Gerechtigkeit für Zohra Mohammad Gul!

Offener Brief der Geschwister der Ermordeten, Infomail 1187, 4. Mai 2022

Am 29. April wurde Zohra Mohammad Gul in Berlin Pankow brutal ermordet. Die sechsfache Mutter wurde von ihrem Ex-Partner auf offener Straße und auf dem Boden liegend mit einem Messer hingerichtet. Die Berichterstattung sprach von einem „Familiendrama“. Es wurden der afghanische Hintergrund und der Fluchthintergrund von Ermordeter und Mörder in den Vordergrund gestellt.

Das Wort Femizid war kaum zu lesen. Von systematischer Gewalt an Frauen, von fehlenden Schutzeinrichtungen, von ausbleibendem Schutz durch die Polizei und von der Tatsache, dass eine sechsfache und alleinerziehende Mutter in einem Flüchtlingslager leben musste, welches keine Privatsphäre und unzureichenden Schutz bietet, kein Wort. Erst eine Kundgebung in Erinnerung an Zohra am Montag, den 2. Mai, die von sozialistischen Frauen organisiert wurde, sollte dies ändern.

Zu der Trauerversammlung erschienen auch die Geschwister der Ermordeten. Sie erzählten von ihrem Schmerz, ihren systematischen Problemen und auch dem Versagen der Polizei. Sie haben nun einen Brief verfasst, den wir ungekürzt auf Deutsch und Farsi veröffentlichen.

Wir unterstützen die in dem Brief erhobenen Forderungen uneingeschränkt. In den kommenden Wochen sind weitere Proteste für ihre Anliegen und in Gedenken an den verhinderbaren Mord an Zohra G. geplant. Weitere Informationen werden in Kürze folgen.

Offener Brief der Geschwister der Ermordeten

Am 29.04.2022 wurde unsere geliebte Schwester in Berlin ermordet. Sie hatte es nach Jahren häuslicher Unterdrückung gewagt, das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben wahrzunehmen. Zum Mord an ihr kam es, nachdem sie und ihre Umgebung die Behörden in Berlin über ihre Bedrohung durch den Mann informiert hatten, der sich als ihr Eigentümer sieht. Unserer Schwester wurde der Schutz verwehrt, der ihr das Leben hätte retten können, und der ihren Kindern die traumatische Erfahrung des Verlusts erspart hätte. Sie war nicht das erste Opfer einer Schutzlosigkeit, die man nicht anders erklären kann als mit der zynischen Geringschätzung des Lebens von Frauen mit muslimischem Migrationshintergrund. Offenbar gibt es in Deutschland zweierlei Rechtsnorm: die Norm mit den durch Grundgesetz jeder Person zustehenden Rechten, und die relativierte Norm, die auf die vermeintliche Parallelgesellschaft der Migrant:innen angewandt wird.

Immer wieder spricht die deutsche Polizei nach Femiziden von „Beziehungsdramen“. Diese zynische Verharmlosung von Frauenmorden muss aufhören. Damit unsere Schwester nicht umsonst gestorben ist, muss die deutsche Politik für eine grundlegend geänderte Praxis der Polizei bei der Vorbeugung von Femiziden sorgen. Die Alarmzeichen müssen von den deutschen Behörden ernstgenommen werden.

Die Würde unserer Schwester gebietet, dass die Behörden hier vor Ort ihre Versäumnisse transparent aufarbeiten. Unterlassene Hilfeleistung muss auch bei Amtsträgern geahndet werden. Wir fordern von den Berliner Behörden eine Erklärung der Umstände für das Ignorieren der Warnungen vor der Gefahr, die unserer Schwester drohte und auf bitterste Weise wahr wurde. Wir fordern, dass die Berliner Behörden alles tun, um das Leid der Hinterbliebenen zu lindern.

Wir klagen den Mörder an, und mit ihm die Menschenverachtung, die jedem Recht eines Mannes zum Umgang mit einer Frau als seinem Eigentum zugrundeliegt. Wir fordern die Würdigung unserer Schwester und ihres Leids, auch wenn das Geschehene damit nicht ungeschehen werden kann. Unsere Schwester wurde Opfer nicht nur der toxischen Frauenverachtung seitens ihres Mörders, sondern auch der Gleichgültigkeit, die schutzbedürftigen Migrantinnen ins Gesicht schlägt. Wir fordern die deutschen Behörden auf, endlich ihrer Verantwortung für das Leben von bedrohten Migrantinnen gerecht zu werden und jede Warnung so zu nehmen wie es sich gehört – todernst. Wenn eine Frau Schutz sucht, darf niemand ihre Glaubwürdigkeit infrage stellen. Keine Frau sucht Schutz außerhalb ihrer häuslichen Umgebung, wenn sie nicht bedroht wird. Keine Frau gibt ein erträgliches Leben auf. Wenn eine Frau den Schutz der Gesellschaft sucht, dann ist sie hochgradig gefährdet.

Die Berliner Behörden müssen ausnahmslos allen Frauen, die Schutz suchen, diesen in Einrichtungen gewähren, in denen die Frauen willkommen sind, auf Dauer und so lange sie diesen Schutz brauchen. Die Politik muss die Mittel für Frauenschutzeinrichtungen erheblich anheben, damit keine Frau schutzlos bleibt. Angekündigte Femizide sind ein Schandfleck für ein reiches Land. Nur wenn ernsthaft dagegen gehandelt wird, nehmen wir das Mitgefühl der Berliner Politiker:innen ernst.

Offener Brief in Farsi

روز ۲۹ آوریل ۲۰۲۲ خواهر محبوب ما در برلین به قتل رسید. او پس از سالها تحمل آزار و خشونت خانگی، به خود جرأت داده بود که از حق خود برای داشتن یک زندگی مطابق میل خود استفاده کند. قتل او پس از این اتفاق افتاد که او و اطرافیانش به مقامات برلین اطلاع داده بودند که خواهر ما از سوی مردی که خود را صاحب او می داند مورد تهدید است. خواهر ما را از حمایتی که می توانست جان او را نجات دهد و فرزندانش را از رنج از دست دادن مادر مصون بدارد، محروم کردند. خواهر ما نخستین قربانی بی پناهی نبود. این بی پناهی را طوری دیگر از این نمی توان توضیح داد که در آلمان جان زنان مهاجر مسلمان کم ارزش تلقی می شود. به نظر می رسد در آلمان دو نوع معیار حق وجود دارد: یکی معیار مبتنی بر حقوق که طبق قانون اساسی آلمان هر فرد باید از آن برخوردار باشد،‌ و دیگری معیاری که شامل جامعه به اصطلاح موازی مهاجران می شود.

پلیس آلمان به طور مکرر پس از قتل زنان از نوعی تراژدی در روابط زن و مرد سخن می گوید. باید به این گفتمان غیرانسانی که قتل را امری پیش پاافتاده نشان می دهد، پایان داد. برای آنکه مرگ خواهر ما بی عقوبت نماند،سیاستمداران در آلمان باید کاری کنند که رفتار پلیس در جلوگیری از قتل زنان اساسا تغییر کند. علائم هشدار دهنده باید از سوی مقامات آلمان جدی گرفته شوند.

کرامت خواهر ما ایجاب می کند که ادارات دولتی آلمان به طور شفاف علل کوتاهی خود را بررسی کنند. کوتاهی در کمک رسانی باید مجازات شود ولو عوامل آن در میان مقامات باشند. ما از مقامات برلین خواهان توضیح علل نادیده گرفتن خطری هستیم که در مورد خواهر ما به تلخ ترین وجه تحقق یافت. ما می خواهیم ادارات برلین هر چه در توان دارند برای تخفیف رنج بازماندگان انجام دهند.

ما قاتل را محکم می کنیم و همراه با او، فکری غیر انسانی را که به مرد اجازه می دهد با زن به مثابه مایملک خود رفتار کند. ما خواهان آنیم که کرامت خواهر ما لااقل پی از مرگ او احیا شود، هر چند این امر دیگر فایده ای برای او ندارد. خواهر ما تنها قربانی زن ستیزی زهرآگین قاتلش نشد،‌ در مرگ او بی تفاوتی در مورد سرنوشت مهاجران نیز موثر بود. ما از مقامات آلمان می خواهیم پس از مدتها بالاخره به مسئولیتشان در حفظ جان زنان مهاجر مورد تهدید عمل کنند و هر هشداری را همان قدر جدی بگیرند که هست. وقتی یک زن پناه می جوید، هیچ کس حق ندارد در صحت سخن او تردید کند. هیچ زنی که خطر تهدیدش نکند به دنبال پناهگاهی خارج از خانه خود نمی رود. هیچ زنی اگر به شدت در معرض خطر نباشد، خواهان حمایت جامعه نمی شود.

ادارات برلین باید بدون استثنا به زنانی که پناه می جویند در اماکن مخصوص امکان سکونت بدهند، تا هر زمان که این زنان نیازمند پناه باشند، بدون محدویت زمانی. سیاستمداران باید منابع مالی اختصاص داده شده به پناهگاه های زنان را به طور قابل توجه افزایش دهند. قتل های قابل پیش بینی زنان، لکه ننگی برای یک کشور ثروتمند مانند آلمان است. ما فقط زمانی همدردی ابرازشده از سوی سیاستمداران برلین را جدی می گیریم که در این مورد جدا اقدام کنند




Wie kommt die Refugeebewegung aus der Defensive?

Dilara Lorin (REVOLUTION, Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10

August 2021: Die Aktivistin Napuli Langa sitzt seit zwei Tagen auf einem Ahornbaum auf dem Kreuzberger Oranienplatz. Auf den Plakaten sind Slogans zu lesen wie „Rechte für Geflüchtete sind Menschenrechte“ und „Luftbrücke für afghanische Geflüchtete“. Sie protestiert für deren Rechte. Ebenso will sie mit ihrer Besetzung an die vergangenen Proteste erinnern. Schließlich ist sie sowas wie ein Urgestein der Bewegung. Doch die 30 Unterstützer_Innen, die sich am Fuße des Baumes versammeln, wirken gleichzeitig wie ein schwaches Echo der Vergangenheit und werfen ungewollt die Frage auf: Was ist passiert?

Keine Verbesserung der Lage

Ende 2020 waren laut „Global Trends Report“ des UNHCR (UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge) 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Zahl steigt jedoch kontinuierlich an und es ist keine Besserung in Sicht. So ist im November veröffentlichten „Mid-Year-Trends 2021“ von mehr als 84 Million die Rede. Von diesen sind rund 50 % Frauen und Mädchen. Sie verlassen die Heimat oft mit einer doppelten Bürde auf ihren Schultern. Denn es sind mehrheitlich Frauen, die mit Kindern und älteren Familienmitgliedern fliehen und auf den Fluchtrouten mehr Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind. Angekommen in Lagern oder Notunterkünften sieht es nicht besser aus.

All das sind keine Neuigkeiten. Dennoch scheint die Situation an den Außengrenzen der Europäischen Union fast vergessen und in den Medien nicht präsent zu sein. Ausgenommen, es finden größere Katastrophen statt wie der Brand in Moria 2020. Die traurige Realität ist, dass es nicht im Interesse der herrschenden Klasse liegt, diese Menschen vor den Gefahren auf den Fluchtrouten zu schützen. Dafür sprechen die Deals der EU mit der Türkei oder Libyen, die versuchen, die Flüchtenden an deren Außengrenzen aufzuhalten und sie in den Lagern der Länder verrecken zu lassen.

Die Linke in Europa hat es nicht geschafft, in den letzten 10 Jahren eine Perspektive für diese Menschen zu entwerfen und gemeinsam Verbesserungen zu erkämpfen. Das heißt nicht, dass es immer so bleiben muss. Doch bevor wir uns der Frage widmen, wie wir die Situation ändern können, müssen wir einen kurzen Blick auf die Vergangenheit werfen.

Kurzer Rückblick auf die antirassistische Bewegung in Deutschland

Der Suizid eines Flüchtenden 2012 in Würzburg brachte viel ins Rollen wie den Marsch der Geflüchteten nach Würzburg. Es folgten zahlreiche Hungerstreiks wie der von 95 Betroffenen in München 2013 und Besetzungen wie die des DGB-Hauses Berlin-Brandenburg 2014. Am bekanntesten ist wohl heute noch das Camp auf dem Berliner Oranienplatz, welches vom 6. Oktober 2012 bis 8. April 2014 existierte. Im Zuge dessen entwickelten sich viele Supporter_Innenstrukturen. Doch deren lokale Isolation erschwerte eine dauerhafte Arbeit. Es folgten zahlreiche Antifa-Vollversammlungen, Krisenmeetings und letzten Endes bildeten sich nach zwei Jahren bundesweit verschiedene Bündnisse: „Jugend gegen Rassismus“, „Aufstehen gegen Rassismus“, „Nationalismus ist keine Alternative“, „Welcome2Stay“ und „Fluchtursachen bekämpfen“. Dies erfolgte zwischen Ende 2014 und Anfang 2015 als Mittel gegen das Aufkommen der wöchentlichen Pegida-Proteste (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Doch der verhinderbare Aufstieg der AfD ging weiter. Antirassistische Proteste wurden kleiner, kratzten nicht mal an der Zahl von 10.000 Teilnehmer_Innen. Besetzungen wurden geräumt und die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete stieg weiter. Bei den Wahlen hatten SPD und DIE LINKE fast überall Stimmen verloren. Es wurden stetig verschärfte Asylgesetze verabschiedet.

An Aktionen mangelte es nicht. Doch die Strategie der Bewegung hat nicht dazu geführt, den Rechtsruck in Deutschland zu stoppen oder auf europäischer Ebene einen koordinierten Protest zusammen mit Geflüchteten zu initiieren. Vielmehr mündete die Bewegung in einer Niederlage. Es bleiben vereinzelte Seenotretter_Innen, die wagemutig und auf eigene Faust Menschenleben retten, und NGOs, die vor Ort an den Grenzen versuchen, das Leid ein bisschen zu lindern, ab und zu große Aktionen, wenn es brennt, wie in Moria. Sie zeigen, dass Potenzial für eine antirassistische Bewegung existiert und bleiben doch ein Zeichen der Schwäche, da sie so schnell wie sie spontan entflammen, auch wieder verschwinden.

Wie kann sich das ändern?

So muss es nicht bleiben – die wohl einzige, tröstliche Erkenntnis. Doch dazu muss man auch aus den Fehlern der Vergangenheit lernen:

1. Raus aus der Defensive!

Es reicht nicht, nur immer wieder Angriffe abzuwehren. Wenn ein Protest Erfolg haben und nachhaltig die Situation von Geflüchteten verbessern soll, dann müssen auch konkrete Verbesserungen erkämpft werden. Das heißt konkret, dass wir nicht nur dafür kämpfen müssen, dass Seenotrettung kein Verbrechen ist und wir gegen Abschiebungen eintreten, sondern auch für offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle, damit Geflüchtete nicht ewig in Lagern leiden müssen oder als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Dabei muss anerkannt werden, dass es keine gesellschaftliche Polarisierung bezüglich der Antirassismusfrage gibt, sondern einen deutlichen Rechtsruck.

2. Keine Zugeständnisse, Schluss mit dem Opportunismus!

Schluss mit dem Opportunismus der Gewerkschaften! Es ist eines der Schlüsselelemente von Solidarität, dass der DGB Geflüchtete als Mitglieder aufnimmt und nicht wie in der Vergangenheit vor Angst, dass eine klare antirassistische Positionierung Mitglieder kosten kann, davor kneift. Das führt dazu, dass Unterdrückte gegeneinander ausgespielt werden und hängt mit der Ideologie der „Standortsicherung“ zusammen. Dabei sorgt die Aufnahme von Geflüchteten in die Gewerkschaften dafür, dass diese in Kämpfe vor Ort eingebunden werden können – auch wenn sie nicht arbeiten dürfen. Der Angst, dass noch mehr Mitglieder abzuspringen, muss man entgegenhalten, dass die aktive Organisierung von Kämpfen um die soziale Frage dem Abhilfe schaffen kann. Dafür müssen der DGB und seine Einzelgewerkschaften Forderungen aufstellen wie nach bezahlbarem Wohnraum oder Mindestlohn für alle. Allerdings darf man auch nicht der Illusion verfallen, dass es nur ausreicht, die „sozialen Fragen“ zu betonen. Diese Forderungen müssen konsequent mit Antirassismus verbunden werden, denn nur in praktischen Kämpfen kann man den sich etablierenden Rassismus anfangen zu beseitigen. Sonst vergisst man, dass Rassismus spaltet, kann ihn also schlechter bekämpfen.

3. Schluss mit „Jeder kämpft für sich allein“!

Wenn wir effektiv antirassistischen Widerstand aufbauen wollen, dann dürfen wir uns nicht spalten lassen. Weder von zunehmendem Rassismus noch Sektierertum der Linken oder der fadenscheinigen Überzeugung, dass Geflüchtete, Jugendliche, Parteien und Autonome jeweils ihr eigenes kleines Bündnissüppchen kochen sollen. Wir brauchen zwischen allen von ihnen und den größeren Organisationen der Arbeiter_Innenklasse zusammen mit denen der Geflüchteten eine Einheit in der Aktion. Dabei reichen nicht nur einzelne, große Mobilisierungen aus. Diese Events gab es bereits in der Vergangenheit und haben wenig gebracht. Deswegen ist es zentral, im Zuge der Proteste Verankerung vor Ort an Schulen, Unis und in Betrieben aufzubauen. Dies kann durch Aktionskomitees entstehen, die mobilisieren, indem sie beispielsweise Rassismus thematisieren und über Forderungen der Bewegung mitentscheiden.

4. Aktuelle Kämpfe verbinden!

Die antirassistische Bewegung hierzulande ist also derzeit geschwächt, fast gar nicht mehr existent. Deswegen dürfen wir nicht einfach auf die nächste Katastrophe warten, sondern müssen in den vorhandenen Kämpfen wie der Umweltbewegung oder dem um Wohnraum (Deutsche Wohnen & Co. enteignen) für klare, antirassistische Positionen auftreten. So ist die Umweltzerstörung einer der häufigsten Fluchtursachen. Bei der Enteignung von Wohnraum ist es zentral, auch für die Abschaffung von Geflüchtetenunterkünften einzustehen und für die dezentrale Unterbringung in eigenen Wohnungen. Wichtig ist v. a. die Forderung nach offenen Grenzen. Dabei ist es wichtig, dass solche Forderungen, falls angenommen, nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben, sondern auch praktische Mobilisierungen darum erfolgen.

5. Der Kampf ist international!

Mit Deals zwischen unterschiedlichen Ländern oder gemeinsamen „Initiativen“ wie Frontex versuchen vor allem imperialistische Länder, sich die Probleme der Geflüchteten vom Leib zu halten. Um Festungen wie die Europas erfolgreich einzureißen, bedarf es mehr als einer Bewegung in einem Land. Deswegen müssen wir das Ziel verfolgen, gemeinsame Forderungen und Aktionen über die nationalen Grenzen hinaus aufzustellen. Nicht nur um mehr Druck aufzubauen, sondern auch aus dem Verständnis heraus, dass Flucht ein Problem ist, welches erst durch die Ausbeutung der halbkolonialen durch die imperialistischen Länder so virulent wird.




EU und Britannien: Stoppt die Tragödie im Ärmelkanal – lasst die Flüchtlinge herein!

Dave Stockton, Infomail 1170, 26. November 2021

Bei der jüngsten Tragödie im Ärmelkanal sind mindestens 27 Flüchtlinge, darunter fünf Frauen und ein junges Mädchen, ertrunken, als ihr Schlauchboot in den eisigen Gewässern kenterte. Französische und britische MinisterInnen haben die Gelegenheit genutzt, um sich gegenseitig die Verantwortung für diese Barbarei zuzuschieben. Das Einzige, worauf sie sich einigen können, ist, die Schuld bösen MenschenschmugglerInnen anzulasten, die Verzweiflung und Elend ausnutzen. Das ist schamloser Zynismus, der dem Rassismus Vorschub leistet, wenn er von denjenigen kommt, die die Verzweiflung, die so viele zur Flucht zwingt, maßgeblich mit verursacht haben.

Zynismus

„Warum hat Frankreich sie von seiner Küste weggelassen?“, fragen Boris Johnson und Priti Patel, die britische Innenministerin. „Warum haben die BritInnen keine Büros eröffnet, in denen sie legal ihre Aufnahme beantragen können?“, fragt Emmanuel Macron.

In der Zwischenzeit sucht Patel nach einer rechtlichen Handhabe für den Befehl an die britische Marine, die Beiboote in französische Hoheitsgewässer zurückzudrängen, was einen Verstoß gegen das Seerecht darstellt, das eine absolute Pflicht zu ihrer Rettung vorsieht. Die britischen Rechtsaußenzeitungen titeln derweil schreiende Schlagzeilen, in denen sie aufgefordert wird, „sich zusammenzureißen“ und „Großbritannien vor einer Invasion zu schützen“.

Es ist sicherlich richtig, dass in diesem Jahr viel mehr Flüchtlinge den Ärmelkanal überquert haben. Im Juli überstieg die Zahl das Niveau des gesamten Jahres 2020, und im November überschritt eine tägliche Überfahrt zum ersten Mal die Zahl von 1.000. Die Ursache für die steigende Zahl der Überfahrten ist die Blockade aller anderen Reisemöglichkeiten. Die britische Regierung kalkulierte zynisch, dass die Gefahren der Überfahrt viele von der Reise abhalten würden, insbesondere im Winter.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan, Jemen, Äthiopien und Sudan, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid in Afrika. Viele Flüchtlinge kommen aus überfüllten Lagern im Iran und in der Türkei, die Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak aufgenommen haben.

Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten tragen einen großen Teil der Schuld für die Bombardierung, die Invasion und die Verhängung harter Wirtschaftssanktionen gegen eine Reihe von Ländern in der Region. Jetzt haben die westlichen Mächte alle Hilfe und Finanzmittel aus Afghanistan abgezogen und die Gold- und Währungsreserven des Landes an die Zentralbanken in Frankfurt, London, Paris und New York überwiesen, um sie als Lösegeld zu behalten.

Sie setzen den Hunger als Waffe gegen die Taliban ein, und diese wiederum treiben die Menschen dazu, vor ihrem repressiven Regime zu fliehen. Sprachliche Faktoren (die Verbreitung des Englischen als weltweite Verkehrssprache) und Familienangehörige in Großbritannien machen es zu einem natürlichen Ziel für diejenigen, die Sicherheit oder Arbeit suchen, was ihnen ermöglichen würde, Geld an ihre Familien in der Heimat zu überweisen.

Großbritannien und Frankreich ignorieren die unbestreitbare Tatsache, dass die „Illegalität“ dieser unglücklichen Menschen gerade in ihrer eigenen schamlosen Weigerung liegt, den vor Krieg und Hunger Fliehenden die Einreise zu gewähren, wozu sie nach internationalem Recht verpflichtet sind. Die BritInnen eröffnen keine Büros, in denen Flüchtlinge Asylanträge stellen können, bevor sie den Ärmelkanal erreichen. In Frankreich erhalten sie nicht einmal eine angemessene vorübergehende Unterkunft oder dürfen dort kampieren. Stattdessen werden sie in erbärmlichen Behelfsunterkünften am Straßenrand oder in Wäldern untergebracht. Die einzige Hilfe kommt von freiwilligen HelferInnen mit einem Sinn für menschliche Solidarität.

Wenn sie Großbritannien erreichen, werden sie in Auffanglagern festgehalten. Priti Patel wollte sie sogar in ausgemusterten Kreuzfahrtschiffen vor der Südküste festhalten, bis ein Aufschrei sie davon abhielt.

Auf der anderen Seite Europas werden Flüchtlinge als Schachfiguren in den Kämpfen zwischen der EU, Polen und Weißrussland behandelt, in eklatanter Missachtung all ihrer feierlichen Erklärungen zu den Menschenrechten und der gemeinsamen Pflicht, Asyl zu gewähren. Großbritannien hat sogar Truppen an die östlichen Grenzen der Nato geschickt, um deren Abwehr zu stärken.

Öffnet die Grenzen!

KommunistInnen, SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Großbritannien, Frankreich und der gesamten EU müssen diesem grausamen Spiel ein Ende setzen. Die Grenzen Europas und Großbritanniens zu Lande, zu Wasser und in der Luft sollten für alle geöffnet werden, die vor Krieg, Unterdrückung und wirtschaftlicher Not Asyl suchen. Diejenigen „Illegalen“, die bereits hier sind, müssen den Flüchtlingsstatus und Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten, Bildung und Wohnraum erhalten. ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften sollten sie willkommen heißen.

Die Mediengewerkschaften sollten die Druckmaschinen stoppen und den Zeitungen und Sendern, die Angst und Hass gegen diese leidenden Menschen schüren, so wie es Zeitungen wie die Daily Mail in den 1930er Jahren den vor der NS-Verfolgung fliehenden Juden und Jüdinnen angetan haben, den Stecker ziehen. Die meisten dieser Menschen wollten ihre Heimat, ihre Arbeit und ihre Familien nicht unter schrecklichen Gefahren verlassen.

Die westlichen Mächte, die die Reserven Afghanistans halten, müssen diese freigeben. Westliche Nichtregierungsorganisationen müssen die Möglichkeit erhalten, die medizinische und Nahrungsmittelhilfe wieder aufzunehmen. Die unermesslich reichen imperialistischen Mächte müssen den Ländern, die unter Covid und dem Klimawandel leiden, Hilfe zukommen lassen. Dies wäre nur die minimalste Wiedergutmachung, die diese Länder nach Jahrhunderten der Ausbeutung durch den europäischen und nordamerikanischen Kolonialismus und Imperialismus verdienen.




EU und Belarus: „Hybridkrieg“ auf Kosten der Geflüchteten

Urte March/Susanne Kühn, Infomail 1169, 11. November 2021

Tausende Geflüchtete hängen mittlerweile in der Grenze zwischen Belarus und den benachbarten EU-Staaten Polen, Lettland und Litauen bei Kälte, ohne ausreichende Lebensmittel und ohne Gesundheitsversorgung fest. Sie leben faktisch im Niemandsland. Verzweifelt versuchen immer wieder größere Gruppen, das angeblich humanitäre Ufer der EU zu erreichen – und werden dort von den polnischen oder anderen Sicherheitskräften brutal abgefangen und zurückgetrieben. Polen hat einen massiven Grenzzaun zum Schutz der Festung Europa hochgezogen und entlang der Grenze einen drei Kilometer langen De-facto-Sperrstreifen gebildet. Selbst jene Menschen, die es mit größter Anstrengung bis nach Deutschland schaffen, sollen an den Grenzen abgefangen werden.

Folgt man der polnischen, lettischen oder deutschen Regierung, der EU-Kommission oder dem US-Präsidenten, liegt die Sache klar. Belarus führe mit Putins Unterstützung einen „hybriden Angriff“ auf die EU. Die Geflüchteten würden, so der für sich genommen durchaus zutreffende Vorwurf, von Lukaschenko missbraucht. Dessen Zynismus will die EU offenkundig selbst nicht nachstehen. Dass die Geflüchteten als politische Manövriermasse benutzt werden, reicht ihr als Vorwand dafür, selbst tausende Geflüchtete zurückzuschicken, ihnen jede elementare Versorgung zu verweigern und selbst die Reste des Asylrechts vorzuenthalten, indem etwaige Anträge erst gar nicht angenommen werden.

An der Grenze zwischen Weißrussland und seinen EU-Nachbarn Polen, Lettland und Litauen herrscht auf jeden Fall ein Krieg – nämlich der gegen die Flüchtlinge. Die Menschen aus dem globalen Süden werden wieder einmal als Spielfiguren in einem brutalen zwischenstaatlichen Machtkampf benutzt.

Die sog. Welle

Seit dem Frühsommer berichten benachbarte EU-Länder und bürgerliche Medien von einer „Welle“ von Flüchtlingen, die versuchen, ihre Grenzen von Belarus aus zu überqueren, um Asyl zu beantragen. AugenzeugInnen und GrenzpolizistInnen bestätigen, dass belarussische Sicherheitskräfte den Transport zur Grenze organisieren und die Menschen mit dem Versprechen, sie nach Europa zu bringen, zur Überfahrt ermutigen.

Die MigrantInnen stammen aus dem Nahen Osten und Nordafrika, wobei eine größere Anzahl von KurdInnen, SyrerInnen und AfghanInnen gemeldet wurde. Obwohl die Zahl der Flüchtlinge keineswegs überwältigend ist (bis zu 10.000 in den drei Ländern), werden sie von einigen in diesen Staaten als eine große soziale Störung angesehen. Dies ist das Ergebnis eines starken Trends zum Ethnonationalismus, der irrationale Ängste über die Auswirkungen dieser MigrantInnen auf die „ethnisch homogenen“ Gesellschaften dieser Länder schürt.

Die Regierungen Polens, Lettlands und Litauens haben darauf mit einem unterschiedlichen Maß an Repression reagiert. Alle drei haben verschiedene Maßnahmen ergriffen, darunter den Bau von Zäunen und eine verstärkte Polizei- und Militärpräsenz, um die Grenzübertritte zu verhindern, und den Ausnahmezustand entlang der Grenze ausgerufen.

Polen ist auf diesem Weg am weitesten gegangen und hat Flüchtlinge, die die Grenze bereits überschritten haben, gewaltsam abgeschoben. Tausende MigrantInnen sitzen mittlerweile zwischen den Grenztruppen der beiden Länder fest, ohne Zugang zu Wasser, Nahrung oder Unterkunft. Dies verstößt eindeutig gegen geltendes Recht, nach internationalem Gesetz Asyl zu beantragen, und wurde von Amnesty International und anderen Menschenrechtsgruppen kritisiert.

Am 25. August wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen an, MigrantInnen und Flüchtlingen an den Grenzen humanitäre Hilfe zu leisten, und erneuerte die Anordnung am 27. September. Polen ist der Anordnung des Gerichtshofs bisher nicht nachgekommen, und Menschenrechtsgruppen haben mindestens sechs Todesfälle festgestellt. Probleme mit der EU und einzelnen EU-Staaten braucht es dafür nicht zu fürchten, im Grunde sind die EU-Kommission, Deutschland und andere froh darüber, dass Polen die rassistische Drecksarbeit für sie verrichtet.

In Litauen werden diejenigen, die das Land betreten, in provisorischen Räumlichkeiten untergebracht. Da die bestehenden Migrationszentren nicht für die Aufnahme der neuen Menschen geeignet waren, wurden die MigrantInnen zunächst in Waldlagern oder stillgelegten Schulen aufgenommen und später in umfunktionierten öffentlichen Gebäuden, darunter auch ehemaligen Gefängnissen, einquartiert. In vielen dieser Einrichtungen wurde über mangelnde Hygiene, fehlendes Wasser und nicht funktionierende Heizung berichtet.

Die Rechtsgrundlage für die unbefristete administrative Inhaftierung aller GrenzgängerInnen ist zwar unklar, aber das kümmert die westlichen Regierungen nicht. BeamtInnen bemühen sich auch auf diplomatischer Ebene, MigrantInnen daran zu hindern, ihre Heimatländer überhaupt zu verlassen. Im August flogen litauische VertreterInnen nach Bagdad und handelten eine Einstellung der kommerziellen Flüge vom Irak nach Minsk aus. Nun sollen Sanktionen gegen Fluglinien erfolgen, die Menschen nach Belarus fliegen, die Flüchtlinge sein könnten!

Imperialistisches Schachspiel

Obwohl die EU den Anschein erwecken will dass sie die Menschenrechte durchsetzt, erweist sich dies täglich als mörderische Lüge. Ihr Hauptinteresse besteht darin, Lukaschenko und seinen russischen UnterstützerInnen zu zeigen, dass seine Politik mit einer aggressiven Reaktion begegnet wird. Die Klärung von Einzelfällen, die an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergeleitet werden, wird Monate oder Jahre dauern. In der Zwischenzeit macht jeder Staat mit der Überwachung der Grenzen der Festung Europa weiter.

Obwohl in den internationalen Medien immer wieder von sozialer Unruhe die Rede ist, gab es auch vor Ort zahlreiche Solidaritätsbekundungen. In Litauen wurden eine Reihe von humanitären Hilfsorganisationen, darunter das Rote Kreuz, die Caritas und religiöse Gruppen, von Freiwilligen und Spenden überschwemmt. Außerdem fanden am 17. Oktober große Demonstrationen statt, bei denen eine humanere Politik gegenüber den Flüchtlingen gefordert wurde. In Warschau versammelten sich schätzungsweise 3.000 Menschen unter dem Motto „Stoppt die Folter an der Grenze“.

Auch im Ausland hat es Solidaritätsaktionen gegeben. Am Sonntag, den 17. Oktober, versammelten sich mehrere Hundert Menschen vor der polnischen Botschaft in London, um gegen die illegalen Rückschiebungen von MigrantInnen über die Grenze zu protestieren, die die Regierung vornimmt. Die Demonstration wurde von humanitären Organisationen wie Amnesty zusammen mit polnischen Gruppen wie Polish Migrants Organise organisiert.

Doch selbst bei denjenigen, die sich für humanitäre Hilfe engagieren, hält sich im öffentlichen Bewusstsein die Unterscheidung zwischen „legitimen“ Flüchtlingen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, und „illegalen“ WirtschaftsmigrantInnen. Es gab auch nur wenige Versuche, die Logik der Grenzen und das Recht der Staaten, sie zu überwachen, in Frage zu stellen. Dies zeigt, dass das Gift des Rassismus in die ArbeiterInnenklasse eingedrungen ist und weiter wirkt. Die rassistische Ideologie wird von der herrschenden Klasse als Instrument verbreitet, um die ArbeiterInnen zu spalten und zu beherrschen und sie daran zu hindern, zu erkennen, dass ihr wahrer Feind nicht die ArbeiterInnen anderer Länder sind, sondern das System des globalen Kapitalismus, das alle ArbeiterInnen unterdrückt.

Auch andere europäische Staaten bereiten sich darauf vor, eine neue Welle von Flüchtlingen aus Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban abzuwehren. Griechenland hat kürzlich einen Zaun und ein Überwachungssystem an seiner Grenze zur Türkei fertiggestellt. Der griechische Minister für Bürgerschutz, Michalis Chrisochoidis, sagte bei einem Besuch auf der Insel Evros: „Wir können nicht passiv auf die möglichen Auswirkungen warten. Unsere Grenzen werden unantastbar bleiben.“ Dies zeigt einmal mehr die Heuchelei der EU, die die Achtung der Menschenrechte von MigrantInnen fordert, während sie gleichzeitig ihre Grenzen verstärkt und zulässt, dass sich die Leichen von Geflüchteten an den Stränden des Mittelmeers stapeln.

Währenddessen sind es die MigrantInnen, die vor unvorstellbarer Armut und Krieg fliehen, die unter den Folgen dieses imperialistischen Schachspiels leiden. Die ArbeiterInnenbewegung, ob in Polen, Griechenland oder anderswo, muss an der Seite dieser MigrantInnen stehen und für eine Welt kämpfen, in der rassistische Grenzen auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden, zusammen mit dem globalen kapitalistischem System, auf dem sie beruhen.




EU-Grenzen: Nein zur rassistischen Mobilmachung!

Robert Teller, Neue Internationale 260, November 2021

Die rassistische EU-Grenzpolitik geht über Leichen. An der belarussisch-polnischen Grenze hat dies zuletzt am 21. Oktober ein Todesopfer gefordert. Der 19-jährige Syrer ist das achte Opfer entlang dieser Grenze im laufenden Jahr.

Dutzende Menschen sind derzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen entlang des Grenzverlaufs gefangen, weil ihnen sowohl von polnischen als auch belarussischen Sicherheitskräften verwehrt wird, sich im jeweiligen Staatsgebiet zu bewegen. Die polnische Seite verhindert die Versorgung dieser Menschen mit lebensnotwendigen Gütern, vom belarussischen Militär werden sie laut Berichten bestenfalls notdürftig versorgt. Auf polnischer Seite gilt seit dem 2. September im Grenzgebiet der Ausnahmezustand. Das Militär wurde entsandt, der Einsatz soll von 2500 auf 10000 SoldatInnen aufgestockt werden. Hilfsorganisationen und JournalistInnen haben keinen legalen Zutritt. Die Auswirkungen der menschenverachtenden Abschottung sollen so vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Gleichzeitig bauen Polen, Lettland und Litauen an einer Grenzbefestigung entlang der belarussischen Grenze mit kräftiger Unterstützung durch die EU, darunter auch Deutschland.

EU und Polen einmal einig

Amnesty International berichtete am 20. Oktober, dass eine Gruppe von 17 AfghanInnen seit etwa zwei Monaten an der Grenze gestrandet ist, nachdem sie im August von polnischem Territorium aus zur Grenze deportiert wurden. Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ordnete bereits am 25. August an, dieser und einer weiteren Gruppe irakischer Flüchtlinge Lebensmittel und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, doch die Entscheidung wird von der Regierung missachtet. Die angeordneten und systematisch praktizierten Rücktransporte (Pushbacks) sind ohnehin nach internationalem und europäischem Recht illegal, auch wenn sie mit einer im Oktober durch das Parlament erfolgten Gesetzesänderung nun legitimiert werden sollen. Doch diese offenkundigen Rechtsbrüche spielen keine Rolle in dem Konflikt mit den EU-Institutionen, die der polnischen Regierung vorwerfen, mit ihrer Justizreform „europäische Werte“ zu missachten.

Obwohl die EU von tiefen Konflikten durchzogen ist, herrscht vielmehr Einigkeit in der rassistischen Abschottungspolitik gegenüber allen Menschen, die hierher wollen, aber nicht dürfen. Dass gegen die „Bedrohung“ durch ein paar tausend flüchtende Menschen jedes Mittel recht ist, darüber besteht unter den europäischen PartnerInnen kaum ein Zweifel. Eine gemeinsame Mission ist in jedem Fall die „Sicherung der Außengrenzen“, die „Abwehr“ flüchtender Menschen an den Grenzen durch Einsatz menschenverachtender und tödlicher Gewalt. Florian Hahn, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärt dazu: „Die Grenze zu Belarus muss so schnell wie möglich befestigt, sicher und undurchlässig gemacht werden. Vor allem dürfen wir Warschau mit diesem Problem jetzt nicht allein lassen.“ In einer gemeinsamen Erklärung fordern 12 Regierungen (osteuropäische EU-Mitglieder, Österreich und Dänemark) den Bau einer von der EU finanzierten Grenzbarriere.

Grenzkontrollen und Rechte

Wer es doch in die EU schaffen sollte, ist längst nicht sicher. Auch an der deutsch-polnischen Grenze sind mittlerweile Einheiten der Bundespolizei im Einsatz, um all jene zurückzuschicken, die es soweit geschafft haben. Im bürgerlichen Mainstream angekommen ist auch die völkische Metapher der „Flüchtlingsinvasion“, wenn etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) von „hybrider Kriegsführung“ spricht. Diese Rhetorik ist eine Einladung für FaschistInnen wie den „Dritten Weg“, die die Sache gerne selbst in die Hand nehmen.

Zugleich liefert die Kriegsrhetorik einen Vorwand für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegenüber Russland und für weitere Sanktionen gegen das belarussische Regime. Dass sich letzteres nicht bedingungslos der Forderung der EU fügt, im Sinne einer vorgelagerten EU-Flüchtlingsabwehr Menschen gar nicht erst ins eigene Land zu lassen, gilt bereits als Kriegsakt. Als vorbildliches Gegenbeispiel sei etwa das Partnerland Libyen genannt, mit seinem effektiven Flüchtlingsabschreckungspotential wie Folterlagern oder einer schießwütigen Küstenwache, die auf Frontex-Befehle hört.

Natürlich handelt auch das belarussische Regime aus einem rassistischen Kalkül heraus. Die Hauptschuldigen sind aber die Regierungen der EU. Dass nun vermehrt Menschen über Belarus den Weg in die EU suchen, ist überhaupt erst das Resultat einer brutalen Abschreckungspolitik, die die Fluchtrouten über die Balkanländer und über das Mittelmeer gefährlich und für viele Flüchtende unpassierbar gemacht hat.

Offene Grenzen!

Die Offensive des staatlichen Rassismus in Europa erfordert Widerstand. Ebenso müssen wir rechten und faschistischen Banden entgegentreten, die als “Grenzschutz” ihr Unwesen treiben. Dies wird umso dringender, wenn sich eine neue Ampelregierung daran machen wird, den deutschen Führungsanspruch in der Festung Europa zu erneuern.

Die ArbeiterInnenbewegung, alle linke und antirassistischen Kräfte müssen organisiert gegen diese Politik auftreten. Das erfordert einerseits gegen die faschistischen und rechte Gruppierungen vorzugehen, noch dringender und wichtig ist es jedoch, dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.

Notwendig ist eine europaweite Bewegung, die für volle Bewegungsfreiheit nach und in Europa kämpft, für offene Grenzen und gleiche Rechte unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit – und die dies verbindet mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften der europäischen ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital, um den Kampf gegen Rassismus über die organisierte Linke hinaus zu verankern.




Rassismus gegen AfghanInnen: sichere Fluchtrouten jetzt!

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1160, 31. August 2021

Nach dem militärischen und politischen Debakel der US-geführten Militärallianz in Afghanistan und dem Abzug der imperialistischen Besatzungstruppen konnten die reaktionär-islamistischen Taliban in den letzten Wochen und Monaten im rasanten Tempo nahezu das gesamte Land erobern. Nach der kampflosen Übernahme der Hauptstadt Kabul gingen dramatische Bilder von tausenden AfghanInnen, die versuchten, Richtung Flughafen zu fliehen, durch die internationalen Medien. Die westlichen Militärmissionen im Land legten dabei den klaren Fokus auf die Evakuierung der eigenen Streitkräfte, diplomatischen MitarbeiterInnen und der wenigen verbliebenen Geschäftsleute im Land. Das führte teilweise zu den abstrusen Situationen, dass Flugzeuge teilweise nur halb gefüllt die Abreise antraten und damit zeigten, wie wenig den imperialistischen Mächten das Leben der AfghanInnen offenbar wert ist. Nach dem blutigen Anschlag am Kabuler Flughafen, mutmaßlich durchgeführt durch den Islamischen Staat, bei dem mehr als 185 Menschen ihr Leben verloren, sind für die meisten Länder ihre Evakuierungsprogramme erst mal beendet.

Internationale Aufnahmepläne

Länder wie die USA haben angekündigt, einige AfghanInnen aufzunehmen. Der Schwerpunkt wird hierbei vor allem darauf gelegt, diejenigen aufzunehmen, die mit den imperialistischen Besatzungsmächten zusammengearbeitet haben. Argumentiert wird das mit einer speziellen Gefährdungslage dieser Menschen. Doch dass unterschiedliche religiöse, ethnische oder sozial unterdrückte Gruppen vermutlich einer genauso großen, wenn nicht einer größeren Gefährdung unterliegen, wird hier geflissentlich ignoriert. Der Schwerpunkt liegt klar darauf, dass die „guten“ AfghanInnen, also solche, die die Besatzung des Landes aktiv unterstützt haben, Asyl bekommen sollen, während der Rest schauen soll, wo er bleibt.

In der EU ist das Thema Asyl und Flucht seit einigen Jahren immer härter umkämpft. Quer durch die politische Rechte, bis tief in die Mitte hinein, wird beschworen, dass sich „2015 nicht wiederholen darf“. Und für die politischen Eliten ist das auch nicht verwunderlich, durchbrachen damals tausende geflüchtete Menschen kurzzeitig das Grenzregime und die rassistische Ordnung Europas. Dazu kam gleichzeitig eine breite Welle der Solidarität der Menschen in Europa mit denen, die vor Krieg, Verfolgung und Elend flohen. Grund genug für die Herrschenden, das als Gefahr für ihre „Ordnung“ zu sehen.

Besonders tut sich hier der französische Präsident Macron hervor. Während tausende verzweifelte Menschen am Kabuler Flughafen auf eine mögliche Ausreise hofften, argumentierte er, dass sich Frankreich vor „Wellen von Migranten“ schützen müsse. Deutschland geht eher den US-amerikanischen Weg und möchte Menschen aufnehmen, die „sich für Deutschland engagiert“ haben (Laschet) oder „in den letzten Jahren die NATO-Truppen mit unterstützt haben“ (Baerbock).

Österreich wieder mal rechts außen

Während sich in anderen EU-Staaten darüber unterhalten wird, wie viele Geflüchtete aufgenommen werden können, schließt das die österreichische Bundesregierung komplett aus. Sebastian Kurz dazu in seiner berühmt menschenfeindlichen Manier: „Ich bin klar dagegen, dass wir jetzt freiwillig mehr Menschen aufnehmen – das wird es unter meiner Kanzlerschaft nicht geben.“ Stattdessen möchte man mit den autokratischen Regimen rund um Afghanistan zusammenarbeiten, um dort „Außenanlandeplattformen“ bzw. „Abschiebezentren“ zu schaffen, in denen afghanische Geflüchtete aufgefangen werden sollen. Garniert wird das Ganze mit der alten Leier von einer „Hilfe vor Ort“, die es nie gab und auch mit dieser Regierung nie geben wird.

Darüber hinaus möchte die Bundesregierung auch weiter AfghanInnen abschieben können. Das geht zwar derzeit nicht, einerseits wegen der Europäischen Menschenrechtskonvention, aber was für Nehammer (österreichischer Bundesinnenminister, ÖVP) und Co. vermutlich deutlich wichtiger ist, weil es akut keine Möglichkeit der Überstellung nach Afghanistan gibt. Grundsätzlich ausschließen will der Innenminister auch Abschiebungen nicht, solange die Taliban an der Macht sind. Unmittelbar möchte man stattdessen AfghanInnen in Nachbarländer abschieben.

Parteien der Menschenrechte?

Von den Grünen, die ja wie oft schwer erkennbar, auch in der Regierung sitzen, ist zurzeit wenig zu hören. Zwar gibt es einzelne Appelle von grünen PolitikerInnen für mehr „notwendige Menschlichkeit“ (Kogler, Vizekanzler und österreichischer Bundesminister für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport), aber reale Auswirkungen auf die Politik der Regierung hat das nicht. Wie so oft in der Vergangenheit sind die Grünen in der Regierung SteigbügelhalterInnen der türkisen Politik.

Die SPÖ ist hier aber um nichts besser. Von ihrem rechten Flügel aus dem Burgenland wird sogar der Rücktritt von Nehammer gefordert, weil dieser angeblich zu links wäre! Aber auch die Mehrheitslinie von Pamela Rendi-Wagner ist nicht wirklich viel besser: Sie fordert Deals mit den Nachbarländern nach Vorbild des Türkeiabkommens von 2016, das die rassistische Festung Europa durch politische und finanzielle Zugeständnisse an Erdogan absicherte.

Was es stattdessen brauchen würde, ist die Gewährleistung von sicheren Fluchtrouten, die Aufnahme aller Geflüchteten, eine klare Ablehnung der rassistischen Grundhaltung aller etablierter Parteien und die Einheit aller Unterdrückten und Ausgebeuteten.




Solidarität? Verantwortung? Abschiebung! – Der Plan der EU-Kommission für ein neues Asylsystem

Jürgen Roth, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Ende 2019 waren 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht, so die Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Damit ist ein Rekordhoch erreicht. Allein im letzten Jahr stiegen die Zahlen um 9 Millionen. Mit der Corona-Pandemie dürfte sich die Lage weiter zuspitzen. 45,7 Millionen suchen in ihrem eigenen Land Zuflucht und gelten als Binnenvertriebene. Dazu kommen 26 Millionen in andere Staaten Geflohene und 4,2 Millionen Asylsuchende. Das UNHCR zählte erstmals 3,6 Millionen VenezolanerInnen mit, die ins Ausland geflohen waren, aber keinen Flüchtlingsstatus besitzen.

Die Türkei nahm mit 3,6 Millionen Geflüchteten und 300.000 Asylsuchenden die meisten Menschen auf, gefolgt von Kolumbien, Pakistan, Uganda und Deutschland. Pakistan und Uganda haben im letzten Jahr jeweils 1,4 Millionen aufgenommen. Insgesamt kamen 85 % in sogenannten Entwicklungsländern unter, weniger als 10 % in Europa. In ihre Heimat kehren immer weniger Menschen zurück aufgrund anhaltender Konflikte. In den 1990er Jahren waren es 1,5 Millionen pro Jahr im Durchschnitt, im letzten Jahr waren es 385.000.

Der Kommissionsplan

In der EU leben 513 Millionen BürgerInnen und nur gut 2 Millionen Flüchtende. Letzteres ist also ein Klacks im Vergleich zu o. a. Zahlen. Die EU-Kommission hat Ende September ihren Plan zur Reform des europäischen Asylsystems vorgelegt. Er sieht Asylverfahren an den Außengrenzen, schnellere Abschiebungen und die Ernennung eines/r RückführungskoordinatorIn vor. Bei „hohen Flüchtlingszahlen“ sollen alle Mitgliedsländer zu „Solidarität“ mit den Ankunftsländern verpflichtet werden – sei es über Flüchtlingsaufnahme oder Hilfe bei Abschiebungen. Im Fall dieser „Krise“ werden MigrantInnen auf einzelne Länder verteilt, auch ohne Aussicht auf einen Schutzstatus. Abschiebungen werden als Gewährung der Hilfeleistung akzeptiert und müssen binnen 8 Monaten erfolgen. Andernfalls muss das Land die Flüchtlinge aufnehmen. Gleichzeitig plant die von der Leyen-Behörde mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten. 2016 war der Versuch gescheitert, die damals noch 28 EU-Staaten für eine Reform des Asylrechts zu gewinnen.

Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt moniert, der Pakt laufe auf die Abschaffung eines fairen Asylverfahrens hinaus durch eine Vorprüfung an den Außengrenzen, wer überhaupt zum Verfahren zugelassen wird. Cornelia Ernst, Abgeordnete der Linken im EU-Parlament, sieht in ihm rote Linien wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und die EU-Grundrechtecharta überschritten. Besonders kritisierte sie die Möglichkeit, dass sich Länder von der Aufnahme von Flüchtlingen freikaufen dürfen.

Am Dublin-System, dem zufolge jener Staat für das Asylverfahren zuständig ist, dessen Boden der/die Schutzsuchende zuerst betritt, rüttelt der Plan nicht. Dieses hat Ländern den Vorwand geliefert, jede Verantwortung auf den „äußeren Ring“ (Griechenland, Italien, Malta) abzuwälzen. Die Kommission will den Außengrenzenschutz durch Frontex verstärken, aber auch durch neue Verträge mit Anrainerstaaten nach dem Muster des Deals mit der Türkei sowie Nutzung des EU-Visumsystems. Die schwedische Kommissarin für Inneres, Ilva Johansson, kündigte einen fünftägigen, verpflichtenden „Screening“-Prozess für MigrantInnen nach ihrer Ankunft an – mit polizeilicher Registrierung und einer ersten Entscheidung über die Aussichten eines Asylanspruchs. Dies entspricht der seit Jahren verfolgten Linie Bundesinnenminister Horst Seehofers!

Widerspruch aus der rechten Ecke erfolgte aus Ungarn und Tschechien. Ihnen missfällt, dass sie in Ausnahmefällen verpflichtet werden sollen, Schutzsuchende aufzunehmen. Sie wollen Verhandlungen mit nordafrikanischen Ländern über die Einrichtungen von Hotspots wie Moria auf Lesbos, wo die Geflüchteten dann zusammengepfercht und registriert werden sollen. Die Idee ist nicht neu, nur gibt es bislang keine entsprechenden Abkommen.

Unser Fazit: Der neue Vorschlag ist nichts weiter als ein Herumdoktern an einem inhumanen System und eine Fortschreibung der Abschottung, des Ausbaus der „Festung Europa“. Am katastrophalen Lagersystem z. B. an den griechischen Außengrenzen, wo Mindeststandards bei der Unterbringung und beim Schutz der dortigen Menschen missachtet werden, will die Kommission nichts ändern. Im Gegenteil: sie sollen am besten erst gar nicht bis an die Grenzen der EU gelangen dürfen und gleich in Libyen, der Türkei, Marokko, Niger, Mali oder sonst wo bleiben.

5 Jahre Veränderungen

Aber nicht nur mit der Türkei, sondern auch mit der sogenannten libyschen Küstenwache hat die EU Mittel und Wege gefunden, um Asylsuchende vor Europas Grenzen zu stoppen. Letztere wurde von EuropäerInnen ausgebildet und mit technischen Mitteln unterstützt. Amnesty International kann ein Lied von deren Menschenrechtsverletzungen singen an Bootsflüchtlingen, die von der „Küstenwache“ aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht wurden. Staatliche wie nichtstaatliche TäterInnen pferchen sie in menschenunwürdigen Lagern ein, töten sie, lassen sie verschwinden oder zwingen sie zu SklavInnenarbeit.

Vor 5 Jahren rief Merkel im Obama-Stil angesichts der Flüchtlingswelle aus: „Wir schaffen das!“ Doch was hat sich seither getan? In welche Richtung ist der Zug der Migrationspolitik gefahren? Die ursprüngliche Seenotrettung der EU im Mittelmeer ist eingestellt (Mare Nostrum, Sophia). Die zivile Seenotrettung wird behindert und kriminalisiert (Italien, Malta). Das Bundesverkehrsministerium fordert von Rettungsorganisationen aufwendige und unbezahlbare Anpassungen. Eine neue Bundesverordnung für Seesportboote und Schiffssicherheit, ermächtigt durch das Seeaufgabengesetz, untersagt z. B. der NGO Mare Liberum mit ihrem gleichnamigen Boot die Seenotrettung. Die griechische Küstenwache schiebt Geflüchtete illegal in die Türkei zurück oder setzt sie auf aufblasbaren Plattformen im offenen Meer aus. Ein Schutzstatus für verfolgte Lesben und Schwule bleibt in der BRD weiterhin Ermessenssache. Griechenland nahm im März einen Monat lang keine Asylanträge mehr an und involvierte erstmals das Militär umfassend in die Flüchtlingsabwehr.

Die Innenministerkonferenz im Juni 2019 verschärfte die Rückführungsbestimmungen nach Afghanistan. In Bezug auf Syrien wurde zwar der Abschiebestopp bis zum 31. Dezember 2019 verlängert, doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll danach nicht mehr subsidiären Schutz gewähren, sondern den schwächeren Abschiebeschutz. Die im gleichen Monat von der Großen Koalition beschlossenen 8 Gesetzesänderungen, darunter das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das „Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ („Geordnete-Rückkehr-Gesetz“), verschärften u. a. die Bestimmungen zur Abschiebehaft. Fluchtgefahr ist keine Vorbedingung mehr. Die Polizei hat jetzt bundesweit das Recht, Unterkünfte Geflüchteter ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Bei „Gefahr im Verzuge“ kann auch die Ausländerbehörde das Eindringen der Polizei genehmigen.

Am 23. Juli 2020 tagten in Wien VertreterInnen von 20 beteiligten Staaten zwecks Errichtung eines Frühwarnsystems auf der sogenannten Balkanroute. Grenzschutz, Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht und beschleunigte Asylverfahren wurden als Ziele genannt. Werden diese an den Außengrenzen nicht aufgehalten, soll sich zukünftig eine Wiener Behörde um das Schicksal derer in diesem Sinne kümmern, die es in die Binnenländer der EU geschafft haben. Dieses Amt bildet offensichtlich die Blaupause für den/die RückführungskoordinatorIn im Plan von der Leyens. Kroatien spielt den gewünschten Part beim Schutz u. a. Deutschlands vor ungewollter Migration an der bosnischen Grenze: zu Tausenden wurden dort Aufgegriffene stundenlang eingesperrt, geschlagen und um ihre Habseligkeiten gebracht, bevor sie zurückgeschickt werden. Diese Push-Backs sind nach internationalem Recht gar nicht erlaubt.

Dissonanzen

Während der jüngsten Brandkatastrophe im Lager Moria entzündete sich in der EU eine Debatte, ob und wenn ja, wie viele Refugees in den einzelnen Ländern aufgenommen werden sollten. Die BRD und Frankreich hatten schon vorher Versuche unternommen, eine „Koalition der Willigen“ zustande zu bringen. Bei einem EU-Ministertreffen in Helsinki Mitte Juli 2020 hatten sie 14 Staaten um ihren Vorschlag herum gruppiert – davon 8 zu „aktiver Mitarbeit“ bereite –, eine gemeinsame Verteilung für in Seenot Gerettete durchzusetzen. Italien wehrte sich gegen das Ansinnen, dass Boote mit geretteten MigrantInnen in seinen oder maltesischen Häfen anlegen können sollten, die dann zur Umverteilung in andere Länder anstünden. Italien bemängelte, dass ihr Ausstieg z. B. in französischen Häfen nicht vorgesehen war.

Schon im März hatte der „willige Koalitionspartner“ Deutschland versprochen, 1.500 Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln aufzunehmen. Es handelte sich dabei um Kinder von Angehörigen, die sich schon in der BRD aufhielten. Das vom Bundestag beschlossene Kontingent zur Familienzusammenführung von 1.000 Menschen pro Monat war noch gar nicht ausgeschöpft worden. Nach der Brandkatastrophe wiesen NGOs wie Seebrücke, Sea-Watch u. a. darauf hin, dass etliche deutsche Städte und Bundesländer sich längst zur Aufnahme Geflüchteter bereiterklärt hatten. Doch Seehofer blockierte, stand anfänglich nur 150 Aufzunehmende zu, bis es dann nicht zuletzt auf Druck durch zahlreiche Demonstrationen doch 1.500 werden sollten. Die griechische Regierung teilte dazu mit, dass eine Chance auf Ausreise nur jene erhielten, deren Asylverfahren positiv beschieden wurde – so auch die 408 Flüchtlingsfamilien, die nun von der BRD aufgenommen werden sollen.

Der Bundesinnenminister hatte noch im September die Landesaufnahmeprogramme von Berlin und Thüringen gestoppt, weil sie die Verteilungsverhandlungen in der EU gefährdeten. Wer wie die Grünen, die Linkspartei und einige SPD-PolitikerInnen fordere, auf die Bereitschaft vieler Kommunen zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu setzen, müsse auch nach Italien, Malta, Spanien und auf den Balkan schauen, wo es viele Asylsuchende gebe.

Abseits von humanitärem Geschwafel verfolgt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft (ab 1. Juli 2020) die bekannte Linie. Am 7. Juli beriet das Innen- und Justizministertreffen über Verzahnung und Datenaustausch zwischen nationalen Polizeibehörden und die Stärkung von Europol. Die „VerweigerInnen“, die sich einem im letzten September auf Malta ausgehandelten Verteilungsmechanismus für aus Seenot gerettete Flüchtende entziehen, wurden sanft ermahnt. Das Anfang 2020 in Kraft getretene griechische Asylrecht, das auf Abschreckung und Abschiebung setzt, den Zugang zum Asylverfahren erschwert und Antrags- wie Entscheidungsfristen verkürzt, wurde nicht kritisiert.

Trotz aller Dissonanzen halten „Willige“ wie „VerweigerInnen“ am gemeinsamen Ziel fest, das europäische Asylsystem tiefgreifend zu verschärfen. Das humanitäre Gehabe einiger „Williger“ dient nur dessen Flexibilität und Stabilisierung. Die Blockade der HardlinerInnen ist ein willkommener Vorwand, die menschenfreundliche Fassade der „Gutmenschen“ aufzupolieren und gleichzeitig die Zugeständnisse minimal zu halten.

Forderungen

  • Weg mit dem Dublin-System!
  • Weg mit Frontex!
  • Ungehinderte staatliche und zivile Seenotrettung!
  • Freie Einreise für Geflüchtete in jedes Land ihrer Wahl!
  • Für offene Grenzen! Für volle demokratische und staatsbürgerliche Rechte aller, die im Land leben wollen!
  • Verknüpft den Kampf gegen die Festung Europa mit dem gegen die Krise!
  • Schafft eine antirassistische ArbeiterInneneinheitsfront und antirassistische Selbstverteidigung gegen rechte Angriffe!



Staatlicher Rassismus hat Moria niedergebrannt

Robert Teller, Infomail 1117, 11. September 2020

Das Camp Moria ist abgebrannt. Die Brandherde breiteten sich in der Nacht auf den 9. September laut Berichten an verschiedenen Stellen des Camps aus. Dass es angesichts der miserablen Unterbringung keine Todesfälle gab, scheint wie ein Wunder. Die meisten der 12.700 BewohnerInnen lebten hinter Stacheldraht auf engem Raum in dem Lager, das nur für weniger als ein Viertel der Personen ausgelegt ist. Wer oder was auch immer das Feuer am 9. September ausgelöst hat: wir wissen, dass es dort schon seit Jahren brennt, und schuldig daran ist die Abschottungspolitik der europäischen Regierungen. Sie haben erst dafür gesorgt, dass es Lager gibt für Menschen, deren einziger „Fehler“ darin besteht, dass sie in Europa ankommen und leben wollen. Die Zustände in den „Hotspot“-Lagern auf den griechischen Inseln, wo Menschen seit Jahren unter hoffnungslosen und unwürdigen Bedingungen leben müssen, zeigen deutlich, was „Grenzsicherung“ in der Praxis bedeutet.

Hilfsorganisationen, die in der Nacht zum Camp gelangen wollten, wurden daran von der Polizei gehindert, die ihrerseits nichts dafür tat, die Lage zu entschärfen: Tausende BewohnerInnen flüchteten aus dem Camp, wurden aber bald von staatlichen Sicherheitskräften und teils auch von AnwohnerInnen aufgehalten. Am Mittwochabend brachen erneut Brände aus. Die Polizei setzte nun Tränengas gegen die Flüchtenden auf der Straße in Richtung der Stadt Mytilini ein. Die BewohnerInnen des Camps schlafen am Straßenrand oder in den Olivenhainen. Über die Insel wurde ein 4-monatiger Ausnahmezustand verhängt. Zunächst wurde angekündigt, dass in den unversehrt gebliebenen Teilen des Lagers weiterhin Menschen untergebracht werden könnten. Nun soll nach dem Willen der griechischen Regierung ein neues Camp auf der Insel für die obdachlos gewordenen BewohnerInnen errichtet werden.

Situation in Moria

Niemanden, der von den menschenunwürdigen Zuständen weiß, kann die Katastrophe überraschen. Moria ist heute ein Gefangenenlager, das in dieser Form auf den EU-Türkei-Deal von 2016 zurückgeht. Es wurde ursprünglich für 2.800 Menschen gebaut. Im regulären Camp lebten zuletzt 12.800. Wenn man den „Dschungel“ außerhalb des Zauns einschließt, sind es geschätzt 20.000.

Das Camp stand bereits seit März faktisch unter Quarantäne und konnte nur mit Genehmigung verlassen werden. Abgesehen von dieser schikanösen Maßnahme gab es keinen Infektionsschutz, keine angemessene medizinische Versorgung und keine Labortests, dafür regelmäßiges Gedränge beim Warten auf Essen, Toiletten oder Duschen. Anfang September wurden im Lager die ersten 35 Covid-19-Fälle entdeckt. Anstatt sofort zu evakuieren, um die weitere Ausbreitung zu stoppen, wurde das Lager vollständig abgeriegelt. Nicht einmal Personen aus Risikogruppen wurde eine sichere Unterbringung außerhalb des Geländes gewährt. Stattdessen wird die Pandemie als Rechtfertigung für weitere Angriffe auf Geflüchtete benutzt, wie die rechtswidrige Aussetzung der Annahme von Asylanträgen durch die griechische Regierung im März.

Grundlage für das Lagersystem auf den griechischen Inseln ist der EU-Türkei-Deal von 2016, wo vereinbart wurde, dass Flüchtlinge, die sich auf den Inseln aufhalten und deren Asylantrag abgelehnt wurde, in die Türkei abgeschoben werden können. Hierfür wurden die „Hotspot“-Zentren eingerichtet. Hier gilt für die InsassInnen Residenzpflicht bis zu einer Entscheidung, ob sie Anrecht auf ein Asylverfahren haben. Rechtsstaatliche Prozeduren wurden mit der Einführung von Schnellverfahren untergraben. 2019 wurden sie auf die Hälfte aller Neuankömmlinge angewandt. Dennoch wurden die Hotspots nicht wie ursprünglich beabsichtigt zu Abschiebedrehscheiben, sondern faktisch zu Gefangenenlagern, in denen Tausende unter provisorischen Bedingungen teils Jahre ausharren müssen. Sie bilden damit den zweiten Grenzwall der Europäischen Union. Moria ist die zynische Botschaft an alle Geflüchteten, dass sie an der EU-Außengrenze ihre Hoffnung auf Schutz und Sicherheit begraben müssen. Ein neues Asylrecht, das seit Anfang 2020 in Griechenland in Kraft ist, hat die Situation nochmals verschärft. Das Instrument der Administrativhaft wurde ausgeweitet, Schnellverfahren wurden zum Regelfall und die Auskunfts- und Einspruchsrechte der Betroffenen im Asylverfahren weiter beschnitten.

All das ist gemeint, wenn gesagt wird, dass den Geflüchteten keine „falschen Anreize“ gesetzt werden sollen. Es bedeutet, dass die Grenzen, die Lager und das Asylverfahren noch abschreckender sein müssen als die Umstände, unter denen Menschen flüchten. Damit das so bleibt, darf es „keine nationalen Alleingänge“ bei der Aufnahme von Flüchtlingen geben. Abgesehen von der Diskussion über symbolische Maßnahmen wie der Verteilung von einigen hundert Minderjährigen sind sich die Regierungen und die EU-Kommission daher auch einig, dass niemand irgendetwas tun darf, um die unmenschlichen Zustände an den Außengrenzen zu entschärfen. Wortführer der Koalition der Unwilligen ist Bundesinnenminister Horst Seehofer. Für einige hunderte Menschen stellt er zwar gerne Unterbringung in Deutschland in Aussicht – freilich nur, wenn die EU und ihre Mitgliedsstaaten gemeinsam mitziehen. Und auf die rassistischen HardlinerInnen in Ungarn, Polen oder in Österreich kann sich Horst Seehofer verlassen und auch noch eine humanitäre Miene zum bösen Spiel machen. Faktisch blockieren er und die Bundesregierung damit sogar jene Soforthilfe und damit die Aufnahme einiger hundert Flüchtlinge, die eine Reihe von Städten in Aussicht gestellt hat.

Während Seehofer den verhinderten Möchtegernhelfer spielt, geben Rechtskonservative wie der österreichische Kanzler Kurz und RechtspopulistInnen die rassistischen EinpeitscherInnen. Sie hetzen gegen angeblich „kriminelle“ BrandstifterInnen, die mit der Aufnahme von Geflüchteten ins Land kämen, schüren Hass gegen MigrantInnen und Geflüchtete.

Dabei wird in der aktuellen Diskussion die Situation auf den Fluchtrouten nach Europa, die ebenfalls eine einkalkulierte Katastrophe für die Betroffenen darstellt, noch nicht einmal erwähnt. In der Türkei werden Flüchtlinge, die von Griechenland illegal und ohne Verfahren über den Grenzfluss Evros abgeschoben wurden, in Gefängnissen inhaftiert. Im Mittelmeer haben die Regierungen mit der Kriminalisierung der Hilfsorganisationen und der Festsetzung ihrer Schiffe dafür gesorgt, dass die zivile Seenotrettung mittlerweile fast unmöglich und die Überfahrt gefährlicher als je zuvor geworden ist. In Libyen vegetieren Tausende, die von der Küstenwache aufgegriffen wurden, in Internierungslagern. Um dabei „behilflich“ zu sein, gibt es die EUNAVFORMED-Unterstützungs- und Ausbildungsmission „Operation Sophia“ (EUNAVFORMED: europäische Marinestreitmacht Mittelmeer).

Schließt die Lager!

Wir dürfen nicht die Behörden, die für das europäische Grenzregime zuständig sind, darüber entscheiden lassen, wer Anrecht auf Asyl hat und wer nicht. Wird dürfen nicht zulassen, dass neue, etwas „humanere“ Lager gebaut werden, die der Festung Europa einen notdürftigen moralischen Anstrich geben. Stattdessen müssen wir das rassistische System bekämpfen, das MigrantInnen nach Nationalität und Fluchtgründen selektiert, um ihnen schließlich das Bleiberecht abzusprechen.

  • Es kann keine andere Lösung geben als die sofortige Schließung der Lager. Nicht nur Minderjährige und „Gefährdete“ – alle Geflüchteten müssen sofort die Inseln verlassen dürfen und in Wohnungen an einem Ort ihrer Wahl untergebracht werden!
  • Für kostenlose medizinische Versorgung und jederzeit freiwillige Labortests, gegen rassistische Schikanen wie anlasslose und kontraproduktive Quarantäne!
  • Zugang zu Bildung, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu gleichen Bedingungen wie Einheimische!
  • Die europäischen Binnen- und Außengrenzen müssen bedingungslos für alle Geflüchteten geöffnet werden. Keine „Verteilung“ der Menschen, sondern Bewegungsfreiheit und StaatsbürgerInnenrechte für alle, Abschaffung der Dublin-Regeln!
  • Im Angesicht der Katastrophe in Moria gibt es in diesen Tagen bundesweit Aktionen von Seebrücke und anderen Gruppen. Beteiligt euch an den Kundgebungen!
  • Die Gewerkschaften, alle Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung müssen in Deutschland und europaweit den Kampf um das Bleiberecht für alle, für gleiche Arbeitsbedingungen und soziale und politische Rechte für Geflüchtete in allen europäischen Ländern unterstützen!



Von Polizei erschossener Afghane: KritikerInnen werden eingeschüchtert

Lea Schmidt, REVOLUTION, Infomail 1100, 19. April 2020

Zwei Jahre ist es nun her, dass in Fulda der afghanische Geflüchtete Matiullah J. am 18. April 2018 von einem Polizisten erschossen wurde, nachdem er an einer Bäckerei randaliert und PassantInnen mit Steinen attackiert hatte. Das Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ging von Notwehr aus. Der Polizist wurde freigesprochen – basierend vor allem auf seiner eigenen Aussage. Er war der einzige Zeuge, weitere PolizistInnen allerdings in unmittelbarer Nähe. Was genau am Tag der Tat geschehen ist, wird sich wahrscheinlich nie weiter klären lassen.

Interessant ist aktuell vor allem, wie massiv StaatsanwältInnen und Polizei gegen all jene vorgehen, die eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse fordern, obwohl dies durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist. Zum Beispiel wurde von TeilnehmerInnen der Solidaritätsdemos für Matiullah J. im Jahr 2019 die Frage gestellt, wieso mehrere PolizistInnen es nicht geschafft haben, einen 19-Jährigen zu stoppen, ohne ihn zu töten. Sie stellten sich auch die Frage, wie von einem Menschen eine tödliche Gefahr ausgehen kann, wenn er so weit weg ist, dass ein geschulter Polizeischütze von zwölf Schüssen scheinbar achtmal daneben trifft. Auch vor dem Hintergrund aufgedeckter rechter Netzwerke innerhalb der hessischen Polizei wurde argumentiert, dass eine rassistisch bedingte Überreaktion nicht ausgeschlossen werden kann. Deshalb stellte die Demonstration die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung auf.

Heute sehen sich einzelne TeilnehmerInnen der erwähnten Demonstrationen einer Welle von Repressalien ausgesetzt. Phillip W. wird vorgeworfen, den Vorfall als Mord bezeichnet zu haben, weshalb eine Strafanzeige gegen ihn gestellt wurde. Er selbst bestreitet diese Aussage. Ihm sei es lediglich darum gegangen, die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung zu unterstützen. Doch diese Strafanzeige ist nur eine von sechs, die im Zusammenhang mit der Demonstration gestellt wurden. Die Tatvorwürfe reichen von übler Nachrede und Verleumdung über Beleidigung bis hin zu einem Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Auch die Anmelderin ist betroffen, weil sie den Sprechchor „Bullen morden und der Staat schiebt ab, alles ein Rassistenpack“ nicht unterbunden haben soll.

Der Autor Darius R. verfasste einen Artikel über die Tat, in dem er davon schreibt, dass Matiullah mit zwölf Schüssen getötet wurde. Zur Richtigstellung: Matiullah trafen vier Schüsse, zwei waren tödlich. Abgegeben wurden allerdings insgesamt zwölf Schüsse. Die Frage von rassistischer Polizeigewalt wird in dem Artikel aufgeworfen. Die Staatsanwaltschaft stellte hier einen Strafbefehl von 2250 Euro aus. Der Vorwurf: Darius R. wollte mit dem Artikel gezielt den Eindruck einer Hinrichtung vermitteln. Mit welchem Eifer die Fuldaer Polizei und Justiz ihre KritikerInnen verfolgt, wird auch daran deutlich, dass die Anzeige gegen Darius R. von dem Fuldaer Polizeipräsidenten persönlich gestellt wurde.

Timo S., der Administrator einer Fuldaer Seite gegen Rassismus ist, musste sogar eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen, nur weil über seine Seite der Artikel geteilt wurde. Die Polizei war angerückt mit dem Ziel, sämtliche technischen Geräte zu konfiszieren. Besonders brisant ist dabei, dass seine Privatwohnung auch Sitz seines Lokalmagazins „Printzip“ ist. Der Anspruch an Verhältnismäßigkeit ist deshalb in dem konkreten Fall höher zu bewerten als bei einer Hausdurchsuchung in einer normalen Privatwohnung. Der Strafrechtsexperte Andreas Hüttl behauptet unter anderem deshalb, dass es mehrere rechtliche Unzulänglichkeiten bei dem Durchsuchungsbefehl gebe.

Diese Welle an staatlicher Repression zeigt abermals im Fall Matiullah J., dass Polizei und Justiz eben nicht unabhängig und neutral sind. Sie verfolgen eine eigene Agenda, welche unter anderem daraus besteht, KritikerInnen einzuschüchtern und mundtot zu machen. Wir sind solidarisch mit allen Betroffenen und fordern die sofortige Einstellung aller laufenden Verfahren. Auch die Forderung nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den Todesschützen ist legitim und wird von uns unterstützt. 

Wenn Ihr Euch auch solidarisch zeigen wollt, dann könnt Ihr für ein unabhängiges Gutachten in dem Fall spenden. Außerdem könnt Ihr Phillip W., Darius R. und seiner Co-Autorin bei ihren Gerichtsterminen Beistand leisten. Die Termine waren für Anfang April angesetzt, sind jedoch aufgrund der Corona-Krise auf unbestimmte Zeit verschoben. Wir werden darüber informieren, sobald es einen neuen Termin gibt.

Spendenwebseite für ein unabhängige Gutachten:

https://www.betterplace.org/de/projects/78990-spende-fur-finanzierung-von-unabhangigen-gutachten-wasgeschahmitmatiullah




Hölle auf Erden – Geflüchtete wie Tiere zusammengepfercht

Dilara Lorin, Infomail 1096, 20. März 2020

Vor noch nicht allzu langer Zeit, um genauer zu sein, vor 2–3
Wochen, war es ein Skandal, als die Türkei am 4. März 2020 die Grenzen zur EU
öffnete, obwohl die EU dem türkischen Staat jährlich mehrere Milliarden Euro
bietet, damit die geflüchteten Menschen ja nicht nach Europa kommen. Heute
spricht niemand mehr darüber. Dabei stecken mehrere tausend Menschen im
Grenzgebiet zwischen Türkei und Griechenland fest. Es gibt praktisch keine
Hoffnung für diese auf ein menschenwürdiges Verfahren, denn seit dem 1. März
lässt Griechenland keine Asylanträge mehr zu. Die EU und Frontex schotten
weiter ihre Grenzen ab und gehen dort rigoros gegen Menschen vor. Handgranaten,
Tränengas, Gummigeschosse werden eingesetzt.

Videos, Bilder und Berichte, sofern diese noch möglich sind,
zeigen ein deutliches und grauenvolles Bild der EU und der Nationalstaaten
Türkei und Griechenland. In einigen Videoaufnahmen sieht man, wie türkische
Sicherheitskräfte Hand in Hand mit faschistischen Strukturen Geflüchtete erst
in den Bus zerren und dann im Niemandsland im Grenzgebiet mit Gewalt und einer
gezückten Waffe nach draußen schleifen. Videoaufnahmen zeigen eindeutig, wie
die griechische Küstenwache mit einer Eisenstange versucht, ein Schlauchboot
mit mehreren Dutzend Geflüchteten zurückzudrängen, oder Aufnahmen von wütenden
InselbewohnerInnen und FaschistInnen aus ganz Europa, die an den Küsten warten,
nur um Menschen, die vor Leid, Elend, Krieg und Tod fliehen, anzugreifen und
wieder ins Wasser zu jagen. Erst letzte Woche wurden Kader neofaschistischer
Organisationen und der „Identitären Bewegung“, darunter auch aus Deutschland,
in Griechenland gesichtet. Diese waren nur da, um bewaffnet Jagd auf
Geflüchtete zu machen und „ihre“ Grenzen zu schützen. Zwar wurden einige von
ihnen, darunter auch Mario Müller, zusammengeschlagen, aber dies ist leider nur
ein Tropfen auf den heißen Stein. Am Gesamtbild ändert es nichts.

Die Angst vor COVID-19 und die Angst der Geflüchteten

Die Situation in den Camps auf den fünf Inseln in Griechenland
war schon immer scheiße und wird immer verheerender. Auf den Inseln Lesbos,
Samos, Chios, Leros und Kos leben bis zu 42.000 AsylbewerberInnen. Dabei ist
jedes Camp überfüllt und beherbergt mehr Menschen, als für die es vorhergesehen
war.  In Moria, einem der größten
Camps auf Lesbos, sollten eigentlich nur 3.000 Menschen unterkommen, jedoch
leben nach aktuellen Schätzungen dort 20.000 bis 24.000 unter schlimmsten
Bedingungen. Wenn hier das Virus ausbrechen sollte, dann wird es katastrophale
Folgen haben und zahlreiche Tote mit sich bringen. Um die Situation noch einmal
zu verdeutlichen:

  • Es gibt einen Wasserhahn für je 1.300 Menschen
  • 167 Menschen teilen sich eine Toilette
  • 240 Menschen teilen sich eine Dusche
  • Seifen oder ähnliches sind kaum vorhanden
  • Familien mit fünf oder sechs Personen müssen auf höchstens 3 m2 schlafen

Ständiges Händewaschen oder Social Distance? Diese
Hygienemaßnahmen können nicht eingehalten werden! Aktuell gibt es einen
bestätigten Fall von COVID-19 auf Lesbos. Dieser kommt aus dem Süden der Insel
und hatte kaum Kontakt zu den Geflüchteten. Jedoch ist es nur noch eine Frage
der Zeit, bis das Virus auch im Camp angekommen ist.

Ein antifaschistischer Aktivist aus Dresden vor Ort sagt dazu: „Generell gibt es eine große Angst vor dem Corona-Ausbruch im Camp. Dabei ist eher die Gefahr, dass die Seuche von außen hineingeschleppt wird und weniger, dass die Menschen, die dort sind, diese Krankheit mitgebracht haben, wie von Rassist:nnen gern behauptet wird.“

Und wie reagiert die griechische Regierung? Die
rechtspopulistische konservative Partei von Kyriakos Mitsotakis, Nea
Dimokratia, schürte schon immer Hetze und Anfeindungen gegen die Geflüchteten.
Sie hört auch in Zeiten des Corona-Virus nicht damit auf. In den Medien und
auch in Interviews hört und sieht man immer wieder, wie Geflüchtete mit
Kriminellen und DrogendealerInnen gleichgestellt werden.

Sie müssen auch als Sündenbock für den Niedergang der
griechischen Wirtschaft herhalten. Dass die EU mit ihren Spardiktaten und die
Troika die griechische Wirtschaft bis zum letzten Rest ausgesaugt haben, wird
kaum mehr diskutiert. Geflüchtete sind die neuen Sündenböcke für Konservative,
RassistInnen, RechtspopulistInnen und FaschistInnen. Wir kennen das schon aus
Deutschland, Frankreich, Polen oder der Türkei.

Abschottung der Geflüchteten

Zumindest für die nächsten zwei Wochen dürfen keine
BesucherInnen mehr die Camps betreten, darunter zählen auch die wenigen noch
verbliebenen NGOs. Auch diese HelferInnen dürfen nicht in das Camp hinein. Außerdem
darf seit Anfang der Woche nur noch eine Person pro Familie das Lager einmal am
Tag verlassen, um Erledigungen auf der Insel zu tätigen. Andere
Außenaktivitäten sind nicht mehr gestattet. Das bedeutet: keine Schulen, keine
sportlichen Aktivitäten, kein Besuch in der Bibliothek. 24.000 Menschen sollen,
abgeschottet in einem Freiluftgefängnis, unter schlimmsten hygienischen
Bedienungen ausharren. Dass diese Situation den ohnehin traumatisierten und
entkräfteten Menschen noch mehr zusetzen wird, ist deutlich. Ohne äußere
Ablenkungen werden vor allem Kinder, die sich schon vor der COVID-19-Pandemie
versucht hatten, das Leben zu nehmen, unter nun noch krasseren psychischen
Bedingungen leiden. Und wir sprechen hier nicht von wenigen.

Der ansteigende Rassismus der InselbewohnerInnen zeigt sich
auch darin, dass mit den Freien BürgerInnen (Eleftheri Politis) eine explizit
rassistische Partei in den Dorfparlamenten sitzt und 12 Sitze in den
Regionalparlamenten der südlichen Ägäis hat.

George Hatzimarkos, der Gouverneur der südlichen Ägäis,
kündigte an, als angebliche weitere „Schutzmaßnahme“ gegen die Ausbreitung des
Virus einen Zaun um das Camp Moria bauen zu lassen. So wird es dem Bild eines
Freiluftgefängnisses immer ähnlicher. Die rassistische Hetze der Türkei,
Griechenlands und der Nationalstaaten Europas führte vermehrt dazu, dass
faschistische Banden an den Grenzen und auf den Inseln patrouillieren. Auf den
Inseln ging die Gewalt soweit, dass JournalistInnen zusammengeschlagen und ihr
Equipment wie Kameras ins Wasser geschmissen wurden. Die Situation ist
weiterhin angespannt, gerade wenn sich die Zivilgesellschaft nur noch Gedanken
um das Corona-Virus macht. Die Geflüchteten sind in dreifach lebensbedrohlichen
Situationen.

Schäbiges Gezerre um Kinder

Sieben EU-Staaten, darunter auch Deutschland, erklärten sich
nach wochenlangem Gezerre „bereit“, gerade 1.600 Kinder aus dem Camp
aufzunehmen. Nun ist selbst diese vollkommen unzureichende Geste wieder
umstritten. Es wird so getan, als sei von den Geflüchteten zu befürchten, dass
mit ihrer Einreise die Anzahl der Infektionen weiter ansteigen würde. Wie
rassistisch das doch ist, verdeutlicht schon, dass aktuell die meisten
Infizierten in Ländern wie China, Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien –
und zum Glück nicht in den Camps – zu finden sind.

Es ist auch keine Gnade der EU, dass sie 1.600 geflüchtete
Kinder aufnehmen wollte, sondern eine Schande. Es ist eine symbolische Geste,
die notdürftig die reale, rassistische Grenzpolitik beschönigen soll. Was wir
jetzt brauchen? Die Aufkündigung des Flüchtlingsdeals mit der Türkei, welcher
am 13. März erneuert und erweitert wurde! Die Geflüchteten dürfen kein
Spielball zwischen den Mächten und ihren Interessen und Profiten sein! Öffnung
aller Grenzen und die Zerschlagung von Frontex – jetzt! Aufgrund der
andauernden Krisen und Kriege, vor allem auch in Idlib, fliehen Millionen
Menschen und es muss unsere Aufgabe sein, für alle und jede/n ein
menschenwürdiges Leben zu erkämpfen! Nicht in Lager, zwischen Grenzzäunen oder
Camps! Für die sofortige Evakuierung aller Camps. Es gibt nur eine einzige
humanitäre Lösung, die diesen Namen verdient – die Öffnung der Grenzen der EU,
die Aufnahme der Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten ihrer Wahl, die Schaffung
und das Zur-Verfügung-Stellen von Wohnraum, von kostenloser medizinischer und
psychologischer Betreuung, von Ausbildung und Schulung sowie von
Arbeitsplätzen, die zu tariflichen Löhnen bezahlt werden. Geflüchtete, die vom
Virus infiziert sein sollten, sollen kostenlos in Krankenhäusern untergebracht
und betreut werden.

Um zu verhindern, dass bürgerliche Regierungen und rechte
DemagogInnen die Geflüchteten gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose,
prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausspielen, geht es darum, Arbeit,
ein Mindesteinkommen, soziale Leistungen wie Alterssicherung für alle zu
erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen. Um
dies zu erreichen müssen sich antirassistische Bewegungen zusammenschließen mit
Gewerkschaften, ArbeiterInnenorganisationen, Geflüchteten und migrantischen
Strukturen!