine Theorie über die Niedergangsepoche des Kapitalismus, der Verschärfung seiner inneren Widersprüche.

Alle Imperialismustheorien, die revolutionären und marxistischen Anspruch erheben, müssen daher an der von Marx im Kapital entwickelten inneren Krisenhaftigkeit des Kapitalismus festhalten. Alle AutorInnen der klassischen Imperialismustheorie der II. und III. Internationale erheben diesen Anspruch, verteidigen ihn und versuchen, ihn zur Geltung zu bringen. Aber alle offenbaren auch bedeutende Schwächen, wenn es darum geht, diesen Anspruch einzulösen. So vermag z. B. keine der klassischen Imperialismustheorien, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zu integrieren, geschweige denn seinen zentralen Charakter für die Marx’sche Krisentheorie aufzunehmen. Im Folgenden wollen wir auch daher noch einmal einige zentrale Momente des Kapitalbegriffs darstellen, die auch Ansatzpunkte für ein Verständnis des Imperialismus bilden.

Zentrale Momente des Kapitalbegriffs

Erstens ist im Marx’schen Kapitalbegriff, wie wir gesehen haben, immer schon inkludiert, dass der Kapitalismus seinem Wesen nach eine internationale, auf den Weltmarkt bezogene Produktionsweise darstellt. In der Schaffung des Weltmarktes, dem Niederreißen vorhergehender Produktionsweisen, der Verwandlung aller Nationen in bürgerliche besteht schließlich eine der unbestritten progressiven Leistungen der kapitalistischen Produktionsweise und die weltgeschichtlich revolutionäre Rolle der Bourgeoisie in der Früh- und Blütezeit des Kapitalismus.

Zweitens verhält sich das Kapital, anders als vorhergehende Produktionsweisen, zur technischen Grundlage der Produktion und zu den Produktivkräften revolutionär, wälzt diese im Hunger auf die Aneignung von Mehrwert ständig um. Marx zeigt, dass sich dieser Mechanismus aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, aus der Begrenztheit der Möglichkeiten zur Steigerung der absoluten Mehrwertrate und der Notwendigkeit der Steigerung des relativen Mehrwerts ergibt. Daraus folgt notwendigerweise auch immer, dass die ArbeiterInnenklasse selbst beständig „umgewälzt“ wird und permanenter Veränderung unterliegt. Der Klassenkampf, der Kampf um die Höhe des Mehrwerts bildet ein integrales Element des Kapitalbegriffs selbst und nichts von außen, „exogen“ Hineingetragenes.

Die ständige Erhöhung der Produktivität der Arbeit drückt sich in einer fortschreitenden höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals und einer Tendenz zum Fallen der Profitrate aus – selbst ein Ausdruck der historischen Tendenzen der Akkumulation.

Drittens – und als ein Resultat davon – führt die Entwicklung des Kapitalismus zu einer ständigen größeren Anhäufung des Kapitals, zu seiner fortschreitenden Zentralisation und Konzentration. Ein/e KapitalistIn schlägt die/den andere/n tot. Die Konkurrenz ist die Form, in der sich die inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitals manifestieren müssen.

Viertens entdeckt Marx die Bedeutung des industriellen Zyklus für die ständige Umwälzung und Erneuerung der technischen Grundlage der Produktion, als Basis einer neuen, erweiterten Grundlage der Akkumulation, einer dynamischen Form der Reproduktion der Widersprüche im Kapitalismus. Das „Bett“ der Dynamik des industriellen Zyklus bildet die Reproduktionsdauer der Masse des fixen Kapitals, die auch eine durchschnittliche Länge des Zyklus von 7 bis 10 Jahren konstituiert.

Das Marx’sche Verständnis des industriellen Zyklus enthält ein wichtiges Spezifikum, das es von bürgerlichen Theorien unterscheidet. Die verschiedenen Momente des Zyklus kulminieren in der Krise, dem „Ende eines Zyklus und Ausgangspunkt eines neuen“ [xxxi], dem bestimmenden Moment des Zyklus. In ihr zeigt sich die Einheit der in den anderen Phasen des Zyklus gegeneinander verselbstständigten Elemente. In ihr konzentrieren sich die Widersprüche der Kapitalbewegung und kommen eruptiv zum Ausbruch.

Fünftens muss das Kapital zur „Lösung“ seiner inneren Widersprüche, zum Entgegenwirken gegen den Fall der Profitrate, zur Aufrechterhaltung der Akkumulationsdynamik und zur weiteren Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion im Kapitalismus Rechnung tragen. Es muss selbst mehr und mehr zu gesellschaftlichen Formen – Formen, die das Kapital auf dem Boden des Kapitalismus negieren – zurückgreifen: Aktienkapital, Kredit, Verstaatlichung.

Dahinter manifestiert sich nichts anderes als der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise: gesellschaftliche Produktion bei fortgesetzter privater Aneignung. Oben genannte Formen „gesellschaftlichen Kapitals“ lösen diesen Widerspruch nicht, sondern treiben ihn vielmehr auf die Spitze. Sie rufen nach ihrer Überwindung durch die proletarische Revolution.

Marx und Engels arbeiten nicht nur in der Analyse des Kapitals, sondern auch in den konkreten Betrachtungen der Entwicklung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern heraus, dass die innere Entwicklung des Kapitals wie auch die Politik der herrschenden Klasse mehr und mehr zu solchen „Übergangsformen“ führen, dass sich eine Veränderung der Entwicklungsrichtung des Kapitalismus selbst abzeichnet. Scharfsinnig beobachten sie deren Ausprägungen im 19. Jahrhundert.

Für Marx und Engels stellen die Ausdehnung des Aktienkapitals und andere gesellschaftliche Formen des Kapitals, seine weitere Konzentration und Zentralisation sowie die Entstehung des Finanzkapitals Zeichen dieser Entwicklung dar, um Schranken für die Entwicklung der Produktivkräfte zu überwinden. Sie sind nicht nur Ausdruck dafür, dass das Kapital auf Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten trifft, sondern bilden zugleich Austragungsformen dieses Widerspruchs. Sie verweisen darauf, dass die Bourgeoisie selbst mehr und mehr auf den Staat und solche gesellschaftlichen Formen des Kapitals zurückgreifen muss, die dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion indirekt Rechnung tragen. In der imperialistischen Epoche schlagen sie in ihrer Gesamtheit in ihr Gegenteil um. Das Finanzkapital wird selbst zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte und der Gesellschaft.

Sechstens sind das Finanzkapital und seine immer ausufernder werdende Bedeutung genauso wenig ein „Abirren“ der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte wie Finanzkrisen zufällige Spekulationsverirrungen darstellen, die mit den sonstigen Krisentendenzen nicht verbunden wären. Vielmehr stellt das zinstragende Kapital die höchste Stufe der Entwicklung der Wertform der Arbeitsprodukte dar: Der Titel auf verwertbares Eigentum selbst wird zum Grund der Aneignung von Mehrwert, unbeschadet des unmittelbaren Kommandos über den zugrundeliegenden Produktionsprozess. Die Verwandlung von Geld in mehr Geld (G – G‘), die Bewegungsform des zinstragenden Kapitals, drückt in praktischer Weise die widerspruchsvolle Schrankenlosigkeit der Kapitalverwertungsbewegung aus, die sich von ihren materiellen Bedingungen in realen, produktiven Kapitalverwertungsbedingungen zu lösen versucht. Mit der notwendigen Dopplung von Kapital in Geldkapital und Unternehmensführung wird ein bestimmter Teil der Kapitalistenklasse, trotz seiner besonderen Verwertungsinteressen als Finanzkapital, gleichzeitig in gesellschaftlicher Form zum Vertreter der Verwertungsinteressen des Gesamtkapitals:

„Es kommt hinzu, daß mit Entwicklung der großen Industrie das Geldkapital mehr und mehr (…) nicht vom einzelnen Kapitalisten vertreten wird, (…) sondern als konzentrierte, organisierte Masse auftritt, die ganz anders als die reelle Produktion unter die Kontrolle der das gesellschaftliche Kapital vertretenden Bankiers gestellt ist“. [xxxii]

In der imperialistischen Epoche erscheinen die Finanzkapitale wie riesige „Planungsagenturen“, die auf Basis der Renditeziele ihrer AnlegerInnen mit ihrem Buchgeld riesige Industrie- und Handelsunternehmen auf- und abbauen, umstrukturieren, neu zusammensetzen etc. Selbst wenn die realen Verwertungsbedingungen es nicht mehr hergeben, können mit Hilfe ihrer Kreditmacht noch lange Renditen simuliert werden, im Versprechen auf sagenhafte zukünftige Profite. Auf diese Weise kann das Finanzkapital die industriellen Zyklen und Krisenperioden überlagernde Finanzmarktzyklen initiieren, die den zugrundeliegenden Krisentendenzen zeitweise entgegenwirken. Damit wird die Finanzkrise (Kreditklemme, Geldkrise, Banken- und Firmenzusammenbrüche in großem Umfang,…) zum notwendigen Moment der Krisen- und Zusammenbruchstendenz im Imperialismus. Mit der Finanzkrise wandelt sich der Finanzmarktzyklus von einer entgegenwirkenden, zu einer verstärkenden Tendenz der Kapitalverwertungsprobleme. Im Allgemeinen kündigen daher Finanzkrisen einen Periodenwechsel an (auch wenn dies nicht unmittelbar erfolgen muss).

Siebtens entwickeln sich mit dem Weltmarkt auch Weltmarktzyklen und -krisen. Ihre Bedeutung kann schwerlich überschätzt werden. „Die Weltmarktkrisen müssen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden.“ [xxxiii]

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, des internationalen Handels und des Kapitalverkehrs nimmt auch das Gewicht der Weltmarktbewegungen für die industriellen Zyklen der jeweiligen Nationalökonomien zu, die selbst integrale Bestandteile des Weltmarktes bilden. Dieser stellt dabei nicht bloß eine Summe nationaler Märkte und Ökonomien dar, sondern bildet eine seine Teile bestimmende Realität. Wie sehr die nationalen industriellen Zyklen synchronisiert werden und einen einheitlichen Weltmarktzyklus bilden, stellt einen widersprüchlichen Prozess dar, weil das Kapital zwar einerseits zur Überwindung nationaler Barrieren drängt, andererseits die Kapitalbildung jedoch immer auf einen Nationalstaat bezogen ist. Mit der Entwicklung des Imperialismus verstetigt sich zudem die von den Metropolen und dort gebildetem Großkapital dominierte, hierarchische Ordnung der internationalen Ökonomie – ein Widerspruchsverhältnis, das auf Basis des Kapitalismus nicht überwunden werden kann, sondern vielmehr selbst Ausdruck der zunehmenden globalen Vergesellschaftung (internationale Produktionsketten, Ausweitung des Handels, des Austausches zwischen den Nationen, …) des Kapitals einerseits und seiner privaten Aneignung und damit einhergehender bornierter Zwecksetzung andererseits ist.

Achtens geht die Entwicklung der Akkumulation des Kapitals immer mit der Unterminierung und tendenziellen Zerstörung der beiden Quellen des gesellschaftlichen Eigentums einher – der lebendigen Arbeit und der natürlichen Lebensgrundlagen der Gattung Mensch. Dem Kapitalismus ist die Tendenz zur Verelendung der ausgebeuteten Klasse der Lohnabhängigen immanent. Ohne ökonomischen Kampf und den politischen Kampf um gesetzliche Schranken der Ausbeutung könnte die ArbeiterInnenklasse auf Dauer nicht einmal den Preis der Ware Arbeitskraft und somit ihre eigene Reproduktion sichern. Doch nicht nur sie ist einer ständigen Tendenz zur Zerstörung ihrer eigenen Lebensbedingungen unterworfen.

Der Kapitalismus untergräbt notwendigerweise auch die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit selbst – und zwar nicht erst seit der, spätestens in den 1970er Jahren immer offenkundiger gewordenen, Drohung einer ökologischen Katastrophe. Marx weist diesen immanenten, zerstörerischen Charakter der Produktionsweise schon im Kapital nach. [xxxiv] Er verweist aber auch schon darauf, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht nur die Klasse hervorbringt, die die zunehmend gesellschaftliche Produktion rational organisieren kann, sondern auch die Voraussetzungen für eine vernünftige Ausgestaltung des Mensch-Natur-Verhältnisses schafft – die Entwicklung der großen Industrie und der Naturwissenschaft. Doch so wie die Produktivkräfte der Menschheit letztlich von den Schranken der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse befreit werden müssen, so kann auch nur auf Grundlage einer bewusst gesellschaftlichen Planung ein rationales Verhältnis der Menschheit im Umgang mit ihren natürlichen Lebensgrundlagen etabliert werden.

Neuntens ist die gesamte Kapitalismustheorie von Marx untrennbar mit seiner Revolutionstheorie verbunden. Die Analyse des Kapitals und seiner inneren Bewegung zeigt die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution. Zu ihr drängt die kapitalistische Entwicklung selbst, weil der Sozialismus die einzige Lösungsform ist, in der die gesellschaftliche Entwicklung, die der Kapitalismus mit sich gebracht hat, überhaupt rational gebändigt und auf eine höhere Stufe gehoben werden kann.

In ihrer Analyse des Kapitals und der bürgerlichen Gesellschaft weisen Marx und Engels zugleich die spezifischen Elemente der proletarischen, der sozialistischen Umwälzung nach. Bekanntlich sind die vorherrschenden Gedanken – auch der beherrschten Klassen – in jeder geschichtlichen Formation jene der Herrschenden.

Im Kapitalismus werden diese auf besondere Weise geprägt. Die Wertform bringt auch eigene Formen der Ideologie hervor, objektive ideologische Gedankenformen. Die Lohnform, die Vorstellung vom „gerechten Lohn“ etc. prägen das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse unwillkürlich. In ihr verschwindet scheinbar die Mehrarbeit, der Mehrwert. Es erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht nur die notwendige, sondern die ganze Arbeit bezahlen. Auf solchen Formen – selbst Resultat der formalen rechtlichen Gleichheit des/r ArbeiterIn und KapitalistIn als WarenbesitzerInnen – baut eine ganze weitere Kette von Ideologien, Fetischformen auf. So z. B. den Staats- und Demokratiefetisch, also den Schein, dass „die Demokratie“, der „Staat“, „die Menschenrechte“ keine Herrschaftsformen oder Ideologien einer bestimmten Klasse wären, sondern über diesen stünden.

Während die Bourgeoisie als „Mittelklasse“ der feudalen Gesellschaft ihre Produktionsweise schon in deren Poren hervorbringt, in der Periode der absoluten Monarchie, sich in einer geschichtlichen Übergangsepoche im Bund mit dem Monarchen mehr und mehr herausbildet und mit dieser Entwicklung ihre spezifische Produktionsweise entfaltet, während der Adel mehr und mehr in Abhängigkeit und eine miserable Lage gerät, kann die ArbeiterInnenklasse „ihre“ zukünftige Produktionsweise nicht im Rahmen des Kapitalismus etablieren. Entwickelt, vorbereitet werden „nur“ die Produktivkräfte, die Technik, Verkehrsformen und vor allem nicht zuletzt die gesellschaftliche Gesamtarbeit selbst, die reale Lenkung der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft durch die ArbeiterInnenklasse selbst.

Im Kapitalismus – und in der imperialistischen Epoche wird das sozusagen auf die Spitze getrieben – geht diese Entwicklung einher mit immer stärkerer Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, immer manifester werdender Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit. Diese Hülle, dieses Hemmnis der gesellschaftlichen Entwicklung kann nur durch die bewusste revolutionäre Aktion der Klasse gesprengt werden.

Anders herum, die Frage des Bewusstseins hat eine qualitative andere Bedeutung in der proletarischen Revolution als in der bürgerlichen. Natürlich bildeten auch die revolutionären VertreterInnen der Bourgeoisie (oft sozial gesehen radikale Angehörige des KleinbürgerInnentums) gegen den Feudaladel und seine AnhängerInnen revolutionäre Organisationen (Clubs, Parteien, Vereinigungen usw.) und brachten radikale, bürgerlich-revolutionäre Ideologien hervor, indem sie an Reformation und Aufklärung anknüpften. Aber sie konnten sich der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie kämpften, keinesfalls voll bewusst werden, ja, sie bedurften, wie Marx in „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“[xxxv] anmerkt, einer gewissen (Selbst-)Täuschung, um die weltgeschichtliche Umwälzung überhaupt durchführen zu können, die zum Sieg des Kapitals führte.

Sie mussten sich diese notwendigerweise ideologisch verkleistern, weil die gesellschaftlichen Bedingungen und ihr eigenes gesellschaftliches Sein dafür noch zu unreif waren – was natürlich auch auf die mehr oder minder utopischen oder radikalen, über die bürgerlichen Kräfte hinausgehenden Ideologien und gesellschaftlichen Visionen der Unterklassen, der Verbündeten der Bourgeoisie zutrifft. Die weltgeschichtliche Selbsttäuschung, der Heroismus der bürgerlichen Revolutionen, ihr Bezug auf imaginierte oder stilisierte Idole der Vergangenheit – seien es das Alte Testament in der Englischen oder die römische Republik in der Französischen Revolution – waren notwendig, damit die Volksmasse, die plebejischen Schichten der Bevölkerung überhaupt mobilisiert werden konnten. Mit der Konsolidierung der bürgerlichen Verhältnisse und der notwendigen Enttäuschung darüber, dass sie sich nicht als Befreiung der Menschheit, sondern als Herrschaft des Kapitals entpuppten, verschwand regelmäßig das Pathos.

Die proletarische Revolution bedarf solcher Verkleisterungen nicht mehr, ja, sie sind für sie schädlich, blenden sie doch nur die eigene Klasse und ihre besten KämpferInnen.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ [xxxvi]

Die ArbeiterInnenklasse kann sich nur befreien, wenn sie selbst die gesamte Gesellschaft von einem mehr oder weniger blinden, scheinbar automatischen, sich als wirtschaftlicher „Sachzwang“ manifestierenden Reproduktionszusammenhang befreit, das Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur bewusst und vernünftig reguliert. Zum Sozialismus und erst recht zum Kommunismus kann das Proletariat nur bewusst kommen, nur indem es sich als Klasse für sich konstituiert, sein eigenes Verschwinden als besondere Klasse vorbereitet und bewusst herbeiführt.

Diese Umgestaltung kann nur durchgeführt werden, wenn sich das Proletariat aller zentralen Produktionsmittel der Gesellschaft bemächtigt, die Staatsmacht ergreift und seine eigene Herrschaft ausübt. Nur so kann es den kapitalistischen Produktionsprozess umstrukturieren und zugleich konterrevolutionären Umstürzen vorbeugen.

Daraus ergibt sich aber auch, dass es eine ganze Periode der proletarischen Herrschaft, der Umwälzung zu einer sozialistischen Gesellschaft braucht, der Diktatur des Proletariats, in der „alte“ und „neue“, sich erst entwickelnde, Gesellschaftsformation im Überlebenskampf stehen, in der der Entscheidungskampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus ausgefochten wird.

Wie aber kann nun das Proletariat als Klasse, dessen Dasein zwar tagtäglich zum Kampf mit dem Kapital zwingt und zum Sozialismus drängt, dessen Bewusstsein jedoch „spontan“ bürgerlich ist, zu einer revolutionären Klasse werden, von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich?

Indem seine bewusstesten Elemente, also die TrägerInnen des Gesamtinteresses der Klasse, zu einer politischen Kampforganisation verschmelzen. Eine solche Partei muss auf einem wissenschaftlich fundierten Programm basieren. Sie muss den anderen Parteien der ArbeiterInnenklasse die Einsicht in die historischen Ziele, den allgemeinen Werdegang usw. der Bewegung voraushaben. Sie selbst stellt die Verbindung von revolutionärer Theorie und Avantgarde dar. Die Partei ist das Vermittelnde in der Bewegung der Klasse von einer Klasse an sich zu einer für sich. Ohne revolutionäre Partei kann diese Verbindung nicht geschaffen werden und ist damit auch die Herausbildung einer in der ArbeiterInnenklasse wirkenden und verwurzelten Trägerin von Klassenbewusstsein, einer bewussten Vertreterin von revolutionärer Strategie, Taktik, Programmatik unmöglich. Ohne Herausbildung dieses bewussten Elements bleibt freilich auch die proletarische Revolution und die Transformation zum Sozialismus eine Utopie, eine Unmöglichkeit.

Schließlich geht Marx’ Revolutionstheorie – wie schon seine Kapitalanalyse – immer vom internationalen Charakter des Klassenkampfes aus. Die zukünftige sozialistische (und kommunistische) Gesellschaft kann nur international sein, oder sie ist nicht. Daher geht es vom Bund der Kommunisten, über die Erste Internationale bis zur Zweiten Internationale nie um die Formierung bloß nationaler Parteien, sondern immer um den Aufbau einer Internationale der ArbeiterInnenklasse.

4. Lenins Imperialismustheorie und die Bedeutung seines Begriffs der Epoche

Grundsätzlich liegt Lenins Imperialismustheorie das Marx’sche Kapitalismus- und Revolutionsverständnis zugrunde. Die Politik des Bolschewismus, der Kampf der internationalistischen Linken in der Zweiten Internationale, die revolutionären GegnerInnen der Burgfriedenspolitik und vor allem die frühe Dritte Internationale versuchen bewusst, an einen „unverfälschten“, vom Schematismus der Zweiten Internationalen befreiten Marxismus anzuknüpfen und diesen in einer neuen weltgeschichtlichen Lage herauszuarbeiten und weiterzuentwickeln.

Lenins Theorie kann also nicht isoliert von der geistigen Situation der damaligen internationalen ArbeiterInnenbewegung verstanden werden. Sein Werk kennzeichnet grundsätzlich ein Ringen um marxistische Prinzipien und Theorie, das selbst in Wechselwirkung zu den Arbeiten anderer MarxistInnen der Zweiten Internationale steht, ja, von diesen auch inspiriert ist. So  hebt er selbst an etlichen Stellen, durchaus mit Recht, Hilferding und seine Arbeit „Das Finanzkapital“ [xxxvii] als inhaltlichen Bezugspunkt hervor.

Schon Rosa Luxemburg hatte gefordert: „Daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muß“. [xxxviii] Doch so groß Luxemburgs Verdienste in der Verteidigung der marxistischen Theorie und Positionen in vielen Fragen – nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie – sind, muss festgehalten werden, dass ihre Imperialismustheorie grundlegende methodische Schwächen aufweist und ihrer eigenen Zielsetzung, die „ökonomischen Wurzeln (…) aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation“ herzuleiten, gerade nicht erfüllt.

Darauf haben u. a. Roman Rosdolsky in „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ und Henryk Grossmann in „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ [xxxix] hingewiesen. Grossmann fasst seine Kritik wie folgt zusammen:

„Nicht aus den immanenten Gesetzen der Kapitalakkumulation, aus einer bestimmten Höhe derselben, leitet sie die Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus ab, sondern aus der transzendenten Tatsache des Fehlens nichtkapitalistischer Länder. War für Marx die Problematik des Kapitalismus mit dem Produktionsprozeß verknüpft, so verlegt Rosa Luxemburg die für die Existenz des Kapitalismus entscheidenden Probleme aus der Produktionssphäre in die Zirkulationssphäre.“ [xl]

Hilferdings „Finanzkapital“ kommt das Verdienst zu, überhaupt den Begriff geprägt, die Formveränderungen des Kapitals und die Entstehung des Finanzkapitals ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt zu haben. Aber seine falsche Geldtheorie, die mit der Marx’schen Werttheorie bricht und unvereinbar ist, führt auch zu eine Blindheit gegenüber den sich weiter verselbstständigenden Formen des fiktiven Kapitals, zu einer Unterschätzung der Bedeutung der Börsen und Aktienmärkte. Nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale treten auch die offen reformistischen und harmonistischen politischen Schlussfolgerungen zutage, die als theoretische Schwächen schon in seinem Werk angelegt sind.

Die Grundfehler, die sich exemplarisch bei Hilferding und Luxemburg zeigen, hängen mit zwei Faktoren zusammen. Erstens einer falschen Erschließung und Interpretation des Marx’schen Kapitals bzw. zentraler Kategorien; bei Hilferding die Geldtheorie (und damit auch eine Revision der Werttheorie); bei Luxemburg auch ihre Kritik am Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, ein falsches Verständnis der Reproduktionsschemata und die Ablehnung der Marx’schen Geldtheorie. Diese Fehler stehen in Verbindung mit einem ungenügenden Verständnis der Bedeutung der Abstraktionsebenen in der Methode des „Kapital“, wenn sie z. B. die Reproduktionsschemata des Zweitens Bandes als „leblose“ Darstellung missversteht, weil sie von der Existenz eines Dritten, also anderer Klassen absähen. In Wirklichkeit verkennt Luxemburg, dass es Marx bei den Reproduktionsschemata nicht um einer Darstellung der geschichtlichen Realität, sondern um einen Aspekt in der Entfaltung des Kapitals im Allgemeinen geht.

Für unseren Zusammenhang jedoch noch gewichtiger ist aber der Umstand, dass Hilferding und Luxemburg – sowie der Großteil der nachleninschen Imperialismus- und KrisentheoretikerInnen – keinen umfassenden Begriff der Epoche entwickeln.

Bei Lenins Theorie handelt es sich zweifellos um die reifste und entwickeltste Imperialismustheorie, gerade weil sein Begriff des Imperialismus auf die Totalität der Gesellschaftsformation zielt.

In seiner Broschüre „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß“ [xli] wie auch in zahlreichen anderen Arbeiten entwickelt er den Begriff des Imperialismus aus der inneren Entwicklungslogik des Kapitals. Bekanntlich arbeitet Lenin in seinem Buch Merkmale dieser neuen Formation des Kapitalismus heraus – Konzentration der Produktion und Monopol, neue Rolle der Banken, Finanzkapital (Verschmelzen von Industrie und zinstragendem Kapital), Kapitalexport, Aufteilung der Welt unter die Kapitalistenverbände und Aufteilung der Welt unter die Großmächte.

Der Begriff des Finanzkapitals und des Monopols stehen dabei im Zentrum von Lenins ökonomischer Bestimmung des Imperialismus.

„Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.“ [xlii]

Oder an anderer Stelle: „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde.“ [xliii]

Lenin erklärt diese Entwicklung im Anschluss an Marx und Engels aus der zunehmenden Zentralisation und Konzentration des industriellen Kapitals und der Ausdehnung „gesellschaftlicher Formen“ des Kapitals (Banken, Kredit, …). So Marx z. B. in den Grundrissen dazu:

„Solange das Kapital schwach ist, sucht es selbst noch nach den Krücken vergangner oder mit seinem Erscheinen vergehnder Produktionsweisen. Sobald es sich stark fühlt, wirft es die Krücken weg und bewegt sich seinen eigenen Gesetzen gemäß. Sobald es anfängt, sich selbst als Schranke der Entwicklung zu fühlen und gewußt zu werden, nimmt es zu Formen Zuflucht, die, indem sie die Herrschaft des Kapitals zu vollenden scheinen, durch Züglung der freien Konkurrenz zugleich die Ankündiger seiner Auflösung und der Auflösung der auf ihm beruhenden Produktionsweise sind.“ [xliv]

Marx und Engels erkennen, dass mit der Entwicklung des Kapitalismus die „freie Konkurrenz“ selbst ihr gegenläufige innere Tendenzen – eine Tendenz zum Monopol – hervorbringt. Allerdings – und darauf werden wir im nächsten Abschnitt näher eingehen müssen – inkludiert der Monopolbegriff bei Lenin eine problematische und theoretisch unklare Seite, wenn er im Anschluss an Hilferding von einer Ablösung der Konkurrenz durch das Monopol spricht.

So richtig Lenin die Tendenz zur Monopolbildung erkennt, so enthält der Begriff des „monopolistischen Stadiums“ ein grundlegendes Problem, als sein Verhältnis zur Konkurrenz als regulierendem Zwangsgesetz, das den einzelnen Kapitalen die Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation aufzwingt, unausgearbeitet und unklar bleibt. Bei TheoretikerInnen wie Hilferding, Bucharin oder später im Stalinismus zeigen sich diese Probleme nur zu klar, da in diesem Verständnis des Imperialismus andere Gesetzmäßigkeiten das Verhältnis der Kapitale zueinander regulieren als in der „freien Konkurrenz“. Wird dies einmal als dauerhaft gegeben unterstellt oder anerkannt, hängen auch die Marx’sche Krisentheorie und insbesondere das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate in der Luft.

Wie wir weiter unten zeigen werden, bedarf die Lenin’sche Theorie an dieser Stelle einer begrifflichen und theoretischen Korrektur, um die Imperialismustheorie auf dem Boden der Marx’schen Krisentheorie ausformulieren zu können.

Hier nur soviel: Monopol und Finanzkapital wirken ähnlich wie andere „gesellschaftliche Formen“ des Kapitals Krisen entgegen, indem diese zeitweilig die Ausgleichsbewegung der Profitrate modifizieren.

Die privaten Kapitale, die eine monopolistische Stellung als Einzelkapital oder als eine Gruppe dominierender Unternehmen eines Wirtschaftszweiges erzielen, können diese Position zeitweilig nutzen, um sich auf Kosten anderer Kapitalgruppen, der imperialisierten Länder und der Gesellschaft einen höheren Anteil am Gesamtmehrwert anzueignen.

Dieser Monopolprofit geht also zeitweilig nicht in die Ausgleichsbewegung der Profitrate ein und erlaubt so, das Abladen von eigenen Krisen auf imperialisierte Länder, die ArbeiterInnenklasse und schwächere, nicht monopolistische Kapitale, deren Profitraten im Durchschnitt sinken.

Imperialismus als politisch-ökonomische Totalität

Der Imperialismus stellt – wie wir sehen werden, auch für Lenins Theorie – jedoch keineswegs nur ein rein ökonomisches Verhältnis, sondern eine historische Stufe dar, wo der Kapitalismus den Weltmarkt nicht nur geschaffen, sondern auch alle Länder, Regionen, Gebiete in diesen eingegliedert hat. Vorgefundene vorkapitalistische Produktionsweisen wurden zerstört oder der kapitalistischen untergeordnet. Die Aufteilung der Welt unter die großen Mächte und Kapitale ist abgeschlossen und kann, innerhalb gewisser Grenzen, nur durch einen Weltbrand, Krieg, Revolutionen, Konterrevolutionen verändert werden.

Zugleich sind zugeteilte Gebiete, Länder – ob nun Kolonien oder Halbkolonien – fest in diese Ordnung eingebunden. Eine „nachholende“, die fortgeschrittenen Länder einholende Entwicklung ist, von außergewöhnlichen, einzelnen Ausnahmen abgesehen, unmöglich geworden. Im Gegenteil: Die Entwicklung des Weltmarktes und der internationalen Arbeitsteilung verfestigt die von den Zentren der Kapitalakkumulation abhängige Entwicklung dieser Länder. Dass sich China als imperialistische Weltmacht etablieren konnte, hängt ironischer Weise auch eng damit zusammen, dass es für eine ganze Periode als bürokratische Planwirtschaft und degenerierter ArbeiterInnenstaat nicht von der Weltmarktkonkurrenz bestimmt war.

Grundsätzlich sind jedoch die Länder der sog. Dritten Welt in der Epoche des Finanzkapitals zur halbkolonialen oder kolonialen Einbindung in ein Weltsystem verdammt, das ihnen einen untergeordneten Platz auf dem Weltmarkt zuweist, diesen über die Institutionen des Finanzkapitals reproduziert und verfestigt und durch die diplomatische und militärische Macht der imperialistischen Staaten absichert. Nur durch die Verbindung der demokratischen (antiimperialistischen) Revolution mit der proletarischen können diese Länder befreit werden. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution[xlv] bringt diese Entwicklung auf den Punkt. Auch aus diesem Grund stellte sie eine, an den Grundtendenzen der imperialistischen Epoche anknüpfende revolutionäre Konzeption dar, das Alter Ego von Lenins Imperialismus- und Revolutionstheorie.

Der Begriff des Finanzkapitals inkludiert auch korrekterweise, dass eine bestimmte, die fortgeschrittenste Kapitalfraktion, die Gesellschaft, einschließlich anderer Kapitalgruppen, beherrscht. Diese Herrschaft prägt und verändert auch die gesamte Klassenformierung und den gesellschaftlichen Überbau.

Daher ist Imperialismus nicht bloß eine bestimmte reaktionäre, aggressive Politik, sondern die Politik des Finanzkapitals. Eine nichtimperialistische Politik der Weltmächte ist unmöglich.

Die Unterordnung der gesamten Welt unter ein imperialistisches System und die Vorherrschaft des Finanzkapitals und Monopols bedeuten auch notwendig eine enorme Zunahme von Fäulnis, Parasitismus. Zweifellos haben diese Charakterisierungen oft auch eine missverständliche Seite, weil sie – durchaus entgegen Lenins eigenen Anmerkungen – dazu verleiten, die imperialistische Epoche als eine Jahrzehnte andauernde ökonomische Stagnations- oder Niedergangsphase zu betrachten. Wenn wir diesen Irrtum einmal geklärt haben, erweisen sich Lenins Verweise, insbesondere auf den Parasitismus als durchaus zutreffend. Der Imperialismus steigert erstens eine Tendenz, die die kapitalistische Entwicklung auch schon im 19. Jahrhundert kannte, nämlich das Auseinandertreten von Eigentum und Leitung des kapitalistischen Betriebes. Ein Teil der KapitalistInnenklasse (und ihr angelagerter kleinerer Schichten von AnlegerInnen) wird faktisch zu einer Gruppe von Menschen, die den geschaffenen Reichtum in Form der Revenue einstreifen und die operativen Geschäfte des Managements, die Überwachung der Produktion, deren Kontrolle usw. anderen Teilen der KapitalistInnenklasse oder den lohnabhängigen Mittelschichten überlassen. Die Bourgeoisie wird ökonomisch eigentlich längst überflüssig, wie schon Marx und Engels bemerken. Das verändert aber auch die Klassenstruktur des globalen Kapitalismus, sowohl in den Zentren als auch in den von den imperialistischen Staaten beherrschten Ländern, ob diese nun als Kolonien oder Halbkolonien existieren.

Lenins selbst gibt nicht nur eine knappe ökonomische Definition und Darlegung der grundlegenden Merkmale des Imperialismus. Er geht mit gutem Grund weiter:

„Wir werden später sehen, wie der Imperialismus anders definiert werden kann und muß, wenn man nicht nur die grundlegenden rein ökonomischen Begriffe (auf die sich die angeführte Definition beschränkt) im Auge hat, sondern auch den historischen Platz dieses Stadiums des Kapitalismus in bezug auf den Kapitalismus überhaupt oder das Verhältnis zwischen dem Imperialismus und den zwei Grundrichtungen innerhalb der Arbeiterbewegung. Es sei gleich bemerkt, dass der Imperialismus, in diesem Sinne aufgefasst, zweifellos ein besonderes Entwicklungsstadium des Kapitalismus darstellt.“ [xlvi]

Dieser Abschnitt über die historische Stellung des Imperialismus bildet in seinem Buch keinen „Anhang“, keinen willkürlichen Zusatz, sondern einen essenziellen Bestandteil seiner Konzeption. Für Lenin bedeutet Imperialismus „Übergangskapitalismus“. Immer wieder verwendet er auch den Terminus „sterbender Kapitalismus“ – eine Bezeichnung, die hinsichtlich der historischen Einordnung des Imperialismus und erst recht angesichts der revolutionären Lage treffend ist, die der Erste Weltkrieg schuf und die mit der Russischen Revolution einen ersten Höhepunkt fand. Auch wenn sie in der Folge  dahingehend falsch interpretiert wurde, dass der Kapitalismus „automatisch“ abtreten oder „absterben“ müsse/werde oder dass die Tendenz um Absterben bzw. Übergang in jeder Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche gleich ausgeprägt wäre. Im weltgeschichtlichen Sinn stellt sie jedoch eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus dar, daher eine von Kriegen und Revolutionen (und somit auch von Konterrevolutionen).

Lenins Epochenbegriff bezieht sich hier nicht nur auf die Ökonomie, sondern auf die Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Hier liegt die eigentliche, entscheidende Stärke seine Konzeption. Imperialismus wird nicht nur allgemein als Epochenbruch verstanden, sondern in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension (Klassenstruktur, Politik, Kultur etc.) erfasst.

Imperialistische Kette

Lenins Imperialismustheorie, insbesondere in ihren politischen Schlussfolgerungen, hatte erwiesenermaßen eine ausreichende Tiefe, um daraus richtige, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen.

Bei aller Kritik an ihr (siehe dazu weiter unten) gibt es in seiner Theorie einen damit zusammenhängenden Aspekt, der diesen Ansatz von allen anderen klassischen Imperialismustheorien positiv unterscheidet und zu politisch bedeutsamen Konsequenzen führt: Das ist der Gedanke der „imperialistischen Kette“. Während vor und im 1. Weltkrieg bei den TheoretikerInnen der Linken der 2. Internationale gewissermaßen „der Weltkapitalismus“ die Analyseebene war, sozusagen der Kapitalismus als sozioökonomische Struktur auf Weltebene gesehen wurde, führt Lenin die Differenzierung der „imperialistischen Kette“ ein (ein Gedanke, der ihm – dies nur nebenbei – auch seine einzigartige Position zur „nationalen Frage“ ermöglicht).

Der Begriff der imperialistischen Kette beinhaltet, dass die einzelnen Glieder nicht einfach als Nationalökonomien innerhalb eines globalen Weltkapitalismus begriffen werden, sondern als Staaten. D. h., es geht nicht nur um ökonomische, sondern auch um politische und militärische Faktoren, ja um die Gesamtheit der Klassenbeziehungen eines Landes. Revolutionen fänden nicht zunächst in den Ländern statt, die am weitesten entwickelt sind, sondern die imperialistische Kette bricht am schwächsten Glied. Dieser Gedanke stellt einen grundlegenden Bruch mit dem ökonomistischen Marxismusverständnis der II. Internationale dar.

Der Kapitalismus bilde auf globaler Ebene keine einheitliche Struktur. Er stelle eine Verbindung verschiedener Ebenen nationalstaatlicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen dar, wobei die „Kette“ als kapitalistische Kette reproduziert werden müsse. Die ökonomische Stärke bilde nur einen Faktor für den Handlungsspielraum eines imperialen Staates. Es ist jedoch die Gesamtheit der Klassenbeziehungen eines Staates, die diesen Handlungsspielraum determiniert (wobei diese wiederum durch internationale Konstellationen beeinflusst wird).

Veränderungen der Klassenstruktur

Die ökonomischen Merkmale – Monopol, Finanzkapital –, auf deren Boden der Imperialismus basiert, gehen nicht nur mit einem „Weltsystem“ einher. Sie führen natürlich auch zu einer grundlegenden Umwälzung der inneren Beziehungen jeder Nation, jedes Staates, der imperialistischen wie der vom Imperialismus beherrschten Länder.

Herrschaft des Finanzkapitals wäre undenkbar ohne eine massive Ausdehnung des repressiven Staatsapparates in allen imperialistischen Ländern, des Militarismus, der Überwachung, Durchdringung der Gesellschaft. Wie die Erfahrung zeigt, sind diese Entwicklungen durchaus auch mit der Ausdehnung formaler Demokratie und der Ausweitung demokratischer Rechte (Wahlrecht, formale Gleichheit etc.) vereinbar.

Damit geht eine viel engere Verquickung politischer und ökonomischer Macht einher als in der vorimperialistischen Epoche. Die Lenkung aller wesentlichen Geschäfte wird über Kanäle, „Netze“ von Abhängigkeitsverhältnissen mitbestimmt, die alle Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft umspannen.

Das Finanzkapital strebt, so Lenin, nach „Herrschaft“, nicht nach „Freiheit“. D. h., der Widerspruch zwischen demokratischen Forderungen und deren reaktionären Einschränkungen nimmt in der Epoche des Finanzkapitals zu. Generell geht der Imperialismus mit der Einschränkung der Demokratie einher, er ist „Reaktion auf ganzer Linie“. Auch wächst die Bedeutung reaktionärer Ideologien wie Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus in der imperialistischen Epoche.

Das führt zu einer Transformation des bürgerlichen Staates zur Formierung eines imperialistischen Staates/Staatapparats. Das sichert zugleich, dass die Vertiefung und viel stärkere Durchdringung der Gesellschaft durch den Staat einhergehen mit der Ausdehnung der formalen parlamentarischen Demokratie in bestimmten Perioden der Entwicklung, insbesondere in den imperialistischen Staaten.

Die Ursache dafür liegt neben der Entwicklung des imperialistischen Staatsapparates auch in der Auswirkung des Imperialismus auf die Klassenformierung der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang können wir eine weitere Stärke von Lenins Imperialismustheorie festhalten: Mit der theoretischen Herausarbeitung der Entstehung und Existenz einer privilegierten Schicht der ArbeiterInnenklasse, der „ArbeiterInnenaristokratie“ in den imperialistischen Ländern gelingt es ihm, eine materialistische, klassenanalytisch fundierte Erklärung für den Opportunismus in der ArbeiterInnenbewegung und die Existenz einer ArbeiterInnenbürokratie zu geben.

Schon Engels beobachtete die Entstehung einer solch privilegierten Schicht im Britannien der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und bemerkte, dass sie eine soziale Basis des Opportunismus und bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik bilde. Er führt diese Entwicklung auf das Welthandelsmonopol des britischen Kapitalismus und dessen industrielle Überlegenheit zurück. Mit deren Niedergang verknüpft er die Erwartung, dass die sozialen Grundlagen für eine ArbeiterInnenaristokratie erodieren und damit auch der Opportunismus zurückgedrängt würde.

Entgegen seiner Prognose verallgemeinerte sich diese Entwicklung jedoch in allen imperialistischen Ländern. Selbst in den Halbkolonien entwickeln sich mehr oder weniger große Schichten der ArbeiterInnenaristokratie. Deren Entstehung (und das Wachstum bestimmter Teile der lohnabhängigen Mittelschichten) bedeutet in den imperialistischen Ländern auch eine wichtige Verbreiterung der sozialen Basis des Imperialismus. Zu Recht charakterisiert Lenin die ArbeiterInnenaristokratie als eine „soziale Hauptstütze“ des Imperialismus, deren Existenzquelle wesentlich die Extraprofite aus der kolonialen Ausbeutung bilden.

„Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der „Arbeiteraristokratie“, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie.“ [xlvii]

Die Etablierung und Reproduktion einer relativ stabilen ArbeiterInnenaristokratie wird in der imperialistischen Epoche zu einem Kennzeichen aller wichtigen kapitalistischen Länder. Erst auf dieser Grundlage kann sich eine ArbeiterInnenbürokratie auf politischer und gewerkschaftlicher Ebene festigen und über Jahrzehnte halten. Die Gewerkschaften wie die gesamte reformistische ArbeiterInnenbewegung werden durch die institutionelle Regulation des Lohnarbeitsverhältnisses (Tarifsystem, Betriebsräte, …) und dessen Verlängerung auf politischer Ebene (Reformen, Systeme der Inkorporation) eingebunden. Diese Institutionalisierung des Klassenverhältnisses geht mit einer Entpolitisierung und Formalisierung einher, die die bürokratische Kontrolle einer solcherart verknöcherten ArbeiterInnenbewegung befördert und verstärkt.

Hinzu kommt die Tendenz zur Inkorporation der Gewerkschaften und reformistischen ArbeiterInnenbewegung in den bürgerlichen Staat – insbesondere seit dem New Deal und mit Entwicklung der Nachkriegsordnung. Wie Trotzki in seinen Arbeiten über die Gewerkschaften nachgewiesen hat, war diese Tendenz auch in der tiefen Krise der 1920er und 1930er Jahre manifest. Kurz rekapituliert, Lenins Imperialismustheorie hatte erwiesenermaßen eine ausreichende Tiefe, um daraus richtige, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen.

5. Lenins Imperialismustheorie und ihr Alter Ego – Trotzkis Theorie der permanenten Revolution

Der Beginn der imperialistischen Epoche läutet eine wichtige Transformation der internationalen sozialistischen Bewegung ein, die Entstehung vergleichsweise stabiler bürgerlicher Agenturen in der ArbeiterInnenklasse, die nicht nur eine spontane Tendenz zum bürgerlichen Bewusstsein in der Klasse zum Ausdruck bringen, sondern auch eine soziale Basis im imperialistischen System haben, einer ArbeiterInnenaristokratie (sowie die Ausweitung lohnabhängiger Mittelschichten) v. a. in den imperialistischen Ländern,  später auch in den Halbkolonien.

Zugleich war es auch eine Periode, in der das theoretische, programmatische und taktische Rüstzeug der ArbeiterInnenbewegung, wie es in der vorimperialistischen Epoche entwickelt und kodifiziert wurde, einem geschichtlichen Test unterzogen wurde.

Es waren große historische Ereignisse – darunter die erste Russische Revolution, der imperialistische Krieg –, die zur Zuspitzung der politischen Kämpfe in der Zweiten Internationale und ihren Parteien führten und zu einer Weiterentwicklung und zunehmend zu einer systematischen Abrechnung mit den inneren Schwächen der Zweiten Internationale zwangen.

Zweifellos haben nicht nur Lenin und Trotzki Anteil an den theoretischen und programmatischen Fortschritten dieser Periode. Aber sie stehen für zwei miteinander verbundene bahnbrechende Fortentwicklungen der marxistischen Theorie.

Trotzkis „Theorie der permanenten Revolution“, die zuerst anhand der Russischen Revolution 1905 entwickelt und später im Zuge des Kampfes gegen die stalinistische Degeneration und in deren Gefolge anhand der Erfahrungen der chinesischen Revolution weiterentwickelt und verallgemeinert wurde, gilt es hier besonders hervorzuheben.

In seiner Analyse der Russischen Revolution knüpft Trotzki (wie viele andere russische Revolutionäre) an Marx’ und Engels’ Charakterisierung der Rolle der Bourgeoisie in der 1848er Revolution und folgenden an. Die KapitalistenInnenklasse hätte die Revolution verraten, weil sie die sich entwickelnde ArbeiterInnenklasse und deren Bestrebungen, die Revolution „zu weit“ zu treiben, schon mehr fürchtete als die Reaktion der alten Feudalklassen, zumal sie auch erkannt hatte, dass letztere zwar das politische Regime, keineswegs aber die Produktionsverhältnisse, also die Gesellschaftsordnung selbst zurückzudrehen vermochte.

Diese Unfähigkeit der russischen Bourgeoisie, die demokratische Revolution zu führen und ein ihr gemäßes politisches Regime gegen den Zarismus zu erkämpfen, erkannten auch Lenin und die Bolschewiki. Doch der entscheidende Schritt Trotzkis bestand darin, dass er erkannte, dass die Forderungen der Demokratie nur durch die Herrschaft der ArbeiterInnenklasse, nur durch das Weitertreiben der demokratischen Revolution zur sozialistischen erfüllt werden konnten – und dass umgekehrt, die ArbeiterInnenklasse diese Aufgabe nur lösen kann, wenn sie selbst an die sozialistische Umgestaltung der Produktion geht und die Russische Revolution untrennbar mit der sozialistischen Revolution im Westen verbindet.

Diese Konzeption wurde von der Geschichte spektakulär bestätigt. Anders als von den StalinistInnen und teilweise auch den SozialdemokratInnen später behauptet, stellte sie überhaupt keinen Bruch mit der Marx’schen Theorie dar. Im Gegenteil, schon im Kommunistischen Manifest oder vor allem in der Märzansprache an den Bund der Kommunisten vom März 1850 findet sich die Vorstellung der permanenten Revolution:

„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“ [xlviii]

In den Briefen an Sassulitsch [xlix] entwickelt Marx in einer genialen Skizze den Gedanken der Verbindung der Russischen Revolution mit der des Westens – ein Beleg unter vielen, der zeigt, wie fremd Marx und Engels das Schema einer „Etappentheorie“ war, die in der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale Einzug gehalten hatte und zum politischen Credo des Stalinismus geworden war.

Die Fassung der Theorie der permanenten Revolution, die Trotzki im Laufe der Revolution 1905 entwickelt und in  „Ergebnisse und Perspektiven“ [l] darlegt, bricht entschieden mit der Vorstellung, dass die Russische Revolution nur einen bürgerlichen Charakter annehmen könne. Im Vorwort zur Neuauflage der Schrift 1919 fasst er den Standpunkt der Theorie der permanenten Revolution knapp zusammen:

„Der Standpunkt, den der Autor damals einnahm, kann in schematischer Weise folgendermaßen formuliert werden: Gemäß ihren nächsten Aufgaben beginnt die Revolution als bürgerliche, bringt dann aber sehr bald mächtige Klassengegensätze zur Entfaltung und gelangt nur zum Sieg, wenn sie die Macht der einzigen Klasse überträgt, die fähig ist, an die Spitze der unterdrückten Massen zu treten – dem Proletariat. Einmal an der Macht, will und kann sich das Proletariat nicht auf den Rahmen eines bürgerlich-demokratischen Programms beschränken. Es kann die Revolution nur dann zu Ende führen, wenn die russische Revolution in eine Revolution des europäischen Proletariats übergeht. Dann wird das bürgerlich-demokratische Programm der Revolution zugleich mit seinem nationalen Rahmen überwunden werden, und die zeitweilige politische Herrschaft der russischen Arbeiterklasse wird sich zu einer dauernden sozialistischen Diktatur weiterentwickeln. Wenn sich aber Europa nicht vom Fleck rührt, dann wird die bürgerliche Konterrevolution die Regierung der werktätigen Massen in Rußland nicht dulden und das Land weit zurückwerfen – weit hinter die demokratische Republik der Arbeiter und Bauern. An die Macht gekommen, darf sich das Proletariat daher nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Demokratie beschränken, sondern muß die Taktik der permanenten Revolution entfalten, d. h. die Grenzen zwischen dem Minimal- und dem Maximalprogramm der Sozialdemokratie aufheben, zu immer tiefgreifenderen sozialen Reformen übergehen und einen direkten und unmittelbaren Rückhalt in der Revolution des europäischen Westens suchen. Diese Position soll die jetzt wieder herausgegebene Arbeit, die 1904 – 1906 geschrieben wurde, entwickeln und begründen.“ [li]

In diesem Vorwort verweist Trotzki zugleich auf eine objektivistische Schwäche seiner Position und der Schriften aus den Jahren 1904 – 1906, nämlich die Vorstellung, dass alle Flügel der russischen Sozialdemokratie – Bolschewiki wie Menschewiki – unter dem Druck der Revolution „gezwungen“ wären, eine ArbeiterInnenregierung zu bilden, die bürgerliche Revolution permanent zu machen und in eine sozialistische Richtung zu treiben. Er schreibt:

„Der Autor hat anderthalb Jahrzehnte den Standpunkt der permanenten Revolution verteidigt, er erlag aber bei der Einschätzung der miteinander kämpfenden Fraktionen der Sozialdemokratie einem Irrtum. Da sie damals beide von den Perspektiven einer bürgerlichen Revolution ausgingen, nahm der Autor an, daß die Meinungsverschiedenheiten nicht so tief wären, als daß sie eine Spaltung rechtfertigten. Zur gleichen Zeit hoffte er darauf, daß der weitere Gang der Ereignisse einerseits die Kraftlosigkeit und Ohnmacht der russischen bürgerlichen Demokratie, andererseits die Tatsache, daß es für das Proletariat objektiv unmöglich sei, sich im Rahmen eines demokratischen Programms an der Macht zu halten, allen deutlich zeigen und so den Meinungsverschiedenheiten der Fraktionen den Boden entziehen würde.“ [lii]

Spätestens 1917, mit dem Übergang zum Bolschewismus bricht Trotzki mit diesem versöhnlerischen Verständnis der Partei und der objektivistischen Vorstellung, die durchaus den spontaneistischen Schwächen Luxemburgs ähnelte, dass die Macht der Ereignisse auch die OpportunistInnen wider Willen und Bewusstheit zum revolutionären Handeln zwingen würde.

Für unseren Zusammenhang – also das Verständnis der Bedeutung des Imperialismusbegriffes – noch wichtiger ist, dass Trotzki in den 1920er Jahren die Verallgemeinerung der Theorie mit dem Verständnis der Epoche knüpft.

Den kolonialen und halbkolonialen Ländern ist keine „aufholende“, die fortgeschritteneren Länder nachahmende Entwicklung mehr möglich, weil das kapitalistische Weltsystem bereits etabliert und unter einer Reihe imperialistischer Großmächte aufgeteilt ist. Die demokratische Revolution kann daher in den halbkolonialen Ländern nur unter Führung der ArbeiterInnenklasse im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft durchgeführt, also nur durch das Hinüberwachsen zur sozialistischen Revolution durchgeführt werden.

„In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, daß die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.“ [liii]

Auch wenn das Proletariat daher in den „rückständigeren“ Ländern leichter an die Macht kommen mag, so kann die Umwälzung zum Sozialismus im nationalen Rahmen nicht geleistet werden. Diese Möglichkeit hängt vielmehr von Beginn an von der internationalen Entwicklung entscheidend ab.

Schließlich verweist Trotzki immer wieder darauf, dass von einer endgültigen sozialistischen Umwälzung überhaupt nur im internationalen Rahmen gesprochen werden kann. Ein „nationaler Aufbau“, der „Sozialismus in einem Land“ ist nirgendwo möglich, selbst im fortgeschrittensten kapitalistischen Land der Welt nicht.

„Der Abschluß einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, daß die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluß nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planenten.“ [liv]

Trotzkis Theorie der permanenten Revolution stellt für die Entwicklung des revolutionären Marxismus einen Meilenstein des 20. Jahrhunderts dar. Für die theoretische und programmatische Fortentwicklung des Kommunismus steht sie auf einer Stufe mit Lenins Imperialismustheorie oder mit der Marx’schen Analyse des 18. Brumaire des Louis Bonaparte und später der Commune [lv].

Dass Lenin selbst zur Theorie der permanenten Revolution überging, die er vor dem Ersten Weltkrieg scharf bekämpft hatte (wenn auch keineswegs in der „Schärfe“, wie die StalinistInnen gern darstellen), bedarf aber einer Erklärung. Sicherlich mag Trotzkis Übergang zum bolschewistischen Parteiverständnis dabei geholfen haben, erklärt dies aber nicht.

Wichtiger ist vielmehr erstens, dass Lenins Verständnis der Russischen Revolution und der Losung der „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen“ immer eine eingeständige Klassenpolitik des Proletariats inkludierte. Hierin liegt übrigens ein substantieller Unterschied zur Verwendung dieses Terminus durch den Stalinismus, bei dem diese Formel zu einer der Unterordnung der ArbeiterInnenklasse unter die nationale Bourgeoisie führt. Insofern hatte sie einen, wie Trotzki richtig bemerkt, „algebraischen“ Charakter, was zur Folge hatte, dass jede zukünftige Revolution eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft, des Inhalts dieser Klassenpolitik und des Klassencharakters der Regierungsform, die die Revolution hervorbringen sollte, erfordern würde. In den Aprilthesen hatte sich Lenin anhand der Erfahrungen der Russischen Revolution diesem Problem gestellt – und war, wie Kamenew und andere rechte Bolschewiki zu dieser Zeit richtig bemerkten, zur Position Trotzkis übergangen, ein Übergang, ohne den der Sieg des Proletariats in der Oktoberrevolution, ja, die Oktoberrevolution selbst unmöglich gewesen wäre.[lvi]

Diese Wende hatte sich jedoch schon länger vorbereitet, nämlich in der Analyse des imperialistischen Krieges, der Entwicklung der Politik des revolutionären Defätismus und der politischen Schlussfolgerung, dass die Aufgabe des Proletariats im Kriege darin bestünde, den imperialistischen Krieg zu einem „Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie“ umzuwandeln und zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse zu nutzen. Darin zeigt sich im Grunde schon ein Übergang zur Theorie der permanenten Revolution. Es ist kein Zufall, dass Lenin die politischen und programmatischen Konsequenzen, überhaupt die revolutionäre Politik im Krieg gründlicher und klarer als jede/r andere MarxistIn seiner Zeit ausarbeitete.

Ein Verdienst dieser Arbeit bestand gerade darin, dass Lenin in der Kritik des „imperialistischen Ökonomismus“[lvii] das Verhältnis von demokratischen (insbesondere des Rechts auf nationale Selbstbestimmung) und ökonomischen Forderungen im Kampf für die sozialistische Revolution präzise darlegte.

Lenin geht im Anschluss an seine Imperialismustheorie, und auch hier im Grunde in einer Parallele zur Theorie der permanenten Revolution, davon aus, dass die imperialistische Epoche generell eine der Einschränkung demokratischer Rechte bedeutet, dass die Entrechtung unterdrückter Nationen und Nationalitäten verschärft wird usw. Daraus folgert er, dass die demokratischen Fragen einen überaus explosiven Charakter erhalten werden, dass sich daher das Proletariat, will es die nichtproletarischen Massen in den Kolonien und Halbkolonien gewinnen, als Verbündeter auf die Seite der Unterdrückten stellen und um die politische Führung im Kampf um die demokratischen Aufgaben kämpfen müsse.

Andersherum: Lenin zeigt, dass in der imperialistischen Epoche eine systematische Verknüpfung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution mit dem sozialistischen Kampf möglich ist. Er verweist dabei schon gelegentlich darauf, dass ebenso eine systematische Verknüpfung der ökonomischen Tagesaufgaben mit dem Kampf um die sozialistische Revolution notwendig ist.

6. Der programmatisch-methodische Durchbruch der Kommunistischen Internationale und des Übergangsprogramms

Diese beiden theoretischen Errungenschaften, untrennbar mit Lenin und Trotzki verknüpft, sind freilich nicht einfach nur das Werk zweier großer Theoretiker und Revolutionäre. Sie bilden vielmehr Teil einer kollektiven Anstrengung und lebendigen Debatte, gründlichen Forschung und scharfer Polemik, die die Entwicklung der Linken in der Zweiten Internationale und die Frühphase der Kommunistischen Internationale prägte.

In der Zweiten Internationale war – auch bei den Linken – das programmatische Verständnis vom Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie geprägt. Diese klassische Fassung eines Minimal-/Maximalprogramms stand als Blaupause für die Programme vieler sozialdemokratischer, formell marxistischer Parteien, darunter auch der österreichischen, der Parteien auf dem Balkan oder der russischen.

Es wäre eine ahistorische Verkürzung, das Erfurter Programm mit den reformistischen Programmen unserer Epoche nur textlich zu vergleichen. Gerade der von Kautsky verfasste und von Engels begrüßte einleitende Teil stellt einen großen Fortschritt gegenüber dem Gothaer Programm dar und verortet den Grundsatzteil auf den Boden des Marxismus. Der Minimalteil war schon 1891 von Engels heftig kritisiert worden wegen seines opportunistischen Charakters.[lviii]

Die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm stellte außerdem nicht einfach eine politische und theoretische Abweichung dar, sondern spiegelte den Charakter einer ganzen Entwicklungsphase, vor allem nach der Niederschlagung der Pariser Commune, wider, einer relativ stetigen Entwicklung, die auch einer ebensolchen Entwicklung der Politik von Partei und Gewerkschaften entsprach.

„Der Begriff der revolutionären Strategie hat sich erst in den Nachkriegsjahren durchgesetzt, ursprünglich zweifellos unter dem Einfluß der militärischen Terminologie. Aber er hat sich keineswegs zufällig durchgesetzt. Vor dem Krieg sprachen wir nur von der Taktik der proletarischen Partei, und dieser Begriff entsprach genau genug den damals herrschenden gewerkschaftlichen und parlamentarischen Methoden, die nicht über den Rahmen alltäglicher Anforderungen und Aufgaben hinausgingen. Die Taktik bezieht sich auf ein System von Maßnahmen, die auf eine besondere, naheliegende Aufgabe oder oder auf ein besonderes Feld des Klassenkampfes bezogen sind. Die revolutionäre Strategie hingegen umfaßt ein kombiniertes System von Aktionen, die in ihrer Kombination und Konsequenz darauf abzielen, das Proletariat zur Eroberung der Macht zu führen.“ [lix]

Doch mit dem Beginn der imperialistischen Epoche werden die Grenzen des sozialdemokratischen Programms deutlicher, die innerparteilichen Gegensätze in der sozialistischen Bewegung verschärften sich. Der rechte Flügel schritt praktisch zur Tat bis hin zum Ministerialismus in Frankreich, verfocht dies organisatorisch, z. B. im Ruf nach der Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Partei und in jeder Zurückweisung verpflichtender – als zu radikal begriffener –, Fragen, wie sich z. B. in der Generalstreikdebatte oder auch bei den Kongressen der II. Internationale zeigte. Interessanterweise versuchten zuerst TheoretikerInnen des rechten Flügels der opportunistischen Praxis höhere Weihen zu verleihen und eine Revision des Marxismus vorzunehmen. Beispielhaft dafür steht der theoretische Angriff Bernsteins auf die revolutionäre Theorie.

Schon diese Tatsache ist bezeichnend, weil sie die veränderte, zunehmend rein ökonomisch reduzierte Arbeit der Gewerkschaften und die parlamentarische, reformistische Ausrichtung vieler Parteien widerspiegelt. Noch mehr zeigt sich eine wachsende Differenz zwischen dem formell marxistischen (zentristischen) Zentrum der Zweiten Internationale und der internationalen Linken, die die zuerst um Fragen der Parteitaktik hervorbrechenden Differenzen als Grundsatzfragen zu begreifen beginnt und einen entschlosseneren Kampf gegen die Rechten fordert.

Die historischen Errungenschaften dieser Kämpfe – oft mit dem Namen Luxemburgs verbunden – bestehen darin, die marxistische Orthodoxie auf theoretischer Ebene (z. B. in Sozialreform oder Revolution) zu verteidigen und zur Entwicklung der revolutionären Taktik der ArbeiterInnenbewegung neue Anstöße zu geben. Die Linke greift in ihren Polemiken und Aktivitäten nicht zufällig Themen auf, die auch heute oft den Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen gemäßigtem und radikalem Flügel der ArbeiterInnenbewegung bilden – Fragen der Unterdrückung der Frauen und der Jugend; die Kolonialfragen und Fragen der Migration; Militarismus und Kriegsfrage; Verhältnis von Kampfmethoden zu Reform und Revolution (siehe Generalstreikdebatte).

Aber ihre Kritik bewegt sich selbst noch wesentlich auf der Ebene des Minimal-/Maximalprogramms, sprich auf der der grundsätzlichen Revision des Marxismus durch die Rechten, oder auf der Ebene der Taktik. Die Frage der Strategie, ja, den Begriff der Strategie im Unterschied zur Taktik kennt die Zweite Internationale nicht.

In den Revolutionen 1917/1918 wird die Notwendigkeit des Bruchs mit den alten Programmen der sozialdemokratischen Parteien offensichtlich (wie die Neugründung Kommunistischer Parteien). Das trifft nicht nur auf Russland und die Bolschewiki zu. Es zeigt sich auch in Deutschland.

Auf dem Gründungsparteitag der KPD bezieht sich Luxemburg direkt auf die Notwendigkeit, das Erfurter Programm, das Minimal-/Maximalprogramm hinter sich zu lassen. In der Programmrede auf dem Gründungspartei der KPD erklärt sie zum Programm:

„Es befindet sich im bewußten Gegensatz zu dem Standpunkt, auf dem das Erfurter Programm bisher steht, im bewußten Gegensatz zu der Trennung der unmittelbaren, sogenannten Minimalforderungen für den politischen und wirtschaftlichen Kampf von dem sozialistischen Endziel als einem Maximalprogramm. Im bewußten Gegensatz dazu liquidieren wir die Resultate der letzten 70 Jahre der Entwicklung und namentlich das unmittelbare Ergebnis des Weltkrieges, indem wir sagen: Für uns gibt es jetzt kein Minimal- und kein Maximalprogramm; eines und dasselbe ist der Sozialismus; das ist das Minimum, das wir heutzutage durchzusetzen haben.“ [lx]

Ihre Lösung ist freilich ungenügend, zum Teil problematisch: Das Maximalprogramm sei nun das Minimalprogramm, das Minimalprogramm gleich der Diktatur des Proletariats. Diese Aussage mag für eine revolutionäre Lage angehen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass sich Luxemburg sehr wohl der Notwendigkeit bewusst war, dass die neu gegründete KPD Tages- und Übergangslosungen brauchte, um die Revolution zu vertiefen, und Taktiken entwickeln musste, um überhaupt erst in der Avantgarde der Klasse, geschweige denn in der Masse des Proletariats Fuß zu fassen.

Bei Luxemburgs Formulierung erhebt sich jedoch auch die Frage, wie sich das Verhältnis von Minimal- und Maximalteil gestaltet, sollte die ArbeiterInnenklasse den revolutionären Ansturm nicht zur Machtergreifung nutzen können, sollte die herrschende Klasse neues Selbstvertrauen gewinnen und die Lage zeitweilig stabilisieren können. Musste dann das alte Minimal-/Maximalprogramm doch wieder herhalten? Oder sollte die revolutionäre Lage künstlich durch die permanente Offensive der revolutionären Minderheit wiederhergestellt werden, wie es die Ultralinken vorschlugen?

Genau auf diese Frage gibt die Kommunistische Internationale auf ihren ersten vier Kongressen (v. a. auf dem zweiten, dritten und vierten) eine Antwort – die Entwicklung der Übergangsforderungen, genauer: der Methode des Übergangsprogramms. Auch wenn die KI letztlich nie ein solches Programm annahm, so hat sie auf den ersten vier Kongressen einen historischen Beitrag dazu geleistet. Ihre Debatten, Thesen und Resolution sind bis heute eine unerlässliche Schule der kommunistischen Strategie und Debatte. Die ersten vier Kongresse waren auch eine wichtige Quelle für die Bestimmung nicht nur des Charakters der Epoche, sondern auch konjunktureller Entwicklungen des Klassenkampfes.

„Revolutionäre Politik ist ohne revolutionäre Theorie undenkbar. Hier wenigstens müssen wir nicht von vorn anzufangen. Wir stehen auf dem von Marx und Lenin geschaffenen Fundament. Die ersten Kongresse der Kommunistischen Internationale haben uns ein unschätzbares programmatisches Erbe hinterlassen. Die Charakterisierung der gegenwärtigen Epoche als der Epoche des Imperialismus, d. h. einer Epoche des kapitalistischen Niedergangs; das Wesen des gegenwärtigen Reformismus und die Methoden zu seiner Bekämpfung; die Beziehung von Demokratie und proletarischer Diktatur; die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution; die Beziehungen zwischen Proletariat und Kleinbürgertum, insbesondere zwischen Proletariat und Bauernschaft (die Agrarfrage); die nationale Frage und der Befreiungskampf der Kolonialvölker; die Arbeit in den Gewerkschaften; die Einheitsfront-Politik; das Verhältnis zum Parlamentarismus usw. – all diese Fragen sind von den ersten vier Kongressen in bisher unübertroffener Weise prinzipiell geklärt worden.“ [lxi]

Natürlich bildete auch die beste Debatte keine Garantin gegen Fehler. Das Ausbleiben der Weltrevolution und Niederlagen hatten natürlich schon vor der Degeneration der Russischen Revolution und der Komintern zu Bürokratisierungstendenzen geführt, die ihrerseits durch politische Fehler und daraus folgende Niederlagen verschlimmert wurden.

Ohne Zweifel war das Versäumnis, die revolutionäre Situation im Sommer 1923 in Deutschland überhaupt als solche wahrzunehmen, ein Kardinalfehler nicht nur der KPD, sondern auch der gesamten Komintern. Die Niederlage des deutschen Oktober warf das Proletariat in ganz Europa weit zurück und stabilisierte die bürgerliche Herrschaft (gemeinsam mit der Wirksamkeit des Dawes-Plans).

Die „Analyse“ der Niederlage durch die KPD und die Komintern signalisieren freilich auch einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der KI, auch ihrer Analyse. In  „Die neue Etappe“ [lxii] aus dem Jahr 1921 nimmt Trotzki auf dem dritten Weltkongress eine genaue, konkrete Analyse der Weltlage und der Frage revolutionärer Strategie und Taktik vor. Er begnügt sich nicht damit, den Charakter der imperialistischen Epoche als solchen nachzuweisen, sondern zeigt, warum ein dauerhaftes „kapitalistisches Gleichgewicht“ nicht wiederhergestellt werden konnte (einschließlich der hypothetischen Betrachtung, auf welcher Grundlage das im Verlauf von zwei bis drei Jahrzehnten  möglich wäre). Er zeigt, warum „die Weltsituation und die Perspektiven“ einen „tiefen revolutionären Charakter“ tragen. Zugleich stellt er aber in Rechnung, dass das „Gleichgewicht“ des Kapitalismus „sehr elastisch“ ist und „große Widerstandskraft“ besitzt, auch wenn die Lage, wie er selbst wiederholt betont, nach wie vor „äußerst revolutionär ist“.

Schließlich weist er – und das ist in gewisser Weise das Thema des KI-Kongress – darauf hin, dass die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse und Fehler der revolutionären ArbeiterInnenbewegung auch die Herrschaft der Bourgeoisie gefestigt hätten, ihr Selbstvertrauen, ihren Apparat, die konterrevolutionäre Rolle der ArbeiterInnenbürokratie stärkten. Statt einer ultralinken, abenteuerlichen Politik wäre daher eine Politik der Eroberung der Massen notwendig. Trotzki verweist dabei darauf, dass es keine mechanische Ableitung aus ökonomischen Krisenphänomenen zu ihrer politischen Ausformung gibt, dass daher die taktischen Aufgaben der revolutionären Parteien nicht mechanisch aus dem Charakter einer Epoche oder der „fundamentalen“ Betrachtung der Widersprüche, die zu einer weiteren Auflösung relativer Stabilität (oder überhaupt zu deren Verhinderung) führen, „abgeleitet“ und deduziert werden können. Die Sphären der Politik und des Verhältnisses zwischen den Klassen sind sehr viel vermittelter und wirken auch ihrerseits auf die Möglichkeit (oder Nicht-Möglichkeit) der herrschenden Klasse ein, das Gesamtsystem weiter zu stabilisieren.

Ganz anders verhält sich die Dritte Internationale nach dem 4. Weltkongress. Angeführt von Sinowjew setzt eine impressionistische und sterile Politik ein.

Nach ganz offensichtlichen und schweren Niederlagen wie im Oktober 1923 in Deutschland hieß es auf dem 5. Kominternkongress dazu lapidar: „Die Fehler in der Einschätzung des Tempos der Ereignisse [was für Fehler? L. T.], begangen im Oktober 1923, haben der Partei viele Schwierigkeiten gebracht. Dies ist trotz allem nur eine Episode. Die grundlegende Einschätzung bleibt bestehen.“ [lxiii]

Statt die Ursachen der Niederlage zu analysieren und eine entsprechende Neuausrichtung der deutschen Sektion zu beschließen, wurde die falsche Politik der Komintern als „im Prinzip richtig“ fortgeschrieben und nur die verantwortlichen „Umsetzer“ in Deutschland – die damalige Parteiführung um Heinrich Brandler – als „Parteirechte“ abgesetzt. Hier zeigte sich die Komintern-Führung bereits als typisch bürokratische Maschinerie, der die Selbstbeweihräucherung wichtiger ist als eine wirklich revolutionäre Führung.

Auch wenn der 5. Kongress noch eine Reihe richtiger Positionen gegen prinzipienlose Blockpolitik, falsch verstandene Einheitsfrontpolitik und andere rechte Abweichungen beschloss, so gab er auf die entscheidenden Fragen der internationalen Politik keine Antworten: auf die der neuen strategischen Orientierung nach dem Ende der revolutionären Nachkriegsperiode in Europa wie auch auf die immer drückender werdende von Bürokratisierung der Sowjetunion und ihrer weiteren ökonomischen Entwicklung angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen. Wie Trotzki es formulierte, wurde auf dem Kongress „jede Mücke eingehend beschaut und die Kamele glatt“ übersehen. [lxiv]

Der fünfte Kongress begann außerdem auch mit einer Abkehr von der Methode der Übergangsforderungen – beispielsweise in der falschen Identifizierung von ArbeiterInnenregierung und Diktatur des Proletariats. Die Ultralinken in der KI (in der KPD z. B.) nutzten die Gelegenheit, Übergangsforderungen wie jene nach ArbeiterInnenkontrolle überhaupt als „reformistisch“ und „sozialdemokratisch“ zu denunzieren.

Diesen Kurs setzte die stalinisierte Komintern mit Siebenmeilenschritten fort. Mit der Proklamation einer neuen, „Dritten Periode“, die eine Vertiefung der kapitalistischen Krise proklamierte, wurde der Grundstein für eine ultralinke Wendung vollzogen. Das Programm der Komintern, entworfen von Bucharin und angenommen auf dem 6. Kongress, ersetzte die konkrete Analyse vollends durch eine Sammlung allgemeiner Wahrheiten und eine Kanonisierung der „richtigen Linie“, der ihr Verfasser kurz darauf selbst zum Opfer fiel.

Die Stalinparteien führten in der „Dritten Periode“ den Kampf gegen jede Form von Übergangsforderungen – ein historisches Erbe, das jeder Form von Stalinismus bis heute anhaftet. Unwillkürlich bereitete der Stalinismus wie auf vielen anderen Ebenen die Rückkehr zur Theorie und Programmatik der Sozialdemokratie – in diesem Fall zum Minimal-/Maximalprogramm vor. Auch die „Krisentheorie“ wurde unter Stalin zu einer Rechtfertigungsideologie.

Nur Trotzki und die Vierte Internationale verteidigten die Methode der frühen Komintern und kodifizierten sie im Übergangsprogramm von 1938, dessen Methode bis heute Grundlage für das Herangehen von RevolutionärInnen an die Fragen des Programm ist.

7. Partei als Kampforganisation, Internationale als internationaler Kampfverband

Ebenso wie die Frage des Charakters des Programms und der politischen Praxis der ArbeiterInnenbewegung stellt die imperialistische Epoche die vorherrschende Parteiform der Zweiten Internationale auf den Prüfstand der Geschichte.

Die Klassenkämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Debatten in der russischen Sozialdemokratie und insbesondere das Scheitern der Zweiten Internationale im Krieg verdeutlichten die Notwendigkeit einer Partei und Internationale „neuen Typs“.

Es waren revolutionäre Kampforganisationen, die auf einer gemeinsamen, wissenschaftlich fundierten Programmatik, gemeinsamer Disziplin, einer aktiven, klassenbewussten Mitgliedschaft und verantwortlichen Führung, auf einem durch die Prinzipien des demokratischen Zentralismus regulierten Parteileben beruhten.

Anders als für bürgerliche oder reformistische Parteien war und ist das Programm für KommunistInnen keine Sammlung von Wünschen oder beliebigen Zielen. Es stellt eine Anleitung zum Handeln dar, ist eine Grundlage, die die Partei nicht nur ideell verbindet, sondern auch für die Aktion, zum Kampf ausrichtet und ihren Weg weist, überprüfbar und auch korrigierbar macht.

Anders als die Zweite Internationale, die letztlich eine Föderation nationaler Parteien darstellte, bildete die Dritte bis zu ihrer stalinistischen Degeneration eine Internationale, der nationale Sektionen angegliedert und ihrer revolutionären Disziplin untergeordnet waren – ein Prinzip, auf dem auch die revolutionäre, frühe Vierte Internationale basierte.

Die Bestimmung der Partei als Kampforganisation stellt das zentrale und unverzichtbare Instrument dar, die Klasse zum Sturz des Kapitalismus zu führen. Das schließt notwendigerweise nicht nur den Kampf gegen die unmittelbaren VertreterInnen und Parteien der herrschenden Klasse ein, sondern auch gegen ihre AgentInnen in der ArbeiterInnenklasse – Sozialdemokratie, Stalinismus und Gewerkschaftsbürokratie.

Im Unterschied zu frühen OpponentInnen des Marxismus in der ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts, die keine feste soziale Basis in der Gesellschaft hatten oder oft den Standpunkt historisch überholter Klassen vertraten, besitzt die ArbeiterInnenbürokratie im imperialistischen System eine strukturelle, soziale Basis – die Absonderung der ArbeiterInnenaristokratie als privilegierte Schicht der Klasse –, die erst mit dem Untergang des Imperialismus selbst verschwinden wird, und auch das nicht mit einem Schlag, sondern nur während einer längeren oder kürzeren Übergangsperiode.

Umgekehrt bedeutet das aber, dass eine revolutionäre Avantgardepartei und Internationale in der imperialistischen Epoche umso unverzichtbarer sind: Ein Zurückweisen der leninistischen Partei und Führung als Voraussetzung jeder erfolgreichen, genuin proletarischen Revolution ist daher nicht nur mit dem marxistischen Revolutionsverständnis, sondern auch mit einem revolutionären Verständnis der imperialistischen Epoche unvereinbar.

8. Schwächen der Theorie Lenins

Nach der Darstellung von zentralen Errungenschaften der Lenin’schen Imperialismustheorie und ihres damit einhergehenden programmatischen Erbes, das bis heute eine unverzichtbare Grundlage jeder revolutionären Politik darstellt, müssen wir jedoch auch auf Schwächen seiner Theorie eingehen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden diese vom revolutionären wie vom akademischen Marxismus zwar immer wieder thematisiert, ohne jedoch zu einer befriedigenden Lösung, also zu einer Erweiterung und Reformulierung der Imperialismustheorie geführt zu haben. Im Gegenteil, viele KritikerInnen Lenins, die durchaus zu Recht auf die fehlende Integration der Marx’schen Krisentheorie, des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und auf Schwächen des Monopolbegriffs hinwiesen, kippten selbst das Kind mit dem Bade aus. Erstens identifizierten sie oft fälschlich die Theorie Hilferdings mit der Lenins, zweitens verwarfen sie auch gleich jede Imperialismustheorie – damit auch den Antiimperialismus.

Um die Schwierigkeiten von Lenin zu begreifen, seine Imperialismustheorie konsequent auf den Boden der Marx’schen Kapitalanalyse zu stellen, müssen wir diese im Kontext der theoretischen Entwicklung und Diskussion der 2. Internationale und der verschiedenen theoretischen Erklärungen sehen.

In seiner Broschüre definiert Lenin den Imperialismus ökonomisch als das monopolistische Stadium des Kapitalismus. „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist.“ [lxv]

Oder ausführlicher:

„Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, daß daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten. Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung.“ [lxvi]

Lenin leitet hier die Entstehung des Imperialismus und neuer, vorherrschender Kapitalformen im wesentlichen aus dem Zentralisations- und Konzentrationsprozess des Kapitals ab, der eine neue, qualitative Stufe der Vorherrschaft großer Kapitalgruppen in den Zentren eingenommen hätte. Lenin führt dies auch recht plastisch anhand der wichtigsten Großmächte seiner Zeit – insbesondere anhand der Entwicklung des deutschen Imperialismus aus. Er verweist in seiner Kritik am Utopismus der kleinbürgerlichen Antitrustbewegung in den USA darauf, wie hoffnungslos unmöglich und reaktionär die Rückkehr einer romantisierten Marktwirtschaft, kleiner, scheinbar unabhängiger ProduzentInnen geworden sei. Hoffnungslos und unmöglich, weil die höhere Konzentration und Zentralisation des Kapitals eine höhere Entwicklung der Produktivität und Technik, einen gesellschaftlich höher stehenden Stand der Produktion und Verteilung darstellt. Reaktionär wäre die Zerschlagung der Großunternehmen oder Monopole, weil sie einen Rückschritt bedeuten würde, da mit ihrer Zerschlagung auch ein integrierter, wenn auch für die bornierten Zwecke des Kapitals zurechtgestutzter, planmäßig abgestimmter, Arbeitsprozess zerstückelt würde.

Der rasche Konzentrations- und Zentralisationsprozess und darüber die Verwandlung der Konkurrenz in Monopole, besonders, aber nicht nur, im Bank- und Kreditwesen stellen zweifellos historische Entwicklungstendenzen und empirisch nachvollziehbare Fakten dar.

Problematisch erweist sich jedoch die Gegenüberstellung von Konkurrenz und Monopol. Wenn wir das Monopol oder  Trusts, Kartelle und anderen Organisationsformen der Monopole betrachten, so zeigt sich ein ungelöstes Spannungsverhältnis bei Lenin. Die „freie Konkurrenz“ wird einerseits als Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt bestimmt. Andererseits wird mit dem Monopol nicht nur eine bestimmte Kapitalgruppe gebildet, sondern eine, in deren innerem Bereich die Konkurrenz weitgehend verschwunden und aufgehoben sei, selbst wenn es sich beim Monopol um mehrere Kapitale handle. Das Monopol tritt nicht einfach neben die Konkurrenz, sondern anstelle der Konkurrenz, was das Verhältnis der dominierenden Kapitalgruppen in einer Nationalökonomie zueinander betrifft.

Zweifellos liegt eine gewisse Stärke von Lenin darin, dass er diese Tendenz wie im obigen Zitat auch relativiert und darauf verweist. „Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte.“

Um welche Widersprüche, welche Reibungen und Konflikte es sich dabei handelt, bleibt jedoch unklar. Bei diesen Formulierungen zeigt sich aber auch der Einfluss von Hilferdings „Das Finanzkapital“ aus dem Jahr 1910, wo dem Verhältnis von Finanzkapital und freier Konkurrenz sowie dem von Finanzkapital und Krisen zwei Abschnitte gewidmet sind.

Hilferding verweist zwar an einigen Stellen auf die Bedeutung der Marx’schen Krisentheorie und des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, zugleich stellt er zum Verhältnis von Kartellierung und Konkurrenz Folgendes fest:

„Die Kartelle bewirken, daß die Konkurrenz innerhalb eines Produktionszweiges aufhört oder, besser gesagt, latent wird, daß die preissenkenden Wirkungen der Konkurrenz innerhalb dieser Sphäre nicht zur Geltung kommen; sie bewirken zweitens, daß die Konkurrenz der kartellierten Sphären auf Grund einer höheren Profitrate vor sich geht gegenüber den nichtkartellierten Industrien. Aber sie können nichts ändern an der Konkurrenz der Kapitalien um die Anlagesphären, an den Wirkungen der Akkumulation auf die Preisgestaltung und deshalb die Entstehung von Disproportionalitätsverhältnissen nicht verhindern.“ [lxvii]

Für Hilferding kann zwar die Kartellierung oder Monopolisierung einzelner Branchen die Konkurrenz nicht ausschalten. Entscheidend ist jedoch, dass – anders als bei Marx – die Ausgleichsbewegung der Profitraten zwischen den Branchen, genauer zwischen kartellierten und nichtkartellierten Sektoren nicht stattfindet. Diese bilden vielmehr beständig, der Tendenz nach zunehmend, unterschiedliche Profitraten heraus. Das Kartell kann sich der Ausgleichsbewegung einer einheitlichen Profitrate des Gesamtkapitals nicht nur entziehen, es breitet seine Sphäre beständig aus, vergrößert also den Bereich, in dem die Konkurrenz außer Kraft gesetzt ist. Damit kann die Ausgleichsbewegung zur gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate logischerweise nicht die Bewegungen des nationalen Gesamtkapitals regulieren. Sie wirkt allenfalls im nichtkartellierten Sektor. Dasselbe gilt für das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Hilferdings Verweise darauf, die sich im „Finanzkapital“ durchaus finden, wirken als Fremdkörper.

Anders als in den 1920er Jahren wird die Bildung eines Generalkartells, das die gesamte kapitalistische Ökonomie planmäßig regulieren könne und solle, von Hilferding 1910 noch als „soziale und politische Unmöglichkeit“ verworfen, auch wenn es rein ökonomisch möglich wäre. Die Ursachen für die Krise des Kapitalismus bilden freilich nicht die Überakkumulation von Kapital und der tendenzielle Fall der Profitrate, sondern die Disproportionen zwischen den verschiedenen Branchen, die aus dem anarchischen Charakter der Produktion erwüchsen und sich im Imperialismus aufgrund des Gegensatzes von kartellierten und nichtkartellierten Sektoren massiv steigerten.

Lenin übernahm Hilferdings „Finanzkapital“ keineswegs kritiklos, sondern er polemisierte durchaus heftig gegen bedeutende theoretische Schwächen, so z. B. gegen dessen falsche Geldtheorie und die damit verbundene Unterschätzung von Finanz- und Bankenkrisen in der imperialistischen Epoche. Zugleich schimmert jedoch auch bei Lenins Konzeptualisierung der Konkurrenzfrage Hilferding durch. Die Konkurrenz, Reibungen und Widersprüche erwachsen wesentlich aus den nichtmonopolisierten Sphären und ihrem Verhältnis zu den monopolisierten. Daher findet sich auch bei ihm keine Behandlung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, daher auch keine Integration der Marx’schen Krisentheorie in seinem Werk.

Sicherlich hängt das damit zusammen, dass der zentrale Zwecke seiner Imperialismustheorie darin bestand, eine politische und theoretische Orientierung zu geben und eine revolutionäre Programmatik (Defaitismus, internationale Strategie, Programm für die Russische Revolution, zur nationalen Frage, …) herzuleiten und nicht 1916 „nebenbei“ sämtliche Fragen zu beantworten, die MarxistInnen in den letzten mehr als 100 Jahren umtrieben. Dass seine Theorie nicht primär an Fragen orientiert war, die sich im Laufe der Entwicklung als problematisch erwiesen, kann ihm daher, wenn überhaupt, nur sehr bedingt angekreidet werden.

Dennoch müssen wir nach diesen Ausführungen zu einem Kernpunkt der Schwäche kommen, der erklärt, warum die Integration von Krisen- und Imperialismustheorie bis heute solche Probleme bereitet. Lenins Konzeptualisierung des Verhältnisses von Monopol und Konkurrenz bleibt hinter einem wesentlichen Moment des Marx’schen Kapitalbegriffs zurück. Lenin gelingt es nicht, die Erscheinungsformen der Kapitalbewegung auf der Grundlage der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Produktion und Reproduktion zu begründen.

Bei den Marx´schen Ausführungen (im „Kapital“) ist zu unterscheiden zwischen den allgemeinen Bestimmungen bzw. abstrakten Bewegungsgesetzen des Kapitals und den realen historischen Formen, in denen sie sich darstellen.

Im Band 3 des „Kapital“ geht es eben nicht um eine konkrete Phase der „freien Konkurrenz“ des Kapitalismus, sondern die „freie Konkurrenz“ ist hier eine Abstraktion. Marx will aufzeigen, wie die Bewegungsgesetze des Kapitals sich dem Einzelkapital aufzwingen. Es ist die Form, in der sich das Einzelkapital verwertet und auf das Gesamtkapital bezieht.

Marx abstrahiert hier von allem, was die Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate in der Realität behindert (in der Wirklichkeit setzt sich die Durchschnittsprofitrate immer nur tendenziell durch).

Marx betont, dass sich die dem Kapitalismus inhärenten Eigenschaften über die „Zwangsgesetze“ der Konkurrenz durchsetzten. In den Grundrissen formuliert das Marx so: „Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innre Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innre Tendenz als äußerliche Notwendigkeit.) (Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien, und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander.)“ [lxviii]

Dadurch, dass die Einzelkapitale über die Konkurrenz und die Bildung einer Durchschnittsprofitrate die Ausbeutung „vergesellschaften“, zu einem nationalen Gesamtkapital werden, werden sie zu einer Macht, die der ArbeiterInnenklasse entgegentritt.

Natürlich ändern sich historisch die Formen, in denen die Einzelkapitale versuchen, (mindestens) einen Durchschnittsprofit abzuwerfen. Aber: „Das Monopol ist nur eine Form dieses Versuchs, ist eine Erscheinungsform der Konkurrenz und ist außer durch die Konkurrenz auch nicht zu erklären. Die Aussage, das Monopol löse die ,freie Konkurrenz’ ab … impliziert, daß die ,freie Konkurrenz’ nicht eine logische Abstraktion, sondern eine tatsächliche historische Phase der Kapitalentwicklung ist, daß also Marx im 3. Band nicht die allgemeinen Bestimmungen des Kapitals als Kapital entwickelt habe, sondern eine Phase des Kapitalismus real analysiert habe … “ [lxix]

Als Folge dieser Verwechslung der Analyseebenen steht dann bei Lenin das Monopol außerhalb und/oder neben der „freien Konkurrenz“. „Man stellt in seiner Schrift durchgängig fest, daß Lenin das Verhältnis der Konkurrenz der vielen Kapitale und der Monopole nur auf der Ebene der realen Beziehungen der Einzelkapitale zueinander analysiert.“[lxx]

Es müssen zwei Ebenen unterschieden werden: a) die bei Marx abstrakt entfalteten, dem Kapitalbegriff inhärenten Bestimmungen und b) die Durchsetzung kapitalistischer Bewegungsgesetze auf der konkreten Ebene. Aus der auch von Marx vermerkten Tendenz des Kapitals zur Konzentration und Zentralisation kann nicht unmittelbar die Existenz von Monopolen abgeleitet werden, um dann auf dieser Grundlage sämtliche (oder zumindest die wesentlichen) Bewegungsformen der Kapitalakkumulation zu begreifen. Die ökonomische Basis für die Analyse des Imperialismus kann (zumindest) nicht im Konzentrationsprozess allein liegen, sondern in der Entfaltung aller Widersprüche, die im Kapital angelegt sind.

9. Kapitalbegriff und Epochenwechsel

An dieser Stelle müssen wir jedoch auch auf einen fundamentalen methodischen Schwachpunkt vieler Lenin-KritikerInnen eingehen. Ihre durchaus wichtigen Kritikpunkte gebrechen freilich an einer Schwäche – sie schütten das Kind mit dem Bade aus und verwerfen mit ihrer Kritik an Schwächen des Monopolbegriffes und der Fassung des Finanzkapitals bei Hilferding und Lenin, sofern er Hilferding übernimmt, auch die Imperialismustheorie als solche. Allenfalls taucht der Begriff in einer letztlich kautskyanischen Fassung auf, also als expansive, militärisch vorgetragene Eroberungspolitik.

Die methodische Schwäche dieser AutorInnen liegt in einer letztlich rein begriffslogischen Bestimmung der Kategorien der Kapitalanalyse. Sie verfehlen dabei jedoch gerade das Spezifische an der Marx’schen Gesellschaftstheorie und seines Bruchs mit dem Hegel’schen Systemgedanken.

Im Buch „Die ontologischen Grundprinzipien von Marx“ [lxxi], Teil der „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“, beschäftigt sich Lukács sehr ausführlich mit dem Verhältnis von logischer und historischer Analyse des Kapitals oder generell der Gesellschaft und ihre Entwicklung. Er verweist darauf, dass die einfache Gegenüberstellung von „logischer“ oder „historischer“ Herleitung z. B. des Kapitalbegriffs zu einer ungewollten Wiederkehr des Systemgedankens Hegels führt, sei es in Form einer letztlich idealistischen Illusionen, dass verschiedenste Formen der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Staat etc.) einfach nur aus den Kategorien des Kapitals „abgeleitet“ werden müssten, oder sei es in Form eines Geschichtsobjektivismus, demzufolge wie z. B. in der stalinistischen Geschichtsphilosophie und der Etappentheorie alle Länder und alle Regionen dieselben Gesellschaftsformationen in der „richtigen“ Reihenfolge zu durchlaufen hätten.

Das Entscheidende an Marx’ neuer, revolutionärer Methode besteht gerade in der Überwindung des Gegensatzes:

„Nicht umsonst hat Marx im ‚Kapital’ den Wert als erste Kategorie, als primäres ‚Element’ untersucht. Besonders durch  die Art, wie dieser hier in seiner Genesis erscheint: Diese Genesis zeigt einerseits abstrakt, auf ein entscheidendes Moment reduziert, den allgemeinsten Abriß einer Geschichte der gesamten ökonomischen Wirklichkeit, andererseits erweist die Auswahl sogleich ihre Fruchtbarkeit, indem diese Kategorien selbst, zusammen mit den Verhältnissen und Beziehungen, die aus ihrer Existenz notwendig folgen, das Wichtigste an der Struktur des gesellschaftlichen Seins, die Gesellschaftlichkeit der Produktion zentral erhellen. Die Genesis des Werts, die Marx hier gibt, beleuchtet sofort die Doppelheit seiner Methode: Diese Genesis selbst ist weder eine logische Deduktion aus dem Begriff des Werts noch eine induktive Beschreibung der einzelnen historischen Etappen seiner Entfaltung, bis er seine reine gesellschaftlichen Gestalt erhält, sondern eine eigenartige, neuartige Synthese, die die historische Ontologie des gesellschaftlichen Seins mit dem theoretischen Aufdecken seiner konkret und real wirksamen Gesetzlichkeiten theoretisch-organisch vereint.“ [lxxii]

Marx selbst reflektiert diese Zusammenhänge immer wieder in den methodischen Überlegungen zu den Grundrissen oder im Kapital. Entscheidend für unsere Diskussion der Imperialismustheorie erweist sich, dass auch der Kapitalbegriff von Marx notwendigerweise ein historisches Moment, ein Entwicklungsmoment enthält. Wenn Marx die geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation im ersten Band des Kapitals zusammenfasst: „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ [lxxiii]

Marx’ und Engels’ häufige Hinweise darauf, dass das Kapital in seinem Entwicklungsprozess mehr und mehr  gesellschaftliche Formen (Aktienkapital, Rolle von Banken und Börse, Staatsintervention, … ) annehme, verbinden sie korrekterweise damit, dass sich darin unbewusst und auf Basis des Privateigentums der zunehmende gesellschaftliche Charakter der Produktion artikuliert. Die von Hilferding und Lenin konstatierten Monopolisierungstendenzen und die Herausbildung eines Finanzkapitals, also die enge Verbindung oder gar Verschmelzung von Banken- und Industriekapital sind selbst ein Teil dieser Tendenz zur Vergesellschaftung. Insofern kommt beiden das Verdienst zu, eine reale Veränderung der Kapitalbewegung mit dem Epochenwechsel in Verbindung zu bringen.

Der Monopolbegriff enthält jedoch entscheidende Schwächen, wie wir gesehen haben, als das Verhältnis von Monopol und Konkurrenz falsch bestimmt wird, als wären sie auf derselben Ebene der Abstraktion angesiedelt – übrigens ein ähnlicher Fehler wie die Ansiedelung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und der entgegenwirkenden Ursachen auf derselben.

Vielmehr setzen die entgegenwirkenden Ursachen das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate logisch und geschichtlich voraus. Sie heben es nicht auf oder setzen es auch nicht zeitweilig „außer Kraft“, als ob einmal jene geschichtliche Tendenz und einmal die andere dominieren würde, sie sind vielmehr Modifikationen einer grundlegenden Gesetzmäßigkeit und zugleich auch Formen, über die sich diese Gesetzmäßigkeit durchsetzt. Dasselbe kann von der Konkurrenz im Verhältnis zum Monopol gesagt werden, was Lenin in gewisser Weise auch andeutet und weit mehr als  Hilferding u. a. betont, aber begrifflich nicht zu fassen kriegt.

Die begriffliche Schwäche hat aber nicht nur Auswirkungen auf den Monopolbegriff, Hilferdings „kartellierte Sphäre“, sondern auch auf den des Finanzkapitals. Die wachsende Bedeutung des zinstragenden Kapitals und seiner Institutionen diskutierten bekanntlich schon Marx und Engels. Diese Entwicklung konstatiert Lenins sicher zu Recht:

„Die Trennung des Kapitaleigentums von Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht’ besitzen.“ [lxxiv]

Lenins Begriff des Finanzkapitals enthält jedoch zwei wichtige Probleme. Einerseits schwebt ihm die spezifische Organisationsform des Verhältnisses von Industrie und Geldkapital nicht nur als Beispiel zur Veranschaulichung dieser Tendenz vor, sondern geradezu als Muster einer globalen Entwicklungstendenz. Die extrem enge Verbindung von Industrie und Banken im Deutschen Reich, die im Ersten Weltkrieg noch massiv verstärkt wurde, stellte jedoch eine Besonderheit des deutschen Imperialismus dar, während sie insbesondere in den USA immer andere, losere Formen annahm. Erst recht trifft das auf die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu.

Sicherlich ist Lenins Vorstellung einer Verallgemeinerung des Verhältnisses von industriellem und Geldkapital nach dem Modell des deutschen Imperialismus historisch nachvollziehbar. Angesichts der real viel stärkeren Integration von staatlichem Kommando und verschiedenen Kapitalgruppen im imperialistischen Weltkrieg drängte sie sich geradezu auf. Angesichts der historischen Entwicklung bedarf dies jedoch einer Korrektur. Sein Begriff des Finanzkapitals ist zu konkret auf spezifische historische Formen fokussiert.

Damit verbunden ist ein weiteres Problem, das das innere Verhältnis des Finanzkapitals betrifft. Die Konkurrenz erscheint bei Hilferding und Lenin im Wesentlichen außerhalb des monopolisierten oder kartellierten Sektors zu bestehen, d. h. auch außerhalb des Finanzkapitals. Die darin zusammengefassten Einzelkapitale erscheinen faktisch tendenziell als ein vereintes Kapital, jedenfalls als eines, dessen Binnenbeziehungen nicht durch die Konkurrenz vermittelt werden. Betrachten wir die Entwicklung des Finanzkapitals in der gesamten imperialistischen Epoche, erweist sich diese Vorstellung als unhaltbar. Selbst in ihren Frühphasen ist sie fragwürdig, auch wenn eine solche Entwicklungstendenz gerade im Ersten Weltkrieg durchaus plausibel gewesen sein mag.

Im Rückblick, also angesichts einer ein ganzes Jahrhundert  umfassenden weiteren Entwicklung, erweist sich Lenins Fassung des Begriffs des Finanzkapitals als zu wenig abstrakt, und wir müssen ihn allgemeiner bestimmen.

Korrekt ist zweifellos (a) die Tendenz zur engeren Verbindung von Industrie und Finanzsektor und (b) die Dominanz des Geldkapitals bzw. des zinstragenden Kapitals. Die Dominanz des Letzteren ergibt sich daraus, dass es an keine stoffliche Basis gebunden ist, dass es rascher und freier von einer Anlagesphäre zur anderen geleitet werden kann. Zweitens bedarf jede große industrielle Unternehmung enormer zusätzlicher Aufwendungen für Investitionen über den im eigenen Betrieb erwirtschafteten Akkumulationsfonds hinaus, die über Aktienmärkte, Anlagefonds, Unternehmensanleihen, Kredite etc. gefunden werden müssen.

Marx selbst beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Kredits auf das industrielle Kapital, insbesondere im Kapitel „Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion“ und konstatiert dabei bedeutende Phänomene, die auf die Entstehung eines Finanzkapitals im Sinne Lenins durchaus hinweisen. Neben der Vermittlung der Ausgleichsbewegung der Profitrate, der Beschleunigung der Zirkulation und der Verringerung der Zirkulationskosten verweist er mit der Bildung des Aktienkapitals – wenn man so will, einer Form von Finanzkapital – auf folgende Auswirkungen:

„1. Ungeheure Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion und Unternehmungen, die für Einzelkapitale unmöglich waren. Solche Unternehmungen zugleich, die früher Regierungsunternehmungen waren, werden gesellschaftliche.

2. Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.

3. Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremdes Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten. Selbst wenn die Dividenden, die sie beziehn, den Zins und Unternehmergewinn, d. h. den Totalprofit einschließen (denn das Gehalt des Dirigenten ist, oder soll sein, bloßer Arbeitslohn einer gewissen Art geschickter Arbeit, deren Preis im Arbeitsmarkt reguliert wird, wie der jeder andren Arbeit), so wird dieser Totalprofit nur noch bezogen in der Form des Zinses, d. h. als bloße Vergütung des Kapitaleigentums, das nun ganz so von der Funktion im wirklichen Reproduktionsprozeß getrennt wird wie diese Funktion, in der Person des Dirigenten, vom Kapitaleigentum. Der Profit stellt sich so dar (nicht mehr nur der eine Teil desselben, der Zins, der seine Rechtfertigung aus dem Profit des Borgers zieht) als bloße Aneignung fremder Mehrarbeit, entspringend aus der Verwandlung der Produktionsmittel in Kapital, d. h. aus ihrer Entfremdung gegenüber den wirklichen Produzenten, aus ihrem Gegensatz als fremdes Eigentum gegenüber allen wirklich in der Produktion tätigen Individuen, vom Dirigenten bis herab zum letzten Taglöhner. In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit.“ [lxxv]

Darüber hinaus verweist er auch darauf, dass diese bestimmten Formen des zinstragenden Kapitals zeitweilig dazu führen können, dass diese Gesellschaftsunternehmungen von der Ausgleichsbewegung der Profitrate ausgenommen werden können [lxxvi] und auch auf die Tendenz zur Monopolbildung.

Allerdings bleibt die Bewegung, diese Tendenz zur Aufhebung des Kapitalismus auf Basis des Kapitalismus, in inneren Widersprüchen befangen:

„Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie (anscheinend, offensichtlich; d. Red.) als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.“ [lxxvii]

Und weiter: „In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die Form der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlicher und als Privatreichtum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus.“ [lxxviii]

Daraus erklärt sich auch, warum die Bewegungen des zinstragenden Kapitals, zumal wenn wir den Kredit nicht nur auf das industrielle, sondern auf Kapitaleigentum selbst, auf Kapital als Ware beziehen, dass sich – ähnlich wie das Monopol – das zinstragende Kapital von den Schranken der Ausgleichsbewegung der Durchschnittsprofitrate zu „befreien“ versucht, was die Form von Spekulation, Finanzblasen, abgeleiteten Geschäften, Glücksritterei annimmt. In jedem Fall geht diese mit einer Zunahme des Parasitismus einher, weil eine ganze Schicht von VermögensbesitzerInnen geschaffen wird, die keine Rolle für die eigentliche Produktion spielt, wohl aber eben, weil sie Kommando über das gesellschaftliche Gesamtkapital immer wesentlicher mit ausübt, sich daran bereichert.

Letztlich bleibt aber auch das Finanzkapital an die Ausgleichsbewegung der gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate und die Mehrwertproduktion gebunden – so sehr es sich auch über längere Zeitabschnitte davon zu befreien scheint (oder den AnlegerInnen ein solche Befreiung mit ständig steigenden Renditeversprechen verheißt). Daher bleibt letztlich auch das Verhältnis der verschiedenen Seiten des Finanzkapitals – von industriellem und zinstragendem, der verschiedenen Profitabilitätserwartungen auch der Großkapitale – über die Konkurrenz vermittelt.

Eine solche Korrektur des Begriffs des Finanzkapitals erscheint uns notwendig, weil er so für die gesamte Epoche nutzbar gemacht werden kann und weil er so gerade der Phase nach 1945 weitaus mehr entspricht.

10. Vereinseitigungen der Theorie und ihre Folgen

Wir haben gesehen, dass im Monopolbegriff von Hilferding, aber auch von Lenin bereits ein grundlegendes Problem angelegt ist – die Frage der Bestimmung des Verhältnisses von Konkurrenz und Monopol.

Bei Hilferding kommt dies schon im „Finanzkapital“ zum Ausdruck, wenn er die theoretische Möglichkeit eines organisierten, regulierten Kapitalismus ins Auge fasst. Hinzu kommt, dass er – unter anderem auch eine Folge seiner falschen Geldtheorie, die dieses wesentlich als Zirkulationsmittel auffasst und die Wertbestimmung des Geldes in die Zirkulation verlagert – die Ungleichgewichte (Disproportionen) in den Tauschbeziehungen als eigentliche Krisenursache im Kapitalismus betrachtet. Es ist daher in seinem Sinne nur folgerichtig, dass, je stärker monopolisiert eine Ökonomie, je mehr sie über Kartelle oder staatliche Intervention reguliert und staatskapitalistisch geplant wird, die Krisen in den Hintergrund treten –  jedenfalls bei einer richtigen staatlichen Lenkung.

„Mit der Entwicklung des Bankwesens, mit der immer enger werdenden Verflechtung der Beziehungen zwischen Bank und Industrie verstärkt sich die Tendenz, einerseits die Konkurrenz der Banken untereinander immer mehr auszuschalten, anderseits alles Kapital in der Form von Geldkapital zu konzentrieren und es erst durch die Vermittlung der Banken den Produktiven zur Verfügung zu stellen. In letzter Instanz würde diese Tendenz dazu führen, daß eine Bank oder eine Bankengruppe die Verfügung über das gesamte Geldkapital erhielte. Eine solche ‚Zentralbank’ würde damit die Kontrolle über die ganze gesellschaftliche Produktion ausüben.“ [lxxix]

Von hier ist es nicht mehr weit zum „Generalkartell“, das bei Hilferding die kapitalistische Ökonomie umfasst:

„Es entsteht aber die Frage, wo die Grenze der Kartellierung eigentlich gegeben ist. Und diese Frage muß dahin beantwortet werden, daß es eine absolute Grenze für die Kartellierung nicht gibt. Vielmehr ist eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung vorhanden. Die unabhängigen Industrien geraten, wie wir gesehen haben, immer mehr in Abhängigkeit von kartellierten, um schließlich von ihnen annektiert zu werden. Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Produktion wird bewußt geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt. Dann wird die Preisfestsetzung rein nominell und bedeutet nur mehr die Verteilung des Gesamtprodukts auf die Kartellmagnaten einerseits, auf die Masse aller anderen Gesellschaftsmitglieder anderseits. Der Preis ist dann nicht Resultat einer sachlichen Beziehung, die die Menschen eingegangen sind, sondern eine bloß rechnungsmäßige Art der Zuteilung von Sachen durch Personen an Personen. Das Geld spielt dann keine Rolle. Es kann völlig verschwinden, da es sich ja um Zuteilung von Sachen handelt und nicht um Zuteilung von Werten. Mit der Anarchie der Produktion schwindet der sachliche Schein, schwindet die Wertgegenständlichkeit der Ware, schwindet also das Geld. Das Kartell verteilt das Produkt. Die sachlichen Produktionselemente sind wiederproduziert worden und werden zu neuer Produktion verwendet. Von dem Neuprodukt wird ein Teil auf die Arbeiterklasse und die Intellektuellen verteilt, der andere fällt dem Kartell zu beliebiger Verwendung zu. Es ist die bewußt geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form. Aber dieser Antagonismus ist Antagonismus der Verteilung. Die Verteilung selbst ist bewußt geregelt und damit die Notwendigkeit des Geldes vorüber. Das Finanzkapital in seiner Vollendung ist losgelöst von dem Nährboden, auf dem es entstanden. Die Zirkulation des Geldes ist unnötig geworden, der rastlose Umlauf des Geldes hat sein Ziel erreicht, die geregelte Gesellschaft, und das Perpetuum mobile der Zirkulation findet seine Ruh’.“ [lxxx]

Im „Finanzkapital“ betrachtet Hilferding das Generalkartell jedoch noch als bloß theoretische Möglichkeit, weil es nur aus enormen Klassenkämpfen und Erschütterungen der Gesellschaft entstehen könne. Die reformistischen und harmonistischen Schlussfolgerungen liegen jedoch schon in der „Hypothese“ klar auf der Hand. Mit seinem Übergang  vom marxistischen Zentrum der II. Internationale zum offenen Reformismus und Sozialpatriotismus geht Hilferding auch in seinen politischen Schlussfolgerungen nach rechts. Das „Generalkartell“ soll, mit ihm als sozialdemokratischem Finanzminister, als „organisierter Kapitalismus“ Wirklichkeit werden.

Auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927 präsentierte Hilferding seine Theorie und stellte fest, dass wir „zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft kommen, also von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft. (…) Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip der planmäßigen Produktion.“ [lxxxi]

Hier zeigt sich, welche fatalen Schlussfolgerungen in der Theorie Hilferdings angelegt sind. Natürlich sind es nicht einfach seine Schwächen, die dazu führen. Der Übergang der Sozialdemokratie ins bürgerliche Lager bildet die Triebkraft, die Hilferding nach rechts treibt und damit das Generalkartell von einer theoretischen Möglichkeit in eine Form des „organisierten Kapitalismus“ zur theoretischen Rechtfertigung bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik verwandelt.

Natürlich wird nicht jede/r ReformistIn, der/die einen falschen oder unzureichenden Begriff von Monopol, Finanzkapital und ihrem Verhältnis zu den allgemeinen Gesetzen des Kapitalismus hat. Aber unabhängig vom Willen Einzelner enthalten die Theorien und Begrifflichkeiten immer eine Eigenlogik, deren innere Probleme früher oder später als politische Fehler, im schlimmsten Fall als Revisionismus zum Vorschein treten.

Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die Hilferding’sche falsche Konzeption von Krisen, Geldtheorie und der geschichtlichen Tendenzen des Finanzkapital zu reformistischen Schlussfolgerungen führte, ja führen musste.

Lenin war sich dieser Tatsache durchaus bewusst – und zwar nicht nur, weil sich Hilferding als Sozialpazifist im Weltkrieg erwies und, ähnlich Kautsky, die Rolle eines Versöhnlers gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie spielte, in deren Schoß er schließlich zurückkehrte. Lenin bemerkt und kritisiert in den Exzerpten zum „Finanzkapital“ [lxxxii] wie in seinen Schriften Hilferdings idealistische philosophische Anschauungen (seinen „Machismus“), die Vorstellung, dass Geld ohne Wert in die Zirkulation eingehe, seine harmonistische Vorstellung, dass die zunehmende Konzentration und Zentralisation von Banken die Krise abschwäche. Lenin notiert in den Exzerpten auch, dass „von den einzelnen Kartellen eine Aufhebung der Krisen erwarten“ einer „Einsichtslosigkeit“ [lxxxiii] auf Seiten Hilferdings gleichkomme.

Im Unterschied zu Letzterem geht Lenin auch nicht von einer Beseitigung der Konkurrenz und der Krisen aus – er betrachtet die zunehmende Tendenz zum Monopol durchaus auch als etwas, das gegenläufige Tendenzen mit hervorbringt. Aber wie wir gesehen haben, greift hier Lenins Kritik gegenüber Hilferding zu kurz. Seine ausgewogenere, offenere und dialektischere Position unterscheidet sich daher jedoch durchaus grundsätzlich vom Reformismus als Kernelement der Hilferding’schen Auffassung.

Doch gerade dessen Fehler wirken bis heute nach. Einerseits greifen sehr viele reformistische Konzeptionen auf eine falsche Krisentheorie, sei es eine Disproportionalitätstheorie oder eine Unterkonsumtionstheorie zurück. Letztere Auffassung findet sich bei Kautsky (und auch bei Rosa Luxemburg). Die Krisen werden nicht aus der Akkumulation des Kapitals, also seiner inneren Bewegung hergeleitet, sondern aus der Zirkulationssphäre oder dem beschränkten Konsum, sodass es naheliegt, dass sie mithilfe staatlicher Regulierung und Intervention beseitigt, durch Umverteilung gelöst werden können. Während die Sozialdemokratie (und die von ihr dominierten Gewerkschaften) nach dem Ersten Weltkrieg die Theorie des „organisierten Kapitalismus“ in eine bürgerlich-harmonistische Politik einbetteten und nach 1945 mit bürgerlichen Theorien wie dem Keynesianismus kombinierten, griffen einige kommunistische TheoretikerInnen, vor allem Bucharin, die Hilferding’sche Vorstellung einer Ausschaltung der Konkurrenz im Rahmen einer Nationalökonomie auf und radikalisierten sie gewissermaßen, wenn auch zuerst mit ultralinken und keineswegs mit harmonischen Vorstellungen der Weltwirtschaft.

Für Bucharin entwickelt sich, wie er in „Imperialismus und Weltwirtschaft“ [lxxxiv] darlegt, die nationale kapitalistische Ökonomie zu einem einzigen staatskapitalistischen Trust. Auch wenn das noch nicht ganz vollzogen sein mag.

„Das Finanzkapital schlägt das gesamte Land in eiserne Fesseln. Die „Volkswirtschaft“ verwandelt sich in einen einzigen gewaltigen kombinierten Trust, dessen Teilhaber die Finanzgruppen und der Staat sind. Solche Bildungen nennen wir staatskapitalistische Trusts. Es ist natürlich unmöglich, ihre Struktur mit der Struktur eines Trusts im engeren Sinne des Wortes zu identifizieren; dieser ist eine mehr zentralisierte und weniger anarchische Organisation. Aber bis zu einem gewissen Grade und besonders im Vergleich zu der vorhergehenden Phase des Kapitalismus haben die wirtschaftlich entwickelten Staaten sich in einem bedeutenden Grade bereits dem Punkt genähert, wo man sie als eine Art von trustähnlichen Organisationen oder, wie wir sie genannt haben, als staatskapitalistische Trusts betrachten kann. Deshalb kann man jetzt von einer Konzentration des Kapitals in staatskapitalistischen Trusts als den Bestandteilen eines viel bedeutenderen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Feldes, der Weltwirtschaft, sprechen.“ [lxxxv]

Anders als bei Hilferding hebt diese Entwicklung jedoch die Konkurrenz nicht auf, sie beseitigt sie nur im Rahmen des nationalen gesellschaftlichen Gesamtkapitals, um sie umso heftiger und in Permanenz auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitik zum Ausbruch kommen zu lassen.

„Der Kapitalismus hat versucht, seine eigene Anarchie dadurch zu überwinden, daß er ihr die eiserne Fessel der staatlichen Organisation anlegte. Indem er aber die Konkurrenz innerhalb des Staates aufhob, ließ er alle Teufel im internationalen Kampf los.“ [lxxxvi]

Oder an anderer Stelle: „Die Konkurrenz erreicht die höchste und letzte denkbare Entwicklungsstufe: die Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts auf dem Weltmarkt. In den Grenzen der ,nationalen’ Wirtschaften wird sie auf ein Minimum reduziert, aber nur, um in gewaltigem, in keiner der vorhergehenden Epochen möglichen Umfange aufs neue zu entbrennen.“ [lxxxvii]

Diese enge Verschmelzung von Staat und Kapital bedeutet aber auch, dass die Konkurrenz eine andere Form annimmt:

„Hier feiert die Konkurrenz ihre wildesten Orgien, und zugleich mit ihr verwandelt sich der Prozeß der Zentralisation des Kapitals und erreicht eine höhere Phase. Die Aufsaugung kleiner Kapitale, die Aufsaugung schwacher Trusts, ja sogar die Aufsaugung großer Trusts tritt in den Hintergrund und erscheint als ein Kinderspiel gegenüber der Aufsaugung ganzer Länder, die gewaltsam von ihren wirtschaftlichen Mittelpunkten losgerissen und in das wirtschaftliche System der siegreichen ,Nation’ einbezogen werden. Die imperialistische Annexion ist somit ein Sonderfall der allgemeinen kapitalistischen Tendenz zur Zentralisation des Kapitals, zu seiner Zentralisation in dem maximalen Umfang, der der Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts entspricht.“ [lxxxviii]

Der Begriff der kapitalistischen Konkurrenz bezieht sich hier nicht darauf, wie die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals im Allgemeinen den Einzelkapitalien aufgezwungen werden können, sondern wird eigentlich zu einer politischen Kategorie. Es stehen sich Staatenkapitale als Konkurrenten gegenüber, die mit allen Mitteln um die Vorherrschaft auf der Welt kämpfen. Krieg wird, wie Bucharin weiter ausführt, zum Mittel das Anschlusses eines Trusts an einen anderen (z. B. Eroberung Belgiens durch Deutschland) oder eines Agrargebietes an einen Trust (Eroberung Ägyptens durch Britannien).

Bucharins Fehler besteht nicht darin, dass er auf die zentrale Bedeutung bestimmter Eroberungen von Kolonien und Krieg im Rahmen des imperialistischen Systems und der Verfolgung von Interessen nationaler Kapitalgruppen hinweist. Im Gegenteil, angesichts des Flächenbrands des imperialistischen Weltkrieges rückt diese Form der Verfolgung des Kapitalinteresses wie auch die Zentralisierung der Ökonomien im Krieg in den Mittelpunkt des Interesses.

Bucharin begeht hier aber den Fehler, die kapitalistische Konkurrenz als ökonomische Kategorie mit den Aktionen des bürgerlichen Staates, des konzentrierten Gesamtkapitalisten zu identifizieren. Die Tendenz zur staatlichen Zwangsregulierung (und damit auch zum Monopol) während des Krieges interpretiert Bucharin fälschlicherweise als lineare geschichtliche. Die Krise wird für ihn permanent, weil der ständige Kampf um die Neuaufteilung der Welt ständig zur brutalsten Austragungsform, zu Eroberung, Plünderung, Krieg drängt.

Die konzeptionelle Nähe zu Hilferding ist bei den theoretischen Grundvorstellungen (Generalkartelle und Staatstrust) offenkundig, die Schlussfolgerungen sind jedoch entgegengesetzt.

Jedoch problematisch und politisch falsch sind  die Schlussfolgerungen von Bucharin auch. Seine „linksradikale“ Weiterführung von Hilferding kennt im Grunde keine Stabilisierung mehr. Wenn, dann sei diese  nur vorübergehend, nebensächlich angesichts der Permanenz der „Krise“, der ständig sich verschärfenden innerimperialistischen Widersprüche, die eigentlich keine Atempause für die herrschende Klasse erlauben.

In der „Ökonomik der Transformationssperiode“ [lxxxix] radikalisiert er dieses Ansicht noch:

„Die kapitalistische ,Volkswirtschaft’ ist aus einem irrationalen System zu einer rationalen Organisation geworden, aus einer subjektlosen zu einem wirtschaftenden Subjekt. Diese Umwandlung ist durch das Wachstum des Finanzkapitalismus und die Verschmelzung der wirtschaftlichen und politischen Organisation der Bourgeoisie gegeben. Zugleich aber wurde weder die Anarchie der kapitalistischen Produktion überhaupt, noch die Konkurrenz der kapitalistischen Warenproduzenten aufgehoben. Diese Erscheinungen sind nicht nur geblieben, sondern haben sich vertieft, indem sie sich im Rahmen der Weltwirtschaft reproduzieren.” [xc]

Der Kapitalismus sei insgesamt in eine Phase der „negativen erweiterten Reproduktion“ getreten, also eines permanenten Niedergangs, einer Dauerkrise:

„Wir sahen bereits deutlich, daß der Zerfallsprozeß mit absoluter Unvermeidlichkeit einsetzt, nachdem die erweiterte negative Reproduktion den gesellschaftlichen Mehrwert (m) verschluckt hat … Die konkrete Sachlage in der Wirtschaft Europas in den Jahren 1918 – 1920 zeigt deutlich, daß diese Verfallsperiode bereits eingetreten ist und daß Anzeichen für eine Auferstehung des alten Systems der Produktionsverhältnisse fehlen. Umgekehrt. Alle konkreten Tatsachen weisen darauf hin, daß die Elemente des Zerfalls und der revolutionären Auflösung der Verbindungen mit jedem Monat fortschreiten.” [xci]

Und daraus folgt die Schlussfolgerung:

„Aber jetzt dürfen wir behaupten, daß eine Wiederherstellung des alten kapitalistischen Systems unmöglich ist … Die Menschheit steht also vor dem Dilemma: entweder ,Untergang’ der Kultur oder Kommunismus, nichts Drittes ist möglich.[xcii]

Diese theoretische Konzeption führte Bucharin und andere zu mehreren, potentiell fatalen politischen Schlussfolgerungen. Erstens einer sektiererischen Haltung zu demokratischen Fragen (siehe z. B. die nationale Frage) und Teilforderungen. Zweitens machte es ihn zu einem Befürworter einer voluntaristischen Offensive, bei der das konkrete Kräfteverhältnis eine nachrangige Rolle spielte. Hier lässt sich der innere Zusammenhang zwischen einer ultralinken Lesart der Endkrise und „negativen erweiterten Reproduktion“ mit seiner Ablehnung des Friedens von Brest-Litowsk und seiner Befürwortung eines revolutionären Krieges leicht erkennen. Diese politischen Differenzen zwangen Lenin schließlich auch, selbst die Vereinseitigungen der Bucharin’schen Theorie kritisch in den Blick zu nehmen. So kritisiert er in der Diskussion um ein neues Parteiprogramm die Tendenz, den Imperialismus als mehr als eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus zu sehen:

„Der Imperialismus gestaltet in Wirklichkeit den Kapitalismus nicht von Grund aus um, und er kann es auch nicht. Der Imperialismus kompliziert und verschärft die Widersprüche des Kapitalismus, er ‚verknotet’ die Monopole mit der freien Konkurrenz, aber den Austausch, den Markt, die Konkurrenz, die Krisen usw. beseitigen kann der Imperialismus nicht. ( … ) Nicht reine Monopole, sondern Monopole neben dem Austausch, dem Markt, der Konkurrenz, den Krisen – das ist überhaupt die wesentlichste Eigenart des Imperialismus.

Darum ist es theoretisch falsch, die Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. überhaupt zu streichen und sie durch die Analyse des Imperialismus als eines Ganzen zu ‚ersetzen’. Denn ein solches Ganzes gibt es nicht. Es gibt einen Übergang von der Konkurrenz zum Monopol, und daher wird ein Programm, das die allgemeine Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. beibehält und eine Charakteristik der heranwachsenden Monopole hinzufügt, viel richtiger sein, die Wirklichkeit viel exakter wiedergeben. Gerade diese Verkoppelung der einander widersprechenden ‚Prinzipien’ – Konkurrenz und Monopol – ist für den Imperialismus wesentlich, gerade sie bereitet den Zusammenbruch, d. h. die sozialistische Revolution vor.“ [xciii]

In den Diskussionen um den VIII. Parteitag der KPR(B) im Jahr 1919 wendet sich Lenin explizit gegen Bucharins Vorstellungen und deren Untauglichkeit für eine Neufassung des Programms:

„Theoretisch begreift das Gen. Bucharin vollkommen, und er sagt, das Programm müsse konkret sein. Aber etwas begreifen ist eins, es tatsächlich durchführen ist etwas anderes. Das Konkretsein des Gen. Bucharin – das ist eine büchergelehrte Darlegung des Finanzkapitalismus. In der Wirklichkeit beobachten wir verschiedenartige Erscheinungen. In jedem landwirtschaftlichen Gouvernement beobachten wir neben der monopolisierten Industrie freie Konkurrenz. Nirgendwo in der Welt hat der Monopolkapitalismus ohne freie Konkurrenz in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen existiert und wird er je existieren. Ein solches System aufstellen heißt ein vom Leben losgelöstes, ein falsches System aufstellen. (…) Auf dem Standpunkt stehen, es gäbe einen einheitlichen Imperialismus ohne den alten Kapitalismus, heißt das Gewünschte für die Wirklichkeit nehmen.“ [xciv]

Lenins Bemerkungen verweisen auf zwei wichtige Aspekte. Erstens wendet er sich gegen die „leblose“ Vorstellung, dass das Monopol und Finanzkapital die Konkurrenz stetig mehr und mehr verdrängen oder gar ersetzen und die Gesetze des „alten Kapitalismus“ aufheben würden, auch wenn er selbst keine korrekte begriffliche Bestimmung von Konkurrenz und Monopolkapital leistet. Gerade Lenins Insistieren auf der „konkreten Analyse der konkreten Situation“ wappnet gegen den Versuch, komplexe historische Verhältnisse in starre Schemata zu pressen.

Zweitens verweist Lenin in obigen Passagen und seinen längeren Ausführungen darauf, dass Schematismus leicht dazu führt, sich anstelle eines konkreten Aktionsprogramms für eine bestimmte Situation oder Phase des Klassenkampfes mit Generalisierungen, allgemeinen Erwägungen zu begnügen und in einen abstrakten Maximalismus und Pseudoradikalismus abzugleiten.

Unglücklicherweise knüpfte jedoch die Kommunistische Internationale nach Lenins Tod wesentlich an die Methode Bucharins an – das betrifft sowohl den von Sinowjew inspirierten V. Weltkongress als auch Bucharins Programmentwurf für den VI.

Einerseits wurden die programmatischen Errungenschaften der ersten vier Weltkongresse, also die gesamte Methode der Übergangsforderungen, mehr und mehr über Bord geworfen und entweder durch opportunistische (Anglo-Russisches Gewerkschaftskomitee, Chinesische Revolution) oder durch ultralinke Fehler („Dritte Periode“, Ablehnung der Einheitsfrontpolitik, Sozialfaschismustheorie) ersetzt. Vor allem aber verabschiedete sich die Komintern vom Internationalismus und ersetzte diesen durch die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land, einer reaktionären Rechtfertigungsideologie der sich mehr und mehr verfestigenden Herrschaft der Bürokratie in der Sowjetunion unter Stalin.

Die schematische Fassung des Monopolkapitals durch Hilferding und dann auch durch Bucharin ging jedoch in mehrfacher Hinsicht in die theoretische Begründung der Politik der kommunistischen Parteien nach der Wende zur Volksfrontpolitik ein.

Insbesondere die Theorie des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ wurde zur Leitideologie von Parteien wie der DKP oder KPÖ. Diese Konzeption knüpfte an Vorstellungen von Hilferding und Bucharin an, namentlich, dass die großen Kapitalgruppen und der Staat miteinander verschmolzen wären und die gesamte Wirtschaft und sozialen Verhältnisse dominieren würden. Dies würde das Monopolkapital und die von ihm dominierten politischen Institutionen in einen Gegensatz zu allen anderen Teilen der Gesellschaft, ArbeiterInnenklasse, KleinbürgerInnentum bis hin zum „nichtmonopolistischen“ Kapital, bringen. Gegen die Herrschaft des Monopols bräuchte es ein Bündnis all dieser Klassen, die gemeinsam eine „antimonopolistische Demokratie“ errichten sollten, die ihrerseits irgendwann auf wundersame Weise zur Diktatur des Proletariats führen würde, ganz so, wie die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung irgendwann in den friedlichen Übergang zum Sozialismus münden sollte.

Im Grunde war und ist die „antimonopolistische Demokratie“ nur eine Neuauflage reformistischer Politik und der Volksfrontpolitik, die über ein Bündnis mit einem „fortschrittlichen“, in diesem Fall dem „nichtmonopolistischen“, also eigentlich ökonomisch rückständigsten, Teil des Kapitals realisiert werden sollte. Auch wenn es nie zu einer solchen Regierung kam – am ehesten wurden noch Regierungsbeteiligungen westlicher KPen an sozialdemokratischen Regierungen in diesem Sinn interpretiert –, so waren die Wirkungen dieser Strategie auf die ArbeiterInnenklasse dieselben wie bei jeder reformistischen. Um „antimonopolistische“ Bündnisse überhaupt herstellen zu können, mussten selbstverständlich auch die Interessen des „nichtmonopolistischen“ Kapitals berücksichtig werden, im Klartext also die der ArbeiterInnenklasse mit jenen dieser Kapitalfraktion in Einklang gebracht, also letztlich untergeordnet werden.

Anders jedoch als die Theorie Bucharins – von Lenin ganz zu schweigen – bildete in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der internationale Klassenkampf allenfalls eine Nebenrolle. Das „antimonopolistische“ Bündnis war immer als eines in einem Nationalstaat gedacht. Dies drückte sich auch in den Programmen der eigentlich reformistischen „Kommunistischen Parteien“ der Nachkriegsperiode aus, die einen „britischen“, „italienischen“ usw. Weg zum Sozialismus versprachen. Die KPÖ nannte ihr Programm gar „Sozialismus in rot-weiß-roten Farben“. Rückblickend erscheint das fast schon wie eine unfreiwillige Selbstparodie. Nichtsdestotrotz sollten die verheerenden Auswirkungen dieser Theorien, zu deren Rechtfertigung reihenweise Leninzitate herangezogen und oft genug auch entstellt wurden, nicht unterschätzt werden. Die sogenannte „Stamokaptheorie“ und ähnliche Vorstellungen über den zeitgenössischen Imperialismus prägten die Politik der westlichen Kommunistischen Parteien und etlicher linker AktivistInnen für ganze Generationen – und banden sie letztlich an eine reformistische Theorie und Praxis.

Die Kritik dieser Theorie bildete daher eine wichtige Aufgabe von RevolutionärInnen, genauso wie jeder Rückbezug darauf, jede Rehabilitierung dieser Konzeption bekämpft werden muss.

Dies erfordert freilich nicht nur Kritik, sondern auch eine ständige Aktualisierung der Imperialismustheorie selbst.

11. Wertgesetz auf dem Weltmarkt

11.1 Wertbildung und gesellschaftliches Gesamtkapital

Die Diskussionen über die Modifikation des Wertgesetzes und dessen generelle Wirkungsweise auf dem Weltmarkt, die in der deutschsprachigen Linken Anfang der 1970er Jahre geführt wurden, versuchten, einige dieser Probleme und offene Stellen der Lenin’schen Theorie und ihre Entstellungen zu überwinden. Bei allen Schwächen, die eine Reihe dieser Beiträge auch hatte – insbesondere die mit einer rein begriffslogischen Betrachtung der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und der damit einhergehenden Verwerfung des Imperialismus- und Epochenbegriffs –, warfen sie wichtige Fragen auf, die jede Imperialismustheorie auch zu beantworten hat.

Schließlich hatten sich die Erscheinungsformen des Imperialismus seit dem Tod Lenins und seit der frühen Kommunistischen Internationale nach dem 2. Weltkrieg fundamental verändert, und dies bedurfte daher einer theoretischen Erklärung und Begründung. Die Frage der werttheoretischen Fundierung der internationalen Beziehungen oder generell des Imperialismus drängte sich geradezu auf. Wie eigentlich das Wertgesetz auf dem Weltmarkt wirkt, wie es modifiziert wird, wie Extraprofit aus den halbkolonialen Ländern gezogen werden kann usw. usf. musste notwendigerweise beantwortet werden. Mit dem Zusammenbruch der großen Kolonialreiche und der folgenden Entkolonialisierung, also dem Übergang zur halbkolonialen Form der imperialistischen Durchdringung und Ausbeutung der sog. Dritten Welt, musste notwendigerweise auch die Frage der Wirkung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt eine größere Bedeutung einnehmen als in der Ära des Kolonialsystems.

Die Behandlung dieser Fragestellung schließt notwendigerweise eine Betrachtung der Wertbestimmung selbst ein, die wir auch an den Beginn der folgenden Ausführungen stellen werden. Hier liegt zweifellos ein Verdienst verschiedener AutorInnen dieser Strömung, die sich um Zeitschriften wie „Probleme des Klassenkampfes“ gruppierte. [xcv] Die folgende Darstellung verdankt diesen Beiträgen wichtige Anregungen, insbesondere Wolfgang Schoellers „Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals“ [xcvi].

Um die Modifikationen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt genauer darstellen zu können, müssen wir kurz wesentliche Momente der Wertbestimmung im Rahmen einer Nationalökonomie, genauer die Herstellung eines nationalen Gesamtkapitals betrachten.

a) Wertbestimmung der Ware

Wenn wir der Marx’schen Theorie folgen, so bereitet die Wertbestimmung einer Ware zunächst keine weiteren Schwierigkeiten. „Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.“[xcvii]

Der Wert einer Ware wird durch die Menge der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit bestimmt, die dem vorherrschenden Entwicklungsgrad einer Ökonomie zu einem bestimmten Zeitpunkt entspricht. Dies kann, ja wird mit dem Fortschritt der Produktionsbedingungen wechseln, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt kann sie als gegeben betrachtet werden. Den Durchschnitt darf man außerdem auch nicht einfach als „statistisches Mittel“ ansehen, sondern als vorherrschende Produktionsbedingung.

In einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft – also einer, deren Produktion auf der großen Industrie beruht – erfolgte die Reduktion der verschiedenen Arbeiten auf den jeweiligen gesellschaftlichen Durchschnitt, vermittelt durch die Zirkulation der Waren und des Kapitals.

In diesem Zusammenhang erhalten auch ergänzende Bemerkungen von Marx, die sich auf die Realisierung des Werts beziehen und Gebrauchsquanten der Arbeit in die Wertbestimmung einfließen lassen, ihre Bedeutung:

„Wie es Bedingung für die Waren, daß sie zu ihrem Wert verkauft werden, daß nur die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in ihnen enthalten, so für eine ganze Produktionssphäre des Kapitals, daß von der Gesamtarbeitszeit der Gesellschaft nur der notwendige Teil auf diese besondre Sphäre verwandt sei, nur die Arbeitszeit, die zur Befriedigung des gesellschaftlichen Bedürfnisses (demand) erheischt. Wenn mehr, so mag zwar jede einzelne Ware nur die notwendige Arbeitszeit enthalten; die Summe enthält mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, ganz wie die einzelne Ware zwar Gebrauchswert hat, die Summe aber, unter den gegebnen Voraussetzungen, einen Teil ihres Gebrauchswerts verliert.“ [xcviii]

Diese ergänzende und untergeordnete Bestimmung bildet einen notwendigen Bestandteil jeder Gesellschaft, die auf Warenproduktion basiert, da sich immer erst im Nachhinein, also im Kauf/Verkauf der Waren herausstellt, ob eine bestimmte Arbeit auch wirklich einen Gebrauchswert für andere darstellt, also KäuferIn findet. Findet sie diese nicht, wird das Resultat der Arbeit entwertet, bleibt als nutzlose Ware liegen, wird vernichtet. Gesamtgesellschaftlich erzwingt dies eine Anpassung der Produktion und der Verteilung der Arbeit auf die verschiedenen Branchen. Insofern stellt dieser zweite Aspekt der Wertbestimmung eine Form dar, die gesellschaftliche Durchschnittsarbeit immer wieder neu zu bestimmen.

b) Extramehrwert

Die Steigerung der Produktivität der Ware reduziert den Wert der Ware. Im selben Zeitraum werden zwar mehr Waren, also auch mehr Gebrauchswerte geschaffen, es wird aber kein zusätzlicher Wert gebildet, weil keine zusätzliche Arbeitsmenge verbraucht wird.

Der/die einzelne KapitalistIn jedoch, der/die zu überdurchschnittlichen gesellschaftlichen Bedingungen produziert, also in der Regel über höhere organische Zusammensetzung seines Kapitals verfügt, was zumeist einer fortgeschritteneren technischen Ausstattung entspricht, kann gegenüber der Konkurrenz, die zu durchschnittlichen Bedingungen schafft, einen Extramehrwert erzielen. Diesen eignet sich der/die produktivere KapitalistIn einer Branche an, indem er/sie seine/ihre Waren entweder über ihren individuellen Kosten verkaufen kann und damit mehr Mehrwert aneignet. Oder er/sie kann die Waren zum Wert verkaufen und damit die Konkurrenz unterbieten, da der Wert seiner Waren unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegt. Diese wird dann ihrerseits gezwungen, entweder unter Wert zu verkaufen oder den Verlust von Marktanteilen zu riskieren. In jedem Fall wird sie versuchen müssen, den Produktivitätsvorsprung des/r fortgeschritteneren WarenproduzentIn einzuholen.

Höhere Intensität der Arbeit bedeutet, dass z. B. durch Verdichtung der Arbeit in derselben Zeit mehr Arbeit verausgabt wird. Das heißt, es werden/wird nicht nur mehr Gebrauchswerte, also Warenquanta, geschaffen, sondern auch größerer Wert. Auch das Kapital, das eine höhere Intensität der Arbeit einsetzt als der Durchschnitt, kann sich Extramehrwert aneignen.

Es findet in diesen Fällen jedoch kein Werttransfer statt, sondern das Einzelkapital nutzt zeitweilig günstigere Bedingungen, die solange bestehen, wie es über den gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen produzieren kann.

Schoeller beschreibt das als „ungleichen Tausch von Arbeitsquanta“: „Die ‚Substanz’ des Extramehrwerts beruht nicht auf einer Umverteilung von Werten innerhalb einer Branche, sondern darauf, daß das produktivste Kapital pro aufgewendeter Menge Arbeitszeit ein vergleichsweise umfangreicheres Mehrprodukt erhält und sich somit durch einen ungleichen Tausch von Arbeitsquanta in der Zirkulation mehr Ansprüche auf fremde produzierte Warenwerte aneignen kann, als dieses selbst in die Zirkulation gegeben hat.“ [xcix]

c) Marktwert und Marktpreis

Die Veränderungen der Produktivität sowohl innerhalb einer Branche wie zwischen den Branchen werden über die Bewegungen des Marktpreises um den Marktwert vermittelt. Nehmen wir z. B. eine Branche mit Unternehmen verschiedener Produktionsbedingungen an. Bei relativ ausgeglichen Verhältnissen bestimmen die Unternehmen mittlerer Produktionsbedingungen den Marktwert, um den die Preise bei kurzzeitigen Schwankungen von Angebot und Nachfrage oszillieren.

Bei anhaltenden Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage jedoch kann es auch zu einer Verschiebung des Marktwertes kommen. Wenn z. B. die Unternehmen mit mittleren und überdurchschnittlichen Produktionsbedingungen die Bedürfnisse der (zahlungsfähigen) Nachfrage nicht mehr bedienen können, kann der Marktwert von Unternehmen mit den schlechtesten Produktionsbedingungen bestimmt werden. Auch dies kann eine Quelle von Extramehrwert sein, wie oben beschrieben, indem Unternehmen mit höheren oder durchschnittlichen Produktionsbedingungen ihre Waren unter Wert verkaufen können.

Ein weiterer Aspekt tritt hier hinzu, der jedoch von den TheoretikerInnen der „Ableitungsschule“ wenig behandelt wird, nämlich dass Zentralisations- und Monopolisierungstendenzen des Kapitals eine solche Situation auch verlängern können, wie natürlich das große Kapital generell auf Verstetigung solcher Bedingungen drängt. Dies kann durchaus unterschiedlich behauptet werden, einerseits durch Anhalten von gesellschaftlicher Entwicklung (z. B. indem wie etwa im Energiesektor Innovation zurückgehalten wird, um auf fossilen Energieträgern basierende Produktion weiterzuführen), andererseits auch durch die Jagd nach Extramehrwert (indem die marktbeherrschenden Konzerne Innovationen monopolisieren, ihre Konkurrenz faktisch von diesen ausschließen und ihnen überhaupt erst keinen Marktzugang ermöglichen. Solche Fälle, wo faktisch Monopolpreise durchgesetzt werden, finden wir im heutigen Kapitalismus zuhauf, z. B. im Energiesektor, wo wenige Konzerne, die die Märkte unter sich aufgeteilt haben, durchsetzen, dass der „Übergang“ zu anderen Energieträgern von der Gesellschaft subventioniert wird und Preise für die KonsumentInnen entstehen, die einen Monopolprofit für faktisch jede/n ProduzentIn garantieren.

d) Durchschnittsprofit, Werttransfer

Die gesamtgesellschaftliche Verteilung der Waren wird über die Durchschnittsprofitrate und die Transformation der Werte zu Produktionspreisen vermittelt. Das Kapital mit einer höheren organischen Zusammensetzung eignet sich über die Ausgleichsbewegung der Profitrate und die Herstellung einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate einen größeren Teil des Mehrwerts an. Es findet also ein Werttransfer statt innerhalb der KapitalistInnenklasse selbst.

Die Ausgleichsbewegung der Profitrate konstituiert auch einen Druck zur Angleichung der Produktionsbedingungen innerhalb verschiedener Branchen sowie die Tendenz zum Fluss von Kapital in neue Anlagesphären.

Sie zwingt die Kapitale mit geringerer organischer Zusammensetzung zur Erneuerung des konstanten Kapitals, um ihren Konkurrenznachteil auszugleichen. Schließlich konstituiert sich mit der Ausgleichsbewegung der Profitrate auch ein gemeinsames Interesse der KapitalistInnenklasse hinsichtlich der Steigerung der Ausbeutungsrate. Wie auch immer der Gesamtprofit zwischen verschiedenen Branchen und Formen des Kapitals, ob als industrieller Gewinn, Handelsprofit oder Zins, verteilt sein mag: Die Masse, die verteilt werden kann, steigt natürlich mit der Masse der Mehrarbeit, die sich das Gesamtkapital aneignet.

e) Zentralisation, Monopolisierungstendenzen und Finanzkapital

Unter den einzelnen konkurrierenden Kapitalen versuchen jene, die eine marktbeherrschende Stellung erlangt haben, die z. B. Kartelle, Trusts, Monopole oder Oligopole in einer oder mehreren Branchen bilden, ihre Stellung zu verewigen. Dies  liegt schon in der Logik der Zentralisation des Kapitals.

In der Diskussion um die Bewegung der Profitrate führt Marx auch eine Reihe von Faktoren an, die dem Fall der Profitrate entgegenwirken. Einige betreffen direkt die Erhöhung der Mehrwertrate, andere die Herausbildung von gesellschaftlichen Formen des Kapitals (Aktiengesellschaft, Kredit), schließlich die Ausdehnung der Operationen des Kapitals auf dem Weltmarkt (Waren- und Kapitalverkehr; Reduktion des Wertes der Ware Arbeitskraft infolge des Imports günstigerer Waren).

Die Entwicklung von gesellschaftlichen Formen des Kapitals inkludiert zugleich auch eine Tendenz, die Bewegung der Profitrate zu modifizieren. Nicht zuletzt vermittelt das Finanzkapital (in Form des Kredits, in Form der Verbindung der großen industriellen oder auch kommerziellen Kapitale mit Banken und Finanzinstitutionen) die Neuinvestitionen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

Daraus entstehende Zentralisation und Monopolisierungstendenzen führen daher immer wieder dazu, die Ausgleichsbewegung der Profitrate zu modifizieren oder einschränken zu können. Durch die Sicherung von Monopolprofiten können sich die stärker zentralisierten, dominierenden Sektoren der Industrie der Ausgleichsbewegung der Profitrate zeitweilig entziehen. Es findet ein Werttransfer vom nichtmonopolisierten Sektor zum zentralisierteren statt.

Diese Bewegung darf jedoch nicht als eine lineare Entwicklung hin zu einem Staatskapitalismus missverstanden werden. Das Monopol stellt nicht „die“ Form des vergesellschafteten Kapitals dar, sondern nur eine von ihnen. So war z. B. die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg  in den imperialistischen Zentren in der Regel von der Konkurrenz verschiedener Großkapitale auf den nationalen Märkten geprägt, und zwar sowohl in der Phase des „langen Booms“ als auch im Neoliberalismus. Staatlich monopolisierte Sektoren, die privatkapitalistisch lange als unrentabel galten (z. B. Infrastruktur, Eisenbahnen, Gesundheitssektor, Bildungswesen) wurden privatisiert und zur Quelle privater Akkumulation. Ein ähnlicher Prozess kann bei der Privatisierung ehemaliger staatlicher Monopole (z. B. Post, Telekommunikation) beobachtet werden, die sich zu riesigen privatwirtschaftlichen Konzernen (teilweise auch zu privaten Monopolen) transformierten.

Die Zentralisationstendenz freilich ist am größten im Bereich des zinstragenden Kapitals, wo sie zugleich, die imperialistische Epoche in ihrer Gesamtheit betrachtet, mit großen Formveränderungen einhergeht. Damit verändert sich die relative Bedeutung von Banken, Börse, Fonds, Versicherungen in den verschiedenen Entwicklungsphasen.

Gemeinsam ist der Herausbildung des Finanzkapitals jedoch, dass das zinstragende Kapital, wie auch immer das Verhältnis zum industriellen Kapital sei, letzteres dominiert, weil ersteres die Akkumulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals vermittelt. Mit der wachsenden Mindestgröße an Kapital, die für industrielle Unternehmungen erforderlich ist, um überhaupt am Markt agieren zu können, kann dieses Startkapital nur über Kapitalmärkte aufgebracht werden, muss also  über das Finanzkapital laufen.

Seine dominierende Rolle hängt ferner damit zusammen, dass  es die abstrakteste Form des Kapitals darstellt, dass seine Bewegung die Form G – G’ annimmt, in der jeder Bezug zur Mehrwertproduktion als Basis dieser Bewegung ausgelöscht scheint. Mit seiner eigenen Entwicklung nimmt diese Bewegung immer bizarrere, abgeleitetere Formen an. Das Kapital versucht, sich gewissermaßen von den Schranken seiner Expansion loszureißen, die mit der Produktion und Realisierung des Mehrwerts unvermeidbar einhergehen, z. B. durch die Fixierung des Kapitals in Produktionsmittel und Arbeitskraft während der Produktion oder in Warenform beim kommerziellen Kapital.

Die Reduktion der Lagerhaltung, Just-in-Time-Produktion, Verringerung der Umschlagszeit sind Mittel, nicht nur den Wert des konstanten Kapitals zu reduzieren, sondern auch die Bindung des Kapitals an die Produktion möglichst zu verringern. Wie gering diese Transaktionszeit und Kosten auch werden mögen, wie sehr die Produktion auch „verschlankt“ werden mag, letztlich kann sie nie eine zeitliche Fixierung des konstanten Kapitals gänzlich überwinden. Im Gegenteil, alle diese Versuche gehen oft auch mit einer Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und des im Kapitalstock gebundenen Teils des Gesamtkapitals einher. So sehr das Finanzkapital auch versucht, sich von diesen Fixierungen freizumachen, letztlich kann es dieser Bindung nicht entfliehen.

Als herrschendes Kapital weist das Finanzkapital die stärksten Tendenzen zur Monopolisierung, zur Verewigung seiner beherrschenden Stellung auf und verfügt dazu auch über enorme Hebel. Umgekehrt ist seine Bewegung, sind seine Investitionsentscheidungen selbst an Profitabilitätserwartungen orientiert und damit über die Konkurrenz vermittelt. Wo sie selbst bestimmte Operationen für Nationalökonomien vornehmen (z. B. Schulden in der sog. Dritten Welt finanzieren oder auf monopolisierten Märkten wie dem Wohnungsmarkt agieren), können sie natürlich auch reinste Formen von Parasitismus und Plünderung annehmen.

Mit der Entwicklung des Außenhandels und der zentralen Bedeutung des Kapitalexports vervielfacht sich die Macht des Finanzkapitals.

f) Begriff des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und der allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion

Bevor wir jedoch auf die globalen Verhältnisse eingehen, müssen wir uns noch mit einer Kategorie beschäftigen, die für das Verständnis des Imperialismus von zentraler Bedeutung ist: dem Begriff des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

In jeder imperialistischen Ökonomie entwickelt sich ein gesellschaftliches Gesamtkapital, das die allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion sichert. Diesem kommt eine eigenständige Realität zu.

Marx zeigt in den drei Bänden des Kapitals in verschiedenen Schritten, wie das Kapital selbst solche allgemeinen Durchschnittsbedingungen der Reproduktion erzeugt, die den einzelnen Kapitalien aufgezwungen werden, bzw. über welche Mechanismen eine solche Ausgleichung erfolgt (z. B. bei der Diskussion von Metamorphosen des Kapitals im 2. Band, bei den Reproduktionsschemata, bei der Diskussion um Profit, Profitrate, Zins, …).

Den „Durchschnittsbedingungen“ kommt eine Realität zu, die nicht bloß eine Addition einzelner Kapitale darstellt oder deren Ausgleichung. Das gesellschaftliche Gesamtkapital erstreckt sich auf mehr als die Summe der Einzelkapitale. Es schließt vielmehr auch die Sicherung allgemeiner Reproduktionsbedingungen ein.

Dazu gehören allgemeine gesellschaftliche Produktivkräfte, ob diese nun privat oder staatlich geleistet werden wie z. B. Kommunikation, Infrastruktur, Verkehr, Wissenschaft. In diesen Bereich fallen auch die Sicherung der Geldstabilität, die Festlegung einer allgemeinen Zinsrate oder die Währungspolitik. Ein weiteres, für die Kapitalakkumulation wesentliches, Moment besteht in der Sicherung eines bestimmten Niveaus der Reproduktion der Arbeitskraft, so dass genügend hinreichend ausgebildete Arbeitskräfte für die Erfordernisse des Kapitals und die Institutionen zur Sicherung der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion produziert und reproduziert werden.

Hier tritt der Staat als ideeller Gesamtkapitalist auf den Plan, eben nicht bloß als passiver Garant des Privateigentums, sondern als Verfechter des Interesses des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, nicht bloß einzelner Kapitale oder einiger Kapitalgruppen. Der Staat des Kapitals ist zwar über verschiedene Institutionen staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Art (Stiftungen, Unternehmerverbände, Parteien, Medien) mit dem Kapital verbunden. Er muss aber zugleich bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den konkurrierenden Einzelkapitalen bleiben, um seine Rolle als Vermittler des Gesamtinteresses der herrschenden Klasse überhaupt nach innen wie nach außen erfüllen zu können.

Um die Bedeutung der Konstituierung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals zu verstehen, wollen wir daher noch einmal schematisch seine wesentlichen Leistungen für die Sicherung und Reproduktion des Kapitalverhältnisses anführen:

  • Ausgleichsbewegung zu ideellem Durchschnitt, Werttransfer zwischen Branchen, damit überhaupt erst Ausgleichung der   Profitrate möglich ist
  • Etablierung eines durchschnittlichen Grades der Intensität und Produktivität der Arbeit
  • Etablierung einer nationalen Währung, Sicherung des Geldwerts
  • Sicherung der allgemeinen Produktions- und Reproduktionsbedingungen des Kapitals
  • Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Vermittlung des Gesamtinteresses des Kapitals.

Die Herausbildung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals kennzeichnet die Entwicklung praktisch aller imperialistischer Staaten. Wie wir sehen werden, ist sie jedoch wesentlich verschieden, wenn wir die von imperialistischen Mächten beherrschte Welt, – sei sie kolonial oder halbkolonial verfasst – betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir auf die Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt eingehen und dieses kurz umreißen. Anders als in der Nationalökonomie existiert kein „Weltstaat“, keine Weltwährung, die unabhängig von den nationalen Währungen wäre, und auch keine Ausgleichsbewegung der Profitraten.

11.2 Weltmarkt und kapitalistisches System

Der Weltmarkt ist für Marx und Engels, wie wir schon gesehen haben, im Begriff des Kapitals eingeschlossen. Wir dürfen daher die Betrachtung des Weltmarktes, auch wenn wir oben den Rahmen eines nationalen Gesamtkapitals skizziert haben, nicht so auffassen, als würden Wert, Preis, Produktion, Profitrate, Akkumulation usw. „zuerst“ auf nationaler Basis entstehen und bestimmt werden und erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium auf den Weltmarkt „expandieren“.

Dieser stellt vielmehr von Beginn an eine Realität dar, in deren Rahmen sich das Kapital bewegt und entwickelt. Der Weltmarkt ist also etwas von Beginn an Gesetztes, Vorhandenes – zugleich entwickelt er sich aber auch. Die Entdeckung der Amerikas, der sog. Dreieckhandel zwischen Afrika, den Amerikas und Europa, v. a. Britanniens, belegen, wie eng die Entwicklung des Kapitalismus mit dem Weltmarkt verbunden ist.

Dessen Realität und damit auch jene eines globalen Austauschs zeigen sich zudem auch an der Bestimmung der Bedürfnisse einer Gesellschaft und der verschiedenen Klassen, die notwendigerweise von der vorherrschenden, entwickeltsten kapitalistischen Ökonomie bestimmt werden.

Schließlich verändert sich auch die Bedeutung des Weltmarktes für die nationale Kapitalentwicklung mit Entwicklung und Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise. So erweist sich beispielsweise im 19. Jahrhundert, dass Schutzzölle und eine Abschottung des nationalen Marktes eine nachholende und aufholende industrielle Entwicklung v. a. Deutschlands und der USA, später auch Japans, ermöglichten.

Auch die Hauptformen der Bewegung am Weltmarkt ändern sich mit der Entwicklung der Produktionsweise, wie die von Hilferding, Lenin und anderen konstatierte zunehmende und zentrale Bedeutung des Kapitalexports, im Verhältnis zum Warenexport, in der imperialistischen Epoche veranschaulichen.

Nun aber zur Frage der Modifikationen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt. Im ersten Band des „Kapital“ verweist Marx selbst darauf  bei der Diskussion der nationalen Verschiedenheit der Arbeitslöhne und richtet die Aufmerksamkeit auf die  Frage von Intensität und Produktivität der nationalen Durchschnittsarbeiten auf dem Weltmarkt:

„In jedem Lande gilt eine gewisse mittlere Intensität der Arbeit, unter welcher die Arbeit bei Produktion einer Ware mehr als die gesellschaftlich notwendige Zeit verbraucht, und daher nicht als Arbeit von normaler Qualität zählt. Nur ein über den nationalen Durchschnitt sich erhebender Intensitätsgrad ändert, in einem gegebnen Lande, das Maß des Werts durch die bloße Dauer der Arbeitszeit. Anders auf dem Weltmarkt, dessen integrierende Teile die einzelnen Länder sind. Die mittlere Intensität der Arbeit wechselt von Land zu Land; sie ist hier größer, dort kleiner. Diese nationalen Durchschnitte bilden also eine Stufenleiter, deren Maßeinheit die Durchschnittseinheit der universellen Arbeit ist. Verglichen mit der weniger intensiven, produziert also die intensivere nationale Arbeit in gleicher Zeit mehr Wert, der sich in mehr Geld ausdrückt.

Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, daß auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt, sooft die produktivere Nation nicht durch die Konkurrenz gezwungen wird, den Verkaufspreis ihrer Ware auf ihren Wert zu senken.

Im Maß, wie in einem Lande die kapitalistische Produktion entwickelt ist, im selben Maß erheben sich dort auch die nationale Intensität und Produktivität der Arbeit über das internationale Niveau. Die verschiedenen Warenquanta derselben Art, die in verschiedenen Ländern in gleicher Arbeitszeit produziert werden, haben also ungleiche internationale Werte, die sich in verschiedenen Preisen ausdrücken, d. h. in je nach den internationalen Werten verschiednen Geldsummen. Der relative Wert des Geldes wird also kleiner sein bei der Nation mit entwickelterer kapitalistischer Produktionsweise als bei der mit wenig entwickelter. Folgt also, daß der nominelle Arbeitslohn, das Äquivalent der Arbeitskraft ausgedrückt in Geld, ebenfalls höher sein wird bei der ersten Nation als bei der zweiten; was keineswegs besagt, daß dies auch für den wirklichen Lohn gilt, d. h. für die dem Arbeiter zur Verfügung gestellten Lebensmittel.“[c]

Diese Passage nimmt eine bedeutende Stellung in den gesamten Debatten  um die Modifikation des Wertgesetzes ein, weil hier jedenfalls eine entscheidende Form,  nämlich wie Ungleichheit zwischen verschiedenen Nationalökonomien unterschiedlicher Entwicklungsstufen auf dem Weltmarkt reproduziert und verstärkt wird, in den Blick genommen wird.

Wenn wir von einer Wertbildung im nationalen Rahmen und deren Erscheinen auf dem Weltmarkt ausgehen, so wirft Marx hier zuerst die Frage auf, wie unterschiedliche, im nationalen Rahmen gebildete Durchschnittsarbeit auf dem Weltmarkt auftritt. Höhere Intensität der Arbeit wie auch höhere Produktivität werden auf eine Stufenleiter der „universellen Arbeit“ bezogen.

Dies hat zur Folge, dass die Waren aus den Ländern mit unterschiedlicher Durchschnittsintensität und höherer Produktivität auf dem Weltmarkt verschieden „gewichtet“ sind, sich also in mehr oder weniger Geld darstellen. Die Waren jener aus der entwickelteren kapitalistischen Nation werden also billiger sein und daher auf dem Weltmarkt einen Vorteil genießen, solange die andere Nation nicht an dieses Niveau anschließen kann. Dies bedeutet, dass zwar kein Werttransfer von einem Kapital/Land in das andere analog zum Werttransfer bei der Ausgleichsbewegung der Profitrate stattfindet, wohl aber kann das Land mit höherer Durchschnittsproduktivität einen Extramehrwert erzielen, analog zum Wertbildungsprozess auf dem nationalen Markt.

Im Rahmen einer nationalen Ökonomie kann sich ein Kapital den Extramehrwert in der Regel nur vorübergehend aneignen. Anders im System der universellen Arbeit. Natürlich kann auch dort immer wieder eine Angleichung in bestimmten Entwicklungsphasen stattfinden und bis zu einem gewissen – aber auch nur bis zu einem gewissen – Grad können die weniger entwickelten Ökonomien dem Nachteil durch Abwertungen der nationalen Währung entgegenwirken. Aber generell zeichnet die Weltwirtschaft auf Grund der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Nationalökonomien und aufgrund der internationalen Arbeitsteilung, in die „abhängige Länder“ verspätet und immer schon auf den Weltmarkt bezogen eintreten, eine viel größere Festigkeit dieser Ungleichheit. Sie wird im imperialistischen System nicht rasch überwunden, sondern auf Dauer gestellt und bildet daher eine bedeutende Form der Aneignung von in den Halbkolonien geschaffenem Reichtum durch die (Gesamt-)Kapitale der imperialistischen Metropolen.

Auf internationaler Ebene findet – wie wir an anderer Stelle gezeigt haben und im Gegensatz zu den theoretischen Grundnahmen verschiedener Theorie des ungleichen Tauschs – keine Ausgleichung der Profitraten zu einer internationalen Durchschnittsprofitrate statt. Diese findet auch in der imperialistischen Epoche im nationalstaatlichen Rahmen statt. Umgekehrt dürfen wir uns aber die Entwicklung des Weltmarktes, die Entstehung internationaler Wertschöpfungsketten usw. nicht so verstellen, dass das Verhältnis zwischen nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft hinsichtlich der Bildung von Profitraten ein konstantes, unveränderliches wäre.

Der Nationalstaat stellt nicht nur einen Garanten des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und einen Rahmen zur Bildung nationaler Profitraten dar, er bildet auch eine Schranke für die Internationalisierungstendenzen des Kapitals, einen inneren Widerspruch. Mit seiner eigenen Entwicklung versucht das Kapital immer wieder,  die Enge des Nationalstaates zu überwinden, was sich z. B. in der Ausdehnung des Weltmarktes und der Entstehung globaler Produktionsketten zeigt bis hin zur Herausbildung regelrechter Weltmarktbranchen. In diesen Branchen können wir durchaus eine Tendenz zur Herausbildung internationaler Produktionspreise und zu einer Ausgleichung von Profitraten auf Branchenebene beobachten, die jedoch immer prekär bleibt, weil  es keine globale Ausgleichung zu einer Durchschnittsprofitrate gibt oder geben kann.

Wo sich solche Tendenzen zur Ausgleichung einer branchenübergreifenden internationalen Profitrate herausbilden, entwickeln sich logischerweise auch Formen des Werttransfers auf globaler Ebene, ähnlich jener im nationalen Rahmen. Aber diese werden nicht nur durch andere Formen des Weltmarktes (Währungsbewegungen etc.) durchkreuzt, sondern bleiben im Rahmen des kapitalistischen Gesamtsystems letztlich partiell, weil es zu einer Angleichung der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der nationalen Gesamtkapitale nicht kommt und auch  nicht kommen kann.

Entscheidend für unsere Betrachtung ist daher, dass wir diese Tendenzen als Widerspruch fassen müssen, der im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie nicht aufgelöst werden kann, sondern nur im Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Bisher haben wir die Fragen des Tausches von Waren auf dem Weltmarkt behandelt. Marx verweist auf einige andere, folgenreiche Wirkungen des Welthandels auf die nationalen Profitraten und Akkumulationsbewegungen, die in der imperialistischen Epoche eine wichtige Rolle spielen.

Im dritten Band des „Kapital“ geht er direkt auf den Außenhandel ein, wo er diesen unter den „entgegenwirkenden“ Ursachen zum Fall der Profitrate behandelt.

„Soweit der auswärtige Handel teils die Elemente des konstanten Kapitals, teils die notwendigen Lebensmittel, worin das variable Kapital sich umsetzt, verwohlfeilert, wirkt er steigernd auf die Profitrate, indem er die Rate des Mehrwerts hebt und den Wert des konstanten Kapitals senkt. Er wirkt überhaupt in diesem Sinn, indem er erlaubt, die Stufenleiter der Produktion zu erweitern. Damit beschleunigt er einerseits die Akkumulation, andrerseits aber auch das Sinken des variablen Kapitals gegen das konstante und damit den Fall der Profitrate. Ebenso ist die Ausdehnung des auswärtigen Handels, obgleich in der Kindheit der kapitalistischen Produktionsweise deren Basis, in ihrem Fortschritt, durch die innere Notwendigkeit dieser Produktionsweise, durch ihr Bedürfnis nach stets ausgedehnterm Markt, ihr eignes Produkt geworden. Es zeigt sich hier wieder dieselbe Zwieschlächtigkeit der Wirkung.“ [ci]

Der Import billigerer Lebensmittel und Konsumgüter für die ArbeiterInnenklasse führt zur Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft und damit, bei sonst gleichbleibenden Bedingungen, zur Erhöhung des relativen Mehrwerts und der Profitrate. Diese Faktoren haben bis heute enorme Bedeutung, weil sie ein Stück weit die Senkungen der Löhne, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, Ausweitung von Billiglohnsektoren im Zuge neoliberaler Angriffe abfedern und zugleich eine Erhöhung der Ausbeutungsrate erlauben. Der Aufstieg Chinas und anderer asiatischer Ökonomien als industrieller Produktionsstandort von Konsumgütern spielte für die Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft v. a. in den USA in den letzten Jahrzehnten eine wesentliche Rolle.

Zweitens erfüllt der Außenhandel auch eine Funktion hinsichtlich der Akkumulationsbedingungen des nationalen Gesamtkapitals. Der akkumulierte Mehrwert kann so zur Erweiterung der Produktion für den Weltmarkt oder in anderen Ländern investiert werden und Anlage suchen, die das Kapital sonst auf dem begrenzten nationalen Markt nicht mehr finden kann. Kapitalexport stellt in diesem Zusammenhang einen Weg dar, auf die Überakkumulation im imperialistischen Zentrum zu reagieren und überschüssiges Kapital im Ausland zu investieren.

Drittens findet das Kapital aus den fortgeschrittenen (imperialistischen) Ländern aufgrund der höheren Produktivität der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit gegenüber jenem aus Kolonien und Halbkolonien Konkurrenzvorteile vor und kann sich so einen Extramehrwert aneignen (siehe oben).

Viertens erlaubt die geringere organische Zusammensetzung des Kapitals in der Halbkolonie dem investierten Kapital mit höherer organischer Zusammensetzung aus dem imperialistischen Land, einen höheren Extraprofit/Wertanteil aus der Ausgleichung der Durchschnittsprofitrate in der Halbkolonie zu ziehen. Es findet hier ein Werttransfer innerhalb der KapitalistInnenklasse (wie bei jeder Ausgleichsbewegung der Profitrate), und zwar von den halbkolonialen zu den imperialistischen Unternehmen statt. Dieser bildet nicht nur eine wesentliche Quelle von Extraprofiten, sondern erklärt auch, warum im halbkolonialen System die Sicherung der Freiheit des Kapitaltransfers eine so große Rolle spielt, sowohl hinsichtlich der Abschaffung aller Investitionsbeschränkungen des imperialistischen Kapitals als auch zur Sicherung der Repatriierung der Profite. (Gleichzeitig unterliegt der Zugang der imperialistischen Märkte für halbkoloniale ProduzentInnen und InvestorInnen in der Regel viel größeren Beschränkungen.)

Die Dauerhaftigkeit und Reproduktion ungleicher Verhältnisse auf dem Weltmarkt wären jedoch vollkommen unerklärlich, wenn wir nicht die Frage des Währungs-, des Finanzsystems und sein Verhältnis zum Staatensystem betrachten würden. Dem einzelnen Nationalstaat ist es durchaus möglich, das nationale Kapital gegenüber ungünstigeren Bedingungen auf dem Weltmarkt zu schützen. Aber diese Fähigkeit ist beschränkt, wie die Geschichte zeigt, und hängt letztlich von der wirtschaftlichen Stärke des jeweiligen Landes ab.

Im Rahmen der Nationalökonomie wird Geld von der Zentralbank emittiert. Der Staat tritt als dessen Garant auf. Auf dem Weltmarkt existiert kein Weltstaat oder auch nicht irgendeine Staatengemeinschaft als Garant der allgemeinen Verhältnisse der Kapitalreproduktion.

Im Weltgeld, so Marx, kommt das Geld eigentlich zu sich, hier wird seine Daseinsweise seinem Begriff adäquat, weil es direkt als Verkörperung abstrakter Arbeit fungiert (während bestimmte Geldfunktionen immer nur auf eine nationale Währung bezogen sind oder sein können). Aber das Weltgeld braucht, wenn es keinen Weltstaat gibt, einen Garanten. Auch wenn Gold und Silber weiter als Geldware fungieren, so monopolisiert in einem entwickelten kapitalistischen System entweder eine Währung den internationalen Zahlungsverkehr und vor allem das Kredit- und Schuldensystem, oder es besteht Konkurrenz zwischen den Leitwährungen der dominierenden Großmächte. So fungierte in der Phase der britischen Weltmarktdominanz im 19. Jahrhundert das Pfund Sterling als Weltwährung. Selbst im Niedergang versuchte der britische Imperialismus, weiter an der Goldparität und der Dominanz des Pfunds in der Weltmarktkonkurrenz gegenüber den USA festzuhalten.

Nach 1945 setzte sich der US-Dollar als Leitwährung durch. Mit dem Aufstieg Deutschlands und Japans, der Bildung der EU und vor allem mit der Etablierung Chinas als imperialistischer Macht wurde natürlich auch die Vorherrschaft der USA auf diesem Gebiet unterminiert, ein Prozess, der im Grunde schon seit den 1970er Jahren mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems vor sich geht. Dieses legte einen festen Wechselkurs zwischen der Ankerwährung Dollar und den Währungen der Teilnehmerländer zugrunde und verpflichtete die US-Notenbank zum Umtausch von Dollar aus deren Zentralbanken zu einem festen Kurs in Gold (flexibler Goldstandard). Dennoch fungiert der Dollar bis heute als die entscheidende internationale Währung, in der die Mehrheit aller Finanztransaktionen notiert wird, in der Börsengeschäfte abgewickelt werden, in der Schulden auf den internationalen Kreditmärkten aufgenommen und bedient werden müssen. Der Dollar stellt bis heute faktisch Weltgeld dar, auch wenn er mit dem Euro und dem Aufstieg Chinas unter Druck geraten ist. Der als Weltgeld fungierenden Leitwährung treten also allenfalls die Währungen imperialistischer KonkurrentInnen als annähernd gleichwertig hinzu.

Die Frage, welches Geld sich als Weltgeld durchsetzt, ist somit Ausdruck des Stellenwertes eines nationalen Gesamtkapitals im Verhältnis zu den anderen. In bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung vermögen einzelne Staaten aufgrund ihrer weltmarktbeherrschenden Stellung, die auf überlegener Produktion beruht und von militärischer und politischer Vormacht begleitet wird, als „Demiurgen“ (Hervorbringer, Schöpfer) des Weltmarktes zu fungieren.

Das Monopol auf Weltgeld macht zwischen den nationalen Währungen einen enormen Unterschied aus. Es bringt die unterschiedliche Stellung der verschiedenen Staaten in der weltweiten Arbeitsteilung und in der geopolitischen Ordnung nicht nur zum Ausdruck, sondern reproduziert und verfestigt sie zugleich.

Im Kolonialsystem waren Geld und Geldfunktionen in der Regel ohnedies vom jeweiligen Mutterland bestimmt, da keine politisch-staatliche Unabhängigkeit der Kolonie existierte. Im halbkolonialen System der imperialistischen Herrschaft monopolisieren die imperialistischen Mächte das Weltwährungssystem, bestimmen das Weltgeld. Die Währungen der imperialistischen Mächte, die nicht als Demiurgen des Weltmarktes fungieren, gelten als relativ stabil tauschbare Währungen zur Leitwährung. Ein großer Teil des Warenverkehrs wird über die zentrale Leitwährung oder andere imperialistische Währungen vermittelt. Noch viel wichtiger ist freilich, dass die Währungen der imperialistischen Staaten, besonders der Leitwährung, auch gehortet werden, z. B. als Schatzpapiere. Währungen halbkolonialer Länder üben  diese und andere Geldfunktion außerhalb ihres Landes faktisch nicht aus.

Kapitalverkehr, Anlagen, Börsen, Staatsschulden usw. werden also faktisch ausschließlich in Dollar oder einer anderen harten Währung notiert (Euro, Pfund, Renminbi/Yúan, Yen). Das bedeutet aber auch, dass die halbkolonialen, ökonomisch schwächeren Länder im Voraus zu den Bedingungen und in Währungen der imperialistischen Zentren  ihre Geld- und Kapitalgeschäfte abwickeln müssen.

Um am internationalen Kapitalmarkt agieren zu können, muss das halbkoloniale Land über Weltgeld oder eine leicht gegen dieses tauschbare Währung verfügen. Nur so kann es Investitionen anziehen, Güter importieren oder Schulden bedienen und aufnehmen. Je mehr ein halbkoloniales Land von den Finanzmärkten abhängig wird, desto drückender auch die Abhängigkeit von deren Institutionen (IWF, Weltbank) und den Bedingungen, die diese diktieren.

Schon die Bezugspunkte zu Marx hinsichtlich der Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt verweisen darauf, dass unterschiedliche Intensität und Produktivität nicht bloß als unterschiedliche Produktivität oder Intensität eines Einzelkapitals, sondern eines gesellschaftlichen Durchschnitts begriffen werden müssen. Dies reflektiert schon die unterschiedliche Entwicklung des Kapitalstocks, der Produktivkräfte, der Stellung in der internationalen Arbeitsteilung.

Offenkundig war es für – im Vergleich zu Großbritannien – später gekommene Nationen auf dem Weltmarkt (z. B. Frankreich, Deutschland, USA, Japan) unter bestimmten Bedingungen möglich, im 19. Jahrhundert eine Ökonomie zu entwickeln, die mit der fortgeschrittensten kapitalistischen gleichzog.

Dies verweist darauf, dass es durchaus eine Wirkung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt zur Ausgleichung der Produktions- und Verkaufsbedingungen gibt, d. h., es gibt auch eine Angleichung verschiedener „nationalen Werte“ auf dem Weltmarkt. Wichtig ist hier aber zu betonen, dass diese keineswegs nur spontan, sondern unter kräftiger Zuhilfenahme des Staates erfolgt, insgesamt mit dem Ziel, im Rahmen der Weltmarktkonkurrenz ein wettbewerbsfähiges nationales Gesamtkapital zu schaffen. Ab einem bestimmten Punkt schlug das in ein Zurückbleiben der ursprünglich führenden Macht (Britannien) um. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch im Verhältnis USA-Europa-Japan ab den späten 1960er Jahren beobachten, als sich letztere zu Weltmachtkonkurrenten entwickelten.

Heute versucht sich China als Konkurrent zu etablieren, was unter anderem auch bedeutet, dass die KP-geführte Regierung sich als Sachwalterin „ihres“ gesellschaftlichen Gesamtkapitals (nicht „nur“ als Geburtshelferin weltmarktfähiger Einzelkapitale und Monopole) zu erweisen versucht.

Wenn wir aber auf die dauerhafte, systematische Unterordnung von kolonialen und halbkolonialen Ländern und deren Ausbeutung eingehen und diese erklären wollen, so kann das nicht einfach durch eine modellhafte „Ableitung“ von internationalen Marktbeziehungen erfolgen.

Die Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt – nehmen wir z. B. die Kredit- und Geldgeschäfte – reproduziert und verschärft die Unterschiede zwischen den imperialistischen und den vom Imperialismus beherrschten Ländern.

Die Ursache dafür kann freilich nicht einfach auf dem Weltmarkt gefunden werden. Wir müssen uns vielmehr vor Augen halten, dass die kolonialen und später die halbkolonialen Länder unter Bedingungen in den Weltmarkt gezogen wurden und werden, die ihnen einen Platz im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung unter den Bedingungen zuweisen, die von den entwickelten Kapitalen der Metropolen geschaffen wurden und in diesem System reproduziert werden. Anders als in den „entwickelten“, imperialistischen Ländern gestaltet sich die Konstituierung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals von Beginn an prekär.

Daher wollen wir uns noch einmal seine wesentlichen Funktionen vor Augen halten:

  • Ausgleichsbewegung zu ideellem Durchschnitt, Werttransfer zwischen Branchen, damit überhaupt erst Ausgleichung der Profitrate möglich ist
  • Etablierung eines durchschnittlichen Grades der Produktivität und Intensität der Arbeit
  • Etablierung einer nationalen Währung, Sicherung des Geldwerts
  • Sicherung der allgemeinen Produktions- und produktionsbedingungen des Kapitals
  • Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Vermittlung des Gesamtinteresses des Kapitals.

Betrachten wir die halbkolonialen Staaten hinsichtlich der Erfüllung dieser Funktionen, so zeigt sich rasch, dass sie diese nur eingeschränkt, wenn überhaupt, einhalten können.

Die Etablierung einer durchschnittlichen nationalen Intensität der Arbeit findet oft nicht oder nur sehr beschränkt statt (z. B. in Indien). Extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung kennzeichnet die halbkoloniale Ökonomie und sie wird über Jahrzehnte oft genug reproduziert.

Das betrifft daher auch den Werttransfer zwischen den Branchen, also die Ausgleichsbewegung der Profitrate. Die halbkolonialen Ökonomien sind – gerade in ihren kapitalistisch entwickelteren Teilen – in der Regel auf den Weltmarkt bezogen. Das Gesetzt der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung begegnet uns in den halbkolonialen Ländern in besonders drastischer Form auf Schritt und Tritt.

Die geschichtlichen Voraussetzungen der Arbeitsteilung, die selbst Folge des Kolonialismus und Imperialismus sind und zugleich von ihm reproduziert werden, bedeuten daher die Etablierung einer ungleichen internationalen Arbeitsteilung, die die innere Struktur, wie sie von der tradierten Abhängigkeit herrührt, aufgreift, reproduziert und festigt.

In den halbkolonialen Ländern drückt sich das in der Reproduktion einer einseitigen Kapitalentwicklung, die von den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals im imperialistischen Land bestimmt wird, aus. Daher begegnen uns in Ländern wie Indien moderne, auf den Weltmarkt bezogene Hightechindustrien neben extremer Rückständigkeit, sei es in den städtischen Armutsvierteln, bei der Wanderarbeit oder auf dem Land.

Die Industrialisierung und Entwicklung der Ökonomie war in der Regel auf Exporte bestimmter Branchen (Rohstoffe, Nahrungsmittel), später auch bestimmte selektive Produktion von Zwischenprodukten, bezogen. Für diese Sparten äußert sich die extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in der Kombination besonders ausbeuterischer, rückständiger Formen (Kontraktarbeit, … ) mit der Produktion für den Weltmarkt.

Wir haben es bei der Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt daher einerseits mit einer widersprüchlichen Tendenz zur Angleichung der Nationalökonomien (beobachtbar insbesondere im Verhältnis zwischen imperialistischen Staaten) und andererseits mit der Reproduktion einer internationalen Hierarchie der Kolonien und Halbkolonien zu tun.

Deren Quelle muss auch in der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals gesucht werden, genauer: in der Blockade von dessen Herausbildung in der Halbkolonie.

Das halbkoloniale Ausbeutungsregime des Finanzkapitals bildet somit  die eigentlich angemessene Form der abhängigen Akkumulation der „Dritten Welt“  unter der Dominanz einer entwickelten imperialistischen Weltwirtschaft.

12. Epoche, Periode, Zyklus, Metazyklen, Klassenkampfperiode

Weiter oben haben wir die imperialistische Epoche grundsätzlich als ein bestimmtes Entwicklungsstadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation, als Übergangskapitalismus oder sterbenden Kapitalismus charakterisiert.

Die zyklische industrielle Krise besteht zweifellos nicht nur in der vorimperialistischen, sondern auch in der imperialistischen  Epoche. Aber der industrielle Zyklus wird modifiziert durch die Vorherrschaft des Finanzkapitals.

Erstens dahingehend, dass die Zyklen in der Regel einen flacheren Verlauf annehmen, weil a) der monopolistische Charakter des Finanzkapitals die Perioden für Ersatzinvestitionen des fixen Kapitals dehnt, b) das Monopolkapital zeitweilig nicht in die Ausgleichsbewegung der Profitrate eingeht und daher in seinem Investitionsrhythmus von den Bewegungen des industriellen Zyklus teilweise freigespielt ist. Dies wird noch durch den parasitären Charakter des Monopols und seine Tendenz zur Stagnation verstärkt.

Zweitens führt die Krise dazu, dass die Monopolisierungstendenzen, die Dominanz des Finanzkapitals weiter verstärkt werden (Aufkäufe, Abwälzung der Krisenkosten auf nichtmonopolistische Kapitale etc.). D. h., jeder neue industrielle Zyklus findet nicht nur einfach auf mehr oder minder neuer technischer Basis, auf Grundlage einer neuen Zusammensetzung des Gesamtkapitals, sondern auch auf Grundlage eines im Vergleich zum vorherigen Zyklus und im Verhältnis zu anderen Kapitalen gestärkten Finanzkapitals statt.

Neben den einzelnen industriellen Zyklen lassen sich auch Reihen von ihnen mit ähnlicher Akkumulationsdynamik konstatieren. Ihre gemeinsame Basis findet sich – wie jene des einzelnen industriellen Zyklus – in der vorhergegangenen Krise, sprich: ob diese die Bedingungen für eine expansive Akkumulationsdynamik herstellen konnte oder nicht, also in letzterem Fall zu einer stagnativen oder gar depressiven Entwicklungsdynamik geführt hat.

Die Frage ist jedoch, was eine bestimmte Dynamik, die verschiedene Zyklen umfasst, in Gang setzt. Im Folgenden nennen wir diese Reihen von Konjunkturzyklen Akkumulationsperioden. Im Anschluss an Trotzkis „Kurve der kapitalistischen Entwicklung“ unterscheiden wir zwischen solchen mit expansivem, stagnativem und depressivem Charakter.

Perioden mit stagnativem oder gar depressivem Charakter sind immer durch eine, ihrer Krisenhaftigkeit ökonomisch zugrundeliegenden strukturellen Überakkumulation von Kapital geprägt. Die industriellen Zyklen in den Stagnationsperioden tendieren außerdem  dazu, „flacher“ auszufallen, da aufgrund geringer Profitraten und -erwartungen relativ geringe Kapitalmengen in den industriellen, Mehrwert schaffenden Sektor fließen und damit auch in die Neuausstattung des fixen Kapitals.

Auch die vorherrschende Form der Mehrwertaneignung ändert sich – nämlich von der relativen Mehrwertproduktion, die in expansiven Perioden vorherrscht, zur Produktion absoluten Mehrwerts – eine logische Folge der geringeren Erneuerungs- und Erweiterungsinvestitionen, der „Flucht“ in spekulatives Kapital.

Die Ausweitung des Kreditsystems im Zeitalter des Finanzkapitals ermöglicht es speziell den imperialistischen Zentren, die Wirkungsweise von industriellen Zyklen und längerfristigen Krisentendenzen eine gewisse Zeit aufzuhalten. Diese Behinderung der bereinigenden Wirkungen der kapitalistischen Krise führt umgekehrt dazu, dass der folgende Kriseneinbruch umso heftiger und einschneidender wird. Auf diese Weise überlagert den normalen Krisenzyklus ein scheinbar eigenständiger Finanzmarktzyklus, der in der imperialistischen Epoche zum wesentlichen Bestimmungsmoment von Akkumulationsperioden wird. Der Finanzmarktzyklus ist wesentlich bestimmt durch die Organisierungsformen des Finanzkapitals, der Steuerungsmechanismen des Produktivkapitals, seiner Verbindungen zu staatlichen Strukturen sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinn etc. Vor allem aber ist er bestimmt durch die Formen internationaler Kapitalströme, ob in Direktinvestitionen, Kredite, Beteiligungen, Geldmarktbewegungen etc. Gerade in Bezug auf internationale Kapitalströme sind in der imperialistischen Epoche klare Auf- und Abwärtsbewegungen von großem Ausmaß festzustellen, die jeweils mit dem Wechsel wesentlicher AkteurInnen bzw. Institutionen verbunden sind: z. B. Goldstandard und Vorherrschaft von Staatskredit in der „klassischen“ imperialistischen Periode; institutionelle Kredite (Privatbanken unter Schirmherrschaft des IWF), Bretton-Woods-System und System direkt beherrschter Tochterunternehmen in der Zeit des „langen Booms“; fondsgestütztes Investmentbanking, Dollar als Weltwährung und durch den Finanzmarkt organisiertes Unternehmensbeteiligungssystem in der „Globalisierungs“periode. Diese unterschiedlichen Strukturen des Finanzkapitals bedingen unterschiedliche Krisendynamiken am Ende des Finanzmarktzyklus, die sich auch unterschiedlich auf die Krisentendenz der Akkumulationsperiode als Ganze auswirken. Finanzmarktkrisen können auch eingedämmt werden oder nur den Auftakt einer sich entwickelnden Krisenphase der Periode bilden, so z. B. die Börsenkräche 1907 und 1986 (mitsamt der Krise des US-Hypothekenbanksystems) oder die Asienkrise der 1990er Jahre und die folgende Internetblase.

Die Ausgangsbasis für diese Akkumulationsperioden wird jedoch nicht einfach durch die ökonomische Entwicklung der Kapitalbewegung bestimmt, sondern durch Klassenkämpfe zwischen Lohnarbeit und Kapital, geopolitische Verschiebungen, imperialistische Konkurrenz und Kriege, Revolutionen und Konterrevolutionen. In der Tat bildet die Herstellung einer bestimmten Weltordnung die Basis (resp. der Zusammenbruch einer vorhergehenden aufgrund politischer Ereignisse – z. B. Erster Weltkrieg, Zusammenbruch des Weltmarktzusammenhangs etc.), auf der sich längerfristige, mehrere Zyklen umfassende Akkumulationsperioden überhaupt bilden können.

Kurzum, wenn wir von geschichtlichen Perioden im Rahmen der imperialistischen Entwicklung sprechen, können diese nicht einfach durch Referenz auf eine Folge von industriellen Zyklen  ökonomisch bestimmt werden. Die Akkumulationsperioden bilden vielmehr die ökonomische Basis für geschichtliche Perioden im Rahmen der imperialistischen Epoche.

Um den Gesamtcharakter geschichtlicher Perioden zu bestimmen, müssen wesentlich auch andere Fragen des Verhältnisses zwischen den imperialistischen Mächten und zwischen den Klassen einfließen. Während Akkumulationsperioden (oder metazyklische Perioden) ökonomische Kategorien darstellen, bezieht sich der Begriff der historischen Periode – ebenso wie jener der Epoche selbst – auf die Gesamtheit der Entwicklung der Gesellschaftsformation.

Ihr Beginn oder Ende können, müssen aber keinesfalls, mit dem Beginn ökonomischer Zyklen zusammenfallen. Ja, in der Regel werden sie das nicht tun. Vielmehr sind für den Beginn (oder das Ende) einer Periode einschneidende weltpolitische Ereignisse konstitutiv, die eine grundlegende Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und den imperialistischen Mächten markieren.

Die Akkumulationsdynamik einer bestimmten historischen Periode (und auch andere Faktoren wie die historisch spezifische Form der Kapitalbildung, das innerimperialistische Verhältnis usw.) führt notwendig dazu, dass bestimmte Merkmale und Wesenszüge der Epoche stärker oder weniger stark in den Vordergrund treten. So ist z. B. in der Periode des „langen Booms“ – selbst eine außergewöhnliche Periode – die Tendenz zum Niedergang und zur Stagnation vergleichsweise gering ausgeprägt. Das hat ja auch viele RevisionistInnen zur Annahme geführt, dass es gar keine imperialistische Epoche mehr gäbe.

In der ersten Phase der Globalisierungsperiode wiederum erscheint die innerimperialistische Konkurrenz eliminiert. Dies wird noch durch die Formierung gigantischer Konzerne verstärkt, deren Terrain der Weltmarkt ist, und die, so die „moderne“ revisionistische Argumentation, zur Bildung eines „transnationalen Kapitals“ geführt hätten, das nicht mehr mit bestimmten imperialistischen Staaten verbunden wäre, dass es nur noch „globalen Norden“ und „globalen Süden“ gäbe, dass der „Imperialismus“ einer neuen Form des Ultraimperialismus gewichen sei.

In diesen längeren historischen Perioden sind kürzere „Klassenkampfperioden“ inkludiert. In der kommunistischen Literatur werden diese auch öfter als „Situationen“ oder „Lagen“ bezeichnet. Wir haben dafür gelegentlich den Begriff „Phasen“ verwendet.

Die Klassenkampfperioden werden durch politische Ereignisse von globaler Bedeutung bestimmt, sowohl was ihren Beginn als auch ihr Ende betrifft. Das sind politische Phasen, die in der Regel nur wenige Jahre umfassen.

Die Bestimmung dieser kurzen Klassenkampfperioden ist umgekehrt erstens sehr wichtig, weil sie grundlegende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik des revolutionären Proletariats in einer bestimmten Periode mit sich bringen. Zweitens sind insbesondere Perioden von revolutionärem oder vorrevolutionärem Charakter von größter Wichtigkeit, weil sich in ihnen der allgemeine Charakter der Epoche sowie der historischen Periode konzentriert ausdrückt.

Auch wenn die Dauer der Klassenkampfperioden relativ kurz ist – einige Jahre, vielleicht bis zu einem Jahrzehnt umfassend –, so können wir generell davon ausgehen, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Klassenkampfperioden umso rascher vonstattengeht, je instabiler und revolutionärer der Charakter der historischen Periode ist, deren Bestandteil sie  verkörpert. Der vergleichsweise rasche Wechsel zwischen revolutionären und konterrevolutionären Klassenkampfperioden, jenen relativer Stabilität mit jenen größerer revolutionärer (und konterrevolutionärer) Erschütterungen, konstituiert ein Wesensmerkmal von historischen Perioden der sozialen Revolution,  revolutionären Perioden wie, in klassischer Form, jener von 1914 – 1948.

Es macht außerdem Sinn, zwischen Klassenkampfperiode und -situation zu unterscheiden, auch wenn dies keineswegs einfach und immer trennscharf ist. Das ist kein Zufall. Erstens handelt es sich in beiden Fällen um politische Kategorien. Zweitens tendieren diese in revolutionären historischen Perioden (z. B. in der Zwischenkriegszeit) dazu zusammenzufallen. Das ist  durch den Charakter der historischen Periode, den raschen Wechsel der Weltlage usw. bedingt.

In anderen historischen Perioden macht es einen offenkundigen Sinn, zwischen der Klassenkampfperiode und einer Situation zu unterscheiden (wobei letztere einen Wechsel des Charakters der Klassenkampfperiode einläuten kann, aber nicht muss). So kann der Beginn des Krieges gegen Afghanistan nach dem 11. September 2001 durch die globale „Allianz der Willigen“ durchaus als konterrevolutionäre Situation beschrieben werden, in der, allerdings nicht für allzu lange Zeit, der Widerstand, die Antiglobalisierungs-, die ArbeiterInnenbewegung usw. paralysiert wurden.

Die längeren, historischen Perioden in der imperialistischen Epoche lassen sich in sechs Abschnitte einteilen:

a) Entstehungsperiode des klassischen Imperialismus bis 1914

b) Revolutionäre Krisen- und Zusammenbruchsperiode 1914 – 1948

c) Periode des langen Booms und der konterrevolutionären Nachkriegsordnung 1948 – 1968

d) Periode des Niedergangs der Nachkriegsordnung 1968 – 1989

e) Globalisierungsperiode seit 1989 – 2007/2008

f) Periode einer neuen globalen Krise des Kapitalismus seit 2007/2008 – Periode der Krise der Globalisierung.

13. Perioden der imperialistischen Epoche, ihre grundlegenden Charakteristika und die in ihnen inkludierten Klassenkampfperioden

Im Folgenden wollen wir einen kurzen Abriss der geschichtlichen Perioden der imperialistischen Epoche liefern. Wir werden darin auch beispielhaft wichtige Klassenkampfperioden darstellen, freilich ohne jedes Jahr und jeden Tag der letzten hundert Jahre zuzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wollen wir auf die Übergänge von einer Periode zur anderen legen.

13.1 Die Entstehungsperiode des Imperialismus bis 1914

Die Periode bis 1914 kann im Anschluss an Trotzki als eine der Herausbildung der Widersprüche des Imperialismus charakterisiert werden. Die Krise von 1873 stellte einen wichtigen Bruchpunkt in der Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert dar. [cii] Verglichen mit den vorhergehenden zyklischen Krisen trat der internationale Charakter besonders stark hervor, die Krise traf alle wichtigen Nationalökonomien. In den jüngeren kapitalistischen Ländern oder Mächten (Vereinigte Staaten, Deutschland, Österreich-Ungarn) war sie besonders ausgeprägt, wirkte sich aber auch auf England and Frankreich stark aus. Vordergründig erschien sie durch ein massives „Spekulationsfieber“ indiziert, aber das verschleierte eher ihre Ursachen und vor allem ihre Auswirkungen.

Rückblickend können wir feststellen, dass sie eine wirkliche Weltmarktkrise darstellte, in allen Ländern zu einer massiven Vernichtung von überschüssigem Kapital und zu einer massiven Erneuerung des Kapitalstocks, vor allem im Bereich der Herstellung von Produktionsmitteln, führte. Die Krise signalisierte und verstärkte also eine Durchsetzung der industriellen Großproduktion in allen wichtigen Sektoren, sie gab der Zentralisation und Konzentration von Kapital einen mächtigen Schub und damit auch der Bildung und Durchsetzung des Finanzkapitals.

Natürlich lässt sich der Übergang von einer Epoche des Kapitalismus zur nächsten nicht genau datieren, wohl aber können wir vom Beginn einer neuen Epoche beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sprechen.

Mit ihr fallen auch die Herstellung des Weltmarktes und der Abschluss der Aufteilung der Welt unter die großen Kapitale und Großmächte zusammen. Es ist die Periode des Übergangs zum Imperialismus. Es ist die Periode, in der die Verschmelzung von industriellem und zinstragendem Kapital unter Dominanz des Letzteren zur Bildung und Durchsetzung des Finanzkapitals führte. Die wesentliche Form dieser Verschmelzung ist in jener Periode sowie auch in der folgenden jene von industriellem Kapital mit den Banken. Die Börse und die Finanzmärkte spielten in vielen Ländern in dieser Periode eine relativ geringe Rolle.

Die Aufteilung der Welt ist zu Beginn der imperialistischen Epoche faktisch bereits abgeschlossen. Britannien bildete die dominierende, hegemoniale Macht aufgrund der Funktion des Pfunds als Weltgeld, des riesigen Kolonialreiches und der überlegenen militärischen Schlagkraft der britischen Flotte. Während Frankreich als zweitgrößte Kolonialmacht zwar einen globalen, geopolitischen Rivalen darstellte, wurde es von anderen aufsteigenden Mächten bedrängt und in vieler Hinsicht bereits überflügelt.

Die USA und Deutschland als größte industrielle Mächte etablierten sich als wichtigste aufstrebende RivalInnen des britischen Hegemons. Hinzu kam Japan. Während die USA über einen gigantischen Binnenmarkt verfügten und frühe Formen der halbkolonialen Dominanz in den Amerikas entwickelten, waren Deutschland und Japan bei der kolonialen Aufteilung der Welt „zu kurz“ gekommen. Drei Imperien befanden sich schon in der frühen imperialistischen Epoche in äußerst prekärer Lage. Das traf vor allem auf das Osmanische Reich zu, das praktisch in Schuldknechtschaft der imperialistischen Banken gezwungen wurde. Der Widerspruch zwischen imperialer Ambition und einer Ökonomie, die einem halbkolonialen oder kolonialen Gebiet entspricht, trat hier am deutlichsten hervor. Aber auch in der Habsburger Monarchie und im zaristischen Russland zeigte sich der Gegensatz zwischen imperialer Stellung und Ambition einerseits und extremer Rückständigkeit andererseits in äußerst widersprüchlicher Form. Beide entwickelten im Gegensatz zum Osmanischen Reich neben Formen der Rückständigkeit auch modernste und gigantische Großindustrien (Russland) oder ein bedeutendes Bankkapital (Österreich), für das die unterdrückten Länder der Doppelmonarchie bevorzugte Ziele des Kapitalexports darstellten.

Kleinere oder schwächere imperialistische Staaten, wie z. B. Belgien oder Portugal, fungierten faktisch als Mitpartizipierende einer globalen Arbeitsteilung und politischen Ordnung, als Pufferstaaten oder untergeordnete Vasallen einer Großmacht.

All das verdeutlicht schon am Beginn der imperialistischen Epoche, dass Imperialismus vor allem eine globale politische und ökonomische Ordnung ist und nicht einfach eine Ansammlung von Eigenschaften voneinander isoliert betrachteter Ökonomien und Staaten darstellt. Ob  ein Land als imperialistisch zu charakterisieren ist oder nicht, kann daher nur im Rahmen einer Betrachtung der Totalität der ökonomischen und politischen Weltordnung erfasst werden, die den Ländern ihren Platz in der globalen Hierarchie der kapitalistischen Ökonomien und Mächte zuweist.

Die technologischen Neuerungen in Schwerindustrie, Chemie, Transport und Kommunikation bildeten ein weites Feld für rasante Akkumulation. Gleichzeitig war genug Anlagekapital zu günstigen Zinsen verfügbar. Mit dem Aufschwung der Monopolindustrien ging eine „Explosion“ der Kapitalexporte einher. Wie Lenin ausführlich zeigt[ciii], konzentrierte sich dieser Kapitalexport auf die Jahre 1900 – 1914. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde in England, Frankreich und Deutschland ein Niveau erreicht, das jenes von Mitte des 19. Jahrhunderts fast um das Hundertfache übertraf.

Dabei wurde der Kapitalexport vor allem durch Staatsanleihen und Kredite organisiert, die über Regierungen und Bankenkonsortien vermittelt wurden. Dieser Kapitalfluss war an die Bedingungen geknüpft, Infrastrukturaufträge an große Industriemonopole der imperialistischen Staaten zu vergeben. Zur Sicherung dieser Kapitalbeziehungen wurde in bestimmten Regionen in bisher ungekanntem Ausmaß zum Mittel des direkten Kolonialismus gegriffen, während anderswo die „Unabhängigkeit“ formal bestehen blieb, aber de facto der Status von „Halbkolonien“ entstand.

Die USA und Deutschland als aufstrebende industrielle und finanzielle Mächte gerieten mehr und mehr an die Grenzen der unter britischer Vorherrschaft vorgenommenen Aufteilung der Welt. Das traf vor allem auf Deutschland zu, das, im Kolonialsystem zu kurz gekommen, an die Grenzen eines für die Akkumulationsbedürfnisse des Großkapitals zu klein gewordenen Binnenmarkts stieß. Die USA befanden sich in einer weit besseren Situation wegen des größeren und noch nicht entwickelten inneren Marktes und ihrer Dominanz über Lateinamerika als halbkoloniale Einflusssphäre.

Ökonomisch war diese Periode von 1900 – bis 1914 expansiv, da Monopol- und Finanzkapital mit der enormen Ausdehnung der Produktion, den großen industriellen und sonstigen Unternehmungen auch fortschrittliche Potenzen an den Tag legten.

Aber das Monopol verschärft die krisenhaften Tendenzen gerade auch deshalb, weil es entwertende und damit expansive Voraussetzungen wiederherstellende Wirkungen der industriellen Krise modifizieren kann – z. B. indem die Vernichtung überschüssigen Kapitals aufgeschoben wird und die Kosten seiner Erhaltung der Gesellschaft aufgebürdet werden.

Das sich entwickelnde Finanzkapital begann  in dieser Periode, sich alle Aspekte des Wirtschaftslebens unterzuordnen. Überaus wichtige Beispiele dafür waren Forschung und Wissenschaft, die mehr und mehr auf die Bedürfnisse des Großkapitals bezogen wurden, immer größere Kapitalauslagen brauchten oder staatlich organisiert werden mussten. Daher nahm logischerweise auch die Bedeutung des Eigentums und exklusiven privatkapitalistischen Anspruchs auf Resultate der Forschung und Wissenschaft (inkl. Patentrecht) zu. Insgesamt verschärfte all das die Dominanz des Finanzkapitals gegenüber nichtmonopolistischem Kapital und der Gesellschaft insgesamt.

Die industriellen Krisen trieben die Monopolisierungstendenzen mit voran, führten zur Verschärfung der internationalen Konkurrenz, schließlich zum Krieg.

Politisch ging diese Periode einher mit einer ökonomischen Vertiefung des Kolonialsystems und damit auch der Notwendigkeit seiner militärischen Absicherung und Durchsetzung. Der Militarismus bildete ein immer stärker werdendes Kennzeichen aller imperialistischen Mächte. Seine Durchsetzungsformen reichten von der Kanonenbootpolitik bis hin zu größeren, ins Landesinnere ausgreifenden kolonialen „Missionen“.

Der Russisch-Japanische Krieg, die erste Russische Revolution, die Marokkokrise und die Balkankriege signalisierten schon den Übergang zur nächsten Periode, verdeutlichten, dass sich die inneren Widersprüche zuspitzten.

Die Periode bis zum Ersten Weltkrieg stellte eine der Entwicklung der Widersprüche auch in dem Sinne dar, dass sich die gesellschaftlichen Hauptklassen (auch mit inneren Kontroversen) des Epochenbruchs zum Imperialismus bewusst wurden.

Die ArbeiterInnenbewegung machte in dieser Periode mit der Vergrößerung der ArbeiterInnenaristokratie, Veränderungen des Gewerkschaftswesens und der Entwicklung einer ArbeiterInnenbürokratie als Resultat erfolgreicher gewerkschaftlicher und politischer Kämpfe für Reformen einen wichtigen Formwandel durch.

Auch die sozialen Verhältnisse in den Kolonien und Halbkolonien wurden dahingehend umgewälzt, dass eine, wenn auch kleine, aber oft hoch konzentrierte moderne ArbeiterInnenklasse entstand. Zugleich war ihnen eine, gegenüber dem Westen, einfach „nachholende Entwicklung“ aufgrund des kolonialen oder halbkolonialen Charakters ihres Landes im Rahmen des imperialistischen Weltsystems nicht möglich. Gerade was die Entwicklung dieser, vom imperialistischen Finanzkapital beherrschten Länder betrifft, zeigte sich der hemmende Charakter der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in der imperialistischen Epoche, was die Entwicklung der Produktivkräfte der Menschheit betrifft, und zwar für ihren weitaus größeren Teil.

In dieser Periode spitzten sich in der ArbeiterInnenbewegung auch die inneren politischen Gegensätze zu. Die reformistische Alltagspraxis, die in den westlichen ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften mehr und mehr dominierte, suchte mit den Vorstößen des Revisionismus auch nach einem theoretischen Ausdruck ihrer Politik.

Insgesamt kann man jedoch konstatieren, dass sich das Bewusstsein der sich formierenden Fraktionen in der internationalen Sozialdemokratie hinsichtlich des Charakters ihrer Meinungsverschiedenheiten und deren politischer und organisatorischer Konsequenzen erst allmählich entwickelte und dieser von allen Fraktionen an bestimmten Punkten unterschätzt wurde.

Der imperialistische Weltkrieg und der Zusammenbruch der Zweiten Internationale zwangen die RevolutionärInnen dazu, sich die Frage nach den materiellen Wurzeln des Verrats der Zweiten Internationale in allen Aspekten zu stellen und grundlegende, radikale Konsequenzen daraus zu ziehen, d. h., den konsequenten Bruch mit dem reformistischen Sozialchauvinismus zu vollziehen sowie die Notwendigkeit einer Dritten Internationale zu proklamieren und diese schließlich als Weltpartei der proletarischen Revolution zu gründen.

13.2  1914 – 1948: Periode des Zusammenbruchs der imperialistischen Ordnung – Revolution und Konterrevolution

Die Periode von 1914 bis 1948 entsprach offensichtlich in ihrer Erscheinungsform am deutlichsten den klassischen Imperialismustheorien der revolutionären ArbeiterInnenbewegung.

Mit dem Ersten Weltkrieg traten die inneren Widersprüche, die sich in der vorhergehenden Periode aufgeladen hatten, explosiv hervor. Doch der Weltkrieg löste diese nicht. Die Frage der imperialistischen Führung und der Neuaufteilung der Welt blieben ungelöst, ja, verschärfte sich. Die USA wurden zur führenden Wirtschaftsmacht, zur Industriellen der Welt. Auch Japan verzeichnete einen starken industriellen Aufschwung.

Britannien und Frankreich konnten jedoch ihr Kolonialmonopol behaupten, aber auf ungleich schwächerer industrieller Grundlage. Das Pfund blieb Leitwährung. Seine Weltmarktfunktion als Weltgeld vermochte es jedoch nicht mehr recht auszufüllen, was den britischen Imperialismus vielmehr von innen aushöhlte. In der prekärsten Lage befand sich jedoch der deutsche Imperialismus.

Die unmittelbare Nachkriegsperiode war neben den politischen auch durch massive ökonomische Erschütterungen, v. a. in Deutschland, charakterisiert – bis hin zur Hyperinflation 1923. Diese konnte durch eine Änderung der US-Politik und deren Weltmachtrolle (neben dem für das Kapital positiven Scheitern der Revolution) ab Ende 1923 relativ stabilisiert werden. Aber die Probleme blieben.

Die 1920er Jahre sahen einen enormen Anstieg von privaten Investitionen, speziell aus den USA in Form von Anleihen in lateinamerikanischen und osteuropäischen Staaten sowie in Deutschland, die durch US-Investmentbanken gebündelt und vermittelt wurden. Diese Anlagen wiederum dienten als Deckung für eine Kreditausdehnung auf Basis niedriger Zinsen. Mit dem Steigen der US-Zinsen Ende der 1920er Jahre und den wachsenden Problemen bei der Schuldentilgung durch die Schuldnerstaaten platzte die Spekulationsblase in der ausgedehnten Finanzkrise nach 1929. Die nächsten Jahre sahen einen gewaltigen Rückfluss an Schuldentilgung, Auflösung von Reserven, sinkenden Wechselkursen und stark ungünstige „Terms of  Trade“ auf Seiten der betroffenen Länder. Insbesondere in Lateinamerika war „Importsubstitution“ eine logische Antwort auf diese Probleme. Ebenso wechselte damit die vorherrschende Form des Kapitalexports in die der Direktinvestition, insbesondere in Landesgesellschaften der US-Konzerne in Lateinamerika.

Gleichzeitig bedeutete das Kolonialsystem für die USA, Deutschland und Japan aus unterschiedlichen Gründen enorme Einschränkungen. Das US-Kapital investierte auch wegen des Kolonialsystems in den 1920er Jahren v. a. in Deutschland, Lateinamerika und Osteuropa, während ihm die britischen und französischen Kolonialgebiete oft verschlossen waren.

Das deutsche Monopolkapital war zu groß für den inneren Markt. Zugleich verhinderten Schutzzölle und andere Auflagen des französischen und britischen Imperialismus den Zugang zum Weltmarkt, v. a. für die Stahl- und Chemieindustrie.

Damit verschärfte sich der Gegensatz zwischen den größten Kolonialmächten sowie den USA, Deutschland und Japan weiter. Der Gegensatz musste sich, sofern nicht die proletarische Revolution zuvorkommen würde, in einem weiteren Weltbrand, dem Zweiten Weltkrieg, entladen.

Insgesamt waren weite Teile dieser Periode gekennzeichnet durch die Erschütterungen, ja, den Zusammenbruch der imperialistischen Ordnung und des Weltmarktes. Die imperialistische Vormachtstellung Britanniens ist in offenen und akuten Gegensatz zu seiner ökonomischen Potenz getreten. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach gab es keine imperialistische Hegemonialmacht, die als „Weltmarktgarantin“ hätte fungieren können.

Gerade deshalb stellen die kurzen, fieberhaften wirtschaftlichen Aufschwungsperioden von 1923 – 29 ökonomische Entwicklungen dar, die große Katastrophen vorbereiteten, weil die globalen geopolitischen Verhältnisse und die klassenmäßigen Voraussetzungen nicht in der Lage waren, eine anhaltende Stabilisierung herbeizuführen.

Das zeigte sich auch in der Entwicklung der Technik. So bereiteten die 1920er und 1930er Jahre viele Entwicklungen vor, die später, in der Periode des langen Booms (s. u.), verallgemeinert wurden und wichtige Elemente der ökonomischen Grundlagen dieser Periode darstellten (Anwendung des Taylorismus in der US-Autoindustrie ab 1913 und dessen beginnende Ausbreitung nach dem Ersten Weltkrieg, Zentralisation des Kapitals im Handelssektor, „Entdeckung“ der ArbeiterInnenklasse als Massenkonsumentin, „Entdeckung“ der kolonialen oder halbkolonialen Länder für Direktinvestitionen).

Doch all diese Entwicklungen konnten ihr ökonomisches Potential in dieser Periode unmöglich realisieren, weil die globalen Bedingungen dafür, d. h. massive Vernichtung bestehender Kapitale, Neuaufteilung der Welt und Etablierung einer imperialistischen Hegemonialmacht, über Jahrzehnte fehlten.

Die Zwischenkriegsperiode und der Zweite Weltkrieg markierten auch aus einem anderen Grund einen Wendepunkt., eine globale Durchsetzung des Imperialismus. Anders als in jeder vorhergehenden Periode waren die Kolonialländer und die Halbkolonien direkt in die Weltpolitik, in das globale politische System im Rahmen der globalen Auseinandersetzung eingefügt, in der diesen Ländern, respektive den sich bildenden, in ihrer Formierung durch das imperialistische Weltsystem letztlich blockierten, modernen Gesellschaftsklassen in diesen Ländern (ArbeiterInnenklasse und Bourgeoisie), eine ungleich größere Rolle zukam als in der vorimperialistischen Epoche oder in der ersten Periode des Imperialismus. Die Kolonialvölker wurden in viel größerem Maße als je zuvor AkteurInnen im revolutionären Kampf.

Wir können also von einer globalen Periode des Zerfalls des Kapitalismus, seines Niedergangs sprechen, in der der Übergang zum Sozialismus den einzigen möglichen Ausweg bildete, um historische Katastrophen – Krieg, Faschismus, Barbarei –  abzuwenden. In dieser insgesamt revolutionären Geschichtsperiode, einer von Revolution und Konterrevolution, kam dem subjektiven Faktor, der Frage des Bewusstseins, der Reife, Organisiertheit, der strategischen und taktischen Richtung der kommunistischen Bewegung, eine bis dahin nie dagewesene geschichtliche Bedeutung zu.

Die Periode von 1914 bis 1948 muss also auch von dieser Seite charakterisiert werden, und zwar als eine revolutionäre Periode, weil sie wiederholt einen Ansturm der WeltarbeiterInnenklasse auf die politische Macht im Weltmaßstab mit sich brachte. Der Sieg und das Behaupten der Russischen Revolution, die Errichtung der Sowjetunion usw. belegen auch den Charakter der imperialistischen Epoche als „Übergangskapitalismus“.

Zugleich offenbart sich der Charakter der weltgeschichtlichen Periode keineswegs immer in derselben Form. In seiner Kritik des 6. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale verwies Trotzki auf dieses Problem folgendermaßen:

„Der revolutionäre Charakter der Epoche besteht nicht darin, dass er es in jedem gegebenen Augenblick gestattet, die Revolution durchzuführen, d. h. die Macht zu ergreifen, sondern in scharfen Schwankungen und abrupten Übergängen von einer unmittelbar revolutionären Situation, in der die Kommunistische Partei Anspruch auf die Macht erheben kann, zu einem Sieg der faschistischen oder halbfaschistischen Konterrevolution, und von letzterem zu einem provisorischen Regime der goldenen Mitte (dem „Linken Block“, der Einbeziehung der Sozialdemokraten in die Koalition, dem Übergang der Macht an die Partei MacDonalds usw.), um gleich darauf wieder die Gegensätze auf die Spitze zu treiben und in aller Schärfe die Machtfrage zu stellen.“ [civ]

Wenn wir einmal beiseitelassen, dass Trotzki hier die geschichtliche Periode mit der gesamten imperialistischen Epoche identifiziert, so zeigt das für diese Zeit sehr deutlich, welche zentrale Bedeutung die Einschätzung der Klassenkampfperiode oder der konkreten Lage für die konkrete revolutionäre Politik, für die Bestimmung ihrer konkreten Taktik, der Losungen, Forderungen, die in den Mittelpunkt ihrer Agitation und Propaganda gerückt werden, hat. Eine Politik, die der jeweils konkreten Lage nicht Rechnung trägt, ist, unbeschadet aller guten Vorsätze und des Heroismus ihrer AnhängerInnen, letztlich zum Scheitern verurteilt. Sie führt unvermeidlich zur politischen Desorientierung der Klasse. Darin liegt eben eine der großen Tragödien des Linksradikalismus, ultralinker politischer Ungeduld oder auch opportunistischer Passivität. Wenn die sich verändernden Situationen nicht rechtzeitig erkannt werden, wird die revolutionäre Organisation notwendigerweise unangemessene Taktiken verwenden oder die falschen Losungen in den Mittelpunkt stellen. Ein solches Unvermögen wirkt sich bei allen Wendungen im Klassenkampf – sowohl bei revolutionären Zuspitzungen als auch nach grundlegenden Niederlagen – verheerend aus. Trotzki verdeutlicht das Problem unter anderem nach der Niederlage des deutschen Oktober 1923, als sich die Komintern weigerte, die Niederlage zur Kenntnis zu nehmen:

„Nach der Periode der Sturmflut während des Jahres 1923 begann die Periode einer langdauernden Ebbe. In der Sprache der Strategie bedeutete das einen geordneten Rückzug, Nachhutgefechte, die Befestigung der Stellungen innerhalb der Massenorganisationen, die Überprüfung der eigenen Reihen und die Reinigung und Schärfung der theoretischen und politischen Waffen. Diese Haltung wurde als Liquidatorentum gebrandmarkt. Mit diesem, wie auch mit anderen Begriffen aus dem Wörterbuch des Bolschewismus wurde in den letzten Jahren der allergrößte Missbrauch getrieben. Man lehrte und erzog nicht mehr, sondern säte nur Zwietracht und Verwirrung. Liquidatorentum bedeutet die Zurückweisung der Revolution, es ist der Versuch, deren Wege und Methoden durch die Wege und Methoden des Reformismus zu ersetzen. Die leninistische Politik hat nichts mit Liquidatorentum gemein. Doch genausowenig hat sie mit einer Mißachtung der Veränderungen in der objektiven Lage zu tun, damit, den Kurs des bewaffneten Aufstands in Worten aufrechtzuerhalten , wenn die Revolution uns bereits den Rücken gekehrt hat und es notwendig ist, wieder den langwierigen Weg hartnäckiger, systematischer und mühseliger Arbeit unter den Massen einzuschlagen, um die Partei auf eine neue Revolution vorzubereiten .

Um eine Treppe hinaufzusteigen, braucht der Mensch eine andere Art der Bewegung, als wenn er sie hinuntergeht. Am gefährlichsten wird es, wenn der Mensch, nachdem er das Licht gelöscht hat, den Fuß zum Hinaufsteigen hebt, während es vor ihm die Stufen hinuntergeht. Stürze, Verletzungen und Verrenkungen sind  dann unvermeidlich. Die Führung der Komintern hat im Jahre 1924 alles getan, um die Kritik der Erfahrungen des deutschen Oktobers und jede Kritik überhaupt zu unterdrücken. Sie wiederholte halsstarrig: Die Arbeiter steuern unmittelbar auf die Revolution zu – die Treppe führt hinauf. Kein Wunder, daß die Direktiven des 5. Kongresses, angewandt während des Zurückflutens der Revolution, zu schweren politischen Stürzen und Verrenkungen führten!“ [cv]

Die Bedeutung einer konkreten Analyse der politisch-ökonomischen Lage, der kurzfristigen Klassenperiode oder Situation ergibt sich daraus, dass diese jeweils unterschiedliche, konkrete Politik erfordern. Daher bilden die Einschätzung und Charakterisierung der aktuellen Lage ein unterlässliches Moment revolutionärer Tätigkeit. Ohne diese agiert eine Organisation oder Gruppe blind. Die Einschätzung der Veränderung solcher Perioden und von deren Übergängen bereiten naturgemäß oft Schwierigkeiten, weil diese nur aus einer Gesamteinschätzung der Lage gewonnen werden können, deren alternative Entwicklungsmöglichkeiten durchaus offen sein mögen – nicht zuletzt, weil sie selbst im Klassenkampf und nicht am Kopf des/r Analysierenden entschieden werden. Das relativiert ihre Bedeutung und die ständige kritische Überprüfung von Prognosen und Einschätzungen jedoch nicht. Im Folgenden wollen wir zur Illustration kurz die politischen Klassenkampfperioden in dieser längeren Periode von 1914 – 1948 skizzieren.

1914 – 1916: Imperialistische Schockwelle, Phase der Defensive und Vorbereitung

Die historische Katastrophe des Ersten Weltkrieges und des Zusammenbruchs der II. Internationale eröffnete eine Periode der nationalistischen Verhetzung der ArbeiterInnenklasse und der Masse der Unterdrückten. Die sozialpatriotische, tatkräftige Hilfe der Sozialdemokratie und der bürokratischen Gewerkschaftsapparate bildeten dabei in den meisten Ländern eine wesentliche soziale Stütze, die den Einfluss nationalistischer Ideologien und der Kriegshetze in der ArbeiterInnenklasse verstärkte.

Viele Untersuchungen zeigen, dass die Kriegsbegeisterung im Proletariat, anders als bürgerliche, aber auch viele sozialdemokratische IdeologInnen verbreiten, keineswegs allgemein war, sondern ein bedeutender Teil der Klasse dem Krieg von Beginn an skeptisch bis offen ablehnend gegenüberstand. Der Verrat der Sozialdemokratie bedeutete aber gerade die Illegalisierung, Isolierung und gezielte Marginalisierung dieser Teile.

In dieser weltgeschichtlichen Lage stellte der Kampf der Bolschewiki und anderer internationalistischer Linke für einen Bruch mit der II. Internationale, einschließlich des unversöhnlichen Kampfes gegen das Versöhnlertum, eine unerlässliche Voraussetzung für die Neuformierung der ArbeiterInnenklasse.

1917 – 1919: Periode des offen revolutionären Ansturms

Diese Periode des revolutionären Ansturms wurde durch politische Ereignisse, erste internationalistische Massendemonstrationen gegen den Krieg und v. a. die Februarrevolution, eingeläutet. Gegen Ende des Krieges und danach  stellte sich in einer Reihe europäischer Länder unmittelbar die Machtfrage bis hin zur Errichtung von landesweiten oder städtischen bzw. lokalen Räterepubliken und Doppelmachtorganen. Doch in Deutschland, Italien, Deutsch-Österreich, Ungarn, der Slowakei usw. wurde die Revolution geschlagen durch das Zusammenwirken von Reaktion und Sozialdemokratie. Mit den Niederlagen dieser Revolutionen wurde diese Klassenkampfperiode beendet.

1920 – 1923: Instabile Periode der Defensive und des Kampfes um die Massen

Dies war die Periode, die vor allem dadurch gekennzeichnet war, dass das revolutionäre Proletariat aus der Organisierung von Abwehrkämpfen heraus die Offensive vor dem Hintergrund einer nach wie vor turbulenten und höchst instabilen Weltlage organisieren musste.

Aber aufgrund der Niederlagen des unmittelbar revolutionären Ansturms konsolidierten sich die bürgerliche Herrschaft und die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie einigermaßen.

Ökonomisch und politisch blieb diese Periode jedoch weiter äußerst instabil. Sie zeigte enorm große Zuspitzungen des Klassenkampfes in einzelnen Ländern (z. B. Kapp-Lüttwitz-Putsch, Ruhrkrise). Sie kulminierte und endete 1923 im deutschen Oktober, der einer strategischen Niederlage der WeltarbeiterInnenklasse gleichkam.

Diese Periode erforderte von den KommunistInnen, die Lehren aus dem Scheitern des ersten Ansturms zu ziehen und ihr strategisches Ziel mit dem Kampf um die Massen in Phasen der Defensive, der leicht in den um die Macht umschlagen konnte, zu verbinden. Auch wenn die kommunistische Bewegung in dieser Phase viel Lehrgeld zahlen musste, wurden entscheidende politische, taktische und programmatische Schlussfolgerungen entwickelt (Einheitsfront, Übergangsforderungen), die bis heute ihren Wert behalten haben.

1924 – 1929: Periode der relativen Stabilisierung

Die Niederlage im Oktober 1923 ging Hand in Hand mit einer politischen Kursänderung der imperialistischen Mächte, v. a. mit einer stärkeren und die Lage in Europa stabilisierenden Rolle des US-Imperialismus (Zurückdrängen des rabiaten französischen Revanchismus, Währungsreform und Stabilisierung in Deutschland durch die USA). Diese Periode der relativen Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft kannte auch wichtige verpasste Chancen der ArbeiterInnenbewegung (Britannien), vor allem aber die Niederlage der chinesischen Revolution und die Stärkung der Stalinbürokratie sowie das massive Voranschreiten der Degeneration der Kommunistischen Internationale nach 1924.

Diese veränderte ihren Charakter von einer revolutionären zu einer zentristischen Organisation. Diese Degeneration stellte selbst einen Faktor dar, der den Spielraum der Weltbourgeoisie vergrößerte.

1929 – 1936: Weltwirtschaftskrise, große Depression, Zuspitzung der Klassenkämpfe

Die Weltwirtschaftskrise, die verschiedene Länder ab 1929 zeitversetzt traf, führte zu massiven inneren Erschütterungen, einer Reihe von Revolutionen und Konterrevolutionen.

Verschiedene Länder (Deutschland, Frankreich, Spanien) bildeten in dieser Phase den Schlüssel zur internationalen Lage, weil die Klassenkämpfe derartig intensive Formen angenommen hatten, dass deren Ausgang wesentlich nicht nur über Revolution und Konterrevolution im Inneren entschied, sondern auch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen auf weltweiter Ebene prägte.

Deutschland bildete am Beginn der 1930 Jahre in mehrfacher Hinsicht das Zentrum des Klassenkampfes. Erstens warf die tiefe Krise die Alternative Faschismus oder sozialistische Revolution und damit die zentrale Frage der ArbeiterInneneinheitsfront gegen die drohende Naziherrschaft und deren Verknüpfung mit dem Kampf um die Macht auf. Während die Sozialdemokratie die Klasse an das Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie zu binden versuchte, einschließlich der Unterstützung bonapartistischer Herrschaftsformen, erlebte die ultralinke Politik der KDP und der von Stalin geführten Komintern ihren historischen Bankrott. Sie erwies sich  als unfähig, ja, als Hindernis, die sozialdemokratischen ArbeiterInnen zu gewinnen und so überhaupt die Grundlage zu schaffen, den Nationalsozialismus zu schlagen.

Mit dieser historischen Niederlage und der Weigerung, dieses Fiasko selbstkritisch überhaupt nur zu diskutieren, war auch das Schicksal der Kommunistischen Internationale als revolutionärer Kraft besiegelt.

Die Erschütterungen durch die Weltwirtschaftskrise, aber auch die Schockwirkungen des Versagens der deutschen ArbeiterInnenbewegung eröffneten vorrevolutionäre und revolutionäre Möglichkeiten in Frankreich und Spanien, die jedoch von Sozialdemokratie und Stalinismus durch die Politik der Volksfront konterrevolutionär gestoppt wurden bzw. dem Sieg der Reaktion (Franco in Spanien) den Weg bereiteten.

Die Niederlage in Spanien vollzog sich im Grunde schon 1936 und eröffnete eine neue Periode im internationalen Klassenkampf, die vom Vormarsch der Konterrevolution auf allen Ebenen geprägt war.

1936 – 1943: Vormarsch der Konterrevolution

Die Niederlage in Spanien vollzog sich im Grunde schon 1936, und sie eröffnete, wie oben gesagt, eine neue Periode im internationalen Klassenkampf, die von einem Vormarsch der Konterrevolution auf allen Ebenen geprägt war. In Deutschland festigte sich die Nazidiktatur. Doch auch viele andere Länder griffen mehr und mehr zu bonapartistischen Herrschaftsformen. Die Vorbereitungen eines neuen Weltkriegs und dessen Ausbruch prägten diese Phase.

Für die ArbeiterInnenklasse waren das denkbar ungünstige Bedingungen. Nach dem Übergang der Sozialdemokratie ins bürgerliche Lager muierte eine weitere Internationale, die Komintern, zum Instrument einer reaktionären Bürokratie und zu einem Hindernis für die Revolution. Die Politik des Kreml nahm einen offen konterrevolutionären Charakter an, der sich direkt gegen das Proletariat bzw. die kommunistische Avantgarde richtete (spanischer Bürgerkrieg, Moskauer Prozesse, Hitler-Stalin-Pakt).

1943 – 1948: Revolutionäre Periode

Mit der Wende für den deutschen Imperialismus im Russlandfeldzug nach Stalingrad, der Konferenz von Jalta, aber vor allem auch mit der Entwicklung des Partisanenkriegs in Italien, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien zeichnete sich der abschließende offene Kampf um die Neuordnung der Welt ab.

Die innerimperialistischen Kräftefragen waren im Grunde schon zu diesem Zeitpunkt bereits gelöst. Der Gegensatz einer zukünftigen US-dominierten Weltordnung zur Sowjetunion trat mehr und mehr in den Vordergrund. Zugleich führten das kommende Kriegsende und die Nachkriegsperiode zu Doppelmachtsituationen in halb Europa. Die ehemaligen Kolonialmächte standen außerdem Aufstands- oder jedenfalls Massenbewegungen der Kolonialbevölkerungen gegenüber. Die Frage des Kampfes um die Macht stand insbesondere in Europa auf der Tagesordnung, und zwar in Gestalt des Ringens zwischen proletarischer Revolution und bürgerlicher Konterrevolution (wenn auch oft in „demokratischer“ Form, mitunter aber auch äußerst blutig, z. B. Griechenland).

Das waren die zentralen Voraussetzungen, damit andere ökonomische und politische Resultate des Zweiten Weltkriegs wirken konnten: die massive Vernichtung überschüssigen Kapitals, die Revolutionierung der Technik der US-Wirtschaft, die Ausdehnung der Konsumgüterindustrie in den USA, die damit verbundene Erhöhung der „Produktionsweise“ des relativen Mehrwerts und die Integration der ArbeiterInnenschaft als KonsumentInnen, die Etablierung einer globalen, vom US-Imperialismus bestimmten und garantierten globalen Finanz- und Wirtschaftsordnung, u. a. in Form der Gründung von IWF und Weltbank (Bretton Woods), der Zusammenbruch des Kolonialsystems (auch wenn die Entkolonialisierung noch mehr als ein Jahrzehnt brauchte und blutiger und heroischer Befreiungskämpfe bedurfte) und damit die Durchsetzung der US-Hegemonie (Open Door Policy).

Die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in Frankreich, Italien, Griechenland, kurzum die konterrevolutionäre Befriedung wären unmöglich gewesen ohne die Kollaboration von Sozialdemokratie, Stalinismus und Gewerkschaftsbürokratie.

Schon im Zweiten Weltkrieg und im Aufbau der Nachkriegsordnung wurden die britischen und US-amerikanischen Gewerkschaften, die Labour Party und die schwedische ArbeiterInnenbewegung als zuverlässige, antikommunistische Bollwerke aufgebaut. Diese unterstützten tatkräftig die Rekonstruktion der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften in der westlichen Einflusssphäre im Sinne des Imperialismus. Nicht minder wichtig war die Kooperation des Stalinismus mit seiner Politik der „friedlichen Koexistenz“, die zwar einerseits als Gegnerin der US-geführten imperialistischen Welt im Kalten Krieg auftrat, zugleich aber unverzichtbare, konterrevolutionäre Garantin der Nachkriegsordnung war.

Die Degeneration der Vierten Internationale 1948 und ihr organisatorischer Zerfall 1953 waren ein wichtiges, wenn auch keineswegs unvermeidliches Resultat der historischen Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in der Nachkriegsperiode und der darauf aufbauenden konterrevolutionären Stabilisierung. Die Vierte Internationale war trotz ihrer geringen Größe – ähnlich wie die InternationalistInnen am Beginn des Ersten Weltkriegs – ein gewichtiger Faktor der Weltpolitik. Die Tatsache, dass sie zu keinem Generalstab der Weltrevolution wurde, ihre Degeneration und ihr Zerfall und der damit verbundene Abbruch der revolutionären Kontinuität, das Fehlen einer revolutionären Internationale seit Jahrzehnten verkörpern ebenfalls einen wesentlichen Faktor der Weltpolitik und Weltordnung, der die kommenden Perioden mit charakterisierte.

Allein die Tatsache, dass die verschiedenen Reste der Vierten Internationale, dass der Trotzkismus nach 1948 bei allen wichtigen Wendepunkten des Klassenkampfes versagt hatte, verdeutlicht, dass die Vierte Internationale für die Revolution gestorben ist, dass der Aufbau einer neuen, revolutionären Fünften Internationale die drängende Aufgabe unserer Zeit schlechthin bedeutet. Ein wesentlicher Grund für dieses Versagen bestand darin, dass die Vierte Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in der Lage war, eine veränderte Weltlage konkret zu analysieren, die relative Stabilisierung des Weltkapitalismus spätestens nach 1948 lange bestritt. Dies führte tragisch-ironisch mit dazu, dass zugleich zentrale revolutionäre Momente des programmatischen Verständnisses der Vierten revidiert wurden (Stalinismus, Bedeutung der revolutionären Partei).[cvi]

13.3 1948 – 1968: Periode des Langen Booms und der unumstrittenen US-Vorherrschaft

Die USA waren die eindeutige Hegemonin, die den Dollar als Weltgeld durchgesetzt hat. Mit dem Abkommen von Bretton Woods war ein System fester Wechselkurse gegenüber dem Dollar, seine Goldanbindung und ein Mechanismus des Gegensteuerns gegen Währungsungleichgewichte (IWF = Internationaler Währungsfonds) geschaffen. Die Struktur der Kapitalströme im Nachkriegsboom kennzeichnete ein großer Anstieg von Kapitalexporten zwischen den imperialistischen Zentren USA, Deutschland und Japan, die gleichzeitig ökonomische Netze von Landesgesellschaften in den Halbkolonien aufbauten.

Die wichtigsten Voraussetzungen für mehrere Zyklen erweiterter Reproduktion des Kapitals in allen imperialistischen Zentren waren folgende:

  • Die massive Vernichtung fixen Kapitals in Europa und Japan im und auch nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Erneuerung des Kapitalstocks.
  • Die Öffnung der britischen und französischen Kolonien für den Weltmarkt des Kapitals.
  • Die Etablierung einer auf die fast absolute Hegemonie des US-Imperialismus gestützten internationalen Finanzordnung
  • – Damit verbunden die Herstellung zentraler Felder für den Export des US-Kapitals nach 1945 und somit die Überwindung seiner eigenen inneren Expansionsschranken.
  • Die hohen Profitraten im industriellen Sektor und die damit verbundene Expansionsdynamik.
  • Die dramatische Erhöhung der Ausbeutungsrate der ArbeiterInnenklasse in allen imperialistischen Staaten während des Zweiten Weltkrieges und weitere Entwertung der Einkommen der Lohnabhängigen durch die Währungsreformen nach 1945.
  • Die größere Bedeutung der Arbeitsmigration (v. a. halbkoloniale Arbeitsmärkte, aber in Deutschland auch Vertriebene) nach 1945 und ein damit verbundener „Neustart“ der Akkumulation in Japan und Westeuropa unter Einschluss von Arbeitskräften, deren Preis weit gedrückt wurde oder deren Herstellung das eigene Kapital nichts gekostet hat (und damit verbunden Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft).
  • Weitaus stärkere Einbeziehung von Frauen in die Lohnarbeit, was umgekehrt auch eine Veränderung der privaten Hausarbeit erforderte.
  • Die Vernichtung von Kapital und die relativ billige Arbeitskraft nach 1945 gingen einher mit einer massiven, über mehrere Zyklen laufenden Ausdehnung der Produktion.
  • Ein wesentlicher Aspekt der Ausdehnung der Produktion bildete die Ausdehnung des Konsumgütersektors, die stetige Steigerung der Produktivität der zu ihrer Herstellung verwandten Arbeitskraft und damit die Kombination von erweiterter Reproduktion des Kapitals, steigenden Profitmassen, Erweiterung der Nachfrage nach Arbeitskraft sowie Aneignung von Mehrwert, v. a. durch relative Mehrwertproduktion.

Auf der Grundlage der zyklenübergreifenden erweiterten Reproduktion des Kapitals haben die USA und ihre Verbündeten eine ganze Reihe globaler Institutionen geschaffen, die diese Ordnung zugleich absichern: Bretton Woods und Goldstandard; Dollar als Weltgeld; internationaler Währungsfonds und Weltbank; die UNO als Institution, die alle imperialistischen Staaten und alle degenerierten ArbeiterInnenstaaten umfasst. Hinzu kamen die imperialistischen Allianzen wie die NATO, die Gründung der EG usw. Zum Teil existieren diese Institutionen, wenn auch mit großen Veränderungen bis hin zu veränderten Zielsetzungen (z. B. EG – EU), bis heute.

All das erlaubte eine ganze Periode mehrerer expansiver industrieller Zyklen, eine Akkumulationsperiode der erweiterten Reproduktion. Die Produktivkraft der Arbeit wuchs über mehrere Zyklen.

Die USA fungierten in dieser Periode faktisch als Demiurgin des Weltmarktes. Sie stellten nicht nur das Weltgeld (Dollar), der US-Konjunkturzyklus bestimmte nach dem Zweiten Weltkrieg auch den Weltmarktzyklus, der faktisch parallel zur US-Konjunktur verlief.

„Innerhalb des Welthandels dominieren die USA nach dem 2. Weltkrieg absolut. Gemessen an den Weltexporten bestritten sie in den 1950er Jahren eine Quote von rund 20 %. Dies war doppelt so viel wie die der nächstfolgenden Nation Großbritannien, die trotz der fortbestehenden Begünstigung durch Handelsschranken nur auf 10 % kam. Wiederum die Hälfte des britischen Anteils konnte Frankreich in diesem Zeitraum auf sich vereinigen (5 %), sodass die westlichen Siegermetropolen des 2. Weltkriegs in dem dem Krieg folgenden Jahrzehnt mehr als ein Drittel der Weltexporte bestreiten. ( … )

Diese ausgeprägte Ungleichheit der Welthandelsanteile zwischen den führenden kapitalistischen Weltmarktmetropolen, wie  sie sich als Ergebnis langfristiger ökonomischer Entwicklungstendenzen sowie politischer Konstellationen im Anschluss an den 2. Weltkrieg ergab, verschaffte dem zyklischen Verlauf der Kapitalakkumulation in den USA zunächst den prägenden Einfluss auf die Konjunkturen des Weltmarkts. Obwohl das US-Nationalkapital aufgrund seines großen Binnenmarkts nur eine vergleichsweise niedrige Außenhandelsverflechtung ausweist, war die prägende Kraft des USA-Zyklus für die Konjunkturen des Welthandels und in weiterer Instanz für die nationalen industriellen Zyklen der nachgeordneten kapitalistischen Metropolen evident.“ [cvii]

Die 20 % müssen ins Verhältnis zum Gewicht der US-Ökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Weltwirtschaft gestellt werden. Rund 40 % der Industrieproduktion entfielen auf die USA, ihr Markt stellte den mit Abstand größten und bedeutendsten Binnenmarkt dar. Sie verfügten im eigenen Land und in Venezuela über Zugang zu relativ günstigem Öl als dem entscheidenden Energieträger, die US-Landwirtschaft erzeugte Überschüsse. Europa und die Öffnung des Weltmarktes erlaubten dem US-Kapital zu expandieren, faktisch als Monopolist hinsichtlich von Industriewaren- und Kapitalexport zu fungieren und sich gleichzeitig auf die den Weltmarkt prägende Binnenökonomie zu stützen.

Es sind also Sonderbedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg, nach erfolgter Neuaufteilung der Welt und der faktisch absoluten Hegemonie der USA gegenüber ihren imperialistischen RivalInnen durchgesetzt wurden, die die Grundlage für den außergewöhnlichen Charakter der Nachkriegsperiode bildeten und deren Sonderstellung für die gesamte imperialistische Epoche erklären.

Bestimmte Aspekte der Epoche traten jedoch sogar stärker hervor. Zugleich etablierte das Finanzkapital mit der halbkolonialen Neuordnung der Welt die dem Kapitalismus eigentlich entsprechende Form der Unterordnung und Abhängigkeit der von den imperialistischen Mächten beherrschten Teile der Welt.

Die Vorherrschaft des Finanzkapitals festigte sich noch mehr durch die enge Bindung zwischen Banken, Industriekapital und staatlicher Politik. In jenen imperialistischen Ländern, wo die großen Monopole der vorherigen Periode z. T. zerschlagen wurden (z. B. IG Farben in Deutschland) etablierten sich rasch neue Großkonzerne, die in Summe eine nicht minder marktbeherrschende Stellung im globalen Rahmen einnahmen (Bayer, Höchst, BASF). Gerade im Agrar- und Konsumgütersektor erreichte die Tendenz zur Monopolisierung oder eine oligarchische Aufteilung der Märkte einen Umfang, der vor dem Zweiten Weltkrieg nicht oder nur ausnahmsweise bekannt war. Dies reflektiert nicht nur die Zentralisations- und Konzentrationstendenzen in den Metropolen, sondern vor allem auch die Erweiterung der Operationen dieser Kapitale in den halbkolonialen Ländern und die Umwälzung der landwirtschaftlichen Produktion nach 1945 überhaupt.

Zweitens wurden die kolonialen und die halbkolonialen Länder stärker als vor 1945 qualitativ stärker in den kapitalistischen Weltmarkt integriert. Die kolonialen Befreiungsbewegungen und der Übergang der Länder Asiens und Afrikas von einer kolonialen zur indirekten, halbkolonialen Herrschaftsform und Einbindung in den Weltmarkt spiegelten einerseits den Druck demokratischer und revolutionärer Bewegungen wider. Andererseits brach auf diese Weise nicht nur der privilegierte Zugang der alten Kolonialmächte zu diesen Märkten auf. Die staatliche, formale Unabhängigkeit entsprach auch der Verbreiterung des kapitalistischen Verhältnisses in den Ländern, was zu ihrer auf den Weltmarkt bezogener Teilindustrialisierung und zu einem Wachstum des Proletariats führte, aber auch zur Umwälzung der Verhältnisse auf dem Land und der prekären Einbindung der Agrarproduktion in den Weltmarkt. Die sog. Grüne Revolution in Indien illustriert diese Veränderung, indem sie Millionen und Abermillionen von Bauern abhängig machte von Saatgut und Pestiziden, die von wenigen Agrarkonzernen der imperialistischen Zentren monopolisiert werden. Die für Halbkolonien typische Form der Weltmarktabhängigkeit bedeutete auch, dass die formale Unabhängigkeit der Länder mit einer Verstärkung der Abhängigkeit vom Weltmarkt einherging. An die Stelle formeller Fremdbestimmung trat auch in diesen Ländern die stumme Macht der Verhältnisse, die im Zweifelsfall durch direkte Interventionen abgesichert wurde und wird.

Drittens war die Periode auch von einer Ausdehnung der degenerierten ArbeiterInnenstaaten nach 1948 geprägt (China, Osteuropa, Nordkorea, Kuba, Vietnam). Der polare Gegensatz von USA und UdSSR kennzeichnete die Weltpolitik, der aufgrund der Politik der stalinistischen Bürokratie selbst eine stabilisierende Funktion für die Gesamtperiode mit sich brachte –  ja, ohne deren Politik wäre die relative Stabilität der Weltordnung unmöglich gewesen.

Die stalinistische Bürokratie unterdrückte nicht nur die ArbeiterInnenklasse in den von ihr beherrschten Staaten, sie stellte zugleich ein Haupthindernis für die Revolutionierung der antikolonialen Befreiungsbewegungen und des Proletariats dar. Sie offenbarte hier deutlich ihren Charakter als Agentur des Weltimperialismus.

Die erweiterte Reproduktion in den kapitalistischen Ländern ging auch mit einer Ausdehnung der industriellen und produktiven Basis in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten, v. a. der UdSSR und Osteuropas auf Basis der Erneuerung der Industrie infolge der Zerstörungen des Krieges, einher. Dies führte mit zu einer Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft nach 1953 – 1956, aber auch zu einer Festigung des globalen Status quo.

Die Zunahme von degenerierten Arbeiterstaaten nach 1948 verdeutlicht den Übergangscharakter der imperialistischen Epoche, aber auch, dass diese selbst in das imperialistische Weltsystem zeitweilig integriert werden können und die Politik der Bürokratie zu deren Stabilität funktional beiträgt.

Schließlich erlaubten die Expansion des Kapitalismus und die geopolitische Frontstellung zwischen dem US-Imperialismus und der Sowjetunion den halbkolonialen Ländern auch einen gewissen Spielraum. Die UdSSR versuchte, verbündete Staaten wie Kuba nach der Revolution zu stützen. Eine Reihe linksnationalistischer Regime verfolgte eine staatskapitalistische oder eine, jedenfalls über bedeutende staatliche Interventionen vermittelte, Strategie zur industriellen Entwicklung, was jedoch letztlich scheiterte. Interessanterweise konnten ähnliche Phänomene auch bei Ländern beobachtet werden, die von den USA gestützt wurden (z. B. Türkei, Israel, Südkorea, Taiwan), die zeitweilig günstige Bedingungen zur Kapitalakkumulation eingeräumt erhielten, weil sie als wichtige geostrategische Verbündete gegen  „Kommunismus“ und Befreiungsbewegungen fungierten.

Damit wären wir bei einem weiteren zentralen Charakteristikum der Periode des Langen Booms und der uneingeschränkten US-Hegemonie unter den imperialistischen Staaten angekommen: die qualitativ stärkere Einbindung der ArbeiterInnenaristokratie und der ArbeiterInnenbürokratie in die bürgerliche Gesellschaftsordnung. Die Gewerkschaften und die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien wuchsen nicht nur zu bislang unüblichen und ungeahnten Größen, sie wurden auch in die Formen staatlicher Herrschaft und die Regulation des Kapitalverhältnisses eingebunden. Die bürgerliche Herrschaft wurde in diese Organisationen verlängert. Die Gewerkschaftsbürokratie, die Führungen und der Apparat der Sozialdemokratie oder der Labourparteien agierten als politische Polizei in der ArbeiterInnenklasse.

Die Expansion des Kapitalismus führte in den 1960er Jahren zu einer massiven Ausdehnung der privilegierten Schichten des Proletariats in den imperialistischen Ländern, wobei auch in den Halbkolonien und in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten solche Phänomen, wenn auch in geringerem Maße und auf einer schwächeren ökonomischen Grundlage, beobachtbar waren. Die Akkumulationsdynamik zog aber auch für einige Zeit die mittleren und selbst unteren Schichten der Klasse in ihren Bann, da die Masse der Gebrauchswerte zunahm, die die  ArbeiterInnenklasse konsumieren konnte. Diese reale Ausdehnung der Konsummöglichkeiten und eine partielle Öffnung von Bildungschancen (aufgrund der Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft) untermauerten das soziale Aufstiegsversprechen des Langen Booms. Schließlich schuf dieser auch die Basis für eine viel tiefere Durchdringung der ArbeiterInnenklasse mit bürgerlicher Ideologie und „Massen“kultur.

All das darf keineswegs zur falschen Einschätzung führen, dass diese geschichtliche Periode frei von massiven Klassenkämpfen und Krisen gewesen wäre. An dieser Stelle verweisen wir nur auf den Koreakrieg, antikoloniale Befreiungsbewegungen wie z. B. in Algerien, (StellvertreterInnen-)Kriege, Vertreibung der PalästinenserInnen, Aufstände und Revolutionen in der DDR, in Polen und Ungarn, die bolivianische und die kubanische Revolution, um zu verdeutlichen, dass auch diese Abschnitte reich an Kämpfen waren. Aber die expansive Dynamik der Kapitalakkumulation, die Vorherrschaft der USA und die konterrevolutionären Rolle von Stalinismus und Sozialdemokratie bildeten die Grundlage für eine längere Periode relativ stabiler Herrschaft in den imperialistischen Zentren, die auch Erschütterungen in anderen Regionen vergleichsweise unbeschadet überstand.

Das Fehlen einer revolutionären Alternative zum bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus, zu Stalinismus und Sozialdemokratie, also zu den vorherrschenden Kräften in der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten in dieser Periode, verstärkte diese Dynamik.

13.4 1968 – 1989: Periode des Niedergangs der Nachkriegsordnung

Das Ende des Langen Booms kündigte sich bereits mit dem Niedergang der Profitraten, dem Erlahmen der Akkumulationsdynamik an. Auch wenn der Akkumulationszyklus nach dem Zweiten Weltkrieg, streng genommen, bis Anfang der 1970er Jahre, bis zur Krise 1973/74 dauerte, so begann die neue geschichtliche Periode schon 1968. Gleichwohl müssen wir uns kurz mit der ökonomischen Entwicklung beschäftigten, die ihr zugrunde lag.

Die Profitraten in den imperialistischen Staaten entwickelten sich dabei schon vor der Krise ungleichmäßig. Im Folgenden stützen wir uns auf Berechnungen von Stefan Krüger.[cviii] Auch wenn die Zahlen verschiedener marxistischer AutorInnen im Einzelnen abweichen, so geben sie wieder, was für uns an dieser Stelle entscheidend ist: nämlich die gleiche Entwicklungslinie. Die Profitrate von US-Kapitalgesellschaften lag nach dem Krieg (bis 1954) auf ihrem höchsten Niveau (12 %), sank in den 1950er Jahren, um sich in den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre auf einem niedrigen Niveau von 6 bzw. 5 % einzupendeln. Die Profitrate des westdeutschen und japanischen Kapitals lag seit den 1950er Jahren deutlich höher als jene des US-Kapitals. Anfang der 1950er Jahre lag die des BRD-Kapitals bei über 25 % und sank in den folgenden Zyklen stetig, fiel aber langsamer als jene der USA, um sich in den 1970er Jahren bei unter 10 % einzupendeln. Die Kurve der Profitratenentwickelung des japanischen Gesamtkapitals zeigte eine wichtige Besonderheit. Sie erreichte in den 1960er Jahren mit rund 35 % ihren Höhepunkt, fiel in den siebziger Jahren deutlich ab und erreichte 10 – 15 % für die späten 1970er und 1980er Jahre.[cix]

Uns geht es an dieser Stelle nicht um eine Diskussion der Profitraten in einzelnen Ländern, wohl aber um einen internationalen Trend. Die Entwicklung des deutschen und japanischen Kapitals (Profitraten, Wachstumsraten ihrer Nationalökonomien, Weltmarktanteile) reflektieren das wachsende Gewicht der beiden wichtigsten und ökonomisch dynamischsten Rivalen der USA. Sie entwickelten sich für die USA zu Herausforderern ihrer ökonomischen Vorherrschaft, die Ende der 1960er Jahre ihren absoluten Charakter eingebüßt hatte. Auch der Weltmarktzyklus wurde nun nicht mehr bloß von einer Nation bestimmt, vielmehr gingen v. a. die Bewegungen des japanischen und westdeutschen Kapitals in diese ein. Beide konnten, was den Anteil am Welthandel betrifft, zu den USA in den 1970er und 1980er Jahren aufschließen oder diese gar überholen. Dass sich die USA gezwungen sahen, den Goldstandard aufzugeben, brachte die Verschiebung der Weltwirtschaft schlagend zum Ausdruck.

Zweitens verweisen die niedergehenden Profitraten in imperialistischen Weltökonomien wie auch eine Untersuchung für Frankreich, Britannien, Italien und Kanada darauf, dass die Weltwirtschaft insgesamt in eine lang andauernde strukturelle Überakkumulationsperiode des Kapitals geriet. Diese prägt die Weltwirtschaft bis heute entscheidend, auch wenn die verschiedenen Entwicklungsphasen seit den 1970er Jahren immer von bestimmten ökonomischen und geopolitischen Konstellationen geprägt sind, die dieses Problem überwinden oder zumindest  kompensieren sollen.

Insofern markierte 1968 den einschneidenden, eigentlichen Periodenwechsel hinsichtlich der politisch-ökonomischen Gesamtentwicklung. Die Krisentendenzen des globalen Systems äußerten sich in der wachsenden, globalen Protest- und Widerstandsbewegung gegen den US-Imperialismus wie auch im „Prager Frühling“. Den entscheidenden Wendepunkt markierte jedoch der Mai 1968 in Frankreich und damit die Entwicklung einer revolutionären Situation in einem imperialistischen Kernland.

1968 – 1974/75: Revolutionäre Klassenkampfperiode

Anders als die Klassenkämpfe während des Langen Booms trug die Entwicklung nach 1968 einen globalen Charakter, die in allen wichtigen Regionen der Welt zu einem massiven Anwachsen von Klassenkämpfen bis hin zu revolutionären Erschütterungen und Krisen führte: revolutionäre Situationen in Frankreich und Italien 1968 und 1969, die Radikalisierung in den USA, das allgemeine abrupte Anwachsen der radikalen Linken wie der ArbeiterInnenbewegung weltweit, die bolivianische und chilenische Revolution, die Nelkenrevolution in Portugal, der Prager Frühling.

Bei aller Unterschiedlichkeit war den Kämpfen gemeinsam, dass sie die Aktualität der Revolution auf die Tagesordnung setzten – bis hin zur Entwicklung von Doppelmachtorganen, die die Machtfrage praktisch aufwarfen.

1968 bis 1974/75 stellte eine revolutionäre Klassenkampfperiode im Weltmaßstab dar. Die Tiefe der Führungskrise des Proletariats zeigte sich freilich auch darin, dass weit über die einzelnen Länder hinausgehende Niederlagen den Sieg der Konterrevolution markierten – sei es auf extrem blutige, diktatorische Art wie z. B. in Chile 1973 oder durch die konterrevolutionären Befriedung wie in der portugiesischen Revolution 1974/75, deren Niederlage auch den Endpunkt dieser Klassenkampfperiode darstellte.

1975 – 1979: Die sozialdemokratische Befriedungsperiode

Die Niederlage des US-Imperialismus in Vietnam, der Aufstieg europäischer und japanischer Rivalen und die Unfähigkeit der imperialistischen Bourgeoisie, einerseits die ArbeiterInnenklasse in der ersten großen Nachkriegskrise „direkt“ zu schlagen sowie  die Unreife und politische Schwäche der subjektiv revolutionären StudentInnen und ArbeiterInnen andererseits  riefen die Sozialdemokratie als eine zentrale Agentur zur Rettung und Stabilisierung auf den Plan. Sie versuchte dabei auch, auf Reserven zur Befriedung und sozialpolitischen Abfederung der Krise zurückgreifen. Ihre ökonomische Hauptmethode bildete der Keynesianismus und die damit einhergehende enorme Ausweitung der Staatsschulden.

Schon Anfang der 1970er Jahre war die Goldbindung des Dollars längst Fiktion, ebenso das System fester Wechselkurse. Mit dem Zusammenbruch von Bretton Woods verlor die US-Zentralbank die Kontrolle über einen Teil der weltweiten Dollarguthaben. Durch das Entstehen der großen Offshore-Dollarguthaben („Petrodollars“ genannt, da ihre Quelle oft in ölexportierenden Ländern lag) in den 1970ern wurde mit dem Ende des Nachkriegsbooms eine neue Periode der Kreditvergabe in großem Stil an lateinamerikanische und asiatische Staaten eingeleitet. Diesmal waren es vor allem Geschäftsbanken in den imperialistischen Zentren, sofern sie über diese Dollarreserven verfügten, die diese Verschuldungswelle in Gang hielten.

Das Problem der sozialdemokratischen Politik war letztlich, dass sie keine Hauptklasse der Gesellschaft befriedigen konnte. Die Einkommen der ArbeiterInnenklasse erodierten schon aufgrund der Inflation und der geforderten „Zurückhaltung“ angesichts der krisenhaften Entwicklung. Zugleich war die ArbeiterInnenbewegung oft noch zu stark, um eine bürgerliche Krisenpolitik einfach zu schlucken. Konnte und wollte die Sozialdemokratie schon den Lohnabhängigen nicht geben, was diese erwarteten, so konnte ihre Politik der Vermittlung zwischen den Klassen erst recht nicht das Kapital zufriedenstellen.

1979 – 1989: Periode der neoliberalen Offensive

Die Bildung der Regierung Thatcher 1979 und ihr offensives, neoliberales Kampfprogramm markierten den Bruch mit der sozialdemokratischen Politik und bildeten den politischen Einschnitt in dieser geschichtlichen Periode. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die neoliberalen IdeologInnen ihre Strategie nur in Halbkolonien, am blutigsten in Chile, umgesetzt. Der Thatcherismus präsentierte einen strategischen Angriff auf allen Fronten, einen regelrechten Krieg gegen die ArbeiterInnenklasse und ihre Avantgarde, die BergarbeiterInnen. Auf dem Weg dazu brach Thatcher aus gutem Grund den Malwinenkrieg vom Zaun, um damit ihre unangefochtene Führung im bürgerlichen Lager zu festigen, KleinbürgerInnentum und rückständige ArbeiterInnen an den Nationalismus zu binden. Gleichzeitig offenbarte sie auch die sozialpatriotische Ohnmacht der Labour-Führungen, die den reaktionären Krieg unterstützten und damit Thatcher in die Hände spielten. Die Niederlage der BergarbeiterInnen nach einem rund einjährigen Streik stellte eine historische Niederlage für die britische ArbeiterInnenklasse dar, die auch international nachhaltige, demoralisierende Auswirkungen hatte.

Der Reaganismus folgte auf dem Fuß. Er markierte nicht nur eine klare strategische Neuausrichtung des US-Imperialismus hin zu einem aggressiven Kurs gegenüber der UdSSR, sondern auch zur Reetablierung verlorengegangener US-Hegemonie und Dominanz. Ökonomisch gesehen hatten sich die keynesianischen Maßnahmen erschöpft. Ähnlich wie Thatcher in Britannien führte auch Reagan einen regelrechten Klassenkrieg gegen wichtige Sektoren der US-ArbeiterInnenklasse. So hatte z. B. die Niederlage des Fluglotsenstreiks eine weit über diesen Bereich hinausgehende Bedeutung.

Die veränderte US-Zinspolitik trug maßgeblich zur Ausbreitung der massiven Schuldenkrisen Anfang der 1980er Jahre bei, die durchaus auch als Kampfmittel, v. a. des US-Finanzkapitals, genutzt wurde. Das Resultat ist bekannt: Die Interessen der betroffenen Gläubigerstaaten wurden kombiniert durch den IWF vertreten und führten mindestens ein Jahrzehnt zu einem harten „Entschuldungsregime“ in Lateinamerika und Asien. Als Konsequenz des Endes von Bretton Woods und der Verschuldungskrise müssen halbkoloniale Länder nun einerseits große Währungsreserven in Dollar oder anderen harten Währungen (Yen; DM, später Euro) halten, andererseits restriktive Haushaltspolitik betreiben, um nicht zu Opfern massiver Spekulationswellen gegen ihre Währung oder ihren Anleihemarkt zu geraten.

Insgesamt markierten Thatcherismus und Reaganismus eine globale Offensive des US-Imperialismus gegen:

  • die eigene ArbeiterInnenklasse. Ähnliche Angriffe wurden in anderen imperialistischen Ländern gefahren, wenn auch nicht in vielen und nicht mit demselben durchschlagenden Erfolg wie in Britannien. So blieb Kohls „geistig-moralische Wende“ in Ansätzen stecken;
  • die halbkoloniale Welt durch die Politik der strukturellen Anpassungsprogramme und die Benutzung der Schulden und der Finanzpolitik als Instrumente, diese für imperialistisches, anlagesuchendes, überschüssiges Kapital zu öffnen;
  • die degenerierten ArbeiterInnenstaaten durch die Hochrüstungspolitik der 1980er Jahre und zugleich die Schuldenfalle, in die v. a. die osteuropäischen Länder in den 1970er Jahren getappt sind;
  • und schließlich einen erfolgreichen Versuch, die wichtigsten, auf den Plan getretenen imperialistischen Rivalen Japan und BRD dazu zu zwingen, einen Teil der Rettungskosten für die US-Ökonomie zu übernehmen (Volcker-Schock).

Der Reaganismus und der Thatcherismus stießen in den 1980er Jahren auf den Widerstand großer und starker Massenbewegungen, einschließlich des einjährigen Streiks der britischen BergarbeiterInnen, der Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung, des Widerstands von Sandinismus und Bürgerkrieg in Nicaragua, der Kämpfe der brasilianischen und südafrikanischen ArbeiterInnenklasse, die zu militanten, klassenkämpferischen gewerkschaftlichen Bewegungen und zur Formierung einer zentristischen Massenpartei im Falle der PT führten.

Generell endete diese Periode der imperialistischen Offensive trotz heroischer Abwehrkämpfe mit einer Reihe wichtiger Niederlagen der ArbeiterInnen und einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der imperialistischen Bourgeoisien. Die neoliberalen Reformen, die in den 1990er Jahren verallgemeinert wurden, bedeuteten für die Massen, insbesondere in Lateinamerika, ein „verlorenes Jahrzehnt“.

Vor allem aber erschütterte der Rüstungswettlauf die UdSSR und Osteuropa nachhaltig, da sie die seit den 1970er Jahren immer stärker hervortretende wirtschaftliche Stagnation weiter verschärften. Die stalinistische Bürokratie versuchte, auf die Offensive der USA mit einer Mischung aus „offensiver Friedenspolitik“ (Gorbatschows „Unser Haus Europa“), marktwirtschaftlichen Reformen (Perestroika) und begrenzter politischer Öffnung unter bürokratischer Kontrolle (Glasnost) zu antworten. Diese schlug fehl, ja, verschärfte die innere Krise der stalinistischen Staaten und führte zur zunehmenden Fragmentierung der Bürokratien selbst. Die Todeskrise des Stalinismus und damit der politischen Nachkriegsordnung war eingeläutet.

13.5 1989 – 2008: Globalisierungsperiode unter US-Hegemonie

Die Periode nach 1989 stellt in vieler Hinsicht eine Verallgemeinerung der neoliberalen Agenda dar. Doch sie bildet nicht einfach deren Fortsetzung, weil die Erfolge von Reagan und Thatcher auch die gesamte imperialistische Nachkriegsordnung erschütterten, als sie zur Todeskrise des weltpolitischen und geostrategischen Konkurrenten (der UdSSR und ihres Lagers) führten und, nach der Phase des Umbruchs 1989 – 1991, eine qualitativ andere Weltlage entstehen ließen.

1989 – 1991: Todeskrise des Stalinismus

Die Globalisierungsperiode begann mit einer kurzen, weltgeschichtlich revolutionären Klassenkampfperiode, die sich von 1989 bis spätestens 1991, dem Sturz Gorbatschows und der Etablierung eines bürgerlich restaurativen Staates in Russland erstreckte.

Aufgrund der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse, der Passivität und ideologischen Schwäche wie auch akkumulierten Niederlagen des Proletariats im Westen dauerte diese jedoch nur sehr kurz an. Als die großen Siegerinnen dieser Periode gingen die imperialistischen Mächte, allen voran die USA und zu einem bedeutenden, wenn auch geringeren Teil, Deutschland hervor. Sie schaffte die politischen, klassenmäßigen Vorbedingungen für die Reetablierung der US-Hegemonie in einem noch in den 1980er Jahren für unmöglich gehaltenen Ausmaß.

Der deutsche Imperialismus ging als Sieger aus der ersten, kurzen Klassenkampfperiode der Globalisierung hervor a) wegen der Inkorporation eines ganzen Staates (der DDR) in ein Land, dessen Wiedervereinigung die Gestalt einer Ausweitung des Systems der BRD annahm, b) wegen des Abstreifens zentraler Einschränkungen der Handlungsfähigkeit des deutschen Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg, c) wegen der Verschiebung des ökonomischen Kräfteverhältnisses zugunsten Deutschlands in Europa.

1992 – 1998: Blüte der Globalisierung, demokratisch-konterrevolutionäre Periode

Als unbestrittener Sieger des Kalten Kriegs und der Restauration des Kapitalismus versuchte der US-Imperialismus, sowohl die ökonomischen als auch politischen Früchte des Sieges zu ernten und dauerhaft zu nutzen. Die Niederlagen der ArbeiterInnenklassen in den USA und Britannien in den 1980er Jahren und die Restauration des Kapitalismus haben Anfang der 1990er Jahre die Kapitalistenklasse in die Offensive gebracht.

Gestützt auf eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der herrschenden Klasse aufgrund realer materieller Erfolge sowie einer beginnenden Restrukturierung des Kapitals erleben wir seit Beginn der 1990er Jahre eine neue Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche, welche gemeinhin „Globalisierung“ genannt wird.

In den 1970er Jahren hatten die imperialistischen Länder versucht, des Problems der Überakkumulation durch keynesianische Wirtschaftspolitik Herr zu werden. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre war dieses Mittel erschöpft. Statt einer Lösung kam es zu einer krisenhaften Zuspitzung in Form des weltweiten Schuldenproblems. Daher änderte sich auch die politische Strategie in allen großen kapitalistischen Ländern, wobei die USA unter Reagan und Britannien unter Thatcher eine Vorreiterrolle spielten.

Durch den Zusammenbruch des Stalinismus, den Sieg der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg erhielten diese Strategien auf dem Feld der internationalen Beziehungen einen enormen zusätzlichen Schub.

Was waren die entscheidenden Entwicklungen?

Erstens wurden Schranken des internationalen Handels, vor allem des Kapitalverkehrs seit den 1980er Jahren und besonders zu Beginn der 1990er in rasender Geschwindigkeit außer Kraft gesetzt. Auch wenn diese Internationalisierung notwendigerweise selektiv vor sich ging, auf die imperialistischen Länder und einige Halbkolonien konzentriert war, so hatte diese Ausdehnung des Welthandels insgesamt eine stützende Funktion für die kapitalistische Weltwirtschaft.

Wichtiger als diese waren und sind jedoch die Ausdehnung von Direktinvestitionen und der Spekulation.

Diese stellen selbst einen Ausdruck verschärfter Konkurrenz unter den großen Nationalökonomien und stärkerer Dominanz des Banken- und Fondskapitals über das industrielle dar. Schließlich spekulieren die großen Banken und Konzerne nicht, weil sie die Spekulation an sich der Profitmacherei in der Produktion vorzögen. Vielmehr ergibt sich die „Flucht“ in Aktienmärkte, Währungsspekulation, Termingeschäfte usw. selbst aus relativ geringen Profiterwartungen in der Industrie.

Die verschärfte Konkurrenz führt gleichzeitig zu immer größerer Zentralisation. Investiert wird nur zum geringen Teil in die Erweiterung bestehender Anlagen. Viel wichtiger sind die Fusion, die Übernahme, die Ballung des Kapitals in einer Hand oder Rationalisierungsinvestitionen, die rasche Einführung neuester Technik.

So können sich die größten Konzerne die entsprechenden Konkurrenzvorteile, nämlich Präsenz auf allen Märkten sowie Monopolpreise und Extraprofite aus kurzfristigen technologischen Vorsprüngen, sichern.

Es ist in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, dass die großen multinationalen Konzerne nicht mehr wie noch Anfang der 1980er Jahre Diversifikation (also die Präsenz auf möglichst vielen Geschäftsfeldern) anstreben, sondern die Konzentration auf bestimmte Sparten, in denen die Weltmarktführerschaft oder zumindest Position zwei oder drei anvisiert oder verteidigt werden sollen.

Insgesamt führte das zu einer enormen Zentralisation des Kapitals (weniger der Konzentration), die selbst wiederum nur durch eine riesige Ausdehnung des Kredites und der Aktienmärkte möglich war, um das für die „Übernahmeschlacht“ notwendige Kapital bereitstellen zu können. Die stärker gewordene Dominanz der größten „multinationalen“ Konzerne lässt sich an allen Indikatoren der Weltwirtschaft ablesen.

Alle großen, die Weltwirtschaft (und in letzter Instanz die Welt) beherrschenden Konzerne beanspruchen den Weltmarkt als ihr Operationsfeld. Anders als noch vor 20 oder 30 Jahren brauchen sie sich aufgrund ihrer Größe nicht auf eine Region zu beschränken. Sie müssen wirklich „global“ agieren – oder sie werden früher oder später nicht mehr existieren, jedenfalls nicht unter den Top 100 oder Top 500 der Welt des Großkapitals.

Hier können wir tatsächlich von einer neuen Entwicklung innerhalb der imperialistischen Epoche sprechen, die aus dem quantitativen Anwachsen der großen Kapitale entstand, die jedoch auch durch die nach wie vor nationalstaatliche Gebundenheit der einzelnen Kapitale gebrochen wird. In den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich diese Tendenz sehr stark entwickelt, weil die USA als einzige Weltmacht die Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt und die geopolitische Ordnung bestimmen.

Der Heißhunger nach Profit treibt – gestützt auf nationale und internationale Organisationen – das Kapital außerdem in Sphären, die über Jahrzehnte staatlich oder halbstaatlich organisiert waren. Die kapitalistische Globalisierung wäre jedoch ohne Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und ohne technische und arbeitsorganisatorische Basis nicht möglich gewesen.

Die Mischung aus technischen Innovationen, die Reorganisation von Arbeitsabläufen und des Arbeitsprozesses sowie die Schaffung internationaler Produktionsketten ermöglichten die Reduktion der Kosten für Lagerhaltung und die Verkürzung der Umlaufzeit. Die Restrukturierung der Arbeitsorganisation und die Zentralisation im internationalen Maßstab führten in einigen Branchen auch zur Herausbildung einer internationalen Profitrate (Autoindustrie).

Zusammen mit einer massiven Erhöhung der Ausbeutungsrate (aufgrund der Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung) konnte so in einigen Ländern – insbesondere in den USA – in den 1990er Jahren zeitweilig die industrielle Profitrate in die Höhe getrieben werden, wenn auch bei weitem nicht auf das Niveau des Langen Booms.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie viel davon auf eine Revolutionierung der Technik und der Arbeitsorganisation, wie viel auf die Kürzung der Löhne, die Intensivierung der Arbeit und die Flexibilisierung zurückzuführen ist. Wichtig ist vielmehr, dass sich das US-amerikanische Modell nicht weltweit ausdehnen ließ und lässt, weil es die grundlegenderen Probleme der Überakkumulation des Kapitals nicht lösen konnte und kann.

In dieser Periode änderten sich auch die Strukturen der Kapitalflüsse wie jene des Finanzkapitals selbst.

Mit der Erholung der US-Konjunktur Anfang der 1990er Jahre setzte eine Welle sehr hoher Portfolio- und Direktinvestitionen, speziell in Asien, aber auch z. B. in Mexiko, ein und eröffnete die „Globalisierung“. Diesmal waren es wieder vor allem Privat- bzw. institutionelle AnlegerInnen aus den internationalen Finanzzentren, die in Aktien, Wertpapiere bzw. Derivate von Basiswerten in den halbkolonialen Ländern investierten. Daher konnte mit den in der IWF-Periode einstudierten Maßnahmen das Platzen der Spekulationsblase 1995 in Mexiko („Tequila-Krise“) und 1997 in Thailand (als Auslöser der „Asienkrise“) nicht verhindert werden.

In der Kapitalzuflussperiode 1990 – 1994 spielten „offizielle“ Schulden (z. B. Staatsanleihen) kaum mehr eine Rolle (nur noch 11 % des Kapitalzuflusses). Auch die Geschäftsbanken spielten eine weitaus geringere Rolle als in der Periode 1978 – 1981. Entscheidend waren einerseits Deregulierungen in den Halbkolonien (z. B. Privatisierungen), die Direktinvestitionen in die Höhe schnellen ließen.

Andererseits war es die wachsende Verbriefung internationaler Kapitalschulden (also die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte), die es ermöglichte, Offshore-Anlagen auch ohne staatliche Absicherung gegen Risiken abzuschirmen (z. B. Ausweitung des Derivate- und Devisenmarktes).

Als die Phase der niedrigen Zinsen und des niedrigen Dollarkurses Mitte der 1990er Jahre zu Ende ging, ebbten sowohl der Kapitalzufluss ab, wie auch das exportorientierte Wachstum z. B. in Asien durch die Anbindung der Währungen an den Dollar in Schwierigkeiten geriet. Da half keine restriktive Haushalts- bzw. Hochzinspolitik mehr. Offshore-Banken, Investmentbanken, Hedgefonds, Derivate- und DevisenhändlerInnen erzeugten eine massive Spekulationsblase, die letztlich die betroffenen Währungen in die Knie zwang und tief verschuldete Privatunternehmen in den Halbkolonien hinterließ. Der Kapitalfluss bewegte sich fortan massiv in Richtung USA, während in den von der Finanzkrise betroffenen Ländern eine neue Welle von Firmenübernahmen bzw. Kapitalvernichtung durch das imperialistische Finanzkapital vor sich ging.

Die US-Konjunktur der 1990er Jahre beruhte schon stark auf einer Ausdehnung fiktiven Kapitals und war auch durch Kapitalabfluss aus anderen imperialistischen Staaten und Stagnation in Japan und Fast-Stagnation in Deutschland erkauft.

Die Ausdehnung des Weltmarktes, die viel stärkere Durchdringung der Halbkolonien und der ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten wirkten dem Fall der Profitrate entgegen und halfen bei der Aneignung von Extraprofiten für das imperialistische Finanzkapital.

Zugleich ging die Periode der „Hochblüte“ mit massiver Kapitalvernichtung in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR einher. Die osteuropäischen Länder wurden als Halbkolonien in den Einflussbereich des deutschen Kapitals und, in Konkurrenz dazu, anderer europäischer Länder und der USA einbezogen. Russland machte eine permanente Krisenperiode durch, die mit einer historisch fast einzigartigen Deindustrialisierung des vormals zweitgrößten Industrielandes der Erde einherging, die, würde sie nicht gebremst werden, auch die Zukunft Russlands als imperialistischen Staat in Frage stellen würde.

Modernes Finanzkapital

Die eigentliche Triebkraft der kapitalistischen Globalisierung stellt das imperialistische Finanzkapital dar. Das Monopolkapital – jedenfalls sein stärkster und konkurrenzfähigster Teil – tritt als multinationaler oder transnationaler Konzern auf und ist der eigentliche Herrscher des globalen Kapitalismus.

Multinational oder transnational hat hier nichts mit einer Entbindung der nationalstaatlichen „Verankerung“ bestimmter Kapitale zu tun. Es bedeutet nur, dass wir es mit einem wichtigen Wandel des wirtschaftlichen Operationsgebietes des Großkapitals zu tun haben.

Das Finanzkapital macht jedoch gleichzeitig einen wichtigen Formwandel durch. Wir erleben eine Neuorganisation des Verhältnisses von Geldkapital und produktivem Kapital. Es ist dabei keineswegs so, dass die „SpekulantInnen“ und „Finanzhäuser“ dem produktiven Kapital entgegengestellt wären. Wir haben es vielmehr mit einer anderen Form der Verschmelzung von Industrie- und Geldkapital zu tun.

In der Geschichte des Imperialismus bildeten sich immer wieder unterschiedliche Formen mehr oder weniger enger, direkter Verschmelzungen (z. B. unmittelbarer Besitz der Unternehmen durch Banken und vice versa, wie lange Zeit in Deutschland vorherrschend) oder – wie in den USA – als eine über Aktienmärkte regulierte, „losere“ Verbindung von zinstragendem zu industriellem Kapital. Der Unterschied besteht darin, dass das Kapital in der zweiteren Form stärker versucht, sich von bestimmten stofflichen Schranken der Expansion zu befreien, nämlich den konkreten Produktionsmitteln, in denen das industrielle Kapital vergegenständlicht ist.

Eine gänzliche Befreiung des Kapitals aus dem inneren Widerspruch zwischen einer bestimmten stofflichen (und damit die Expansion des Kapitals begrenzenden) Form und dem schrankenlosen Trieb zur ständigen Selbstverwertung ist selbstverständlich unmöglich. In den 1990er Jahren, ja, bis hin zur Krise 2007/2008 und darüber hinaus erlebten wir in allen westlichen imperialistischen Ländern eine Verschiebung zu dieser Form.

Dies liegt an mehreren Faktoren. Erstens stellt es eine Weise dar, wie die dominierenden Fraktionen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals der Überakkumulation entgegenwirken wollen, die sie umgekehrt zu dieser Formveränderung unter den Bedingungen der Globalisierung treibt. Zweitens bringt diese Entwicklung eine innere Tendenz des Kapitals selbst zum Ausdruck, sich von seiner stofflichen Basis freizumachen. Drittens hängt sie jedoch auch mit bestimmten historischen Bedingungen, der Erneuerung und versuchten Festigung der US-Hegemonie zusammen, weshalb die USA auch versuchten, die Operationen dieser Form von Finanzkapital durch ihr gemäße Regularien der Weltwirtschaft (WTO, Freihandelsabkommen … ) zu stärken.

Der Aufstieg Chinas und die Festigung Russlands im 21. Jahrhunderts verdeutlichen jedoch, dass diese Form keineswegs die einzige ist, wie Finanzkapital auf dem Weltmarkt auftritt. Eine Verstärkung der imperialistischen Konkurrenz, somit auch die Tendenz zur Bildung von Blöcken bis hin zur Fragmentierung des Weltmarktes, bedeutet wahrscheinlich auch, dass die Formen des Finanzkapitals, die eine direktere Bindung an den Staat kennzeichnen, verstärkt, teilweise auch parallel und in Konkurrenz zu anderen auftreten können.

Weltimperialismus

Die globale Struktur des Finanzkapitals erfordert in dieser geschichtlichen Periode eine, natürlich immer auch selektive, Open Door Policy bei gleichzeitigem Schutz des „Heimatblocks“. Sie erfordert internationale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank bzw. ihre regionalen Entsprechungen (z. B. Europäische Entwicklungsbank).

Sie erfordert von den imperialistischen Mächten, global interventionsfähig zu sein, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und militärisch, um eigene Interessensphären gegen die Massen der Halbkolonien oder missliebige Regime, aber auch gegen imperialistische Konkurrenten absichern zu können. Politisch wird der Weltimperialismus durch folgende Faktoren geprägt:

• Politische, militärische und ökonomische Vorherrschaft des US-Imperialismus;

• Institutionen wie IWF, Weltbank, WTO, G 7/8 agieren als ideelle GesamtimperialistInnen unter US-Hegemonie;

• Massive Verelendung der Halbkolonien, stärkere direkte imperialistische Kontrolle;

• Suche nach neuen, der „Globalisierung“ adäquaten Formen politischer, diplomatischer und militärischer imperialistischer Herrschaft, was zu einer Wiederkehr der Kanonenbootpolitik (in einigen Aspekten ähnlich jener am Beginn der imperialistischen Epoche) führt.

Die Widersprüche zwischen den imperialistischen Ländern sind keineswegs verschwunden, sondern verschärfen sich unter der Oberfläche, teils auch offen. Alle potentiellen Rivalen der USA achten darauf, den Gegner nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt herauszufordern. Vielmehr müssen unter dem Deckmantel der Kooperation eigene Positionen gegen die USA gehalten oder neue erobert werden. Das geht umso leichter, als es immer auch ein reales Element gemeinsamer Interessen der imperialistischen Mächte gegenüber den Massen und den Halbkolonien gibt.

Die Herausbildung transnationaler Monopole führt keineswegs zu einem „Ultraimperialismus“ oder zu einer kollektiven imperialen Friedensordnung. Sie verringert auch nicht die Rolle des bürgerlichen Staates als Sicherer und Garant der nationalstaatlich verwurzelten Großkapitale. Aber sie treibt zunehmend den Widerspruch zwischen internationaler Produktion und internationalisiertem Austausch einerseits und nationalstaatlicher oder blockmäßiger Verwurzelung des Kapitals andererseits auf die Spitze. Die Blockbildung (oft missverständlich als „Regionalisierung“ bezeichnet) stellt selbst eine Form der Internationalisierung des Kapitals dar.

Die Neuzusammensetzung des Kapitals verändert auch die ArbeiterInnenklasse. Damit Kapital rascher die Wandlung von einer Form in die andere vollziehen kann, Stockungen im Produktionsprozess vermieden werden, muss sich auch das variable Kapital uneingeschränkt bewegen können und zugleich in seiner Bewegung kontrolliert werden. Alle kollektiven Sicherungsrechte der ArbeiterInnenklasse, die die möglichst unbeschränkte Flexibilität der Arbeitskraft einschränken, stehen daher notwendigerweise auf der Abschussliste. Der Vorsprung der USA, die Vorherrschaft des am meisten entwickelten Kapitals, d. h. einer Form des Kapitals, die mehr seinem Begriff entspricht als in anderen Ländern, wäre ohne die Niederlagen der US-ArbeiterInnenklasse in den 1980er Jahren undenkbar.

Die Schaffung einer „neuen Weltordnung“ bildete über fast drei Jahrzehnte, also bis zu Trump, Leitideologie und Doktrin des US-Imperialismus. Schon in den frühen 1990er Jahren formulierten US-IdeologInnen, aber auch deren geostrategische Doktrin offen das Ziel, die durch den Zusammenbruch des Stalinismus gewonnene Rolle als einzige Weltmacht möglichst zu verewigen, mit dem Ziel keine potentiellen Rivalen – Deutschland, Frankreich, China, Russland – emporkommen zu lassen.

Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater mehrerer US-Präsidenten, stellte die Konzeption in seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ wie folgt dar: „Eurasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird.“[cx]

Schon 1992 formulierte das Pentagon in einem strategischen Papier (Defense Planning Guidance) den sog. „No Rivals-Plan“, in dem es u. a. heißt: „Wir müssen versuchen zu verhüten, dass irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden, eine Weltmachtposition zu schaffen. Solche Regionen sind Westeuropa, Ostasien, das Gebiet der früheren Sowjetunion und Südwestasien.“ [cxi]

Die US-Strategie unterschied zwischen den vermeintlichen und wirklichen Herausforderern. Die europäischen Mächte und die EU sollten durch Bündnispolitik, Allianzen und PartnerInnenschaft eingehegt werden. China und Russland gelten als mögliche Konkurrenten und als besonders gefährlich, weil sie auch eine Systemalternative zur westlichen „Wertegemeinschaft“ verkörpern könnten. Aus diesem Grund tauchte auch schon zu diesem Zeitpunkt der islamische Fundamentalismus als Bedrohung auf, obwohl dieser weder eine militärische noch eine staatliche Macht darstellte – sich aber umso besser als ideologischer Gegner zur inneren, rassistischen Mobilisierung als auch zum Angriff auf diverse „Schurkenstaaten“ und zur Rechtfertigung asymmetrischer Kriege eignet. Dass der antimuslimische Rassismus zur vorherrschenden Form des Rassismus in den meisten westlichen Staaten geriet, stellt keinesfalls eine Reaktion auf islamistische Anschläge im 21. Jahrhundert dar, sondern wurde in den 1990er Jahren bewusst forciert und popularisiert (z. B. in Huntingtons 1996 erschienenem  Bestseller „Krieg der Kulturen“).

Wandel der ArbeiterInnenklasse

Die letzten Jahrzehnte sahen einen starken Wandel der ArbeiterInnenklasse als Resultat der Restrukturierung des Kapitals und der Angriffe der herrschenden Klasse. Worin bestehen deren wichtigsten Elemente?

  • Anwachsen der Klasse in einigen imperialistischen Ländern und wichtigen, fortgeschrittenen Halbkolonien;
  • Schrumpfen der produktiven Arbeit, Ausdehnung der unproduktiven Arbeit;
  • Proletarisierung lohnabhängiger Mittelschichten aus ehemaligen höheren“ Berufen (z. B. IngenieurInnen) oder dem Staatsdienst (z. B. LehrerInnen);
  • Schaffung einer gigantischen Masse nicht- oder unterbeschäftigter ProletarierInnen, prekär Beschäftigter und von „working poor“, teilweises Absinken dieser Schichten ins Lumpenproletariat, Millionen und Abermillionen, die in ständiger Armut leben;
  • Verringerung und Schwächung des Proletariats in dramatischem Ausmaß in Osteuropa, Russland und vielen Halbkolonien; Ausdehnung der langfristig überausgebeuteten Schichten der ArbeiterInnenklasse, die unter ihren Reproduktionskosten bezahlt werden (Kontraktarbeit, …);
  • Verringerung, teilweise auch Auflösung der tradierten ArbeiterInnenaristokratie im industriellen Sektor bei gleichzeitiger Schaffung einer neuen ArbeiterInnenaristokratie (oft aus ehemaligen lohnabhängigen Mittelschichten);
  • Schaffung eines zunehmend international kooperierenden Proletariats in den großen Konzernen (im Sinne der realen Kooperation in international integrierten Produktionsprozessen), Teile davon gehören gleichzeitig Kernschichten der ArbeiterInnenaristokratie in verschiedenen Ländern an.

In den relativ entwickelten Halbkolonien in Ostasien und Lateinamerika sowie im kapitalistischen China wachsen die ArbeiterInnenklassen in dieser Periode. Letztere nimmt zunehmend eine strategische Bedeutung für das Weltproletariat ein. In Kontinentaleuropa und zumal in (West-)Deutschland haben wir es damit zu tun, dass die ArbeiterInnenklasse zwar in ihrer Kampfkraft geschwächt, jedoch noch nicht strategisch geschlagen ist.

Diese Veränderungen haben auch die historisch gewachsenen Organisationen des Proletariats, insbesondere die Gewerkschaften, die stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien massiv beeinflusst – und die Veränderungen sind seither in Riesenschritten weitergetrieben worden. Die Gewerkschaften sind in den Zentren zunehmend Organisationen der traditionellen ArbeiterInnenaristokratie. Ihr Überleben hängt davon ab, ob und wie sie neuen proletarisierten Schichten, insbesondere aber den nichtarbeiteraristokratischen Teilen der Klasse, eine Perspektive bieten können.

Die sozialdemokratischen Parteien haben in den letzten Jahrzehnten einen Wandel hin zu neu entstehenden arbeiteraristokratischen Schichten und lohnabhängigen Mittelschichten gemacht. Ein Teil der Gewerkschaftsbürokratie ist diesen Schritt mitgegangen, ein anderer hat sich auf die „Kernschichten“ konzentriert. Für die nichtorganisierten Teile des Proletariats (und dabei geht es keineswegs nur um abfällig als „Randschichten“ bezeichnete Sektoren) haben alle Flügel der ArbeiterInnenbürokratie immer weniger zu bieten. Die stalinistischen Parteien haben in Europa weitgehend an Bedeutung verloren, nicht jedoch in wichtigen Halbkolonien. Sie unterscheiden sich jedoch oft nur im Namen von der Sozialdemokratie.

Die Hinwendung des Reformismus zur neuen ArbeiterInnenaristokratie und zu den neuen Mittelschichten hat sich politisch-programmatisch in der Neuen Mitte (oder im „Dritten Weg“) manifestiert. Sie drückt auch einen stärkeren Einfluss der Mittelschichten (und über diese der Bourgeoisie) auf die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien, aber auch auf die Gewerkschaften aus.

1998 – 2007: Zuspitzung der inneren Widersprüche der Globalisierung

Die Asienkrise und die Börsenkrise Ende der 1990er Jahre verdeutlichten schlagartig die Krisenhaftigkeit der Globalisierung. Sie brachten zum Ausdruck, dass die grundlegenden Probleme der Weltwirtschaft nicht gelöst wurden, sondern die fiktive Blüte der 1990er Jahre erkauft wurde um den Preis einer weiteren Vertiefung und Zuspitzung der Widersprüche.

Spiegelbildlich zur Asienkrise und zur Entwicklung der Schuldenblase in den USA begann das chinesische „Exportwunder“. Dessen Voraussetzung bildete die nur beschränkte, kontrollierte Öffnung für Direktinvestitionen, bei einem weiterhin stark regulierten chinesischen Finanzmarkt. Damit konnten lange Zeit sowohl eine Aufwertung der chinesischen Währung verhindert als auch Exportüberschüsse in großen Dollarreserven in China gehalten werden. Zugleich floss Kapital nach der Asienkrise von den Börsen hin zum US-Immobilienmarkt, wo es über die folgenden Jahre einen neuen, spekulativen Zyklus entwickelte.

Diese Faktoren führten dazu, dass die Krise um die Jahrhundertwende relativ flach blieb und aufgeschoben wurde.

Aber zugleich eröffnete sie schon wichtige, vorbereitende Elemente des Niedergangs und der folgenden Krise der Globalisierung:

a) Die Dynamik der Weltwirtschaft konnte im Wesentlichen nur durch die Ausweitung fiktiven Kapitals angeschoben und aufrechterhalten werden, der eine Stagnation des industriellen Sektors gegenüberstand, insbesondere in den imperialistischen Kernländern.

b) Die Ausweitung der Finanzmärkte, der Spekulation und der Verschuldung in den USA waren wesentliche Mittel, die Expansion des Welthandels sicherzustellen sowie des US-Konsums als „Lokomotive“ vor der Weltwirtschaft.

c) Auch wenn die ökonomischen Auswirkungen der Krise relativ abgemildert werden konnten, so wurden ihre Ursachen nicht beseitigt, sondern verstärkten vielmehr die Krisentendenzen, die jetzt zum Ausbruch kommen.

d) Untrüglich zeichnete sich eine kommende Schwächung der US-Hegemonie auf ökonomischer Ebene – Einführung des Euro, Voranschreiten der EU-Integration (trotz alle Schwächen ist sie nun der größte Wirtschaftsraum der Erde), Aufstieg Chinas und Restabilisierung Russlands – ab.

e) Der sog „permanente Krieg“ Bushs – eine Neuformulierung der US-Doktrin – stand im engen Verhältnis zur ökonomischen Basis des US-„Booms“ – sprich Kriegskeynesianismus, Eroberung, Sicherung von Rohstoffen und Reichtümern anderer Länder als Faustpfande gegenüber imperialistischen und anderen potentiellen Rivalen.

f) Die imperialistische Politik des US-Imperialismus sicherte in dieser Periode nicht nur die US-Hegemonie, sondern auch, dass das Wachstum der US-Binnenwirtschaft auf Kosten anderer Staaten und Rivalen weiter aufrechterhalten werden konnte. Allerdings geschieht das schon (anders als in den 1990er Jahren unter Clinton) auf Kosten der US-Industrie, also bei gleichzeitiger Unterminierung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

g) Entscheidend für die veränderte politische Lage und den Beginn einer neuen Klassenkampfperiode sind jedoch nicht nur die ökonomische Stagnationstendenz und die zunehmende Aggressivität des US-Imperialismus, sondern auch die nachhaltige Erschütterung der neoliberalen Hegemonie. Auch wenn der Neoliberalismus vorherrschende Ideologie der herrschenden Klassen in den imperialistischen Staaten und in den meisten Halbkolonien bleibt, auch wenn er in Form des „Neuen Realismus“ und „Dritten Weges“ in den großen, bürokratisierten Gewerkschaften der imperialistischen Welt sowie in den sozialdemokratischen Parteien faktisch anerkannt wird, so entstand nach der Asienkrise auch eine globale Gegenbewegung.

h) Diese Gegenbewegung, ihre Entstehung und Geschichte stellte keinen Nebenaspekt, sondern einen prägenden Faktor der Periode von 1998 – 2007/8 als Periode der Zuspitzung der inneren Widersprüche der Globalisierung dar.

i) Diese äußerte sich:

– in revolutionären Bewegungen und Situationen (Indonesien … )

– der riesigen Antikriegsbewegung

– im Widerstand gegen EU/Euro, in vorrevolutionärer Situation in Frankreich

– dem entschlossenen und heroischen Widerstand in Afghanistan, Irak, Libanon und seinen Erfolgen gegen den Imperialismus (wenigsten in dem Sinne, dass die Ziele des Imperialismus nicht erreicht werden konnten)

– der Entstehung linkspopulistischer und/oder linksbonapartistischer Regime und Bewegungen – insbesondere Chávez und Morales – inkl. ihrer kontinentalen und internationalen Ausstrahlung

– der Entstehung einer globalen internationalen Bewegung, der Antiglobalisierungs- oder auch antikapitalistischen Bewegung. Implizit warf diese die Frage einer neuen Internationalen auf und mit den Sozialforen schuf sie bei all ihren Schwächen eine Form des globalen Austausches von AktivistInnen der radikalen Linken, der ArbeiterInnenbewegung, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, rassistisch und national Unterdrückter, die die Internationalisierung des Kapitals und des Klassenkampfes reflektierten. Diese spontane Entwicklung konnte ihr fortschrittliches Potential jedoch aufgrund der politischen Hegemonie von linkem Reformismus, Populismus und kleinbürgerlichem Radikalismus in der Bewegung nicht realisieren.

13.6 Seit 2007/2008: Historische Krisenperiode und Krise der Globalisierung

Mit dem Platzen der Immobilienblase, Finanzkrise, weltweiten Wirtschaftskrise begann eine neue historische Periode.

Diese kennzeichnet erstens eine tiefe, historische Weltwirtschaftskrise. Im Unterschied zu früheren Umschlägen der globalen Lage markierte sie jedoch nicht ein politisches Ereignis, sondern einen globalen ökonomischen Einbruch, einen Periodenwechsel. Dies reflektiert die viel größere Bedeutung des Weltmarktes, die zu einer viel rascheren Verbreitung eines großen wirtschaftlichen Zusammenbruchs im Gesamtsystem führt. Dies gilt übrigens noch viel stärker für die aktuelle globale Krise, deren Kombination mit der Corona-Pandemie zu einer Unterbrechung der Kapitalzirkulation in weiten Teilen der Weltwirtschaft führt und somit die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat.

Doch zurück zu 2007 und folgenden Jahren. Schon die damalige Rezession erforderte eigentlich eine Vernichtung überschüssigen Kapitals von geschichtlichem Ausmaß und zugleich eine riesige Steigerung der Ausbeutung des Proletariats und der Unterdrückten, um den ihr zugrundeliegenden geringen Profitraten und der strukturellen Überakkumulation entgegenzuwirken. Dem standen aber enorme innere Hindernisse des Kapitals selbst und auch des Klassenverhältnisses entgegen.

Die imperialistische Bourgeoisie verfolgte eine Politik der Rettung des Finanzkapitals – und insbesondere seines zinstragenden Teils. Diese schob zugleich die eigentlich notwendige Vernichtung von Kapital auf oder wälzte sie auf schwächere Teile ab (industrielles Kapital, kleinere und mittlere Unternehmen, Halbkolonien usw.). Anders als z. B. in der Großen Depression der 1930er Jahre fand jedoch kein „Ausbluten“ des Finanzsektors, also keine strukturelle Vernichtung von fiktivem Kapital statt. Im Gegenteil, gerade diese Teile wurden gerettet und diese Politik fand schon Mitte des Jahrzehnts vor dem Hintergrund sich formierender imperialistischer Konkurrenz der Blöcke (EU) und der aufstrebenden Weltmacht China und einzelner Regionalmächte statt (Indien, Brasilien … ).

Die gegenwärtige Krise unterscheidet sich von der Weltwirtschaftskrise 1929 und folgenden in einem wichtigen Punkt: Der Weltmarktzusammenhang war nicht zusammengebrochen, der Dollar weiter die wichtigste Währung der Welt.

Die USA agierten weiter als Hegemonialmacht. Der US-Imperialismus organisierte im Bund mit der EU, auch mit China, die Welt so weit, dass ökonomische Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, um die Weltwirtschaft wieder zum Laufen zu bringen (Politik des billigen Geldes). Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode streifen die USA dafür aber keine ökonomische Dividende mehr ein.

Die hegemoniale Rolle ließ sich nur aufrechterhalten durch die weitere, zwangsläufige Unterminierung ihrer wirtschaftlichen, industriellen Basis. Die anderen ImperialistInnen und potentiellen KonkurrentInnen „stützten“ die USA, doch wollten sie sich diese Stützung durch größere Anteile am Weltmarkt, mehr „Mitsprache“rechte und größeren Einfluss auf die Weltordnung „bezahlen“ lassen, sprich durch weitere Aushöhlung der US-Hegemonie.

Aber die USA können die Einheit unter den großen Mächten, den G 20, vor allem noch dadurch herstellen, dass ihr Zusammenbruch die ganze Welt in den Untergang mitreißen würde. Ein positives Programm für eine neue Periode der „Expansion“ haben sie nicht.

Allerdings fürchten auch die RivalInnen den Zusammenbruch der Weltwirtschaft, des Terrains, auf dem sie die USA zugleich zu besiegen oder jedenfalls weiter zurückzudrängen versuchen.

Daher kommt die Konferenzkonjunktur, der Neuordnungs- und Regulierungshype in den herrschenden Klassen, permanentes Krisenmanagement, das immer mehr auf die Grenzen verstärkter gegensätzlicher Interessen trifft.

Die „Ratlosigkeit“, das Fehlen eines gemeinsamen „Plans“ oder Programms, einer klaren Wirtschaftsdoktrin der herrschenden Klasse ist jedoch nicht nur ein Resultat verschärfter innerer Gegensätze des Kampfes, wer innerhalb der Kapitalistenklassen und unter den imperialistischen Bourgeoisien die Krisenkosten tragen soll.

Es ist auch ein Zeichen für die Überlebtheit der bürgerlichen Herrschaft selbst – so wie jede Krise auch die Zusammenbruchstendenzen des Systems selbst in Erinnerung ruft. Die herrschende Klasse kann ihr System nur retten, wenn sie bestehende Formen der Vergesellschaftung und Produktivkräfte zurückdrängt, weitere Kriege vorbereitet und zugleich die Welt einem ökologischen Desaster entgegenführt.

Gerade die Globalisierung hat als ein Moment, um dem Fall der Profitraten und dem Problem der Überakkumulation entgegenzuwirken, den Weltmarkt massiv ausgedehnt und auch die Produktionsabläufe in enormem Ausmaß international  vorangetrieben. Doch die nationalstaatliche Form erweist sich als unüberwindbare Schranke, eine Barriere, auf die die herrschende Klasse zur Rettung ihrer nationalen Interessen und imperialen Ambitionen zugleich mehr und mehr zurückgreifen muss.

Schon die Krise ab 2007 verdeutlichte schlagartig, dass ihre Überwindung eigentlich eine globale, bewusste Planung erfordert, um die weitere Entwicklung, die Entwicklung der Produktivkräfte zu gewährleisten und den Fortbestand und die Schaffung wahrlich menschlicher Lebensverhältnisse überhaupt zu sichern. Dazu ist die herrschende Klasse nicht in der Lage.

Diese widersprüchliche Situation, historisch tiefe Krise des Produktionsverhältnisses und  zugleich Bestehen einer untergehenden Hegemonialordnung und innerimperialistischen Kooperation, die die Herrschenden noch hoffen lässt, dass sie „das Schlimmste“ verhindern können, eröffnete eine längere Periode des „permanenten Krisenmanagements“, der Kooperation auf ökonomischer, politischer und diplomatischer Ebene, um „den Zusammenbruch“ (oder verschiedene, jäh auftauchende Zusammenbruchsszenarien) zu verhindern. Zugleich aber werden sich die inneren Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten (und jenen, die solche werden möchten) weiter zuspitzen.

Bei aller Unterschiedlichkeit und „Schwankungen“ der herrschenden Klassen, wenn es um eine „pragmatische“ Lösungsstrategie für das Kapital geht, so bedeutet die Krise für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten eine Periode des Frontalangriffs, bis in die ArbeiterInnenaristokratie und Mittelschichten hinein, von dramatischem, weltweit verallgemeinertem Ausmaß.

In jedem Fall führte die historische Krise, die 2007 begonnen hatte, rasch zu großen Kämpfen: Hungerrevolutionen und Massenproteste in einem Viertel aller Länder der Erde, vorrevolutionäre Situationen, Aufstände usw. Sie eröffnete eine Periode, in der die Frage, wer herrscht, wer bestimmt den weiteren Gang der geschichtlichen Entwicklung, also die Machtfrage, direkt gestellt wurde, auch wenn sich die Gesellschaftsklassen erst allmählich des Charakters der Entwicklung bewusst wurden. Das traf auch auf die herrschenden Klassen zu, die von der Krise „überrascht“ wurden, aber auch die SozialimperialistInnen in der ArbeiterInnenbürokratie, die noch bis Ende 2008 die Existenz der Krise zu leugnen versuchten und behaupteten, dass doch alles beim Alten geblieben sei (eine jener tröstlichen „Wahrheiten“, mit denen die Bürokratie sich selbst über jeden historischen Wendepunkt zu „retten“ versucht).

Zweifellos hatte die spezifische Form des Wendepunktes – eine ökonomische Krise – damit zu tun. Ein Weltkrieg oder eine Revolution in einem bestimmten Land stellen per se die Machtfrage. Eine Wirtschaftskrise trägt einen zeitlich ausgedehnteren Charakter. Außerdem erscheint sie als „Sachzwang“, als „Verhängnis“, als fast natürliche Katastrophe, die alle „gleichermaßen“ trifft. D. h., selbst wo sie am tiefsten wirkt, erscheint ihre Ursache nicht direkt, offen als notwendiges Resultat des Kapitalverhältnisses, sondern ihre Oberflächenerscheinungen prägen des Bewusstsein. Daher bleibt das Bewusstsein in solchen historischen Umbrüchen auch oft zurück, wodurch die Führungskrise und die konterrevolutionäre Rolle der bürgerlichen Apparate in der ArbeiterInnenklasse noch verstärkt werden.

Schließlich wurde die gegenwärtige Periode von Beginn an auch davon geprägt, dass die ökologische Frage zu einer Menschheitsfrage geworden ist, dass die Fortexistenz des Kapitalismus das Überleben der Menschheit selbst in Frage stellt. Diese Bedrohung wird selbstredend in der aktuellen Krise dramatisch verschärft.

Klassenkampfperioden seit 2008

Die ersten Jahre der Krise waren von einer Erschütterung des bürgerlichen Systems gekennzeichnet, die die Legitimität der kapitalistischen Ordnung in Frage stellte. Die bürgerlichen Medien und die herrschenden Klasse trieb die Furcht um, dass die globale Linke, die ArbeiterInnenklasse von der Krise profitieren würden. Schließlich hatten alle Kräfte links von der Sozialdemokratie immer schon auf die Krisenhaftigkeit des Systems verwiesen. Seit Beginn der Antiglobalisierungsbewegung hatte sich eine, wenn auch reformistisch und populistisch geführte, Bewegung gegen den Neoliberalismus gebildet, deren linker Flügel offen, wenn auch theoretisch und programmatisch sehr heterogen, direkt antikapitalistisch auftrat.

Die Kämpfe gegen die große Krise konnten nicht nur daran, sondern auch an wichtige Mobilisierungen und Massenkämpfe anknüpfen, an Bewegungen wie Blockupy und die Platzbesetzungen im Süden Europas, die, gewissermaßen als Vorbotinnen der historischen Krise, eine tief sitzende Unzufriedenheit, aber auch Handlungsbereitschaft großer Bevölkerungsschichten zum Ausdruck brachten.

Dabei stellten sie selbst nur das Vorspiel zu den revolutionären Erhebungen des Arabischen Frühlings oder der vorrevolutionären Krise in Griechenland dar, die scheinbar fest etablierte Regime stürzten und Millionen im Kampf um eine andere Gesellschaftsordnung in Bewegung brachten. In anderen Ländern wie Indien oder China erwachten hunderte Millionen von Lohnabhängigen zum gewerkschaftlichen und politischen Leben. In Brasilien, in den USA oder in Frankreich unter Hollande demonstrierten Millionen ihren Willen, sich einem putschistischen Regime (Temer), einem rassistischen Präsidenten oder knallharter Austeritätspolitik in den Weg zu stellen. Die sog. „Flüchtlingskrise“, also der zeitweilige Zusammenbruch der rassistischen Grenzen der EU, hat zu Beginn auch eine Solidarisierung unter großen Teilen der Bevölkerung hervorgebracht.

Aber die meisten dieser Bewegungen endeten in bitteren Niederlagen. Insbesondere der faktische Sieg der Konterrevolution im Arabischen Frühling (Ägypten, Syrien, Libyen) bis spätestens 2016, Kapitulation und Verrat von Syriza gegenüber der Troika aus EU-Kommission, EZB und dem IWF im Jahr 2015 markierten einen Wendepunkt der internationalen Lage. Die antirassistische Solidarität am Beginn der massiven Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten und Afrika verwiesen zwar auf das Potential für eine fortschrittliche Bewegung, aber erlitten auch eine Niederlage mit dem Aufstieg des Rassismus und der Formierung einer europaweiten und internationalen rechtspopulistischen Welle. So verschob sich das Kräfteverhältnis auf der ganzen Welt zugunsten der herrschenden Klassen oder gar Elementen der extremen Reaktion – zu rassistischen, rechtspopulistischen, autoritären und diktatorischen Regimen und Kräften.

Diese Niederlagen verdichteten sich 2016. Innerhalb der aktuellen globalen Krisenperiode, deren grundlegende Ursachen längst nicht gelöst sind, begann eine Phase, die vom Vormarsch der Reaktion, der Konterrevolution auf allen Ebenen und von einer weiteren dramatischen Verschärfung des Kampfes um eine Neuaufteilung der Welt gekennzeichnet ist. Die politische Klassenkampfperiode, die damals begann, wird vom Vormarsch der Konterrevolution, des Rechtspopulismus und des Irrationalismus geprägt. Dies bedeutet keineswegs, wie wir bei den Kämpfen der letzten Jahre sehen können, dass es keine Massenbewegungen, ja selbst Generalstreiks oder Aufstandsbewegungen geben kann. Aber diese werden in der Regel durch vorhergehende Angriffe der Rechten, als Reaktion aus einer Situation der Defensive ausgelöst. Beispiele finden sich zuhauf: die befristeten Generalstreiks in Brasilien oder in Indien gegen Modi, die Aufstände im Sudan oder im Libanon, die Massenbewegungen des internationalen Frauen*streiks, die auch durch die extreme Reaktion eines Trumps entfacht wurde, antirassistische Massenbewegungen wie Black Lives Matter und die Rebellionen in den USA, die globale internationale Umweltbewegung, die mit den Schulstreiks von Fridays for Future einen ersten Höhepunkt erreichte.

Zugleich verdeutlichen diese Kämpfe die Führungskrise auch von einer anderen Seite. Linkspopulistische, linksbürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte prägen oft und zunehmend auch die politische Ausrichtung dieser Bewegungen. Das Erstarken dieser Ideologien stellt selbst einen Ausdruck der Defensive dar, eines zunehmenden Einflusses von bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Bewegungen unter den Unterdrückten und selbst in der ArbeiterInnenklasse. Diese Entwicklung wurde durch die Niederlagen in Griechenland oder in den Arabischen Revolutionen und durch die klassenkollaborationistische Politik der Führungen von Gewerkschaftsbürokratie und Reformismus begünstigt, ja, in diesem Ausmaß überhaupt erst ermöglicht. Ebenso wie der Kampf gegen Reformismus und NurgewerkschafterInnentum einen unverzichtbaren Teil des ideologischen und theoretischen Klassenkampfes bildet, muss dieser auch gegen die klein- und linksbürgerlichen Kräfte geführt werden, deren theoretischen Ausdruck z. B. Linkspopulismus, Identitätspolitik, Intersektionalismus, Postmodernismus oder kleinbürgerlicher Ökologismus bilden.

Die innerimperialistischen Gegensätze, der Kampf zwischen „alten“, tradierten Mächten (den USA, Japan, den europäischen Mächten wie Deutschland) und „neuen“ Imperialismen (China und Russland) machten sich zugleich bei jedem globalen Konflikt, in jeder „Krisenregion“ bemerkbar. Der Vormarsch der Reaktion im Nahen Osten, die Dauerkrise in Zentralasien, der neue „Run um Afrika“ usw. können nur im Rahmen dieser Konkurrenz verstanden werden. Dasselbe gilt für die US-Offensive gegen missliebige „linke“, also linkspopulistische oder reformistisch geführte Regierungen in Lateinamerika, ebenso für Chinas Jahrhundertprojekt der neuen „Seidenstraße“.

Die verschärfte Ausbeutung der sog. „Dritten Welt“, Interventionen der führenden Großmächte, aber auch regionaler, in der imperialistischen Ordnung untergeordneter Staaten führen dazu, dass die Weltlage immer explosiver wird. Die Kriegsgefahr steigt. Sog. „Stellvertreterkriege“ oder nukleare Drohungen wie gegen Nordkorea können unter diesen Umständen zu einem Weltenbrand werden.

Gerade weil die strukturellen Probleme der kapitalistischen Weltwirtschaft ungelöst sind, müssen sich sowohl die Angriffe auf die Massen als auch die innerimperialistische Konkurrenz weiter verschärfen.

Die Ursache der Finanzkrise, der tiefen Rezession und des Rückgangs der Produktion in allen tradierten imperialistischen Staaten war und ist die Überakkumulation von Kapital. Eine immer größere Masse an Kapital kann im produktiven Sektor nicht mehr mit ausreichend hohen Gewinnerwartungen angelegt werden. Die „Flucht“ in den Finanzsektor, das Entstehen spekulativer Blasen war und ist die unvermeidliche Folge.

Innerkapitalistisch kann das nur durch zwei miteinander verbundene Wege gelöst werden – einerseits die Vernichtung „überschüssigen“ Kapitals, andererseits durch eine Neuaufteilung der Welt, bei der auch entschieden wird, wessen Kapital zerstört wird, welcher Imperialismus (oder welcher Block) sich letztlich durchsetzt. Daraus ergibt sich auch, warum die Frage der Formierung Europas für den deutschen Imperialismus so entscheidend ist.

Daraus ergibt sich aber auch, warum eine Lösung der grundlegenden Menschheitsprobleme wie z. B. der ökologischen Krise, also der drohenden und rapide fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, von Hungerkatastrophen, Armut und Verelendung immer größerer Massen unter dem kapitalistischen System zunehmend unmöglich wird. Die Krise und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfen vielmehr notwendigerweise diese Probleme, gerade und vor allem in den von imperialistischen Staaten beherrschten Ländern. Die gegenwärtige Krisenperiode umfasst alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens wie des Mensch-Natur-Verhältnisses.

Zugleich bestätigt sie auch die Aktualität der Methode des Übergangsprogramms. Losungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle, Enteignung der Banken und Konzerne, Notpläne unter ArbeiterInnenkontrolle, Generalstreik, Besetzungen, die Frage der ArbeiterInnenregierung – also alles Losungen, die zur Machtfrage führen und zum Übergang zur proletarischen Diktatur, sind zentral  für jedes Aktionsprogrammen, das einen Weg zur Lösung der entscheidenden Fragen bietet, vor denen nicht nur die ArbeiterInnenklasse, sondern die gesamte Menschheit steht.

Der Sturz des Imperialismus, das Programm der proletarischen Machtergreifung, der sozialistischen Reorganisation der Weltwirtschaft wird auch strategisches Ziel zur Rettung der Menschheit vor sozialem Verfall und zur Rettung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen.

14. Imperialismus, Weltwirtschaftskrise und der Übergang zum Sozialismus

Die gegenwärtige Krisenperiode bestätigt Lenins Analyse des Imperialismus als Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, als Epoche, die weltgeschichtlich die Alternative Sozialismus oder Barbarei aufwirft.

Der Imperialismus ist eine Epoche, in der die Bourgeoisie aufgehört hat, eine fortschrittliche Klasse zu sein, in der die weitere Herrschaft der Kapitalistenklasse, in der die kapitalistische Produktionsweise insgesamt reaktionär ist, weil sie zu einem Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte und Gesellschaft geworden ist.

Es geht nicht einfach um die Epoche der Herrschaft „des Kapitals“, sondern des Finanzkapitals, der Fusion von industriellem und zinstragendem (financial) Kapital, einer schon gesellschaftlichen Form des Kapitals, die, historisch betrachtet, immer schon beinhaltet, dass das Kapital zu Mitteln seiner eigenen Negation greifen muss, um sich selbst als herrschendes gesellschaftliches Verhältnis zu behaupten.

Die Epoche des Imperialismus ist nicht nur eine Epoche, wo die Produktionsweise reaktionär wurde, wo der Kapitalismus zu Niedergang und Stagnation tendiert, wo zur Sicherung der Herrschaft des Finanzkapitals die gesamte Welt unter wenige große Kapitale und Mächte aufgeteilt ist (resp. immer wieder neu aufgeteilt werden muss). Mit der Bildung des Finanzkapitals, der Entstehung riesiger, weltumspannender Monopole wird gleichzeitig auch die direkte, bewusste Vergesellschaftung der sich jetzt in den Händen einer kleinen Gruppe von Konzernen, Banken und Finanzinstitutionen befindenden Produktionsmittel zu einer unmittelbaren Möglichkeit und Notwendigkeit.

Im Kapitalismus ist das natürlich unmöglich. New Deal, keynesianischer Sozialstaat, Staatskapitalismus in den Halbkolonien, aber auch die weniger augenscheinliche staatliche Protektion des nationalen Finanzkapitals unter Globalisierung/Neoliberalismus sind Zeichen dafür, dass der bürgerliche Staat ein weit wichtigeres Element der Ökonomie des Kapitalismus darstellt, als dies in der vorimperialistischen Epoche der Fall war.

Der reaktionäre Charakter der Epoche zeigt sich wohl am sinnfälligsten darin, dass sich die Herrschaft des Finanzkapitals nur durch äußerst barbarische Mittel (Völkermord, faschistische Herrschaft samt industrieller Massenvernichtung des jüdischen Volkes, zwei Weltkriege, nukleare Auslöschung von Hiroshima und Nagasaki, generell Krieg als großindustrielles Vernichtungsunternehmen) überhaupt halten konnte. Ohne Vernichtung solchen Ausmaßes hätte es die Prosperitätsphasen des Imperialismus, insbesondere den Langen Boom, nicht geben können.

Doch auch der „Normalzustand“ des Imperialismus grenzt an Barbarei. Die systematische „Unterentwicklung“ der Halbkolonien, täglicher Hungertod Tausender, Hunger und Elend für Milliarden Menschen sind Erscheinungen, die sich durch alle Perioden seiner Entwicklung ziehen.

Zeichen für den reaktionären Charakter der Epoche sind diese Perioden jedoch nicht nur wegen der barbarischen Ausmaße von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen und ihres gigantischen Blutzolls. Reaktionär sind sie v. a., weil sie von einem Großteil der Staaten und Menschen der Erde erzwingen, in einem Zustand der „Unterentwicklung“, der sozialen Paralyse zu verharren.

Zugleich war der Kapitalismus in seiner langen Entstehungsphase wie in seiner Blüte und industriellen Durchsetzung im 19. Jahrhundert keineswegs „nichtbarbarisch“ gewesen. Die Kolonisierung, die Schaffung von Märkten für die Arbeitskraft der SklavInnen und Kulis gingen einher mit der Ausradierung eines Großteils der indianischen Bevölkerung Amerikas und einer Stagnation der Bevölkerungsentwicklung Afrikas im 18./19. Jahrhundert.

Sie gingen aber auch einher mit eine Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse, der Zerstörung vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen und mit der Schaffung globaler moderner Produktions- und Klassenverhältnisse. Doch dieses Werk ist längst vollendet.

Der Imperialismus des 20. und 21. Jahrhunderts zerstört im Wesentlichen keine vorkapitalistischen Verhältnisse mehr, er hat den Weltmarkt schon verallgemeinert. Er verunmöglicht dem Großteil der Menschheit, aus halbkolonialer Abhängigkeit samt Unterentwicklung zu entfliehen, und hat zugleich die vorkapitalistischen Produktionsweisen als relativ stabile Verhältnisse zerstört. Zugleich schafft er immer wieder auch „hybride“ Produktionsweisen, die die Nachteile beider verchmelzen.

Die Wiederherstellung des Kapitalismus in Osteuropa, Russland, China, Vietnam hat der imperialistischen Bourgeoisie politisch wie auch wirtschaftlich Mittel zur Expansion oder jedenfalls zur Abfederung der Krisentendenzen des Systems geliefert. Aber sie hat das in einer ganz anderen Form getan als bei der Zerstörung vorkapitalistischer Eigentumsverhältnisse im 19. Jahrhundert. Der Kapitalismus hat in Russland, Osteuropa China, Vietnam keine rückständige Produktionsverweise zerstört, zurückgesetzt oder inkorporiert. Er hat vielmehr einen gesellschaftlichen Rückschritt mit sich gebracht: bürokratische Planwirtschaften durch halbkoloniale Staaten oder schwache Imperialismen ersetzt und/oder  äußerst autokratische Formen der Herrschaft des Kapitals und Formen, die der ursprünglichen Akkumulation ähneln (mafiose Strukturen, kriminelle Formen der Aneignung … ), errichtet.

Noch dramatischer ist das Bild im Großteil der halbkolonialen Länder. In der sog. „Subsistenzwirtschaft“ der „Dritten Welt“, in den Megastädten und Slums, aber auch in den Ghettos der großen imperialistischen Metropolen sammelt sich ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung, der nicht vor und nicht zurück kann, der in der permanenten Krise einer Gesellschaftsformation gefangen ist.

Zugleich ist diese Abhängigkeit eine unvermeidliche Funktion der Herrschaft des Finanzkapitals. Bis auf wenige Ausnahmeperioden ist das Fortschreiten der Unterentwicklung notwendige Kehrseite der fortschreitenden Zusammenballung und Bereicherung des Finanzkapitals. Die Globalisierung hat dies auf bisher ungeahnte Spitzen getrieben.

Dabei musste das Finanzkapital auch auf Mittel zurückgreifen, die die Produktion und den gesellschaftlichen Verkehr über die bestehenden nationalstaatlichen Grenzen und Formen hinaustreiben: die Zunahme internationaler, koordinierter Produktionsketten und Planungszusammenhänge in Konzernen mit 100.000en Beschäftigen samt einem Vielfachen von ArbeiterInnen in Zulieferindustrien. Die logistischen Leistungen auf dem Gebiet des Transportwesens usw. bezeugen alle auch, zu welchem Ausmaß globaler Wirtschaftsplanung die Menschheit, d. h. die gesellschaftliche Arbeit, fähig geworden ist. Selbst die Einführung des Euro bezeugt nicht nur die imperialen Ambitionen Deutschlands und Frankreichs – sie bezeugt auch, wenn auch im Rahmen des Kapitalismus, dass die modernen Produktivkräfte über den Nationalstaat hinausdrängen.

Programm der herrschenden Klasse

Aber worin besteht das Programm der herrschenden Klasse angesichts dieser Problemstellung in der gegenwärtigen Krise?

Um der schärfsten Explosion vorzubeugen, besteht die unmittelbare Reaktion v. a. der US-Bourgeoisie darin, der Krise durch Staatsverschuldung, also Ausdehnung des Kredits und damit der „Vorbereitung“ der nächsten spekulativen Blase, zu begegnen.  Das wird den Prozess einer Kapitalvernichtung nicht aufheben, auch wenn es diesen verzögern oder sogar zu einem kurzfristigen Aufschwung führen kann.

Angesichts der gigantischen Massen  fiktiven Kapitals, das in den letzten Zyklen angehäuft wurde, angesichts der gigantischen Massen von Kapital, das in Industrien vergegenständlicht ist, die von chronischer Überproduktion betroffen sind, angesichts der gigantischen Widersprüche droht  nach wie vor eine „Bereinigung“, die bisherige Ausmaße dramatisch übersteigt – und die keineswegs sicherstellt, dass danach „der Kapitalismus“ wieder seinen Lauf nimmt.

Die gegenwärtige Krise kann und wird zwar nach einer bestimmten Phase einem zeitweiligen konjunkturellen Aufschwung Platz machen. Die Frage ist jedoch: Werden neue Bedingungen geschaffen, die eine ganze, längerfristige Periode der Expansion ermöglichen? Wird ein relativ stabiles Gleichgewichtig zwischen den großen Kapitalen und Mächten hergestellt werden können, auf dessen Basis auch ein politisches, zwischenimperialistisches Gleichgewicht neu aufbauen kann? Die Frage zu stellen, heißt schon die Probleme zu benennen, die dem gegenüberstehen: Ein neuer tieferer Aufschwung des industriellen Zyklus müsste schließlich nicht nur eine Vernichtung bestehender Kapazitäten, sondern auch eine grundlegende technische Erneuerung des Produktionsapparates oder wenigstens der Zirkulationskosten (wie z. B. Ende der 1980er Jahre und dann v. a. in der Globalisierungsperiode durch die Computerisierung) beinhalten.

Hinzu kommt, dass Kapitalvernichtung ein ungleicher Prozess sein wird und im Rahmen des imperialistischen Gesamtsystems sein muss. Manche kapitalistischen und imperialistischen Staaten und Kapitale gewinnen auf Kosten anderer. Das verschärft wie schon in früheren Phasen die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft und die Konkurrenz untereinander. Der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht hat diese weiter angeheizt, er hat die Weltwirtschaft und die internationale Politik nicht stabilisiert, sondern bringt sie längerfristig aus dem Gleichgewicht.

Die Konkurrenz zwischen den alten imperialistischen Staaten und aufstrebenden Mächten wie China führt dazu, dass das Hauen und Stechen verschärft wird, dass Blockbildung und Protektionismus voranschreiten werden.

Die Lösung der herrschenden Klasse in der aktuellen Krise besteht also letztlich darin, schon erreichte Formen des globalen Austausches, der Produktion zu vernichten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen – ein Beleg mehr dafür, dass die Bourgeoisie eine reaktionäre Klasse ist. Das ist auch der Grund, warum wir es heute mit einer historischen Krise des gesamten Systems zu tun haben.

Wie wenig die herrschende Klasse Herrin ihrer eigenen Produktionsweise ist, wie sehr ihr die gesellschaftlichen Probleme über den Kopf gewachsen sind, zeigt die drohende ökologische Katastrophe. Der Kapitalismus war, wie schon oben dargestellt, immer mit der Zerstörung der menschlichen Umwelt, neben der lebendigen Arbeit die andere große Quelle des Reichtums, verbunden. Von sich aus vermag der Kapitalismus – wie alle früheren Gesellschaftsformationen – keinen rationalen, bewussten Umgang mit der Natur, kein vernünftiges Mensch-Natur-Verhältnis zu etablieren. Als verallgemeinerte Warenproduktion stellt sich eben immer erst im Nachhinein heraus, welche Arbeit gesellschaftlich nützlich war, welche vergebens etc. Die „Umwelt“ tritt in diesem Verhältnis immer nur als Kostenfaktor auf, der individuelle Unternehmens- und Investitionsentscheidungen gemäß ihrer Profiterwartungen modifizieren mag, dessen gesamtgesellschaftliche Folgen aber immer unbewusst bleiben müssen.

Ein rationales Verhältnis zur Natur kann nur vorausschauend, auf Basis von Wissenschaft und rationaler Planung gemäß den Bedürfnissen der Menschen und den Reproduktionserfordernissen ihrer natürlichen Lebensgrundlagen (selbst auch ein menschliches Bedürfnis), verankert werden. Mit dem Kapitalismus ist das unvereinbar. Er treibt vielmehr das Problem als Produktionsweise, die auf den Weltmarkt bezogen ist, also immer schon global bestimmt ist, auf die Spitze.

Ebenso wie die modernen Produktivkräfte dem Nationalstaat entwachsen sind, so ist die Frage der Schaffung eines vorausschauenden und nachhaltigen Verhältnisses zur Natur (inkl. der Wiederherstellung menschengerechter Bedingungen) im nationalstaatlichen Rahmen nicht machbar. Es erfordert internationale Planung, offene und transparente Bestandsaufnahme, offenen Austausch von Erfahrung, Wissen, Wissenschaft, Technologie usw. – alles Dinge, die mit einer Weltgemeinschaft imperialistischer Staaten und der großen Monopole, die im immer schärfer werdenden politischen und ökonomischen Wettstreit liegen, einfach unmöglich sind.

Imperialismus und Sozialismus

Doch die imperialistische Epoche hat nicht nur die inneren Widersprüche, die Probleme auf die Spitze getrieben. Sie hat auch den Weg zu ihrer Lösung sichtbar gemacht.

Die imperialistische Epoche ist somit nicht nur die Epoche des Niedergangs, der Tendenz zu Stagnation. Sie stellt auch den Sturz des Kapitalismus und den Übergang zum Sozialismus, zur zukünftigen klassenlosen Gesellschaft auf die Tagesordnung.

Die imperialistische Epoche ist daher auch die Epoche der proletarischen Diktatur. Die Oktoberrevolution 1917 hat nicht von ungefähr die Welt des 20. Jahrhunderts geprägt wie kein anderes Ereignis.

Die Oktoberrevolution und der revolutionäre Ansturm nach 1917 sowie die Gründung der Dritten Internationale, die zahllosen Revolutionen, Krisen, ja, auch die Entstehung der degenerierten ArbeiterInnen0staaten haben bewiesen, dass die sozialistische Revolution ein gesellschaftliches Bedürfnis geworden ist in der imperialistischen Epoche. In seiner Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie verweist Marx zu Recht darauf, dass die Menschheit, die Geschichte nur solche Probleme und Fragen aufwerfen, die sie auch zu lösen vermögen. Die Häufung revolutionärer Krisen, Situationen, ja, die Entstehung von Übergangsgesellschaften, die sich auf der Basis bürokratischer Planung über Jahrzehnte behaupten und reproduzieren konnten, zeigen auch, dass die gesellschaftliche Entwicklung objektiv über den Kapitalismus hinausdrängt.

Die Russische Revolution hat außerdem auch bewiesen, dass die ArbeiterInnenklasse, auch wenn sie unter äußerst schwierigen Bedingungen an die Macht kommt, diese behaupten und beginnen kann, die Gesellschaft in ihrem Sinne bewusst umzugestalten. Die ersten Jahre der Russischen Revolution sind, ohne dass wir unkritisch zu Schwächen und Fehlern sein wollen, eine heroische Periode der größten revolutionären Umwälzung der bisherigen Geschichte, die auch für zukünftige Transformationen reich an Erfahrung und Lehren ist.

Die Erfahrung zeigt aber auch die Grenzen des Weges. Die Isolierung der Oktoberrevolution hat zu ihrer bürokratischen Entartung und Degeneration, zum Stalinismus, der Liquidierung der revolutionären Partei und zur Machtergreifung der Bürokratie geführt. Trotz aller Unterschiede waren sie durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste und die politische Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse charakterisiert.

Stalinismus bedeutete auf dem Feld der Theorie einen vollständigen Bruch mit dem Marxismus, in der Praxis wandte er  nicht nur barbarischste Mittel des „Aufbaus“ bis hin zum Massenmord und Zwangsarbeit an. Die bürokratische und letztlich national fixierte Planung ging auch bis hin zu absurden Formen der Nichtkooperation zwischen den Staaten des Ostblocks, zur Spaltung in feindliche „sozialistische Lager“ um China und die Sowjetunion herum, zum Bruch von Tito und Stalin, zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit der ArbeiterInnenklasse selbst im Landesinneren (also nicht nur bezüglich des „eisernen Vorhangs“, sondern auch in der SU und China).

All diese Auswüchse waren und sind in den verbleibenden degenerierten ArbeiterInnenstaaten Resultat der Herrschaft der Bürokratie und ihrer reaktionären, konterrevolutionären Politik. Die Politik des „Aufbaus in einem Land“ bedeutet nicht Überwindung der Fesseln, die der Kapitalismus der Entwicklung der Produktivkräfte auflegt, sondern stellt selbst eine Fesselung der Produktivkräfte in das Zwangsbett des Nationalstaates dar.

Diese Politik führt keineswegs nur zur technologischen Rückständigkeit, überflüssiger selbstgenügsamer Anstrengung, jede Erfindung oder Neuerung im „eigenen Land“ parallel zu entwickeln. Vor allem bedeutet sie auch ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkraft der lebendigen Arbeit. Nicht nur die Technik und die ökonomischen Kreisläufe, auch die ArbeiterInnenklasse bleiben zwanghaft „national“.

Die politische Unterdrückung durch die Bürokratie heißt aber vor allem, dass sich die ArbeiterInnenklasse nicht als Klasse für sich konstituieren kann (das wäre nur möglich, wenn sie die bürokratische Herrschaft selbst stürzt). In den stalinistischen Regimen wurde gewissermaßen der „Versuch“ unternommen, eine sozialistische Umgestaltung bei gleichzeitiger zwangsweiser Verhinderung der Bildung von Bewusstsein der revolutionären Klasse über diese Umgestaltung durchzuführen. Eine solche Utopie kann nur reaktionär sein und enden. Sie musste scheitern, und sie ist gescheitert – und das mit vollem Recht.

Die sozialistische Umwälzung muss aber ihrem Wesen nach international sein und muss bewusst durchgeführt werden. Die Frage der ArbeiterInnendemokratie, der in Räten und anderen Formen der direkten und aktiven Demokratie als Staatsmacht und Selbstverwaltung der Gesellschaft organisierten ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten ist keineswegs eine bloß politische, sondern auch ökonomische Frage der Übergangsperiode.

Die Frage der Räte und ihrer Demokratie darf daher niemals nur negativ gefasst werden – z. B. als Mittel, die Etablierung einer Bürokratie, die Verselbständigung neuer „Eliten“ zu verhindern und diese an gesellschaftliche Kontrolle, Verantwortlichkeit und Abwählbarkeit zu binden. Sie ist auch unbedingt positiv zu fassen als unverzichtbares Mittel, wie sich die Gesellschaft in der Epoche des Übergangs, der Diktatur des Proletariats mit sich selbst über ihre eigenen Bedürfnisse, wirtschaftliche (und politische) Prioritäten, Schwerpunkte verständigen kann. Sie ist das Mittel, wie die technischen Notwendigkeiten der Planung mit den gesellschaftlichen Zielen, Schwerpunkten, Teilzielen usw. in Einklang gebracht werden können, so dass die einzelnen ArbeiterInnen, ja, alle Gesellschaftsmitglieder zunehmend bewusster in diesen Prozess eingreifen.

Nur so kann das Proletariat zu einer bewusst herrschenden Klasse werden und zugleich das Überflüssigmachen seiner Herrschaft vorbereiten und durchsetzen.

Die Tendenz dazu, die Produktivkräfte bewusst nach den Zielen der gesamten Gesellschaft auszurichten, wurde nicht nur im Stalinismus blockiert (bei gleichzeitiger Einführung bestimmter Voraussetzungen dafür). Sie wird noch viel mehr im Kapitalismus blockiert, auch wenn (oder gerade weil) die Entwicklung der Produktivkräfte in diese Richtung drängt. Das trifft nicht nur auf die internationale Arbeitsteilung und Produktion zu, die auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit internationaler Planung verweisen.

Es trifft auch darauf zu, dass im Kapitalismus die Steigerung der Produktivität der ArbeiterInnen immer wieder auch auf dem  zwiespältigen Prozess der Enteignung ihres Wissens basiert. So muss das Kapital selbst in bestimmten Phasen auf „modernere“, scheinbar „partizipativere“ Formen der Arbeitsorganisation (wie Gruppenarbeit) zurückgreifen, um dieses Wissen über den Produktionsprozess besser inkorporieren zu können. Alle großen Kapitale kennen mehr oder weniger haarsträubende Formen des „Verbesserungswesens“. Aber dies geht immer auch mit einem gewissen Konflikt in Bezug auf die Erfordernisse des Ausbeutungsregimes einher. So werden Gruppen in der Gruppenarbeit von den Vorgesetzten nach bestimmter Zeit regelmäßig zerschlagen, weil diese nicht nur die Arbeitsorganisation verbessern, sondern ab einem bestimmten Zeitpunkt auch dazu tendieren, den Zusammenhalt unter den ArbeiterInnen gegen ihre Vorgesetzten zu stärken. Hinzu kommt z. B., dass auch viele Lohnabhängige sehr genau wissen, wie eigentlich besser, schonender produziert werden kann oder einfach bessere Produkte gefertigt werden könnten, dass dies jedoch den Profitinteressen des/r jeweiligen KapitalistIn entgegensteht. Kurzum, die lebendige Arbeit wird einerseits befähigt, immer mehr Reichtum hervorzubringen, und die ArbeiterInnen wie die Gesamtarbeit werden im Zuge der technischen Entwicklung oft auch viel qualifizierter, aber sie werden zugleich immer drakonischer und offensichtlicher den bornierten Zwecken des Kapitals unterworfen.

Schließlich verweist die Frage der Ökologie, die drohende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch andere große Menschheitsfragen wie jene nach der Bekämpfung von Hunger und Seuchen, die Frage der Umgestaltung der Landwirtschaft darauf, dass auch durchdacht werden muss, wofür was produziert wird.

Stalinismus und Sozialdemokratie haben die Frage nach der Umwandlung der Gesellschaft, nach dem Sozialismus, nach dem Fortschritt nicht von ungefähr technisch und organisatorisch behandelt: Sicherung von Arbeitsplätzen, von Einkommen, eines bestimmten Lebensstandards.

Die Umwandlung des Verhältnisses der ProduzentInnen zu ihren Arbeitsmitteln und zum Produkt waren für sie keine Fragen, weil sie mit ihrer „Vision“ von „Sozialismus“ nichts zu tun hatten und auch nicht haben konnten. Für beide war die ArbeiterInnenklasse im Grunde nicht Subjekt, sondern Objekt einer „Umwandlung“.

Wenn sie jedoch nicht zum bewussten Subjekt der Umwandlung wird und das Verhältnis zwischen den Menschen zunehmend bewusst zu gestalten beginnt, so ist natürlich auch ein bewusstes, rationales Verhältnis zur Natur unmöglich.

Die objektiven Voraussetzungen für die sozialistische Umgestaltung der Weltwirtschaft bestehen schon seit über einem Jahrhundert. Sie ist heute brennend aktuell und notwendig, weil sowohl die aktuelle Weltwirtschaftskrise und alle größeren, tieferen Probleme der Menschheit danach drängen. Ohne diese sind massive Zerstörung, Vernichtung, Heraufbeschwören neuer „natürlicher“ und zivilisatorischer Katastrophen unabwendbar. Die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ droht – und weist zugleich auf den Ausweg.

Doch so dramatisch zugespitzt die Verhältnisse sind, so sehr nicht nur moderne Technik, Produktions- und Kommunikationsmittel und eine wissenschaftlich und technisch hochqualifizierte ArbeiterInnenklasse vorhanden sind, die schon jetzt die Fähigkeit hat, unter ihrer Regie die ganze Weltwirtschaft neu, rational und vernünftig zu reorganisieren, so ist sie sich dieser Fähigkeiten als Klasse  aber nicht bewusst.

Ein solches Bewusstsein kann in ihr freilich nicht spontan entstehen – so wie revolutionäres Klassenbewusstsein nicht. „Spontan“ erscheint es den ArbeiterInnen so, dass ihr Zugewinn an Wissen und Fähigkeiten, den Gesamtprozess zu organisieren, zusätzliche Potenzen für das Kapitals wären.

Dieser Schleier, diese Umkehrung der realen Verhältnisse, die der Kapitalismus aber notwendig als „falsches Bewusstsein“ hervorbringt, kann nur durch den revolutionären Kampf um Kontrolle, Enteignung des Kapitals, gesellschaftliche Planung, also den Kampf um ein Programm von Übergangsforderungen durchbrochen werden.

Was dazu fehlt, ist eine politische Strategie, ein Programm der sozialistischen Revolution und wirtschaftlichen Umgestaltung zum Sozialismus, eine Partei, eine Führung.

Auch in diesem Sinne ist die Krise der Menschheit die Krise der proletarischen Führung. Es gibt nur ein Mittel, diese Krise zu überwinden: die Schaffung einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revolution – einer neuen, Fünften Internationale.


Endnoten

[i] Degenerierte ArbeiterInnenstaat sind Staaten, in denen zwar das Kapital enteignet wurde, die politische Herrschaft jedoch nicht von der ArbeiterInnnenklasse ausgeübt wird, sondern von einer bürokratischen Kaste, einer privilegierten Schicht. Während die Sowjetunion erst durch die stalinistische Konterrevolution zu einem solchen Staat degenerierte, stellten jene Osteuropas, China, Nordkorea, Kuba, Vietnam oder Kambodscha von Beginn an degenerierte, von einer ihrem Wesen nach konterrevolutionen Bürokratie beherrschte ArbeiterInnenstaaten dar.

[ii] Francis Fukayama, Das Ende der Geschichte, Kindler, München 1992

[iii] Siehe dazu: Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1984 bzw. Lukács, Existenzialismus oder Marxismus? Aufbau-Verlag, Berlin 1951

[iv] Siehe die Kritik der Postkolonialismustheorie in diesem RM und die Kritik von Chibber, Vivek: Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Dietz Verlag, Berlin 2018

[v] Michael Hardt undAntonio Negri, Empire – Die neue Weltordnung, Campus Verlag, Frankfurt/M. 2020

[vi] Rodney Edvinsson und Keith Harvey, „Empire“: Jenseits des Imperialismus?, in: Revolutionärer Marxismus 33, Theoretisches Journal der Liga für die Fünfte Internationale, Global Red, Berlin 2003, und Martin Suchanek, Das reformistische Schaf im autonomen Wolfspelz, in: Revolutionärer Maxismus 41, Global Red, Berlin 2010

[vii] David Harvey, Der neue Imperialismus, VSA Verlag, Hamburg 2005 und ders., Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, VSA Verlag, Hamburg 2014

[viii] Elmar Altvater, Konkurrenz für das Empire, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2007

[ix] Joachim Bischoff, Die Herrschaft der Finanzmärkte, VSA Verlag Hamburg 2012

[x] Siehe insbesondere PROKLA 194: Welmarktgewitter: Politik und Krise des globalen Kapitalismus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2019, PROKLA 195: Umkämpfe Arbeit – reloaded, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2019, PROKLA 198: Globale Stoffströme und internationale Arbeitsteilung, Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2020; PROKLA 199: Politische Ökonomie des Eigentums, Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2020

[xi] Utsa Patnaik und Prabhat Patnaik, A Theory of Imperialism, Columbia University Press, New York 2017

[xii] Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1970; ders., Aufsätze zur Krisentheorie, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1971

[xiii] Paul Mattick, Economic Crisis and Crisis Theory, The Merlin Press, London, 1981; ders., Kritik der Neomarxisten, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M. 1974

[xiv] Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ,Kapital’, Bd. I und II, EVA, Frankfurt/M. 1973

[xv] Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 8

[xvi] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1983, S. 420

[xvii] Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1974, S. 28

[xviii] Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Gesammelte Werke, Band 1, 1. Halbband, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1987, S. 367ff.

[xix] Trotzki, Schriften über Deutschland, Band 1, EVA, Frankfurt/M. 1971

[xx] Mandel, Trotzkis Faschismusanalyse, Einleitung zu Schriften über Deutschland, in: a. a. O., S. 14.

[xxi] Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 463

[xxii] Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 321

[xxiii] Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 777 f.

[xxiv] Ebenda, S. 779

[xxv] Siehe dazu z. B. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 95

[xxvi] Marx, Kapital Band 1, a. a. O., S. 790f.

[xxvii] Marx, Kapital Band 3, MEW 25, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1969, S. 260

[xxviii] Marx, Grundrisse, a. a. O.,  S. 641

[xxix] Ebenda, S. 642

[xxx] Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’, Bd. 2, a. a. O., S. 449, FN 38

[xxxi] Marx, Das Kapital Band 1, a. a. O., S. 662 (in Einschaltung 1* aus der autorisierten französischen Ausgabe)

[xxxii] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O., S. 381

[xxxiii] Marx, Theorien über den Mehrwert Band 2,  MEW 26.2, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 510

[xxxiv] So zum Beispiel im Abschnitt „Große Industrie und Agrikultur“ im 1. Band des Kapitals, siehe: Das Kapital, Band 1, a. a. O., S. 527 – 530

Zur ausführlichen Darstellung unserer Position: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Umwelt und Kapitalismus. Zu den grundlegenden Widersprüchen zwischen Nachhaltigkeit und kapitalistischer Produktionsweise, Berlin 2019, http://arbeiterinnenmacht.de/2019/06/26/umwelt-und-kapitalismus/

[xxxv] Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1973, S. 111 – 207

[xxxvi] Ebenda, S. 117

[xxxvii] Hilferding, Das Finanzkapital, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1955

[xxxviii] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik, in: Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 5, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 431

[xxxix] Grossmann, a. a. O.

[xl] Ebenda, S. 21

[xli] Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: LW Band 22, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1988, S. 189 – 309

[xlii] Ebenda, S. 230

[xliii] Ebenda, S. 270

[xliv] Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 551

[xlv] Trotzki, Die permanente Revolution, in: ders.: Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution, EVA, Frankfurt/M. 1971

[xlvi] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 271

[xlvii] Ebenda, Vorwort zur französischen Ausgabe, a. a. O., S. 198

[xlviii] Marx, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW 7, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 247f.

[xlix] Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, MEW 19, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1974, S. 384 – 406

[l] Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution. Mit Einleitungen von Helmut Dahmer und Richard Lorenz, a. a. O.

[li] Ebenda, S. 122f.

[lii] Ebenda, S. 123f.

[liii] Trotzki, Was ist nun die permanente Revolution? Grundsätze, These 2, in: ders., Ergebnisse und Perspektiven … , a. a. O., S. 158

[liv] Trotzki, Was ist nun die permanente Revolution; Grundsätze, These 10, in: ders., Ergebnisse und Perspektiven … , a. a. O., S. 161

[lv] Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, in: MEW 17, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1973, S. 313 – 365

[lvi] Zur Ausführlichen Darstellung der Entwicklung der bolschewistischen und Lenin’schen Konzeption siehe: Martin Suchanek, Bruch und Wandel des Bolschewismus. Das Programm der Russischen Revolution, in: Revolutionärer Marxismus 49, global red, Berlin 2017, S. 5 – 82

[lvii] Lenin, Über die aufkommende Richtung des „imperialistischen Ökonomismus“, in: LW Band 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 1 – 10; ders., Antwort auf P. Kijewski (J. Pjatakow), ebenda, S. 11 – 17; ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus oder über den „imperialistischen Ökonomismus“, ebenda, S. 18 – 71

[lviii] Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: MEW 22, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1977, S. 225 – 240

[lix] Trotzki, Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale, Zweiter Teil: Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche; in: ders., Kritik des Programmentwurfs für die Kommunistische Internationale (29.6.1928), Schriften Band 3.2, Linke Opposition und IV. Internationale 1927 – 1928, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1997, S. 1251; auch in: ders., Die Dritte Internationale nach Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993, S. 89

[lx] Luxemburg, Gründungsparteitag der KPD 1918/19, III: Unser Programm und die politische Situation, 31. Dezember 1918, in: dies., Gesammelte Werke Band 4, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1987, S. 494

[lxi] Trotzki, Der Zusammenbruch der beiden Internationalen. Erklärung der Bolschewiki-Leninisten auf der Pariser Konferenz (17.8.1933), in: ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928 – 1934, Neuer ISP Verlag, Köln 2001, S. 440

[lxii] Trotzki, Die neue Etappe. Die Weltlage und unsere Aufgaben, Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921, Reprint

[lxiii] Inprekorr vom 24. April 1924, zitiert nach Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 111

[lxiv] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 113

[lxv] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 270

[lxvi] Ebenda, S. 269f.

[lxvii] Hilferding, Das Finanzkapital, a. a. O., S. 439

[lxviii] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a. a. O., S. 327; in der deutschen Erstausgabe, noch außerhalb der MEW, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1953, findet sich das Zitat nahezu gleich auf S. 317

[lxix] Margaret Wirth, Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Klassenkampfs Nr. 8/9, Berlin/West 1973, S. 24

[lxx] Joachim Schubert, Die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus – Kritik der zentralen Aussagen, in: Mehrwert (Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie) Nr. 4, Berlin/West 1973, S. 8

[lxxi] Lukács, Ontologie – Marx, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die ontologischen Grundprinzipien von Marx, Sammlung Luchterhand 86, Darmstadt/Neuwied 1972

[lxxii] Lukács, Ontologie – Marx, a. a. O., S. 45

[lxxiii] Marx, Das Kapital Band 1, a. a. O., S. 791

[lxxiv] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 242

[lxxv] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O.,  S. 452f.

[lxxvi] Ebenda, S. 453

[lxxvii] Ebenda, S. 454

[lxxviii] Ebenda, S. 456

[lxxix] Hilferding, Das Finanzkapital, a. a. O., S. 258

[lxxx] Ebenda, S. 349

[lxxxi] Zitiert nach Oelßner, Vorwort zur Neuausgabe von „Das Finanzkapital“, a. a. O., S. XXXIII

[lxxxii] Lenin, Heft Hilferding. „Das Finanzkapital“, LW 39, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1965, S. 330 – 336

[lxxxiii] Ebenda, S. 334

[lxxxiv] Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft, Archiv Sozialistischer Literatur 13, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1969

[lxxxv] Ebenda, S. 131

[lxxxvi] Ebenda, S. 191

[lxxxvii] Ebenda, S. 133

[lxxxviii] Ebenda, S. 133

[lxxxix] Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode, Texte des Sozialismus und Anarchismus, rororo Klassiker 261 – 263, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1970

[xc] Ebenda, S. 19

[xci] Ebenda, S. 50

[xcii] Ebenda, S. 54f.

[xciii] Lenin, Einige Erwägungen zu den Bemerkungen der Kommission der gesamtrussischen Aprilkonferenz, LW 24, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 465f.

[xciv] Lenin, VIII. Parteitag der KPR (B), 18. – 23. März 1919, Bericht über das Parteiprogramm, 19. März, LW 29, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1971, S. 153

[xcv]Busch/Schoeller/Seelow, Weltmarkt und Weltwährungskrise, Bremen 1971; Christel Neusüss, Imperialismus und Weltmarktbewegung des Kapitals, Verlag POLITLADEN, Politladen-Druck Nr. 4, Erlangen 1972; Wolfgang Schoeller, Werttransfer und Unterentwicklung – Bemerkungen zu Aspekten der neueren Diskussion um Weltmarkt, Unterentwicklung und Akkumulation des Kapitals in unterentwickelten Ländern (anhand von E. Mandel, Der Spätkapitalismus), in: Probleme des Klassenkampfes 6, März 1973, S. 99 – 120, Verlag Politladen, Erlangen1973; Margaret Wirth, Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Klassenkampfs 8/9, S. 17 – 44, Verlag Politladen, Erlangen 1973; Klaus Busch, Ungleicher Tausch – Zur Diskussion über internationale Durchschnittsprofitrate, Ungleichen Tausch und Komparative Kostentheorie anhand der Thesen von Arghiri Emmanuel (1), Probleme des Klassenkampfs 8/9, a. a. O., S. 47 – 88; Ders., Die multinationalen Konzerne. Zur Analyse der Weltmarktbewegung des Kapitals, Suhrkamp Verlag, edition suhrkamp 741, Frankfurt/M., 1974

[xcvi] Wolfgang Schoeller, Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals, EVA, Frankfurt/M., Köln 1976

[xcvii] Marx, Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 53

[xcviii] Marx, Theorien über den Mehrwert Band 2, a. a. O., S. 521

[xcix] Schoeller, Weltmarkt und … , a. a. O., S. 23

[c] Marx, Kapital Band 1, a. a. O., , S. 583f.

[ci] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O., 247

[cii] Zur Darstellung der Krise von 1973 und ihrer Bedeutung siehe: Oelßner, Die Wirtschaftkrisen. Die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus, Reprint Frankfurt/Main 1973, S. 244 – 262

[ciii] Lenin, Der Imperialismus … , a. a.O., S. 246

[civ] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 94f.

[cv] Ebenda, S. 125f.

[cvi] Zu einer ausführlichen Darstellung siehe: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Der Letzte macht das Licht aus. Die Todesagonie des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale http://arbeitermacht.de/broschueren/vs/index.htm

[cvii] Stephan Krüger, Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft. Arbeits- und Betriebsweisen seit dem 19. Jahrhundert und der bevorstehende Epochenwechsel, VSA Verlag, Hamburg 2019, S. 117f.

[cviii] Stephan Krüger, Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft … , a. a. O.

[cix] Ebenda, S. 119 – 122

[cx] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer Verlag (7. Auflage), Frankfurt/M. 2003, S. 57

[cxi] Zitiert nach Leo Mayer und Fred Schmid: Welt-Sheriff  NATO. Weltwirtschaftsordnung und neue NATO-Doktrin, isw report 40, München 1999, S. 22




US-Imperialismus vor, während und nach Trump

Moritz Sedlak, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

1 US-Imperialismus: Geschichte und Perspektiven

Die USA sind die weltweit wichtigste imperialistische Macht. Das bedeutet, die Dynamik des weltweiten Kapitalismus ist maßgeblich von Entwicklungen bestimmt, die von den Vereinigten Staaten ausgehen oder sich, wie die zunehmende Konkurrenz aus China, auf ihre Rolle beziehen.

Der Fall der Sowjetunion zementierte die vermeintlich unanfechtbare Führungsrolle der USA. Seitdem ist sie aber zunehmend unter Beschuss geraten. Die ökonomische Seite dieser Entwicklung sind der anhaltende Verlust der Kostenvorteile in der Industrie, die Errichtung von Hochtechnologiezentren außerhalb der USA und die relative Abnahme der Bedeutung der US-Finanzindustrie. Politisch sind die Formierung der EU als imperialistischer Block (der aber weiterhin zu instabil für eine Unabhängigkeit vom US-Kapital bleibt), aber vor allem der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht Ausdruck dieser Anfechtbarkeit.

Dementsprechend steht die Außenpolitik der Trump-Regierung für eine bedeutende Veränderung des US-amerikanischen Imperialismus. Der Bruch mit vielen internationalen Handelsbündnissen und eine forschere Intervention in die Militärbündnisse, aber auch der Austritt aus der Weltgesundheitsbehörde WHO oder dem Pariser Klimaabkommen wird von den bürgerlichen Medien gerne als irrational dargestellt. Teilweise versteigen sich die angeblichen ExpertInnen sogar in einen Vergleich der Trump-Politik mit den Forderungen der Linken in der antiimperialistischen und Antiglobalisierungsbewegung besonders gerne unter Bemühung eines sehr vagen Begriff von Populismus.

Marxistische Analyse

Ulrich Küntzel skizziert in seinem Buch „Der nordamerikanische Imperialismus“ eine marxistische Analyse der US-Außenpolitik seiner Zeit. Wie Hilferding und Lenin versteht er die zentrale Rolle des Kapitalexports in der Zuspitzung internationaler Spannungen und damit in der Gestaltung des imperialistischen Weltsystems. Während wir über den zeitlichen Horizont seiner Darstellung hinausgehen, wollen wir uns in diesem Artikel an denselben Leitlinien orientieren:

Es liegt auf der Hand, daß Militarismus und Wettrüsten schon für sich allein die internationalen Spannungen verschärfen können. Das Finanzkapital spitzt jedoch die internationalen Konflikte auch wirtschaftlich zu: durch Kapitalausfuhr. Die Trusts jeder imperialistischen Nation suchen sich Rohstoffquellen und Absatzmärkte außerhalb der eigenen Staatsgrenzen zu sichern und ihre Konkurrenten mittels der eigenen Diplomatie und Wehrmacht – die USA daneben durch ihre Geheimdienste CIA und NSA – von den eigenen Einflußgebieten fernzuhalten.i

Das NAFTA-Freihandelsabkommen der USA mit Kanada und Mexiko war ein Paradebeispiel für imperialistische Machtausübung durch Handelsbündnisse und eines, an dem sich GlobalisierungskritikerInnen jahrelang abarbeiteten. Aus NAFTA sind die USA unter Trump ebenso ausgestiegen wie aus dem fertig verhandelten TPP im Pazifikraum und den TTIP-Verhandlungen mit der EU. Dazu kommen die offene und parteiische Unterstützung amerikanischer Unternehmen durch die außenpolitischen Institutionen und der Handelskrieg. Hier brach die Regierung Trump mit der Außenpolitik der letzten Jahrzehnte – eine wichtige Machtverschiebung zwischen den US-Kapitalfraktionen.

Trump begründete den Handelskrieg mit China mit „unfairen“ Wettbewerbspraktiken und forderte für zeitweise Deeskalationen den Kauf amerikanischer Waren ein. Auch der populäre Boykott von Huawei und das drohende Verbot der Social-Media-Plattform TikTok sind eine offene Ansage, MarktführerInnenschaften von chinesischen Unternehmen nicht zu akzeptieren. An die Stelle der Rhetorik vom freien Wettbewerb ist eine offene Rückendeckung von Firmeninteressen durch Außenpolitik und militärisches Säbelrasseln getreten.

Trumps Versprechen

Zentrale Wahlversprechen von Trump waren der weitgehende Truppenabzug aus Irak und Afghanistan und eine Einstellung der Einmischungen in Syrien und Libyen. Das ist so nicht umgesetzt worden. Auch aus dem „angedrohten“ Rückzug aus den NATO-Militärbasen in Europa ist ein Verschieben von Truppen in Länder mit vermeintlich US-freundlicheren Regierungen geworden. Dennoch haben Trump und seine Verbündeten eine zentrale Änderung der außenpolitischen Doktrin, weg von der „Weltpolizistin USA“, angekündigt. Die Bekanntgabe dieses Vorhabens wird von heftigen, aber kurzen Aggressionen begleitet, zum Beispiel dem angedrohten Krieg gegen den Iran. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den dauerhaft angelegten Besatzungs- und Einschüchterungskampagnen unter Bush und Obama.

Eine noch wichtigere Verschiebung gab es in Bezug auf Freihandelsabkommen, die man als zentrales Werkzeug imperialistischer Staatspolitik verstehen kann. In den 1980er und 1990er Jahren trieben sie und das „regelbasierte Handelssystem“ den Zugriff amerikanischer Kapitale auf die Halbkolonien des globalen Südens voran. Das war auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen Kampagne der politischen Unterwanderung, geheimdienstlicher Kampagnen und militärischer Aggression gegen Regierungen, die sich dem nicht unterordnen wollten und vor allem in Lateinamerika größtenteils beseitigt wurden. Angesichts der weitgehend verlorengegangenen Wettbewerbsvorteile amerikanischer Unternehmen und des verschärften Wettbewerbs imperialistischer Kapitalexporte um die Überausbeutung des globalen Südens wurde die imperialistische Konkurrenz zunehmend zur Gefahr für die amerikanische Vorherrschaft.

Die militärischen Interventionen der USA waren ab den 1990er Jahre vor allem auf die Sicherstellung der Energieversorgung, direkt durch Erdölimporte und indirekt durch geostrategische Absicherung, motiviert. Die Blutbäder in den beiden Golfkriegen, die Invasion Afghanistans und die Besatzung des Irak waren die konkreten Ergebnisse, außerdem die stetige Einflussnahme auf afrikanische Länder und die Drohungen gegen Libyen und Iran. Hier veränderten der technologische Wandel und der Aufstieg der USA zur Energieexporteurin die Bedingungen. Die Interessen, zumindest aus der Energieindustrie, sind sogar umgedreht, weil sich die teure Förderung aus Schiefergas und Teersand nur bei hohen Weltmarktpreisen überhaupt lohnt.

Der imperialistische Staat

Die Rolle des kapitalistischen Staates ist die des „ideellen Gesamtkapitalisten“ii. Das bedeutet drei Dinge: Zuerst einmal muss der Staat das Gesamtinteresse, die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten, durchsetzen mit Repression und Befriedung gegen aufbegehrende ArbeiterInnen und Unterdrückung, mit Regulierung und Gesetzen gegen die kurzfristigen Profitinteressen der EinzelkapitalistInnen. Historisch bedeutete das auch und vor allem das (teilweise gewaltsame) Durchsetzen von Märkten, Eigentumsrechten und dem System der Lohnarbeit, die von Konservativen fälschlich als „natürliche Ordnung“ des Kapitalismus dargestellt werden.iii

Zweitens muss der Staat die Interessen der EinzelkapitalistInnen gegeneinander abwägen, im Großen den aufstrebenden Fraktionen den Vortritt erlauben, aber auch eine Art „fair play“ zwischen diesen sicherstellen. Aber zuletzt tritt der Staat auch selbst als Kapitalist in Erscheinung, ist also nicht nur Werkzeug der KapitalistInnen, sondern entwickelt eigene unternehmerische Interessen.

Diese Rolle wird noch einmal auf die Spitze getrieben vom imperialistischen Staat. Der hat wiederum zwei zentrale Aufgaben: (1) Das Erweitern der Absatzmärkte für die Warenproduktion des inländischen Kapitals und für den Kapitalexport, (2) das Abwägen der Interessenswidersprüche zwischen Kapitalfraktionen im eigenen Land. Für die USA als weltweite Führungsmacht kommt, wie für andere imperialistische Länder auch, noch das Abwägen der Interessen von verbündeten Staaten und ausländischen Kapitalfraktionen dazu.

Wo der Kapitalismus an die Grenzen der inländischen Kapitalakkumulation stößt, erweitern die stärksten Kapitale ihren Einflussbereich über die Staatsgrenzen hinweg. Beim Erschließen von Absatzmärkten, aber auch günstigen Ressourcen und Arbeitskraft werden sie in der Regel vom militärischen und diplomatischen Staatsapparat unterstützt. Mit anderen Worten orientiert sich die Aufgabenstellung des ideellen Gesamtkapitalisten Staat am Expansionsdrang der Einzelkapitale.

Sie orientiert sich nur oberflächlich am Warenverkauf. Tatsächlich ist die zentrale Aufgabe jeden Kapitals die Akkumulation, also die Verwertung durch die Ausbeutung von Arbeitskraft. Die imperialistische Wirtschaftspolitik orientiert sich deshalb auch zentral am Kapitalexport. Für die USA bedeutet das, die Profite aus US-amerikanischen Unternehmen entweder direkt oder durch Kredite in die Ausbeutung außerhalb der USA zu investieren, wobei die Profite in der Regel wieder an das Ursprungskapital zurückfließen. Buchhalterisch ist das angesichts der heute weit verbreiteten multinationalen Steuerkonstruktionen nicht ganz so einfach nachzuzeichnen, Konzernstrukturen und die Nationalität der BesitzerInnen der weltweit größten Unternehmen geben hier aber deutliche Hinweise.

Auf dieser Grundlage werden wir in diesem Artikel die Interessen der US-Kapitalfraktionen in verschiedenen Perioden und die Auswirkungen auf die Außenpolitik nachzeichnen. Nach einer kurzen Aufzählung der Veränderungen aus den letzten Jahren in Abschnitt 2 zeichnen wir die Entwicklung des US-Kapitalismus skizzenhaft nach. Abschnitt 3 beschäftigt sich mit der Kolonisierung der USA, dem Aufbau des US-amerikanischen Kapitalismus und erster imperialistischer Bestrebungen sowie den qualitativen Brüchen im Ersten Weltkrieg und der Großen Depression. Abschnitt 4 behandelt die Ablösung der europäischen Kolonialreiche und der alten Koloniallogik durch den modernen Imperialismus, die Rolle des US-Finanzkapitals und die Konsolidierung der USA als imperialistische Führungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg. Abschnitt 5 beschreibt die geostrategischen Herausforderungen des Kalten Krieges, während Abschnitt 6 die Interventionen in Lateinamerika untersucht, auch um den Zusammenhang von Kapital- und Warenexport der USA mit Beispielen zu illustrieren. In Abschnitt 7 widmen wir uns schließlich der Periode des Freihandels und der „regelbasierten Weltordnung“ und besonders der Frage, welche Kapitalfraktionen diesen Kurs gegen andere, und zu deren Nachteil, durchsetzen wollten. Das erlaubt uns, im Abschnitt 8 die Bruchpunkte der US-Außen- und Wirtschaftspolitik in die Konflikte innerhalb des US-Kapitals einzuordnen. Die Vorstöße, aber auch Niederlagen der Trump-Regierung lassen sich dann ganz ohne Psychologisierung erklären. In Abschnitt 9 beschreiben wir schließlich die neue globale Situation, den grundlegenden Widerspruch zwischen den Interessen an protektionistischer Durchsetzung von kapitalistischen Einzelvorhaben und teurer geostrategischer Eingrenzung Chinas.

Das Ergebnis des Artikels ist eine historische Definition des US-Imperialismus, die eng an ein Verständnis der Kapitalexportdynamiken gebunden ist. Dieses auf die Situation besonders seit 2008 anzuwenden, und der Abgleich mit den Veränderungen der Trump-Außenpolitik im Vergleich zu den Regierungen Bush und Obama erlaubt uns schließlich, den Grundkonflikt im US-Imperialismus des 21. Jahrhunderts herauszuarbeiten.

2 Außenpolitik vor, während und nach Trump

Die Außenpolitik der USA steht auf drei stabilen Füßen militärischer, diplomatisch-geheimdienstlicher und wirtschaftlicher Herrschaft. Die Rolle als weltweite imperialistische Führungsmacht ist mehr als nur ein Regime des Kapitalexports (aber auch Kapitalimport über die amerikanischen Finanzmärkte), aber untrennbar damit verbunden.

Wie in jedem kapitalistischen Land ist ein stabiler politischer Herrschaftsanspruch, zum Beispiel des US-Präsidenten, an die Interessen wichtiger Teile des Kapitals und die weitgehende Duldung durch den Rest geknüpft. Das bedeutet in der Regel, dass scharfe Wendungen in der Regierungspolitik auch einen Wandel der Kapitalinteressen oder der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen widerspiegeln. Umgekehrt sind Logik und Stoßrichtung politischer Veränderungen nur mit einer vernünftigen Analyse der Kapitalinteressen verständlich.

Aus zwei Gründen sind es in den USA vor allem die Außen-, Handels- und Kriegspolitik, in denen sich die Machtverschiebungen im Klassenkampf widerspiegeln. Zum weltweiten Führungsanspruch als wichtigste imperialistische Macht kommt noch die weitgehende Dezentralisierung der Wirtschaftsgesetzgebung auf die Bundesstaaten (also Steuern, Mindestlöhne und Regulierungen) und ein komplexes System von „checks and balances“ (Gewaltenteilung) auf Bundesebene hinzu. Aus diesen beiden Gründen sind es vor allem die Außen-, Handels- und Kriegspolitik, in denen sich die Machtverschiebungen im Klassenkampf oft zuerst widerspiegeln. Gleichzeitig hat die internationale Konkurrenz, zum Beispiel der Führungsanspruch Chinas oder die Formierung der EU als imperialistischer Block, mehr Auswirkungen auf die führenden Kapitalfraktionen in den USA als in anderen Ländern.

In den 1980er Jahren fügte das Kapital in den imperialistischen Ländern, ausgehend von den USA und Britannien, der ArbeiterInnenbewegung mit der erfolgreichen neoliberalen Wende entscheidende Niederlagen zu. Der historische Burgfrieden SozialpartnerInnenschaft, der die Stabilität in den Zentren gesichert und eine stabile Überausbeutung der Halbkolonien ermöglicht hatte, wurde abgelöst durch eine gezielte Absenkung der Lohn- und Steuerkosten.

Gleichzeitig veränderte sich auch der außenpolitische Fokus der USA, von regelbasierten Absprachen in der Wirtschaftspolitik (beispielsweise das Bretton-Woods-Abkommen zur Währungsstabilität) hin zu immer wichtiger werdenden Freihandelsabkommen. Diese sicherten freie Wege für den imperialistischen Kapitalexport, Zugang zu Absatzmärkten für (vor allem technologieintensive) Konsumwaren und nicht zuletzt eine Kontrolle der ölfördernden Staaten, die mit der Ölpreiskrise ab 1973 für die imperialistische Herrschaft zu einem Unsicherheitsfaktor geworden waren. Die Freihandelsabkommen sollten Protektionismus verhindern und den Wettbewerbsvorteil der Industriekapitale in den imperialistischen Staaten auch auf Absatzmärkten fern der Produktionsstätte verwertbar machen. Gleichzeitig hängt die internationale Arbeitsteilung in Form von globalen Produktionsketten von ungehindertem Transport ab. Und zuletzt ermöglichten die InvestorInnenschutz-Paragraphen der multilateralen Abkommen wie GATT und WTO den finanziellen Kapitalexport, der zum Hauptgeschäft der US-amerikanischen Finanzindustrie wurde.

In dieser Zeit wurde auch die Eskalation von Schuldenkrisen in den Halbkolonien zu einer regelmäßigen Erscheinung. In der neoliberalen Neuordnung der internationalen Beziehungen wurde diese Verschuldung zum zentralen Hebel. IMF und Weltbank forderten im Gegenzug für „Rettung“ vor der Staatspleite den Ausverkauf verstaatlichter Infrastruktur, aber auch massive Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse ein. Davon profitierte das US-Kapital, das Investitionsmöglichkeiten in den privatisierten Industrien und fast unbegrenzte Ausbeutung von Rohstoffen und günstiger Arbeit erschloss.

Die Militärpolitik in dieser Zeit verband drei Hauptmotive: den geostrategischen Kampf gegen die Ausbreitung des Stalinismus (Vietnamkrieg), die Absicherung gegen erstarkende Ölrentenstaaten und das Eindämmen demokratischer und sozialer Bestrebungen in Lateinamerika und Afrika.

Vor allem seit dem Zusammenbruch der stalinistischen „Ostblock“staaten und ihrer Einflusssphäre sind die Interessen des US-Kapitals im Wandel. Der Wettbewerbsvorteil bei Lohnkosten und Profitabilität in der Industrieproduktion ist seit den 1990er Jahren weitgehend verschwunden, die Auslagerung von Produktion deutlich wichtiger. Danach war es vor allem die Vorherrschaft in der Hochtechnologie- und Finanzindustrie, die eine weitere Orientierung auf Freihandelsabkommen und die so genannte „regelbasierte Ordnung“ legitimierten. Dem Hochtechnologiesektor kommt der überproportionale Fokus auf geistiges Eigentum (TRIPS-Klauseln), dem Finanzsektor die Öffnung für Auslandsinvestitionen zugute, die in diesen Verträgen wichtige Rollen spielen.

Andere US-Kapitalfraktionen, die höhere Lohnkosten haben als die internationale Konkurrenz, wurden von diesen Abkommen aber teilweise schlechtergestellt. Und außerdem bedeuteten die europäische Integration durch das Zusammenwachsen der EU sowie der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht, dass zunehmend Produktionsketten ohne Endmontage in den USA aufgebaut wurden.

Gleichzeitig erschloss die Energiebranche in den USA neue Methoden der Ölförderung (vor allem Schiefergas und Teersand), deren Profitabilität aber an einen möglichst hohen Weltmarktpreis für Öl und Gas gekoppelt ist. Ihre Erwartungen an die US-Außenpolitik sind weniger, niedrige Öl- und Gaspreise sicherzustellen, sondern direkte Unterstützung gegen die Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Das ist mitverantwortlich für die Debatten um russische Pipelineneubauten (zum Beispiel der Nordstream 2), zu denen die amerikanischen Unternehmen auch auf Schiffen transportiertes Flüssiggas (Liquified Natural Gas, LNG) als Alternative anbieten. Folgerichtig stand im „Friedensvertrag“ am Ende der Strafzölle gegen die EU auch eine Selbstverpflichtung, die LNG-Einfuhr bis 2023 zu verdoppeln. Für den Ausbau der Terminals sind 650 Millionen Euro an Subventionen geplant.iv

Das hat die Interessen des US-Kapitalexports deutlich verschoben. Statt im Freihandel eigene Vorteile auszuspielen (die es so auch nicht mehr gibt), rufen wichtige Kapitalfraktionen nach einer direkten Subvention ihrer Wettbewerbsfähigkeit durch militärische und diplomatische Aggressionen. Dafür steht der Schwenk unter Trump, vor allem der Rückzug und die Neuverhandlung von Abkommen wie NAFTA, TTIP und TPP nach kurzen, aber heftigen Handelskriegen und das direkte Embargo gegen chinesische Hochtechnologie und russische Öl- und Gasprodukte.

Auch die Verschiebung in der Militärpolitik spiegelt diese neuen Interessen wider (auch wenn Trump sie bisher nicht gegen die entscheidenden Fraktionen im militärisch-industriellen Komplex der USA durchsetzen konnte). Der versprochene Rückzug aus Irak und Afghanistan sowie die kurzzeitig angestrebte Entspannung mit Iran und Russland sind möglich, weil das US-Kapital als Ganzes weniger von niedrigen Ölpreisen abhängig ist, teilweise sogar von hohen Kursen profitiert.

Die Außenpolitik der Trump-Regierung steht für den Anfang einer möglichen Verschiebung der US-Kapitalinteressen auf dem Weltmarkt. Sie ist nicht abgeschlossen und steht im Kampf mit anderen Kapitalfraktionen (vor allem in der Finanzindustrie), die den deregulierten Handel und Kapitalexport höher schätzen.

Gleichzeitig versucht sie aber den Spagat zwischen höherer Überausbeutung der Halbkolonien durch US-Kapitale und kostspieliger geostrategischer Absicherung gegen den imperialistischen Konkurrenten China. Dieser Widerspruch ist nicht einfach auflösbar und wird durch die Wirtschaftskrise seit 2019 weiter zugespitzt. Bei gleichzeitigem Aufstieg Chinas wird er auf eine weltweite Eskalation hinauslaufen.

3 Der Aufstieg der USA von der Kolonie zur Militärmacht

Die USA begannen ihren aufhaltbaren Aufstieg zur Weltmacht als Ansammlung englischer, französischer und spanischer Kolonien. Die spätere herrschende Klasse ebenso wie die amerikanischen ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen gingen aus den KolonisatorInnen des nordamerikanischen Kontinents hervor. Die Besiedelung erfolgte nach bekanntem kolonialem Muster – Befestigung strategischer Landepunkte, schrittweise Eroberung oder Aneignung von Siedlungsgebieten auf Kosten der lokalen Bevölkerung und schließlich Zerstörung der bestehenden politischen Strukturen bis hin zur genozidalen Vernichtung aller indigenen Ethnien, die den Widerstand wagten.

Siedlerkolonialismus und Widerspruch zur kapitalistischen Produktionsweise

Die besondere Form des Siedlerkolonialismus bedeutete gewisse Herausforderungen für die Durchsetzung des globalen Kapitalismus. Nachdem die britische Vorherrschaft über die amerikanischen Kolonien mehr oder weniger feststand, wurde das zunehmend zum Problem. In Britannien war der Prozess (oder die erste Runde) der „ursprünglichen Akkumulation“ weitgehend abgeschlossen und alle wesentlichen Teile des Wirtschaftskreislaufs waren der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen. Die Subsistenzwirtschaft der Kleinbauern/-bäuerInnen war mit dem „enclosure movement“ zerstört und die ehemaligen SelbstversogerInnen waren entweder zu LandarbeiterInnen ohne Besitz an Grund und Boden als Produktionsmitteln degradiert oder als Proletariat in die Städte gezwungen worden.

In den amerikanischen Kolonien hatte diese Trennung von ProduzentInnen und Produktionsprozess, die berühmte Expropriation der ProduzentInnen, noch nicht stattgefunden. Ganz im Gegenteil drängte der Kolonisationsgedanke die KolonisatorInnen aus der Alten Welt zur Landnahme auf Kosten der lokalen Bevölkerung, aber damit auch zum Landbesitz und zur Selbstausbeutung als unabhängige ProduzentInnen. Marx macht im 25. Kapitel der Ersten Bandes des „Kapital“ auf den diametralen Widerspruch zwischen Mutterland und Kolonie aufmerksam:

Das kapitalistische Regiment stößt dort überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als Besitzer seiner eignen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit bereichert statt den Kapitalisten. Der Widerspruch dieser zwei diametral entgegengesetzten ökonomischen Systeme betätigt sich hier praktisch in ihrem Kampf.v

Folgerichtig beriefen sich die emigrierten KapitalistInnen auf ihre Macht und die Unterstützung „ihrer“ Regierung, um dieser Unausbeutbarkeit zu begegnen. Und das englische Parlament folgte mit Erlässen, die die Lohnarbeit vorschrieben, allerdings mit begrenztem Erfolg. Einen Kolonisator in Westaustralien, Peel, beschreibt Marx wie folgt: „Herr Peel war so vorsichtig, außerdem 3000 Personen der arbeitenden Klasse, Männer, Weiber und Kinder mitzubringen. Einmal am Bestimmungsplatz angelangt, ‚blieb Herr Peel, ohne einen Diener, sein Bett zu machen oder ihm Wasser aus dem Fluß zu schöpfen’. Unglücklicher Herr Peel, der alles vorsah, nur nicht den Export der englischen Produktionsverhältnisse nach dem Swan River!.vi

Die englischen Produktionsverhältnisse waren durch große landwirtschaftliche Betriebe und Industriekapital geprägt, an die die Masse der ehemaligen Kleinbauern/-bäuerInnen ihre Arbeitskraft verkaufte. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft war erzwungen durch die systematische Enteignung und die Gesetze gegen Arbeitslosigkeit inklusive der Arbeitslager ähnlichen „poor houses“ (Arbeitshäuser für Arme).

Die systematische Enteignung war im sich noch ausbreitenden amerikanischen Kolonialismus schwer möglich. Um die Kolonien zu vergrößern, musste das Land den indigenen „first nations“ gewaltsam abgenommen, aber auch bestellt werden. Familiäre bäuerliche und forstwirtschaftliche Betriebe an der „frontier“ waren das politökonomische Werkzeug der Wahl, was den Besitz der ProduzentInnen an ihren eigenen Produktionsmitteln ausdehnte, statt ihn einzuschränken.

Zentralisierte Produktionsverhältnisse herrschten vor allem in der Plantagenbewirtschaftung vor. Diese war vor allem für größere zusammenhängende Betriebe profitabel. Statt auf enteignete Kleinbauern/-bäuerinnen griffen die KolonistInnen, vor allem in den südlichen Kolonien, auf Sklavenarbeit und Schuldknechtschaften von AuswanderInnen zurück.

Schuldknechtschaft

In den amerikanischen Städten wurden die industriellen Produktionsverhältnisse, vor allem aber die bürgerliche Hauswirtschaft, auch gewaltsam mit Zwangsarbeitskraft bestückt. Vor allem die ärmsten EinwanderInnen tauschten für die Überfahrt eine jahrelange Arbeitsverpflichtung ein, die an die europäische Leibeigenschaft erinnert. Wie die Sklaverei hatten diese Arbeitsverhältnisse ihren Ausgang in den südlichen Kolonien, beginnend mit Virginia. Diese ArbeiterInnen leisteten ihre Schulden auch auf Plantagen ab.

Dieses Modell funktionierte vor allem im 17. Jahrhundert, als entlassene Haus- und FabrikarbeiterInnen quasi nahtlos durch die massenhaft nachkommenden EmigrantInnen ersetzt werden konnten. Ab dem 18. Jahrhundert nahm die Zahl der „indentured serfs“ (KontraktsklavInnen, -leibeigene) langsam ab. Der zentrale Unterschied zur Sklaverei bestand darin, dass kein gewaltsamer Menschenraub, sondern ökonomische Not den Ausgangspunkt bildete. Gleichzeitig waren die Leibeigenschaftsverhältnisse in der Regel zeitlich begrenzt, und die Betroffenen gingen danach als freie ArbeiterInnen, HandwerkerInnen oder SiedlerInnen in das Wirtschaftsgefüge über.vii

Sklaverei

Die großräumige Plantagenwirtschaft breitete sich ab dem 17. Jahrhundert von Virginia ausgehend vor allem in den südlichen Kolonien aus. Wie die Wollproduktion in England nahmen der zentralisierte Anbau und die industrielle Verarbeitung von Tabak, Reis, Baumwolle und Zuckerrohr die zentrale Rolle in der ursprünglichen Akkumulation von Kapital in den amerikanischen Kolonien ein. Die ursprüngliche Akkumulation ist entscheidend, weil sie nicht nur die notwendige Monopolisierung der Produktionsmittel in den Händen der KapitalistInnen, sondern das Schaffen eines auszubeutenden Proletariats bedeutet. Die ursprüngliche Akkumulation schafft die wirtschaftlichen Voraussetzungen und die politischen Institutionen von Kapital und Lohnarbeit.

Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Akkumulation auf Kapitalseite vor allem durch die Ausbeutung von SklavInnen, die aus afrikanischen Ländern und Gesellschaften verschleppt wurden, erreicht. Die terroristische Zerstörung von Familien- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika durch SklavenhändlerInnen wurde auf dem amerikanischen Festland durch den Terror von Folter, Unterversorgung und riesigen Arbeitspensen fortgesetzt. Vor allem in den ersten Jahrzehnten der Sklaverei waren SklavInnen unglaublich günstig und wurden rasend schnell zum Tod durch Arbeit gezwungen. Entsprechend wurden von Virginia Gesetze erlassen, die die Entrechtung der SklavInnen (beziehungsweise die rechtliche Verfügung der SklavenbesitzerInnen) bis zur vollkommenen Entmenschlichung der AfroamerikanerInnen ausdehnten.

Unabhängigkeitskrieg

Bis zum Unabhängigkeitskrieg dehnte sich die Sklaverei so weit aus, dass in manchen Bundesstaaten mehr schwarze als weiße Menschen lebten. Gleichzeitig nahm die Bedeutung der Schuldknechtschaft bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg ab, sowohl im Vergleich mit der Sklaverei als auch mit Lohnarbeitsverhältnissen in den nördlichen Kolonien. Mit den schweren wirtschaftlichen Krisen des späten 18. Jahrhunderts wurden langfristige Arbeitsverträge für die unter Druck stehenden amerikanischen KapitalistInnen auch mehr zur Belastung. Die massive Beschränkung der Einwanderung nach der Unabhängigkeit und die etablierten sozialen Strukturen der freien Lohnarbeit lösten die Schuldknechtschaft als ökonomischen Motor der kapitalistischen Akkumulation schließlich ab.

1776 riefen 13 ehemals britische Kolonien die amerikanische Republik aus. Der Unabhängigkeitskrieg war gleichzeitig kolonialer Aufstand und eine vollwertige bürgerlich-demokratische Revolution. Er wälzte die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die immer mehr zum Hindernis der Produktivkraftentwicklung geworden waren, grundlegend um.

Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass der Nachbau der feudalen englischen Verhältnisse noch schwieriger war als die der kapitalistischen Produktionsbeziehungen. Bis auf das Hudson-Tal im heutigen Bundesstaat New York war es der britischen Krone nie gelungen, tatsächlich feudale Beziehungen in Amerika durchzusetzen (die feudale Enklave hielt dafür bis lange nach der Unabhängigkeitserklärung, nämlich bis 1839, durchviii). Trotzdem trug zum Beispiel die Beschwirtschaftung der Wälder in den westlichen Kolonialgebieten, die der Krone und der Marine vorbehalten war, durchaus feudale Züge. Auch der Landbesitz in den amerikanischen Kolonien war zunächst nach britischem feudalen Recht organisiert gewesen. Das bedeutete, die Krone (beziehungsweise ihre VertreterInnen vor Ort) vergab/en Landrechte und kassierte/n den Lehnszins (englisch: „quit rent“). Auch die Verdrängung der kolonialen Konkurrenz aus den Niederlanden, Spanien, Frankreich und sogar Deutschland hatte die Macht der britischen Krone gefestigt.

Gleichzeitig war es die Plantagenwirtschaft, in der neue Formen der Landwirtschaft (Monokultur) mit einer „neuen“ Form der Klassenausbeutung (Sklaverei) kombiniert wurden (Moore 2020)ix. Rechtlich war auch die Plantagenwirtschaft im Feudalismus verankert, die moderne Sklaverei war aber mit dem aufkommenden Kapitalismus ebenso vereinbar. Tatsächlich spielten die PlantagenbesitzerInnen der südlichen Kolonien eine wichtige Rolle in der Unabhängigkeit von der britischen Krone – ein klassisches Beispiel für die marxistische Überzeugung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte die Grenzen der Produktionsverhältnisse sprengt.x

Dem Aufstand gegen die Monarchie gingen wichtige Rebellionen gegen lokale FeudalherrInen und SklavInnenhalterInnen voraus. Aufstände von SklavInnen und Schuldknechten/-mägden waren seit dem 17. Jahrhundert Teil der amerikanischen Geschichte und wurden nicht immer problemlos niedergeschlagenxi. Die Rebellion in Virginia 1676 („Bacon’s Rebellion“) brannte zum Beispiel die Hauptstadt der Kolonie, Jamestown, nieder.

Bei der Unterdrückung von ArbeiterInnen und SklavInnen standen KapitalistInnen und Kolonialbehörden auf derselben Seite. Aber die feudalen Landrechte standen der explosiven Produktivkraftentwicklung der amerikanischen KapitalistInnen im Weg. Steuern und Einfuhrbeschränkungen, aber auch die künstliche Verknappung der Geldmenge in den Kolonien, sollten verhindern, dass englische KapitalistInnen von ihren Landsleuten in den Kolonien ernsthafte Konkurrenz bekamen.

Gleichzeitig hatte sich im Krieg gegen indigene Nationen und die französische Kolonialkonkurrenz durch die ideologische Spaltungsrolle des Rassismus und die enorme Bedeutung, die den Kleinbauern/-bäuerinnen an der „frontier“ zukam, ein amerikanisches Nationalbewusstsein entwickelt. Dem stand die tyrannische Arroganz der britischen Krone als Feindbild gegenüber. Ein klassenübergreifendes Zweckbündnis wurde zum ersten Mal im Widerstand gegen die Stamp-Act-Steuern 1765 aktiv und begab sich vor allem im Streit um Steuern und Zölle in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der 1776 gewonnen wurde.xii

Der amerikanische Kapitalismus nach der Unabhängigkeit

Zu diesem Zeitpunkt waren die ehemaligen Kolonien keine Außenstellen des britischen Empires mehr. Plantagenwirtschaft, Bodenschätze und die enthemmte Ausbeutung der SklavInnen bildeten eine ernstzunehmende wirtschaftliche Grundlage, die Zusammenarbeit auf dieser Basis stellte eine eigenständige politische Kraft dar.

Die Schutzzollpolitik der ersten amerikanischen Regierungen schaffte es schließlich auch, eine eigene Schwerindustrie vor allem in den nördlichen Bundesstaaten aufzubauen. Die protektionistische Politik war bereits ein Streitpunkt unter der Kolonialherrschaft gewesen. Die britische Krone hatte schließlich aktiv versucht, den Aufbau einer eigenständigen amerikanischen Industrie zu verhindern. Es dauerte allerdings bis 1789, bis der amerikanische Kongress überhaupt das Recht bekam, bundesweite Zölle einzuführen, und bis nach dem Krieg gegen England 1812, bis diese hoch genug angesetzt waren, um als Schutzzölle bezeichnet zu werden.xiii Die Frage der Schutzzölle wurde auch zu einem zentralen Streitpunkt zwischen den späteren nördlichen und südlichen FeindInnen im BürgerInnenkrieg 1861 – 1865: Die Industriellen im Norden bauten sich ihre Produktion hinter den Zollmauern auf, während die landwirtschaftlichen GroßbesitzerInnen im Süden von günstig importierten Industrieprodukten weitgehend abhängig waren.

Nach dem Sieg der Nordstaaten im BürgerInnenkrieg setzten sich die Industrieproduktion und die doppelte Freiheit der ArbeiterInnen durch. Gleichzeitig wurde die systematische Entrechtung der schwarzen Bevölkerung weitgehend in anderer Form fortgesetzt. Das diente einerseits der enthemmten Ausbeutung von landlosen schwarzen Schuldknechten/-mägden als „sharecroppers“ (PächterInnen) in den großen landwirtschaftlichen Betrieben, andererseits dem Bündnis mit dem finanzstarken und enorm rassistischen Kapital in den Südstaaten.

Wendepunkt im Weltkrieg

In den ca. 50 Jahren zwischen BürgerInnenkrieg und Erstem Weltkrieg entwickelten sich die USA zu einer führenden Industrienation. Die Entwicklung zur imperialistischen Macht erfolgte jedoch bis zum Ersten Weltkrieg auf besondere Weise. Von einer dominanten Rolle des Kapitalexports, vor allem außerhalb des amerikanischen Kontinents, kann erst nach 1918 gesprochen werden.

Bis 1914 ähnelten die Kapitaleinfuhr und die Handelsbilanz der USA derjenigen eines unterentwickelten Landes, obwohl sie bereits die erste Industrienation der Welt waren. […] Wie ein unterentwickeltes Land führten sie [die USA; d. Red.] Agrar- und Montanerzeugnisse aus, und wie ein solches waren sie per saldo Schuldnerland, das heißt: das in den USA angelegte europäische, hauptsächlich britische Kapital betrug etwa 7,2 Milliarden US-Dollar, war also etwa doppelt so umfangreich wie das eigene Auslandskapital der USA, das etwa 3,5 Milliarden US-Dollar ausmachte.”xiv

Das war aber kein „Zurückbleiben“ des sich entwickelnden amerikanischen Imperialismus, sondern eher eine Besonderheit, eine Form von ungleichzeitiger und kombinierter Entwicklung, die wir auch bei anderen Großmächten vor dem Ersten Weltkrieg (z. B. dem ökonomisch rückständigen Russland) finden. Durch den fortschreitenden Landraub an den indigenen „first nations“ richtete sich die Expansion des US-Kapitals über weite Strecken nach innen. Die Staaten verfügten außerdem über eine breite Palette an natürlichen und seltenen Rohstoffen. Die Expansion auf der Suche nach Ressourcen war also nicht so drängend wie für kleinere imperialistische Staaten. Und zuletzt entwickelten sich die USA zu spät, um einen klassischen Kolonialismus anzustreben. Aus diesen Gründen stieß das US-Kapital in dieser Periode noch nicht an die nationalen Grenzen der Akkumulation.

In anderer Hinsicht beteiligte sich das Land aber sehr wohl an der imperialistischen Konkurrenz. Der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898 und die folgende Besatzung von Kuba, Puerto Rico, Guam und den Philippinen bedeuteten die Durchsetzung der eigenen Vormachtsansprüche auf beiden amerikanischen Halbkontinenten. Auch der gewonnene Krieg gegen Mexiko 1846 – 1848 war getrieben vom Anspruch, den potentiellen Konkurrenten klein zu halten. Mexiko war den USA als unabhängig gewordene Kolonie, geprägt von Plantagenwirtschaft, Genozid an der indigenen Bevölkerung und rascher kapitalistischer Entwicklung, recht ähnlich und durchaus ein natürlicher Konkurrent um die regionale Vorherrschaft – wobei der Begriff der Region auf die 12 Millionen Quadratkilometer Mexikos und der USA schwer anwendbar ist. Zu verhindern, dass sich andere ImperialistInnen in der eigenen Einflusssphäre entwickeln oder festsetzen konnten, war mehr als nur eine Vorbereitung des eigenen Aufstiegs, es war die Vorwegnahme der eigenen imperialistischen Kapitalexportpolitik.

Bereits vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg war das amerikanische Kapital tief in die Kampfhandlungen auf dem Kontinent verstrickt. Milliardenkredite an die kriegführenden Länder bedeuteten widersprüchliche Loyalitäten der amerikanischen Banken. Diese waren gleichzeitig groß genug und mit dem Industriekapital verwachsen, um die Voraussetzungen für den imperialistischen Kapitalexport darzustellen. Mit Kriegseintritt übernahm die Bundesregierung die Ausfallrisiken für die umfassenden Kriegskredite und gab selbst Kriegsanleihen an ihre europäischen Verbündeten von ungefähr 9 Milliarden US-Dollar aus. Die deutschen Reparationen aus dem Vertrag von Versailles gingen großteils direkt an die amerikanischen GläubigerInnen, ab 1924 auch sogar ohne den Umweg über französische oder britische Konten.xv

Durch diese Kredite wurden die USA während des Ersten Weltkriegs schlagartig zum weltweit führenden Kapitalexporteur. Gleichzeitig brachen sie mit dem System der britischen Vorherrschaft, das immer eine passive Waren- bei aktiver Kapitalbilanz aufrechterhalten hatte (also mehr Waren importierte als ins Ausland verkaufte). Die Schutzzollpolitik und die weitgehende Selbstversorgung mit Rohstoffen aus den sehr großen eigenen Gebieten ließen die USA zur ersten weltwirtschaftlichen Vorreiterin mit doppelt aktiver Außenbilanz werden.

Der Kapitalexport über Kredite und Auslandsinvestitionen führte über die Erträge zu einem stetigen Zahlungsfluss in die USA. Dasselbe galt für die Waren, die ins Ausland verkauft und aus dem Ausland bezahlt wurden. Strukturell waren die Importe durch geringen Arbeitseinsatz (und daher Arbeitswert), die großteils industriellen Exporte durch hohen Arbeitswert geprägt. „Kurz: als weltwirtschaftliches Führungsland sprengen die USA die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung.xvi

Hier zeigt sich auch, dass in der politisch-ökonomischen Analyse Imperialismus- und Krisentheorie nicht voneinander trennbar sind. Die hohe Abhängigkeit der amerikanischen Profite von inländischer Arbeit und die geringen Einsparpotentiale auf Kosten von Lohnsenkungen vertieften die Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren ungemein.

Geschichte: Veränderte Lage durch Depression und Weltkrieg

Die Regierung unter Roosevelt versuchte zwischen 1933 und 1939, die strukturelle Krisenanfälligkeit und die soziale Instabilität durch Fiskalpolitik und einen garantierten Lebensstandard für die amerikanische ArbeiterInnenklasse zu lösen. Die durch die imperialistischen Extraprofite finanzierte höhere Absicherung der ArbeiterInnenaristokratie im Speziellen und der Klasse im Allgemeinen ist eine wichtige Voraussetzung für Stabilität in den imperialistischen Zentren. Dabei stützten sich die Vorschläge des „New Deal“ auf eine Koalition aus Teilen des Finanz- und Industriekapitals und versprachen die Befriedung der verarmten ArbeiterInnen und KleinBauern/-bäuerinnen. Die wichtigsten Elemente waren ein institutionalisiertes gewerkschaftliches Koalitionsrecht, eine Fixpreisgarantie für größere FarmerInnen, die Entflechtung der Industrie und die Trennung von Anlage- und Geschäftsbanken (Glass-Steagle-Act).

Das zweite große Versprechen des New Deals war eine frühkeynesianische Krisenstrategie, die zusammengebrochene Binnennachfrage durch Fiskalpolitik, also erhöhte und teilweise schuldenfinanzierte Staatsausgaben, wieder aufzurichten. Das scheiterte weitgehend. Erst der Zweite Weltkrieg, der über Rüstungspolitik und Preiskontrollen sowohl Beschäftigung als auch Profite stabilisierte, führte die USA aus der Krise. Aber auch die Schaffung staatlicher und genossenschaftlicher Energieträger wirkte sich stabilisierend auf Preise und Inflation aus.

4 Die veränderte Lage nach dem Zusammenbruch der europäischen Kolonialherrschaft

In Folge des Zweiten Weltkriegs standen sich zwei Modelle in der amerikanischen Außenpolitik gegenüber. Eine wirtschaftliche Vernichtung der europäischen KriegsgegnerInnen wurde, zum Beispiel durch den Morgenthau-Plan symbolisiert, vorgeschlagen, der die Binnennachfrage in Europa nachhaltig zerstört hätte. Dem gegenüber stand die großzügige Aufbauhilfe unter antikommunistischem Banner des Marshall-Plans, der schließlich zum Modell der amerikanischen Außenpolitik werden sollte.

Imperialistische Abhängigkeit der Halbkolonien

Die internationale Vorherrschaft durch Entwicklungspolitik und geopolitische Abhängigkeiten wurde für die USA umso wichtiger, als nach dem Zweiten Weltkrieg die verbliebenen europäischen Kolonialreiche zusammenbrachen. Anstelle der direkten Besatzung, die vor allem Britannien und Frankreich eine Vormachtstellung in der imperialistischen Aufteilung der Welt sicherte, trat die Dominanz durch Kapitalexport, Handelsabkommen, militärische Bedrohung und Geheimdienstapparate. Hier konnten die USA sich sowohl mit ihren besonders großen Ressourcen hervortun als auch vom weggefallenen Wettbewerbsnachteil gegenüber den ehemaligen Kolonialreichen profitieren.

Seit dem zweiten Weltkrieg ist das Imperium der Vereinigten Staaten an die Stelle der europäischen Kolonialreiche getreten. Es besteht aus völkerrechtlich unabhängigen Staaten, nicht Kolonien. Organisiert ist es durch nordamerikanische Kapitalausfuhr, und zwar durch direkte Investitionen (Bestand Ende 1972 25,2 Milliarden in den unterentwickelten Ländern, 94 Milliarden insgesamt), subsidiär durch die ,Auslandshilfe’. Die nordamerikanische Kontrolle variiert zwischen einerseits indirektem, elastischem Einfluß, dem nicht nur unterentwickelte Länder unterliegen, sondern auch die bis zum zweiten Weltkrieg selbständigen imperialistischen Mächte Europas sowie Japan, andererseits unverhüllter Waffengewalt, womit Marionettenregierungen wie die südvietnamesische, südkoreanische, guatemaltekische gegen ihre eigene Bevölkerung verteidigt werden.xvii

Das drückte sich auch in der Politik des „Cordon sanitaire“ (Sicherheitsgürtel) aus, mit dem sich die USA gegen ihre neuen Hauptfeinde Sowjetunion und China umgaben. Die USA bauten ihre geostrategische Absicherung auf der Abhängigkeit neokolonialer Staaten in Asien und Afrika auf. In einige dieser Länder gab es kaum Kapitalexport, und die „Entwicklungshilfe“ beruhte fast ausschließlich auf geostrategischen Interessen (Taiwan, Korea, Vietnam, Laos, Kambodscha, Pakistan, Türkei, Israel und Griechenland). In Afrika mischten sich militärische mit wirtschaftlichen Interessen, wo es amerikanischen KapitalistInnen gelingen sollte, Profite mit Rohstoffausbeutung zu machen, zum Beispiel in Libyen (Erdöl), im späteren Kongo (Kobalt, Kupfer, Uran) und in Ägypten. In Südafrika profitierten AnlegerInnen von der höheren Profitrate aufgrund der Apartheiddiktatur und der systematischen Überausbeutung der schwarzen ArbeiterInnenklasse.

Umkehr in die Verschuldung

Die 1960er Jahre führten zum ersten entscheidenden Bruch in der Rolle des amerikanischen Imperialismus. Während in den 1920er Jahren die Zahlungsunfähigkeit der europäischen KreditnehmerInnen, die Schwierigkeiten hatten, ausreichend Dollars für Rückzahlungen zusammenzukratzen, das Bankensystem unter Druck gesetzt hatte, begannen die USA spätestens ab 1965, sich massiv in europäischen Währungen und Yen zu verschulden. Die Schulden überstiegen die Deviseneinnahmen um ein Vielfaches und dienten nicht zuletzt dazu, den extrem teuren Vietnamkrieg zu finanzieren.

Diese Verschuldung bewerkstelligten die USA vermittels der damaligen Stellung des Dollar als Weltwährung: die ausländischen Notenbanken mit Ausnahme der Banque de France hielten ihre Notendeckung überwiegend nicht in Gold, sondern in Devisen, hauptsächlich Dollardevisen.xviii

In dieser Periode drückte sich die imperialistische Vormachtstellung nicht mehr durch die internationale Dominanz der US-Kredite, sondern durch die militärische und politische Vormachtstellung innerhalb des westlichen Blocks aus. Diese militärisch-geheimdienstliche Überlegenheit wurde ab den 1960er Jahren wiederum zur Grundlage des Aufbaus weiterer ökonomischer Abhängigkeiten, auch und vor allem in Südamerika.

Amerikanischer Kapitalexport und der Krieg in den Hinterhöfen

Neben den genannten Interventionen in Asien und Afrika konzentrierte sich die US-Außenpolitik in den 1960er Jahren auch auf Lateinamerika. Das war eine direkte Fortführung der Marionettenregierungen und direkten Eroberungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Vor allem die engen Verflechtungen der fast monopolartig agierenden United Fruit Company mit dem Militär- und Geheimdienstkomplex der USA, inklusive Putschen, Diktaturen und Mordschwadronen gegen GewerkschafterInnen sind auch weltweit skandalisiert worden.

Eine zentralisierte Strategie in Lateinamerika wurde über die Entwicklungshilfe organisiert. Zur effizienten Verteilung und Erzwingung von politischen Reformen wurde 1961 die „Allianz für den Fortschritt“ gegründet, die Hilfszahlungen an konkrete politische Projekte und vor allem Landreformen knüpfen sollte.xix Das gleichzeitige Entwicklungsversprechen, in der Abhängigkeit massives Wirtschaftswachstum in den betroffenen Staaten zu ermöglichen, blieb selbstverständlich unerfüllt.

Die Dependenztheorie erkennt richtig, dass die Entwicklung der süd- und mittelamerikanischen Wirtschaften in dieser Periode fast ausschließlich vom Investitionsverhalten des US-Kapitals und den importierten Technologien abhängt.xx Der Kapitalexport aus den imperialistischen Ländern baut und festigt so die Grundlagen der internationalen Arbeitsteilung. Diese war bereits in der kolonialen Unterentwicklung durch den Kolonialismus festgelegt, wo die Rohstoff- und Arbeitsressourcen der Kolonien das Wachstum der Zentren finanzierten und das eigene dadurch gehemmt wurde. Die Übersetzung der wirtschaftlichen Abhängigkeit in entsprechende politische Strukturen sollte zum Beispiel durch die „Allianz für den Fortschritt“ institutionalisiert werden.

Die imperialistische Rolle der USA in Süd- und Mittelamerika beginnt knapp vor dem Ersten Weltkrieg, fällt also mit ihrem Aufstieg zur imperialistischen Macht zusammen. Zwischen 1897 und 1914 verfünffachten sich die US-Investitionen von 308 Millionen US-Dollar auf 1,6 Milliarden US-Dollar.xxi

Ab den 1960er Jahren nahmen die Direktinvestitionen erneut massiv zu und stiegen bis 1980 um das Dreifache, bis 1990 sogar um das Fünffache an.xxii In den meisten Ländern sank das Verhältnis ausländischer Direktinvestitionen zum Bruttoinlandsprodukt zwischen 1914 und 1960 recht massiv, stieg jedoch bis 1990 wieder leicht an. Sowohl von den Interessen des US-Kapitals als auch von der Abhängigkeit der süd- und mittelamerikanischen Halbkolonien ausgehend, blieb der verächtlich „Hinterhof Amerikas“ genannte Halbkontinent also immer zentral für den US-Imperialismus.

Warenexporte

Wie zuvor ausgeführt, war der Aufstieg der USA zur imperialistischen Weltmacht nach dem Ersten Weltkrieg aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens war für den Durchbruch die amerikanische Kolonialgeschichte deutlich weniger relevant als die Kreditabhängigkeit anderer imperialistischer Staaten; die Bedeutung direkt-kolonialer Überausbeutung blieb für den amerikanischen Imperialismus weitgehend marginal. Zweitens waren die USA gleichzeitig Waren- und Kapital-Nettoexporteurinnen.

Mit dem Umdrehen der Kreditabhängigkeit nahm in den 1970er Jahren die Bedeutung des Warenexports wieder deutlich zu. Zwischen 1970 und 1974 stieg der Anteil der Exporte am US-Bruttoinlandsprodukt von 6 auf 10 %. Auf eine kurze Dämpfung des Exportwachstums 1981 – 1987 (wegen des gestiegenen Dollarkurses) folgte ein weiterer Anstieg bis in die 1990er Jahre.xxiii

5 Kalter Krieg und das „Ende der Geschichte“

Der Kalte Krieg war die prägende geopolitische Ordnung nach dem Sieg über den Nazifaschismus. Er war Ausdruck der Teilung der Welt in zwei Hauptblöcke, in denen die USA und die UdSSR jeweils wirtschaftlich vorherrschend waren. Der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass kapitalistische Produktionsformen vorherrschend sind und andere Produktionsverhältnisse dem untergeordnet werden. Genauso funktioniert das auch mit dem Imperialismus, der durch das kapitalistische Herrschaftsverhältnis zwischen Nationen „definiert“ ist, deren ökonomische und politische Dynamik die Grundlage einer Imperialismusanalyse sein muss. Eine „Checkliste“, mittels derer Kriterien abgehakt werden, um festzustellen, ob ein Land nun imperialistisch wäre oder nicht, gibt es nicht.

Imperialismus stellt vielmehr eine internationale, ökonomische und politische Ordnung dar. Es ist diese Totalität, nicht einzelne Eigenschaften, die einem Land und dessen Gesamtkapital eine bestimmte Stellung zuweist/zuweisen. Darüber bestimmt sich, ob ein Land imperialistisch ist oder nicht.

Der Sieg über den Faschismus erlaubte der Sowjetunion die umfassende Ausbreitung der bürokratischen Planwirtschaft und die endgültige Durchsetzung der Theorie von den geopolitischen „Einflusssphären“. Diese war gleichzeitig eine vorgeblich zeitweise Anerkennung der kapitalistischen Vorherrschaft außerhalb der sowjetischen Einflusssphäre. Auf der anderen Seite wurde durch den Sieg im Krieg ohne große wirtschaftliche Zerstörung im eigenen Land die Vorherrschaft der USA in den kapitalistischen Ländern abgesichert. Das US-amerikanische Kapital war in der Lage, durch Kriegsproduktion und Aufbau die Weltwirtschaftskrise zu überwinden.

Die antisowjetische Haltung wurde in den Nachkriegsjahren zu den Leitlinien der US-imperialistischen Politik. Militärbündnisse, Wirtschaftsverträge und „Entwicklungshilfe“ waren neben dem profitablen Kapitalexport auf die geostrategische Absicherung ausgerichtet. Die gemeinsame „Bedrohung“ erlaubte auch eine relative Einheit der konkurrierenden nationalen Kapitale unter amerikanischer Führung, zumindest in den imperialistischen Ländern.

Ein wichtiges strategisches Element des kalten Kriegs bildete der Rüstungswettlauf. Nachdem die sowjetischen Einflusszonen zu groß waren, um sie mit Embargos oder Boykotts erfolgreich in die Knie zu zwingen, stellten das Wettrüsten und kostspielige Kriege (Afghanistan, Kambodscha, Angola, Mosambik, Äthiopien und Nicaragua) einen Versuch dar, die bereits stagnierende bürokratische Planwirtschaft in die Krise zu treiben. Gleichzeitig war die Aufrüstung aber auch in den imperialistischen Ländern kostspielig, was diese durch Überausbeutung der Halbkolonien nicht immer ausgleichen konnten. Außerdem beförderte sie den Aufbau der Friedensbewegung und damit politischer Opposition in den imperialistischen Zentren – ein riskanter Widerspruch für ein System, das die Kontrolle über die Peripherie mit Privilegien für die heimischen ArbeiterInnen absichert. Die Unterdrückung des US-Proletariats in diesen Jahrzehnten war vor allem durch die rassistische Spaltung und weitgehende demokratische Entrechtung, aber auch das Fehlen einer ArbeiterInnenpartei und weitgehende Bindung der Gewerkschaften an die bürgerliche Ddemokratische Partei, abgesichert.

In der voranschreitenden Krise der sowjetischen Wirtschaft und damit der Herrschaft der Parteibürokratie waren vor allem die niedrige Arbeitsproduktivität und die Überproduktion nicht nachgefragter oder qualitativ minderwertiger Waren (in anderen Worten ein Versagen in der Gebrauchswertproduktion) bestimmend. Als Antwort fand die Fraktion unter Gorbatschow die Wiedereinführung kapitalistischer Marktmechanismen in der Perestroika-Politik (russisch: „Umstrukturierung“), während der zunehmenden Opposition aus der ArbeiterInnenklasse (zum Beispiel in Polen) mit einer Lockerung der politischen Repression im Rahmen der Glasnost (russisch: „Öffnung“) geantwortet wurde.

Dadurch kam es zum rapiden Aufstieg von neuen KapitalistInnen, die sich im Außenhandel eng an InvestorInnen aus den imperialistischen Ländern banden. Die planwirtschaftliche Bürokratie in ihrer Stagnation war nicht in der Lage, dieser explosiven Kraft zu widerstehen, und binnen weniger Jahre wurde die kapitalistische Wiederaneignung in der gesamten sowjetischen „Einflusssphäre“ zum großen Nachteil der ArbeiterInnen durchgesetzt.

Zu Beginn des Kalten Kriegs hatten sich die USA als unbestrittene Führungsmacht in der imperialistischen Welt durchgesetzt, wozu der gemeinsame Außenfeind aller KapitalistInnen mindestens ebenso bedeutend war wie der Kriegsgewinn. Dafür hatte sich eine andere „Supermacht“ als direkte Konkurrentin zum US-Imperialismus aufgestellt. Mit deren Untergang schien die Vorherrschaft des US-Kapitals besiegelt, einbetoniert, was sich im berühmten Buchtitel von Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ als Sieg der neoliberal-militaristischen Politik ausdrückte. Nur 30 Jahre später steht diese Vorherrschaft aber wieder auf dem Spiel. Es scheint fast, als würde die Geschichte der Klassengesellschaften kein kapitalistisches Ende kennen.

6 Freihandelsabkommen und regelbasierte Weltordnung, Krieg gegen die „islamische Welt“

Der Rückzug der Trump-Regierung aus zahlreichen multilateralen (also zwischen mehr als zwei Ländern abgeschlossenen) Verträgen von Pariser Klimaabkommen bis NAFTA wurde als potentielles Ende der „regelbasierten Weltordnung“ diskutiert. Diese wird auch als Gegenentwurf zum Chaos der imperialistischen Konkurrenz zwischen Handelskrieg und StellvertreterInnenkonflikten verhandelt. So schreibt zum Beispiel das deutsche Außenministerium in seiner Bewerbung um einen Platz im UN-Sicherheitsrat: „Als global vernetztes Land setzen wir uns für eine regelbasierte Weltordnung ein, die von der Stärke des Rechts und nicht durch das Recht des Stärkeren geprägt ist.xxiv

Die Ideologie von der regelbasierten, multinationalen und kapitalistischen Weltordnung findet ihren ersten Ausdruck in internationalen Organisationen wie dem Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen (UNO). Die liberal-demokratische Kritik an deren politischer Zahnlosigkeit wird vor allem deutlich, als im Gegensatz dazu weltweite Wirtschaftsabkommen ihre Durchsetzungsfähigkeit beweisen. Das Währungsabkommen von Bretton Woods und der Aufbau der Weltbank und des IWF nach dem Zweiten Weltkrieg sind erste Beispiele für diese vertragliche Institutionalisierung.

Für die US-Vorherrschaft besonders bedeutend sind aber die Verhandlungsrunden um das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT 1947 (die 1995 in der Welthandelsorganisation WTO aufging) und die Gründung der G7 (Gruppe der sieben „wichtigsten“ kapitalistischen Nationen) nach der Ölpreiskrise 1973. Die Zahl der Freihandels- und Präferenzabkommen liegt mittlerweile in den Hunderten.xxv

Vorgeblich dienen diese Abkommen dem Zweck, gleichberechtigte oder sogar für unterentwickelte Länder vorteilhafte Bedingungen im Kapital- und Warenexport zu schaffen. Das baut auch auf den neoricardianischen oder neoklassischen Ideologien auf, dass ungehinderter (also zoll- und quotierungsfreier) Handel immer und für alle Beteiligten vorteilhafter ist.

Tatsächlich zeigt aber genau der wirtschaftliche Aufstieg der USA, wie „freier“ Handel die globalen Ungleichheiten und Abhängigkeiten noch verstärkt. Im kapitalistischen Wettbewerb setzen sich in der Regel die stärkeren Kapitale durch, und wo es Ungleichheiten im Warenfluss gibt werden diese nicht durch Gegengeschäfte, sondern durch Schuldenfallen ausgeglichen. Die Illusion von einer globalen Arbeitsteilung zum gegenseitigen Vorteil präsentiert sich in der Realität als Dystopie der imperialistischen Überausbeutung, organisiert von exportiertem Kapital.

7 Bruchpunkte: Wo machen die Trump-Maßnahmen einen Unterschied?

Rückzug aus multilateralen Abkommen

Die öffentlichkeitswirksamste Veränderung der US-Außenpolitik unter Trump war der Rückzug aus mehreren internationalen Abkommen, die zur Handschrift der Obama-Regierung gehört hatten. Neben dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zog sich Trump aus der „Transpazifischen Partnerschaft“ TPP der transatlantischen Handels- und Investmentpartnerschaft TTIP und dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA zurück.

NAFTA war ein Modellbeispiel für den ausbeuterischen Charakter von Freihandelsabkommen, ein Symbol, gegen das linke AntiimperialistInnen und GlobalisierungskritikerInnen seit Jahrzehnten Sturm liefen. Während sich Ängste der Gewerkschaften nach einem Lohnverfall bei amerikanischen ArbeiterInnen durch vereinfachte Abwanderung nicht belegbar bewahrheitetenxxvi, zementierte NAFTA mit seinen Verkaufsquoten und Zollverboten die Abhängigkeit Mexikos von den USA. Die berüchtigten „InvestorInnenschutz“paragraphen, die es Unternehmen erlaubten, Staaten für unliebsame und profitgefährdende Gesetze zu verklagen, sowie Eingriffsrechte der USA in den Außenhandel Mexikos (zum Beispiel mit Kuba, Bolivien oder Venezuela) unterstrichen den offenen Herrschaftscharakter von scheinbar gleichberechtigten Freihandelsabkommen. Selbst konservative (neoklassische) ÖkonomInnen schätzen, dass die direkten wirtschaftlichen Vorteile, die NAFTA den US-KapitalistInnen brachte, nicht auf „ungehinderten“ Handel zurückzuführen sind, sondern auf Kosten der halbkolonialen VertragspartnerInnen gingen.xxvii NAFTA wurde 2018 von Trump aufgekündigt und durch das USMCA-Abkommen ersetzt, das außer einer schrittweisen Verbesserung der US-Position (Zugang zum kanadischen Markt für Landwirtschaftsprodukte, vorteilhafter Protektionismus in der Autoproduktion) keinen Bruch mit NAFTA darstellt. (USMCA = United States-Mexico-Canada-Agreement)

Auch TTIP war in Europa Gegenstand linker und linksliberaler Kritik, ebenfalls wegen des InvestorInnenschutzes und der Angleichung (also in Europa überwiegend der Verschlechterung) von Umweltschutz- und KonsumentInnenschutzregeln. Auch der offene Versuch, einen westlichen Wirtschaftsblock mit militärischer Hintergrundmusik gegen imperialistische Rivalinnen in China und Russland aufzubauen, drückte zwar nur die zunehmenden imperialistischen Zuspitzungen aus, weckte aber durchaus Widerstand. Die Verhandlungen um TTIP wurden 2016 von Trump abgebrochen. Nach dem vorläufigen Abschluss des Handelskriegs gegen die EU wurden 2019 Verhandlungen um ein neues Abkommen wieder aufgenommen.

Die transpazifische Partnerschaft TPP wurde als Bündnis von Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam unter Führung der USA 2016 unterschrieben. Es war das Kernstück von Obamas Asienstrategie zur Eindämmung des chinesischen Einflusses und wäre mit einer Abdeckung von 40 % der globalen Wirtschaft das größte Freihandelsabkommen der Welt gewesen. Die gegenseitige Bevorteilung in Handel, Zoll und vor allem Wertschöpfungsketten wäre nicht bloß auf den amerikanischen Kapitalexport, sondern auch auf die geopolitische Eindämmung Chinas ausgelegt gewesen. Die Trump-Regierung zog sich nur wenige Monate nach der Regierungsübernahme aus TPP zurück, das damit eigentlich hinfällig ist.

Ihr Rückzug ist generell nicht als Absage an den Freihandel und erst recht nicht als ideologische Ablehnung von Globalisierung oder weltweiten Produktions- und Ausbeutungsketten zu verstehen. Die von Trump als Feindbild bemühten „GlobalistInnen“ sind Elemente einer antisemitische Verschwörungstheorie und haben mit Globalisierung nichts zu tun. Vor allem die rasche Neuverhandlung nach dem Säbelrasseln von Handelskrieg und Embargodrohungen (die vor allem 2017 und 2018 das Verhältnis von USA, China und EU prägten) zeigt, dass kein Ende des „freien“ Handels ansteht. Vielmehr geht es darum, die implizite ökonomische Wahrheit, dass freierer Wettbewerb zugunsten der stärkeren Kapitale geht, noch einmal mit der militärischen, diplomatischen und geheimdienstlichen Stärke des US-„Gesamtkapitalisten“ zu unterstreichen.

Das amerikanische Kapital zeichnete sich zu Beginn seines ökonomischen Aufstiegs durch Wettbewerbsvorteile sowohl in der Industrieproduktivität als auch der Finanzinstitutionen aus. Nach der umfassenden Kapitalzerstörung in Europa und Ostasien durch den Zweiten Weltkrieg waren freierer Handel und Investititionsfluss die Schlüsselstrategie zur weltweiten amerikanischen Machtausübung.

Der Vorteil in der Produktivität ist dank partiellem Technologieexport, niedrigeren auwärtigen Lohnkosten und der teilweise maroden US-Infrastruktur ein abnehmender für den US-Imperialismus. Die zunehmende Bedeutung von „handelsbezogenen geistigen Eigentumsrechten“ (TRIPS), die konservativen ÖkonomInnen ein theoretischer Graus sindxxviii waren ein Versuch, diesen Prozess zu verlangsamen. Gleichzeitig konnten Ende des 20. Jahrhunderts solche Positionsverluste durch die unangefochtene MarktführerInnenschaft in den Bereichen Hochtechnologie und Finanzwirtschaft ausgeglichen werden. Folgerichtig waren es diese Kapitalfraktionen, die den Freihandelskurs und besonders die steigende Bedeutung der Klauseln zum geistigen Eigentum und seine VertreterInnen stützten.

Auch der systematische Aufbau einer US-amerikanischen Energieunabhängigkeit war ein zentrales Ziel der Regierungen Bush und Obama, die spätestens 2019 die USA zu Nettoölexporteurinnen machten. Diese Unabhängigkeit wird mit vergleichsweise hohen Ölpreisen (zu denen sich nur die sehr schmutzige und teure Schieferöl- und Teersandausbeutung lohnt) erkauft, die andere Seite der Medaille der Kriege um Öl, die die US-Außenpolitik seit den 1990er Jahren prägt.

Die US-Vorherrschaft im Bereich der Hochtechnologie ist nicht mehr unangefochten. Vor allem im ostasiatischen Raum werden heute ähnlich leistungsfähige Halbleiterprodukte hergestellt und die entsprechende Software entwickelt wie um das Silicon Valley. Die Bedeutung der US-Finanzwirtschaft ist deutlich weniger bedroht, auch wenn die Abwicklung von Teilen des Welthandels mit chinesischen Renmibi und teilweise sogar Euros die Bedeutung anderer Börsen steigert. In der Folge der Finanzkrise 2008 sank jedoch die Bedeutung der Finanzindustrie im Vergleich zu anderen Kapitalfraktionen, die vom „regelbasierten“ Freihandel weniger hielten.

Der Kurs der Trump-Regierung widerspiegelt in erster Linie das Bedürfnis, diese stärksten Kapitalfraktionen im internationalen Wettbewerb zu stärken. Die gezielten Angriffe auf chinesische Technologieunternehmen (Huawei, TikTok) sprechen hier ebenso dafür wie die offene Forderung, mehr amerikanische Landwirtschafts- und Industrieprodukte zu kaufen.

Kriegspolitik

Die Präsidentschaften von Bush und Obama waren außenpolitisch vor allem von den Überfällen auf Afghanistan und Irak geprägt. Wie schon die ersten Golfkriege waren diese ökonomisch von einem Bedarf nach günstigem und preisstabilem Erdöl getrieben. Unter dem ideologischen Deckmantel des Kriegs gegen den Terror (und als institutionalisierter Hintergrund des modernen antimuslimischen Rassismus) stationierten die US-Truppen Hunderttausende SoldatInnen in und rund um die ölfördernden Länder Westasiens und im kleineren Ausmaß auch Afrikas.

In den letzten Jahren der Obama-Regierung wurde der direkte Konflikt mit Russland als potentiellem imperialistischen Konkurrenten wichtiger Treiber der Kriegspolitik. Die Unterstützung der rechtsextrem-neoliberalen Koalition in der Ukraine durch US-Truppen sowie die Interventionen in Libyen und Syrien hatten mehr mit diesem geopolitischen Konflikt als der Sicherung von Öl- und Gasversorgung zu tun. Tatsächlich bewegten sich die USA schon seit 2014 auf einen Energie-Nettoexport (bei ausreichend hohen Weltmarktpreisen, die die Förderungsmethoden profitabel machten) zu.

Das führte zu einer Verschiebung der Interventionen, weg vom Ziel, einen niedrigen Weltmarktpreis für Öl und Gas sicherzustellen. Es schuf aber neue Konflikte, die die Abnahme von amerikanischen Energieprodukten sicherstellen sollten. So muss man auch die zeitweise US-Forderung verstehen, keine neue Pipeline für russisches Gas zu bauen (Nordstream-2-Konflikt). Dasselbe gilt dafür, dass die EU sich im Auslaufen des Handelskrieges verpflichtet, ihre Einfuhr an amerikanischem LNG-Flüssiggas zu verdoppeln.

In diesem Lichte müssen auch der von Trump versprochene Truppenabzug aus Irak und Afghanistan sowie die kurzfristig angekündigte Entspannung mit Iran und Nordkorea gesehen werden. Hinter seinem Versprechen steht die Kosten-Nutzen-Rechnung der Kapitalfraktionen, die den Präsidenten offen gefördert haben. Vor allem für die Energieindustrie ist der Nutzen gering, der den enormen finanziellen und moralischen Kosten des Dauerkrieges gegenübersteht. Auch die versuchte Entspannung mit Russland hatte sich deutlich von Obamas Politik abgehoben, der in der Ukraine und in Syrien eigentlich StellvertreterInnenkriege eskaliert hatte.

In diesen Fällen überwiegt aber die Kontinuität und die Durchsetzungsfähigkeit des für die Außenpolitik relevanten industriell-militärischen Komplexes, also die Rüstungsindustrie und Teile von Armee und BeamtInnenapparat. Tatsächlich konnte sich Trump hier aber auch nicht gegen die „Falken“, die dortigen kriegsbegeisterten IrangegnerInnen durchsetzen. Folgerichtig deshalb wurde der Abzug nicht organisiert, und die USA intervenieren auch rund um die Ölvorkommen in Nordsyrien, zwischen Rojava und Südkurdistan (Nordirak). Es ist dennoch wichtig zu verstehen, dass es politökonomische Hintergründe für diese Wahlversprechen gibt.

In anderen Bereichen ist diese außenpolitische Verschiebung aber durchgesetzt worden. Die Bündnispolitik im arabischen Raum zielt auf Einzelabkommen, ideologische und militärische Zugeständnisse (Botschaftsverlegung in Israel, möglicher Verkauf von F-35-Kampfflugzeugen an Saudi-Arabien) ab. Unter Obama orientierte die Strategie noch klarer darauf, die lokalen Mächte gegeneinander auszubalancieren, und war auch weniger auf direkte Loyalität zu den USA zugeschnitten. Der offene Unilateralismus, also das US-Diktat der Bedingungen, hat aber auch nicht nur zum Ziel, Einzelstaaten unter Druck zu setzen, sondern auch die Beziehungen zu anderen Verbündeten der USA zu verändern.

Auch an den reaktionären Entwicklungen in Lateinamerika waren die USA führend beteiligt. Das bedeuten zum Beispiel das Zurückdrängen von progressiven und linken Regierungen in Brasilien, Chile, Bolivien, der Abbruch der Entspannung mit Kuba und die Putschversuche in Venezuela. Diese Entwicklungen haben aber unter den Regierungen Bush und Obama begonnen und wurden unter Trump recht konsequent weiter vorangetrieben. Dahinter steht aber nicht nur die chauvinistische „Hinterhof“ideologie der 1970er Jahre, sondern der Versuch, chinesischen Einfluss in der Region zu beschränken. Das bezieht sich zum Beispiel darauf, dass sich Brasiliens Bergbau (vor allem die Kupferproduktion) als Zulieferer für Chinas Industrie zum weltwirtschaftlichen Motor in der Krise ab 2008 entwickelte, oder auch auf den chinesisch-nicaraguanischen Vertrag zum Bau eines Atlantik-Pazifik-Kanals (als direkte Konkurrenz zum amerikanisch kontrollierten Panama-Kanal).

Zusammengefasst scheint die Trump-Regierung in der Durchsetzung ihres außenpolitischen Programms schwach, hat aber in entscheidenden Punkten eine andere Stoßrichtung als die vorhergegangenen Regierungen. Die außenpolitischen Interessen des US-Kapitals verschieben sich, hin- und hergerissen zwischen einem zunehmenden Bedürfnis nach militärischer Schützenhilfe auf dem Weltmarkt und geostrategischer Bündnispolitik gegen den aufstrebenden Konkurrenten China. Dieser Widerspruch ist nicht ohne weiteres auflösbar und wird zuerst in den USA eskalieren, um sich dann weltweit in offenen militärischen Konflikten zu entladen.

8 Ausblick: Die Rolle des Staates als ideeller Gesamtkapitalist, sich zuspitzende Widersprüche nach der Krise und die Konfrontation mit China

Der US-Imperialismus steht vor einer grundlegenden Neuordnung. Weil die USA die weltweit führende imperialistische Macht sind, gilt dasselbe für die globale Ordnung, und umgekehrt sind die Veränderungen in den USA auch Produkt der globalen Machtverschiebungen. Für die Analyse der US-Rolle sind drei Punkte entscheidend (1) die Machtverschiebung zwischen den Kapitalfraktionen im Inland, (2) der Aufstieg von China und Russland sowie die Formierung der EU zu imperialistischen Blöcken und (3) die widersprüchlichen Interessen, die sich in der amerikanischen Außenpolitik niederschlagen.

Der grundlegende Widerspruch zieht sich zwischen den Gründen für den und den Auswirkungen des Aufstieg/s von China zur imperialistischen Macht und direkten Konkurrenten der USA. Die direkten Gründe sind, dass US-amerikanische Kapitale schon im 20. Jahrhunderts den Kostenvorteil in der Industrieproduktion an andere aufstrebende Staaten abgeben mussten. Das ist eine direkte Folge der Tatsache, dass Wert nur aus menschlicher Arbeit entsteht und der zeitweise Kostenvorteil durch Produktivitätssteigerungen langfristig zu einer niedrigeren Profitrate tendiert.

Diese Entwicklung führte in den USA zu starkem Druck auf Lohnsenkungen. Ein Erhalt des Lebensstandards vieler ArbeiterInnen wurde durch den Import günstiger chinesischer Konsumprodukte ermöglicht. Das löste wiederum für China das Nachfrageproblem, wo KapitalistInnen ihre ArbeiterInnen sehr schlecht bezahlen konnten, ohne sich gesamtkapitalistisch Sorge um die Konsumnachfrage machen zu müssen. Diese Rolle übernahmen die amerikanischen ArbeiterInnen.

Durch die Dominanz der Finanzindustrie und des Hochtechnologiesektors der USA bedeutete der zunehmende Verlust der globalen „Wettbewerbsfähigkeit“ noch nicht, dass deren Stellung als imperialistische Führungsmacht gefährdet war. Der Aufbau von globalen Produktionsketten, die von amerikanischen Kapitalen dominiert wurden, erlaubte gleichzeitig den Kapitalexport über die Finanzindustrie und das Abschöpfen der Profite am Ende der „Wertschöpfungskette“ durch amerikanische IndustriekapitalistInnen. Der Aufbau von profitableren Hochtechnologiefirmen in Japan, Korea und China, der relative Bedeutungsverlust der US-Finanzindustrie im Laufe der Krise ab 2008 und der erfolgreiche Aufbau von Produktionsketten ohne amerikanische Beteiligung setzt aber dieser Periode ein Ende.

Das bedeutet eine Verschiebung der Interessen innerhalb des US-Kapitals. Weniger KapitalistInnen können erwarten, auf dem Weltmarkt der Freihandelsabkommen zukünftig bestehen zu können, und die das bewältigen, sind im inneramerikanischen Vergleich schwächer geworden. Dafür fordern mehr Kapitalfraktionen die direkte Unterstützung ihrer Wettbewerbsteilnahme auf dem Weltmarkt durch die militärische, diplomatische und geheimdienstliche Überlegenheit ein. Typische Beispiele sind vertragliche Abnahmequoten zum Beispiel für Agraprodukte oder Flüssiggas, Sanktionen gegen KonkurrentInnen, und Schutzzölle gegen ausländische Konsumgüter.

Gleichzeitig erfordert die Eindämmung Chinas aber breite geopolitische Bündnisse mit kleineren imperialistischen Staaten ebenso wie mit Halbkolonien. Denen muss dafür aber ein ökonomisch besseres Angebot gemacht werden als die klassischen chinesischen Infrastrukturinvestitionen im Billionenbereich. Neben direkten Kapitalanlagen zählt dazu auch das Angebot, gemeinsame Märkte zu konsolidieren, die im TPP-Abkommen eine wichtige Rolle gespielt hätten. Beides ist aber teuer und läuft den Einzelinteressen bedeutender US-KapitalistInnen ziemlich direkt zuwider.

Diesen Widerspruch zu lösen, wäre die Aufgabe des Staates als imperialistischem Gesamtkapitalisten. Das geht sich nur aus, wenn die eigene Führungsrolle weiter abgesichert wird, eine weitgehend unrealistische Aussicht. Wir stehen am Ende der Periode der klaren US-Dominanz über die globale imperialistische Ordnung, die mittelfristig durch eine multipolare Herrschaft abgelöst werden wird.

Das spitzt aber auch die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten zu. Die vergangenen zwei Krisen ab 2008 und ab 2019 haben schon gezeigt, dass die Kapitalakkumulation in den imperialistischen Zentren an ihre Grenzen stößt. Es ist kein Zufall, dass diese Grenzen in den USA und der EU schneller erreicht sind als zum Beispiel in China oder Russland. Aber auch diese Länder haben definitiv krisenhafte Entwicklungen durchgemacht.

Die einzige Perspektive der kapitalistischen Krisenlösung ist für die imperialistischen Blöcke die Ausweitung der eigenen Absatz-, Rohstoff- und Arbeitsmärkte. Der Imperialismus ergibt sich aus den Krisentendenzen des Kapitalismus und ein Verständnis der imperialistischen Dynamiken macht eine tiefgehende Kenntnis der Krisendynamiken notwendig.

Weil die Halbkolonien und Einflusssphären weitgehend aufgeteilt sind, läuft das auf einen Konflikt um die Neuaufteilung der Welt hinaus. In kleinerem Ausmaß sehen wir das bereits am internationalen Auftreten Chinas, das geschickt die Spielräume aus der Freihandelslogik und in von den USA aufgegebenen Gebiete nutzt, um sich eine bessere Ausgangsbasis zu verschaffen. Ein anderes Beispiel ist der Zusammenprall russischer und amerikanischer Interessen in Bezug auf die EU. Dieser Widerspruch ist in der Ukraine eskaliert. Die daraus entstehende Kriegsgefahr ist nicht unmittelbar, aber unausweichlich.

Endnoten

i Küntzel, Ulrich: Der nordamerikanische Imperialismus. Zur Geschichte der US-Kapitalausfuhr. Sammlung Luchterhand 161. Neuwied und Darmstadt: 1974, S. 24

ii Engels, Friedrich: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke (MEW) Band 19, (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost, 4. Auflage 1987, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, S. 222

iii Wood, Ellen Meiksins. The Origin of Capitalism: A Longer View. New ed. London: Verso, 2002. Deutsche Ausgabe: Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche. Ausgewählte Werke Band I, LAIKA Verlag, LAIKAtheorie Band 55, Hamburg 2015

iv https://www.dw.com/de/eu-strebt-massive-steigerung-der-fl%C3%BCssiggas-importe-aus-usa-an/a-48572023

v Marx, Karl: „Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie“, in: MEW Band 23 (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost, 4. Auflage 1987, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, S. 792

vi Ebenda, S. 794

vii Galenson, David W.: „The Rise and Fall of Indentured Servitude in the Americas: An Economic Analysis,“ 2020, S. 27

viii https://jacobinmag.com/2017/10/anti-rent-war-movement-feudalism-new-york

ix Moore, Jason W.: „Nature and the Transition from Feudalism to Capitalism,“ 2020, S. 77

x Marx, Karl/Engels, Friedrich: „Das Manifest der Kommunistischen Partei“, in: MEW Band 4, (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost 1959, S. 467

xi Kilson, Marion D. de B.: „Towards Freedom: An Analysis of Slave Revolts in the United States“, Phylon (1960-) Vol. 25, no. 2 (2nd Otr.. 1964), S. 175 – 187, https://doi.org/10.2307/273653

xii Aptheker, Herbert: „The American Revolution, 1763-1783: A History of the American People: An Interpretation“ Vol. 2, International Publishers Co, New York 1960

xiii Chang, 2007, 79f., in: Aptheker, Herbert, a. a. O.

xiv Küntzel, Ulrich: Der nordamerikanische Imperialismus …, a. a. O., S. 53

xv Ebenda, S. 83

xvi Ebenda, S. 90

xvii Ebenda, S. 148

xviii Ebenda, S. 132

xix Bodenheimer, Susanne: „Dependency and Imperialism: The Roots of Latin American Underdevelopment.“ Politics & Society 1, no. 3 (1971), https://doi.org/10.1177/003232927100100303

xx Dos Santos, 1968, 2. 28

xxi Taylor, Alan M.: „Foreign Capital in Latin America in the Nineteenth and Twentieth Centuries“, Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, March 2003, S. 13, https://doi.org/10.3386/w9580

xxii Ebenda, S. 29

xxiii Schmidt, Timothy J.: „The Rise of U.S. Exports to East Asia and Latin America“, 1994, S. 68, <https://duckduckgo.com/?q=Schmidt%2C+Timothy+J.%3A+%E2%80%9EThe+Rise+of+U.S.+Exports+to+East+Asia+and+Latin+America%E2%80%9C%2C+1994&t=ffab&atb=v1-1&ia=web>

xxiv https://verfassungsblog.de/voelkerrecht-klar-benennen-deutschland-im-sicherheitsrat-und-der-einsatz-fuer-die-regelbasierte-internationale-ordnung/

xxv Bhagwati, Jagdish N.: „Termites in the Trading System: How Preferential Agreements Undermine Free Trade“, Oxford University Press, Oxford/New York 2008, S. 12

xxvi Caliendo, Lorenzo/Parro, Fernando: „Estimates of the Trade and Welfare Effects of NAFTA“, The Review of Economic Studies 82, no. 1 (January 1, 2015), S. 1 – 44, https://doi.org/10.1093/restud/rdu035.

xxvii Rodrik, Dani: „What Do Trade Agreements Really Do?“, Journal of Economic Perspectives 23, no. 2 (May 1, 2018, S. 73 – 90), S. 74, https://doi.org/10.1257/jep.32.2.73, https://j.mp/2EsEOPk

xxviii Bhagwati, Jagdish N.: „Termites in the Trading System … “, a. a. O.




Friedrich Engels zum 200. Geburtstag

Gerald Falke, Neue Internationale 251, November 2020

Anlässlich des Geburtstagsjubiläums von Friedrich Engels bietet sich die Gelegenheit, im Rückblick die Bedeutung seiner Leistungen zu resümieren. In den üblichen Einschätzungen erscheint er oft lediglich als eine Art Schattenexistenz von Karl Marx. Sofern die Unterschiedlichkeit der beiden betont wird, gilt Engels oft als der Empiriker gegenüber dem Theoretiker Marx, als passiver Poet gegenüber dem aktiven Philosophen oder gar als der Reformer gegenüber dem Revolutionär. Manche werfen Engels sogar vor, er habe die Marx’sche Theorie naturalisiert und eine Grundlage für verschiedene Probleme und Fehlentwicklungen geschaffen.

Ein Leben gegen Ausbeutung und Unterdrückung

Am 28.11.1820 wurde Engels in der preußischen Stadt Barmen als Sohn einer Unternehmerfamilie geboren. Diese galt als pietistisch fromm. In seinem Umfeld waren durch den Einfluss der bürgerlichen Revolution in Frankreich und Napoleons Eroberungen die feudalen Lebensbedingungen vorübergehend bereits den bürgerlichen Verhältnissen mit einer sich entfaltenden Industrie gewichen. Nach dem Besuch eines Gymnasiums begann er im Betrieb seines Vaters eine kaufmännische Lehre, die er bei einem Großhandelskaufmann in Bremen fortsetzte. Seine eindrucksvolle Korrektheit und Zuverlässigkeit wurden hierbei besonders ausgeprägt.

In seiner Jugend entwickelte er bereits ein Interesse an sozialen Verhältnissen seiner Umgebung, in denen schwierige und unsichere Bedingungen vorherrschten und beispielsweise beinahe die Hälfte aller Kinder im Schulalter bereits zur Arbeit in den Fabriken gezwungen war. Im Zuge der internationalen Geschäftsreisen seines Vaters bekam er dann frühzeitig eine weltoffene Sichtweise. Er erlernte mit geringem Aufwand verschiedene Sprachen, fertigte gerne Zeichnungen und Karikaturen vom Leben und Treiben der Menschen an und begeisterte sich für die Geschichte, besonders verschiedene Freiheitskämpfe. Er schrieb auch leidenschaftliche Gedichte und wollte – angeregt durch die musikalischen Vorlieben seiner Herkunftsfamilie – als Komponist von Chorälen und Sänger der Freiheit bekannt werden. Anonym oder auch unter einem Pseudonym veröffentlichte er „Briefe aus dem Wuppertal“.

Weg zum Kommunismus

Im Zuge seines Militärdienstes in Berlin besuchte er Vorlesungen an der Universität und im jung-/linkshegelianischen „Doktorclub“, dem Marx, Bauer, Köppen, Stirner und andere angehörten. Aufgewühlt von seiner Befassung mit Hegel, Feuerbach und Strauß, den hier diskutierten fortschrittlichen Ideen und der darin bemerkten Unversöhnlichkeit von Religion und Philosophie zweifelte er zunehmend an der Richtigkeit seiner Religiosität und entschied sich letztlich für die vorwärtsweisende Vernunft. Dem war bereits seine Empörung über den Zwiespalt zwischen dem religiösen Mystizismus in seiner Heimat und der praktischen Menschenverachtung im sozialen Leben vorausgegangen. Mit der Veröffentlichung einer Kritik an der Philosophie Schellings machte er sich in Berlin schon in jungen Jahren einen Namen. Er konzentrierte sich bereits in dieser Zeit auf das Zusammenwirken von Politik und Philosophie, die Einheit von revolutionärer Theorie und praktischem Handeln. Dadurch distanzierte er sich von der junghegelianischen Vorstellung, die das Wort bereits für die eigentliche Tat hielt.

Gerne schrieb er aber zunächst weiterhin Gedichte und Prosastücke, unter denen sich auch eine Komödie und eine Liebesgeschichte finden. Dabei nutzte er die Literatur zunehmend als ideologische Waffe für den Fortschritt der Menschheit. Explizit politische Texte veröffentlichte er in dieser Zeit noch weiter anonym oder als Friedrich Oswald. Anschließend hielt er sich zum Abschluss seiner kaufmännischen Ausbildung in England auf, wo er die irische Arbeiterin Mary Burns kennenlernte, mit der er eine Lebensgemeinschaft begann. Diese Beziehung trug wesentlich zur Ausbildung und Festigung seines Klassenstandpunktes bei.

Auf einer Durchreise traf er 1842 in Köln erstmals mit Marx zusammen, der ihn aber zunächst für einen Verbündeten der Junghegelianer hielt und deshalb etwas distanziert blieb. Immerhin verfasste Engels einige Korrespondenzen für die  „Rheinische Zeitung“, deren Chefredakteur Marx wurde, und begann mit diesem einen Briefwechsel. In der Folge kooperierten beide nach Möglichkeit in direktem Austausch, begannen eine lebenslange feste Freundschaft und unternahmen auch gemeinsame Reisen. Als erstes Gemeinschaftsprojekt verfassten sie eine Kritik an spekulativ idealistischen Vorstellungen in ihrer Kritik der kritischen Kritik, die damit als die „Heilige Familie“ in die Geschichte einging.

Marx und Engels

In England fand Engels einen sehr weitgehend entwickelten Kapitalismus mit ausgeprägten Klassenkämpfen vor. Die englische Bourgeoisie konnte bereits 1688 dem Feudalismus die Vorherrschaft abringen und das Proletariat konnte schon 1824 die Anerkennung der Trade Unions durchsetzen. Manchester war nicht nur der langjährige Arbeitsort von Engels, sondern auch das Zentrum der Textilindustrie und der Bewegung der ChartistInnen für politische und soziale Reformen. Vor diesem Hintergrund setzte sich Engels eingehend und systematisch mit den sozialen und politischen Verhältnissen auseinander, sah sich in den englischen Städten um, nahm an öffentlichen Versammlungen teil, arbeitete an verschiedenen Zeitungen mit und publizierte auch in den in Frankreich erschienenen „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“.

Als die „Rheinische Zeitung“ verboten wurde, ging Marx nach Paris und gründete dort mit Arnold Ruge die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“. Nachdem Marx jedoch 1845 ausgewiesen wurde, gründete Engels im Folgejahr in Brüssel ein Kommunistisches Korrespondenzkomitee. Mit 27 Jahren trat er dem von deutschen Handwerksgesellen in Paris gegründeten „Bund der Gerechten“ bei und erhielt auf dessen 2. Kongress mit Marx das Mandat zur Abfassung eines Parteiprogramms, das als „Kommunistisches Manifest“ in die Geschichte eingehen sollte.

Zur Bedeutung des proletarischen Klassenstandpunktes fand Engels vor allem durch seine Analysen der bürgerlichen Ökonomie, Marx wiederum durch seine Auseinandersetzung mit der Hegel’schen Philosophie, was dieser kurz so ausdrückte: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, …“ (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 391).

Zu Kommunisten wurden Marx und Engels im Zuge ihrer internationalen Erfahrungen. Engels durch seine Mitarbeit in der englischen sozialistischen Presse, Marx durch den Einfluss der französischen SozialistInnen.

Nach der Rückkehr in seine Heimat 1848 und einem Engagement für eine „rote Republik“ musste Engels in die Schweiz fliehen, konnte aber nach einigen Monaten wieder nach Köln zurückkehren. Infolge seiner Beteiligung am bergischen Aufstand wurde er vorübergehend verhaftet und musste abermals fliehen.

Mit 30 Jahren begann er schließlich eine unternehmerische Tätigkeit in der väterlichen Firma in Manchester, die er über zwei Jahrzehnte beibehielt. Inzwischen hatte sich Marx in London niedergelassen, was den Kontakt erleichterte, der mithilfe eines beinahe täglichen Briefwechsels ergänzt wurde.

Danach konnte er sich mit einer Abfindung aus dem Geschäft zurückziehen und sich propagandistischen und organisatorischen Tätigkeiten widmen. Durch seine Sprachkenntnisse führte er auch zahlreiche internationale Korrespondenzen. Er übersiedelte nach London und wurde Mitglied des Generalrats der 1864 von Marx gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation, an deren Kongress 1872 in Den Haag er mit Marx teilnahm.

In dieser Ersten Internationale gab es intensive Auseinandersetzungen mit anarchistischen und blanquistischen Vertretungen. Vor diesem Hintergrund und den Erfahrungen der Pariser Kommune vertraten Marx und Engels die Bildung einer politischen Partei, um dem Proletariat ein Handeln als Klasse zu ermöglichen. Nach kurzer Zeit existierte aber diese Internationale nicht mehr, was die Gründung einer neuen erforderte.

Ein wesentlicher Impuls dazu ging von der deutschen ArbeiterInnenbewegung aus. Der 1863 von Lassalle gründete Allgemeine Deutschen Arbeiterverein und die von Wilhelm Liebknecht und Bebel gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei kamen 1875 zu einem gemeinsamen Kongress in Gotha zusammen und beschlossen dabei ein gemeinsames Programm. Nach einem folgenden Kongress in Erfurt entstand aus der in Gotha gegründeten Sozialistischen ArbeiterInnenpartei in der Folge die Sozialdemokratische Partei.

Marx und Engels betrachteten die Bildung einer gemeinsamen ArbeiterInnenpartei als enormen Fortschritt, sahen sich aber genötigt, deren theoretische und programmatische Fehler einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Mit Marx formulierte Engels eine deutliche Kritik daran, besonders an den Illusionen in die mögliche Rolle von Produktionsgenossenschaften, den „Volksstaat“ und die demokratische Republik. Immerhin galt ihnen als einzig mögliche Übergangsperiode von der kapitalistischen in eine kommunistische Gesellschaft die zwischenzeitliche revolutionäre Diktatur des Proletariats.

Nach dem Tod von Marx engagierte sich Engels weiter für einen Fortschritt in der internationalen Organisierung der ArbeiterInnenklasse und trug nach anfänglichen Vorbehalten maßgeblich zur Bildung der Zweiten Internationale bei. Letztlich wurde er 1893 auf dem Internationalen Sozialistischen ArbeiterInnenkongress in Zürich noch Alterspräsident. Nach einem Kuraufenthalt starb er schließlich 1895 in London.

Ein Werk für den Sozialismus

Engels‘ theoretisches Werk war stets darauf ausgerichtet, die Erkenntnisse von den Natur- bis zu den Sozialwissenschaften, von den allgemeinsten Problemstellungen der Philosophie  bis zu besonderen Fragestellungen der Militärgeschichte einzubeziehen, und erreichte in der Folge einen paradigmatischen Einfluss auf vielfältige Wissenschaftsgebiete.

Mit seinem Werk „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ zeichnete er die ersten materialistischen Ansätze in der deutschen Philosophiegeschichte nach, verwies zugleich auf deren innere Schranken und deren Überwindung durch den wissenschaftlichen Sozialismus.

Nachdem für Dühring die Lehren von Marx lediglich rückständige und wüste Konzeptionen mit logischer Fantasterei waren und sein Einfluss erheblich angewachsen war, entschied sich Engels zu einer Erwiderung, daran anknüpfend einer grundlegenden Darlegung seiner mit Marx entwickelten dialektischen Methode und sozialistischen Weltanschauung, in der Fragen der Philosophie, Ökonomie, Geschichte und vielfältiger anderer Wissenschaften behandelt wurden. Mit „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring)“ schuf er aber ein Werk, das sich für die Gewinnung  der ArbeiterInnenklasse für den Marxismus als hervorragend geeignet erwies. Bis heute stellt es eine Pflichtlektüre für jede/n kommunistische/n RevolutionärIn dar.

Seine „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, in der er die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und besonders die Auswirkung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln für elementare Entfremdungen, gesellschaftliche Spaltungen und zwischenmenschliche Feinseligkeiten nachzeichnete, inspirierten Marx zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie.

In „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ klagte er die englische Bourgeoisie des Raubes, des Mordes und anderer Verbrechen an, entwickelte die Theorie für die erforderliche Selbstbefreiung des Proletariats und schuf auch eine wesentliche Grundlage für die wissenschaftliche Soziologie.

In „Der deutsche Bauernkrieg“ und seiner „Einleitung zu Marx’ ‚Der Bürgerkrieg in Frankreich’“ zeigte sich Engels‘ ausgeprägtes Interesse für militärische Aspekte und deren gesellschaftlichen Zusammenhänge. Wegen seiner vielfältigen militärwissenschaftlichen Studien erhielt er im Freundeskreis den Spitznamen „General“. Auch praktisch verteidigte er 1849 aktiv die Aufständischen in Elberfeld und beteiligte sich wenige Wochen später am Bürgerkrieg in Baden und in der Pfalz. Dabei plante er die militärischen Aktionen mit und nahm auch an mehreren Gefechten teil.

„Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ wurde ein Standardwerk, das zeigt, wie die jeweils neuen Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sich in eine systematische Konzeption zusammenfügen lassen. Neue und verbesserte Erkenntnisse zu einzelnen Abschnitten widerlegen nicht die darin entwickelte Methode, sondern verweisen auf die ständig notwendige Weiterentwicklung solcher Werke.

Seine „Dialektik der Natur“ war von ihm nicht in der erschienenen Publikationsform gedacht. Vielmehr sind darin einzelne Fragmente mit vielfältigen anschaulichen Beispielen zur objektiven Dialektik in der Natur zusammengefasst, was in der stalinisierten Sowjetunion dann zur Naturalisierung der Geschichtsschreibung missbraucht wurde.

Weit über seinen ursprünglichen Anlass bekannt wurde seine „Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891“. Dort polemisierte er vor allem gegen den Forderungsteil des sog. Erfurter Programms, das entscheidenden Fragen ausweiche und damit die Möglichkeit eines Hineinwachsens in den Sozialismus selbst in der deutschen Monarchie suggeriere.

In seinem „Grundsätze des Kommunismus“ entwickelte er bereits eine wesentliche  Grundlage des von Marx verfassten „Kommunistischen Manifests“.

Nachträglicher Missbrauchsversuch

Bernstein, der 1899 eine klar reformistische Grundlegung vorlegte und damit eine grundlegende Diskussion zur Ausrichtung der Sozialdemokratie eröffnete, kritisierte nicht nur den revolutionären Marxismus, den er in einer zerstörerischen blanquistischen Tradition stehend sah, sondern berief sich auch auf Engels, der am Ende seines Lebens der parlamentarischen Tätigkeit und den gesetzlichen Mitteln zur gesellschaftlichen Demokratisierung mit dem Stimmzettel den Vorzug gegeben und die Zeit ungesetzlicher Umstürze für überwunden erklärt habe.

Damit wollte er Engels in Opposition zu Marx bringen, der in der Frage der möglichen Herrschaftsform der ArbeiterInnenklassse unmissverständlich auf die Erfahrungen der Pariser Kommune hinwies.

In Wirklichkeit kann von diesem Gegensatz keine Rede sein. Bereits in jungen Jahren entwickelte Engels die Überzeugung, dass eine Verbesserung der materiellen Lage des Proletariats eine gewaltsame Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert. 1842 verkündete er die Notwendigkeit einer sozialen Revolution, in der „nur eine gewaltsame Umwälzung der bestehenden unnatürlichen Verhältnisse, ein radikaler Sturz der adligen und industriellen Aristokratie die materielle Lage der Proletarier verbessern kann.“ (Engels, Innere Krisen, in: MEW 1, Dietz, Berlin/Ost, 1956, S. 460)

Engels brandmarkte zeitlebens die bürgerliche Rechtsstaatlichkeit als bloß scheinbare Gerechtigkeit, die politische Freiheit als Scheinfreiheit der übelsten Knechtschaft und die politische Gleichheit der bürgerlichen Demokratie als Heuchelei zur Verhüllung der despotischen Herrschaft des Kapitals. Wenn soziale Übel mit demokratischen Mitteln überwunden werden sollen, muss die Demokratie eine soziale werden – geleitet vom Prinzip des Sozialismus. Echte Freiheit und Gleichheit bedeuten Kommunismus.

Der sozialdemokratische Reformismus bezieht sich nun freilich nicht auf solche Aussagen, sondern auf einige Kommentare von Engels angesichts der Entwicklungen in Amerika, England und Frankreich sowie der Wahlerfolge der deutschen Sozialdemokratie. Hieran knüpfte sich nämlich der Eindruck einer neuen proletarischen Kampfweise am Ende des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt einer parlamentarischen Form eines friedlichen Übergangs der bürgerlichen in eine sozialistische Gesellschaft. Für einen solchen Fall beschrieb Engels die demokratische Republik als besondere Form der Diktatur des Proletariats.

Er ergänzte allerdings die parlamentarische Ausrichtung ausdrücklich mit der Forderung, dass alle politische Macht tatsächlich in der Volksvertretung konzentriert sein müsste und betonte angesichts des Verbots eines offen republikanischen Parteiprogramms in Deutschland, „wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft.“ (Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: MEW 22, Dietz, Berlin/Ost, 1977, S. 235)

Engels sah im Wahlrecht nicht einfach ein „Werkzeug zur Befreiung“, sondern auch ein mögliches „Instrument der Regierungsprellerei“. Speziell in den nordamerikanischen Verhältnissen stellte er fest, wie aus der Politik ein Geschäft werden kann, in dem „zwei große Banden politischer Spekulanten“ mit den korruptesten Mitteln für sich ausbeuten lassen.

Anstelle der Vorstellung einer Machtergreifung durch eine parlamentarische Mehrheit warnte er, „daß die Herrschenden noch lange vor diesem Zeitpunkt gegen uns Gewalt anwenden werden; das aber würde uns vom Boden der Stimmenmehrheiten auf den Boden der Revolution führen.“ (Engels, Antwort an den ehrenwerten Giovanni Bovio, in: MEW 22, Dietz, Berlin/Ost, 1977, S. 280)

Und zur speziellen Frage, ob künftig der Straßenkampf unbedeutend werden würde, erklärte er noch in seinem Todesjahr: „Durchaus nicht. Es heißt nur, daß die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. Ein künftiger Straßenkampf kann also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente aufgewogen wird. Er wird daher seltener im Anfang einer großen Revolution vorkommen als im weiteren Verlauf einer solchen und wird mit größeren Kräften unternommen werden müssen.“ (Engels, Einleitung zu Karl Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, in: MEW 22, Dietz, Berlin/Ost, 1977, S. 522)

Der Freund Engels

Engels unterstützte Marx mit regelmäßigen finanziellen Zuwendungen, überarbeitete dessen englische Zeitungsartikel und sorgte beispielsweise dafür, dass dessen schwer entzifferbare Nachlassfragmente des 2. und 3. Bandes des „Das Kapital“ zeitnah nach dessen Tod veröffentlicht werden konnten. Einen geplanten 4. Band konnte er nicht mehr fertigstellen.

Die lebenslängliche Freundschaft mit Marx wurde lediglich einmal eingetrübt, nämlich infolge dessen teilnahmsloser Reaktion auf den Tod seiner Gefährtin Mary Burns.

Im Unterschied zum bürgerlichen Standardbild eines Gelehrten, der aus seiner individuellen geistigen Entfaltung schöpft, dabei wenn möglich gleich den ganzen Weltgeist zu Bewusstsein kommen lässt, zeigen Marx und Engels das Potential einer Kooperation. Beide hätten für sich niemals das schaffen können, was sie gemeinsam vollbringen konnten. Während sie in monologischen Bemühungen bereits jeder für sich zu wegweisenden Einsichten fanden, entfaltete eigentlich erst ihr dialogisches Schaffen, ihr Werk als gemeinsames seinen welthistorischen Rang. Beide ergänzten, unterstützten und inspirierten  sich. Ohne Engels hätte Marx sicher nicht die erforderlichen Ressourcen für seine theoretischen Arbeiten gehabt und auch nur schwerlich zu seiner Berühmtheit gefunden. Ohne Marx hätten Engels vielfältige Inspirationen gefehlt und er hätte auch kaum seine erreichte Bedeutung erlangt.

Lenin würdigt dieses Zusammenwirken in einem Nachruf auf Engels vortrefflich mit einem geschichtlichen Vergleich: „Antike Sagen berichten von manchen rührenden Beispielen der Freundschaft. Das europäische Proletariat kann sagen, daß seine Wissenschaft von zwei Gelehrten und Kämpfern geschaffen worden ist, deren Verhältnis die rührendsten Sagen der Alten über menschliche Freundschaft in den Schatten stellt.“ (Lenin, W. I.: Friedrich Engels, in: ders.: Werke Bd. 2, Übers. d. 4. russ. Ausg., Dietz, Berlin/Ost, 1961, S. 12)




30 Jahre Wiedervereinigung – kein Grund zum Feiern

Martin Suchanek, Referat beim Live-Steam der Gruppe ArbeiterInnenmacht vom 15.10.2020

2020 blieben uns wegen der Pandemie inszenierte Einheitsfeiern weitgehend erspart. Die Festreden der Herrschenden und des politischen Establishments, die es natürlich trotzdem vom Bundespräsidenten abwärts gab, verbreiteten dabei ihre Sicht auf die Wiedervereinigung.

Die Einheit wäre insgesamt eine tolle Sache. Bundespräsident Steinmeier schlug sogar eine Gedenkstätte vor. Leider hatte sie, wie alles im Leben, ihre Schattenseiten v. a. für die Menschen aus der ehemaligen DDR. Die soziale Einheit wäre noch immer nicht ganz vollzogen, aber sie würde schon kommen. So oder ähnlich lautet die offizielle Linie der deutschen Politik – und so oder ähnlich lautete die offizielle Bilanz der kapitalistischen Wiedervereinigung auch vor 5, 10 oder 15 Jahren.

Die Schattenseiten des Prozesses werden zwar erwähnt. Sie trüben freilich nicht das Licht der Einheit.

So verkündete auch 2020 Frank-Walter Steinmeier, dass wir „in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“, leben würden. „Wir seien Glückskinder Europas“.

Wer ist aber dieses „Wir“? Alle offiziellen, staatstragenden Reden über die Wiedervereinigung kennen, auch wenn sie mehr oder weniger willig die sozialen Verwerfungen des Prozesses anerkennen, keine Klassen. Sie kennen allenfalls Ost und West, das irgendwie zusammenwächst. Im Zentrum steht das nationale WIR, ein Deutschland, das vom  gesellschaftlichen Grundwiderspruch oder von der imperialistischen Weltordnung nichts wissen will, sondern nur noch seine Glückskinder kennt.

Bei vielen will sich freilich bis heute das Glücksgefühl nicht richtig einstellen. Bis heute wirken die Versprechen der Wiedervereinigung schal – und das mit gutem Grund.

Im  folgenden Vortrag werde ich mich mit folgenden Punkten beschäftigen:

  • Die hartnäckige Ungleichheit zwischen Ost und West
  • Ihre Ursache – die kapitalistische Wiedervereinigung
  • Die politische Entwicklung im Osten
  • Charakter der Wiedervereinigung und die Stärkung des deutschen Imperialismus
  • Ursachen für den Zusammenbruch der DDR
  • Lehren für aktuelle Auseinandersetzungen

1. Reproduktion sozialer Ungleichheit

Hier nur einige Zahlen, die den Unterschied zwischen Ost und West belegen:

  • 2018 mussten die Arbeiter„nehmer“Innen in den alten Bundesländern im Schnitt 1295 Arbeitsstunden arbeiten, im Osten (inklusive West-Berlin) 1351 Stunden, also 56 Stunden länger.
  • Diese Ungleichheit wird auch bei den tariflich Beschäftigten reproduziert. So hatten  2018 im Westen 8 Prozent dieser eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden, im Osten 40 Prozent.
  • Die Jahres-Bruttolöhne je Beschäftigten lagen im Westen bei 36.088 Euro, in den neuen Ländern bei 31.242 Euro, was einen Unterschied von knapp 4.900 Euro ausmacht.
  • Mindestlöhne und Renten, die selbst das geringere Lohn- und Einkommensniveau widerspiegeln, klaffen weiter auseinander.

Die Spaltung des Arbeitsmarktes hält also auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung an. Und das, obwohl sich im Westen die prekären und atypischen Arbeitsverhältnisse (Befristung, Teilzeitarbeit unter 20 Stunden, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit) unter anderem aufgrund der Hartz-Gesetze und Agenda 2010 sogar noch schneller ausgedehnt haben als im Osten.

In den alten Bundesländern betrug 2017 der Anteil prekärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse an der gesamten Erwerbstätigkeit 24 % gegenüber 18 % im Osten. Den Hintergrund dafür bildet jedoch die deutlich höhere Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Dort lag sie Ende 2018 bei 7,6 % gegenüber 5,3 % im Westen.

Von 1991 bis 2017 wanderten außerdem 3.681.649 von Ost nach West ab, was fast einem Viertel der Bevölkerung der ehemaligen DDR entspricht. Dem stehen zwar 2.451.176 Zuzüge aus dem Westen entgegen, die Wellen der innerdeutschen Migration entsprechen jedoch der Zerstörung der ostdeutschen Industrie und der geringen Arbeitsmarktperspektiven, gerade für besser ausgebildete Menschen.

Die Migration von Ost nach West ging außerdem auch mit einer massiven Verschärfung der  Unterschiede innerhalb der neuen Bundesländer einher. Einigen „erfolgreichen“ städtischen  Regionen steht der fortgesetzte Abstieg der meisten ländlichen und kleinstädtischen Gebiete bis zum Verlassen ganzer Dörfer entgegen.

Die Ungleichheit zwischen Ost und West drückt sich daher keineswegs nur auf dem Arbeitsmarkt aus, sondern insbesondere auch beim Vergleich einzelner Regionen. So zeigt z. B. der „Teilhabeatlas Deutschland“, dass sich in den neuen Bundesländern die „abgehängten Regionen“ konzentrieren. Diese zeichnen sich durch einen hohen Anteil an Hartz-IV-EmpfängerInnen (darunter auch viele „AufstockerInnen“), geringere kommunale Steuereinnahmen, besonders geringes jährliches durchschnittliches Haushaltseinkommen (Medianwert für 2017: 19.100 Euro), geringe Lebenserwartung, Abwanderung (2017 noch immer mehr als 10 Prozent!), schlechter digitaler Anbindung und überdurchschnittlicher Entfernung zu Versorgungseinrichtungen (Krankenhaus, Behörden, …) aus.

Die Frauen zählen in besonderem Maß zu den VerliererInnen der Vereinigung. Die reaktionäre bürgerliche Gesellschaftsordnung benachteiligt Frauen, die in der DDR eine stärkere wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit entfalten konnten. Sie gehörten zu den ersten, die nach der Wende entlassen oder lohnmäßig und im betrieblichen Status abgruppiert wurden.

Insgesamt hat die Wiedervereinigung dem Kapital einen Zuwachs für die Reservearmee an Arbeitskräften gebracht, und dies zu sich ausweitenden Vorstößen in der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse durch zunehmende Prekarisierung, Leiharbeit, Aushöhlung von Arbeitsrechten und Unsicherheit des Arbeitsplatzes, verbunden mit einer verunsicherten Lebensplanung, sowie zur Privatisierung und Abbau öffentlicher Dienste genutzt.

2. Ursache: Kapitalistische Wiedervereinigung

Hintergrund der sozialen Ungleichheit und damit ungleicher Lebensbedingungen bilden selbstredend nicht „Mentalitätsunterschiede“, sondern vielmehr die Ergebnisse der kapitalistischen Wiedervereinigung, zu denen eben auch gehört, dass dem Wirtschaftsgebiet der ehemaligen DDR ein spezifischer Platz im Rahmen eines schon bestehenden bundesdeutschen gesellschaftlichen Gesamtkapitals zugewiesen wurde.

Nach der kapitalistischen Wiedervereinigung erlebte die DDR-Ökonomie einen drastischen Niedergang und Ruin, dessen Ausmaß für Friedenszeiten ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig war und ist.

Zwischen 1990 und 1992 wurden zwei Drittel der ostdeutschen Industrie zerstört und zwar unter Aufsicht und Lenkung der Treuhandanstalt, einer Staatsholding, die die Privatisierung der DDR-Ökonomie überwachen sollte.

Ende 1992 waren nur noch 750.000 Menschen in der ehemaligen DDR-Industrie beschäftigt, etwa ein Viertel des Beschäftigungsstandes zur Zeit der Wiedervereinigung. Auch die landwirtschaftliche Produktion sank von 1989 bis 1992 auf rund die Hälfte. Von 9,8 Millionen Beschäftigten der DDR-Wirtschaft wurden rund 4 Million „freigesetzt“, arbeitslos, in Kurzarbeit geschickt oder verschwanden vom Arbeitsmarkt (RentnerInnen; Abwanderung in den Westen; Rückgang der Erwerbstätigkeit von Frauen).

Zugleich stiegen die Preise für Konsumgüter und Mieten dramatisch, so dass die Auswirkungen des für kleinere SparerInnen günstigen Umtauschkurses von Ost-Mark zu D-Mark (1:1) im Zuge der Währungsreform rasch verpufften. Umgekehrt begünstigte die Währungsreform 1990 die Aneignung der ostdeutschen Ökonomie durch das westdeutsche Kapital.

Der Umtauschkurs bedeutete erstens, dass die Schulden der DDR-Unternehmen in D-Mark neu bewertet wurden, darunter auch Kosten, die in einer kapitalistischen Ökonomie erst gar nicht in den einzelbetrieblichen Bilanzen aufgeschienen wären (z. B. betriebliche Sozialleistungen).

Zweitens wog die Neubewertung des Anlagevermögens der ostdeutschen Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungsunternehmen (Handel, …) besonders schwer. Das veraltete, lange nicht erneuerte fixe Kapital wurde jetzt mit den westdeutschen, fortgeschrittenen Kapitalien verglichen und neu bewertet. Das Anlagevermögen wurde somit über Nacht weit mehr entwertet, als es der Umtauschrelation größerer Geldvermögen (1:2) entsprach, so dass die Schuldenrate der DDR-Betriebe massiv anwuchs. Sie waren als Konkurrentinnen damit mehr oder minder aus dem Feld geschlagen.

Das Übrige erledigte die Treuhand. Sie verkaufte die DDR-Betriebe unter Wert, v. a. an die westdeutsche Konkurrenz. Da es keine DDR-Bourgeoisie gab, wanderte in kurzer Zeit alles, was profitabel erschien, in die Hände der bundesdeutschen KapitalistInnenklasse. Ursprünglich sollte die Privatisierung der ostdeutschen Ökonomie und deren Restrukturierung durch Verkaufserlöse finanziert werden. Doch das westliche Kapital wollte für die DDR-Unternehmen nicht zahlen, sondern für seinen „Dienst“ noch belohnt werden.

Daher übernahm die Treuhand und über diese der Staat den größten Teil der Schulden. Bis Ende 1992 waren so 8.000 von 40.000 DDR- Betrieben auf diese Weise verkauft, genauer verscherbelt worden.

Die Filetstücke – z. B. Carl Zeiss Jena – eigneten sich die „rettenden“ Konzerne zuerst an, sei es, um neue wirtschaftliche „Inseln“ zu schaffen, sei es, um unliebsame Konkurrenz zu übernehmen und auszuschalten, und sie erhielten dafür Milliardensubventionen (Carl Zeiss Jena 3,5 Mrd. DM).

Die kapitalistische Wiedervereinigung stärkte also das deutsche Kapital mehrfach. Sie erweiterte den Markt für Waren, erlaubte die Aneignung von Betrieben faktisch für nichts, verschaffte ein Reservoir von Billigarbeitskräften, erhöhte den Druck am Arbeitsmarkt, machte den Osten zum Exerzierfeld für sog. Arbeitsmarktreformen. All das stärkte damit das deutsche Kapital auf dem Weltmarkt und insbesondere auch in Europa gegenüber seinen unmittelbaren imperialistischen KonkurrentInnen.

3. Polarisierung und soziale Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung

Das Geheimnis das Aufstiegs der AfD gerade im Osten muss zweifellos vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern verstanden werden. Aber nicht in einer mechanischen Weise, sondern im Wechselverhältnis von sozialer Entwicklung und Klassenkämpfen. Allein die jahrelange starke Stellung von PDS/Linkspartei unter den Erwerbslosen, aber auch den Mittelschichten im Osten, zeigt, dass es nicht einfach Armut, Benachteiligung oder gar eine angeblich besonders autoritär geprägte DDR-Identität waren, die per se die Menschen zur AfD oder zur extremen bis hin zur faschistischen Rechten treiben.

Die kapitalistische Wiedervereinigung stellte für die ArbeiterInnenklasse in ganz Deutschland eine historische Niederlage dar. Auch wenn die Bewegung gegen die DDR-Bürokratie eine legitime Massenbewegung war, so machte sich ihre politische Schwäche, der kleinbürgerliche Charakter ihres Programms, rasch fatal bemerkbar. Sie hatte keine Antwort auf die grundlegenden ökonomischen Probleme der DDR – und eröffnete dem westdeutschen Imperialismus somit die Chance, die Lage zu seinen Gunsten zu wenden. Aus einer halben Revolution gegen die Bürokratie wurde eine ganze Konterrevolution.

Diese stärkte den Imperialismus, die soziale, wirtschaftliche und globale Stellung des „eigenen“ Kapitals, ungemein. Die soziale Konterrevolution im Osten, also die Vernichtung des ArbeiterInnenstaates DDR, wurde jedoch in einer bürgerlich-demokratischen Form vollzogen, was nicht zuletzt auch die Einbindung der Massen erleichterte – trotz einer enormen Zerstörung der ökonomischen Basis der ehemaligen DDR.

Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Niederlage waren jedoch in den neuen und alten Bundesländern höchst unterschiedlich. Die Klassenstruktur (und -zusammenarbeit) des BRD-Kapitalismus wurde im Westen nur schrittweise umgemodelt. In der DDR wurde das gesamte soziale und ökonomische Gefüge abrupt, sprunghaft zerstört. Der Kapitalismus war nicht zuletzt aufgrund der massiven Zerstörung der ostdeutschen Industrie immer instabiler als im Westen und daher auch die soziale Struktur der Gesellschaft selbst.

D. h. wir können während und nach der Wiedervereinigung von Beginn an verschiedene Formen der raschen politischen Veränderung beobachten.

Zuerst enorme Illusionen in die bürgerliche Demokratie und in die sog. soziale Marktwirtschaft.

Sehr rasch auch extrem reaktionäre, rassistische und faschistische Antworten – die pogromartigen Mobs von Rostock, Hoyerswerda waren zwar nicht auf den Osten beschränkt, hatten dort aber ihr Zentrum. Die Nazis fanden Zulauf.

Es ist kein Zufall, dass es im Osten den starken Zulauf für die Pegida und die rassistische AfD zuerst gab,  auch weil die Verhältnisse nicht nur für die ArbeiterInnenklasse und Erwerbslosen, sondern auch für die Mittelschichten und das KleinbürgerInnentum weitaus instabiler sind.

Aber die soziale Lage kann auch nach links ausschlagen, wie die letzten Jahrzehnte gezeigt haben. So waren PDS, später auch die Linkspartei, beispielsweise jahrelang in der Lage, Arbeitslose als WählerInnen zu binden. Vor allem aber Bewegungen der Klasse sind zu erwähnen. So die teilweise sehr langen Betriebsbesetzungen gegen Schließungen Anfang der 1990er Jahre, z. B. des ehemaligen Kali-Bergwerks Bischofferode. So der IG Metall Streik im Osten 2003 und die Bewegung gegen die Hartz-IV-Gesetze in den Jahren 2003 und 2004. Letztere waren fortschrittliche proletarische Massenbewegungen, die jedoch von der Gewerkschaftsbürokratie, von der SPD verkauft oder direkt bekämpft wurden oder denen die PDS und die Linkspartei keine Perspektive über Wahlen hinaus zu geben vermochten.

Der Aufstieg der AfD reflektiert also nicht nur die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die soziale Lage verschiedener Klassen, sondern auch Verrat und Niedergang der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften.

4. Strategische Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung

Die Auslöschung des ArbeiterInnenstaats DDR mit seinen nichtkapitalistischen Grundlagen bedeutet eine Niederlage für das Weltproletariat, die umso schwerer wiegt, da sie nach erfolgreicher Demobilisierung und Integration der Massenbewegung von 1989 praktisch kampflos erfolgte. Das Versagen der deutschen ArbeiterInnenbewegung einschließlich der westdeutschen Linken, die diese historische Dimension des Prozesses und v. a. die Notwendigkeit des Eingreifens völlig verkannte oder unterschätzte, war eklatant.

Während der Reformismus teilnahmslos verharrte oder aktiv die Demobilisierung der ArbeiterInnenklasse im Osten betrieb, hing ein Großteil der radikalen Linken den kleinbürgerlichen Reformillusionen der DDR-BürgerrechtlerInnen an und träumte von einer teilstaatlichen Lösung und einem Kompromiss mit der Bürokratie, statt mit einem Forderungsprogramm für ArbeiterInnendemokratie, demokratische Planung und eine revolutionäre Wiedervereinigung den Widerstand in die ArbeiterInnenklasse hüben wie drüben hineinzutragen und sie organisatorisch zu rüsten.

Nicht allein die Errungenschaften eines ArbeiterInnenstaates wurden abgewickelt, sondern das Territorium wurde zum Exerzierplatz für eine sozialpolitische Konterrevolution ausgestaltet. Die Rechnung, die das BRD-Kapital auch der ArbeiterInnenklasse im Westen für die passive Duldung der restaurationistischen Einheit präsentierte, war unerbittlich und musste mit der Schwächung des eigenen Kampfpotenzials gegen alle folgenden Offensiven des Kapitals bezahlt werden.

Die deutsche Imperialismus triumphierte zunächst. Die Wiedervereinigung hatte eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die internationale Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit.

Entscheidend war jedoch, mit dem neu gewonnenen Hinterland eine geostrategische Startrampe geschaffen zu haben, um die Rekapitalisierung des zerbröckelnden Ostblocks voranzutreiben.

Zum Zweiten konnte in der EU noch mehr deutsches Gewicht in die Waagschale geworfen werden. Die Erweiterung der Machtbasis erleichterte auch die Durchsetzung von Projekten wie der Einführung des Euro als wichtiges Faustpfand für den innerimperialistischen Konkurrenzkampf.

Die gegenwärtige Krise der Globalisierung hat die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus weltweit offenbart und auch vor dem BRD-Imperialismus nicht Halt gemacht.

Den ersten Dämpfer bekamen die Ambitionen des BRD-Imperialismus mit dem Scheitern seiner Pläne für eine EU-Verfassung 2005 und damit des politischen Aufstiegs zu einer imperialistischen Supermacht, die den USA und dem aufstrebenden China die Stirn hätte bieten können.

Wirtschaftlich ist Deutschlands Vormachtstellung innerhalb der EU zwar weiterhin unumstritten, doch die Schwierigkeiten, ökonomische Druckmittel gegen die sich sperrenden Nationalismen dort politisch umzumünzen, nehmen zu. Mit einheitlichen klaren Positionen kann die EU weltpolitisch nicht aufwarten: Für den aktiven militärischen Einsatz für eigene Interessen besteht ein begrenzter Aktionsspielraum. Nach wie vor hindert der Atomwaffensperrvertrag die BRD daran, auch militärisch Weltgeltung zu erlangen.

Vor ein paar Jahren noch kaum vorstellbare Instabilitäten haben das Land überzogen und einerseits das Durchregieren für das Kapital nicht unbedingt vereinfacht, zum anderen den Erfolg des Rechtspopulismus gebracht, der v. a. in Ostdeutschland Tritt gefasst hat, worin die – vorläufig – letzte Konsequenz der siegreichen Konterrevolution und der Kapitulation der ArbeiterInnenbewegung zum Ausdruck kommt.

Protestbewegungen wie jene gegen die Hartz-Gesetze ab 2003, die vor allem in der ehemaligen DDR eine Massenkraft waren, verdeutlichen, dass es sich hier um kein Naturgesetz handelt. Die ArbeiterInnenklasse kann durchaus für ein fortschrittliches, klassenkämpferisches Programm gewonnen werden – wenn dieses entschlossen verfochten wird – in Ost und West.

5. Ursachen für den Zusammenbruch

Das erfordert aber, die Ursachen für den Zusammenbruch der DDR und die kapitalistische Restauration zu verstehen. Hierzu einige Punkte:

  • Der Zusammenbruch der DDR war natürlich durch die Erschöpfung der bürokratischen Planwirtschaften bedingt. Der Westen verschärfte den Kalten Krieg und den ökonomischen Druck, nicht zuletzt auch durch Schulden usw.
  • Die Frage ist in diesem Zusammenhang jedoch auch zu stellen, warum der sog. Sozialismus der DDR und des gesamten Ostblocks scheiterte, unterlag und warum ihn die ArbeiterInnenklasse nicht verteidigte.
  • Die Antwort darauf kann nicht nur im Westen, im Druck des Imperialismus gesucht werden, sie erfordert auch, die Frage zu stellen: Was stellten die DDR oder andere Staaten des Ostblocks eigentlich dar? Waren sie sozialistisch? Herrschte die ArbeiterInnenklasse wirklich? Warum entstanden Massenbewegungen gegen die herrschenden Parteien und den Staatsapparat?
  • Die DDR und die anderen Länder Osteuropas waren zwar Planwirtschaften und hatten das Kapital enteignet, also wichtige Voraussetzungen für eine Entwicklung zum Sozialismus geschaffen, aber sie enteigneten die herrschende Klasse auf bürokratische Weise. Die ArbeiterInnenklasse bestimmte nie die politischen Entscheidungen. Das erledigte eine Kaste, eine Staatsbürokratie, die die politische Macht monopolisierte, die ArbeiterInnenklasse davon faktisch ausschloss und zugleich die Illusion verbreitete, den Sozialismus in einem Land, ohne internationale Ausweitung aufbauen zu können.
  • Diese bürokratische Herrschaft führte aber dazu, dass die ArbeiterInnenklasse von der Planwirtschaft entfremdet wurde. Statt ArbeiterInnendemokratie gab es ein billiges Imitat der bürgerlichen Demokratie, die Volkskammer. Statt verschiedener ArbeiterInnenparteien gab es die nationale Front. Statt Räten, gab es einen allumfassenden Staatsapparat. Von einem Absterben des Staates, wie es Marx und Lenin mit der Entwicklung des Sozialismus verbanden, konnte keine Rede sein.
  • Dies bedeutet aber auch, dass die ArbeiterInnenklasse in diesem Staat – wir nennen ihn degenerierten ArbeiterInnenstaat – von der politischen Macht ausgeschlossen und die Entwicklung des Klassenbewusstseins strukturell blockiert war.
  • Es brauchte also eine politische Revolution der Klasse gegen die Bürokratie, um überhaupt den Weg zum Sozialismus frei zu machen. Die Bewegung 1989 war anfänglich eine in diese Richtung. Es mangelte ihr aber an Bewusstsein ihrer Lage und Aufgaben. Sie war von kleinbürgerlichen Kräften geführt wie dem Neuen Forum. Am linken Rand dieser Bewegung bezogen sich zwar Vereinigungen wie die Vereinigte Linke um die Böhlener Plattform auf die ArbeiterInnenklasse, aber sie hatten kein klares politisches Programm, das eine konsequente Antwort auf die Krise der DDR zu geben vermochte. So waren sie zahlenmäßig nicht nur in einer ungünstigen Ausgangsposition, sondern auch vor allem politisch unvorbereitet, ratlos und damit zunehmend handlungsunfähig angesichts der sich im Zeitraffer überschlagenden Ereignisse.
  • In diesem weltgeschichtlichen Moment besaß die Klasse keine Führung, kein Konzept, ihr „linker Flügel“ setzte auf die Reform des Staates, nicht auf eine Revolution mit Rätedemokratie, demokratischer Planung und Ausweitung der Bewegung in den Westen und Verbindung mit Osteuropa. D. h. die Bewegung hatte keine Antwort auf die Krise der DDR-Ökonomie und der Lebensverhältnisse. Diese Frage griff die bürgerliche Konterrevolution mit der Losung der kapitalistischen Wiedervereinigung und der raschen Währungsunion auf. Aus der halben Revolution wurde rasch eine ganze Konterrevolution, deren endgültigen Vollzug der 3. Oktober symbolisierte. Die wesentlichen Entwicklungen fanden aber schon vorher statt.

6. Lehren

Die erste Lehre besteht also darin, dass es in einer revolutionären Krise eines entschlossenen Eingreifens und Programms bedarf, eines, das nicht bei halben Sachen stehenbleibt, sondern auf die Errichtung der ArbeiterInnenmacht zielt.

Zweitens müssen wir deutlich machen, dass ein „Sozialismus“, wie er in der DDR existierte, keine Zukunft hat. Es ist unmöglich, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, sondern dies kann nur international geschehen. Es ist aber auch unmöglich, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse ohne ArbeiterInnendemokratie, ohne Räte, ohne Selbstorganisation der Klasse erfolgt. Wir brauchen eine Planwirtschaft, aber eine, die von den ProduzentInnen und KonsumentInnen demokratisch gelenkt und kontrolliert wird, nicht von einer scheinbar allmächtigen Staatsbürokratie.

Drittens wir müssen dem nationalen „WIR“ die internationale Einheit der ArbeiterInnenklasse, deren gemeinsame Interessen entgegenstellen – in Ost und West, von einheimischen und migrantischen ArbeiterInnen.

Die schließt viertens ein, dass wir diesen bestehenden Staat als Staat der herrschenden Klasse begreifen müssen, wir müssen, auch wenn wir den deutschen Imperialismus als den Hauptfeind der ArbeiterInnenklasse hierzulande begreifen, seine militärischen Abenteuer, seine ökonomische Erpressung anderer Länder, die Abriegelung der deutschen und europäischen Grenzen gegen Geflüchtete und Arbeitsmigrantinnen bekämpfen. Wir müssen jeden nationalen Schulterschluss, jedes Zurückstellen des Klassenkampfes auf politischer wie auf gewerkschaftlicher Ebene ablehnen, ja bekämpfen.

Fünftens erfordert revolutionäre, kommunistische Politik ein Programm, eine politische Strategie, die den Kampf für unmittelbare, demokratische, soziale Forderungen – z. B. nach gleichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen – mit dem Ziel einer anderen Gesellschaft verbindet. D. h. wir brauchen ein Programm von Übergangsforderungen, das einen Weg zur sozialistischen Revolution in Deutschland und international weist.

Warum ist das heute so wichtig? Weil wir uns – wie 1989 und 1990 – in einer historischen Umbruchphase befinden, am Beginn eines geschichtlichen Wendepunktes. Die globale kapitalistische Krise, befeuert durch die Pandemie, die Umweltzerstörung, und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden alle zu massiven globalen politischen und sozialen Verwerfungen, Krisen führen – und damit auch zu enormen Klassenauseinandersetzungen. In diese müssen wir eingreifen. Dabei stehen wir vor der Aufgabe, revolutionäre Orientierung, Perspektive, Führung zu geben. Das werden wir aber nicht leisten können, wenn wir nicht Lehren aus den großen Kämpfen – darunter leider auch vielen Niederlagen – der Vergangenheit ziehen. Die Geschichte 1989 – 1990 gehört zu solchen Ereignissen.




Die Ermordung von Leo Trotzki

Simon Hardy und Dave Stockton, Infomail 1114, 21. August 2020

Anlässlich des 80. Todestages von Leo Trotzki veröffentlichen wir hier erneut einen Text von Simon Hardy und Dave Stockton über die Geschichte der Ermordung Leo Trotzkis.

Trotzki lebte in einem Haus in Coyoacán, in Mexiko-Stadt, und war nicht nur ein Exilant, sondern auch ein Flüchtling vor den MörderInnen von Stalins Geheimpolizei, dem NKWD (Innenministerium der UdSSR, auch politische Geheimpolizei). Tatsächlich war das „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“ (Vorläufer des Innenministeriums in der RSFSR und UdSSR) insofern etwas falsch benannt, als es insbesondere seit dem spanischen BürgerInnenkrieg (1936 – 1939) ein ausgedehntes Netz von AgentInnen in Westeuropa und Amerika aufgebaut hatte.

Trotzki war in den Moskauer Prozessen von 1936 – 1938 wiederholt als der ultimative Organisator und Inspirator von Verbrechen gegen die Sowjetunion angeprangert worden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Stalin versuchte, sein Leben zu beenden. In der Tat sagte Pawel Sudoplatow, Leiter der Verwaltung für Sonderaufgaben des NKWD, noch in dem Monat, als Trotzki in das Haus in der Calle Viena (Wiener Gasse) einzog, im März 1939, als sein Chef Lawrenti Beria ihn zu Stalin brachte: „Trotzki sollte innerhalb eines Jahres eliminiert werden“.

Damit fügte Stalin dem riesigen Gemetzel der Säuberungen, die nicht nur alle MitarbeiterInnen Lenins, sondern auch viele seiner eigenen AnhängerInnen in der Zeit der Degeneration des Sowjetstaates vernichtet hatten, einschließlich der talentiertesten Chefs der Roten Armee und zahlloser völlig unschuldiger Menschen, einfach das krönende Verbrechen hinzu.

Allein Trotzkis Anwesenheit bedeutete, dass Mexiko-Stadt von NKWD-AgentInnen durchsetzt war. Viele von ihnen waren aus Spanien gekommen, als Franco schließlich triumphierte, wegen der gemeinsamen Sprache. Tatsächlich haben sich Beweise dafür ergeben, dass es in Mexiko-Stadt zwei aktive GPU-Netzwerke (GPU: Geheimpolizei der UdSSR ab Ende 1922) gab, die beide aktiviert werden sollten, um die Ermordung Trotzkis auszuführen.

Netzwerk

Das eine Netzwerk wurde „Pferd“ genannt, der Codename für den berühmten mexikanischen Wandmaler David Alfardo Siqueiros, ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei. „Pferd“ wurde von einem GPU-Agenten namens Josef Grigulewitsch geleitet, der von Alexander Orlow, einem General im NKWD, rekrutiert worden war. Sie waren beide Mitglieder der GPU-„Spezialeinheit“, die in Spanien die Folter am prominenten Führer der POUM, Andreu (Kastilisch: Andrés) Nin, durchführte. Im Sommer 1938 wurde letzterer nach Moskau zurückgerufen, wo er wegen seines Wissens um Stalins Verbrechen Gefahr lief, selbst liquidiert zu werden. Er lief daraufhin über und versuchte tatsächlich, Trotzki vor den AgentInnen zu warnen, die ihm auf den Fersen waren.

Siqueiros war zu dieser Zeit ein fanatischer Antitrotzkist, der den StalinistInnen gegenüber völlig loyal war. Er hatte die Verbindungen und konnte andere dazu bringen, bei einem Angriff zu helfen. Aber was die GPU brauchte, war ein Weg ins Haus. Am 1. Mai organisierten die StalinistInnen einen 20.000 Menschen starken Marsch durch Mexiko-Stadt, in dem die Vertreibung Trotzkis gefordert wurde, und ein Teil der Menge forderte auch seinen Tod. Die stalinistische Politik bestand darin, maximalen Druck auf die mexikanische Regierung auszuüben, um den russischen Dissidenten auszuweisen. Ihre Presse griff Trotzki regelmäßig an und behauptete, er sei in den Versuch verwickelt, entweder die Regierung zu destabilisieren oder, alternativ, unter Verletzung seiner Visa-Vereinbarungen, die Regierung zu beeinflussen.

Um 4 Uhr morgens am Morgen des 25. Mai schlug Siqueiros‘ Bande zu. Als PolizistInnen verkleidet, überraschten sie die PolizistInnen draußen, fesselten und knebelten sie und klopften an die Tür. Die AngreiferInnen betraten das Gelände des Hauses, nachdem einer der amerikanischen WächterInnen, Robert Sheldon Harte, die Tür geöffnet hatte. Als sie in den Innenhof gingen, stellten sie Maschinengewehrposten auf und eröffneten das Feuer auf das Haus, wobei sie über 300 Kugeln durch die Fenster und Wände jagten. Trotzki und Natalja Sedowa (2. Ehefrau Trotzkis) warfen sich unter das Bett, um in Deckung zu gehen. Ihr 14-jähriger Enkel tat das Gleiche und verletzte sich dabei nur leicht an herumfliegenden Glasscheiben.

Einer der Angreifer könnte sogar ins Schlafzimmer gegangen sein, um Schüsse durch die Matratze abzufeuern. Als die Angreifer zur Flucht durch das Tor ansetzten, warf einer von ihnen eine Granate in das Haus und verursachte ein Feuer. Es wurden auch drei Bomben geworfen, aber sie explodierten nicht richtig. Schließlich gelang es Otto Schüssler (Pseudonym: z. B. Oskar Fischer) und Charles Curtiss, zwei der Wach-SekretärInnen, das Haus zu betreten und zu Trotzkis Familie zu gelangen. Als sich der Rauch verzogen hatte, wurde wie durch ein Wunder niemand ernsthaft verletzt, aber sie entdeckten bald, dass Harte verschwunden war.

Kurz nach Ankunft der Polizei wurden Verdächtigungen über den Angriff geäußert. Einen Tag später verhaftete sie einige von Trotzkis Wachen und beschuldigte sie, einen „Selbstangriff“ organisiert zu haben, um zu versuchen, den StalinistInnen etwas anzuhängen. Dies wurde energisch bestritten. Wie Trotzki behauptete, wäre der Preis, der zu zahlen gewesen wäre, zu hoch für das Ansehen der Vierten Internationale gewesen und hätte seinen Aufenthalt in Mexiko gefährdet, wenn diese Verschwörung aufgedeckt worden wäre.

Bald richtete die Polizei ihr Augenmerk auf die Suche nach Harte. Hier wurden in der Folge eine Reihe interessanter Details bekannt. Mehrere Quellen haben auf Beweise hingewiesen, die darauf hinzudeuten scheinen, dass Harte ein NKWD-Agent war. Erstens behauptete Hartes Vater in einem Interview mit der mexikanischen Polizei, dass im Zimmer seines Sohnes ein Bild von Stalin an der Wand hinge. Andere Beweise deuteten darauf hin, dass Harte bei seiner Ankunft in Mexiko Zugang zu einer beträchtlichen Geldsumme hatte, sicherlich viel mehr als sein bescheidenes Gehalt als Wachmann ihm gegeben hätte. Es wurde vermutet, dass Harte von seinen FührungsoffizierInnen angewiesen worden war, die AngreiferInnen ins Haus zu lassen, und dass er dann in einem der Autos weggefahren worden war.

Noch schwerwiegender sind die Behauptungen einiger der AngreiferInnen, die ebenfalls implizieren, dass Harte sie zumindest kannte. Eine Untersuchung der mexikanischen Polizei führte zur Verhaftung mehrerer Personen, die alle in irgendeiner Weise mit der mexikanischen KP verbunden waren. Während des Verhörs gab einer der an dem Angriff beteiligten Männer zu, dass Harte beteiligt gewesen sei, er sei der Insider gewesen, der die Tür öffnen sollte. Nestor Sanchez Hernandez, Mitglied der Kommunistischen Partei und Veteran der Internationalen Brigaden, gab gegenüber der Polizei zu, dass er Harte mit einem nicht identifizierten „französischen Juden“, der einer der Organisatoren des Angriffs war, „nervös und freundlich“ sprechen gesehen habe.

Ein anderer Bericht identifiziert den Mann als Josef Grigulewitsch und beschreibt einen gewaltigen Streit, der zwischen ihm und Harte ausbrach, der sehr aufgeregt und verärgert wurde. Harte war verärgert und behauptete, ihm sei gesagt worden, dass die Absicht der Razzia nur darin bestand, die Archive zu zerstören. Als sie sich davonmachten und erkannten, dass die Absicht des Angriffs tatsächlich darin bestanden hatte, den alten Mann zu ermorden, fühlte sich Harte verraten. Vermutlich entschied die GPU, dass Harte eine tickende Zeitbombe sei und man ihm nicht trauen könne, seinen Mund zu halten. Seine Leiche wurde einen Monat später entdeckt, erschossen und auf dem Gelände einer Villa auf dem Land vergraben.

Trotzki schrieb einen Nachruf auf Harte und dementierte die bereits kursierenden Anschuldigungen, er sei ein stalinistischer Agent gewesen. Die Wahrheit wird vielleicht nie bekannt werden, aber ob Harte ein Agent war oder nicht, es ist klar, dass sich der Kreis um Trotzki schloss. Trotz offizieller Dementis seitens der Kommunistischen Partei Mexikos schickte David Siqueiros einen Brief an die Presse, in dem er erklärte: „Die Kommunistische Partei versuchte mit diesem Angriff lediglich, Trotzkis Vertreibung aus Mexiko zu beschleunigen; alle FeindInnen der Kommunistischen Partei können eine ähnliche Behandlung erwarten.“

Es war zweifellos nur eine Frage der Zeit, bis die amateurhafte Sicherheitsarbeit im Haus wieder überwunden war und die AttentäterInnen ihr Ziel trafen.

Das Haus wird zur Festung

Zu diesem Zeitpunkt wurde Trotzki von mehreren Mitgliedern der SWP bewacht, die für einen längeren Besuch nach Coyoacán entsandt wurden, bewaffnet und als Wachposten organisiert waren. Zu diesen WächterInnen gehörten Jake Cooper, Walter O’Rourke, Charles Cornell und Robert Sheldon Harte. Eine weitere Wache war Joseph Hansen, später ein wichtiger Führer der SWP. Er beschreibt die neuen Maßnahmen, die seit dem verpfuschten Versuch im Mai ergriffen wurden:

„Die Garde wurde verstärkt, schwerer bewaffnet. Es wurden kugelsichere Türen und Fenster eingebaut. Es wurde eine Feldschanze aus bombensicheren Decken und Böden gebaut. Doppelte Stahltüren, die durch elektrische Schalter gesteuert wurden, ersetzten den alten hölzernen Eingang, wo Robert Sheldon Harte von den GPU-AngreiferInnen überrascht und entführt worden war. Drei neue kugelsichere Türme überragten nicht nur den Innenhof, sondern auch die umliegende Nachbarschaft. Stacheldrahtverhaue und bombensichere Netze waren in Vorbereitung.“

Hansen sollte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Führer der SWP in den USA werden, aber sein erstes Treffen mit Trotzki verlief nicht gut. Als Hansen gebeten wurde, einen Teil des Haushalts durch die Stadt und in die Wüste zu fahren, verirrte er sich hoffnungslos und ließ Trotzki mit der Frage zurück, ob der junge Amerikaner für seinen Posten in Mexiko geeignet sei.

Eine/r der US-TrotzkistInnen empfahl, die Wache nach dem Angriff im Mai zu professionalisieren. Er/Sie schlug einen neuen Anführer der Garde vor, Ray Rainbolt, einen Sioux-Indianer von Abstammung, ehemaligen Soldaten, der der Hauptmann der Teamster von Minneapolis gewesen war. Trotzki legte gegen diese Entscheidung ein Veto ein, da er mit zu vielen Wachen und mit einem Schutz, den er für übermächtig hielt, unzufrieden war.

Alles stand auf dem Spiel, der Tod des alten Mannes wäre eine Katastrophe für die Vierte Internationale gewesen, die damals unter den Hammerschlägen der unvermeidlichen Repression des Zweiten Weltkriegs litt.

Zu diesem Zeitpunkt lebten etwa acht oder neun Menschen dauerhaft in dem Haus, darunter Trotzki, Natalja, ihr Enkel Wsewolod Platonowitsch Wolkow, die Rosmers und andere. Manchmal hielten sich bis zu zwanzig Personen dort auf. Normalerweise gab es etwa vier Wachen.

Ramón Mercader

Nach dem Scheitern des Pferd-Netzwerks wurde ein zweiter Versuch gestartet. Die GPU wandte sich an Ramón Mercader, um die wichtigste Aufgabe von allen zu erledigen. Es war klar, dass Cárdenas (mexikanischer Präsident 1934 – 1940) in der Frage der Abschiebung Trotzkis nicht umkippen würde, und die Kommunistische Partei war in den Skandal um den Angriff im Mai verwickelt worden, nachdem Siqueiros stolz ihre Beteiligung daran zugegeben hatte. Die GPU wandte sich an Mercader, um die Sache zu Ende zu bringen.

Mercader verbrachte viel Zeit damit, sich Trotzki zu nähern. Er war mit Sylvia Ageloff in die USA gereist, mit einem gefälschten kanadischen Pass unter dem Namen Franc Jacson. Sie heirateten und hatten vor ihrer Reise nach Mexiko gemeinsam Zeit in New York verbracht. Er wartete auf den richtigen Augenblick, wartete monatelang, reiste oft zum Haus, um sie abzuholen, ging aber nie hinein. Er behielt seine Fassade als jemand bei, der kein Interesse an Politik hatte, obwohl er immer noch ein Anhänger der Vierten Internationale war.

Er nahm Kontakt zu anderen GPU-AgentInnen auf, die nach Mexiko entsandt worden waren, um mit der mexikanischen KP zusammenzuarbeiten und das Attentat zu orchestrieren. Ramón Mercader war nicht aktiv in die Kommunistische Partei Mexikos involviert, seine Undercover-Identität bot ihm Zeit, ohne jeglichen Druck der Polizei zu handeln. Lynn Walsh (Socialist Party, englische und walisische Sektion des CWI/Komitees für eine ArbeiterInneninternationale, KAI; vorher: Militant Tendency) schreibt 1980:

„Die Kampagne zur Vorbereitung der mexikanischen KP auf die Ermordung Trotzkis wurde von einer Reihe stalinistischer FührerInnen durchgeführt, die bereits Erfahrung darin hatten, die Befehle ihres Herrn in Moskau rücksichtslos auszuführen: Siqueiros selbst, der in Spanien aktiv gewesen war, wahrscheinlich ein GPU-Agent seit 1928; Vittoria Codovila, eine argentinische Stalinistin, die in Spanien unter [Oberst] Eitingon operiert hatte, wahrscheinlich an der Folterung und Ermordung des POUM-Führers Andrés Nin beteiligt; Pedro Checa, ein Führer der Kommunistischen Partei Spaniens im mexikanischen Exil (sein Name basierte auf einem Akronym des Wortes Tscheka); und Carlos Contreras (auch bekannt als Vittorio Vidali), der in der ,Sondereinheit‘ der GPU in Spanien aktiv gewesen war. Ihre Bemühungen wurden von dem allgegenwärtigen Colonel Eitingon koordiniert.“

Die Operation wurde von Pawel A. Sudoplatow, einem hochrangigen Offizier der GPU mit Sitz in Moskau, geleitet und vorbereitet. Er behauptete in seiner Biografie, er habe Ramón Mercader persönlich für die Durchführung des Attentats ausgewählt.

Durch Sylvia Ageloff begann Mercader die langsame und bewusste Aufgabe, sich seinem Ziel zu nähern, indem er sich zunächst bei Alfred und Marguerite Rosmer einschmeichelte. Durch kleine Gefälligkeiten, z. B. indem er die Rosmers herumfuhr oder Botengänge für sie erledigte, kam er seinem Ziel immer näher. Ageloff war jedoch immer sehr vorsichtig, wenn es darum ging, ihm jeglichen Kontakt mit dem Haushalt zu gestatten, wie Deutscher betont:

„Sylvia war vorsichtig genug, ,Jacson‘ [Mercader] niemals in Trotzkis Haus zu bringen – sie sagte Trotzki sogar, dass sein Besuch Trotzki unnötig in Verlegenheit bringen könnte, da ihr Mann mit einem falschen Pass nach Mexiko gekommen war. Tatsächlich wurde sein Zögern an den Türen des Hauses und sein Widerstreben hineinzukommen irgendwann von Trotzki bemerkt, der, da er ,Sylvias Mann‘ gegenüber nicht unhöflich erscheinen wollte, sagte, er solle ins Haus eingeladen werden.“

Mercader war ein geduldiger Mann und wartete seine Zeit am Rande des Trotzki-Kreises ab, um später Zugang zu ihm zu erhalten. Ageloff hegte sogar einige Bedenken gegen ihn. Als sie versuchte, ihn unter der Geschäftsadresse, die er ihr gab, zu kontaktieren, stellte sich diese als fiktiv heraus. Als sie ihn damit konfrontierte, erklärte er, er habe ihr eine alte Adresse gegeben und händigte ihr eine neue aus. Ein Freund besuchte das Objekt eines Tages und erfuhr, dass das Büro „Jacson“ gehöre. Erleichtert, dass seine neue Geschichte wahr zu sein schien, missachtete sie ihren Verdacht.

Mercader besuchte das Haus in Coyoacán zehnmal, wobei er nie versuchte, sich hineinzudrängen oder sich zu Trotzki zu weit vorzudrängen. Er näherte sich den Wachen, freundete sich mit ihnen an, und als er schließlich von den Rosmers eingeladen wurde, trank er bei zwei Gelegenheiten mit Trotzki Tee. Hansen erinnert sich an ein bestimmtes Gespräch:

„In einem Gespräch mit Jacson, an dem Cornell und ich teilnahmen, fragte Trotzki Jacson, was er von der ,Festung‘ halte. Jacson antwortete, dass alles gut arrangiert zu sein schien, aber ,beim nächsten Angriff wird die GPU andere Methoden anwenden‘. ,Welche Methoden?‘ fragte einer von uns.“

Hansen erinnerte daran, dass Mercader bei dieser Frage nur mit den Achseln zuckte.

Nach einiger Zeit machte Mercader seinen Zug. In den Monaten vor dem Angriff war er wiederholt geschäftlich in die USA zurückgekehrt. Jedes Mal, wenn er wiederkam, schien er noch verzweifelter und nervöser zu sein, und er begann auch, verschiedene Wege auszuprobieren, um Trotzki nahezukommen. Trotzki hatte ihn nie gemocht. Er fand „Jacson“ oberflächlich und abrupt, war aber bereit, ihn wegen seiner Beziehung zu Sylvia zu tolerieren. Mercader begann, ein Interesse an der Politik und den Debatten der Vierten Internationale vorzutäuschen. Er erörterte die Möglichkeit, einen Artikel zu schreiben, den er dann Trotzki bat, sich damit zu befassen. Trotzki stimmte dem zu.

Mercader kam am 20. August mit einem maschinengeschriebenen Manuskript eines Artikels ins Haus, einer Polemik gegen die dritte Lagerposition Shachtmans. Er sah Natalja im Garten und bat um ein Glas Wasser. Sie fragte ihn, ob er ihr seinen Hut und seinen Mantel aushändigen wolle, aber er lehnte ab. In seiner Hand, unter dem Mantel, umklammerte er den Eispickel, den er als Mordwaffe benutzen wollte. Er verbarg auch einen Dolch und eine Pistole, als er sich in Trotzkis Arbeitszimmer begab.

Nach dem Angriff gaben die Wachen zu, dass Vorkehrungen getroffen worden waren, um alle BesucherInnen zu durchsuchen und Trotzki nie mit einem Gast allein zu lassen, aber diese Verfahren waren nicht umgesetzt worden. In einem Interview mit Alan Woods im Jahr 2003 gab Trotzkis Enkel zu:

„ … die Vorkehrungen für Trotzkis Verteidigung waren äußerst mangelhaft. Im Augenblick der Wahrheit wurde Leo Dawidowitsch mit einem relativ Unbekannten allein gelassen, dem die Wachen im August in einem schweren Regenmantel, in dem ein Eispickel, ein langer Dolch und eine Pistole versteckt waren, in unglaublicher Weise erlaubt hatten, das Gebäude zu betreten. Die Wachen machten sich nicht einmal die Mühe, ihn zu ,filzen‘, bevor sie ihn in Trotzkis Arbeitszimmer ließen. Eine solch elementare Vorsichtsmaßnahme hätte ausgereicht, um die gesamte Mission abzubrechen. Aber diejenigen, die angeblich Trotzki verteidigen sollten, trafen nicht die elementarsten Vorsichtsmaßnahmen.“

Da nur die beiden im Büro waren, stand er hinter Trotzki. Als der alte Mann begann, den Artikel durchzulesen und Korrekturen vorzunehmen, zog er die Waffe heraus und stieß ihre Spitze gewaltsam in Trotzkis Kopf. Trotzki stieß einen lauten Schrei aus. Mercader beschrieb ihn anschließend der Polizei: „Ich nahm den ,Eispickel‘. Ich hob ihn hoch. Ich schloss meine Augen und schlug mit all meiner Kraft zu … Solange ich lebe, kann ich seinen Schrei nicht vergessen … “

Natalja beschreibt auch, wie sie einen „schrecklichen, markerschütternden Schrei“ hörte und in den Raum stürmte. Als die Wachen den Raum betraten, sahen sie, dass Trotzki Mercader zu Boden gerungen hatte. Charlie Cornell stürmte mit einer Pistole herein. Trotzki rief ihm zu: „Nein … es ist unzulässig zu töten, er muss zum Reden gezwungen werden.“ Hansen, Robins und Cornell hielten Mercader auf dem Boden fest, während die Polizei gerufen wurde. Natalja wiegte Trotzkis Kopf in ihrem Schoß, als sie versuchten, die Blutung zu stoppen. Trotzki flüsterte seiner Frau zu, dass er sie liebte, und sagte: „Jetzt ist es geschehen.“

Im Krankenhaus stand Hansen neben Trotzkis Bett. Der alte Mann rief ihn herbei und flüsterte seinem amerikanischen Genossen einige seiner letzten Worte ins Ohr. Die Worte waren langsam, schwankend und schwierig, er sprach sie auf Englisch, weil Hansen kein Russisch sprach. „Ich bin dem Tod nahe durch den Schlag eines politischen Attentäters … der mich in meinem Zimmer niedergestreckt hat. Ich kämpfte mit ihm … wir gingen hinein, sprachen über französische Statistiken … er schlug mich … Bitte sage unseren FreundInnen … ich bin mir des Sieges der Vierten Internationale sicher. Geht vorwärts!“ Natalja fragte Hansen, was ihr Mann gesagt hatte. Da er sie nicht mit etwas beunruhigen wollte, von dem er wusste, dass es wahrscheinlich Trotzkis letzte Worte sein würden, antwortete er: „Er wollte, dass ich eine Notiz über die französischen Statistiken mache“, und verließ den Raum.

Die ÄrztInnen arbeiteten hart, aber seine Wunde war zu tief und seine Jahre waren zu weit fortgeschritten. Trotzki starb am 21. August. Sein Körper wurde zwischen dem 22. und 27. August durch etwas geehrt, das einer „öffentlichen Aufbahrung“ nahekam. Etwa 300.000 Menschen kamen, um ihn zu sehen. Am 27. August wurde sein Leichnam eingeäschert. Er wollte seinen Leichnam vernichtet sehen, wie Hansen es beschreibt, so dass nur seine revolutionären Ideen übrigblieben. Schon der Gedanke an eine Mumifizierung, wie Stalin den Leichnam Lenins präparieren ließ, hätte den bekennenden Materialisten angewidert. Seine Asche wurde auf dem Gelände des Hauses in Coyoacán beigesetzt, dem Ort, der fast ein Gefängnis gewesen war, aber auch sein endliches Zuhause in den letzten Jahren seines Lebens.

Damit hatten die StalinistInnen den Mann niedergeschlagen, der sein ganzes Erwachsenenleben der Revolution gewidmet hatte. Den jungen Revolutionär, der Lenin am frühen Morgen aufgeweckt hatte, als er zum ersten Mal nach London kam, der während der Revolution von 1905 im Alter von 25 Jahren zum Vorsitzenden des ersten Petrograder Sowjets gemacht worden war. Er hatte für die Revolution drei Perioden Gefängnis und Exil erleiden müssen. Er war der populärste Redner der Bolschewiki unter dem Proletariat bei großen Versammlungen im Cirque Moderne in Petrograd 1917. Er leitete auch das Militärische Revolutionskomitee, das den Sturz der Provisorischen Regierung organisierte und die Losung Lenins verwirklichte: „Alle Macht den Sowjets!“

Trotzki hatte die Bildung der Roten Armee beaufsichtigt und ihre Verteidigung der Revolution gelenkt, als sie die vereinten Kräfte der ImperialistInnen und der Weißen Armeen besiegte. Während der Revolution und zum Zeitpunkt des BürgerInnenkriegs waren Lenin und Trotzki sich so nahe, dass während des größten Teils eines Jahrzehnts, wenn FeindInnen und FreundInnen von der Oktoberrevolution und dem jungen Sowjetstaat sprachen, sie sich immer auf Lenin und Trotzki bezogen. Dennoch war Trotzki das prominenteste Opfer der bürokratischen Degeneration der Russischen Revolution und erklärte eine unnachgiebige Opposition gegen Stalin, den er als den „Totengräber der Revolution“ bezeichnete und später als Kain, den Mörder seines Bruders, beschrieb.

Für diese Opposition bezahlte er mit seinem Leben, aber auch seine Kinder und viele seiner FreundInnen und GenossInnen. Zu seiner von „Kain Stalin“ getöteten Familie gehörte auch seine erste Frau Alexandra Sokolowskaja, die ihn 1897 für den Marxismus gewonnen hatte und 1938 erschossen wurde. Dann gab es seinen unpolitischen Sohn Sergei, der 1937 erschossen wurde, und Trotzkis engsten politischen Mitarbeiter, seinen anderen Sohn, Leo Sedow, der im Februar 1938 mit ziemlicher Sicherheit vom NKWD in einer Pariser Klinik ermordet wurde. Zu seinen jungen politischen KollaborateurInnen in den 1930er Jahren gehörten Erwin Wolf, der 1937 auf einer Mission in Spanien ermordet wurde, und Rudolf Klement, der Sekretär der Vierten Internationale, der im Juli 1938 in Paris ermordet wurde, als er die Gründungskonferenz der Vierten Internationale vorbereitete.

Die SWP organisierte am 28. August ein Treffen in New York. Cannon hielt eine Rede, die von dem tiefen Gefühl um den Verlust ihres politischen Führers und Leiters geprägt war und in der er die festeste Überzeugung der FührerInnen der Vierten Internationale von der Richtigkeit und Gerechtigkeit ihrer Sache darlegte. Cannon erklärte, wie wichtig die Ideen waren, für die Trotzki kämpfte:

„Er erklärte sie uns viele, viele Male. Einmal schrieb er: ,Nicht die Partei macht das Programm, sondern das Programm macht die Partei‘. In einem persönlichen Brief an mich schrieb er einmal: ,Wir arbeiten mit den korrektesten und mächtigsten Ideen der Welt, mit unzureichenden zahlenmäßigen Kräften und materiellen Mitteln. Aber richtige Ideen erobern auf lange Sicht immer die notwendigen materiellen Mittel und Kräfte und stellen sie sich selbst zur Verfügung‘.“

Cannon fuhr fort und verwies auf die Kontinuität des revolutionären Denkens von Marx, über Lenin bis hin zu Trotzki und zur gegenwärtigen Vierten Internationale:

„Wollen Sie eine konkrete Veranschaulichung der Macht der marxistischen Ideen? Denken Sie nur daran: Als Marx 1883 starb, war Trotzki erst vier Jahre alt. Lenin war erst vierzehn Jahre alt. Keiner von beiden konnte Marx oder irgendetwas über ihn wissen. Dennoch wurden beide durch Marx zu großen historischen Persönlichkeiten, weil Marx Ideen in der Welt verbreitet hatte, bevor sie geboren wurden. Diese Ideen lebten ihr eigenes Leben. Sie prägten das Leben von Lenin und Trotzki.“

Mit Absicht sprach Cannon über seinen Glauben an die Zukunft, über die Hoffnung, die er und die anderen RevolutionärInnen in die jüngeren Generationen setzten:

„Ebenso werden die Ideen Trotzkis, die eine Weiterentwicklung der Ideen von Marx sind, uns, seine JüngerInnen, die ihn heute überleben, beeinflussen. Sie werden das Leben weitaus größerer JüngerInnen prägen, die noch kommen werden, die Trotzkis Namen noch nicht kennen. Einige, die dazu bestimmt sind, die größten TrotzkistInnen zu werden, spielen heute auf den Schulhöfen. Sie werden von Trotzkis Ideen genährt werden, wie er und Lenin von den Ideen von Marx und Engels genährt wurden.“

Das Schicksal von Mercader

Mercader wurde für zwanzig Jahre ins Gefängnis gesteckt. Die mexikanischen Behörden waren unglücklich über russische AttentäterInnen, die in ihrem Land operierten, und wollten an ihm ein Exempel statuieren. Seine Mutter, selbst eine Schlüsselagentin der GPU in Spanien, die mit der Geheimpolizeieinheit in Verbindung stand, die auf die „Liquidierung von TrotzkistInnen“ spezialisiert war, erhielt eine Medaille, ebenso wie Mercader, als er schließlich nach Osteuropa zurückkehrte.

Eitingon und andere planten den Versuch, Mercader 1944 aus dem Gefängnis auszubrechen, wie aus den Akten der Nationalen Sicherheitsbehörde hervorgeht. Dieser Versuch hatte offensichtlich keinen Erfolg. Als er schließlich 1960 freigelassen wurde, flog er nach Havanna, wo er von Castros neuer Regierung willkommen geheißen wurde. Danach flog er in die UdSSR und wurde mit einer Medaille ausgezeichnet, dem „Helden der Sowjetunion“. Den Rest seines Lebens lebte er zwischen Osteuropa und Kuba. Celia Hart, eine Marxistin, die sich nach den 1960er Jahren sowohl mit der Kubanischen Revolution als auch mit dem Trotzkismus identifizierte, war besonders entsetzt über die Verbindung von Mercader mit ihrer revolutionären Heimat. „Ich kann nachts immer noch nicht schlafen, wenn ich daran denke, dass Mercader nach dem Triumph der Kubanischen Revolution in mein Land kam“.

Die StalinistInnen hatten eine Spur des Todes hinterlassen, um zu Trotzki zu gelangen, um zu versuchen, seine Ideen und seine kleine Organisation zu zerschlagen: zwei seiner Kinder, seine Ex-Frau, sieben seiner SekretärInnen und schließlich den alten Mann selbst. Dabei wurden die Zehntausenden von linken Oppositionellen, die in Russland ihr Leben verloren, nicht einmal mitgezählt. Nicht mitgezählt sind auch die vielen hundert TrotzkistInnen, die im kommenden Zweiten Weltkrieg ihr Leben verlieren würden, getötet entweder von den FaschistInnen oder den StalinistInnen.

Es ging darum, dass die Bewegung um Trotzki keine Sekte oder eine einfache Gruppe von „AnhängerInnen“ war, die in ihn verliebt waren, als sei er eine Berühmtheit. Sie waren kritisch denkende MarxistInnen, die in Trotzkis Kampf gegen Stalin die Fortsetzung einer marxistischen Politik angesichts einer ungezügelten politischen Reaktion sahen. Der Verlust Trotzkis war ein schwerer Schlag, ja der schwerste, den man sich vorstellen kann, da er der letzte Überlebende der großen Generation klassischer MarxistInnen und RevolutionärInnen war. Aber es war nicht der tödliche Schlag, den sich Stalin erhofft hatte, es war nicht der Gnadenstoß für die Vierte Internationale, so winzig und verfolgt sie auch war.

Während die StalinistInnen jahrzehntelang an der Spitze von Massenparteien und sogar siegreichen bürokratischen Revolutionen in China, Vietnam und Kuba aufblühten, stellten sie die TrotzkistInnen als eine pathetische Irrelevanz dar. Auch AkademikerInnen und westliche KommentatorInnen schlossen sich diesem Urteil an. Wenn Trotzki und die TrotzkistInnen jedoch wirklich keine Gefahr für Stalin gewesen waren, warum hatte er dann seit 1936 alles getan, was er konnte, um zu versuchen, sie durch die politischen Prozesse zu diffamieren, und um dann 1937 zu einer Politik der physischen Liquidierung überzugehen? War es einfach die Paranoia eines geistesgestörten Tyrannen? Wenn ja, warum setzten Stalins NachfolgerInnen diese Diffamierung des Trotzkismus fünfzig Jahre lang fort? Warum verlieh Leonid Breschnew 1961 Ramón Mercader bei einer Zeremonie im Kreml den Goldenen Stern des Lenin-Ordens für die Ausführung einer „besonderen Aufgabe“, der Ermordung Trotzkis?

Es war ganz einfach, weil Trotzki den revolutionären Geist und das befreiende Programm der bolschewistischen Partei, der Oktoberrevolution, der ersten Jahre des Sowjetstaates und der Kommunistischen Internationale repräsentierte. Er repräsentierte Zehntausende von linken Oppositionellen, die gegen die bürokratische Konterrevolution Stalins kämpften und bei dem Versuch umkamen. Nicht zuletzt hatte er das Erbe Lenins in den Kämpfen gegen den Faschismus während der 1930er Jahre weiterentwickelt.

Verkörpert in der 1938 erfolgten Gründung der Vierten Internationale und ihrem Programm „Der Todeskampf des Kapitalismus“ bleibt diese Tradition trotz der politischen Verzerrungen und Verbrechen, die viele so genannte TrotzkistInnen gegen sie begangen haben, ein wertvolles Vermächtnis für all jene, die in den kapitalistischen Krisen, Kriegen und Revolutionen des 21. Jahrhundert revolutionäre Parteien und eine revolutionäre Internationale wieder aufbauen wollen.