Wurzeln des Antisemitismus

Teil 1 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 4, Podcasts der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Katjuscha und Lina und der Frage: Wie vollzog sich die Geschichte des Judentums und des Antisemitismus (aus einer historisch materialistischen Perspektive)?

In der heutigen Folge gehen wir den historischen Wurzeln des Antisemitismus auf die Spur und beschreiben die Veränderung vom mittelalterlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus anhand gesellschaftlicher sowie ökonomischer Entwicklungen. In einer weiteren Folge versuchen wir, uns der Massenpsychologie des Antisemitismus zu nähern und gehen auf Zusammenhänge zwischen Psyche und Gesellschaft ein. Wie sich der Antisemitismus heute zeigt und welche Ansätze zum Kampf gegen ihn derzeit existieren und für welche Positionen wir als Gruppe Arbeiter:innenmacht eintreten, wird Gegenstand der letzten Folge unserer Reihe zu Antisemitismus werden.

Unsere Auseinandersetzung mit dem Thema ist sicherlich nicht erschöpfend, aber bietet Ansatzpunkte, um Antisemitismus im Kern verstehen und Ansätze zum Kampf gegen ihn entwickeln zu können.

Aber beginnen wir zunächst mit dem Anfang. Die jüdische Geschichte, deren Ursprung zu großen Teilen hinter Mythen verborgen liegt, ist schon seit vielen Jahrhunderten eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Umsiedlung. In der Antike werden Juden/Jüdinnen durch die römische Eroberung aus Judäa vertrieben. Im europäischen Mittelalter hetzen Kleriker gegen Juden/Jüdinnen und wütende Mobs verfolgen diese. Mit Beginn des Kapitalismus bahnt sich eine vernichtende Form der Verfolgung an, die in die bisher historisch singuläre Katastrophe mündet: dem millionenfachen industriellen Massenmord an Juden/Jüdinnen durch Nazideutschland.

Es ist eine Geschichte von Leid, Schrecken und Grausamkeiten. Dennoch wandeln sich die Formen der Verfolgung, stets eingebettet in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte. Um die Entwicklung von Antisemitismus verstehen zu können, ist es relevant, die Entwicklung der menschlichen Zivilisation von damals bis heute als eine von Klassenkämpfen zu begreifen und die ökonomische Funktion von Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Formen der Klassengesellschaft zu analysieren. Wir wollen also eine historisch-materialistische Analyse der jüdischen Geschichte vornehmen.

Viele Ansätze tun dies nicht. Sie beschreiben jüdische Geschichte aus einer idealistischen Betrachtungsweise heraus. Idealismus begreift die Idee als Ursprung für die Wirklichkeit. Im Gegensatz zum Materialismus, der den Ursprung der Wirklichkeit in der Materie sieht. Also in dem, was den Menschen umgibt und dadurch dessen Bewusstsein formt. Damit sind die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Produktionsverhältnisse gemeint, die das vorherrschende Bewusstsein prägen.

Natürlich gibt es eine beidseitige Wechselwirkung zwischen Ideologie und Materie. Der dialektische Materialismus begreift aber letztere als das Grundlegende.

Das ist jetzt etwas abstrakt, wird aber anschaulich bei der Untersuchung der Frage, wie das Judentum trotz der vielen Widerstände, Vertreibungen und Zerstreuung über so viele Jahrhunderte erhalten bleiben konnte.

Eine gängige Antwort auf diese Frage liefern Erzählungen über die Diaspora. Diese besagen, dass der Ursprung allen Unheils, das über das Juden und Jüdinnentum gekommen ist, in der Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Judäa durch die Römer:innen ab dem 1. Jh. unserer Zeitrechnung, läge.

Tatsächlich konnte sich Judäa, eine Region auf dem Gebiet des heutigen Israels und Palästinas, damals als eigenes Königreich behaupten und existierte über fast einhundert Jahre als jüdisches Reich mit gewisser Unabhängigkeit. Dieses fand ein jähes Ende durch die Annexion als römische Provinz. Es kam zum sogenannten jüdischen Krieg, in dessen Zuge Jerusalem erobert und der Tempel zerstört wurde. Die Unterwerfung unter das römische Reich und die Verwaltung durch einen Statthalter führte zu religiöser Unterdrückung, Aufständen und verstärkter Auswanderung.

Der Mythos der Diaspora lautet: Judäa unterschied sich vor der Zerstörung Jerusalems durch das römische Reich nicht von anderen „Nationen“ (z. B. der römischen oder griechischen). Durch die Kriege zwischen Römer:innen und Juden/Jüdinnen wurden die Juden/Jüdinnen aus ihrer ursprünglichen Heimat (Israel/Palästina) vertrieben und in alle Himmelsrichtungen zersprengt. Juden/Jüdinnen mussten fortan in der Diaspora von Ort zu Ort wandern – zusammengehalten durch das starke Band ihrer religiösen Gemeinschaft und mit der ewigen Hoffnung, in die ursprüngliche Heimat zurückzukehren.

In dieser Beschreibung wird also die „nationale Idee“ und die „Kraft des eigenen Willens“ als Erklärung für den Erhalt des Judentums herangezogen.

Im Gegensatz zu dieser idealistischen Erklärung würden wir die Wirkrichtung in umgekehrter Richtung analysieren und sagen, dass das starke religiöse Band und die kulturelle Verbundenheit der zerstreuten Juden/Jüdinnen aus einer materiellen Notwendigkeit heraus entstand. Also deren Folge ist und nicht deren Ursprung. Aber dazu später mehr.

Hier ist noch anzumerken, dass wir, wenn wir von Nation sprechen, nicht die Nation im heutigen Sinne meinen. Weder Römer:innen, Griech:innen noch Juden/Jüdinnen waren in der Antike eine Nation im modernen Sinne. Diese entstand erst später im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft.

Zunächst mal zur Frage, warum es überhaupt zur Diaspora kommt, was übersetzt nicht nur Vertreibung, sondern auch Zerstreuung bedeutet. Die Übersetzung aus dem Griechischen zeigt bereits, dass es sich hierbei nicht nur um eine erzwungene Vertreibung, sondern auch um eine Auswanderung aus anderen Gründen handeln kann.

Dazu wollen wir uns vorerst genauer die jüdische Geschichte in der Antike ansehen. Es ist sicherlich richtig, dass die Zerstörung des jüdischen Zentrums durch das römische Reich zur verstärkten Auswanderung führte, wobei die Vertreibung vor allem die herrschenden Klassen betraf. Jüdische Bauern/Bäuerinnen wurden demgegenüber unter römischer Herrschaft oftmals zur Assimilierung gezwungen.

Historische Quellen belegen aber vor allem, dass auch schon vor der Niederlage in den jüdischen Kriegen ein Großteil der Juden und Jüdinnen in der Diaspora, verteilt um das Mittelmeer, lebte. Warum? Das historische Judäa liegt in der Region um Jerusalem, besteht hauptsächlich aus Wüste, die sich zwischen Jerusalem und dem Toten Meer erstreckt, und dem Jerusalem umgebenden Bergland. Da das Bergland, was den Juden und Jüdinnen zur Verfügung stand, nicht besonders fruchtbar war, reichte es schlicht nicht aus, um dem Volk die Lebensgrundlage zu sichern. Es ist also anzunehmen, dass Juden/Jüdinnen schon weit vorher darauf angewiesen waren, ihre Existenz anderweitig zu bestreiten.

Ebenso liegt das damalige Judäa im Einflussgebiet zweier zentraler Fernhandelsrouten, die ihren Ursprung lange vor unserer Zeitrechnung haben. Der via maris, welcher vom Nildelta über die israelische Küstenebene nach Damaskus führt, und der Weihrauch- und Königsstraße, welche südlich der Arabischen Halbinsel beginnt und sich durch Jordanien nach Damaskus zieht. Es ist also naheliegend, dass Juden/Jüdinnen seit jeher im Handel tätig waren, um ihre Existenz zu sichern. Sie lebten vom Fernhandel, wo hauptsächlich Luxusgüter wie Metall, Glas, Olivenholz und Edelsteine gehandelt wurden, und vom Regionalhandel, wo es vor allem um Waren des alltäglichen Gebrauchs wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Gewürze, Kleidung ging.

Eine gewisse Zerstreuung der Juden und Jüdinnen ging automatisch mit ihrer Tätigkeit im Fernhandel einher, da Güter, die an einem Ort gekauft wurden, an einen anderen Ort transportiert werden mussten, um sie dort weiter zu verkaufen. Juden/Jüdinnen breiteten sich entlang der Handelswege aus und ließen sich in zahllosen Städten in Europa und Asien nieder. Die Handelsrouten und die Einbindung von Juden/Jüdinnen in den Handel bestanden schon mehr als tausend Jahre vor der römischen Annexion. Der ursprüngliche Grund für die Auswanderung der Juden und Jüdinnen muss zunächst also in den geographischen Gegebenheiten Palästinas gesucht werden.

Die Frage, wie das Juden und Jüdinnentum trotz der großen räumlichen Verteilung über so lange Zeit erhalten bleiben konnte, wurde damit aber noch nicht beantwortet. Dafür muss man genauer untersuchen, wie Fernhandel in der vorkapitalistischen Gesellschaft funktionierte. Im Gegensatz zur heutigen vernetzten und globalisierten Welt war es damals äußerst schwierig, Handel über so weite Distanzen zu organisieren.

Es benötigte spezialisierte Schichten der Bevölkerung, die über Sprachkenntnisse und Wissen über Handelswege verfügten und Beziehungen in andere Städte hatten. Diese Funktion nahmen unter anderem Juden/Jüdinnen ein. Für das Aufblühen der Handelstätigkeit war es förderlich, dass Juden/Jüdinnen über dieselbe Sprache und eine einheitliche Schrift verfügten, um Wissen und Erfahrungen weitergeben zu können. Es ergab also Sinn, dass die ökonomische Funktion des Handels durch eine Bevölkerungsgruppe aus einem Kulturkreis ausgefüllt wurde. Abraham Léon, ein jüdischer Trotzkist, der in Auschwitz ermordet wurde, beschreibt in seinem Buch „Die jüdische Frage“ von 1942, dass hier eine Gesellschaftsschicht von einer Bevölkerungsgruppe gebildet wurde – was nichts Ungewöhnliches für vorkapitalistische Gesellschaften ist.

Léon stellt dar, dass sich in der Diaspora große Teile der jüdischen Bevölkerung aber auch völlig in die vorgefundene Kultur integriert haben. In Nordafrika beispielsweise seien viele Juden und Jüdinnen in der Landwirtschaft tätig gewesen, was zur vollständigen Eingliederung in die dort bestehende Gesellschaft geführt habe. Trotz der zunächst vorhandenen religiösen Unterschiede sei es unter anderem durch Heirat über mehrere Generationen hinweg zu einer kulturellen Anpassung gekommen. Juden und Jüdinnen haben hier aufgehört, eine eigenständige Schicht zu bilden und sind – wie auch die übrige Bevölkerung dort – Bäuer:innen geworden. Ein isoliertes gesellschaftliches Leben sei hauptsächlich in den Städten, in welchen Juden und Jüdinnen mit Handel beschäftigt waren, bestehen geblieben.

Das Weitertragen der jüdischen Kultur und Religion hat also eine bestimmte ökonomische Funktion.

Generell kann man sagen, dass die Handelstätigkeiten in der Antike bis hin ins Mittelalter für viele Juden/Jüdinnen relativen Reichtum brachten.

Trotz Vertreibungen gab es relativ stabile Lebensbedingungen, sodass die jüdische Kultur aufblühen konnte. In unterschiedlichsten Räumen der Welt entwickelten sich verschiedene Ausprägungen jüdischer Religion und Identität. In Europa lebten die Aschkenasim, auf der Iberischen Halbinsel die Sephardim, im arabischen Raum die Mizrachim. Nur eine Minderheit lebte in Palästina und niemand hat im Traum daran gedacht, dorthin zurückzukehren.

Es war aber auch nicht alles rosarot. Die Wurzeln von Judenhass reichen bis in die Antike zurück. Hier keimte Hass auf, der sich später mit Durchsetzung des Christentums zum mittelalterlichen Antijuadismus entwickelte.

Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, wollen wir uns die vorherrschenden gesellschaftlichen Gegebenheiten im Feudalismus des mittelalterlichen Europas genauer anschauen. Ein Großteil der damaligen Bevölkerung lebte von den Erzeugnissen der Landwirtschaft. Die Bauern/Bäuerinnen produzierten alles, was zum Leben nötig war, selbst. Sie verbrauchten den Großteil ihrer Erzeugung, der Rest wurde getauscht. Getreide wird gegen Leinen getauscht, Hosen gegen Stühle und Schuhe gegen Messer. Es gab natürlich schon Geld in Form von Münzen, das zur Erleichterung des Tausches eingesetzt wurde. Es war jedoch wesentlich auf seine Funktion als Tauschmittel reduziert. Abgaben, die die Bauern/Bäuerinnen an die Grundherren abtreten mussten – das so genannte Lehen – wurden zunächst in Natural-, später in Geldform getätigt. Geld spielte aber noch eine untergeordnete Rolle. Generell war es ein mehr oder weniger abgeschlossener Wirtschaftskreislauf, der wenig Fragen aufwarf. Man kennt den Schuster von nebenan und weiß, wo das Getreide gemahlen wird.

Der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ist zunächst auf ihre verbreitete Funktion als Händler:innen zurückzuführen. Die ersten Kaufleute, die unbekannte Waren aus fernen Regionen brachten, wurden immer als Fremde wahrgenommen. Generell stieß jegliche wirtschaftliche Aktivität, die nicht direkt mit Landwirtschaft und der Verarbeitung ihrer Erzeugnisse zu tun hatte, auf Ablehnung. Es war schwierig, diese zu begreifen. Wie können Kaufleute, ohne eigene Produkte herzustellen, ihren Lebensunterhalt bestreiten? Wie ist es möglich, dass sie ohne schwere körperliche Arbeit gewissen Reichtum erwirtschaften können? Woher kommt das Geld? Und warum verarmen Menschen, die in Kontakt mit Geldwirtschaft kommen?

Durch ihre Tätigkeit als Händler:innen wird auf Juden und Jüdinnen schon damals eine Verkörperung des fremden und unheimlichen Geldes projiziert.

Im Verlauf des europäischen Mittelalters veränderte sich die ökonomisch vorteilhafte Situation für Juden und Jüdinnen und mit ihr nimmt die Gewalt gegen sie zu.

Es kommt, vor allem in Westeuropa, zu einer Periode intensiver wirtschaftlicher Entwicklung. Wir sind gerade im 11. Jh. unserer Zeitrechnung und die Landwirtschaft ist nach wie vor der dominanter Wirtschaftszweig. Es kommt zu Innovationen (wie z. B. der Ausbreitung der Dreifelderwirtschaft), die den Ertrag erheblich steigern konnten. Auch in anderen Wirtschaftsbereichen kam es zu Produktivitätssteigerungen wie zum Beispiel im Textilhandwerk durch Verbreitung des Trittwebstuhls. Die günstigen Bedingungen führten zu einem breiten Bevölkerungswachstum. Bauernsiedlungen werden zu Dörfern, Dörfer zu Städten, die Städte zu Handelszentren, in denen die Produkte getauscht werden.

Für Juden und Jüdinnen, die bis dahin ihre Existenz zu großem Teil durch Handelstätigkeit bestritten, bedeutete diese Entwicklung nichts Gutes. Bis dahin hatten sie eine gewisse Sonderrolle mit großer Bedeutung inne. Teilweise waren sie die einzige wirtschaftliche Verbindung zwischen Europa und Asien. Das Entstehen einer städtischen Industrie und das Aufkommen einer einheimischen Handelsklasse führten zu einer verstärkten Konkurrenzsituation. Juden und Jüdinnen wurden aus dem Handel gedrängt und entwickelten sich zunehmend zu einer Randschicht.

Mit dem expandierenden Binnenhandel nahm auch die Bedeutung der Geldwirtschaft stetig zu. Es wurde vermehrt Geld eingesetzt, um den Handel zu organisieren. Zunehmend nicht mehr nur im Fern-, sondern auch im Regionalhandel. Da es Juden und Jüdinnen häufig nicht mehr möglich war, durch Handelstätigkeiten ihre Existenz zu sichern, blieb ihnen die Nische des Geldverleihs. Dieser wurde statt spezialisiertem Handwerk und Handel zur Haupteinnahmequelle.

Dass Geldverleiher:innen, die notgedrungen auch Schuldeneintreiber:innen sind, nicht die beliebtesten Teile der Bevölkerung darstellen, ist naheliegend. Mit dem Verbot seitens der Kirche, das Christ:innen den Geldverleih untersagte – das sogenannte Zinsverbot v. a. aus dem Alten Testament – besaßen Juden und Jüdinnen das Monopol für Kreditgeschäfte und wurden zu gesuchten und gehassten Geldverleiher:innen.

Im Unterschied zum Kapitalismus, wo Kredite bestimmend als Investition in gewinnbringende Produktion gesteckt werden, wurden sie im Feudalismus hauptsächlich zwecks Konsums vergeben. Sie wurden also nicht benutzt, um aus Geld noch mehr Geld zu machen, sondern ausgegeben für Kriegstätigkeiten, Prestigebauten und anderweitigen Konsum der Herrschenden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kredite nicht zurückbezahlt werden konnten, war dabei relativ hoch. Um sich abzusichern, mussten hohe Zinsen verlangt werden, was von den Schuldner:innen als „Wucherzinsen“ wahrgenommen wurde.

In dieser Zeit entstanden Stereotype von „gierigen Juden/Jüdinnen“. Es entwickelte sich das Zunftwesen, das Nicht-Christ:innen von handwerklichen Berufen ausschloss. Für Juden/Jüdinnen blieben nur noch sehr spezifische Handwerkstätigkeiten und der Geldverleih als Einnahmequelle. Ihnen wurde verboten, Waffen zu tragen und bestimmte Ämter auszuführen. Jüdisches Kapital geriet vermehrt in Konflikt mit allen Klassen der Gesellschaft. Es folgte eine Periode grausamster Verfolgungen und blutiger Aufstände.

Die Hetze gegen Juden/Jüdinnen wurde häufig von den Feudalherr:innen selbst initiiert, da diese die Hauptabnehmer:innen der Kredite waren. Adelige und Kleriker waren von Schulden geplagt und teilweise nicht mehr zahlungsfähig. Daher kam ihnen die Vertreibung teilweise sogar gelegen. Von der Kirche wurde die Hetze gegenüber Juden/Jüdinnen legitimiert. Sie wurden als „Mörder:innen Christi“ bezeichnet und als Verräter:innen und Verdammte verleumdet. Mit Beginn der Kreuzzüge kam es in Mitteleuropa auch zu den ersten großen Pogromen, die sich dann in schlimmer Regelmäßigkeit wiederholten. Beim Kreuzzugwahn wurden auch Juden/Jüdinnen zum Teil der Feindeswelt. Mythen über Brunnenvergiftungen, „teuflische“ Rituale und Kinderopfer wurden ausgeschmückt und verbreitet.

Gleichzeitig bestand eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Herrschenden und Juden/Jüdinnen. Die Zentralgewalten benötigten die Kredite zur Finanzierung ihrer Herrschaft. Daher wurden Erklärungen erlassen, die Juden und Jüdinnen unter besonderen Schutz stellten. Solche Schutzprivilegien wurden beispielsweise von den Königen Englands, Frankreichs und vom deutschen Kaiser erlassen. Sie drohten hohe Strafen für Gewalt gegen Juden und Jüdinnen an. Auf der anderen Seite durften sich Juden/Jüdinnen nicht selbst verteidigen und mussten für den Schutz hohe Steuern zahlen.

Die Hetze gegenüber Juden und Jüdinnen wird teilweise von den Herrschenden entfacht und Pogrome werden entfesselt. Auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit bieten diese zeitweise aber auch Schutz. Der mittelalterliche Antijudaismus geht also nicht bis hin zur Forderung der Vernichtung von Juden/Jüdinnen und ist geprägt von religiösen Argumentationen.

Mit dem Aufstreben des Kapitalismus ändert sich die gesamte gesellschaftliche Situation und damit die gesellschaftliche Stellung von Juden und Jüdinnen. Der Hass gegen sie entwickelt eine neue Qualität – den modernen Antisemitismus.

Der bisher vorherrschende christliche Antijudaismus, der auf kulturell-religiöser Tradition aufbaut, ist nicht gleichzusetzen mit dieser neuen Form, die sich mit dem Kapitalismus entwickelt. Das verbindende Element der beiden Formen des Antijudaismus bzw. Antisemitismus besteht darin, dass beide als Ersatzaufstände gegen die jeweils bestehende Herrschaftsform begriffen werden können. Der Wunsch der Unterdrückten, gegen die Unterdrückung aufzubegehren, wird nicht gegen die Herrschenden gerichtet, sondern auf Juden und Jüdinnen projiziert. Das trennende Moment liegt in der Art der Projektion. Im christlichen Antijudaismus wird auf Juden/Jüdinnen die Verkörperung des Teufels projiziert. Sie werden als etwas Teuflisches, in diesem Sinne Antichristliches, dargestellt. Im modernen Antisemitismus werden die schädlichen Seiten des Kapitalismus auf Juden und Jüdinnen projiziert. Sie werden mit dem „raffenden Kapital“ assoziiert. Aber dazu später mehr.

Über die Ersatzaufstände werden wir in Bezug auf Mario Erdheim und die sogenannten Freudomarxist:innen auch im zweiten Teil unserer Podcastreihe noch genauer eingehen.

Zurück zu den gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten zu Beginn des Kapitalismus. Mit der Industrialisierung in Europa beginnt auch ein grundlegender Wandel der bestehenden Klassengesellschaft. Feudale Strukturen sterben ab und neue Klassen entwickeln sich: die Kapitalist:innenklasse und das Proletariat.

Kleine Handwerker:innen werden durch die industrielle Produktion verdrängt. Sie können mit der Konkurrenz durch die Massenfertigung nicht mithalten. Bauern und Bäuerinnen werden von ihrem Land vertrieben und ihres Eigentums beraubt, das zunehmend zentralisiert wird. Diese Entwicklung wird als Bestandteil der ursprünglichen Akkumulation bezeichnet.

Die Bevölkerung wird ihrer Mittel zum Lebensunterhalt beraubt. Menschen verlieren ihre Produktionsmittel. Sie werden von ihrer Subsistenzwirtschaft losgerissen und müssen als freie Proletarier:innen ihre Arbeitskraft in den Fabriken verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Es kommt zu einer Migrationsbewegung vom Land in die Städte, aber auch zur Auswanderung. Die allgemeine Auswanderungsbewegung verbindet sich mit der jüdischen. Denn auch für Juden/Jüdinnen hat die Auflösung feudaler Strukturen weitreichende Folgen. Diese waren – wie wir vorher gehört haben – bisher hauptsächlich im Handel, Kreditwesen oder im spezialisierten Handwerk tätig.

Die zunehmende Bedeutung von Fernhandel und die Entwicklung der europäischen Hafenstädte zu zentralen Umschlagplätzen führt zur Entstehung einer einheimischen Handelsbourgeoisie. Auch erfordert die neue kapitalistische Produktionsweise andere Formen der Finanzierung. In Italien entsteht im 13. Jahrhundert das Bankenwesen, das sich nach ganz Europa ausweitet. Auch im deutschsprachigen Raum tritt mit den Fuggern eine mächtige Bankiersfamilie auf.

Diese Entwicklung stellt eine Bedrohung der Lebensgrundlage und eine zunehmende Konkurrenz für jüdische Kaufleute und Geldverleiher:innen dar. Ihre besondere Rolle in der Gesellschaft beginnt sich zunehmend aufzulösen. Sie integrieren sich in die sich entwickelnden Klassen. Einige Juden und Jüdinnen, die es geschafft haben, eigenen Reichtum anzuhäufen, schaffen es – durch den Erwerb von Produktionsmitteln –, in der Kapitalist:innenklasse aufzugehen. Sie bleiben Kaufleute oder werden zu Industriellen in den großen Industrie- und Handelszentren. Juden und Jüdinnen, die in Folge dieser Entwicklung ihre Lebensgrundlage verlieren oder auch schon vorher verarmt waren, sind gezwungen, gegen Lohn in den Fabriken zu arbeiten. Sie werden Teil der Arbeiter:innenklasse und schuften vor allem in der Konsumgüterindustrie.

Diese Entwicklung läuft keineswegs einheitlich in Europa ab. Während in Westeuropa die Industrialisierung schnell voranschreitet und sich Juden und Jüdinnen in die neue Klassenstruktur einfügen, läuft in Osteuropa die Entwicklung des Kapitalismus stockend. Juden und Jüdinnen finden keinen neuen Platz und verarmen. Gab es zunächst noch eine Migrationsbewegung Richtung Osten, da hier noch länger feudale Strukturen herrschten, führt der wachsende Antisemitismus zu einer Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Osteuropa. Viele wandern nach Westeuropa oder in die noch junge USA aus.

Der aus dem Mittelalter kommende Antijudaismus verbindet sich mit der Krise des Feudalsystems. Der Übergang zum Kapitalismus bringt Hunger, Verarmung und Elend mit sich. Juden/Jüdinnen werden verstärkt zu Sündenböcken für die Krisen der Zeit. Es werden Ursachen für das allgemeine Elend gesucht und in stereotypen Zuschreibungen zu Juden und Jüdinnen gefunden. Diese seien „gierig“ und „beuten das Volk aus“. Es kommt zu schlimmen Pogromen und Verfolgungen. Juden und Jüdinnen werden gezwungen, in Ghettos zu leben und charakteristische Kleidung zu tragen.

Doch woher kommt der neue Antisemitismus? Und worin besteht die neue Qualität des Hasses gegen Juden und Jüdinnen?

Im Vergleich zum Feudalismus ist das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus sehr viel schwieriger zu verstehen. Die mittelalterliche Gesellschaft beruht hauptsächlich auf der Ausbeutung der Bäuer:innen sowie der Abgaben an den Feudalherren. Bäuer:innen bewirtschaften das Land. Das daraus hervorgebrachte Produkt dient zum einen Teil der eigenen Reproduktion. Es wird hauptsächlich selbst konsumiert und ein kleiner Teil gegen andere Dinge (wie Kleidung etc.) getauscht. Ein anderer Teil muss als Grundrente – zunächst als Teil des hergestellten Produkts, später in Form von Geld – an den/die Grundherr:in abgegeben werden.

Dieses Verhältnis wird religiös verschleiert und somit politisch legitimiert. Die feudale Ordnung erscheint als natürlich und göttlich. Der Mensch ist von Natur aus ungleich. Ungleichheit erscheint daher auch als natürlich und gerecht. Trotz dieser religiösen Legitimierung ist das feudale Ausbeutungsverhältnis leichter zu begreifen als das kapitalistische. Einer besitzt Land, der andere muss Abgaben leisten, um dieses bewirtschaften zu dürfen und den Schutz des Lehnsherren zu genießen.

Im Kapitalismus ist alles etwas komplizierter, denn hier ist die Verschleierung des Ausbeutungsverhältnisses eine spezielle. Menschen verschiedener Klassen erscheinen zunächst frei und gleichberechtigt. Arbeiter:innen verkaufen scheinbar freiwillig ihre Arbeitskraft gegen einen scheinbar „gerechten Lohn“. Es besteht aber dennoch ein Ausbeutungsverhältnis. Arbeiter:innen werden nicht durch Androhung körperlicher Gewalt zur Arbeit gezwungen wie beispielsweise bei Sklav:innen. Doch sehr wohl aus ihrer ökonomischen Not heraus. Um zu überleben, müssen sie für Kapitalist:innen schuften, die sich dann einen Teil des erschaffenen Wertes aneignen. Die Arbeiter:innen selbst bekommen nur das, was sie zur Reproduktion Ihrer Arbeitskraft brauchen.

Diese gesellschaftlich-ökonomischen Prozesse werden in der Breite nicht analysiert und das gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnis nicht erkannt. Es wird systematisch verschleiert und erscheint daher auch nicht als Ausbeutung. Das erfahrene Leid wird nicht ursächlich begriffen, bleibt aber bestehen und sucht sich Ventile.

Alle Übel der Welt werden am Geld festgemacht, also rein auf der Zirkulationssphäre begriffen und auf die Zuschreibung von Schuld heruntergebrochen. Antisemitische Propaganda kann leicht an den Alltagserfahrungen der Menschen ansetzen und findet in der Assoziation von Juden/Jüdinnen und Geldwirtschaft eine willkommene Verknüpfung.

Die Unterteilung in Gut und Böse ist ein Instrument, um komplexe und schwer begreifliche Gegebenheiten zu vereinfachen und herunterzubrechen. Dieses Mechanismus’ bedient sich auch der moderne Antisemitismus. Er gibt eine Orientierung in unveränderlich gut („das gute deutsche schaffende Kapital“) und in unveränderlich schlecht („das böse jüdische raffende Kapital“) vor. Der Kapitalismus wird also nicht als Krisen produzierendes Ausbeutungsverhältnis zwischen Klassen verstanden, sondern als grundsätzlich funktionierendes System. Wären da nicht die „gierigen jüdischen Bänker:innen“. Juden und Jüdinnen werden als gierig, hinterlistig und feige dargestellt. Im Vergleich zu den „guten Deutschen“, die loyal, stark und heimattreu seien.

Statt sich gegen das System, also gegen die Kapitalist:innenklasse, zu richten, wendet der moderne Antisemitismus die Wut und Verzweiflung über das erfahrene Leid gegen Juden und Jüdinnen. In ihnen findet das Böse die Personifizierung. Juden und Jüdinnen werden mit dem Teufel assoziiert, dessen Maske man jetzt zu kennen scheint. Ängste und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung werden durch antisemitische Stereotype auf Juden und Jüdinnen projiziert, statt sich gegen das System zu richten. Was die Möglichkeit, tatsächlich Veränderung zu erreichen, vereitelt.

Besonders anfällig für solche Erklärungsansätze sind Teile der Gesellschaft, die vom Kapitalismus profitieren, aber von Krisen und großen Monopolkonzernen bedroht werden. Also vor allem kleine Unternehmen, Selbstständige und Handwerker:innen. Sie haben Ängste, abzusteigen und ihre ökonomischen Grundlagen zu verlieren.

Doch auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse kann Antisemitismus Fuß fassen, wenn die Wut gegen die Unterdrückung sich nicht mehr gegen die herrschende Klasse richten kann. Besonders die regelmäßig wiederkehrenden Krisenzeiten des Kapitalismus und die Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, bieten daher einen besonderen Nährboden für Antisemitismus.

Zugleich kann der moderne Antisemitismus nicht ohne die Entstehung von Nationen und Nationalstaaten verstanden werden, als Ausdruck kapitalistischer Herrschaft. Dafür ein kurzer Definitionsversuch. Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Dieser Begriff der Nation ist nicht deckungsgleich mit jenem der Auslegung der Tora. Hier resultierten das gemeinsame Selbstbewusstsein und die nationale Idee aus dem Glauben. Deutlich wird diese Auffassung durch die Bezeichnung der Juden und Jüdinnen als das Volk Gottes.

Die jüdische nationale Auffassung stand mit der Herausbildung von Nationalstaaten im Widerspruch.

Begriffe wie die des doppelten Nationalismus, wie sie im liberalen Judentum des 18. und 19. Jahrhunderts prägend waren, beispielsweise bei Moses Mendelssohn, waren nicht vereinbar mit dem bürgerlichen Nationalbegriff. Juden und Jüdinnen – mit der Idee der jüdischen Nation – stellten also die Herausbildung der Nationalstaaten in Frage. Nationalismus als dominante Ideologie bürgerlicher Herrschaft hat einen vereinnahmenden Anspruch und duldet kein Nebeneinander. Eine Gleichzeitigkeit von jüdischer Nationalidee und Zugehörigkeit zur bürgerlichen Nation war also nicht möglich.

Hieraus resultierten die Projektionen von Juden und Jüdinnen als „Fremdkörper“ in der Nation. Juden und Jüdinnen wurden als „parasitäres“ Volk im sonst gesunden deutschen Volkskörper verleumdet. Die Verschwörungstheorie der sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, die die angeblichen Pläne der jüdischen Weltverschwörung formulierten, sind Ausdruck einer solchen Stellung von Juden und Jüdinnen. Einerseits im Territorium ansässig, andererseits Fremde. Antisemitismus wird hier von bürgerlichen Kräften bewusst für die eigenen Ziele eingesetzt.

Wir werden an dieser Stelle noch nicht tiefer darauf eingehen, aber bereits in der frühen sozialistischen Bewegung gab es hier einen Richtungsstreit, wie der moderne Antisemitismus zu bekämpfen sei. Eine Perspektive formulierte der jüdische Frühsozialist Moses Hess, der die Notwendigkeit der politischen Emanzipation benannte, also die Gründung eines jüdischen Staates. Die andere stammte von Karl Marx, der die Bedingungen des Endes des Antisemitismus in der sozialen Emanzipation erkannte, also in der Beseitigung des Nationalstaats mitsamt der Klassengesellschaft. Und somit auch der Basis für die falschen Projektionen. Genauer werden wir darauf in der 3. Folge dieser Podcast-Reihe eingehen.

Zu einem schrecklichen Höhepunkt des modernen Antisemitismus kam es in Europa in den 1930er Jahren, als eine massive Krise des Kapitalismus wütete und Arbeitslosigkeit und Inflation den Menschen Hunger und Armut brachten. Die Arbeiter:innenbewegung konnte die Revolution aber nicht bis zum Sturz des Kapitalismus weitertragen, den Nationalstaat samt Klassenstruktur nicht beseitigen. Mit ihrem Niedergang war auch die Möglichkeit, sich zielführend gegen die Bedrohung des Kapitalismus zu wehren, verloren.

Die reaktionäre faschistische Bewegung konnte an den real werdenden Abstiegsängsten ansetzen und baute auf der sich von der Arbeiter:innenklasse abwendenden Klasse des Kleinbürger:innentums auf, um ihre Macht auszubauen. Antisemitismus wird hier bewusst eingesetzt und hat die Funktion, verschiedene Klassen ideologisch in einer Rasse aufgehen zu lassen und die „deutsche Volksgemeinschaft“ zu konstruieren, die sich gegen „innere und äußere Feinde“ verteidigen müsse. Hier sind wir also schon bei der Verschwörungstheorie par excellence angekommen: der Erzählung über die vermeintliche jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung.

Die Konsequenz dieser Ideologie sind Pogrome, Vernichtungsphantasien und Massenmord. Der Hass gegen Juden und Jüdinnen verbindet sich mit vermeintlich wissenschaftlich und biologisch argumentierten Rassentheorien und führt zu einer vernichtenden Form des Antisemitismus. Hier zeigen sich Verbindungslinien zum Rassismus auf, auch wenn beides sicherlich nicht das Gleiche ist. Die moderne Form des Rassismus entwickelte sich im Zuge der Kolonialisierung, um die schrecklichen Gräueltaten der europäischen Kolonialmächte zu legitimieren. Es entstand die Vorstellung eines „biologisch überlegenen Herrenvolkes“, das das „natürliche Recht“ habe, andere Völker zu versklaven. Eine willkommene Legitimierung, die es den Expansionsbestrebungen des europäischen Kapitalismus erlaubte, Menschen in den Kolonien zu unterdrücken und auszubeuten.

Der moderne Antisemitismus dient zwar nicht zur Beherrschung eines Gebietes, fußt aber auf derselben Konstruktion des „weißen Herrenvolkes“.

Auch reicht die „Theorie des reinen Blutes“, welche Faschist:innen benutzen, um ihre Schreckenswerke ideologisch zu legitimieren, bis in die frühe Kolonialzeit zurück. Ferdinand und Isabella, die beiden sogenannten „katholischen König:innen“, die 1492 die gesamte Iberische Halbinsel einnahmen und damit das Ende des muslimischen al-Andalus einleiteten, zwangen alle dort lebenden Juden und Jüdinnen, zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Viele jüdische Gemeinden lebten über mehrere Jahrhunderte weiter im Verborgenen. Diese wurden Ziel grausamer Verfolgungen durch die Inquisition. Es entstanden Erzählungen über die Unterwanderung der Gesellschaft durch Juden und Jüdinnen. Es wurden Abstammungslinien untersucht, um Juden und Jüdinnen zu entlarven. Es entstand die Theorie, dass Menschen „unreinen Blutes“ niemals „echten Glauben“ erlangen können. Die Inquisition fügte dem Antijudaismus also die Verschwörungstheorie der geheimen jüdischen Bünde hinzu und ist die erste europäische Institution, die rassistisch begründete Verfolgung betrieb.

Die beiden waren übrigens später die Geldgeber:innen für Kolumbus. Sie legten also den Grundstein für die spätere spanische Weltmacht und leiteten die Zeit der Kolonialisierung ein.

Aber darauf wollen wir jetzt nicht genauer eingehen und hier erstmal zum Ende kommen.

Wenn ihr Aspekte nochmal genauer nachlesen wollt, empfehlen wir euch unser Theoriejournal „Revolutionärer Marxismus“. Die 51. Ausgabe mit dem Titel „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ war die Grundlage für unsere Folge, ebenso wie der Text „Die jüdische Frage“ von Abraham Léon.

Ansonsten freuen wir uns, wenn ihr bei der nächsten Folge wieder dabei seid. In dieser wollen wir uns die psychische Welt des Antisemitismus genauer anschauen und versuchen, diese mit einer materialistischen Anschauung zu verweben, um zu verstehen, wie sich der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen zur vernichtenden Form des Antisemitismus entwickeln konnte.




Faschist:innen blockieren: Gemeinsam gegen die Naziaufmärsche in Dresden!

REVOLUTION, Aus: Widerworte #2, antikapitalistische Schüler:innenzeitung, Januar 2023, Infomail 1213, 10. Februar 2023

Auch 2023 finden vom 10. – 13.2. wieder die alljährlichen rechtsextremen Proteste in Dresden statt, die das Thema der Bombardierung dieser Stadt im 2. Weltkrieg für sich instrumentalisieren. Hierbei betreiben die Nazis offenen Geschichtsrevisionismus und nennen die Bombardierung Dresdens „den Bombenholocaust“, der 250.000 Opfer gefordert haben soll, so zumindest laut Fronttransparent vom letzten Jahr. Dabei ist die Bombardierung Dresdens ein Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat: Im Jahre 1945, am Ende des 2. Weltkrieges bombardierten britische Flugzeuge es in der Nacht zum 13. Februar. Über Jahre hinweg gab es verschiedenste Schätzungen zu Opferzahlen mit den unterschiedlichsten Ergebnissen, doch laut Ermittlungen starben bei der Bombardierung etwa 22.700 – 25.000 Menschen.

Diese Fakten interessieren die Nazis aber nicht. Sie haben mit der Bombardierung Dresdens ein Ereignis gefunden, das man mit verdrehten Fakten für sich instrumentalisieren und emotionalisieren kann. Denn das Gerede von einem angeblichen „Bombenholocaust“ relativiert schlicht und ergreifend den Holocaust, indem es einen übertriebenen Opfermythos erzeugt, der die Bombardierung Dresdens mit ihm gleichsetzt.

Doch mit diesem Thema haben es die Nazis in den letzten Jahrzehnten geschafft, rund um den 13.2. viele Rechte auf ihre Demo zu mobilisieren. Begonnen hat diese Tradition 2000 mit einem durch eine rechtsextreme Organisation initiierten „Trauermarsch“. Lagen die Teilnehmer:innenzahlen 2000 noch bei knapp 500, stiegen sie bis zu ihrem Höhepunkt im Jahre 2005 auf 6.500 an und stellten den zur damaligen Zeit größten Neonaziaufmarsch in Europa dar. In den darauffolgenden Jahren verkleinerte sich die Zahl der rechten Demonstrant:innen, auch aufgrund des Gegenprotestes, der immer präsenter wurde. Vor allem während der Pandemie sank sie immer mehr, sodass auf rechter Seite im letzten Jahr lediglich 400 – 750 Menschen mobilisiert werden konnten.

Warum betrifft uns der Rechtsruck als Jugendliche und Schüler:innen?

Dass es seit den späten 2000er Jahren in ganz Europa einen starken Rechtsruck gibt und dieser in den letzten Jahren noch mal einen gewaltigen Aufschwung erlebt hat, ist kein Zufall. Das lag an der Finanzkrise 2008, die nie wirklich bewältigt wurde, und dem erneuten Zusammenbruch der Wirtschaft im Zuge der Coronapandemie. In Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unsicherheit wie Kriegen oder Krisen des Kapitalismus beginnen mehr und mehr Menschen am „Weiter wie bisher!“, am kapitalistischen Status quo zu zweifeln.

Leider führen diese Zweifel nicht bei allen dazu, das gesamte System zu hinterfragen und sich für eine komplett neue gerechtere Gesellschaftsordnung einzusetzen. Bei vielen ist der Glaube an den Kapitalismus als Naturgesetz so tief verankert, dass sie nach anderen Erklärungen suchen. Für sie leben wir in einem fundamental gerechten System. Wenn es ihnen und ihrem Umfeld beginnt, schlechter zu gehen, dann liegt das nicht an ihm selbst, sondern daran, dass es missbraucht wird: an einzelnen korrupten Politiker:innen, einer großen Verschwörung, „Eliten“, Schattenregierungen und „Globalist:innen“ (womit übrigens fast immer Jüdinnen und Juden gemeint sind). Für sie müssen einfach die richtigen starken Männer an die Macht, die all die Verschwörer:innen verjagen und wieder Frieden und Wohlstand ins Reich einkehren lassen.

Und die, die gerne solche starken Männer wären, wissen, wie sie die Zeiten der Unsicherheit nutzen können: indem sie weiter Angst und Hass schüren, um Menschen zu sich zu treiben.

Und sollten sie das tatsächlich schaffen, sieht es für uns Jugendliche finster aus. Was noch mehr und offener Rassismus für nichtweiße Jugendliche bedeutet, muss man gar nicht erst ausführen, aber auch darüber hinaus ist mit einigem zu rechnen. So greifen Rechte auch massiv in jedes einzelne Leben ein. Sie propagieren die bürgerliche Kleinfamilie mit der fürsorglichen und aufopfernden Mutter, dem strengen, gerechten Vater, der als allmächtiger Patriarch über die Familie verfügt, und ihren braven weißen Kindern. Platz für abweichende Geschlechtsidentitäten, Sexualitäten oder schlicht und einfach Jugendliche mit einem eigenen Willen ist hier nicht.

Die finanzielle und rechtliche Abhängigkeit Jugendlicher von den Eltern und Frauen von ihren Ehemännern ist für sie begrüßenswert und alles, was sie schmälern könnte, lehnen sie ab. Sie versuchen, uns Rollenbilder aufzuzwingen und all die bereits erkämpften Fortschritte wieder einzustampfen.

Auch die Krise selbst, für die die Rechten keine Lösung haben, trifft uns als Jugendliche besonders hart. Bildung ist das Erste, an dem gespart wird, und auch die Jugendarbeitslosigkeit liegt meist noch deutlich über dem Durchschnitt. Azubis und studentische Hilfskräfte sind die Ersten, die gefeuert werden, und dadurch auch oft gezwungen, zu ihren Eltern zurück- oder gar nicht erst auszuziehen. So können sie sich nicht frei entfalten und ins selbstständige Leben übergehen. All das sind Konsequenzen von Krise, Kapitalismus und Rechtsruck und sie treffen uns alle. Deswegen müssen wir uns auch alle kollektiv dagegen wehren!

Geht auf die Gegenkundgebungen und beteiligt euch an Aktionen rund um den 13.2., um den Nazis zu zeigen, dass wir ihnen ihren Opfermythos nicht abnehmen!

Aber lasst es nicht dabei! Wir müssen auch selbst Perspektiven aufzeigen und eine internationale Bewegung als Antwort auf die Krise aufbauen. Wir müssen uns organisieren, an Schulen, Unis und in Betrieben, antirassistische Komitees gründen, uns kollektiv selbst schützen und Nazis keinen Raum mehr lassen, auf der Straße oder anderswo. Wir müssen ankämpfen gegen Sparmaßnahmen in der Bildung und im Sozialen. Nicht wir sollten die Krise zahlen, sondern die, die an ihr noch reicher geworden sind! Gegen sexuelle Unterdrückung und für die körperliche Selbstbestimmung aller! Gegen aufgezwungene Rollenbilder, unausweichliche Ausbeutung und unfreiwillige Abhängigkeit von einer Familie, die man sich nicht selbst ausgesucht hat!




Holodomor: Propaganda und historische Wirklichkeit

Frederik Haber, Infomail 1209, 7. Januar 2023

Der Deutsche Bundestag hat beschlossen, dass die Hungersnot in der Sowjetunion der frühen 30er Jahre ein Völkermord am ukrainischen Volk gewesen sei. Der stalinistischen Zwangskollektivierung fielen Millionen Tote zum Opfer, besonders in der Ukraine und in Kasachstan. Zugleich ist der Begriff Holodomor politisch fragwürdig, weil er die stalinistische Politik mit einem bewussten Völkermord gleichsetzt.

Tatsächlich ist diese Phase der sowjetischen Geschichte sehr lehrreich. Sie war eine Etappe der Machteroberung der Stalin-Fraktion im Kampf um die Partei, gegen die Arbeiter:innenklasse und gegen die Bäuer:innen. In dem Buch „The Degenerated Revolution“, das demnächst auch auf deutsch erscheinen wird, wird diese Phase beschrieben, die einsetzte, nachdem die Stalin-Gruppe, die politische Vertretung der Staatsbürokratie, um 1927 die Linke Fraktion (Bolschewiki-Leninst:innen) geschlagen und mit Zehntausenden Kommunist:innen aus der Partei gedrängt hatte. Im folgenden veröffentlichen wir den ersten Abschnitt des dritten Kapitels von „Degenerated Revolution“ (Seite 47 – 50), der sich mit der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Bürokratie beschäftigt. Er nimmt die inneren Widersprüche der führen Sowjetunion zum Ausgangspunkt und betrachtet die Politik-Stalin-Fraktion in diesem Kontext.

Bürokratische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

D. Hughes/Peter Main

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe um Stalin also mit dem restaurativen Flügel zusammengearbeitet und damit auch das Wachstum der Kulaken-Landwirtschaft, niedrige industrielle Wachstumsraten und eine ineffektive Planungsmaschinerie toleriert. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung kann man sie als eine politische Tendenz definieren, die im isolierten russischen Staat die politische Macht dadurch zu behalten trachtete, dass sie die bewusstesten Schichten der ArbeiterInnenklasse systematisch politisch enteignete.

Sie unterschied sich von der Rechten darin, dass sie unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, wenn ihre politische Kontrolle über den Sowjetstaat in Gefahr geriet, in der Lage war, sich in bürokratischer Weise gegen das Privateigentum zu wenden und eine Form wirtschaftlicher Planung zu entwickeln und auszuweiten, die mit dem Wertgesetz in Konflikt stand. Ihr Interesse, Formen der Planung zu entwickeln, ergab sich aus der Notwendigkeit, die an sich gerissene politische Macht zu behalten, nicht aus einer sozialistischen Zielsetzung heraus.

Im Laufe des Jahres 1927 kam es dann im Sowjetstaat zu Schwierigkeiten, Getreide in gleicher Menge wie im Jahr zuvor von der Bauernschaft zu bekommen. Ähnliche Probleme hatten die Requirierungsbehörden 1928. Die Thermidorianer:innen ernteten nun die bitteren Früchte industrieller Unterentwicklung und der Zugeständnisse an die Kulak:innen. Die zentristische Stalin-Gruppe vollzog ihre entscheidende Wendung gegen den Bucharin-Flügel und gegen die Politik der späten Neuen Ökonomischen Politik, NÖP. Die Voraussetzung für diesen Linksschwenk war die vorherige vollständige Entfernung der revolutionären Linken aus allen Machtpositionen.

Im Dezember 1927 wurden die lokalen Organisationen der kommunistischen Partei angewiesen, ihre Anstrengungen zur Getreidebeschaffung zu erhöhen – mit geringem Erfolg. Zur gleichen Zeit erklärte Stalin noch immer: „Der Ausweg ist die langsame und stetige Vereinigung der Klein- und Kleinstbauern zu großen Betrieben auf Grundlage der gemeinsamen kooperativen Bewirtschaftung des Landes – nicht durch Druck, sondern durch Überzeugung und das gute Beispiel“ (Zitiert nach Alex Nove, An Economic History of the USSR, Harmondsworth 1972, S. 148). Der Entwurf des Fünfjahresplans, der 1928 angenommen wurde, setzte als erstrebenswertes Ziel, während seiner Laufzeit den Anteil an kollektivierten Betrieben in der Landwirtschaft auf 15 % zu erhöhen.

Von Januar bis März 1928 fanden dann gewaltsame Getreidebeschlagnahmungen unter der Leitung von führenden Stalinist:innen statt – Stalin persönlich, Schdanow, Kossior und Mikojan. Als unvermeidliche Reaktion fuhren die Kleinbauern und -bäuerinnen ihren Anbau von Weizen und Roggen im Jahr 1928 herunter. Die Stalinist:Innen mussten sich entscheiden: entweder Zugeständnisse an die private Landwirtschaft machen, die Preise erhöhen und billige Konsumgüter aus dem Westen importieren und damit ihre politische Macht in Gefahr bringen – oder sich gegen das Privateigentum auf dem Lande wenden. Sie entschieden sich für die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft – allein mit dem Ziel, ihre bürokratische Macht zu behalten, nicht im Sinne irgendwelcher langfristiger Pläne zur Kollektivierung oder möglicher kurzfristiger Vorteile im Agrarsektor. Die sowjetische Industrie war allerdings hoffnungslos schlecht darauf vorbereitet, die kollektivierte Landwirtschaft mit der Ausrüstung zu versorgen, die sie brauchte, um bessere Erträge zu erzielen. 1928 verfügte die UdSSR nur über 27.000 Traktoren statt der eigentlich benötigten 200.000 (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 17).

Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde ohne jede formelle Diskussion oder Entscheidungsfindung einer offiziellen Parteistruktur durchgeführt. Sie war das Werk der siegreichen Stalin-Fraktion und Ausdruck ihrer Kontrolle über die Partei zu dieser Zeit. Am 7. November 1929 druckte die Presse einen Artikel Stalins ab, in dem er die „spontane Hinwendung der breitesten Massen der klein- und mittelbäuerlichen Haushalte zu kollektiven Formen der Landwirtschaft“ lobte. Im Dezember begann Stalin eine Kampagne zur Liquidierung der Kulak:innen „als Klasse“, was durch ein Dekret vom 5. Januar 1930 unterstrichen wurde, welches das staatliche Ziel der „vollständigen Kollektivierung“ proklamierte.

Schon sieben Wochen nach dem Erlass waren 50 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen Mitglieder in rudimentären und zusammengestümperten Kollektiven geworden. Aktiver Widerstand führte automatisch dazu, dass Kleinbauern und -bäuerinnen von den Parteiorganen als „Kulaken“ abgestempelt wurden. Bis Juli 1930 waren 320.000 vermeintliche Kulakenfamilien enteignet und deportiert worden – eine Zahl, die bei weitem die am Vorabend der Kollektivierung veröffentlichten stalinistischen Statistiken zu den Kulak:innen überstieg.

Die Mitgliederzahlen der landwirtschaftlichen Kollektive von 1930 widerlegen die durchsichtigen Lügen der Stalinist:innen, die Kollektivierung sei eine spontane Bewegung der Masse der Kleinbauern und -bäuerinnen gewesen. Ein vager Hinweis Stalins, dass der Druck gelockert werden sollte, den er in einem Prawda-Artikel mit dem Titel „Siegestrunken“ im März 1930 formuliert hatte, löste eine wahre Fluchtbewegung aus den kollektiven Betrieben aus. Anfang März 1930 waren 58 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen in Kollektive eingetreten. Bis Juni fiel diese Zahl wieder auf 23%! In der fruchtbaren zentralrussischen Schwarzerde-Region fiel der Anteil im gleichen Zeitraum sogar von 81,8% auf 15,7%.

Die entwurzelten Bäuer:innen fanden in den neuen Kollektiven weder Ressourcen noch Ausrüstung vor. Angesichts des Tempos der industriellen Entwicklung der 1920er Jahre und auch angesichts der Ziele des ersten Fünfjahresplans konnte Kollektivierung zu diesem Zeitpunkt nichts anderes bedeuten, als schlicht und einfach den Mangel, das Elend und die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft zu verallgemeinern. Der Widerstand der Kleinbauernschaft nahm den Charakter eines Bürger:innenkrieges an. Dort, wo sie keinen anderen Widerstand leisten konnten, schlachteten sie ihr Vieh als letztes Mittel, sich den staatlichen Behörden zu entziehen. Dies belegt der dramatische Rückgang des sowjetischen Nutztierbestandes zwischen 1929 und 1934. In diesem Zeitraum verringerten sich die Bestände an Pferden und Schweinen um 55 %, an Rindern um 40 % und an Schafen um 66 %. Gab es 1930 noch eine gute Ernte, ging die landwirtschaftliche Produktion in den ersten Jahren der Kollektivierung deutlich zurück. 1932 lag die Getreideerzeugung 25 % unter dem Durchschnitt der NÖP-Jahre und die Hungersnot kehrte in schrecklichem Ausmaß in die ländlichen Regionen der Sowjetunion zurück.

Aufgrund des Widerstandes und der desaströsen Wirkung der Kollektivierung auf die landwirtschaftliche Produktion ordneten die Stalinist:innen 1930 eine temporäre Rücknahme ihrer Maßnahmen an. Aber 1931 wurde die Kollektivierungskampagne wieder aufgenommen als Mittel der Stalinist:innen, die landwirtschaftlichen Produktivkräfte der Sowjetunion fest unter Kontrolle zu bekommen. Sie waren bereit, einen Rückgang der Agrarproduktion in Kauf zu nehmen, um diesen für ihr bonapartistisches Regime gewünschten Effekt zu erzielen. Bis 1932 waren 61,5 % der Anbaufläche kollektiviert, es gab 211.100 Kooperativen (Kolchosen) und 4.337 staatliche Landwirtschaftsbetriebe (Sowchosen) (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 19).

Obwohl die Kolchosen formell als Genossenschaften gegründet wurden, wurden ihre Sekretär:innen und Führungskomitees von lokalen Parteiorganen ernannt. 1935 erhielt das Kolchos-System seine endgültige Form. Landwirtschaftliche Maschinen, Agrarspezialist:innen, Mechaniker:innen, Ausbildungspersonal und Tiermediziner:innen sollten alle in staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen (MTS) konzentriert werden. Die Überwachung der Landwirtschaft durch das NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) sollte ebenfalls in den MTS angesiedelt werden. Die Kolchosen sollten Maschinen und Expertise von der MTS erhalten. Auf diese Weise wurde eine Schicht privilegierter Arbeiter:innen in den MTS und zugleich ein perfekter Überwachungs- und Repressionsapparat gegen die bäuerlichen Massen geschaffen.

Das Einkommen der Bauern und Bäuerinnen wurde in Abhängigkeit des Ertrags ihrer Kolchosen bestimmt, nachdem der Staat das Getreide gekauft hatte und die Steuern von der Kolchose eingetrieben hatte. 1935 verdiente ein Durchschnittshaushalt 247 Rubel für ein Jahr Arbeit in der Kolchose – den Preis für ein Paar Schuhe! Zusätzlich wurde den Bauern und Bäuerinnen deshalb erlaubt, eine kleine Fläche von höchstens einem halben Hektar selbst zu bewirtschaften, auf der die bäuerliche Masse das Nötigste für ihren miserablen Lebensunterhalt mühsam erarbeitete. Die Wiedereinführung eines internen Ausweissystems für die Kolchosen-Angehörigen 1933 band diese sehr wirksam an die Kolchosen. Ein Gesetz vom 17. März 1933 legte fest, dass kein Kolchosmitglied ohne Genehmigung der Bürokratie den Kolchos verlassen durfte.

Die sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen erlebten die Kollektivierung daher als Verlust ihrer „Oktobererrungenschaften“. Die bonapartistische Bürokratie hatte ihre politische Macht und ihre materiellen Privilegien bewahrt, indem sie die Basis für beschränkte Warenproduktion der Kulak:innen und der NÖP-Leute zerstört hatte. Die Kleinbauern und -bäuerinnen  verloren jede Möglichkeit, die politische Herrschaft der Bürokratie durch einen Lieferstreik herauszufordern. Das Ergebnis waren nicht nur die Stagnation und Ineffizienz der Landwirtschaft, die der sowjetischen Bürokratie bis zu ihrem Ende zu schaffen machte. Es erzeugte auch eine trotzige und rebellische Bäuer:innenschaft, die durch drastische Repression niedergehalten wurde. Der Sieg der Stalinist:innen über die Landbevölkerung war eine enorme Sprengladung im Fundament des Arbeiter:innenstaates und machte einen riesigen Repressionsapparat nötig, einschließlich Zwangsarbeitslagern, die parallel zur Kollektivierung entstanden, um die Landwirt:innen in den kollektivierten Betrieben zu halten.

Nachsatz der Redaktion

Dieser Repressionsapparat schritt dann auch zur physischen Vernichtung der Kommunist:innen, der bewusstesten Arbeiter:innen, aber auch von Vertreter:Innen aller anderen Schichten, die die persönliche Diktatur Stalins gefährden konnten. Sie traf Angehörige von nationalen Minderheiten im Vielvölkerstaat Sowjetunion oft härter als den russischen Teil der Bevölkerung, da diese Repression natürlich auch mit der Durchsetzung des großrussischen Chauvinismus einhergingen. Die Ukraine war in dieser Hinsicht sowohl aufgrund der großen Bedeutung ihrer Bäuer:innenschaft und Agrarproduktion, aber auch als größte nicht-russischer Republik im Fokus der Stalin-Fraktion. In der Tat führte die Bürokratie einen Krieg gegen die Bäuer:innenschaft, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen und zu sichern, einen Bürger:innenkrieg bei dem sie bereitwillig den Tod von Millionen in Kauf nahm. Ihr historisches Ziel bestand darin, den Sieg der Oktoberrevolution auszulöschen und alle Errungenschaft in ihr Gegenteil zu verkehren. Sie war ein Schlag nicht nur gegen die Bäuer:innen, sondern auch gegen die Proletarier:innen aller Länder.




80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 1

Leo Drais, Infomail 1196, 25. August 2022

Der Abend des 23. August 1942 gilt als der Beginn der Schlacht um Stalingrad. Deutsche Truppenverbände stießen nördlich der Stadt bei Rynok an die Wolga vor. Ein Bombenangriff der Luftwaffe mit über 600 Flugzeugen tötete Tausende, die nicht aus der Stadt evakuiert worden waren.

Die Schlacht wurde zum Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, vielleicht nicht unbedingt militärisch, jedoch unbedingt psychologisch. Goebbels sah sich nach der Niederlage zur Ausrufung des „totalen Krieges“ gezwungen. In den von den Deutschen besetzten Gebieten keimte die Hoffnung auf Befreiung.

Die Wehrmacht wurde in Stalingrad eingekesselt, nachdem sie selbst die Stadt umzingelt und die Rote Armee fast daraus verdrängt hatte. Die Armee Hitlers erfror und verhungerte im russischen Winter bei – 30 Grad. Entsetzungsversuche scheiterten. Ende Januar 1943 ging der deutsche Generalfeldmarschall Paulus mit den völlig erledigten Resten der sechsten Armee in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Gerade mal 6.000 sollten aus ihr zurückkehren.

Ab Stalingrad war die Rote Armee die initiative Kraft im Krieg an der Ostfront. Zwei Jahre später fiel Berlin.

Ukrainekrieg und Neuschreibung der Geschichte

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine versuchen gewisse Rechte und Konservative, noch stärker geschichtsrevisionistisch das Gedenken an die Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee aus der deutschen Erinnerung zu tilgen. Eine Entfernung des sowjetischen Ehrenmals auf der Straße des 17. Juni in Berlin wurde ins Spiel gebracht, die Sowjetunion mit dem russischen Imperialismus Putins gleichgesetzt.

Umso wichtiger ist es, die Geschichte zu verteidigen!

Mit der Sowjetunion kämpfte nicht eine imperialistische Macht gegen eine andere – Deutschland – sondern ein Arbeiter:innenstaat, der sich gegen den Hitlerfaschismus verteidigte, die „chemisch destillierte Essenz des deutschen Imperialismus“, wie Trotzki schrieb.

Letzterer analysierte zugleich auch, dass sich der stalinistische und der faschistische Staat zwar der Form nach ähneln, nicht jedoch in ihrem Inhalt.

Für beide Staatsformen hat sich der Begriff des Totalitarismus durchgesetzt, eine Organisation der Diktatur, die bis in die letzten Ecken der Gesellschaft ihre Fühler ausgestreckt hat, allgegenwärtig ist, einen riesigen Teil der Bevölkerung selbst in ihren Apparat einbindet, um eine umfassende Überwachung und Unterdrückung zu verwirklichen. Dieser Umstand macht es heute so leicht, die Sowjetunion und den Putinismus in eins zu setzen, als Ausdrücke eines antidemokratischen, großrussischen Chauvinismus, wobei es natürlich auch Putin selbst ist, der sich positiv auf die Macht der Sowjetunion bezieht um den eigenen Imperialismus propagandistisch zu verkleiden.

Das ist Erbschleicherei.

Denn der entscheidende Unterschied zwischen der Sowjetunion und dem Drittem Reich ist der, dass beide Staaten unterschiedliche Systeme des Eigentums und der Produktion vertraten und verteidigten. Der NS-Staat war der Inbegriff des kriselnden Kapitalismus, der wild um sich schlug, um nicht in der Konkurrenz unterzugehen. Nicht umsonst heißt es vom Imperialismus, dass er das höchste Stadium des Kapitalismus darstellt.

In dieser Betrachtung der Geschichte stellte die Sowjetunion einen Fortschritt dar, einen Ort, wo das Kapital nicht mehr Produktion und Gesellschaft bestimmte. Das ist der Grund, warum die Verteidigung der Sowjetunion wichtig und richtig war – trotz der Deformation durch die Bürokratie, die selbst eine Agentin des Imperialismus auf Weltebene darstellte, fleißig mit Hitler, Großbritannien und den USA paktierte, gegen die Interessen der Arbeiter:innenklasse.

„Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts

Geschichtsschreibung ist immer relativ zur Wahrheit.

Und die bürgerliche Geschichtsschreibung kann nicht anders, als sich selbst immer als den letzten Schluss der Menschheit darzustellen, sei es in bürgerlichen Demokratien oder Diktaturen – das Ende der Geschichte sei erreicht.

Dargestellt wird die Geschichte dabei als die großer Männer, die nach Belieben die Erzählung der Welt bestimmt haben, die aufgetaucht sind und ein Land wie ein Rattenfänger in den Abgrund gestürzt oder es zu glorreichen Siegen gegen fremde Invasor:innen  geführt haben.

In etwa so erscheinen Hitler und Stalin in den Schulbüchern.

Dabei sind die, die Krieg führen, nicht die „großen Männer“, sondern wesentlich die einfache Bevölkerung.

Einer, der dieser Bevölkerung ein literarisches Denkmal gesetzt hat, ist Wassili Semjonowitsch Grossman. Sein Werk wird als das „Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts gehandelt. Doch während Tolstoi seinen ebenfalls monumentalen Roman viele Jahrzehnte nach den Napoleonischen Kriegen schrieb und sie selbst nie erlebt hatte, war Grossman als wehruntauglicher Kriegsberichterstatter selbst über 1.000 Tage an der Front gewesen.

Sein Werk besteht aus einer Dilogie. „Stalingrad“ erzählt die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft im Krieg vom Überfall der Deutschen bis in den Herbst 1942. Der zweite Teil „Leben und Schicksal“ greift hier den Faden wieder auf, entwickelt die Figuren des ersten Teils weiter.

Dabei bauen die beiden Romane auf ihren insgesamt 2.300 Seiten nicht einfach aufeinander auf.

Sie erzählen selbst Grossmans Geschichte und Wandel. Während „Stalingrad“ unter dem Titel „Für eine gerechte Sache“ sehr beschnitten und zensiert noch unter Stalin erschien und eine entsprechende Konformität mit dem Regime ausdrückt, stellt „Leben und Schicksal“ eine Abrechnung nicht nur mit dem Faschismus, sondern auch mit dem Stalinismus dar, die auch der angeblichen Entstalinisierung und Tauwetterperiode unter Chruschtschow zu scharf war. „Leben und Schicksal“ wurde beschlagnahmt, eine Kopie jedoch in den Westen geschmuggelt, wo es posthum nach dem Tod Grossmans veröffentlicht wurde.

Stalingrad auf 1.200 Seiten

Trotzdem ist auch „Stalingrad“ alles andere als ein stumpfes Propagandawerk des Stalinismus – zumal in seiner erst letztes Jahr im Deutschen vollständig erschienenen Fassung. Die Kritik erfolgt hier oft subtil, zwischen den Zeilen. Es ist ein Roman, der sich in einem Spannungsfeld bewegt: „Was darf und kann ich schreiben, was muss, was will ich schreiben?“

Der „große Stalin“ kommt, ganz im Gegensatz zu Schulbüchern, kaum in „Stalingrad“ vor. Das stilistisch im sozialistischen Realismus gehaltene Buch stellt uns die sowjetische Bevölkerung in ihrer Breite vor, belegt, dass der Krieg vor allem ihrer war, dass sie ihn führte, litt und kämpfte. Grossman zeigt uns auch die, die es nicht in die Geschichtsbücher schaffen: Arbeiter:innen, Bäuer:innenfamilien, einfache Soldat:innen.

Dabei beschränkt er sich nicht einfach auf das Geschehen an der Front. Anhand der fiktiven, weit  verästelten Familie Schaposchnikow erfahren wir vom Alltag, von Normalität und Gesprächen abseits des Krieges, von der Arbeit, der Liebe und ihren Irrungen, den Sorgen einer Familie um den Sohn an der Front, der Evakuierung und den Diskussionen über den Krieg.

Wir kommen mit in Fabriken, ins Elektrizitätswerk „Stalgres“ südlich Stalingrads, in Forschungseinrichtungen und Bergwerke am Ural, dahin, wo die wirtschaftliche Stärke im  Krieg zum Tragen kommt – letztlich die entscheidende Größe, anhand derer Trotzki schon zu Beginn des Krieges prognostizierte, dass Deutschland ihn verlieren wird.

Ganz ohne Zahlen zeigt Grossman die Überlegenheit selbst der bürokratisierten Planwirtschaft, ihrer Fähigkeit, in kürzester Zeit ganze Fabriken an den Ural zu verlegen, weg von der Front. Völlig zu Recht betont eine Figur, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft schon Siege errungen wurden, obwohl sich die Wehrmacht immer noch und scheinbar unaufhaltsam Richtung Osten bewegte.

Und natürlich wäre das Werk Grossmans unvollständig, wenn er nicht auch den Blick auf die Offizier:rinnen und Kommissar:innen der Roten Armee, auf Bürokrat:innen und Bezirksvorsitzende werfen würde. Der Apparat ist allgegenwärtig, erfährt in „Stalingrad“ mehr Glorifizierung als Kritik.

Andererseits erzählt Grossman von Bildern des Krieges, die der Stalinismus gern verschwiegen hat. Von Läusen und Diebstahl, von Entkulakisierten, die auf die Deutschen warten, vom Pessimismus und der fast schon routinierten Selbstverständlichkeit, mit der sich die Rote Armee immer weiter zurückzog, bis an die Wolga. Erst Stalingrad brachte ein Bewusstsein dafür, dass der Faschismus besiegt werden kann.

Kollektives Schicksal im Einzelnen

Grossmans Figuren verkörpern nicht diese plumpe Einfachheit, die sonst dem sozialistischen Realismus anhaftet. Sie sind komplex und ambivalent, sie tragen das kollektive, massenhafte Schicksal der sowjetischen Bevölkerung in sich selbst aus.

Aus unterschiedlichen persönlichen Blickwinkeln erleben wir das erste Bombardement, wie die Familie Schaposchnikow zerstreut wird, erfahren vom Hadern und der Hingabe Einzelner ihrem Schicksal gegenüber. Wir lernen einen Soldaten kennen in seinen Sehnsüchten, seinen Erinnerungen an die Familie, von der er aufbrach, seinen Wünschen und seinem Pflichtgefühl, und dann fällt er, mit allen seinen Kampfgenossen.

Nichts von den charakterlosen, redundanten und kitsch-banalen Soldatenschicksalen aus billigen TV-Dokus ist hier zu finden. Bei Grossmann werden sie vielmehr ganz nah und lebendig.

Dafür projiziert Grossman die Innenwelten der Menschen oft fantastisch und expressiv in die Natur Südrusslands, auf die Wolga, die Steppe, den Himmel, der den Feuerschein des brennenden Stalingrads reflektiert.

Wir erleben das Spannungsfeld zwischen dem Krieg, der Massen mit sich zieht, über das Leben einer ganzen Bevölkerung bestimmt und dem, was das für die Einzelnen, aus denen diese Masse besteht, bedeutet, für Gedanken, Handlungen und ihr Bewusstsein. Die allermeisten Menschen handeln aus ihren unmittelbaren, eigenen Erfahrungen heraus.

Die Überzeugung von der Notwendigkeit, gegen den Faschismus zu kämpfen, finden die Figuren, fanden die Menschen in der Sowjetunion von sich aus. Die Motive waren jedoch unterschiedliche: von der Überzeugung sozialistischer Überlegenheit bis zur Vaterlandsverteidigung – immerhin war ja auch die offizielle Bezeichnung des Krieges der „große, vaterländische“.

Offenes Ende

Der Roman endet nicht mit dem sowjetischen Sieg an der Wolga, sondern mitten in der Schlacht, an dem Punkt, wo der deutsche Vormarsch zum Stillstand kommt.

Auch wenn „Stalingrad“ nur subtil in seiner Kritik ist, ist es trotzdem unbedingt lesenswert und weit davon entfernt, ein Propagandawerk zu sein. Gerade für Revolutionär:innen und Marxist:innen, die sich mit Trotzkis Analysen der UdSSR auskennen, kann es nur bereichernd sein. Es verleiht dem sonst trockenen Geschichtsbewusstsein Lebendigkeit und einen tiefen Einblick in die Breite der sowjetischen Gesellschaft zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Einen Blick, der hilfreich ist, in einer Zeit, wo imperialistische Kriegspropaganda auf allen Seiten Konjunktur hat.

Und endlich ist „Stalingrad“ auch deshalb lesenswert, weil es mit seinem offenen Ende auf den zweiten Teil „Leben und Schicksal“ vorbereitet – eine Abrechnung einerseits, mit verkürzten Schlüssen andererseits.

Demnächst: Stalingrad, Faschismus und Stalinismus: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2




Russischer Krieg gegen die Ukraine – Teil 1: Vom Maidan zum Krieg

Alex Zora, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), Infomail 1189, 20. Mai 2022

Der folgende Beitrag wurde zuerst im Magazin FLAMMENDE veröffentlicht, das von unserer österreichischen Schwestersektion Arbeiter*innenstandpunkt herausgegeben wird und dessen erste Nummer im Mai 2022 erschien. Wir publizieren den Text in drei Teilen. Der erste beschäftigt sich mit der Entwicklung zum Krieg.

Millionen Geflüchtete, tausende Tote, ein Land im Zentrum der Geopolitik. Mit der russischen Invasion Ende Februar wurde die Ukraine in den Mittelpunkt des Weltgeschehens geworfen. Mit Entsetzen sehen wir täglich die Bilder des Leids und Horrors in den Zeitungen. Viele sind dazu auch noch praktisch tätig geworden und haben Geflüchtete aus der Ukraine unterstützt. Ein Krieg so nahe, ein Krieg in Europa, für die meisten Menschen in Österreich ist das (trotz Jugoslawiens) eine sehr neue Situation – weniger für unsere syrischen oder afghanischen Freund:innen. Umso wichtiger ist es, jetzt, da der Krieg schon seit fast zwei Monaten anhält, sich mit seinen Hintergründen zu beschäftigen und zu versuchen, eine angemessene Einschätzung der Lage zu entwickeln.

Ukrainische Unabhängigkeit

Um die aktuelle politische Situation verstehen zu können, muss man sich mit der Ukraine als modernem Nationalstaat auseinandersetzen. Sie ist – wie viele andere osteuropäische Staaten auch – ein Produkt des Kollapses der Sowjetunion. Es existierten zwar im Zuge des russischen Bürger:innenkrieges mehrere kurzlebige Staaten oder staatsähnliche Gebilde auf dem Gebiet der heutigen Ukraine (nur eine Minderheit beanspruchte dabei eine dezidiert ukrainische Identität), aber ab 1922 war die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der neu gegründeten Sowjetunion. Eine ausführliche Geschichte des ukrainischen Nationalismus, insbesondere seine Anbiederung unter Stepan Bandera an den Nationalsozialismus, werden wir hier nicht schreiben können. An dieser Stelle sei nur nochmal auf ihre Entstellung sowohl von westlicher wie auch von russischer Seite hingewiesen. Die Ukraine ist weder eine seit Jahrhunderten bestehende Nation, die historisch um das christlich-orthodoxe Kiew zentriert war, noch eine Erfindung von Lenin und den Bolschewiki. Wie viele andere europäische Nationen ist sie ein Produkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, komplexer sich verändernder Grenzziehungen im 20. Jahrhundert und insgesamt alles andere als ethnisch oder sprachlich sauber abgegrenzt.

Auch heute bezieht man sich noch gerne auf das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine im Dezember 1991. Damals stimmten 92,3 % der Ukrainer:innen (bei einer Wahlbeteiligung von 82 %) für ihre Unabhängigkeit. Doch so einfach ist die Sache nicht: Einerseits war die Unabhängigkeit schon im August erklärt worden, als Reaktion auf den Augustputsch konservativ-stalinistischer Generäle in Moskau, andererseits war es nicht das einzige Referendum in diesem Jahr. Im März hatten sich bei einem sowjetunionweitem Referendum 71,5 % der Ukrainer:innen (WB 83,5 %) für einen Erhalt bzw. eine Reform der Sowjetunion ausgesprochen. Gleichzeitig wurde auch hier darüber abgestimmt, ob die ukrainische Teilrepublik Bestandteil dieser neuen Sowjetunion auf „Basis der Erklärung der staatlichen Souveränität“ werden sollte – das brachte 81,7 % Zustimmung. Diese drei Abstimmungen zeigen zwei Dinge sehr deutlich: einerseits, dass die Verhältnisse damals, das nationale Selbstverständnis, dessen Auslegung in der Praxis sehr kurzlebig und wandelbar waren. Die Ereignisse überschlugen sich damals ja nicht nur in der Ukraine, sondern auch im russischen Teil der Sowjetunion und in fast allen Teilrepubliken. Andererseits ist eine Sache sehr eindeutig abzuleiten, nämlich das Bedürfnis nach nationaler Unabhängigkeit der Ukraine (auch wenn das bedeutet hätte, ein eigenständiger Teil einer neuen Sowjetunion zu werden, wie Anfang 1991 abgestimmt). Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass das Ergebnis der Unabhängigkeitsabstimmung im Dezember 1991 alles andere als eine territoriale Homogenität repräsentierte. Beispielsweise ging das Ergebnis auf der Krim nur sehr knapp für die Unabhängigkeit aus, bei gleichzeitig deutlich unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung.

Demografie der Ukraine

Seit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 gab es nur eine einzige erfolgreich durchgeführte Volkszählung. Diese aus dem Jahr 2001 ist nun zwar schon mehr als zwei Jahrzehnte alt, aber trotzdem die mit Abstand umfangreichste Feststellung von Muttersprache und ethnischer Zugehörigkeit. Hier zeigt sich sehr deutlich die Heterogenität der Ukraine. Bevor man sich die Zahlen, die hier so klar getrennt erscheinen, ansieht, sollte man aber bedenken, dass ein großer Teil der Ukrainer:innen zweisprachig lebt und deshalb eine klare Aufteilung auf dem Fragebogen einer Volkszählung einiges an Komplexität verbirgt.

Im Süden und Osten der Ukraine lebt eine relevante russischsprachige Minderheit (insgesamt ungefähr ein Drittel der Bevölkerung). Andererseits gibt es darüber hinaus im Rest des Landes auch noch eine relevante russische ethnische Minderheit (nach der Volkszählung 2001 waren das 17 %). Wichtig ist hierbei, dass diese beiden Gruppen nie deckungsgleich waren und es vermutlich heute weniger denn je sind. Der russische Muttersprachler und heutige Präsident Selenskyj ist hierfür eine gute Illustration. Die ethnischen Russ:innen sprechen zwar fast ausschließlich russisch, aber bei weitem nicht alle russisch sprechenden Menschen in der Ukraine verstehen sich als russisch. Es lässt sich davon ausgehen, dass der Trend von Menschen, die russisch sprechen und sich auch als russisch sehen, seit 2001 weiter abgenommen hat (1989 waren es noch 22 % gewesen). Einerseits weil die Krim nicht mehr Teil der Ukraine ist und hier die größte Konzentration ethnischer Russ:innen lebt, aber auch durch den brutalen Angriffskrieg Putins, der wohl viele ethnische Russ:innen in der Ukraine dazu gebracht hat, ihr nationales Selbstverständnis zu überdenken. Insbesondere, da sich der Großteil der russischen Angriffe auf den Osten und Süden konzentriert und dort die russischsprachige bzw. ethnisch russische Bevölkerung am meisten darunter leidet.

Schocktherapie und Oligarchie

In den Jahren nach der Unabhängigkeit glich die Entwicklung in der Ukraine der vieler anderer osteuropäischer Staaten. Die verstaatlichte Wirtschaft wurde einer „Schocktherapie“ mit massiven Privatisierungen, Deregulierungen und dem Rückbau sozialer Absicherungen unterzogen. Für den Lebensstandard in der Ukraine war das verheerend. Von 1990 bis 1995 sank die Lebenserwartung um fast vier Jahre – erst 2011 sollte wieder das Niveau von 1989 erreicht werden. Auch die Wirtschaftsleistung ging massiv zurück. Nahezu die gesamten 1990er Jahre lang schrumpfte die Wirtschaft Jahr für Jahr – erst 2005 sollte wieder die Wirtschaftsleistung von 1989 erreicht werden. Auf dem Höhepunkt lebten in den 1990er Jahren mehr als 50 % der Menschen in der Ukraine in Armut (entspricht weniger als 5,5 US-Dollar/Tag nach Kriterien der Weltbank).

Gleichzeitig profitierte eine kleine Elite an Kapitalist:innen massiv. Sie nutzte dabei die Schleuderpreise, mit denen die staatliche Industrie privatisiert wurde, aus und häufte riesige Reichtümer und Macht an. Da es während der Zeit der Sowjetunion keine Klasse an Kapitalist:innen, sondern nur eine herrschende, parasitäre Bürokratie gab, musste sich die ukrainische Bourgeoisie erst einmal als herrschende Klasse konstituieren. Wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern war auch hier der Weg als Oligarchie naheliegend. Die einflussreichen Unternehmer:innen übten zudem gleichzeitig die wichtigsten politischen Ämter (Präsidentschaft, Gouverneur:innen der Oblaste etc.) aus. Die Oligarch:innen waren dabei oft nach ihren politischen, ökonomischen und finanziellen Verbindungen in einen auf den Westen und einen auf Russland ausgerichteten Teil gespalten. An der Regierung wechselten sich „prorussische“ und „prowestliche“ Präsidenten ab.

Vom Maidan in den Bürger:innenkrieg

Als der „prorussische“ Präsident Wiktor Janukowytsch im Herbst 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der EU aussetzte, kam es – vor allem in Kiew und den westlichen Landesteilen – zu Massenprotesten und der Besetzung des Kiewer Maidan (Unabhängigkeitsplatz). Am Anfang trug die Bewegung noch einen widersprüchlichen Charakter. Einerseits stellte sie es eine populäre Massenbewegung dar, angetrieben durch die Unzufriedenheit mit der Korruption der Regierung und den allgemein schlechten Lebensbedingungen der ukrainischen Massen, andererseits verfolgte sie implizit und explizit reaktionäre Ziele: Erleichterung der Ausbeutungsbedingungen für westliches Kapital durch wirtschaftliche und politische Assoziierung mit der EU. Doch recht bald wurde klar, dass die ukrainische Rechte und im Besonderen auch offen faschistische Kräfte auf der Straße eine offene linke Präsenz in den Protesten verunmöglichten. Nahezu das gesamte Spektrum der politischen Rechten war stark vertreten (nur die prorussische blieb den Protesten fern). Das reichte von den Schlägertrupps des neonazistischen Rechten Sektors bis hin zur im Parlament vertretenen rechtsradikalen Partei Swoboda (die auch ihre eigenen Schlägertrupps auf dem Maidan organisierte). Versuche von „kommunistischen“ (Borotba; Kampf) und anarchistischen (Tschorna Sotnia; schwarze Hundertschaft) Kräften, dort eine linke Präsenz zu etablieren, wurden durch die offene Militanz faschistischer Kräfte zunichtegemacht. Das Kräfteverhältnis kippte sehr bald klar in Richtung der nationalistisch-neoliberalen Kräfte des „pro-westlichen“ Establishments auf der politischen Ebene und zugunsten der organisierten faschistischen Banden auf der Straße. Die westlichen Staaten, allen voran die USA, unterstützten die Proteste politisch, logistisch und finanziell – was aber nicht zum verkürzten Schluss führen sollte, dass das der einzige oder auch wichtigste Grund für die Proteste war.

Der Versuch der Regierung Janukowytsch, mit massiver Repression die Proteste niederzuschlagen, führte nur dazu, dass eine Welle der populären Empörung die Bewegung noch weiter befeuerte. Mitte Februar eskalierte dann die Situation, es wurden dutzende Protestierende und Polizist:innen durch bislang nicht eindeutig geklärte Scharfschütz:innen ermordet. Das Resultat war die Radikalisierung der Proteste und die Desintegration des staatlichen Repressionsapparates. Janukowytsch floh aus dem Land und es kam zur putschartigen Absetzung seiner Regierung – außerhalb des regulären Prozesses der Verfassung der Ukraine. Das Resultat war die Errichtung einer prowestlichen Interimsregierung unter dem der US-Bourgeoisie nahestehenden neoliberalen Nationalisten und Ex-Banker Arsenij Jazenjuk.

Die neue Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Sie schlug sofort einen klar ukrainisch-nationalistischen Kurs ein. Die Prioritäten ihrer ersten Tage waren eindeutig: Am zweiten Tag wurde das 2012 eingeführte Sprachengesetz, welches es Regionen ermöglichen sollte, andere Sprachen als Ukrainisch als Amtssprache zu etablieren, zurückgenommen. In der ersten Woche wurden „prorussische“ Gouverneur:innen bzw. Bürgermeister:innen abgesetzt und gesetzlich verfolgt. Schon bald wurden Gesetze zur sogenannten „Dekommunisierung“ (also dem Aufräumen mit der sowjetischen Vergangenheit in allen Aspekten der Gesellschaft) beschlossen. Die Kommunistische Partei der Ukraine und andere Linke wurden nach und nach unterdrückt und unliebsame Medien verboten.

Der russische Imperialismus nutzte das folgende Chaos in den Tagen nach dem Sturz von Janukowytsch dazu, die Halbinsel Krim, die mehrheitlich von ethnischen Russ:innen bewohnt und nahezu vollkommen russischsprachig war, zu annektieren. Trotz der komplett reaktionären Art und Weise, wie diese Annexion stattfand, dürfte doch recht wenig Zweifel darüber bestehen, dass eine große Mehrheit der dortigen Bevölkerung eine Abtrennung von der Ukraine unterstützte. Auf der einen Seite – trotz eines teilweisen Boykotts der Abstimmung – gab mehr als die Hälfte der Bevölkerung ihre Stimme zum Beitritt zu Russland ab (Wahlbeteiligung eingerechnet), auf der anderen Seite war die Krim seit mehr als hundert Jahren mehrheitlich von Menschen bewohnt, die nicht nur fast ausschließlich russisch sprachen, sondern sich auch mehrheitlich als russisch identifizierten. Für den russischen Imperialismus war und ist die Krim strategisch und militärisch essenziell, war sie doch der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte und wesentlicher Kontrollpunkt des Asowschen Meeres.

Die drohende und real stattfindende Unterdrückung der russisch(sprachig)en Minderheit führte auch in den anderen östlichen und südlichen Regionen der Ukraine sogleich zu einer Gegenbewegung auf der Straße. Anfangs war sie von einer diffusen Sowjetnostalgie, Ablehnung der faschistischen Banden sowie einem russlandfreundlichen Kurs geprägt. Das drückte sich in der zweitgrößten ukrainischen Stadt, Charkow (ukr.: Charkiw), zum Beispiel darin aus, dass die anfangs größten Mobilisierungen zum Schutz des Lenin-Denkmals auf dem Hauptplatz Charkows stattfanden.

In den Städten mit großen Teilen russischsprachiger Bevölkerung (Charkow, Odessa, Donezk, Lugansk [ukr.: Luhansk] etc.) nahmen diese Proteste Massencharakter an. Teilweise wurden die Gebäude der Regionalregierung besetzt. Gleichzeitig mobilisierten die faschistischen Teile der Maidan-Bewegung massiv in die östlichen und südlichen Gebiete und es kam zu militanten Auseinandersetzungen auf der Straße. Spätestens mit dem Massaker in Odessa am 2. Mai 2014, bei dem 42 Menschen in einem von rechten Fußball-Hooligans und Faschist:innen angezündeten Gewerkschaftsgebäude zu Tode kamen, war der Weg in den Bürger:innenkrieg kaum noch zu stoppen.

Die ukrainische Regierung konnte sich hierbei nur in geringem Maße auf die aus Wehrpflichtigen bestehenden Streitkräfte verlassen und diverse Freiwilligeneinheiten, rekrutiert aus den militanten Teilen der Maidan-Bewegung, sprangen in die Bresche. Teilweise finanziert aus der privaten Tasche von Oligarch:innen wie Igor Kolomoisky (ukr.: Ihor Kolomoyskyi) (Aidar, Dnipro I und Dnipro II) oder Serhiy Taruta (Asow), wurden zusätzlich zu den Freiwilligen auch international Söldner:innen rekrutiert. Insbesondere das Aidar- und das Asow-Bataillon rekrutieren hierbei kräftig in der europäischen Neonazi-Szene. Sehr bald wurden die meisten dieser Freiwilligeneinheiten in die regulären ukrainischen Streitkräfte integriert. Das offen neonazistische Asow-Bataillon, das im September zum Regiment aufgestuft worden war, wurde ab November 2014 Teil der ukrainischen Nationalgarde.

Die Rebell:innen im Osten rekrutierten sich anfangs in erster Linie aus der lokalen Bevölkerung. Recht bald bekamen sie aber die tatkräftige Unterstützung des russischen Imperialismus, der Freiwillige bereitwillig in die Ukraine zum Kämpfen gehen ließ. Spätestens Ende des Sommers 2014 dürften auch reguläre russische Truppen zum Einsatz auf ukrainischem Territorium gekommen sein. Sehr bald konnte so der russische Imperialismus die anfangs fortschrittliche, antifaschistische Bewegung in der Ukraine für sich vereinnahmen.

Der Bürger:innenkrieg im Donbass brachte vor allem den östlichen Regionen verheerende Zerstörungen, tausende starben und noch viele mehr mussten flüchten. Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs konnten gemeinsam mit Russland dann Anfang 2015 in Minsk ein Waffenstillstandsabkommen aushandeln, das die Kampfhandlungen zwar reduzieren, aber nicht vollkommen beenden konnte. Vor allem die politischen Punkte, die unter anderem eine Verfassungsreform der Ukraine hin zu einer Dezentralisierung vorsahen, wurden nie umgesetzt.

Geopolitische Dimension

Spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends erlebte der russische Imperialismus unter Wladimir Putin eine Renaissance. Damit verbunden war eine Auseinandersetzung mit der EU (hier insbesondere dem deutschen Kapital) und den USA über Märkte und Einflusszonen in Osteuropa. Die Ukraine war zu Sowjetzeiten eines der Herzstücke der landesweiten Industrie und auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren ukrainische und russische Industrie weiterhin eng verbunden. Dem Westen war das natürlich ein Dorn im Auge und er versuchte, das Land für das internationale Kapital zu öffnen. Schon in den Protesten 2004/05, die als Orangene Revolution bekannt wurden, zeichnete sich diese Auseinandersetzung ab. Die ukrainischen Kapitalist:innen mussten sich fortan entscheiden, ob sie sich lieber dem Westen oder Russland unterordnen wollten.

Doch auch die Politik „des Westens“ war und ist alles andere als einhellig. Vor allem das deutsche Kapital war traditionell wirtschaftlich eng an den russischen Imperialismus angebunden, sein Energiebedarf wird zu guten Teilen mit russischem Gas gedeckt. Eine relevante Fraktion des deutschen Kapitals sah in Russland auch einen möglichen Partner, um sich unabhängiger vom US-Imperialismus machen zu können. Gerhard Schröder ist der beste Repräsentant dieser Politik. Die USA waren wirtschaftlich hingegen nicht wirklich auf Russland angewiesen und konnten sich dadurch aggressiver positionieren. Sie drängten zum Beispiel 2014 und danach auf harte Sanktionen gegen es, nicht nur um dem russischen Imperialismus zu schaden, sondern auch gleichzeitig das deutsche Kapital und seine Absatzmärkte zu schwächen bzw. von Russland abzukoppeln. Diese innerimperialistischen Widersprüche führten dazu, dass das Abkommen von Minsk nur von Deutschland und Frankreich – ohne Beteiligung der USA – ausverhandelt wurde.

Wolodymyr Selenskyj

Die durch den Maidan und die darauffolgenden Wahlen eingesetzte Regierung war wenig populär. Präsident Poroschenko, der die Wahlen 2014 klar für sich entschieden hatte, war recht bald unbeliebter als sein Vorgänger Janukowytsch. Große Teile der Bevölkerung waren von der Maidan-Bewegung und den leeren Versprechungen des Westens von Modernisierung und Wohlstand desillusioniert. Bei den Wahlen 2019 konnte der jüdische, russischsprachige TV-Comedian Selenskyj die Wahlen für sich entscheiden – eine klare Absage an das politische Establishment. Doch so einfach war es nicht. Er profitierte enorm von der Unterstützung eines der reichsten Ukrainer – Igor Kolomoisky. Die TV-Serie von Selenskyj lief auch auf dessen TV Sender „1+1“. Recht bald erwies sich auch Letzterer als unfähig und unwillig, die Probleme des Großteils der Ukrainer:innen zu lösen. Das ist auch nicht verwunderlich, da er dem Druck des rechtsnationalistisch durchsetzten ukrainischen Staatsapparats sowie der Gnade des westlichen Kapitals und seiner Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds schutzlos ausgeliefert war.

Er hatte zwar als Außenseiter die Wahlen gewonnen, setzte aber mehr oder weniger den politischen Kurs seiner Vorgänger fort. Hatte er ursprünglich versprochen, den Krieg im Osten des Landes zu beenden und auf Verhandlungen mit Russland zu setzen, führte er ihn stattdessen fort und duldete die Rolle faschistischer Milizen im Kampf gegen die „Separatist:innen“. Er versuchte, die Ukraine in die Europäische Union und NATO zu bringen, und verfolgte den offenen Antikommunismus weiter. Er wurde zum treuen Diener des westlichen Kapitals. Ende 2021 war seine Zustimmungsrate auf weniger als ein Drittel gefallen – und das, obwohl er die Wahlen zwei Jahre zuvor mit eindrucksvollen 72 % für sich entscheiden konnte.

Putins Krieg

Die Entscheidung Putins zum Angriff auf die Ukraine ist keineswegs vollkommen oder auch nur hauptsächlich dadurch zu erklären, dass er wahnsinnig geworden sei oder gegen Ende seines politischen Lebens auf seinen Platz in den Geschichtsbüchern bedacht wäre. Diese psychologistischen Erklärungsmuster westlicher Kommentator:innen sind alles andere als wissenschaftlich fundiert. Den Krieg durch die ideologische Rechtfertigung des Überfalls seitens des Präsidenten – dass die Ukraine eine künstliche Nation wäre und eigentlich Teil einer großen russischen Volksgemeinschaft – zu erklären, ist genauso unzureichend. Viel relevanter sind hier ökonomische wie geopolitische Faktoren.

Teil 2 des Artikels wird sich mit diesen näher befassen.




Der Kampf für eine Fraueninternationale – Lehren aus der sozialistischen Frauenbewegung

Aventina Holzer (REVOLUTION, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt/Österreich), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10

Internationale Vernetzung stellt für jeden politischen Kampf eine Bereicherung, wenn nicht eine Voraussetzung dar. In der feministischen Bewegung, die aufgrund des zunehmenden Widerspruchs von Kapitalismus und Gleichberechtigung wieder Fahrt aufnimmt, gibt es momentan aber wenig erfolgreiche Bestrebungen, eine solche Verbindung nachhaltig aufzubauen. Dabei haben die Frauen*streiks der letzten Jahre die Notwendigkeit einer international koordinierten, verbindlichen Aktion um gemeinsame Forderungen eigentlich auf die Tagesordnung gesetzt.

Die führenden Feminist:innen der Bewegung schlagen jedoch stattdessen eher lose Vernetzungen der nationalen Kämpfe vor oder behaupten, dass die Art, wie man sich aufeinander bezieht, schon internationalen Charakter hätte. Auch fehlt bei diesen Vorschlägen nur allzu oft ein klarer Klassenstandpunkt. Statt einer gemeinsamen Koordinierung, die auf einem Aktionsprogramm fußt und dadurch handlungsfähig wird, wird also auf abstrakte Appelle und liberale Politik gesetzt. Wenn wir wollen, dass die momentanen Kämpfe erfolgreich sind, dann brauchen wir auch eine Vorstellung, welche gemeinsame, internationale Organisationsform, aber vor allem auch welche Politik und welcher Klassenstandpunkt notwendig sind. Wir wollen daher die Sozialistische Fraueninternationale (heute: Sozialistische Frauen-Internationale; SIW) und ihre Entwicklung beleuchten und für die Gegenwart fruchtbar machen. Denn wir brauchen nicht nur eine linke Frauenpolitik, wir wollen antisexistische Kämpfe, die in einer revolutionären und proletarischen Tradition stehen.

Herausbildung der proletarischen Frauenbewegung

Prinzipiell ist die Geschichte der Sozialistischen Fraueninternationale keine lineare. Um sie richtig verstehen und einordnen zu können, stellt sich die Frage nach der proletarischen Frauenbewegung, die sich neben der bürgerlichen herausbildete. Mit der Industrialisierung und dem Übergang zum Kapitalismus bildeten sich neue gesellschaftstragende Klassen heraus: Bürger:innentum und Proletariat. Mit den Widersprüchen, die der Kapitalismus für die arbeitende Frau brachte (Mehrfachbelastung durch Lohn- und Reproduktionsarbeit), wurde auch eine neue Generation an Kämpfer:innen politisiert.

Auch in der bürgerlichen Frauenbewegung wurde die Frage nach politischer Gleichstellung im 19. Jahrhundert immer relevanter. Zentral dafür war das Frauenwahlrecht, das von bürgerlicher Seite oft nur für privilegierte Frauen gefordert wurde. Mit widersprüchlichen Interessen und Vorstellungen sammelten sich hinter dieser Forderung die Frauenorganisationen. Die proletarische Frauenbewegung hatte ihre Wurzeln natürlich in der Sozialdemokratie und speziell der deutschsprachige Raum übernahm hier eine Vorreiterrolle (die deutsche Sozialdemokratie war die stärkste Europas).

Zwar gab es im europäischen Raum auch schon vorher Absprachen und Vernetzungen, aber was die proletarische Frauenbewegung betrifft, wurden erst ab 1896 (also 7 Jahre nach dem Gründungskongress der II. Internationale, dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen Parteien) Treffen, die der internationalen Verbindung der sozialdemokratischen Frauen dienten, abgehalten. Ein Grund für diese recht späte Entwicklung lag sicher in den tief sitzenden sexistischen Einstellungen innerhalb der Sozialdemokratie, die erst mit der Zeit abgebaut werden konnten und die Ausrichtung der Partei wie der entstehenden Gewerkschaften auf die männliche Lohnarbeit. Die Organisierung von Frauen wurde von vielen allenfalls als untergeordnete Aufgabe verstanden – was das Entstehen eigener Frauenorganisationen erschwerte und gleichzeitig umso notwendiger machte.

Ein Beispiel dafür liefert die Debatte rund um die Frauenarbeit, die erst langsam mit dem Entstehen der II. Internationale eine sinnvolle gemeinsame Beantwortung fand, in der nicht von einem „Ausspielen“ der Frau gegen die männlichen Arbeiter die Rede war. Zeitgleich kann man aber auch in der II. Internationale starke sexistische Stereotype und Probleme sehen. Selbst Zetkin, die wichtigste Vertreterin der deutschen, proletarischen Frauenbewegung neigte dazu, bestimmte bürgerliche Geschlechterrollen zu reproduzieren. So enthält selbst ihre bedeutende, politisch starke Aussage „Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen“ den Satz: „Es darf auch unmöglich die Aufgabe der sozialistischen Frauenagitation sein, die proletarische Frau ihren Pflichten als Mutter und Gattin zu entfremden“.

Frauenwahlrecht

In Deutschland gab es in der Sozialdemokratie schon länger Frauenkonferenzen und 1907 wurde dieses Konzept auch auf die II. Internationale übertragen und fand die erste internationale Frauenkonferenz statt. Vom 17. bis 19. August trafen sich 58 Delegierte aus 15 Ländern in Stuttgart. Zentral behandelt wurden Fragen des weiteren internationalen Austausches und des Frauenwahlrechts. Als Ergebnis, stark geprägt von den Anträgen Clara Zetkins, wurde ein internationales Frauensekretariat der II. Internationale bestimmt und die „Gleichheit“ gegen den Widerstand des revisionistischen Flügels als deren offizielles Organ anerkannt.

Die Konferenz sprach sich für ein allgemeines Wahlrecht für Männer und Frauen aus und verabschiedete eine entsprechende Resolution. Der revolutionäre Flügel um Zetkin, Luxemburg oder auch Kollontai drängte darauf, das allgemeine Frauenwahlrecht zu einem zentralen Kampfziel der proletarischen Bewegung zu machen und dieses nicht, wie in einigen Ländern (z. B. Österreich und Großbritannien geschehen) dem Ringen um das Männerwahlrecht oder sogar weitaus unbedeutenderen kurzfristigen Reformzielen unterzuordnen.

Österreichische und britische Delegierte verteidigten hingegen die Position, dass es in manchen Situationen taktisch klug wäre, auf ein Frauen- zugunsten eines allgemeinen Wahlrechts für Männer zu verzichten. Dies wurde so argumentiert, dass in manchen Situationen diese letztere Forderung leichter umzusetzen wäre und mit dem Erreichen dieses Meilensteins ein späterer Kampf für das allgemeine Frauenwahlrecht erleichtert werden würde.

Schließlich setzte sich der linke Flügel bei der Abstimmung 1907 klar durch. Der Kampf für das Frauenwahlrecht sollte ein entscheidender sein für die Sozialdemokratie. Es war eine sehr richtige Entscheidung, diese Bedenken klar abzuwehren. Bald darauf wurde die Entscheidung der Fraueninternationale auch von der II. Internationale bestätigt.

Die Debatte rund um das Wahlrecht war aber nicht nur eine taktische, sondern zeigte bereits die tiefgreifenden Unterschiede zwischen reformistischen und revolutionären Kräften. Die von den Österreicherinnen eingebrachte Debatte stellte ja auch infrage, wie die Internationale gemeinsam und verbindlich radikal auftreten konnte, ein Problem, das in der zunehmend reformistisch dominierten ArbeiterInnenbewegung immer größer geriet.

Dass es sich um alles andere als bloße „Meinungsverschiedenheit“ oder „kleine politische oder taktische Differenzen“ handelte, wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg Revolutionärinnen wie Luxemburg oder Zetkin zunehmend bewusst. Innerhalb der deutschen und internationalen Frauenbewegung kam es rund um „die Gleichheit“ und deren Chefredakteurin, Clara Zetkin, zur Formierung eines Pols, der sich klar zum linken Flügel zählte.

Die Etablierung eines eigenen Frauensekretariats war sicherlich ein Fortschritt, litt aber an ähnlichen Problemen wie andere Gremien der II. Internationale, nämlich dass es über wenig tatsächliche politische Entscheidungsfähigkeit und Verankerung verfügte. Beim nächsten internationalen Frauenkongress 1910 musste bilanziert werden, dass trotz der Bekenntnisse und Resolutionen die gemeinsame Arbeit rund um das allgemeine Frauenwahlrecht und die internationale Vernetzung noch einiges zu wünschen übrig ließen. Man sollte sich in der Analyse dieser Fehler nicht nur auf die Form beschränken, sondern versuchen herauszufinden, aus welchen politischen Fehlentscheidungen diese resultierten. Ein Fehlen von demokratisch zentralistischen Strukturen, also einem gemeinsamen, verbindlichen Handeln nach außen, nach Diskussion in der Organisation bedeutete eben auch, dass die Internationale nie ihr volles Potenzial entfalten konnte. Sie bildete eher eine Vernetzung zwischen den nationalen Organisationen und keine internationale Organisation mit Sektionen in den einzelnen Ländern.

Zeitgleich konnten sich die reformistischen Kräfte dadurch aber auch immer stärker in ihre nationalen bürgerlichen Verhältnisse festkrallen. Selbst wenn die Internationale von Sozialismus und Revolution redete, entsprach das nicht der tatsächlichen Praxis der Sozialdemokratien der einzelnen Länder. Vielmehr rechtfertigten sie ihre zunehmend bürgerlich-gradualistische Reformpolitik als „Taktik“, deren opportunistischer Charakter durch Lippenbekenntnisse zum Sozialismus versteckt wurde. Das bedeute dann eben auch, dass die meisten international agierenden Strukturen fast wirkungslos blieben und als primäre Aufgabe die Vernetzung hatten. Nicht zu unterschätzen war jedoch, dass die „Gleichheit“ als einziges großes, internationales Organ der II. Internationale vom revolutionären Flügel und nicht vom reformistischen kontrolliert wurde.

Als „Lösung“ wurde beim Frauenkongress 1910 der Internationale Frauentag als Kampftag für das Wahlrecht verankert. Ein weiterer Kongress fand 1913 statt, der sich gegen die Balkankriege stellte und schon einen starken Fokus auf Frieden hatte.

Weltkrieg

Mit dem 1. Weltkrieg wurden die Widersprüche in der Sozialdemokratie offensichtlicher und es zeichneten sich Spaltungen ab. In Deutschland formierte sich ab 1915 die kleine, revolutionäre Minderheit, der Spartakusbund. Die SPD selbst schloss 1916 die wachsende Zahl der Kriegsgegner:innen unter den Parlamentsabgeordneten aus, die 1917 die USPD gründeten. Die Organisation zerbrach in die sozialchauvinistische Mehrheitssozialdemokratie, welche den Krieg unterstützte und den Burgfrieden für Kapital und Kaiser organisierte, und in die USPD, welche eine pazifistische Politik vertrat. Die Bruchpunkte existierten auch in der proletarischen Frauenbewegung weiter und grob gesagt unterteilte sie sich in drei Strömungen. Die reformistische, die die Burgfriedenspolitik mittrug und sich auf Arbeit in „sozialen Strukturen“ (Wohltätigkeit) beschränkte. Die gewerkschaftliche, die versuchte, sich auf ihre Rolle als Interessenvertretung zu konzentrieren, und dabei die politischen Forderungen und Notwendigkeiten hintanstellte. Und die innerparteiliche Linke, die auch maßgeblich für die weitere Entwicklung der Sozialistischen Fraueninternationale verantwortlich war.

Im Herbst 1914 plante Zetkin ein weiteres ihrer Treffen. Dieses konnte aber wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erst 1915 stattfinden. Die Konferenz war klar eine Antikriegskonferenz und es sammelten sich hier vom 26. bis 28. März 30 Delegierte aus unterschiedlichen Ländern in der Schweiz. Die Konferenz wurde von der SPD-Parteiführung nicht unterstützt. Schließlich stand die deutsche Sozialdemokratie (wie die meisten Sozialdemokratien Europas) auf Regierungsseite.

Diese Konferenz sollte nicht nur einer der ersten Versuche sein, die internationale Zusammenarbeit der sozialistischen Organisationen trotz des Krieges wiederzubeleben, sondern war auch eines der ersten internationale Zusammentreffen einer radikalen Strömung, die sich gegen die offizielle Parteilinie stellte. Ähnlich wie die später unter dem Namen „Zimmerwalder Linke“ bekanntgewordene Gruppe wurde eine Opposition zur Kriegspolitik, aber auch zur reformistischen Degeneration der Sozialdemokratie gesammelt.

Die teilnehmenden Frauen, speziell die führenden Aktivistinnen, gehörten nun zum Großteil dem linken Flügel ihrer Parteien an. So ist es also nicht verwunderlich, dass die Sozialistische Fraueninternationale wichtig für die internationale Verbindung der Kriegsopposition gewesen war. Ein Grund dafür könnte sein, dass Frauen aufgrund ihrer Mehrfachunterdrückung häufiger direkt konfrontiert mit den Problemen des Kapitalismus waren und wegen des in den Organisationen (inklusive der Gewerkschaften) vorherrschenden Sexismus’ weniger in Systeme integriert wurden und auch weniger aufgrund materieller Anreize ihre Politik verrieten.

Die Konferenz verabschiedete im März 1915 den Aufruf „Frauen des arbeitenden Volkes!“, der deutlich den imperialistischen Charakter des Krieges hervorhob, das Ende der Burgfriedenspolitik forderte und mit folgenden Losungen endete: „Nieder mit dem Kapitalismus, der dem Reichtum und der Macht der Besitzenden Hekatomben von Menschen opfert! Nieder mit dem Kriege! Durch zum Sozialismus!“

Die Konferenz stellte schon durch ihr Zustandekommen einen wichtigen Fortschritt dar. Anders als die Frauenkonferenzen vor dem Krieg erkannte sie überhaupt nur der linke, gegen den Krieg eingestellte Flügel an. Aber es zeigten sich bei der Mehrheit der Teilnehmerinnen auch zwei wichtige Schwächen und damit Differenzen zu den Bolschewiki, die durch Krupskaja vertreten waren. Es fehlte die Erkenntnis, dass es an der Zeit war, sich von der Sozialdemokratie loszusagen und eine linke Opposition aufzubauen, eine neue Partei, die in einer Situation der Illegalität auch Arbeit machen konnte. Die Forderung, den imperialistischen Krieg in einen revolutionären Bürger:innenkrieg umzuwandeln, was die tatsächlich richtige Schlussfolgerung aus dem beschlossenen Slogan gewesen wäre, wurde nicht aufgestellt. Die russische Delegation stellte zu diesen Punkten zwar einen Antrag, der wurde allerdings abgelehnt. Die Erkenntnis holte die führenden Aktivistinnen zwar nach und nach ein, als sich die Spaltung vollzog und immer klarer wurde, dass ein politischer und organisatorischer Bruch mit der sozialdemokratischen Führung unumgänglich war. Ähnlich wie die Konferenzen von Zimmerwald und Kiental bildeten die internationalen Frauenkonferenzen einen wichtigen Ausgangspunkt für die Sammlung der revolutionären Internationalist:innen und die spätere Formierung der Dritten Internationale.

Lehren

Die Geschichte der Sozialistischen Fraueninternationale gibt uns heruntergebrochen heute Ansätze für fünf wichtige Aspekte.

Erstens: Wie muss eine Frauenbewegung aussehen, die auch in der Lage ist, tatsächliche Verbesserungen zu erkämpfen? Und wie ist dieser Kampf mit dem um eine revolutionäre Umwälzung verbunden? Die Auseinandersetzung rund um das Frauenwahlrecht ist ein gutes Beispiel dafür, was eine proletarische Frauenbewegung leisten kann, und zeigt auch, dass es selbst in Situationen, wo man mit bürgerlich-feministischen Kräften zusammenarbeiten kann, sinnvoll und notwendig ist, sich klar von ihnen politisch und organisatorisch abzugrenzen.

Zweitens: die Frage von separater Organisierung. Auch wenn es sich hierbei nicht um ein Prinzip handelt, so ist es doch interessant zu beobachten, wie gerade die führenden Frauen und die Jugend in der europäischen Sozialdemokratie oft zum linken Flügel gehörten. Ziel einer Organisation ist es, einen Rahmen zu schaffen, in dem alle Aktivist:innen gemeinsam handeln können, aber es kann auch Situationen geben, wo es erfolgreicher ist, sich separat zu organisieren oder eigene Gremien in der Organisation einzufordern, um gegen soziale Unterdrückung auch innerhalb der Gruppe vorzugehen. So formten sowohl die Jugendinternationale als auch die Sozialistische Fraueninternationale wichtige Sammelpunkte des Kampfes gegen die reaktionäre Politik der Sozialdemokratie nach 1914. Immer sinnvoll ist es aber, in Organisationen einen Rahmen zu schaffen, um sich als gesellschaftlich Unterdrückte zu treffen und Probleme auch gesondert besprechen und deren Lösung vorantreiben zu können. Ein sogenanntes Caucus-Recht bildet also auch eine wichtige Lehre und Errungenschaft.

Drittens: Die wirkliche Frauenbefreiung ist eine globale Frage. Die Vernetzung der Kämpfe ist nicht nur sinnvoll und lehrreich, sondern stärkt sie auch maßgeblich. Aber wenn es nur dabei bleibt, dann besteht die Gefahr, wie es auch bei der II. Internationale der Fall war, dass sich nie eine länderübergreifende Organisation herausbildet, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame Handeln verfolgt. Aktionen werden stärker und können mehr an Fahrt aufnehmen, wenn es eine zentrale Koordination und Vernetzung auf internationalem Niveau gibt. Selbst jetzt, ohne eine solche Organisation und Vernetzung, sieht man, wieviel schlagkräftiger Kampfmittel wie zum Beispiel Frauenstreiks werden, wenn sie international passieren und sich gegenseitig in ihren Anliegen unterstützen (auch wenn es gerade sehr dezentral und losgelöst erfolgt).

Viertens: Internationalismus ist nicht nur eine Frage der Effektivität, sondern folgt auch daraus, dass der Klassenkampf – und damit logischerweise der der proletarischen Frauen – ein globaler ist. D. h., eine neue sozialistische Frauenbewegung darf sich nicht auf Fragen der Gleichheit und geschlechtlichen Unterdrückung beschränken, sondern muss fest auf dem Boden eines Kampfprogramms gegen Imperialismus und Kapitalismus, eines von Übergangsforderungen stehen.

Fünftens: Neben der Erkenntnis, dass es notwendig ist, innerhalb der bestehenden bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Bewegung für eine proletarische Frauenbewegung zu kämpfen, sehen wir diesen Kampf auch als einen direkten Beitrag für eine neue Internationale. Die Führungskrise des Proletariats und damit auch das Fehlen einer internationalen, revolutionären Partei bedeutet, dass die Kämpfe, die in Bewegungen wie der der Frauen geführt werden, auch das Potenzial gewinnen können, revolutionäre Kräfte zu sammeln und damit auch einen Ansatzpunkt für so eine Partei sein können. Auch deshalb ist es notwendig, sich auf einer klaren und revolutionären programmatischen Grundlage zu sammeln, um die Zuspitzung innerhalb der Frauenbewegung auch für den Aufbau einer neuen Internationalen und deren revolutionäre Ausrichtung nutzen zu können.

Seit der Degeneration der III., Kommunistischen und dem Scheitern der Vierten Internationale ist es ein zentrales Problem, dass es keine revolutionäre Internationale und politisch-programmatische Kontinuität in der Arbeiter:innenklasse gibt. D. h. der Einfluss bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologie ist ungleich größer als in Perioden mit einer konstituierten Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse. Der Kampf um eine proletarische, sozialistische Frauenbewegung ist daher untrennbar mit dem Kampf um eine revolutionäre Internationale verbunden.

Die Sozialistische Fraueninternationale war bei allen Problemen nicht nur historisch ungleich fortschrittlicher und weiter als die Bewegung heute, sie stellt auch ein anderes Modell dar. Sie stand von Beginn an auf einer klassenpolitischen, proletarischen Grundlage und verstand sich als Teil des revolutionären Kampfes zur Befreiung aller Lohnabhängigen. Zugleich aber entstand sie als Gegensatz zur bürgerlichen Frauenbewegung und am Beginn der imperialistischen Epoche – und damit in einer, wo sich die Differenzen zwischen dem reformistischen und dem revolutionären Flügel zuspitzten.

Dazu benötigen wir eine revolutionäre internationale Organisation auf klarer programmatischer Grundlage, die es schafft, sich an den Aufbau solcher Strukturen zu machen. Die internationale Frauen- und LGBTQIA+-Bewegung kann nur mit solchen langfristig erfolgreich sein, ihre Unterdrückung nicht nur innerhalb des Systems zu bekämpfen, sondern auch das System an sich aus den Angeln zu heben und damit tatsächliche Befreiung zu erwirken. Für eine neue, revolutionäre Internationale!




Hexenjagd: Silvia Federici auf der Suche nach Antworten

Jaqueline Katharina Singh, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Federicis Buch „Caliban und die Hexe“ ist nicht nur in sieben Sprachen übersetzt worden. Ihre Analyse der Hexenverfolgung und ihrer Bedeutung zum Verständnis von Frauenunterdrückung und Kapitalismus wurden vom linken Feminismus diskutiert und aufgegriffen. Viele Autor:innen stützen sich mittlerweile auf die darin entwickelten Ideen, machen sie zur Grundlage eigener Theorien und Konzepte.

Silvia Federici selber ist ehemalige Hochschullehrerin, politische Philosophin und Aktivistin. Zusammen mit Mariarosa Dalla Costa, Selma James und anderen gründete sie 1972 das International Feminist Collective, welches die internationale „Lohn für Hausarbeit“-Kampagne startete. Über Jahre veröffentlichte Federici zahlreiche Bücher und Essays zu marxistischer und feministischer Theorie, Globalisierungskritik und zum Konzept der „Commons“. Mit ihrem 2004 erschienenen Hauptwerk „Caliban und die Hexe – Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation“ (Mandelbaum-Verlag, Wien/Berlin 2021, 9. Auflage) wollen wir uns im Folgenden beschäftigen und einige ihrer zentralen Ideen diskutieren.

Grundgedanken von „Caliban und die Hexe“

Auch für Federici selbst bilden die in „Caliban und die Hexe“ entwickelten Auffassungen die Grundlage einer politisch-strategisch Orientierung, die davon ausgeht, dass die eigentliche Quelle des Reichtums und damit seiner Vermehrung in der kapitalistischen Gesellschaft nicht oder allenfalls nur zum Teil in der Aneignung fremder Arbeit im kapitalistischen Verwertungsprozess besteht. „In diesem Sinn zeigt Caliban und die Hexe, dass der Körper für Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft das gewesen ist, was die Fabrik für männliche Lohnarbeiter gewesen ist: der Hauptschauplatz ihrer Ausbeutung und ihres Widerstandes.“ (Caliban und die Hexe, a. a. O., S. 23.)

Die ursprüngliche Akkumulation, als deren integralen Bestandteil Federici die Hexenverfolgung und den Mord an Hunderttausenden begreift, steht daher nicht einfach am Beginn der Durchsetzung des Kapitalismus als Gesellschaftsformation. Sie betrachtet sie vielmehr als „universellen Vorgang“, der „in jeder Phase kapitalistischer Entwicklung“ (S. 24) ein ergänzendes, wenn nicht grundlegendes Moment des Gesamtprozesses bildet. Kolonialismus, Imperialismus, Globalisierung und die private Hausarbeit stellten für sie grundlegende Formen dieser Permanenz der ursprünglichen Akkumulation dar.

In ihrer Einleitung fasst Federici ihre Thesen prägnant zusammen: „Die politische Lektion, die wir Caliban und die Hexe entnehmen können, lautet in der Tat, dass der Kapitalismus als sozio-ökonomisches System zwingend auf Rassismus und Sexismus angewiesen ist. Denn der Kapitalismus muss die Widersprüche, die seinen gesellschaftlichen Verhältnissen innewohnen, rechtfertigen und mystifizieren: Seinem Freiheitsversprechen steht die Realität weitverbreiteten Zwangs, seinem Wohlstandsversprechen die ebenso weitverbreiteten Elends gegenüber.“ (S. 25) Zentral ist dabei ihre These, dass die Hexenverbrennung eine maßgebliche Rolle bei der ursprünglichen Akkumulation gespielt hat. Dabei greift sie Marx’ Begriff auf, übt jedoch zugleich Kritik und leistet eine eigene (Fehl-)Interpretation. Für Federici war die Hexenverfolgung ebenso konstitutiv für die Entstehung des Kapitalismus wie die „Entdeckung“ der Kolonien und Sklaverei sowie Einhegung und Vertreiben der Bauern/Bäuerinnen von ihrem Land. Dies konnte ihrer Auffassung zufolge von Marx nicht gesehen werden, da dieser „die ursprüngliche Akkumulation vom Standpunkt des entlohnten männlichen Proletariats und der Entwicklung der Warenproduktion“ (S. 17) untersucht habe. Federici fokussiert hingegen auf die Stellung der Frau und ihre Veränderung, die die ursprüngliche Akkumulation bei der Produktion der Ware Arbeitskraft bewirkte. Daraus resultiert für sie unter anderem auch eine andere Bewertung der weltgeschichtlichen Rolle des Kapitalismus. Sie lehnt den Grundgedanken des Marxismus, dass die Durchsetzung dieser Produktionsweise erst die Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft (gesellschaftliche Produktion, Herausbildung des Proletariats als universeller Klasse) schafft und insofern eine notwendige Voraussetzung für diese darstellt, kategorisch ab (S. 18). Für Federici wäre im Grund auch aus der Krise des Feudalismus ein Übergang zu einer gemeinwirtschaftlichen, nicht-unterdrückerischen Wirtschaftsweise und Gesellschaftsformation möglich gewesen.

Ein anderer wichtiger Punkt ist die Auseinandersetzung mit Körpern. Ihr Ziel ist es, mithilfe der Analyse des Übergangs zum Kapitalismus und der ursprünglichen Akkumulation über die bisher existierenden Analysen der „Körperpolitik“ seitens Foucaults und diverser Feminist:innen hinauszugehen. „Caliban und die Hexe“ soll zeigen, dass der Körper für Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft das gewesen ist, was für Männer die Fabrik gewesen ist: Hauptschauplatz der Ausbeutung und des Widerstandes. Diese These ist darin begründet, dass der weibliche Körper von Staat und Männern angeeignet wurde, als Mittel zur Akkumulation und Reproduktion von Arbeit (S. 23).

Wie wir sehen werden, zieht diese eine Reihe theoretischer wie politischer Konsequenzen nach sich, was das Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise, ihrer Rolle in der Geschichte, des revolutionären Subjekts und der Alternative zum Kapitalismus betrifft. Für Federici stellt nicht die Enteignung des Kapitals und die bewusste Vergesellschaftung von Produktions- und Reproduktionsarbeit im Rahmen einer globalen, demokratischen Planwirtschaft die notwendige Form der Überwindung des Kapitalismus dar, sondern eine Rückkehr zu, wenn auch an moderne Produktivkräfte angepassten, gemeinwirtschaftlichen Formen der Commons (oder der Allmende). Diese Schlussfolgerungen werden in „Caliban und die Hexe“ nur knapp angedeutet und in anderen Schriften und Interviews umfänglich dargestellt. Auch diese einer ausführlichen Kritik zu unterziehen, würde jedoch den Rahmen des Artikels sprengen. Es sei einer zukünftigen Arbeit vorbehalten. „Caliban und die Hexe“ bildet aber so etwas wie einen theoretischen Unterbau für diese universellen politischen Schlussfolgerungen. Daher konzentrieren wir uns auf eine Kritik ihres Buches.

Die ursprüngliche Akkumulation bei Marx

Bevor wir Federicis Argumente genauer betrachten und verstehen können, lohnt es sich, mit Marx’ Verständnis der ursprünglichen Akkumulation anzufangen. Im Kapitel 24 des ersten Bandes von „Das Kapital“ (Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation) geht Marx darauf näher ein. Unter diesem Begriff versteht er die historischen Prozesse, die der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise vorausgehen, zur Herausbildung einer Klasse von Kapitaleigentümer:innen, die die wesentlichen Produktionsmittel monopolisieren, und einer Klasse doppelt freier Landarbeiter:innen führen. Der Kapitalismus ist nun mal nicht vom Himmel gefallen: „In einer längst verfloßnen Zeit gab es“, so Marx sarkastisch, „auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der anderen faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen [ … ] So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut“ (MEW 23, Berlin/Ost 1971, S. 741). Die Entstehungs- und Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus als vorherrschender Produktionsweise ist vielmehr ein längerer Prozess vom 14. bis ins 19. Jahrhundert, bei dem in unterschiedlichen Regionen aufgrund ihrer jeweiligen Gegebenheiten auch unterschiedliche Produktionsweisen herrschten und teilweise gleichzeitig existierten. Schließlich geht es im Kapitalismus darum, Kapital durch Kombination mit Lohnarbeit zu vermehren. Der dabei gewonnene Mehrwert wird dem Gesamtkapital hinzufügt, damit es sich weiter vermehrt, auf einer nach oben offenen Akkumulationsskala. Damit nun aber ein solches selbsttragendes Kapitalwachstum beginnen kann, muss zunächst einmal einsatzfähiges Kapital vorhanden sein, das selber nicht durch seinen Einsatz im indistriellen Produktionsprozess entstanden sein kann. Und es muss eine Klasse von Lohnarbeiter:innen vorhanden sein, die keine Alternative hat zum Verkauf ihrer Arbeitskraft, um ihre Existenz zu fristen. Marx untersucht diesen Prozess in erster Linie für England, da sich dort die kapitalistische Produktionsweise zuerst und am durchgängigsten entfaltet hat. Die ursprüngliche Akkumulation umfasst v. a. die Momente, „worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleuderte werden“ (a. a. O., S. 744). Dazu gehören:

a) Die gewaltsame Aneignung des Grund und Bodens

Um überhaupt ausreichend Arbeitskräfte für das Kapital zu haben, musste die Bauern-/Bäuerinnenschaft von ihrem Grund und Boden gewaltsam vertrieben werden, was nicht nur die Vertreibung der selbstständigen Produzent:innen bedeutete, sondern auch die Enteignung des Gemeindelandes, der Allmende, um so der Bevölkerung jede Grundlage für Subsistenzwirtschaft zu entziehen.

b) Blutgesetzgebung und Absenkung des Arbeitslohns

Durch die Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden entstanden massenhaft Bettler:innen, Räuber:innen, Vagabund:innen, zum Teil aus Neigung, in den meisten Fällen durch den Zwang der Umstände, da diese nicht von den aufkommenden Manufakturen absorbiert werden konnten. Um dem entgegenzuwirken, wurde Ende des 15. und während des ganzen 16. Jahrhunderts in Westeuropa die Blutgesetzgebung erlassen. Die Strafen reichten von Auspeitschung, Brandmarkung bis zur Hinrichtung, die erfolgen konnte, wenn jemand ein drittes Mal beim Vagabundieren gefasst wurde. Allein unter Heinrich VIII. sollen 72.000 Vagabund:innen hingerichtet worden sein. Der entscheidende Punkt dieser Maßnahmen bestand darin, sämtliche Formen alternativer Einkommen zu kriminalisieren und damit die Besitzlosen faktisch zur Lohnarbeit zu zwingen, oft sogar in Form direkter Zwangsarbeit (Arbeitshäuser) und zu extrem geringen Löhnen, was umgekehrt die Profite der entstehenden Manufakturbesitzer:innen massiv steigerte.

c) Die Herausbildung der Kapitalist:innenklasse und kapitalistischen Pächter:innen

Die Enteignung des Landes und die Durchsetzung des Zwangs zur Lohnarbeit bildet die Grundlage für die Entstehung des/r industriellen Kapitalist:in und des/r kapitalistischen Pächter:in (Agrarkapitalist:innen). Das Handelskapital hatte sich historisch früher entwickelt. Damit die kapitalistische Produktionsweise jedoch zur vorherrschenden werden konnte, musste es die Schranken feudaler Bindung an Grund und Boden sowie Zunftwesen plus das Eigentum kleiner Landbesitzer:innen zerstören. Der Kolonialismus, die Plünderung der Amerikas, Sklav:innenhandel, Ausweitung der Staatsschuld sowie die Entstehung eines internationalen Kreditsystems schafften dabei mächtige Hebel zur Akkumulation des industriellen Kapitals, weil so viel gewaltigere Kapitalmassen (und damit Produktionsmittel und Arbeitskraft) mobilisiert werden konnten, als dies ohne diese Katalysatoren möglich gewesen wäre.

d) Kommodifizierung und Herstellung des innern Markts für das industrielle Kapital

Schon die Krise des Feudalismus und erst recht die Vertreibung der Landbevölkerung führen zu einer zunehmenden Kommodifizierung der Reproduktion. Ein wichtiges Beispiel stellt dabei der Übergang von der Natural- zur Geldrente im Feudalsystem dar. Noch viel umfassender ist dieser Prozess natürlich bei der Expropriation der kleinen Bauern/Bäuerinnen. Sie müssen nun ihre Lebensmittel und ihren Wohnraum als Waren kaufen. Das zwingt sie nicht nur zur Lohnarbeit, sondern es erzeugt zugleich auch den inneren Markt für das Kapital, indem ganze Produktionszweige (Produktion von Konsumgütern, Einzelhandel) ausgedehnt werden.

Aus all dem ergibt sich die historische Bedeutung der ursprünglichen Akkumulation als Geburtshelferin des Kapitalismus. Die Gewalttätigkeit und Brutalität des Prozesses beruht gerade darauf, dass die Produktionsweise sich erst als vorherrschendes gesellschaftliches Verhältnis durchsetzt. Sie ist wesentlich eine Durchsetzungsgeschichte des Wertgesetzes. Hat sie sich einmal als solche etabliert, finden zwar im Weltmaßstab weiter ähnliche Prozesse statt – doch vor einem grundlegend anderen Hintergrund, nämlich einer längst etablierten Herrschaft des großen Kapitals. Die Gewalt, mit der die Besitzlosen noch zur Lohnarbeit gezwungen werden mussten, ist weitgehend der stummen Macht der Verhältnisse gewichen.

Die Unterschiede zwischen Marx und Federici

Da wir nun ein grobes Verständnis der ursprünglichen Akkumulation bei Marx erlangt haben, können wir nun auf Federicis Thesen eingehen. Wichtig zu verstehen ist, dass ihre Interpretation der Geschichte keine reine, positive Ergänzung der ursprünglichen Akkumulation darstellt. Vielmehr widerspricht sie in fundamentalen Punkten Marx’ Ansichten, die sich vor allem in ihren Vorschlägen im Kampf gegen den Kapitalismus zeigen – und somit auch gegen die Frauenunterdrückung. Dazu aber später mehr.

Sie hat zwar Recht, dass im 24. Kapitel des ersten Bandes bezüglich der ursprünglichen Akkumulation selten explizit auf die Rolle der Frau eingegangen wird. Schon für den gesamten Band von „Das Kapital“ trifft das nicht wirklich zu. Marx und Engels entwickeln zwar nirgendwo eine ausführliche werttheoretische Untersuchung der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus. Aber schon die Darlegungen im 24. Kapitel machen deutlich, dass sich die Arbeitsteilung und die Stellung der Frauen grundlegend ändern, weil die Arbeiter:innenfamilie auf die Lohnarbeit angewiesen ist, um überhaupt existieren zu können. Dass die Reproduktion im Haushalt zu einem untergeordneten Moment wird, das von der kapitalistischen Akkumulation und Mehrwertproduktion bestimmt wird, hat nichts mit „Wertschätzung“ zu tun, sondern entspricht einem Ausbeutungssystem, da auf der Aneignung von Mehrarbeit durch das Kapital beruht.

Gleichzeitig offenbart Federici mit ihrem bereits oben zitierten Standpunkt, dass „die ursprüngliche Akkumulation vom Standpunkt des männlichen Proletariats und der Entwicklung der Warenproduktion“ aus betrachtet wird, ihr eigenes Fehlverständnis von Marx. Wie deutlich geworden ist, führt die ursprüngliche Akkumulation die Entstehung einer Produktionsweise mit sich und wird aus Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen hergeleitet, nicht aus den Standpunkten oder Sichtweisen der männlichen oder weiblichen Arbeiter:innen. Dies ist jedoch nicht der wichtigste Punkt.

Zentraler ist vielmehr, dass die ursprüngliche Akkumulation und damit auch die Entstehung des Kapitalismus selbst für Federici nicht aus der Krise der Feudalgesellschaft und der Entstehung einer neuen Produktionsweise verstanden werden, sondern vor allem als Antwort auf die sich erhebenden Bauern und Bäuerinnen, die für ihre Befreiung kämpften.

a) Der Kapitalismus stellt gegenüber vorherigen Produktionsweisen keinen Fortschritt dar

Federici vertritt letztlich einen anderen Kapitalismusbegriff als Marx. Für letzteren steht die Vermehrung von Kapital durch die Aneignung von Mehrwert im Zentrum. Dieser kann nur im industriellen Produktionsprozess geschaffen werden (Aneignung durch Plünderung ist ein untergeordneter Prozess). Für Federici hingegen sind die Formen des Kapitals relativ, daher kann die neue Produktionsweise bei ihr schon mit der Dominanz des Handelskapitals die Oberhand gewinnen. Die Schaffung einer universellen Produktionsweise, die die Kleinteiligkeit vorhergehender Formationen überwindet und den Weltmarkt überhaupt erst schafft, stellt für Marx und Engels einen historischen Fortschritt dar – trotz des von ihnen geschilderten, notwendigerweise extrem brutalen und gewalttätigen Prozesses der Herausbildung der Arbeiter:innenklasse und der kolonialen Ausbeutung.

Der Kern des geschichtlichen Fortschritts besteht für Marx nämlich nicht in der Schaffung einer kapitalistischen Ökonomie und der bürgerlichen Gesellschaft als solcher, sondern darin, dass dies eine notwendige Voraussetzung für eine zukünftige universelle Entwicklung der Menschen bildet. Die Frage der Expansion des Kapitalverhältnisses und des Weltmarkts inkludiert daher auch in einem anderen Sinn ein grundlegend historisches Moment. Sobald es sich gemäß seiner eigenen technischen Grundlage – der großen Industrie – durchgesetzt hat und der Weltmarkt etabliert ist, hört die Bourgeoisie auf, eine fortschrittliche Klasse zu sein. Die Welt ist unter die großen Kapitale und Mächte aufgeteilt, die ihrerseits auch den Eintritt und die Form der Weltmarktintegration der sog. Dritten Welt bestimmen.

Federici hingegen widerspricht dem klar und stellt die These auf, dass die Entwicklung des Kapitalismus verhindert hätte werden können. Die bürgerliche Revolution war kein, wenn auch widersprüchlicher geschichtlicher Fortschritt, sondern wesentlich eine Konterrevolution. So schreibt sie „Der Kapitalismus war eine Konterrevolution, die die aus dem antifeudalen Kampf hervorgegangenen Möglichkeiten zerstörte: Möglichkeiten, die uns, wenn sie verwirklicht worden wären, jene ungeheure Vernichtung menschlichen Lebens und der natürlichen Umwelt erspart hätten, die den Vormarsch kapitalistischer Verhältnisse auf der ganzen Welt gekennzeichnet hat. Das muss auf jeden Fall betont werden, denn der Glaube, der Kapitalismus habe sich aus dem Feudalismus ‚entwickelt’ und stelle eine höhere Form gesellschaftlichen Lebens da, hält sich noch immer.“ (S. 30)

Dies geht mit einer starken Romantisierung des Mittelalters einher. „Die ‚Allmende’ stellt sich als Vorschein einer Welt dar, in der Güter geteilt werden und gesellschaftliche Beziehungen von der Solidarität zehren, nicht von dem Wunsch nach selbstsüchtiger Erweiterung.“ (S. 33) Zwar gibt sie im Nachsatz zu: „Die Gemeinschaft der mittelalterlichen Leibeigenen 4 hinter diese Ziele zurück und sollte nicht als Beispiel des Kommunalismus idealisiert werden.“ (ebda.) Allerdings fehlt die entscheidende Kritik daran. Die Subsistenzwirtschaft mag zwar auf den ersten Blick – insbesondere verglichen mit der kapitalistischen Produktionsweise – etwas Friedliches, gar Fortschrittliches repräsentieren. Global betrachtet ist dies allerdings nicht der Fall. Zum einen bindet die Subsistenzwirtschaft enorm viel Zeit, die – je nach Gesellschaftsformation – anderweitig genutzt werden könnte. Ist man jedoch tagein, tagaus damit beschäftigt, sich bzw. die eigene Kommune selber zu versorgen, wird ein Hauptteil der Arbeitszeit darauf verwendet.

Des Weiteren bietet sie keine Möglichkeit, auf Schwankungen im Bedarf schnell zu reagieren. Der Kapitalismus hingegen war die erste Produktionsweise, in der die technische Basis der Produktion ständig umgewälzt wird. Er geht mit einer welthistorischen Steigerung der Produktivkräfte einher, auf deren Grundlage erstmals die Möglichkeit für die volle Entfaltung aller Individuen materiell überhaupt möglich wird.

Solange jedoch nicht so viel produziert werden kann, dass nicht nur für alle genug vorhanden ist, sondern auch noch ein Überschuss von Produkten zur Vermehrung des gesellschaftlichen Investitionsfonds und zur weiteren Ausbildung der Produktivkräfte bleibt, muss es immer eine herrschende, über die Produktivkräfte der Gesellschaft verfügende und eine arme, unterdrückte Klasse geben.

Kurzum: Die Entwicklung hin zum Kapitalismus war mit unfassbar viel Gewalt verbunden, die bis heute anhält. Wenn wir jedoch davon sprechen, welche Gesellschaftsformation, international betrachtet, eine Versorgung der gesamten Bevölkerung ermöglicht, so schafft er die Basis dafür – ist jedoch unfähig, diese umzusetzen. Große Monopole produzieren im Überfluss auf anarchische Weise vorbei an den Bedürfnissen der Menschheit, ohne Rücksicht auf die Umwelt – allerdings nur, solange sie im Interesse der Kapitalist:innen produzieren. Unter zuerst Kontrolle und dann Enteignung durch die Arbeiter:innenklasse, frei von der Konkurrenz der Profite, sind diese Monopole zentralisierte Produktionsinstrumente, die dazu eingesetzt werden können, zeitsparend und effektiv Massen an Menschen zu versorgen. Sie legen somit auch die Grundlage dafür, dass die Arbeitszeit, die notwendig bleibt, um das eigene Leben zu erhalten, gesamtgesellschaftlich gesenkt und international nach den Bedürfnissen der Menschheit produziert wird.

b) Klassenbegriff

Neben der Romantisierung des Mittelalters ist auffällig, dass Federici keinen wirklichen marxistischen Klassenbegriff vertritt. Bauern und Bäuerinnen sind für sie Proletariat, den Feudalherren unterscheidet nicht viel vom Kapitalisten. Die Kapitalist:innen stellen für sie im Grunde keine neue gesellschaftliche Klasse dar, sondern nur die Geistlichen, Adeligen und städtischen Kaufleute und Patrizier:innen, die sich neuer Techniken der Herrschaft bedienen, weil sie mit den tradierten Formen der Ausbeutung die Bauern/Bäuerinnen nicht mehr niederhalten können.

Es scheint eher so, dass es für sie in populistischer Art Einteilung in Ausbeuter:innen und Unterdrückte gibt, die überhistorisch existieren und sich auch nicht groß unterscheiden. So formen letztlich die Kapitalist:innen keine wirklich neue Klasse und die bürgerliche Revolution sowie die Veränderung der Produktionsweise bilden keinen wirklichen Fortschritt. Das ist jedoch ein fataler Fehler. Widmen wir uns zuerst der Frage, warum es wichtig ist, genauere Unterteilungen zwischen den Formen der Unterdrückung anzustellen, oder anders gesagt, Bauern/Bäuerinnen und Lohnarbeiter:innen nicht das Gleiche sind.

Kurz könnte man wie Engels in „Grundsätze des Kommunismus“ (http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_361.htm) sagen, dass die arbeitenden Klassen auf verschiedenen Entwicklungsstufen der Gesellschaft in unterschiedlichen Verhältnissen gelebt und verschiedene Stellungen zu den besitzenden und herrschenden Klassen eingenommen haben. So gab es beispielsweise in der Antike Sklav:innen sowie deren Besitzer. Deren Verhältnis war davon gekennzeichnet, dass der/die Sklav:in das Eigentum des Besitzers ist. So elendig dieses Schicksal ist, bringt es jedoch auch einige Unterschiede zum Proletariat mit sich. Der/die Sklav:in gilt für eine Sache, nicht als Mitglied der Gesellschaft. Dadurch, dass er/sie „Sache“ des Besitzers ist, ist seine Existenz gesichert.

Der/die Proletarier:in hingegen tritt als „freies“ Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft auf und muss seine/ihre Arbeitskraft eigenständig verkaufen, wenn er/sie überleben möchte. Seine/Ihre Existenz ist also im direkten Vergleich ungesicherter. Ähnliches gilt für die Leibeigenen, die im Mittelalter arbeitende Klasse, gegenüber dem grundbesitzenden Adel. Leibeigene erhielten Inventar und ein Stück Boden gegen Abgabe eines Teils des Ertrages oder Leistung von Fronarbeit oder beides. Der/Die Proletarier:in arbeitet mit Produktionsinstrumenten eines/r anderen für dessen/deren Rechnung gegen Empfang eines Teils des Ertrages (Lohn). Der/Die Leibeigene gibt ab, dem/r Proletarier:in wird abgegeben. Erstere/r führt eine gesicherte Existenz, letztere/r nicht. Der/Die Leibeigene steht außerhalb der Konkurrenz, der/die Proletarier:in in ihr.

Zentral ist jedoch die Frage nach der Aufhebung der Konkurrenz untereinander. Sklav:innen und Leibeigene waren größtenteils frei davon. Ihr Weg, um ihrer Ausbeutung ein Ende zu bereiten, bestand darin, beispielsweise in die Städte zu fliehen und dort Handwerker:in zu werden oder statt Arbeit und Produkten Geld an den Gutsherrn zu entrichten und freie/r Pächter:in zu werden. Alternativ hätten Hörige/Leibeigene auch den Feudalherrn verjagen und selbst Eigentümer:in werden können. Auf die oder andere Weise treten sie somit in die besitzende Klasse und in die Konkurrenz ein. Das Proletariat hingegen befreit sich, indem es die Konkurrenz, das Privateigentum und alle Klassenunterschiede aufhebt. Das ist keine belanglose Kleinigkeit, sondern zeigt auf, dass die vorangegangenen arbeitenden Klassen über die Möglichkeit zum Aus- und Aufstieg verfügten – aber nicht über Interesse und materielle Grundlage, das System der Ausbeutung insgesamt abzuschaffen.

c) Der Kapitalismus wäre aufzuhalten gewesen

So legt der Kapitalismus als Gesellschaftsform ironischer Weise die Grundlage zur Befreiung der (lohn)arbeitenden Klasse und aller anderen Werktätigen selbst – etwas, das vorher nicht möglich gewesen ist. Das sind nur ein paar Gründe, warum Federicis These, dass der Kapitalismus eigentlich für eine Weiterentwicklung nicht notwendig sei, fehlerhaft ist. Deutlicher wird es aber erneut, wenn wir ihre Ansicht überprüfen, dass diese Entwicklung gar hätte verändert werden können.

Für sie war die Feudalwirtschaft zwar zum Untergang verurteilt, aber es hätte sich ebenso gut keine kapitalistische Gesellschaft aus ihr „entwickeln“ müssen. So schreibt sie: „Die Entwicklung des Kapitalismus war nicht die einzige mögliche Reaktion auf die Krise der Feudalmacht. In ganz Europa hatten riesige kommunistische Sozialbewegungen das Versprechen in einer neuen, egalitären, auf sozialer Gleichheit und Kooperation beruhen Gesellschaft geboten.“ (S. 80) Sie bezieht sich dabei unter anderem auf den deutschen Bauernkrieg.

Der Widerstand der Bauern/Bäuerinnen scheiterte ihrer Auffassung nach am Bündnis zwischen Bürger:innentum und Adel. Engels hingegen führt in seinem Werk „Der deutsche Bauernkrieg“ (MEW 7, Berlin/Ost 1964, S. 327 – 413) aus, dass dies nicht der einzige Grund war. Die lokale Zersplitterung erschwerte jede gemeinsame Übereinkunft. Auch die unterschiedliche Stärke der Ausbeutung aufgrund der unterschiedlichen Vorgehensweise der Herren verkomplizierte dauerhafte, gemeinsame Aktionen. Eine weitere Schwäche war die Entwöhnung vom Gebrauch der Waffen in vielen Gegenden. Vor allem waren, laut Engels, die Bauern/Bäuerinnen allein nicht imstande, eine Revolution zu machen, solange ihnen die organisierte Macht der Fürsten, des Adels und der Städte verbünde und geschlossen entgegenstand. Nur durch eine Allianz mit anderen Ständen konnten sie eine Siegchance bekommen. Aber wie sollten sie sich mit anderen Ständen verbinden, da sie von allen gleichmäßig ausgebeutet wurden?

Federici hingegen beschäftigt sich nicht wirklich im Detail mit dem deutschen Bauernkrieg. Vielmehr wirft sie unterschiedliche Proteste zusammen und führt Verallgemeinerungen an wie „Wann immer die Bauern rebellierten, standen ihnen die Handwerkerinnen und Tagelöhner zur Seite, und die wachsende Masse der städtischen Armen ebenso.“ (Seite 56) Es mag stimmen, dass die passiert ist – jedoch bildet es nicht die ganze Realität ab. Ebenso stimmt es, dass immer wieder fortschrittliche Fraktionen in den Bauern-/Bäuerinnenkriegen existierten, die Freiheit und gleiche Behandlung für alle Menschen forderten.

Engels bezieht sich beispielsweise positiv auf Thomas Münzer. An ihm zeigt sich aber gerade das Dilemma eines der fortschrittlichsten und hervorragenden Anführer des Aufstandes, der selbst aus dem entstehenden Bürger:innentum stammte und sich auf den radikaleren Flügel des städtischen Kleinbürger:innentums, die plebejischen Schichten und die Bauern-/Bäuerinnenschaft stützte. Wie Engels zeigt, enthielt das Programm von Münzer Elemente, die nicht nur den unmittelbaren Interessen seiner Basis entsprechen, sondern viele darüber hinausgehende radikale, egalitäre Zielsetzungen.

Sein Problem bestand jedoch gerade darin, dass er seiner Zeit voraus war, die Vision einer Gesellschaft predigte, deren materielle Bedingungen noch nicht existierten. Nach der kurzzeitigen Machtergreifung in Süddeutschland (Mühlhausen) stieß er selbst an die Grenzen der Unreife der gesellschaftlichen Verhältnisse: „Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert.“ (Engels, a. a. O., S. 400; http://www.mlwerke.de/me/me07/me07_400.htm)

Münzer musste zu unhaltbaren Kompromissen und Zugeständnissen Zuflucht nehmen. Seine Herrschaft war notwendig von kurzer Dauer, weil seine Basis selbst, wenn auch auf widersprüchliche Weise, dem Privateigentum verhaftet war und es allenfalls erste Ansätze einer proletarischen Klasse gab. Engels zeigt darüber hinaus, dass die Bauern-/Bäuerinnenschaft zwar enorme Kampfkraft und Mut entfalten kann, jedoch aufgrund ihrer widersprüchlichen gesellschaftlichen Stellung nicht nur Allianzen mit anderen Klassen braucht, sondern der politischen Führung durch eine der Hauptklassen der Gesellschaft bedarf.

Es ist daher historisch und theoretisch falsch, die Geschichte so darzustellen, dass alle Aufständischen eine einheitliche Position bezogen und die Bauern-/Bäuerinnenschaft selbst eine konsistente, revolutionäre Ideologie und Führung hervorgebracht hätte. Im Gegenteil, wie Engels und andere Marxist:innen gerade anhand einer Analyse der verschiedenen Klassen in den Bauernkriegen zeigen, war sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer Klassenlage dazu nicht fähig.

Engels bekräftigt dies noch einmal im Vorwort zum Bauernkrieg, wo er erstens zeigt, dass „die“ Bauern-/Bäuerinnenschaft überhaupt keine einheitliche Klasse bildet. Ihre oberen Schichten zählt er zur ländlichen Bourgeoisie. Die ökonomische Unabhängigkeit ist für die unteren Schichten zwar schon im späten 19. Jahrhundert eine Fiktion. Umso hartnäckiger hängen sie an ihrem Kleineigentum an Produktionsmitteln. Diese Stellung macht sie zwar zu möglichen Bundesgenoss:innen der Arbeiter:innenklasse, aber zugleich auch unfähig, selbstständig eine konsequent antikapitalistische Position zu entwickeln. (Vorbemerkung [zum Zweiten Abdruck (1870) „Der deutsche Bauernkrieg“]; in: MEW 16, Berlin/Ost 1962, S. 399; http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_393.htm)

Eine solche materialistische Charakterisierung und damit ihres Verständnisses von Arbeiter:innenklasse findet sich bei Federici nicht, ja kann sich nicht finden. Für sie gehören Bauern/Bäuerinnen, Lohnarbeiter:innen und die Masse der Frauen nämlich alle einer Klasse an.

Die Rolle der Hexenverbrennungen

Dies gilt auch für eine ihrer Hauptthesen, dass die Hexenverbrennung eine zentrale Rolle im Rahmen der ursprünglichen Akkumulation gespielt hat. Sie gilt ihr dabei als ein Mittel zur Disziplinierung des weiblichen Körpers und wäre in Europa im Interesse des Staates zu dem Zweck durchsetzt worden, um die Geburtenrate zu steigern, die Lohnkosten zu senken und die Rolle der Frau als Mutter zu verfestigen.

Historisch betrachtet ist diese Konstruktion, wie unter anderem der Historiker und Marxist Fabian Lehr in seinem YouTube-Video bezüglich Caliban und die Hexe zeigt, überaus fragwürdig. Wir wollen dabei auf einige Punkte verweisen. Er führt zuerst aus, dass es erstmal Probleme in der zeitlichen Darstellung gibt. Federici erklärt den Drang zur Steigerung der Geburtenraten damit, dass es im 16. und 17. Jahrhundert einen bedenklichen Bevölkerungsrückgang gegeben hätte. Die Hexenverfolgungen beginnen jedoch im 15. Jahrhundert und erreichen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erhebliche Ausmaße. In dieser Zeit hat es jedoch im Großteil Europas eher das Problem eines zu großen Bevölkerungswachstums gegeben mit der Folge einer starken Zunahme an Land- und Besitzlosen.

Diese mussten umherziehen, wirkten aber im frühneuzeitlichen Europa destabilisierend. So beginnen dann ab dem späten 15. Jahrhundert massive Einschüchterungen und disziplinarische Maßnahmen, um das Problem einzudämmen. Dies führt sie zwar an, erkennt aber nicht, dass dies ihrer These widerspricht, da zu Beginn der Hexenverfolgung gar kein Interesse der europäischen Staaten an der Erhöhung der Geburtenrate bestand. Vielmehr wurde versucht, die kaum zu unterhaltenden Unterschichten in die neuen Kolonien auszulagern.

Darüber hinaus führt er an, dass die Hexenverbrennungen gar nicht flächendeckend innerhalb Europas und eher in zeitlich verschiedenen Episoden stattfanden. So sollen oftmals innerhalb einer Region nur einige Monate bis wenige Jahre große Hexenverfolgungen stattgefunden haben mit längeren Pausen, bis eine neue Prozesswelle startete. Somit waren sie nirgends eine dauerhafte, gleichmäßig intensive Erscheinung, sondern traten eher in wiederholten Schüben auf – mit einer Opferzahl von einigen Zehntausenden und nicht mit mehr, wie Federici andeutet. Größere Hexenverfolgungen gab es nur in einigen Regionen. Spielten sie eine so zentrale Rolle, müsste es also größere ökonomische, soziale sowie demographische Unterschiede zwischen Regionen mit und ohne Hexenprozesse gegeben haben. Dies spart Federici aus, obwohl es, wie Lehr festhält, die naheliegendste und empirische Prüfung auf ihre Theorie wäre. Die Hexenverbrennungen somit als zentralen, für die ursprüngliche Akkumulation absolut notwendigen Schritt zu betrachten, macht nur wenig Sinn, während die oben bereits aufgeführten Merkmale wie die Einhegung von Land flächendeckend auftraten.

Auch Federicis Konstruktion, die Hexenverfolgung vor allem als Ausdruck des Kampfes gegen die aufständische Bauern-/Bäuerinnenschaft und gegen aufbegehrende plebejische Schichten zu betrachten, ist fragwürdig. Es ist daher auch kein Zufall, dass sie Vorkommnisse herunterspielt, wo die Hexenverfolgung – durchaus ähnlich wie Judenpogrome – Ausdruck irrationaler, reaktionärer, von unteren Schichten des Klerus, des Adels oder auch des Kleinbürger:innentums geschürter öffentlicher Exzesse waren. Eine Analyse dieser irrationalistischen, reaktionären Entwicklungen fehlt bei ihr weitgehend.

Trotzdem wollen wir Federicis These bezüglich der Disziplinierung des weiblichen Körpers damit noch nicht völlig verwerfen, sondern im Folgenden näher betrachten.

Die Disziplinierung des weiblichen Körpers

Diese sei zentral für die Entwicklung der ursprünglichen Akkumulation gewesen. Wie wir bereits festgehalten haben, hat die Hexenverbrennung damit jedoch wenig zu tun. Das ist aber nicht der einzige Mechanismus, auf den Federici sich stützt. Festzuhalten ist vor allem, dass für sie der weibliche Körper selber zum Produktionsmittel wird. Damit greift sie, wie sie in ihrem Vorwort schreibt, auch die Idee von Mariarosa Dalla Costa sowie Selma James auf. „Gegen die marxistische Orthodoxie, die die ‚Unterdrückung’ der Frauen und ihre Unterordnung unter die Männer als Residuum feudaler Verhältnisse erklärte, vertraten Dalla Costa und James die Position, die Ausbeutung der Frauen habe im Prozess kapitalistischer Akkumulation insofern eine zentrale Rolle gespielt, als Frauen die Produzentinnen und Reproduzentinnen der grundlegenden kapitalistischen Ware gewesen sind: der Arbeitskraft.“ (S. 8)

Dass die spezifische Form, die die Frauenunterdrückung im Kapitalismus annimmt, bloß ein Rückstand feudaler Verhältnisse sei, ist ein theoretischer Pappkamerad, der „der marxistischen Orthodoxie“ in die Schuhe geschoben wird. Sowohl Engels’ Arbeiten (beispielsweise „Der Ursprung der Familie … “), vor allem aber die Anknüpfungspunkte, die Marx im Kapital für eine werttheoretische Analyse der Reproduktionsarbeit liefert, belegen das Gegenteil. Sie zeigen deutlich auf, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung und der Ursprung der Frauenunterdrückung deutlich früher beginnen  – mit Anfang der Entstehung der ersten Klassengesellschaften. In etlichen Teilen mag eine umfassende, zusammenhängende Darstellung ausstehen. Andererseits haben beispielsweise Autorinnen wie Lise Vogel wertvolle Arbeit zu einer solchen geliefert. Sie kommen allerdings zu grundlegend anderen Schlussfolgerungen als Federici (siehe: Aventina Holzer, Social Reproduction Theory: moderner Marxismus oder feministische Sackgasse? In: REVOLUTIONÄRER MARXISMUS 53, Berlin 2020, S. 295 – 308).

Körper als Produktionsmittel?

Wesentlich ist jedoch, dass für Federici vor allem der weibliche Körper ein Produktionsmittel geworden sei. Um dies zu zeigen, knüpft sie an verschiedenen Autor:innen an, die darauf verwiesen, dass die bürgerliche Gesellschaft eine vollkommen neue Art von Individuum hervorbringt. Max Weber zufolge bilde die Neugestaltung des Körpers den Kern der kapitalistischen Ethik, weil der Kapitalismus den Erwerb zum Selbstzweck mache, anstatt ihn als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zu behandeln. Daraus folgt, dass die protestantische, kapitalistische Ethik, die Entsagung des spontanen Lebensgenusses zur moralischen Handlungsmaxime werden muss.

Federici verweist hier auch zu Recht darauf, dass mit der kapitalistischen Produktionsweise die Selbstentfremdung der Lohnabhängigen auf die Spitze getrieben wird: „So wird der Arbeitsprozess zum Terrain der Selbstentfremdung. ( … ) Auch das bewirkt eine gewisse Loslösung vom eigenen Körper, der verdinglicht und auf einen Gegenstand reduziert wird, mit dem sich die Person nicht mehr unmittelbar identifiziert.“ (S. 170)

Diese Selbstentfremdung kennzeichnet den kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozess und wird im Fabriksystem systematisch angewandt, wie Marx im „Kapital“ zeigt. Die Arbeitenden werden Anhängsel des Maschinensystems, dem Kapital nicht nur formell, sondern reell subsumiert.

Diese sich verändernde Produktionsweise brachte auch eine andere Organisation der Reproduktion mit sich, auf die wir weiter unten noch näher eingehen werden. Natürlich erfolgte auch dies wie die Durchsetzung des Kapitalismus selbst alles andere als gewaltfrei. So weit ist Federici sicher zuzustimmen.

Schließlich prägt der entfremdete Arbeitsprozess nicht nur den betrieblichen Alltag, sondern auch die Verhältnisse außerhalb desselben sowie die Denkweisen und Ideologien der Gesellschaftsmitglieder. Der zugerichtete, zerstückelte, auf einige Handgriffe oder Prozesse reduzierte, dem Verwertungsprozess untergeordnete erscheint als der „natürliche Mensch“. Auch die Körperideale von Frauen werden darauf reduziert. Allerdings ist der Körper im kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozess selbst kein Produktionsmittel, sondern Träger des menschlichen Arbeitsvermögens. Als solcher ist er für den Produktionsprozesse unerlässlich, schafft er Mehrwert fürs Kapital.

Damit diese Prozesse verstetigt werden können, muss dieser Körper, muss das menschliche Arbeitsvermögen beständig außerhalb der Produktionssphäre reproduziert werden. Dies geschieht im proletarischen Haushalt, welche Form dieser auch immer annehmen mag (Familie, alleinstehend … ). In diesem muss darüber hinaus nicht nur die eigene Arbeitskraft, sondern auch die nächste Generation der Klasse aufgezogen und reproduziert werden.

Der Wert der Arbeitskraft umfasst daher die Reproduktionskosten der gesamten Klasse – wobei die einzelnen Kapitale diese ständig versuchen, unter ihren Wert zu drücken.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb der Arbeiter:innenklasse, die im Grunde von vorhergehenden Gesellschaften übernommen wurde, führt dazu, dass im „klassischen“ Familienmodell der Mann als Hauptverdiener, die Frau als Hausfrau gilt (auch wenn selbst dieses Modell historisch gesehen der herrschenden Klasse abgerungen werden musste).

Entscheidend für uns ist aber Folgendes. Auch in der privaten Haus- und bei der Care-Arbeit fungiert der weibliche Körper in der Regel nicht als Arbeitsmittel. Auch dort ist er vor allem Träger des Arbeitsvermögens. D. h. die arbeitende Person kocht, putzt, betreut Kinder oder Alte. Sie verändert wie jede Arbeit einen Gegenstand. Die einzige wichtige Ausnahme stellt hier die Geburt von Kindern dar. Hier ist der weibliche Körper als solcher selbst für die Reproduktion der Gattung unerlässlich.

Zweifellos bildet dieser reale Unterschied der Geschlechter eine wichtige Grundlage für die Ideologisierung, Rechtfertigung und Reproduktion einer reaktionären, geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und ebensolcher Geschlechterrollen. Dass die Arbeit der Frau im Haushalt als gleichsam natürliche „Körpertätigkeit“ erscheint, ist jedoch selbst eine Ideologisierung, der Federici aufsitzt. Ein entscheidender Fehler ihrer gesamten Analyse besteht darin, dass sie im Grunde jegliche Tätigkeit im Haus als analoge Form zur Geburt betrachtet.

Dies geht in Caliban und die Hexe auch mit einer Romantisierung vorindustrieller, vorkapitalistischer Familienformen einher. Deutlich wird dies, wenn sie über die  Allmende schreibt: „Darüber hinaus war die Arbeit auf den Höfen der Leibeigenen an der Subsistenz ausgerichtet, so dass die geschlechtliche Arbeitsteilung dort weniger ausgeprägt und weniger diskriminierend war als auf den kapitalistischen Höfen“ (S. 34), und folgt mit: „Wenn wir darüber hinaus auch zur Kenntnis nehmen, dass kollektive Beziehungen in der mittelalterlichen Gesellschaft gegenüber Familienbeziehungen vorrangig waren und dass die von den weiblichen Leibeigenen übernommenen Aufgaben (Waschen, Spinnen, Ernten, das Hüten der Tiere auf der Allmende) gemeinsam mit anderen Frauen erledigt wurden, dann erkennen wir, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung weit davon entfernt war, die Frauen zu isolieren. Sie war ihnen vielmehr eine Quelle von Macht und Schutz. Die geschlechtliche Arbeitsteilung war Grundlage einer ausgeprägten weiblichen Gesellschaft und Solidarität, die es den Frauen erlaubte, sich gegen die Männer zu behaupten, obwohl die Kirche die Unterordnung der Frauen predigte und das Kirchenrecht es dem Mann erlaubte, seine Frau zu schlagen.“ (S. 35)

Das Problem besteht in der Bewertung der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Es wird ein einfacher Gegensatz konstruiert, der isoliert betrachtet sinnvoll erscheinen mag, aber weder mit den historischen Tatsachen übereinstimmt noch etwas über den Gesamtverlauf der Geschichte aussagt. Gleichzeitig wird die geschlechtliche Arbeitsteilung in ihrer Bedeutung für die weibliche Unterdrückung eigentlich relativiert. Der Ausschluss der Frauen aus Teilen der Produktion ist in keiner Epoche der Menschheitsgeschichte als etwas Positives zu bewerten, als „Quelle von Macht und Schutz“. Denn es ist eben jene Arbeitsteilung, die Frauen an der Selbstständigkeit hindert.

Sie prägt viel mehr den Kern der Frauenunterdrückung als die bloße Fähigkeit, Kinder zu gebären. Vielmehr scheint es in ihrer Erzählung so, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung erst im Rahmen der ursprünglichen Akkumulation zum wirklich großen Problem für Frauen wurde und vorher eigentlich eine recht positive Lage existierte, da es keine klare Trennung zwischen Produktion und Reproduktion gab.

Mit Beginn des Kapitalismus und der Entstehung des Proletariats hörte der Haushalt auf, die grundlegende Produktionseinheit zu sein. Statt in der Familie selber zu produzieren, musste die eigene Arbeitskraft an Kapitalist:Innen für einen bestimmten Zeitraum vermietet werden. Die Einbeziehung der Frauen in die Lohnarbeit stellt zwar einen wichtigen Fortschritt dar, aber einen, der im Rahmen des Kapitalismus immer mit einer doppelten Last – Ausbeutung in der Lohnarbeit und ihrer unentgeltlichen Plackerei im Haushalt – einhergeht. Daher stellt auch die Vergesellschaftung der Hausarbeit eine zentrale Forderung im Kampf gegen ihre Unterdrückung dar, der untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Federici hingegen vertritt eine andere Perspektive. Statt Vergesellschaftung geht es um eine Rückkehr zu einer längst überholten Form, der Allmende. Dem entspricht, dass die Frauenunterdrückung letztlich nicht als mit der Klassenherrschaft verwobene Form begriffen wird, sondern eigentlich als neben der kapitalistischen Lohnarbeit existierendes Ausbeutungsverhältnis.

Federici vertritt bei allen Verdiensten wie der Hervorhebung der  vergangenen Kämpfe von Frauen, sowie der Zurichtungen und Zumutungen von ihnen und Unterdrückten objektiv eine reaktionäre Vorstellung von der Lösung dieser Probleme. Sie hängt der Utopie an, dass Häretiker:innen, Kleineigentümer:innen an den Produktionsmitteln, Bauern-/Bäuerinnengemeinden eine befreite Gesellschaft und fortschrittliche Alternative zum Kapitalismus nicht nur in der Vergangenheit hätten schaffen können, sondern die Rückkehr zu einer „modernisierten“ Variante der Allmende, die Commons, die Lösung der großen gesellschaftlichen Probleme und Überwindung der Klassen- wie Frauenunterdrückung leisten könne. Dies ist eine Utopie. Auch wenn Federici immer wieder den Frauenkampf als Klassenkampf und die Frauen als Proletarierinnen darstellt, so kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei ihr die Arbeiter:innen in einer Allianz mit den kleinbürgerlichen Klassen untergehen, das historisch Spezifische des proletarischen Befreiungskampfes letztlich verlorengeht. Ihre historische Analyse stellt daher letztlich keine Erweiterung oder Korrektur, sondern eine kleinbürgerlich-populistische Abkehr vom Marxismus dar.




Gorleben – und (k)ein Ende

Bruno Tesch, Infomail 1163, 21. September 2021

Am 17. 9. 2021 gab das Bundesumweltministerium (BMU) bekannt, dass das Salzbergwerk Gorleben, dichtgemacht werden soll und „damit“ (…) „das Kapitel Gorleben geschlossen“ sei.

Zäher Entscheidungsfindungsprozess

Mit dem seit den 1960er Jahren vorangetriebenen Bau von Nuklearanlagen, um den steigenden Energiebedarf zu decken, ergab sich die Notwendigkeit zur 1972 eingeleiteten Suche nach Lagerstätten auf BRD-Boden für den unvermeidlich anfallenden radioaktiven Abfall. Praktisch über Nacht entschied sich dann 1977 die niedersächsische CDU-Regierung für Gorleben als Standort für ein atomares Entsorgungszentrum. Die Wahl fiel auf diesen Ort, weil er im Nordostzipfel Niedersachsens im damaligen so genannten Zonenrandgebiet und fernab von Erholungs- und Feriengetriebe lag und so als „sicheres Versteck“ gelten konnte. Eine Eignung des Geländes für ein Endlagerprojekt war aus geologischer Sicht jedoch in keinem wissenschaftlichen Gutachten ausgewiesen.

Nach oppositionellen Sicherheitsbedenken wurden 1979 die Erkundungen im Salzstock bis 2000 fortgeführt, nach zehnjähriger Pause dann wieder aufgenommen, bevor im September 2020 sich das 1986 nach der Tschernobylkatastrophe gebildete Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (heute: nukleare Sicherheit) zu dem Urteil „nicht geeignet“ durchringen konnte. Ausschlaggebend für dieses Verdikt waren anscheinend Erkenntnisse, wonach Steinsalz ein zu instabiles Medium sei, um als langfristig sicheres Endlager zur Bindung von hochradioaktivem Material dienen zu können. Außerdem sind Gaseinschlüsse entdeckt worden, die die Gefahr von Explosionen bergen könnten.

Es verstrich hernach noch ein weiteres Jahr, ehe die mit Detailplanung betraute Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) nun ihre Pläne für Gorleben vorlegte. Demnach soll der Rückbau mehrschrittig erfolgen. Die Hohlräume unter Tage und Schächte sollen mit Haldensalz verfüllt werden. Falls Lücken verbleiben, würde der Rest mit Spezialbeton ausgegossen werden. Die oberirdischen Bauten sollen einer Grünanlage weichen.

Die Kosten für das Rückbauvorhaben wollte die BGE nicht genau beziffern, sie sollen aber jene für die Offenhaltung des Bergwerks übersteigen. Bislang hat das Endlagerprojekt jährlich 20 Millionen und insgesamt 1,9 Milliarden Euro verschlungen. Dennoch: Ist nach dieser quälenden Genese nun also doch alles in Butter bzw. Beton?

Widerstandsbewegung

In den 1970 Jahren agierten einige Figuren auf den Abgeordnetenbänken allenfalls als „BedenkenträgerInnen“ gegen das nassforsche Vorgehen der niedersächsischen Landesregierung. Wirklicher Widerstand gegen eine ungezügelt nuklearfreundliche Politik entfaltete sich zunächst nur außerhalb von Parlamenten. Eine Bewegung entstand und verwandelte das verschlafene ländliche Wendland zu einem Ort von Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht. Im Laufe der Zeit erwarb sie sich nicht nur den mehrheitlichen Rückhalt unter der örtlichen Bevölkerung, sondern genoss bundesweit, ja international Sympathien und auch eine gewisse Vorbildfunktion.

Es begann bereits 1977 mit Kundgebungen auf dem künftigen Bauplatz bei Gorleben. 1979 kam es zu einer Großdemonstration, dem „Gorlebentreck“, in der Landeshauptstadt Hannover, gefolgt von kleineren Protestaktionen gegen Probebohrungen für das atomare Endlager. In dessen Nähe wurde 1980 als ständige Widerstandsmanifestation ein Hüttendorf unter dem Banner „Republik Freies Wendland“ errichtetet. Dieses wurde zwar nach einem Monat durch Polizei- und Bundesgrenzschutzeinheiten plattgemacht, erregte aber starkes politisches Aufsehen in der gesamten Bundesrepublik und befeuerte die Antiatomkraftbewegung.

Danach kehrte verhaltene Ruhe ein, bis ein Abkommen mit Frankreich ermöglichte, Atommüll aus der Wiederaufbereitungsanlage La Hague, in der Bestandteile aus abgebranntem Kernbrennstoff getrennt werden, in Deutschland einzulagern. Gorleben erhielt nun die Einstufung eines Zwischenlagers und war 1995 erstmals Zielort eines solchen Castor-Transports, benannt nach seinen Behältern, die eigens zur Aufbewahrung von gefährlichen Materialien konstruiert worden waren.

Die anfänglich moderaten Proteste eskalierten über die Jahre und flammten Anfang November 2010 voll auf, nachdem eine Woche zuvor der Bundestag die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke beschlossen hatte. Seinen Höhepunkt erreichte der Widerstand ein Jahr später. Der Castor-Transport war insgesamt eine ganze Woche unterwegs, der Zugverkehr wurde immer wieder von DemonstrantInnen blockiert. Auf den letzten 50 km Streckenabschnittes bis ins Wendland herrschte Ausnahmezustand. Der Staat musste einen gewaltigen Apparat von bis an die 100000 Polizeikräften – etwa ebenso viele, wie sich an den Protesten beteiligten – auffahren, um diesem Gefahrgut den Weg zu bahnen. Dieser 13. Transport blieb auch der vorläufig letzte dieser Art nach Gorleben.

Das kann sich diese Bewegung als Erfolg gutschreiben lassen. Doch so mutig und einfallsreich sie auch gewesen sein mag, ihr Charakter blieb stets kleinbürgerlich. In bemerkenswerter Weise gelang ihr der Schulterschluss mit den Bauern und Bäuerinnen des Wendlands, die den Kern der Protestbewegung an entschlossener Tatkraft und strategischer Findigkeit dank ihrer Ortskenntnisse sogar noch übertrafen. Aber es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Forderungen der Protestbewegung kaum über ökologische Zielsetzungen wie Abschaltung von AKWs oder Einsatz von erneuerbaren Energien hinausreichten.

Interessanterweise gerieten viele allerdings auch auf Kollisionskurs mit der grünen Partei. Diese galt anfangs als Vorreiterin einer Antiatompolitik und stellte zu Beginn das Gros der Widerstandsbewegung, die spätere EU-Parlamentarierin Rebecca Harms fungierte bspw. als Sprecherin der „Republik Freies Wendland“. Nach Eintritt in die Regierungskoalition mit der SPD hatten die Grünen dann jedoch den sogenannten Atomkonsens 2000 mit zu verantworten, der vorsah, den Energiekonzernen aus Steuermitteln eine satte Entschädigung für deren allmählichen Ausstieg aus der Stromerzeugung durch Nuklearenergie zu zahlen. Es gab gerade in der Wendlandregion aus Enttäuschung über diesen Gesinnungsverrat etliche Austritte aus der Partei Bündnis 90/Grüne.

Ein Endlager gedeckelt – Probleme bleiben

Zum Durchschnaufen nach der Entscheidung des BMU besteht kein Grund, denn auf der Suche nach geeigneten Lagerstätten für hochradioaktiven Müll wird weiter „ergebnisoffen“ prospektiert und zwar im ganzen Land. Jetzt bangt der von Gorleben etwa 70 km entfernte Ort Bahlburg (Ortsteil von Winsen a. d. Luhe), in die engere Wahl zu kommen. In der Nähe befindet sich ein Salzstock. Andere bereits in Betrieb befindliche Lager für schwach- und mittelradioaktiven Abfall wie Asse II (Niedersachsen) oder Morsleben (Sachsen-Anhalt) müssen in Form von Deckeneinstürzen, Auslaugungen und Grundwassereinbrüchen bereits ausbaden, was eine vorschnelle Erkundung und die Opportunität des geringsten Widerstand in der Region eingebrockt hat.

Gorleben selbst sitzt zwar nicht mehr im Spielkreis „der Endlager-Plumpsack geht um“, ist aber keineswegs eine kernkraftlose Oase, denn zusammen mit Ahaus (Nordrhein-Westfalen) und Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern) gehört der Ort zu den ausgewiesenen Zwischenlagern. In Hallen stapeln sich oberirdisch die Castor-Behälter. Diese halten offiziell 100 Jahre. Zur Endlagerung sollen sie dann in Pollux-Behälter umgefüllt werden.

Daneben existiert in Gorleben seit 1984 noch ein Abfalllager, in dem schwach wärmeentwickelnder radioaktiver Müll, der aus dem Betrieb deutscher Kernkraftwerke sowie aus Forschung und Industrie stammt, in einer Halle zwischengelagert ist.

Weitere artverwandte Planungen in der näheren Umgebung wurden verworfen, unter anderem weil sie politisch nicht durchsetzbar waren.

Wie zum Hohn klingt es nachgerade, wenn das BMU meint, vorhandene Strukturmittel könnten ja jetzt in die wirtschaftliche Entwicklung der Region investiert werden.

Darüber hinaus gehen jedoch die schmutzigen Geschäfte weiter. Seit Jahren hatte Deutschland abgereichertes Uran ins Ausland, z. B. nach der sibirischen Stadt Sewersk (Oblast Tomsk) exportiert. Dort befindet sich kein gesichertes Endlager, sondern die angelieferten Container standen meist unter freiem Himmel auf einem Parkplatz herum. Als jüngstes Beispiel kommentiert der atompolitische Sprecher der Linkspartei, Hubertus Zdebel, einen anderen Skandal ganz auf Linie des Atomkonsenses am 20.8.2021, bei dem es sich vordergründig um eine Reduzierung der Lieferungen von radioaktiven Reststoffen von Frankreich nach Deutschland handelt, wie folgt:

„Was der Öffentlichkeit bei diesem neuerlichen Atomdeal verschwiegen wird, sind die mal wieder zusätzlich anfallenden Kosten für die öffentliche Hand. Es ist nämlich vorgesehen, dass RWE, EnBW, Vattenfall und PreussenElektra (heute: E.ON), die etwas mehr als eine Milliarde Euro für die Wiederaufbereitung und Rückführung des Atommülls an Orano (die französische Betreibergesellschaft von La Hague – Anmerkung d. V.) zu zahlen haben, 525 Millionen Euro vom öffentlich-rechtlichen Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung (KENFO) erstattet bekommen sollen.“

„Um den Konzernen diese zusätzlichen Vergünstigungen zu verschaffen, hat die Große Koalition mit ihrer Stimmenmehrheit vor wenigen Wochen extra noch eine Änderung des Entsorgungsübergangsgesetzes vorgenommen.“

Programmatische Punkte

Auch wenn eine Wiederbelebung einer Widerstandsbewegung hierzulande nicht mehr zu erwarten ist, nachdem das Ende der heimischen atomaren Energieerzeugung absehbar zu sein scheint, müssen dennoch Antworten auf die weiter brodelnde Bedrohung durch die ungelöste Entsorgungsfrage gesucht werden. Denn in vielen anderen Ländern auch innerhalb der EU werden weiterhin AKWs betrieben, teilweise sogar neu gebaut (Finnland).

Die neue Umweltbewegung in Form von Fridays For Future hat den Fokus eher auf die CO2-Reduktion als auf den Einsatz gegen Kernspaltungsenergie und deren Folgen gelegt. Die Katastrophe von Fukushima Dalichi in Japan vor zehn Jahren hat jedoch gezeigt, dass diese Techniken weiterhin störanfällig sind und verheerende langfristige Nachwirkungen haben.

Um nachhaltige Antworten auf solche Fragen zu finden, muss ein Programm erstellt werden, das international organisierend wirken kann. Kernpunkte davon sind:

  • Für einen globalen Plan zum Ausstieg aus der fossilen und nuklearen Energieerzeugung. Für massive Investitionen in regenerative Energieformen wie Wind-, Wasser- und Sonnenenergie sowie in geeignete Speichertechnologien!
  • Entschädigungslose Enteignung der privatkapitalistischen Energiekonzerne.
  • Offenlegung aller Verträge und Geschäftsunterlagen der Energiewirtschaft, einschließlich derer staatlicher „Aufsichtsbehörden“ und deren Kontrolle mit Vetorecht durch ArbeiterInnenorgane, gebildet aus demokratisch gewählten und rechenschaftspflichtigen VertreterInnen aus Gewerkschaften und Beschäftigten.
  • Freier Zugang von ArbeiterInneninspektionsorganen zu allen Einrichtungen der Energiewirtschaft.
  • Endlagersuche für die sichere Verbringung von radioaktivem Restmüll unter Kontrolle der ArbeiterInnenbewegung und der örtlichen Bevölkerung.
  • Finanzierung aller notwendigen Maßnahmen zur Forschung, Sicherheit und Umstrukturierung aus UnternehmerInnenprofiten und SpekulantenInnengewinnen.



60 Jahre Bau der Berliner Mauer – Ein Monument der Bürokratie

Bruno Tesch, Infomail 1158, 13. August 2021

28 Jahre lang stand die Berliner Mauer – geschichtsträchtig wie nur wenige Bauwerke. Sie war eine Manifestation der besonderen Art, wie der Stalinismus Probleme zu lösen pflegte und dabei die Interessen der ArbeiterInnenklasse – in beiden Teilen Deutschlands – verriet. Der Mauerbau war ein Glied in der Kette bürokratischer Maßnahmen, die letztlich auch die Grundlagen des ArbeiterInnenstaats DDR und desssen Entwicklung untergruben, auch wenn die Errichtung der Mauer am 13. August 1961 ihn zunächst zu retten schien.

Die Politik der SED folgte von Anfang an den Interessen der UdSSR-Bürokratie. Deren Blockade Berlins 1948 als Reaktion auf den Bruch des Vier-Mächte-Abkommens der Alliierten durch die Einführung einer westlichen Separatwährung erwies sich nicht nur als Desaster, sondern führte auch dazu, dass die Westmächte als Garanten für die Versorgung der Berliner Bevölkerung aufgewertet wurden. Mit der US-Luftbrücke wurde Stalins Berlin-Blockade zur Luftnummer.

Der „real existierende Sozialismus“ und die Gründung der DDR 1949 waren nicht auf die demokratische Diskussion, Organisierung und Aktion der Lohnabhängigen gegründet, sondern Abwehrreaktionen der stalinistischen Bürokratie auf die von den USA vorangetriebene Westintegration. Die (verspätete) bürokratische Enteignung der Kapitalisten als Klasse sowie die politische Entmündigung bewirkten, dass die ArbeiterInnenklasse die DDR nicht oder kaum als „ihren Staat“ begriff. Dieses Dilemma zeigte sich dann 1989 besonders deutlich, als Millionen ArbeiterInnen schließlich die Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft begrüßten – wenngleich sie damit verschiedene soziale Illusionen verbanden.

Die DDR litt – wie ganz Osteuropa – immer daran, dass die ArbeiterInnenklasse von der direkten Machtausübung ausgeschlossen war, dass sie keine Rätestrukturen hatte und der Staatsapparat daher der Form nach ein bürgerlicher war, obwohl er zugleich der Verteidigung der Planwirtschaft – allerdings mit bürokratischen Methoden – diente.

Der Aufstand vom Juni 1953

Der ArbeiterInnenaufstand in der DDR 1953 war eine Chance, die bürokratische Herrschaft zu zerbrechen. Doch er wurde von den StalinistInnen unterdrückt und von den westdeutschen ReformistInnen in SPD und Gewerkschaften bewusst hintertrieben. Beide opferten auf unterschiedliche Weise die revolutionäre Dynamik zugunsten ihrer Einfluss- und Machtinteressen.

Auslöser für den Aufstand waren wirtschaftliche Pressionen, u.a. Normerhöhungen. Doch die Bewegung der ArbeiterInnen stellte auch rasch politische Forderungen gegen die SED- Bürokratie auf und sandte Appelle an ihre Klassengeschwister im Westen, dort die KapitalistInnen zu stürzen. Die deutsche Teilung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht so stark im Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse verankert. Aber die Schere zwischen BRD- und DDR-Wirtschaftsentwicklung begann sich schon zu öffnen. Das resultierte 1. aus der Unterbrechung innerdeutscher wirtschaftlicher Beziehungen (von westlicher Seite!), 2. aus der kontraproduktiven Demontagepolitik der UdSSR in ihrem Hoheitsgebiet und 3. aus der wachsenden Demotivierung der ArbeiterInnen aufgrund der bürokratischen Bevormundung.

Doch als ab Mitte der 50er Jahre die DDR ökonomisch immer weiter der BRD hinterher hinkte, brach sich die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der DDR schon nicht mehr in politischen Kämpfen gegen das Regime Bahn, sondern als „Abstimmung mit den Füßen“: eine gewaltige Fluchtwelle in die Bundesrepublik setzte ein. Die Reaktionen des Regimes darauf waren zunächst ebenso politisch hilflos wie typisch bürokratisch. Mit den geänderten Passgesetzen von 1956 wurde der Straftatbestand der „Republikflucht“ eingeführt und in der Folge verschärft angewendet. Westreisen mussten genehmigt werden, ihre Zahl sank von 2,5 Millionen (1956) auf 700.000 (1958).

Eine „Aufklärungskampagne“ gegen die Westflucht wurde im selben Jahr von Regime-Chef Ulbricht folgendermaßen begründet: „Vor allem ist es notwendig, den Menschen zu erklären, warum das System des militaristischen Obrigkeitsstaats (gemeint ist die BRD, B.T.) keine Zukunft hat und warum die Erhaltung des Friedens die Stärkung der DDR erfordert und deshalb kein Arbeiter, kein Angehöriger der Intelligenz, kein Bauer aus kleinlichen wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen in den Westen ziehen darf.“

Dass den meisten ihre „kleinlichen wirtschaftlichen Gründe“, zumal im Westen relativ problemlos greifbar, näher waren als die „Erhaltung des Weltfriedens“, d.h. die Stabilisierung des stalinistischen Regimes, musste bald auch die DDR-Führung einsehen.

Im Sommer 1961 schwoll der Flüchtlingsstrom rasant an. Allein 150.000 Neuaufnahmen meldeten sich in den Auffanglagern in Westberlin. Nach dem Aderlass vornehmlich an Fachkräften gehobener Qualifikation wie ÄrztInnen, LehrerInnen oder IngenieurInnen verließen nun auch viele BäuerInnen, nachdem sie bis 1960 zwangskollektiviert worden waren, das Land. Alle Wirtschaftszweige waren gefährdet. Die BRD-Politik und die westlichen Medien ließen natürlich keine Gelegenheit aus, die ökonomische Überlegenheit des Kapitalismus heraus zu stellen und alle vergesellschafteten Errungenschaften des ArbeiterInnenstaats, z.B. Betriebskinderkrippen, Polikliniken usw. als wider die menschliche Natur zu diffamieren.

Die einzige Antwort, die den stalinistischen Bürokraten einfiel, waren Maßnahmen, die weniger den Klassenfeind trafen, sondern sich gegen die eigene Bevölkerung richteten: Einschüchterung, Verschärfung des Strafrechts und Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Es kam sogar zu Zwangsumsiedlungen in grenznahen Gebieten zur BRD. Die Grenzanlagen wurden immer weiter ausgebaut.

Die Schwachstelle aber blieb Berlin, das dem Alliiertenrecht unterstand und deren Mächte den Grenzverkehr regelten. Die Berliner Westsektoren diente dem Imperialismus als kapitalistisches Hochglanz-Schaufenster und propagandistischer Brückenkopf mit dem Rundfunksender RIAS und der Springerpresse, von dessen Hochhaus Tag und Nacht Nachrichtenbänder in Leuchtschrift liefen.

Die DDR-Staatsführung stand mit dem Rücken zur Wand; sie handelte am frühen Sonntagmorgen des 13. August 1961, als die Geheimaktion „Operation Rose“ anlief. Bautrupps, gesichert von Einheiten der Nationalen Volksarmee, sperrten zunächst die wichtigsten Verbindungswege an den Sektorengrenzen Berlins, später wurden Häuser- und Fensterfronten zugemauert. Anders als 8 Jahre zuvor war das politische Widerstandspotenzial in der DDR-Bevölkerung jetzt nur noch vereinzelt vorhanden oder hatte resigniert. Die reale Teilung und die Erfahrungen des gescheiterten Aufstands 1953 hatten tiefe Spuren hinterlassen.

Der Mauerbau verschaffte dem Regime eine Erholungspause, um sich wieder festigen zu können. Zugleich markierte er auch eine Abkehr der DDR-Spitze von einer gesamtdeutschen Konzeption, ließ die nationale Frage aber gleichwohl ungelöst. Die Mauer war das Sinnbild für eine erzwungene Teilung Deutschlands. Im Bewusstsein der Massen war es immer mit dem Makel behaftet, das hässliche Antlitz eines „Unrechtsstaats“ zu repräsentieren, der seine Bevölkerung einkerkert und diejenigen inhaftiert oder tötet, die ihm entfliehen wollen.

Wie hätten sich RevolutionärInnen zum Mauerbau verhalten?

Die Frage wird heute innerhalb der Linken kaum gestellt. Die ParteigängerInnen des Stalinismus u.a. Strömungen verteidigen den Mauerbau als notwendig, auch wenn ihnen die Form vielleicht Missbehagen bereitet. Sie entblöden sich dabei oft nicht, die Ulbrichtsche offizielle Lesart vom „antifaschistischen Schutzwall“ und der „friedenserhaltenden Maßnahme“ gegen „permanente Wühltätigkeit feindlicher Agenten und unmittelbar bevorstehendem Einmarsch von NATO-Truppen“ zu übernehmen.

Natürlich war der Mauerbau v.a. Ergebnis der Unvereinbarkeit zweier Gesellschaftsformationen in einem Land. Dass es aber überhaupt zu dieser Situation kam, war der antirevolutionären Politik der StalinistInnen wie der SPD geschuldet, die die Enteignung der Bourgeoisie und die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates in ganz Deutschland verhindert haben. Jede selbstbestimmte Form von Organisierung bzw. Übernahme von Macht durch die ArbeiterInnenklasse wurde blockiert oder bürokratisch „entschärft“. Das Ergebnis war ein de facto schon zweigeteiltes Deutschland lange vor dem Mauerbau: ein kapitalistischer Westen und ein degenerierter ArbeiterInnenstaat im Osten.

RevolutionärInnen mussten natürlich die DDR als historisch „höher“ stehende Gesellschaftsstruktur verteidigen – nicht deren bürokratische Übel, sondern deren soziale Tugenden, v.a. aber die von der Bürokratie blockierten sozialen Entwicklungspotentiale. Nachdem die StalinistInnen sich selbst in das Dilemma manövriert hatten, dass die DDR gegenüber der BRD in der Entwicklung nachhinkte und die Leute massenhaft weg wollten, war der Mauerbau nach ihrer Logik als „letzte“ Maßnahme notwendig.

Die SED argumentierte nach dem Mauerbau u.a., dass diese auch den ökonomischen Zweck hatte, die Ausnutzung subventionierter Waren und sozialer Leistungen durch die vielen Ost-West-Pendler zu verhindern. Zweifellos war das ein Problem, das jedoch hätte auch anders behoben werden können, z.B. durch den Abbau der Subventionen und die Erhöhung der Löhne und Sozialleistungen im selben Maße.

RevolutionärInnen hätten – mit dem Fakt der Mauer konfrontiert – natürlich nicht einfach für deren Abriss plädiert. Sie hätten aber sehr wohl gegen das Grenzregime u.a. represssive bürokratische Regelungen polemisieren müssen. V.a. aber hätten sie auf die tieferen Ursachen für deren Entstehen verweisen und für die Revolution in ganz Deutschland eintreten müssen – für die soziale Revolution in der BRD und die politische Revolution in der DDR. Die Mauer wäre letztlich nur dann überflüssig geworden, wenn die DDR bzw. der „Sozialismus“  attraktiver geworden wäre. Dazu wäre es aber notwendig gewesen, die Bürokratie mittels einer politischen Revolution zu stürzen.

Der Bau der Mauer war, obwohl sie kurzfristig eine Stabilisierung der DDR bewirkte, kein Sieg, sondern eine Niederlage der ArbeiterInnenbewegung in Ost und West. Es hätte eine öffentliche Kampagne geführt werden müssen mit Aufrufen an alle ArbeiterInnenorganisationen in Ost und West, diese Maßnahme zu diskutieren und die Frage zu stellen, wie die Grundlagen eines wirklich demokratischen ArbeiterInnenstaats geschaffen und gesichert werden können.

Im Herbst 1989 haben sich historisch zwei Dinge bestätigt: 1. ist eine grundlegende Änderung der Verhältnisse ohne Revolution – und die „Wende“ im Herbst 1989 war der Beginn einer politischen Revolution, die jedoch auf halbem Weg stehenblieb – unmöglich; 2. konnte auch die Mauer die DDR nicht davor bewahren, an ihren stalinistischen Geburtsfehlern zu Grunde zu gehen.

Ein halber Sozialismus in einem halben Land im Schatten der Mauer konnte auf Dauer nicht überleben. Der Sozialismus ist international oder gar nicht!




Archiv: Das Siedlungs-, Bau- und Wohnungsprogramm der Kommunistischen Partei Deutschlands (1922)

Programm-Entwurf der KPD (1), Infomail 1158, 5. August 2021

1. Die Grundlage aller Kommunalpolitik ist die Ansiedlung von Menschen. Im kapitalistischen Zeitalter vollzieht sich die Siedlung planlos; im wesentlichen folgt sie den Zufallsbedürfnissen der Industrie; sie nimmt keine Rücksicht auf die natürlichen Siedlungsmöglichkeiten, auf industrielle Standortsökonomie, keine Rücksicht auf Sicherstellung der Ernährung, auf Tauschmöglichkeit, Hygiene, Verkehr, keine Rücksicht auf den proletarischen Menschen.

In der kommunistischen Wirtschaft wird die Industrie von ihrem Zufallsstandort gelöst, nach natürlichen Standorten umgepflanzt und gegliedert, und die Siedlung der Menschen zu der Industrie  in eine planmäßige Beziehung gebracht, die sowohl den Notwendigkeiten der industriellen und agrarischen Produktion wie den verkehrstechnischen, hygienischen und ästhetischen Erfordernissen gerecht wird. In der kommunistischen Wirtschaft entscheidet über jede Siedlungsfrage ausschließlich das Interesse der werktätigen Menschen.

Da die Frage des natürlichen industriellen Standorts nicht im Grenzrahmen der kapitalistischen Staatengebilde gelöst werden kann, wird sich die endgültige Planregelung der menschlichen Siedlung erst in der internationalen kommunistischen Weltwirtschaft vollziehen.

2. Innerhalb der planlos erstandenen kapitalistischen Siedlungsorte wird planlos gebaut. Erst in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkriege entstand eine Wissenschaft vom Städtebau, wurde der Städtebau durch Vorschriften der Bebauungspläne, der Baupolizei, der Veranstaltungsgesetze usw. in einigen Städten planmäßig geregelt, ansatzweise sogar in interlokalem Umfange, doch diente diese Regelung fast restlos den Interessen des behaglichen Wohnens der Bourgeoisie; selbst diese Ansätze zur Planmäßigkeit sind mit dem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems durch den Weltkrieg fast restlos zunichte gemacht.

Die kommunistische Gemeinde macht sich alle Erkenntnisse der Städtebauwissenschaft zu eigen, verwendet sie aber ausschließlich im Interesse des Proletariats, insbesondere in Abkehr vom Massenmietkasernenbau zur Gartenstadtsiedlung, in der Anlage von Spiel- und Erholungsplätzen für Arbeiter und Arbeiterkinder, und ordnet ihre Baupläne sorgsam den allgemeinen interlokalen Siedlungsplänen unter.

3. Innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft und der kapitalistischen Siedlung ist die Beschaffung des Baugrunds und die Erstellung von Wohnungen der privaten Willkür als Geschäft überlassen. Der Kapitalist betreibt den Hausbau und das Vermieten von Wohnungen wie eine Schnapsfabrik  und eine Destille, den Grundstückshandel wie einen Handel mit Aktien oder Altmetall. Bringt der Hausbau und das Vermieten von Wohnungen nicht den genügenden Profit, so wird das Geld in anderen Geschäften angelegt, der Bau von Häusern eingestellt, die obdachlose Familie dem Elend überlassen. Der Bodenwucher hat seine Grenzen.

In der kommunistischen Gemeinde ist der Wohnungsbau kein Geschäft, sondern eine  Aufgabe der Gemeinwirtschaft. Die Zahl der Häuser und Wohnungen ergibt sich lediglich aus dem Bedarf  der Menschen und den technischen Möglichkeiten. Bodenspekulation ist in der kommunistischen Gesellschaft nicht möglich.

4. Schon im kapitalistischen Staat der Vorkriegszeit lebte das Proletariat in bitterster Wohnungsnot. Nur kam es ihm nicht sonderlich zum Bewusstsein. Während die reichen Bourgeois in luxuriösen Villen mit Parks, Autogaragen und allem „Komfort“ ein Leben in Luxus führen konnten, während selbst das Kleinbürgertum in bescheidenen Räumen sein behagliches Spießbürgeridyll zu leben vermochte, hauste das Proletariat in seinen elenden Höhlen der Keller- und Dachgeschosse, der Hinterhäuser, der Massenmietkasernen, der Landarbeiterställe,  bis zu 15 Personen, Männer, Frauen, Kinder, Tuberkulöse, Schlafgänger, Prostituierte, Sterbende, Gebärende in einem Raume, auf einem Strohsack, oft ohne Luft, ohne Licht – fiel es jeder Seuche und dauernd der Tuberkulose zum Opfer.

5. Seit dem Weltkriege hat sich die Lage des Proletariats dahin verschlechtert,  dass Hunderttausende nicht einmal mehr diese Elendshöhlen haben. Die Militärgewalt verbot das Bauen, wenn es nicht militärischen Zwecken diente, die Zivilgewalt glaubte die Frontsoldaten damit beruhigen zu können, dass sie daheim die Mieten niedrig hielt: die Folge war, dass so gut wie keine neuen Wohnungen erstellt wurden. Weil auch die „Demokratie“ die Niedrighaltung der Mieten als Beruhigungsmittel nicht entbehren konnte, legte der Kapitalist auch nach der Revolution kein Geld im Miethausbau an. Versuche, mit Reichs-, Staats-, Gemeindegeld Wohnungen zu erstellen, blieben belanglos, weil der kapitalistische Staat seien Einnahmen zur Erfüllung  der Reparationsverpflichtungen und zur Niederhaltung der infolge der Erfüllungspolitik in Hunger und Verzweiflung geratenen Proletariermassen durch Militär, Schupo, Justiz und Polizei verbrauchte.

Die Wohnungsnot wuchs aber nicht nur durch den Ausfall von Neubauten bei gleichzeitiger starker Vermehrung der Familienzahl, sondern auch durch den baulichen  und hygienischen Verfall der vorhandenen Wohnungen. Der Hausbesitzer stellte die Reparaturen ein.

Das Ergebnis dieser Entwicklung sind die furchtbaren Erscheinungen in fast allen Städten und Dörfern: den Proletariern fallen die Wohnungen über dem Kopfe zusammen, die Tuberkulose fordert Woche um Woche größere Opfer, mehr und mehr gehen Obdachlose freiwillig ins Gefängnis, noch häufiger mit ihren Kindern in letzter Verzweiflung in die Fluten oder vor den geöffneten Gasschlauch. Vor den Wohnungsämtern aber stauen sich Tausende auf Tausende und heischen immer energischer, immer drohender Obdach.

6. In dieser gefährlichen Situation kam der kapitalistische Staat auf den Ausweg, den er schon bei der Bezahlung von Militär, Schupo, Polizei und Justiz gegangen war: die Kosten der Mörder und Mordmaschinen vom Opfer selbst tragen zu lassen. Die ruchlose Politik des 10prozentigen Lohnabzugs und der indirekten Massensteuern bei nahezu völliger tatsächlicher Steuerfreiheit der Besitzenden wurde wiederholt. In zwei großen Gesetzen wälzte der kapitalistische Staat die  gesamten Lasten der Wohnungserstellung auf die schwachen Schultern der Proletarier: durch das Reichsmietengesetz wurden die Kosten aller Wiedereinstandsetzung der zerfallenen Häuser sowie aller künftigen Reparaturen restlos den Mietern auferlegt; durch das Gesetz einer Abgabe zur Förderung des Wohnungsbaus (Mietsteuergesetz) aber auch die Kosten der Erbauung aller neuen Wohnhäuser.

7. Die Wohnungsnot lässt sich mit Reichsmietengesetz und Mietsteuergesetz jedoch nicht beseitigen. Der Mieter ist völlig außerstande, die ungeheure Milliardenlast der Wiederherstellung der alten und der Erbauung der neuen Wohnungen zu ertragen.

Die Notlage der Mieter ist umso schlimmer, als in Deutschland schon die Miete im Frieden für das Quadratmeter Wohnfläche umso höher war, je kleiner die Wohnung und der Wohnraum, je ärmer und kinderreicher der Mieter. Da sowohl das Reichsmietengesetz wie auch die Reichswohnungsbauabgabe den Mietern die Steuerlast in Anteilszuschlägen zur Friedensmiete auferlegt, bedeuten beide Gesetze eine besonders furchtbare Belastung gerade der kinderreichen Proletarierfamilien.

In allen Ländern und Gemeinden haben die Kommunisten gegen die Versuche, aufgrund dieser Gesetze den Mietern Lasten aufzubürden, den schärfsten Kampf zu führen, in dem sie von den in immer tiefere Not und Verzweiflung geratenden proletarischen Mietermassen von Monat zu Monat  kräftigere Unterstützung finden werden.

8. Wird durch diesen Kampf auch der Ausweg einer Abwälzung aller Lasten auf die Mieter ungangbar, so verbleibt im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt kein Weg mehr zum Bau von ausreichenden Wohnungen, zur Behebung der Wohnungsnot. Immer mehr wird diese Erkenntnis steigen; immer mehr auch die Erkenntnis, dass die Wohnungsnot erst in der sozialistisch-kommunistischen Gemeinschaft behoben werden kann. Die Wohnungsnot wird selber so eine der Haupttriebkräfte zum Sturz der kapitalistischen und der Herbeiführung der  sozialistisch-kommunistischen Wirtschaftsordnung.

9. Im kapitalistischen Staat kann aber wohl eine Milderung der Wohnungsnot erkämpft werden.  Doch auch dieser Kampf ist nicht in den Parlamenten auszufechten, sondern erfordert die Anteilnahme der gesamten proletarischen und halbproletarischen Mietermassen, die sich gegen das Hausagrariertum und seinen Schirmherrn, den kapitalistischen Staat, in Bewegung setzen müssen. Auch der Kampf um Milderungen der Wohnungsnot im kapitalistischen Staat kann nur in einen Kampf zur Zertrümmerung des kapitalistischen Staates ausmünden.

In diesem Kampfe sind die Forderungen der Kommunisten folgende:

A. Wohnungsstatistik.

1. Die statistischen Ämter des Reiches, der Länder, der Kommunalverbände und Kommunen haben sorgfältige Kataster der vorhandenen Wohnungen und des Wohnungsbedarfs mit besonderer Rücksichtnahme auf Rauminhalt und Familiengröße einzurichten.

2. Daneben haben die statistischen Ämter der Kommunen und Kommunalverbände zunächst laufend wohnungsstatistische Untersuchungen insbesondere über die Preisgestaltung der Grundstücke und Häuser, über das Verhältnis zwischen Einkommen und Miete, über die Beschaffenheit der Wohnungseinrichtungen, über das Verhältnis zwischen Wohnungslage, Krankheit und Sterblichkeit anzustellen und zu veröffentlichen.

B. Beschlagnahme der vorhandenen Wohnungen.

1. Das Recht des Vermietens und Mietens von Wohnungen, Eigenhäusern und möblierten Zimmern wird der Privatwirtschaft entzogen und der Gemeinwirtschaft überantwortet.

2. In jeder Gemeinde wird ein Gemeindebeauftragter mit der Durchführung der Gemeinwirtschaft des Wohnungswesens betraut, in allen größeren Gemeinden werden zu diesem Zweck Wohnungsämter eingerichtet.

3. Den Wohnungsämtern werden Wohnungsnachweise eingegliedert.

4. Alle privaten Wohnungsnachweise und Wohnungstauschbüros werden geschlossen.

5. Keine Wohnung darf ohne den gemeindlichen Wohnungsnachweis vermietet, getauscht oder sonstwie veräußert oder bezogen werden. Eigenhäuser und möblierte Zimmer sind dabei den Mietwohnungen gleichzustellen.

6. Die Wohnungsnachweise der Gemeinden werden nach Wirtschaftsgebieten zu einem Gebietswohnungsnachweis mit Meldeaustausch aufgegliedert, die Gebietswohnungsnachweise zu einem Reichswohnungsnachweis zusammengefasst.

7. Der Wohnungsnachweis ist unentgeltlich. Soweit noch Gebühren erhoben werden, sind sie nach Einkommen und Familienstärke unter Freilassung der kleinen Einkommen zu staffeln.

8. Die Verwaltung der Wohnungsämter wird in die Hände von Beamten gelegt, welche von den Mieterorganisationen gewählt werden.

9. Die Wohnungsämter haben nicht wie bisher nur überschüssige Räumlichkeiten zu beschlagnahmen, sondern grundsätzlich sämtliche Mieter nach Maßgabe der Familienstärke und der  wirtschaftlichen Notwendigkeiten umzusiedeln, dergestalt, daß die kinderreichen Familien in die  Großvillen, die Kleinfamilien (auch die wohlhabenderen) in die Mietskasernenkleinwohnungen   umgesiedelt werden. Als Hauptgrundsatz bei der Umsiedlung gilt: große Wohnungen für die kinderreichen Familien, kleine Wohnungen für kinderarme und kinderlose Mieter. Die Kosten der  Umsiedlung tragen die Gemeinden.

10. Solange der Hausbesitz noch nicht enteignet ist, ist die Miete im Gemeindebezirk zwangsweise nach Kinderzahl und Einkommen abzustufen, dergestalt, daß die Familien mit mehreren Kindern und geringerem Einkommen geringere Miete zu zahlen haben, ohne Rücksicht auf die Zahl der ihnen zugewiesenen Räume. Soweit durch höhere Mieten der Familien mit geringerer Kinderzahl und höherem Einkommen ein Ausgleich des so entstandenen Mietausfalles  nicht erreicht werden kann, geht die Differenz zu Lasten der Gemeinde. Die Verrechnung und Verteilung des Ausgleichs auf die einzelnen Hausbesitzer erfolgt durch das Wohnungsamt.

11. Solange die Forderung der Umsiedlung sich noch nicht durchsetzen lässt, werden die Wohnungen kontigentiert. Wieviel Räume dabei den einzelnen Familien in den Großwohnungen verbleiben, richtet sich nach den örtlichen Verhältnissen. Für die Großstadt kann dabei  etwa folgendes Schema Richtlinie sein:

Eine Familie ohne Kinder behält Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Zubehör und je nach Tätigkeit des Ehemannes oder der Ehefrau noch ein Arbeitszimmer. Für je zwei Kinder unter 10 Jahren oder für zwei gleichgeschlechtliche Kinder über 10 Jahren oder je ein Kind über 10 Jahren bei verschiedenen Geschlechtern wird ein weiteres Schlafzimmer zugestanden. Für Hauspersonal ist ein besonderes Zimmer im Wohngeschoss zu belassen, jedoch zu kontrollieren, ob dieses Zimmer auch tatsächlich dem Hauspersonal zur Verfügung steht. Für mehr als einen Dienstboten werden nur in ganz besonderen Ausnahmefällen (besondere Krankheitsverhältnisse) Räume genehmigt.

12. Die überschüssigen Räume sind den Wohnungssuchenden zur Verfügung zu stellen, die in einer Dringlichkeitsliste aufgeordnet werden.

13. Die Aufstellung der Dringlichkeitsliste obliegt den Mieterorganisationen oder den Ausschüssen der Wohnungslosen; zumindest haben die Mieterorganisationen an der Aufteilung und Kontrolle der Dringlichkeitsliste mitzuwirken. Die bisherige Bevorzugung entlassener Heeresangehöriger, aus Oberschlesien usw. vertriebener Chauvinisten usw. wird sofort beseitigt.   Entscheidend für die Höhe in der Dringlichkeitsliste muss vielmehr sein: Dauer der Wohnungslosigkeit und Zahl der Kinder, ferner Schwangerschaft und Krankheit. Schwerkriegsbeschädigte sind zu bevorzugen.

14. Die überschüssigen Räume sind zu Notwohnungen auszubauen. Diese müssen mindestens Kochgelegenheit, Wasserentnahme und Abort enthalten, in Ausnahmefällen ist Abortbenutzung mit einer zweiten Familie zulässig. Die Kosten des Ausbaues der Notwohnungen trägt die Gemeinde,  welche sie je nach den örtlichen Verhältnissen und der Vermögenslage des Hausbesitzers auf diesen ganz oder teilweise abwälzen kann. Die Mieten der Notwohnungen sind nach Einkommen und Kinderzahl abzustufen.

15. Der Ausbau von Kellerräumen zu Notwohnungen ist strikt zu verwerfen; ebenso der Ausbau von Dachgeschossen, Bodenkammern und ähnlichen Räumen, sofern die so entstandenen Wohnräume nicht massive Wände erhalten und gegen die Hitze und Kälteeinflüsse des Daches unbedingt geschützt sind.

16. Die privaten Neubauten, ebenso die Gebäude des Reichs, der Länder und der Kommunalverbände sind in das Beschlagnahmerecht der Gemeinden einzubeziehen.

17. Alle Anträge der Großwohnungsbesitzer auf Befreiung von der Wohnungsbeschlagnahme  durch freiwillige Hergabe von Geld oder durch anderweitige Wohnungserstellung sind abzulehnen.   Wo aus technischen Gründen Großwohnungen nicht aufgeteilt werden können und die Umsiedlung noch nicht durchführbar ist, sind in die überzähligen Räume solcher Großwohnungen Einzelmieter (Untermieter) einzuquartieren.

18. Neben den Großwohnungen müssen in erster Linie für Wohnzwecke beschlagnahmt werden:  alle Kasernen, Klöster und Schlösser (soweit nicht höhere Kunstzwecke gefährdet sind), ehemalige Lazarette usw. Weiter sind alle Bars, Kabaretts, Animierkneipen, Likörstuben, Bordelle und ähnliche Vergnügungsstätten zu schließen und zu Wohnungen umzubauen, soweit das technisch unzweckmäßig ist, jedoch mindestens mit solchen Geschäfts- und Gewerbebetrieben zu belegen, die ihrerseits Wohnräumen Platz machen können. Schulen dürfen dagegen nicht zu Wohnräumen ausgebaut werden.

19. Gebäude wie Kasernen usw., die nur schwierig zu Kleinwohnungen aufgeteilt werden können,  sind nach Möglichkeit  zu Asylen, Ledigenheimen, Zentralküchenhäusern usw. umzubauen.

20. Der Umbau von Wohnungen zu Gewerbezwecken oder die Benutzung von Wohnungen zu gewerblicher Tätigkeit, welche die bisherige Wohnmöglichkeit ausschließt, wird verboten.

21. Die unhygienischen Viertel der großen Städte (Altstadt) sind zu sanieren. Bis zur Durchführung der Sanierung sind auch in diesen älteren schon bebauten Stadtteilen so zahlreich  wie möglich Grünflächen, Kinderspielplätze und Sandbecken anzulegen.

22. Alle Wohnungen sind einer strengen Wohnungsaufsicht zu unterstellen.

23. Vorhandene Kellerwohnungen sind zu beseitigen.

24. Räume, in denen Lebensmittel verarbeitet werden, dürfen nicht als Schlafräume benutzt werden.

25. Überall ist für ausreichende Belüftung und Belichtung zu sorgen, die Zahl der Abortanlagen zu vermehren, die Kanalisation mit Spülklosetts aufs Schnellste zu fördern.

26. Das Schlafstellenunwesen ist durch Einquartierung von Einzelmietern in überschüssige Einzelzimmer der Großwohnungen zu beseitigen.

27. In allen Städten sind aus den Reihen der Baugenossenschaften, der Bauarbeiter usw. Arbeiter und Arbeiterinnen in größerer Zahl zu Wohnungsaufsichtsbeamten und Wohnungspflegerinnen auszubilden und mit der Aufsicht über die vorhandenen Wohnungen zu beauftragen. In den ländlichen Gemeinden sind neben den Vertretern ländlicher Wohnungsbaugenossenschaften insbesondere Beauftragte der Landarbeiterorganisationen mit der Wohnungsaufsicht zu betrauen.

28. Die Wohnungsaufsicht wird den Wohnungsämtern eingegliedert.

29. Die Wohnungsaufsichtsinstanzen erhalten das Recht der Anordnung von Um- und Neubauten zu Lasten des Hausbesitzers.

30. In den Arbeitermassenquartieren auf dem Lande ist unbedingt für getrennte Wohnmöglichkeit der einzelnen Familien und für Schaffung menschenwürdiger Wohnverhältnisse Sorge zu tragen.

31. Die Wohnungsämter sind in ihrem Gesamtaufgabenkomplex interlokal zu Gebietswohnungsämtern zusammenzufassen, die ihrerseits zu einem Reichswohnungsamt aufgegliedert werden. Aufgaben der Gebietswohnämter sind:

31.1. Interlokale Umsiedlung nach wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten, z.B. von Altersrentnern, nicht an bestimmte Orte gebundenen Erwerbstätigen usw. aus Orten mit großer Wohnungsnot in abseitige Gemeinden mit geringerer Wohnungsnot, in bisherige Landhausgemeinden, Kurorte, Badeorte usw.

31.2. Beschlagnahme und Ausbau von ländlichen Schlössern, Klöstern, Kurhäusern, Hotels, Landsitzen, Villen usw. zu Zwecken der Aufnahme von Kinderheimen, Pflegeheimen, Blindenanstalten usw., die jetzt in Städten untergebracht sind und nach der Umsiedlung  hrerseits in den Städten für Wohnungsgelegenheit Raum schaffen können.

C. Beschaffung neuer Wohnungen.

1. Die gesamte Neubautätigkeit wird in Gemeinwirtschaft überführt. Träger der Gemeinwirtschaft können sowohl Reich, Länder und Gemeinden wie auch Bau- und Produktivgenossenschaften sozialen Charakters sein. Die Gemeinwirtschaft hat bei den Urstoffen für die Bautätigkeit zu beginnen. In erster Linie sind daher zu vergesellschaften: Steinbrüche, Ziegeleien, Zement- und Glasfabriken, Kohlen- und Eisenindustrie, Forsten, Sägewerke und der Baumaterialienhandel. Zumindest ist ein Verbot des Stilllegens, des Abbruchs oder der Produktionsbeschränkung in diesen Gewerken sofort zu erwirken.

2. Der zur Siedlung benötigte Grund und Boden wird zugunsten der gemeinwirtschaftlichen Siedlung kostenlos enteignet. Bis zur Durchführung der Enteignung haben die Gemeinden einen möglichst umfangreichen gemeindeeignen Grundbesitz durch Kauf zu erwerben. Jeden Verkauf gemeindlichen Grundbesitzes an Private, Betriebe, Handelsgesellschaften usw. lehnen die Kommunisten ab. Grundstücksaustausch mit Privaten usw. ist zulässig, Grundstücksverpachtung jedoch nur, wenn die Gemeinde am Erträgnis des auf dem Grundstücke anzulegenden Betriebes ausreichend prozentual beteiligt wird. Wegen Erbpacht s.n.I. Nr. 26.

3. Die Bautätigkeit selbst wird ebenfalls der privaten Willkür entzogen und nach städtebaulichen, volkswirtschaftlichen, hygienischen und verkehrstechnischen Gesichtspunkten gemeindeweise konzentriert. Träger dieser Aufgabe sind die gemeindlichen Bauämter. Wo Baubetriebe für einzelne Gemeinden unrationell sind, schließen sich mehrere Gemeinden zum Betrieb eines gemeinwirtschaftlichen Bauunternehmens zusammen.

4. Reich, Staat und Kommunen haben möglichst hohe Summen für die Neubautätigkeit zur Verfügung zu stellen. An private Bauunternehmer sowie für private Werkswohnungen dürfen jedoch Zuschüsse in keiner Form gewährt werden.

5. Kasernen- und Kirchenbauten sind abzulehnen.

6. Die Neubauten sind dem gegenwärtigen Stande des Baumaterials anzupassen; sie dürfen aber in keiner Weise den sozialhygienisch und ästhetisch notwendigen städtebaulichen Gesichtspunkten , insbesondere dem allmählichen Übergang vom Massenmietskasernenbau zur Gartenstadtsiedlung entgegenstehen.

7. In kleineren Gemeinden und großstädtischen Außenvierteln ist für ausreichende Stallung zu sorgen.

8. Die bestehenden Bauvorschriften sind auf das technisch und hygienisch Notwendige zu mildern. Ausreichende Besonnung, Straßenbreite und Raumhöhe sind jedoch unumgänglich.  Wellblechbaracken und ähnliche primitive Bauten sind für Wohnzwecke abzulehnen.

9. Die Wohnfläche der einzelnen Wohnung soll möglichst nie weniger als 70 bis 80 qm betragen. Die vielfach üblichen Zwergwohnungen („Vogelkäfige“) sind zu verwerfen.

10. Wo im bebauten Gelände zwischen Hochhäusern Baulücken klaffen, können diese durch Hochhäuser ausgefüllt werden; höhere als dreigeschossige Häuser sind jedoch auch in diesen Fällen nicht zu genehmigen.

11. Außerhalb des bereits bebauten Geländes sind stets nur freistehende Einzelhäuser oder Häuser  in Reihenflachbau zu bewilligen.

12. Neue Wohnungssiedlungen sind möglichst an der Herkunftsseite, industrielle Neuanlagen, ebenso Schlachthöfe, Müllabfuhrhaufen, Klärbecken usw. möglichst an der Abzugsseite der vorherrschenden Winde anzulegen, so dass die Wohngebiete von der industriellen Rauch- und  Geruchsbelästigung möglichst verschont bleiben. Soweit angängig sind alle industriellen Anlagen in besonderen von den Wohngebieten abgetrennten Industrievierteln zusammenzufassen.

13. Alle Neusiedlungen sind zu kanalisieren und mit Gas und Elektrizität zu versorgen, die Entwicklung zur Zentralbewirtschaftung (Zentralküchen, Zentrallesezimmern usw.) zu fördern. Voraussetzung dafür ist die Beseitigung der jetzigen völlig planlosen und willkürlichen Zersplitterung der Neusiedlungen und die Einordnung sämtlicher Neusiedlungen in eine streng planmäßige lokale und interlokale Bebauung.

14. Soweit planmäßige Siedlungstätigkeit auf Hemmungen durch Orts- und Kreisgrenzen stößt, sind Umgemeindungen, Eingemeindungen, Siedlungsverbände usw. zu Zwecken einheitlicherer Bautätigkeit schnellstens zu erwirken.

15. Das Reich, mindestens die Länder und Provinzen, haben einheitliche Versuchsbauten nach neuen Bauweisen auszuführen, damit den einzelnen Gemeinden die jetzigen kostspieligen Versuche  beim Erproben neuer Bauweisen erspart bleiben. Die Baubestandteile sind zu normalisieren und typisieren. Für die einzelnen Landesteile sind bodenständige Einheitsbauweisen und Einheitsbaupläne aufzustellen.

16. Alle Straßenbaukosten sowie die Kosten der Leitungen für Elektrizität, Gas und Wasser zu den Siedlungen trägt die Gemeinde. Die Verkehrsstraßen sind zu hoher Leistungsfähigkeit auszubauen, die Wohnstraßen weit mehr als bisher zu vereinfachen.

17. Bei allen Neubauten ist ist für genügende Freifläche und Gartenanlage, für Spiel- und Erholungsplätze, Sand- und Planschbecken der Arbeiter- und Arbeiterkinder Raum zu schaffen.

18. Die Aufteilung von Stadtwäldern oder Teilen von Stadtwäldern zur Anlage von bourgeoisen Villenkolonien ist abzulehnen, die Anlage von Spiel- und Erholungsplätzen, Unterkunftsräumen, alkoholfreien Wirtschaften und Milchschankhäuschen in den Stadtwäldern dagegen zu fördern. Aus Spazierparks für Müßiggänger sind die Waldungen zu Volksparks umzugestalten, die den freien Aufenthalt, das Lagern und Spielen außerhalb der Wege ermöglichen.

19. Wälder, Parks, Friedhöfe, Wiesen und Gartenanlagen sind durch breite Grünstraßen miteinander zu verbinden, rings um die Siedlungen zusammenhängende Grüngürtel zu belassen, Seen, Teiche, Fluss- und Kanalläufe in die Grünanlagen einzubeziehen. Wo irgend angängig, sind öffentliche Luft- und Wasserbäder einzuschalten. Die Ufer der Wasserflächen dürfen nicht besiedelt oder an Privateigentümer verpachtet werden.

20. Die Anlage von Plätzen, Straßenerweiterungen, künstlerischen Raum- und Straßenfluchtwirkungen ist Sorgfalt zu widmen.

21. Die Arbeitersiedlungen als ganzes sind ihres jetzigen leblosen Aussehens zu entkleiden und städtebaulich zu reizvoller Gesamtwirkung zusammenzufassen.

22. Die Ausgestaltung des Verkehrswesens ist besondere Sorgfalt zu widmen durch Anlagen von Straßen, Hoch- und Untergrundbahnen sowie durch Ausgestaltung des Eisenbahnwesens in Hinsicht auf möglichst schnelle Verbindung zwischen Arbeits- und Wohnstätte. Aus hygienischen, technischen und wirtschaftlichen Gründen sind alle Dampfbahnen zu elektrifizieren.

23. Die Beförderung zwischen Arbeits- und Wohnstätte muss grundsätzlich unentgeltlich erfolgen. Wo diese Forderung nicht durchführbar ist, sind als Mindestanforderungen zu erwirken: unentgeltliche Beförderung der Arbeitslosen vom und zum Arbeitsnachweis, erhebliche Preisermäßigungen für Arbeiter, Angestellte, Beamte, Schulkinder, Fortbildungsschüler,  Besucher von Mütter- und Säuglingsberatungsstellen, Außensiedler und Laubenkolonisten.

24. Die Kommunen und Kommunalverbände haben bei allen Bauämtern Auskunftsstellen für Siedler einzurichten.

25. Sämtliche Bauarbeiten sind in Eigenregie auszuführen. Der private Bauunternehmer ist bei allen Bauarbeiten auszuschalten.

26. Die Veräußerung von Bauten an Private ist verboten. Die gemeinnützig erbauten Wohnungen bleiben im Eigentum des Reichs, der Länder, der Gemeinden oder Baugenossenschaften. Ausnahmsweise, z.B. an Genossenschaften der Arbeiter, Beamten und Kleinbauern kann Erbpacht zugestanden werden. Die völlige Überlassung der Bautätigkeit und Bauten an Genossenschaften ist unzulässig, weil dadurch oft die ärmsten, kinderreichsten Proletarierfamilien, die nicht imstande  sind, die Genossenschaftsbeiträge aufzubringen, ohne Wohnung bleiben.

27. Den Baugenossenschaften sind die Zuschüsse stets in voller Höhe der Überteuerung auszuzahlen. Reich, Staat und Gemeinde haben ihnen zinslose Baugelder zur Verfügung zu stellen. Die Baupläne sind ihnen von den städtischen Bauämtern oder den Bauberatungsstellen der Länder und Provinzen unentgeltlich zu liefern.

28. Die Verwaltung aller erstellten Neubauten obliegt den Mieterausschüssen (Mieterräten).

29. Aus Mitteln des Reiches, der Länder und der Gemeinden sind allen Unbemittelten Möbel,  und sonstige Hausgerätschaften zur Wohnungseinrichtung unentgeltlich zu liefern. Soweit sich dieses nicht erreichen läßt, ist zu fordern, dass Reich, Staat, Kommunalverbände und Kommunen Möbel und Hausgerätschaften nach Normaltypen herstellen oder doch aufkaufen und diese Minderbemittelten zu ermäßigten Preisen übereignen.

30. Aller unbebaute Grundbesitz einschließlich der Pferderennbahnen ist acker- oder gartenmäßig zu bestellen. Soweit die Bestellung nicht durch die Gemeindeverwaltung selber erfolgt, ist der Grundbesitz an Vereinigungen von Laubenkolonisten, Baugenossenschaften und ähnliche proletarische Organisationen pachtweise zur Bestellung zu überlassen. Sollen die bestellten Grundstücke bebaut werden, so sind die Pächter mindestens ein Jahr zuvor davon zu benachrichtigen und zu kündigen. Soweit irgend möglich, ist ihnen rechtzeitig anderes Pachtland zur Verfügung zu stellen. Die Pachtpreise sind nach Einkommen und Kinderzahl der Pächter zu staffeln und soweit wie möglich in Naturalform zu entrichten. Erwerbslose bleiben von der Pacht befreit. Die Straßenbahnen, Hoch- und Vorortbahnen haben den Kleinpächtern Tarifermäßigungen zu gewähren.

31. Die Kommunisten haben die Pächterorganisationen zu fördern und in ihnen wie in den Mieterorganisationen (s. Absatz in D.) zu wirken.

D. Mieterschutz

1. Der wirksamste Mieterschutz ist die völlige Enteignung des Haus- und Grundbesitzes und die Überführung der Eigentums- und Besitzrechte auf Reich, Staat, Gemeinde unter Mitbestimmungsrecht und Selbstverwaltungsrecht der Mieterorganisationen und Mieter. Soweit diese Forderung noch nicht durchführbar ist, muss wenigstens der Grund und Boden in Gemeineigentum überführt werden. Die Enteignung des Grund und Bodens erfolgt erfolgt ohne Entschädigung. Bei der Enteignung der Gebäude ist jedoch allen Minderbemittelten eine Entschädigung zu gewähren.

2. Bis zur Durchführung der Enteignung ist darauf hinzuwirken, daß der Häuserhandel verboten und die Gesetzgebung zugunsten der Mieter und Pächter ausgebaut wird. Die gesamte Mieterschutzgesetzgebung ist dabei zu vereinheitlichen. Die Pachten sowie das Mieten möblierter Zimmer und die Hauswirtverträge sind in die Mieterschutzgesetzgebung einzubeziehen.

3. Für die Mieteinigungsämter ist insbesondere zu fordern: Wahl der Beisitzer durch die Mieterorganisationen; Verbot der Veränderung jeglicher Miet- oder Pachtverhältnisse zuungunsten der Mieter oder Pächter ohne Genehmigung des Mieteinigungsamtes; Verbot jeglicher Räumungsvollstreckung ohne Genehmigung des Mieteinigungsamtes und ohne ausreichende Bereitstellung anderer Unterkunftsmöglichkeiten.

4. Die kommunistischen Beisitzer der Mieteinigungsämter haben stets die Interessen der unter der allgemeinen Wohnungsnot und unter den Verhältnissen des besonderen Streitfalles am meisten Leidenden wahrzunehmen, nach Maßgabe des kommunistischen Siedlungs-, Bau- und Wohnungsprogrammes stets den Schwachen gegen den Kapitalkräftigen zu schützen.

5. Sämtlicher Reparaturarbeiten werden unter städtischer Regie zu Lasten der Hausbesitzer oder, soweit diese Minderbemittelte sind, zu Lasten der Gemeinde ausgeführt. Die Reparaturen erfolgen lediglich nach Zweckmäßigkeit und nach den Wünschen der Mieter unter Begutachtung der städtischen Bauämter.

6. Die im Reichsmietengesetz vorgesehenen Zuschläge für Reparaturen zugunsten der Hausbesitzer sind abzulehnen.

7. Die Gemeinden haben die Mieten in ihren eigenen Häusern nicht nach der Zahl und Größe der Räume, sondern nach der Kinderzahl und dem Einkommen der Mieter zu staffeln, dergestalt, daß die Familien mit größerer Kinderzahl und kleineren Einkommen die kleineren Mieten zu zahlen haben.

8. Die Gemeinden und Mieteinigungsämter dürfen keinerlei Anträgen der Hausbesitzer auf Erhöhung der Mieten über die Friedensmiete hinaus oder auf Neufestsetzung der Friedensmiete über den tatsächlichen Stand der Friedensmiete hinaus ihre Zustimmung erteilen.

9. Die Gemeinden haben alle Anträge auf Sonderberechnung öffentlicher Steuern, Gebühren und Beiträge, von Abgaben, Versicherungen, Hypothekenzinsteigerungen sowie von Verwaltungskosten  der Hausbesitzer für ihre Mieter abzulehnen.

10. Die Kommunisten dürfen nur dann für einen von irgendwelcher Seite eingebrachten niedrigeren Zuschlagsantrag stimmen, wenn vorher ihre Anträge auf Ablehnung jeglichen Zuschlages und jeglicher Sonderberechnung abgelehnt sind und höhere Zuschläge nur durch ihre Zustimmung zum niedrigeren Zuschlage verhindert werden können.

11. Durch Reichsgesetzgebung ist zu bestimmen, dass die Verwaltung der Häuser den Hausbesitzern genommen und Mieterausschüssen (Mieterräten) des einzelnen Hauses oder der einzelnen Häuserblöcke übertragen wird.

12. Auch über die gesetzlichen Rechte der Mieterschutzbestimmungen hinaus haben die Mieter einzelner Häuser oder Häuserblocks von sich aus Mieterräte zu bilden und diesen Mieterräten möglichst weitgehende Rechte gegenüber dem Hauseigentümer zu erkämpfen. Die Kommunisten in den Gemeindeverwaltungen haben diese Kämpfe in jeder Hinsicht (Übertragung von Befugnissen, Zuziehung zu einschlägigen Tagesordnungspunkten usw.) zu unterstützen.

13. Möglichst oft rufen die Mieterräte die Hausbewohner zu „Hausversammlungen“ zusammen. Die Kommunisten haben sich in den Hausversammlungen das Vertrauen der Mitbewohner zu erwerben und für das kommunistische Wohnungs- und Allgemeinprogramm zu wirken.

14. Dem Schutz der Untermieter und Schlafgänger gegen Mietwucher haben die Kommunisten in den Gemeindeverwaltungen, Mietseinigungsämtern und Mieterorganisationen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

E. Mieterorganisation

1. Eine wesentliche Förderung kann den Forderungen der KPD zur Wohnungsfrage durch die Mieterorganisationen zuteil werden.

2. Überall, wo bei Behörden, Schiedsinstanzen usw. Wohnungsfragen und Mieterfragen behandelt werden, haben unsere Genossen zu beantragen, dass Vertreter der Mieterorganisationen neben den von der Behörde bestimmten mit entscheidender Stimme zugezogen werden.

3. Die örtlichen Parteivorstände haben der Mieterbewegung besondere Aufmerksamkeit zu widmen und einen oder mehrere besondere Beauftragte für die Arbeit der Kommunisten in der Mieterbewegung zu bestimmen.

4. Es ist nicht Aufgabe der örtlichen Parteileitung, etwa alle Mitglieder der KPD zum Eintritt in die Mieterorganisationen zu veranlassen; es ist nur erforderlich, dass die für dieses Gebiet besonders interessierten Genossen zum Eintritt in die Mieterorganisationen angehalten werden, daß diese in ihnen geschlossene und zielklare Fraktionen bilden, dass diese Fraktionen in engster Fühlung mit der Parteiorganisation vorgehen, dass überall die kommunistischen Forderungen vertreten und zur Anerkennung gebracht werden, dass also nicht durch einfache Abstimmungsmehrheit, sondern durch den Wert der programmatischen Forderungen und praktischen Bestätigung ihrer Mitglieder in den Mieterorganisationen die kommunistische Partei die Mieterorganisationen entscheidend beeinflusst.

5. Die als Mieterräte sowie die in den Mieteinigungs- und Wohnungsämtern tätigen Genossen sdin zum Eintritt in eine Mieterorganisation verpflichtet.

6. Bestimmte Mieterorganisationen werden von den Kommunisten nicht bevorzugt. Die Kommunisten treten vielmehr in alle Mieterorganisationen ein. In diesen sorgen sie in organisatorischer Hinsicht für einen möglichst schnellen Zusammenschluss aller bestehenden Mieterorganisationen sowohl örtlich wie auch in den Bezirken und im ganzen Reich mit dem Ziele, einer einzigen einheitlichen großen Mieterorganisation, die sich einheitlich nach Wirtschaftsbezirken und Ortsgruppen gliedert.

7. Neugründungen von Mieterorganisationen, auch von „reingewerkschaftlichen“, neben den bestehenden Organisationen, werden von den Kommunisten bekämpft. Kommen solche Neugründungen trotzdem zustande, treten die Kommunisten in sie ein und arbeiten in ihnen für eine Verschmelzung mit den bestehenden Verbänden.

8. Zu Kongressen, Verbandstagen usw. der Mieterverbände sind überall Kommunisten in Vorschlag zu bringen. Auf die Verbandspresse ist entscheidender Einfluss zu erstreben.

9. Die Fraktionen der verschiedenen Mieterorganisationen eines Ortes treten von Zeit zu Zeit zu gemeinsamen Besprechungen zusammen, um ein einheitliches Vorgehen in den Einzelfragen zu gewährleisten und ihre Erfahrungen auszutauschen.

10. Die Organisation der Fraktionen ist bezirksweise und darüber hinaus länderweise und schließlich für das ganze Reich aufzugliedern. Die Zentrale der Partei beruft zu gegebener Zeit einen Reichskongress der kommunistischen Mieterfraktionen.

11. Die Hauptaufgabe der Kommunisten in den Mieterorganisationen beruht in der Verbreitung der Erkenntnis, dass eine Lösung der Wohnungsfrage im rahmen des kapitalistischen Staates unmöglich, sondern nur nach Maßgabe der kommunistischen Forderungen in der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft durchführbar ist, und die aufgrund dieser Erkenntnis vollziehende Einreihung der Mieterschaft in die Kampffront des revolutionären Proletariats.

Endnote

(1) Dieser Text wurde veröffentlicht in „Die Internationale, Zeitschrift für Theorie und Praxis des Marxismus“, Jahrgang 4, Heft 18, 20. April 1922, herausgegeben von der Zentrale der KPD. Reprint: Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 1971