Frauenbewegungen international

Aventina Holzer, Infomail 1098, 9. April 2020

Obwohl wir uns gerade mitten in einer äußerst ungewöhnlichen Phase befinden, die sicher den größten Teil unserer Aufmerksamkeit verlangt und politischen Aktivismus eindämmt, dürfen wir trotzdem nicht den Blick auf das große Ganze verlieren. Vor allem jetzt wird offensichtlich, wie stark Frauen unter der kapitalistischen geschlechtlichen Arbeitsteilung leiden. Nicht nur, dass weibliche Berufsgruppen zu den unverzichtbarsten, gleichzeitig am schlechtesten bezahlten, der Gesellschaft zählen – in der Pflege und im Einzelfachhandel zum Beispiel – Frauen sind auch in sozialer Isolation noch wahrscheinlicher von häuslicher Gewalt betroffen als „normal“.

Diese „Randprobleme“ des Coronavirus zeigen wieder auf, wie weit wir noch gehen müssen, um reale Gleichberechtigung, geschweige denn Emanzipation, zu erkämpfen.

Anfang März war Frauenkampftag und wir wollen in diesem Artikel kurz die relevantesten Frauenbewegungen beleuchten, die in den letzten Jahren an Wichtigkeit gewonnen haben, und auch die Themen, die zukünftig präsent sein werden und mit denen sich die Linke perspektivisch auseinandersetzen muss.

Femizide

Frauenunterdrückung kennt viele Ausprägungen. Von verbaler Belästigung über Genitalverstümmelung bis hin zu Vergewaltigungen ist alles in den patriarchalen Strukturen eingebettet, die sich im Kapitalismus bis jetzt herausgebildet haben. Der Höhepunkt dieser Unterdrückung äußert sich in sogenannten „Femiziden“ – also Morden, die aufgrund des (weiblichen) Geschlechts des Opfers geschehen.

Dieses spezielle Mord-„Motiv“ ist ein globales Problem. Allerdings gibt es bestimmte Regionen, wo sich diese schrecklichen Ereignisse häufen. Von den 25 Ländern mit der höchsten Femizidrate, liegen 14, also mehr als die Hälfte, in Lateinamerika. Im Durchschnitt werden dort pro Tag 12 Frauen ermordet, obwohl die Dunkelziffer sicher um einiges höher ist (Brasilien ist wegen der schlechten Daten-Lage zum Beispiel nicht in diese Zahl inkludiert – obwohl dort Gewalt an Frauen sehr präsent ist). 2018 wurden 3.287 Frauen in Südamerika ermordet.

Auch das Problem von (häuslicher) Gewalt ist sehr relevant. In Bolivien geht man zum Beispiel davon aus, dass mehr als jede zweite Frau (!) in ihrem Leben von physischer und sexualisierter Gewalt betroffen ist.

Natürlich sind andere Formen von Frauenunterdrückung nicht weniger prägend für die männlich dominierte Gesellschaft. Viele Länder Lateinamerikas haben äußerst restriktive Abtreibungsgesetze, die sie in einigen Fällen unter keinen Umständen zulassen. Aber auch in Ländern, die inzwischen Abtreibungen aufgrund von Vergewaltigung und lebensbedrohlichen Situationen erlauben (Chile hat diese Kriterien erst 2017 ergänzt), werden Abtreibungen durch bürokratische Maßnahmen verlangsamt und verhindert. Ein bekannter Fall ist der der 11-jährigen „Lucia“ in Argentinien, die vom Lebensgefährten ihrer Großmutter vergewaltigt und geschwängert wurde. Sie wurde wegen einer Verzögerung der Behörden, bis kein legaler Abbruch mehr möglich war, gezwungen, das Kind auszutragen – das kurz nach der Geburt durch Kaiserschnitt starb.

Um gegen diese speziellen Umstände zu mobilisieren, war und ist die Frauenbewegung in Lateinamerika ein wichtiger Anhaltspunkt. Unter unterschiedlichen Führungen ist auf frauenpolitische Themen aufmerksam gemacht worden. „Ni una menos“, eine 2015 gegründete argentinische Plattform, sammelte einige der Gruppierungen hinter sich und organisierte ein paar der größten Proteste und Streiks bisher. Der Auslöser war die 14-jährige Chiara Paez, die am 11. Mai 2015 totgeschlagen und, einige Wochen schwanger, vergraben unter dem Haus ihres Freundes gefunden wurde. Dieser Mord steht stellvertretend für viele andere, die immer wieder thematisiert werden. Die Bewegung breitete sich auf andere Teile Lateinamerikas aus. In Chile, durch die Bewegung gegen die neoliberale Politik Piñeras, bekam die Frauenbewegung eine spezielle Rolle, da sie federführend an den Protesten beteiligt war.

Seit 2015 wurde einiges erreicht. Dass der Tatbestand des Femizids in vielen lateinamerikanischen Ländern eingeführt wurde und bessere Statistiken geführt werden ist z. B. auf diese Bewegungen zurückzuführen. Aber auch der Anstieg von Morden an Frauen und speziell an Aktivistinnen ist zu beobachten. Doch wenngleich die Aufmerksamkeit erfolgreich auf das Thema gelenkt wurde, wurden nicht die Strukturen geschaffen, die tatsächlich nötig wären, um Morde und Gewalt an Frauen zu verhindern. In Chile ist zum Beispiel die anhaltende Polizeigewalt, die sich auch in speziell sexualisierter Form gegen Frauen äußert, ein großes Problem.

Die Thematisierung von Machismo, also einer reaktionären Männlichkeitskultur, die suggeriert Frauen(körper) seien Eigentum von Männern, ist sehr zentral für die Analyse von patriarchalen Strukturen in Lateinamerika. Im Kapitalismus ist Frauenunterdrückung keine Seltenheit, sondern ein systemerhaltender Bestandteil. Die staatlichen Rahmenbedingungen, Polizei- und Justizapparate tragen dazu bei, wie ausgeprägt ein Land diese Unterdrückung spürt. Deshalb sind auch die meisten Proteste gegen die Regierung und ihre unzureichenden Maßnahmen ausgerichtet. 2020 kam es speziell in Mexiko und Chile zu großen Frauenstreiks, an denen ein paar Millionen Menschen beteiligt waren. Sie sollten darauf hinweisen, dass eine Gesellschaft ohne weibliche Arbeit nicht funktioniert – diese Analyse führt uns weiter nach Europa. Wir fordern außerdem als Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen:

  • Ausbau von Frauenhäusern und ähnlichen Gewaltschutzmaßnahmen
  • Selbstverteidigungsangebote von Frauen für Frauen
  • Vergesellschaftung der Hausarbeit durch die Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen, Waschküchen, Gemeinschaftsküchen, öffentlichen Kantinen usw.

Frauenstreiks

In Europa haben Frauenstreiks einen großen Einfluss gewonnen, aber dieses Jahr wurden sie durch die Streiks in Mexiko und Chile zahlenmäßig überholt. Die bisher größten Streiks fanden in Spanien 2015 statt mit über 5 Millionen Menschen (vor allem Frauen), die sich daran beteiligten. Auch in der Schweiz demonstrierte 2019 eine halbe Million Menschen. In anderen europäischen Ländern und auch in den USA gab es kleinere Streiks am 8. März . Für uns ist wichtig zu analysieren, was die politische Agenda der Streiks ist und welche Perspektive die organisierte Linke hineintragen muss. Wir haben global immer noch eine Krise der Führung des Proletariats, die darin resultiert, dass eigentlich alle globalen Bewegungen meist kleinbürgerliche, reformistische oder sogar keine Anleitungen haben. Das heißt nicht, dass die Bewegungen schlechte Arbeit leisten, sondern nur, dass wir uns umso mehr anstrengen müssen, unsere Forderungen hineinzutragen.

Eine zugrunde liegende Betrachtung, die einen wahren Kern hat, aber oft zu einer falschen Schlussfolgerung führt, ist die der Unterbewertung von weiblich konnotierter Arbeit. Das inkludiert Hausarbeit (die ja immer noch zum Großteil von Frauen erbracht wird), aber auch die schlechtere Bezahlung in Branchen, die mehrheitlich Frauen beschäftigen, und die statistisch nicht erklärbaren Lohndifferenzen von Männern und Frauen im gleichen Beruf. Natürlich ist reproduktive Arbeit (also im Haushalt, Kindererziehung und ähnliches) nicht weniger wichtig für den Erhalt einer Gesellschaft als solche, die in der Produktionssphäre geleistet wird. Allerdings stellt sich die Frage, wo am meisten Druck aufgebaut werden kann, und das ist in der Produktionssphäre. Hier wird der Mehrwert erzeugt und der Profit abgeschöpft, was dazu führt, dass Streiks ihre Wirksamkeit erlangen. Das heißt aber nicht, dass Frauenstreiks keine Relevanz haben. Genau wegen der Wichtigkeit von Streiks als Teil einer gemeinsamen starken ArbeiterInnenbewegung ist es unerlässlich, die spezielle Rolle von Reproduktions- und weiblicher Arbeit zu betonen. Wir müssen auch hier die Frage von Arbeit zuhause und die speziellen Probleme der Unterbezahlung von Frauen thematisieren.

Corona

Durch die jetzige Ausnahmesituation werden in Zukunft einige Fragestellungen wichtig werden und neue Anknüpfungspunkte für die bereits existierenden Frauenbewegungen entstehen. Die Auswirkungen für Frauen gegenwärtig, aber auch in der Zeit, in der die Ausbreitung des Virus bereits eingedämmt ist, werden sehr heftig werden.

Eine Weltwirtschaftskrise bahnt sich an und es ist nicht schwierig zu sehen, dass proletarische Frauen, junge Menschen und MigrantInnen am heftigsten darunter leiden werden. Deshalb ist es wichtig, die Situation und besondere Rolle von Frauen während der Corona-Krise zu betonen – aber auch danach. Streiks, bei denen auf die Doppel- bzw. Mehrfachbelastung von arbeitenden Frauen hingewiesen wird, stehen für alle linken Kräfte auf der Tagesordnung. Dabei sagen wir:

  • Wir zahlen nicht für eure Krise! Keine Abwälzung der Krisenkosten auf die Werktätigen und Arbeitslosen! Lasst die Reichen zahlen und sichern wir durch gemeinsame Organisierung Arbeitsplätze!
  • Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeitsbereiche, die als essentielle Bestandteile des Lebens angesehen werden und weiterhin funktionieren müssen!

Frauen auf der Flucht

Ein anderer Punkt, der sich durch die Corona-Krise zuspitzt aber auch davor ein wichtiges Thema war, ist die besondere Betroffenheit von Frauen auf der Flucht. Der Appell an alle Staaten, Menschen nicht dem sicheren Tod auszuliefern, indem man ihnen Asyl verwehrt, sie unter unmenschlichen Bedingungen in Camps festhält oder ihnen sogar den Landgang verwehrt und ihre Boote versenkt, findet wieder mehr Halt in der Zivilgesellschaft. Die Widersprüche des „friedlichen“ Europas und seines „Kriegs“ gegen Geflüchtete spitzen sich zu, und wir müssen die Möglichkeit ergreifen, um für eine sofortige Verbesserung der Situation zu kämpfen: Daher:

  • Grenzen auf, überall! Wir haben genug Platz für alle.
  • Für die Enteignung von ImmobilienspekulantInnen und die Bereitstellung der Wohnungen für geflüchtete Menschen und Obdachlose!
  • Gezielte Ausbildung von geflüchteten Menschen in Mangelberufen (mit Einbeziehung und Anerkennung ihrer mitgebrachten Qualifikationen) und Aufhebung des Arbeitsverbots!
  • Spezielle Mittel und Betreuung für geflüchtete Frauen und Minderjährige! Der Kampf gegen sexuelle Gewalt, die auf der Flucht erlebt wird, muss ein Ende haben. Geschützte Wohnmöglichkeiten für Frauen, LGBTQIA+-Personen und Kinder müssen gesichert sein.

Perspektive

Der internationale Rechtsruck der letzten Jahre hat bleibende Spuren hinterlassen, gegen die sich Frauenbewegungen überall auf der Welt auflehnen. Ihre Wut und ihre Entschlossenheit müssen ein Signal sein für alle fortschrittlichen Kräfte, anhaltend Widerstand zu leisten. Frauen sind in jeder sozialen Bewegung vorne mit dabei und eine genaue Analyse und Antworten auf ihre spezielle Unterdrückung sind unerlässlich. Die kommende Periode ist unsicher, aber Frauenkämpfe international werden auch in Zukunft ein wichtiger Bezugspunkt für emanzipatorische, klassenkämpferische Politik sein!




Solidarität mit den Beschäftigten im Gesundheitswesen! Sofortmaßnahmen und grundsätzliche Forderungen!

Helga Müller, Infomail 1098, 7. April 2020

Nachdem das Corona-Virus auch Deutschland erreicht hat und – trotz aller Einschränkungen der Bewegungsfreiheit – die Zahl der Infizierten immer noch exponentiell anwächst, kommt im Gesundheitswesen Hektik auf. Die Krankenhäuser werden landauf, landab für den Krisenfall auf- und umgerüstet: Intensiv- und Isolierstationen werden ausgebaut, Beatmungsgeräte beschafft, soweit sie überhaupt lieferbar sind. Sie werden in bestimmten Kliniken zentralisiert, nicht notwendige Operationen werden verschoben. Pflegekräfte werden in Schnell- oder Auffrisch-Kurse für die besondere Pflege von PatientInnen, die auf  Intensivstationen versorgt werden müssen, geschickt.

Ausgangssituation

Aber schon jetzt melden Pflegekräfte, ÄrztInnen, GesundheitsexpertInnen, dass es noch vor dem Sturm, wie sich Gesundheitsminister Spahn am 26. März ausgedrückt hat, überall zu Engpässen kommt: Sei es, dass zu wenig Schutzbekleidung, Schutzmasken, Beatmungsgeräte vorhanden sind, weil es Lieferengpässe gibt, da keine Regierung Vorsorge getroffen hat, noch vor dem großen Ausbruch der Pandemie die Produktionskapazitäten entsprechend auszuweiten. Gleichzeitig zeigen die Reaktionen darauf jetzt aber auch, dass andere Wege, die bisher als unmöglich und utopisch galten, gegangen werden können: Etliche Firmen stellen ihr Herstellungsprogramm um auf die Produktion von z. B. Schutzmasken – auch wenn noch nicht alle den Standards einer medizinischen Pflege entsprechen. Aber die Bevölkerung passiv vor der Übertragung über Tröpfcheninfektion zu schützen, ist durchaus auch sinnvoll. Die bayerische Staatsregierung hat die Produktion von Schutzkleidung quasi staatlich angeordnet. Diverse Regierungen im In- und Ausland bitten die Autoindustrie und AutozuliefererInnen zu überprüfen, ob sie ihre Produktion auf Beatmungsgeräte umstellen können. Bosch hat ein Diagnosegerät entwickelt, der Autofilter-Spezialist Mahle produziert Schutzmasken.

Nun rächt sich, dass die ganze Privatisierung des Krankenhauswesens seit den 1980er Jahren dazu geführt hat, dass heute dringend notwendiges Personal fehlt. Laut ver.di sind im Gesundheitswesen 120.000 Stellen vakant – davon allein 70.000 im Pflegebereich –, um den vorauszusehenden Sturm überhaupt personell bewältigen zu können. Viele KollegInnen machen jetzt schon Überstunden und hatten auch schon – mehr oder weniger – freiwillig ihren Urlaub abgesagt. Und wie reagiert „unser“ Gesundheitsminister darauf: Er hebt seine eigene Verordnung zu den eh zu „normalen“ Zeiten schon nicht hinreichenden Personaluntergrenzen auf, so dass von den unter die Verordnung fallenden Stationen Personal abgezogen wird, das dann dort fehlt – wohl wissend, dass das abgezogene Personal nie ausreichen wird, um die steigenden PatientInnenzahlen, gerade auch solche, bei denen Komplikationen auftreten können, gut versorgen zu können. Oder er versucht, Pflegekräfte aus anderen Ländern wie Polen verstärkt anzuwerben – wohl wissend, dass diese dann dort fehlen werden. Oder er versucht jetzt, verstärkt medizinische Hilfskräfte anzuwerben, ÄrztInnen und Pflegekräfte aus dem Ruhestand zu holen. Dies ist die einzige seiner Maßnahmen, die Löcher stopft, ohne neue aufzureißen, aber auch dieses hektisch, ohne systematisches Vorgehen und planlos.

Die bayerische Landesregierung macht es noch besser – und die Regierung von NRW zieht gleich nach. Sie heben gleich das Arbeitszeitgesetz für Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge auf und lassen die eh schon am Rande ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit arbeitenden KollegInnen im Krankenhaus und in Pflegeeinrichtungen mit noch geringeren Pausen und Ruheunterbrechungen weiterarbeiten. Welch ein Hohn!

Solange das System aufrechterhalten wird, dass Krankenhäuser – auch kommunale – wirtschaftlich, also möglichst kostengünstig, arbeiten müssen und große Konzerne mit der Gesundheit ihre Kohle machen wollen, ist zu befürchten, dass gerade privatisierte Krankenhäuser nicht lukrative Fälle – also Corona-PatientInnen und vor allem solche, bei denen mit Komplikationen zu rechnen ist oder die besonders lange beatmet werden müssen –, nicht annehmen werden.

So drohen (noch) kommunal finanzierte Krankenhäuser, noch stärker in die Kostenfalle zu sinken und nach der Krise unter den Druck der Privatisierung zu fallen. Darauf macht gerade eine Initiative für den Erhalt der kommunalen Krankenhäuser aufmerksam. Und vor allem kann es tatsächlich auch in einem so reichen Industrieland wie Deutschland zu einer Situation wie in Italien kommen, dass auch hier die PatientInnen selektiert werden (die sogenannten Triage): solche, bei denen noch eine reale Überlebenschance angenommen wird, werden voll behandelt, der Rest darf (alleine) sterben.

Wie reagieren die Organisationen, die sich auf die Interessen der Beschäftigten berufen?

Ver.di appelliert in dieser Situation an die Bundesregierung und ruft nach Staatseingriffen – an eine Regierung, die selbst unter starkem Druck der Beschäftigten und Bevölkerung im letzten Jahr nur ein paar kosmetische Korrekturen durchgeführt hat, um dem durch Privatisierung und das System der Fallpauschalen bedingten Personalnotstand zu begegnen. Einige der ver.di-Bitten sind zwar durch die Abänderungen des Infektionsschutzgesetzes bereits aufgenommen worden – wie z. B. die Beschlagnahme von Schutzausrüstung, die aufgrund von „Geschäftemacherei“ gewerblicher Firmen, wie sich der neue ver.di Chef Werneke ausdrückt, zurückgehalten wird. Diese Abänderungen stellen eine Art Notstandsgesetz im Bereich des Gesundheitswesens dar, das letzte Woche von Gesundheitsminister Spahn durch den Bundestag und Bundesrat durchgepeitscht wurde.

Auch dass sich die Bundesregierung aufgrund der Lieferengpässe jetzt daran macht, Firmen dazu zu verpflichten, ihre Produktion umzustellen bzw. anweist, ihre Kapazitäten für die Produktion von nötigen Schutzausrüstungen und Desinfektionsmitteln auszuweiten, geht auf einen Appell von ver.di zurück. Gegen beide Maßnahmen ist sicherlich nichts einzuwenden. Beschlagnahme nicht nur von Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln, sondern auch von dringend benötigten Medikamenten und Produktionsumstellung und Ausweitung der Produktion sind in einer solchen Krisensituation, in der sich Hunderttausende von Menschen schnell anstecken können, das Gebot der Stunde! Die Frage ist nur, wer entscheidet und nach welchen Kriterien, und wie sieht es mit der Frage der Einschränkung selbst bürgerlich-demokratischer Rechte aus?

Einer Bundesregierung, die nach wie vor der Ausrichtung des Gesundheitsbereichs nach Profitinteressen nichts entgegensetzt, sondern nur Symptome bekämpft, die schon wieder angefangen hat, über die Lockerung von Beschränkungen zu sinnieren, um die Wirtschaft erneut zum Laufen zu bringen – sprich die Kapitalverwertung nicht zu lange auszusetzen -, sollte auch bei solchen lebenswichtigen Entscheidungen kein Vertrauen geschenkt werden. Am besten entscheiden können die Beschäftigten selbst. Wie auch Sylvia Bühler, die im ver.di-Bundesvorstand für das Gesundheitswesen zuständig ist, sagt: „Die Beschäftigten sind die Experten vor Ort. Ihre Erfahrung und ihr Wissen müssen gehört werden.“ Die Frage stellt sich nur: Will das die Bundesregierung überhaupt? Müsste sie sich dann nicht auch die Frage gefallen lassen, warum sie nicht schon lange dafür gesorgt hat, dass die 70.000 Pflegekräfte, die in den letzten Jahrzehnten abgebaut bzw. nicht ausgebildet wurden, nicht schon längst wieder eingestellt wurden?

Also müsste auch ver.di einen Schritt weitergehen und überlegen, mit welchen Instrumentarien denn die Beschäftigten mehr Gehör bekommen können – was ja auch schon bei der Umsetzung der durchgesetzten Personalaufstockung eines der Schlüsselprobleme war. Es gilt, Ausschüsse in den Krankenhäusern aufzubauen, in denen die Beschäftigten zusammen mit den PatientInnen über die notwendigen Maßnahmen entscheiden. Die Forderungen von Bühler: „In den Kliniken muss das System der Dokumentation und Abrechnung nach diagnosebezogenen Fallpauschalen, den DRGs, ausgesetzt werden“, reicht nicht. Nein, es muss sofort abgeschafft werden – ohne Wenn und Aber! Und die von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Deutschen Pflegerat und ver.di geforderte Personalbemessung im Krankenhaus, die PPR 2.0, die das Personal nach dem realen Bedarf in den Krankenhäusern berechnet, muss nicht erst nach dem Abflauen der Pandemie umgesetzt werden, wie Bühler meint, sondern sofort!

Solche Maßnahmen sind dringender denn je. Schon jetzt sagen Beschäftigte in den Krankenhäusern, dass die nächsten Wochen die kritischsten seit Ausbruch der Pandemie sein werden, da dann die Intensivfälle ansteigen werden. Schon jetzt kann z. B. Wolfsburg keine/n Corona-PatientIn mehr aufnehmen, da die PflegerInnen selbst davon betroffen sind. Gleichzeitig muss man feststellen, dass privatisierte Krankenhäuser überhaupt nicht auf diese Krise vorbereitet sind. So mussten in München und Umgebung die zwei vom Helioskonzern betriebenen Kliniken – in München-Pasing und das Amperklinikum in Dachau – Anfang April kurzzeitig schließen, weil die Infektion unter den PatientInnen und Beschäftigten derart grassierte, dass das Gesundheitsamt den weiteren Betrieb untersagte! Und selbst der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar Heinz Wieler, der in seinen Aussagen immer sehr vorsichtig ist, warnt davor, dass in Deutschland die Kapazitäten der Krankenhäuser nicht ausreichen könnten. Und er warnt auch davor, die relativ niedrige Sterberate in Deutschland nicht überzubewerten: Diese sei vor allem darauf zurückzuführen, dass in Deutschland viel getestet werde, sagte er der Frankfurter Allgemeinen. (Zit. nach www.zdf.de vom 29.3.20)

Sofortmaßnahmen

Was ist sofort notwendig, um die Corona-Krise einzudämmen und die Bevölkerung wie die Beschäftigten in Krankenhaus und Pflege weitestgehend zu schützen?

  • Genügend Schutzausrüstung für Personal in Krankenhäusern, Alten-, Behindertenpflegeheimen etc.
  • Zentrale Beschaffung und Bereitstellung von Schutzausrüstungen wie Desinfektionsmittel, Schutzkleidung für alle, die aufgrund ihrer Tätigkeit besonders viel Kontakt mit Menschen haben (Krankenhaus, Altenpflege…).
  • Sofortige Beschlagnahme notwendiger Medikamente, Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung von den Konzernen.
  • Zentral organisierte Umstellung der Produktion auf Schutzkleidung, Schutzmasken und Desinfektionsmittel sowie Ausweitung der vorhandenen Produktionskapazitäten. Dafür können Produktionsbetriebe, die sowieso geschlossen werden sollen, verstaatlicht werden.
  • In ihnen soll die Entwicklung und Produktion unter Kontrolle der Beschäftigten stehen, die ja im Unterschied zu den jetzigen EigentümerInnen ein Interesse an diesem Betrieb haben. Aber auch Abteilungen und Betriebe von Firmen und Konzernen, die derzeit in Kurzarbeit sind, sollen Ausschüsse der Beschäftigten bilden unter Beteiligung der Betriebsräte, Vertrauensleute und der Gewerkschaften und die Produktion und Verwaltung unter ihrer Kontrolle durchführen. Konzernleitungen, die sich dem widersetzen, sollten mit Zwangsmaßnahmen bedroht werden: Keine Erstattung des von ihnen gezahlten Kurzarbeitergeldes bis hin zur entschädigungslosen Enteignung!
  • Zentrale Einstellung von genügend gut bezahlten und geschulten Reinigungskräften und Verteilung auf alle Kliniken. Entsprechende Umschulung/Qualifizierung von vorhandenem Reinigungspersonal, das mit tariflicher Bezahlung bei den medizinischen Einrichtungen eingestellt wird und nicht bei Putzfirmen. Sofortige Rücknahme der Auslagerung von Reinigungskräften in Fremdfirmen.
  • Für ausreichend Personal in den medizinischen Einrichtungen und Einrichtungen der Pflege.
  • Für einen organisierten Plan zur Mobilisierung aller Kräfte, die für die medizinische Betreuung und Pflege der Kranken und Schwerkranken einsetzbar sind, und Beauftragung dieser entsprechend ihrer Qualifikation – kontrolliert durch Ausschüsse von Beschäftigten aus den Krankenhäusern, PatientInnenorganisationen und von der Regierung unabhängigen medizinischen ExpertInnen: diejenigen in medizinischer Ausbildung, die in Rente und noch fit genug sind, die Arbeiten zu übernehmen, entsprechendes Personal aus der Bundeswehr und den Bundeswehrkrankenhäusern, das aber nicht mehr deren Befehlen untersteht, sondern ausschließlich den zivilen Strukturen!
  • Für Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen: wahlweise 70 % Lohnaufschlag oder Abfeiern der Sonderschichten.
  • Gesetzliche Personalbemessung nach Bedarf! Massive Aufwertung der Krankenpflege-Berufe. Als ersten Schritt sollen alle Pflegeberufe um 500 Euro pro Monat aufgewertet werden. Bessere Bezahlung von Pflegekräften ist der wichtigste Baustein, um den Pflegenotstand zu beenden!
  • Sofortige Umsetzung der erkämpften Personalausstattung in den Unikliniken – kontrolliert durch Ausschüsse von Beschäftigten und PatientInnen.
  • Weg mit der Aufhebung des Arbeitszeitgesetzes in Bayern, NRW und anderen Bundesländern. Einhaltung der Pausen und Ruhezeiten – kontrolliert von Betirebsräten und Beschäftigten.
  • Weg mit allen durch den Bundestag oder die Landesparlamente verabschiedeten „Notstands“gesetze, die entweder die Arbeitsbedingungen verschlechtern oder einen direkten Zugriff auf die Beschäftigten durch die Behörden erlauben. Stattdessen zentrale Einsatzplanung der mobilisierbaren Pflege-, Reinigungskräfte und ÄrztInnen dort, wo sie am dringendsten gebraucht werden, durch einen zentral eingerichteten Ausschuss von Beschäftigten aus den Krankenhäusern, PatientInnenorganisationen und von der Regierung unabhängigen medizinischen ExpertInnen – solange der Mangel an ausreichendem Personal nicht überwunden ist.
  • Radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich – vor allem in den Intensivbereichen. Reduzierung der Arbeitszeit auf 6-Stunden-Schichten – bei vollem Lohn- und Personalausgleich und Einhaltung der Ruhezeit von mindestens 10 Stunden.

Für genügend Intensivbetten und Intensivausrüstung für Schwerkranke

  • Sofortige Einstellung aller nicht notwendigen OPs und medizinischen Eingriffe – sowohl in privatisierten als auch kommunal unterstellten oder Unikliniken. Die Entscheidungen sollen durch  lokale Ausschüsse von Beschäftigten aus den Krankenhäusern, PatientInnenorganisationen und von der Regierung unabhängigen medizinischen ExpertInnen gefällt werden.
  • Zentraler Plan zur Einrichtung der notwendigen Intensivstationen sowohl in privatisierten als auch kommunal unterstellten oder Unikliniken – kontrolliert durch einen zentral eingerichteten Ausschuss von Beschäftigten aus den Krankenhäusern, PatientInnenorganisationen und von der Regierung unabhängigen medizinischen ExpertInnen.
  • Sofortige Erfassung aller vorhandenen Beatmungsgeräte und ggf. Beschlagnahme und Verteilung auf alle Krankenhäuser.
  • Sicherstellung der Produktion von Beatmungsgeräten entsprechend wie bei der von Schutzausrüstung. Ausweitung selbst  gegen den Widerstand des Kapitals auch zur Unterstützung anderer Länder.

Was ist darüber hinaus nötig?

  • Sofortige Millionärs- und Milliardärsabgabe und massive Erhöhung der Kapitalsteuern zur Finanzierung eines Notprogramms.
  • Als Lehre aus dieser Virus-Krise: Breite Kampagne aller DGB-Gewerkschaften – unter Einbezug von Streikmaßnahmen – für Milliardeninvestitionen ins Gesundheitssystem, ein Ende des Fallpauschalensystems. Medizinische Einrichtungen müssen die tatsächlichen Kosten medizinisch sinnvoller Maßnahmen erstattet bekommen.
  • Entschädigungslose Enteignung der großen Gesundheitskonzerne und Rekommunalisierung aller Krankenhäuser, Altenheime, Pflegeheime unter Kontrolle der dort Beschäftigten und der Organisationen der PatientInnen, alten Menschen und Behinderten sowie ihrer Angehörigen.
  • Bis zur Umsetzung dessen dürfen Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen keine Profite ausschütten. Alle von den Krankenkassen überwiesenen Gelder müssen für das Wohl der Patientinnen und Patienten eingesetzt werden.

Für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung

  • Enteignung der Pharmakonzerne unter Kontrolle der Beschäftigten.
  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern und Intensivmedizin. Die Kosten dafür müssen aus der Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen bestritten werden.
  • Ausbau des Gesundheitswesens, Ankurbelung der Produktion von Mitteln zur Bekämpfung der Pandemie (Test-Kits, Desinfektionsmittel, Atemschutz, …), sachliche Information der Bevölkerung, Einstellung von medizinischem Personal und HelferInnen unter Kontrolle der Gewerkschaften und der Beschäftigten. Massiver Ausbau der Intensivmedizin.
  • Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und aller Forschungsergebnisse staatlicher wie privater Institute. Internationale Koordinierung der Anstrengungen zur Entwicklung eines Impfstoffes, der allen Menschen kostenlos zur Verfügung steht.
  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen statt Wettbewerb um den schnellsten Profit: In rund dreißig Jahren Forschung zu HIV haben wir gesehen, dass einerseits jede Firma versucht, ihre Forschung und Entwicklung geheim zu halten. Deshalb wurde viel (auch öffentliches) Geld in parallele Forschung gesteckt und dann jedes mögliche Präparat mit höchstem Profit zu verkaufen versucht. Darum muss die Forschung und Entwicklung von Impfstoffen der Kontrolle von Privatfirmen, einzelner Länder oder Blöcke entrissen werden. Alle Untersuchungen und Ergebnisse müssen öffentlich im Netz verfügbar sein. Eine internationale Kommission, gewählt aus SpezialistInnen, soll die Entscheidungen, welche Teams in welche Entwicklungsrichtung forschen, koordinieren.
  • Entschädigungslose (Wieder-)Verstaatlichung der privatisierten Teile des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, um die Ressourcen zu bündeln und unter Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen.

Wie können wir das erkämpfen?

Es ist völlig klar, dass für dieses Programm alle Beschäftigten im Gesundheitswesen, die gesamte arbeitende Bevölkerung (ArbeiterInnenklasse), alle, die gegen das Virus kämpfen wollen und ihre Organisationen, zusammen kämpfen müssen. Die Beschäftigten im Gesundheitswesen alleine sind gerade völlig ausgelastet. Sie brauchen die Unterstützung aller, die für ihre Gesundheit selbst kämpfen wollen. Zweitens ist auch klar, dass jeder echte Fortschritt nur erkämpft werden kann, wenn das Diktat der KapitalistInnen durchbrochen wird und die Reichen dazu gezwungen werden können zu zahlen. Zur Erinnerung: ein Prozent besitzt 40 % aller Vermögen!

Also muss die Kraft aller gebündelt werden, insbesondere derer, die als ArbeiterInnen und Angestellte das Kapital vermehren und die Vermögen der Reichen verwalten. Das heißt, dass die Gewerkschaften und die Parteien, die sich auf die arbeitende Bevölkerung berufen, DIE LINKE und die SPD, brechen müssen mit der Unterordnung unter das Kapital, deren Regierung und deren Interessen.

Es geht um einen politischen Kampf, auch wenn er bei genügend Schutzmasken beginnt. Wichtige Schritte dafür sind:

  • Aufbau einer gemeinsamen Bewegung gegen Corona-Pandemie und Krise. Verständigung auf gemeinsame Forderungen, unsere Vorschläge sind hier.
  • Kampf in den Einrichtungen des Gesundheitswesens, in den Betrieben und Unternehmern, in den Gewerkschaften, für ein solches Programm und Schluss damit, an Regierung und Unternehmen zu appellieren! Vereinigung aller antikapitalistischen AktivistInnen, ob aus sozialen, ökologischen und demokratischen Bewegungen! Nicht nur in Deutschland, sondern international!



Editorial

Redaktion, Fight, Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Liebe Leserinnen und Leser!

Dies ist bereits die achte Ausgabe unserer Frauenzeitung, die wir seit 2013 jeweils zum Internationalen Frauenkampftag herausbringen, und die erste, die auch auf Englisch gemeinsam mit Red Flag (Britannien) und Workers Power (USA) erscheint. Darüber freuen wir uns besonders.

Vier Artikel befassen sich mit Rechtsruck und besonders Rassismus und ihrer Bedeutung für Frauen, darunter in Brasilien, Lateinamerika und den USA, wie dem Schicksal von Geflüchteten und MigrantInnen in Großbritannien sowie dem zunehmenden Antiislamismus in seinem Gefolge am Beispiel muslimischer Frauenkleidung wie dem Kopftuch. Ein Artikel behandelt die Frage: Wie kann der Frauenstreik erfolgreich geführt werden? Des Weiteren beschäftigen wir uns mit Beispielen von internationalem Frauenwiderstand im Jahr 2019, der Lage von Frauen in China, dem Kampf gegen Abtreibungsgesetze, in einem Interview mit der LGBT+-Szene in Tunesien.

„Great crisis rises up“ untersucht die aktuelle Weltwirtschaftslage und ihre Auswirkungen auf Frauen. In einer umfangreichen Polemik gegen die Autorinnen des Manifests „Feminismus für die 99 %“ setzen wir uns mit Stärken und Schwächen der Theorie sozialer Reproduktion auseinander. Wir untersuchen, woher die Frauenunterdrückung kommt, warum Femizide passieren. Einen Schwerpunkt dieser Artikel bildet der Kampf dagegen. Wie wir zur Frage von Transgendern stehen, lautet das Thema einer weiteren Untersuchung.

Last but not least leitet der Artikel „Feminismus in Pakistan“ das Thema für unsere Veranstaltungsreihe zum 8. März 2020, dem Internationalen Frauenkampftag, ein. Bitte kommt zahlreich und besucht unsere Veranstaltungen, diskutiert mit uns eine Vielzahl fesselnder Themen!

Die verschieden
gegenderten Schreibweisen (z. B. Arbeiter_Innen neben ArbeiterInnen und
Arbeiter*innen; LGBT+, LGBTIA) in dieser Ausgabe ergeben sich aus den
geringfügig verschiedenen Genderschreibweisen der herausgebenden Gruppen.




Corona-Gefahr und Zunahme häuslicher Gewalt – wie bekämpfen wir sie?

Jonathan Frühling, Neue Internationale 245, April 2020

Oft wird behauptet, die bürgerliche Familie sei ein Ort der Geborgenheit, des Schutzes und der engsten Solidarität in der Gesellschaft. Doch hinter dieser trügerischen Fassade verbirgt sich eine hässliche Fratze, für viele Kinder und Frauen oft tägliche Realität. Um sich des Ausmaßes häuslicher Gewalt bewusst zu werden, müssen wir nicht in die Ferne blicken, auf Länder wie Indien oder Kolumbien.

Selbst die Berichte der Bundesregierung belegen, dass in
Deutschland 40 Prozent aller Frauen seit ihrem sechzehnten Lebensjahr physische
und/oder sexuelle Gewalt erleben mussten. Jeder vierten Frau wird dieses
Verbrechen von ihrem eigenen (Ex-)Partner angetan. Alleine in Deutschland
betrifft das jedes Jahr ca. 115.000. Diese Gewalt passiert überwiegend bei den
Opfern zuhause. Der eigene Wohnraum stellt also oft keinen Schutzraum für
Frauen und Kinder, sondern für den Täter dar, indem Unterdrückung und
Gewaltverbrechen vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben.

Drohende Zunahme

Während der Corona-Krise sind die Menschen fast
ausschließlich zuhause, haben keinen körperlichen Ausgleich und sind oftmals
frustriert, weil sie in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Der reale
Druck auf die Masse der Bevölkerung nimmt zu, wie auch die soziale Isolierung.

Zudem haben viele Betriebe sowie Bildungs- und
Betreuungseinrichtungen ihre Türen momentan geschlossen, was die Situation
weiter verschärft. Das erhöht das Potential für häusliche Gewalt drastisch.
Auch der vermehrte Alkoholkonsum steigert das Aggressionspotential.

Selbst bürgerlich-konservative Zeitungen, wie die Bild oder die FAZ, sehen sich in dieser Situation genötigt, über das Thema zu berichten. Wie real eine drohende Zunahme von Gewalt gegen Frauen ist, belegen auch die Erfahrungen Chinas in den letzten Monaten. Laut einer Pekinger Frauenrechtsorganisation war die Zahl von Frauen, die sich während der verordneten Quarantäne an Hilfsorganisationen gewandt haben, dreimal so hoch wie sonst). Ähnliche Zahlen sind bereits aus Spanien, Italien und Südkorea bekannt und deshalb auch für Deutschland und andere Länder zu erwarten.

Welchen Problemen sehen sich Frauen und Kinder momentan
ausgesetzt?

Besonders oft sind Frauen von physischer Gewalt betroffen. Einige Frauen suchen jedoch auch Hilfe, weil sie bevorstehende physische Angriffe von Familienmitgliedern befürchten. Ein großes Problem ist darüber hinaus Kontrolle und Stalking über das Internet.

Die immer noch existierende geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung in der Familie sieht vor, dass die Frau den größten Teil der
Reproduktionsarbeit leisten muss. Dazu gehören die Betreuung und Erziehung der
Kinder, Kochen, Putzen und Waschen. Durch die Corona-Krise fällt noch mehr
dieser Arbeiten in den privaten Bereich, da fast ausschließlich in der eigenen
Wohnung gegessen wird und die Kinder und Jugendlichen zuhause bleiben müssen.
Die Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen hat außerdem dafür
gesorgt, dass weibliche Beschäftige aus ihren Jobs gedrängt werden, um zuhause
auf die Kinder aufzupassen. GeringverdienerInnen müssen mit noch weniger Geld
über die Runden kommen.

Zudem werden viele Frauen bei der Reproduktionsarbeit
verstärkt kontrolliert und zurechtgewiesen, wenn ihre Partner ebenfalls
überwiegend zuhause sind. Zusätzlich steigt für Frauen der Leidensdruck, weil
sie aufgrund der Krise keine Bekannten treffen können, die ihnen sonst Beistand
leisten würden.

Für Kinder und Jugendliche tun sich ähnliche Probleme auf.
Sie sehen sich den ganzen Tag mit ihren Eltern konfrontiert, deren Regime sie
sich unterordnen müssen. Es fehlt ihnen jeglicher Ausgleich, wie Schule,
sportliche Aktivitäten oder das Treffen von Gleichaltrigen in der Freizeit.
Auch sie sind vermehrt körperlicher Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt, was
sich massiv auf ihre körperliche und psychische Verfassung auswirkt.

Inanspruchnahme von Hilfe?

Ein großes Problem ist auch, dass die betroffenen Frauen
während strikter Ausgangsbeschränkungen kaum Hilfsangebote in Anspruch nehmen
können. In Italien sind nämlich z. B. nur die Wege zur Arbeit, zum
Supermarkt oder zum/r Arzt/Ärztin erlaubt. Zudem ist es für die Frauen
schwieriger, eine Beratungsstelle aufzusuchen, wenn der Täter die ganze Zeit
zuhause ist und Bescheid weiß, wie lange die Frau das Haus verlässt.

Frauenhäuser und Beratungsstellen stellen sich vor allem für
die Zeit nach der Corona-Krise auf einen stark erhöhten Andrang ein. Allerdings
sind die Frauenhäuser schon zu „normalen“ Zeiten total überlaufen. Laut der
Istanbuler-Konvention, die die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zum
Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verpflichtet und die Deutschland im Oktober
2017 ratifiziert hat, müssten hierzulande 21.400 Betten in Frauenhäusern
bereitstehen. Die geforderten Maßnahmen wurden jedoch nie auch nur ansatzweise
umgesetzt. 

Momentan sind es aber gerade mal 6.800! Deshalb ist es
gängige Praxis, dass Frauen zu ihren gewalttätigen Partnern zurückgeschickt
werden. Auch eine angemessene psychische Betreuung findet unter diesen
Umständen zumeist nicht statt. Im Zug der Corona-Krise wird der Mangel auch
noch dadurch verschärft, dass das Personal nicht überall in voller Besetzung
zur Arbeit erscheint.

Gründe für Gewalt

Allerdings ist der Anstieg von häuslicher Gewalt, wenn
Menschen vermehrt Zeit auf engem Raum verbringen, kein unbekanntes Phänomen.
Die meisten Menschen kennen zumindest den alljährlichen Familienstreit während
der angeblich so besinnlichen Weihnachtszeit. Auch die extremen Formen der
häuslichen Gewalt nehmen während dieser Zeit nachweislich zu.

Die tiefere Ursache der häuslichen Gewalt ist in der
systematischen Unterdrückung der Frauen in der Klassengesellschaft zu suchen.

Im Kapitalismus ist die Trennung von gesellschaftlicher
Produktion und privater Hausarbeit dabei grundlegend – jedenfalls was die Lage
der proletarischen Frauen betrifft. Die Reproduktionsarbeit wird zu großen
Teilen privat verrichtet. Die ungleiche Entlohnung von Arbeiterinnen verglichen
mit Arbeitern manifestiert sich im Gender Pay Gap und damit größerer
finanzieller Abhängigkeit.

Die bürgerliche Familie sowie die geschlechtsspezifische
Sozialisierung sind ebenfalls Mechanismen, um das Unterdrückungsverhältnis
aufrechtzuerhalten und auch im Bewusstsein von Mann und Frau zu reproduzieren.
Obwohl gesellschaftlich, erscheinen sie als „natürlich“. Physische Gewalt, mit
der Frauen eingeschüchtert und gefügig gemacht werden, gehört untrennbar zu
diesem Verhältnis, es stellt dessen gewalttätigen Ausdruck dar.

Forderungen und Perspektive des Kampfes

Der Ausbau von Frauenhäusern und Beratungsstellen ist längst
überfällig und sollte nun das Gebot der Stunde sein. Das schließt auch mit ein,
die Technik und das Personal für eine Ausweitung der telefonischen Beratung zur
Verfügung zu stellen. Damit schnell Erfolge erzielt werden können, sollte
Leerstand, wie z. B. auch nicht ausgelastete Hotels oder Luxusvillen,
requiriert und für diese Zwecke genutzt werden. Frauenhäuser und
Beratungsstellen müssen zudem sofort in die Liste systemrelevanter Berufe
aufgenommen werden – und zwar international.

Das neoliberale Dogma der heutigen Zeit hat den Druck auf
Frauen schon vor der Corona-Krise massiv verschärft. In Deutschland gibt es
z. B. nicht genügend Kita-Plätze, weil der soziale Bereich systematisch
vernachlässigt wird. Auch die Ausweitung des Billiglohnsektors, wie z. B.
die flächendeckende Einführung von Minijobs, hat die ökonomische Situation von
Frauen weiter verschlechtert und deren Doppelbelastung durch Beruf und
Hausarbeit verschärft. Deshalb muss auch für politische Forderungen eingetreten
werden. Gleiches Geld für gleichwertige Arbeit ist dabei natürlich essenziell.
Flächendeckende Kitas und Betreuung nach der Schule würden es Frauen leichter
machen, sich von ihren Männern zu trennen und als Alleinerziehende zu leben.
Mindestlohn, höheres Arbeitslosengeld und günstigerer Wohnraum sind deshalb
auch wichtig.

Um diese Forderungen an den Staat durchzusetzen, darf es
aber nicht bei Appellen bleiben. Wir müssen schon selbst aktiv werden und eine
Bewegung aufbauen, die diese Ziele auch durchsetzen kann.

Ein wichtiger Aspekt wird dabei auch die Bildung von
Schutzstrukturen sein, die vor allem von lohnabhängigen Frauen gebildet werden
und von der ArbeiterInnenbewegung – von Gewerkschaften, linken Parteien und
Organisationen – initiiert und unterstützt werden sollen. Dies wäre ein wichtiger
Schritt, um entschieden gegen gewalttätige Männer vorgehen zu können.
Solidarische Männer sollen solche Initiativen natürlich unterstützen. Auf eine
Polizei, die Hilferufe von Frauen bekanntermaßen ignoriert, ist nämlich kein
Verlass.

An dem hier behandelten Thema zeigt sich auch, wie wichtig
es ist, dass die Lohnabhängigen für entschiedene Maßnahmen gegen die
Corona-Krise eintreten und dabei eigene Kontrollorgane zur Umsetzung und
Überwachung dieser Forderungen schaffen. Denn nur, wenn die Bevölkerungsmehrheit
diese kontrolliert, kann dafür gesorgt werden, dass die getroffenen Maßnahmen
uns Lohnabhängigen zugutekommen.

Die Regierung verfolgt dagegen vor allem das Ziel, mit ihrem
600 Milliarden Euro (!) schweren Rettungsschirm die Liquiditätsprobleme der
Unternehmen zu lösen. Das zeigt sich z. B. auch daran, dass nur ein
kleiner Teil dieses Geldes für einen Ausbau des Gesundheitssystems eingesetzt
werden soll. Zudem wäre eine politische Beteiligung nur logisch, da das Geld
letztlich aus unseren Steuerzahlungen stammt bzw. die Kredite mit unseren
Steuern zurückbezahlt werden müssen. Aber wie immer bleibt die deutsche
„Demokratie“ nur eine Farce. Wir müssen uns deshalb aktiv dafür einsetzen, dass
der  Corona-Rettungsschirm nicht
Großkonzernen, sondern z. B. von Gewalt betroffenen Frauen zugutekommt.

Letztlich lässt sich das Patriarchat und damit die Gewalt
gegen Frauen aber nur überwinden, wenn die Reproduktions- und Sorgearbeit
vergesellschaftet und von beiden Geschlechtern gleichermaßen erledigt wird. Der
Kapitalismus jedoch profitiert davon, wenn diese gesellschaftlich sehr wichtige
Aufgabe von Frauen privat und vereinzelt innerhalb der bürgerlichen
(Klein-)Familie verrichtet wird. Ihre Überwindung und Ersetzung durch eine
höhere gesellschaftliche Organisation des Zusammenlebens muss deshalb Hand in
Hand mit einer Überwindung des Kapitalismus gehen. Das würde auch dazu führen,
dass Frauen sich gleichermaßen wie Männer auf ihre berufliche Laufbahn
fokussieren können. Dafür brauchen wir eine sozialistische, proletarische
Frauenbewegung als Teil einer antikapitalistischen Bewegung.

Notruf

Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (Rund um die Uhr, anonym, in 18 Sprachen): 08000 116 016

Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“ (montags, mittwochs und
freitags von 9 bis 14 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 15 bis 20 Uhr): 0800
22 55 530




Frauenkampftag – alle zusammen, alle vereint!

Balthasar Luchs, Infomail 1094, 10. März 2020

Zum
Frauenkampftag am 08. März in Hamburg versammelten sich, begleitet von
Trommel-, Musik- und Redebeiträgen, bis zu 1.500 Menschen an der
Auftaktkundgebung an den Landungsbrücken. Die Menge war spektrenübergreifend,
international und mit allen Altersgruppen vertreten – und das Wichtigste: der
Großteil bestand aus Frauen. Sowohl Parolen wie Transparente und Reden
befassten sich mit der nach wie vor existierenden Diskriminierung von Frauen in
Deutschland, Europa und weltweit. Das Augenmerk richtete sich auf die fehlende
Gleichstellung in Beruf und Familie, die Benachteiligung, die man aufgrund von
Geschlecht oder Sexualität erfährt und in allen Bereichen des Lebens antrifft,
aber auch auf Gewalt sowie die, besonders weltweit betrachtet, rechtliche
Hilflosigkeit, welche Betroffene erfahren. Die Route wurde wieder bewusst über
die Reeperbahn gewählt, da speziell hier Frauen von Anfeindungen und
Herabwürdigung betroffen sind, sei es als BesucherInnen oder Menschen, die im
Bereich der Sexarbeit tätig sind – oft ohne Rechte und mit massiver seelischer
sowie körperlicher Ausbeutung konfrontiert. Prostitution ist ein Geschäft, mit
dem sich viel Geld verdienen lässt, aber wie generell im Kapitalismus, nur für
die, welche es kontrollieren.

Die Demo wurde
explizit als sog. FLINT-Demo ausgewiesen. Dies steht für Frauen, Lesben,
Intersexuelle, nicht-binäre und trans-gender Personen. Der Tag ist seit Beginn
des 20. Jahrhunderts Kampftag für die Rechte von Frauen. So ist es auch ihre
Entscheidung, wie die Demo gestaltet wird, ohne die Einflussnahme und
vorherrschende Präsenz von Männern. Es wird dadurch ein Freiraum geschaffen,
welcher in dieser Form in der Gesellschaft nicht zu finden ist und von
Diskriminierung betroffenen Menschen die Sicherheit geben soll, welche ihnen
oft genommen wird. Die Außenwirkung sprach für sich und die Lautstärke der
Masse war nicht zu überhören.

Speziell Männer,
die diesen Kampf unterstützen wollen, sind von der Teilnahme jedoch
ausgeschlossen. Es wurde gebeten, die Entscheidung der OrganisatorInnen zu
respektieren und nicht an der Demo teilzunehmen, stattdessen vom Rande zu
unterstützen. Diese Forderung ist in allen Belangen nachvollziehbar, daher
haben wir uns mit unserem Transpi mit der Aufschrift „Frauen kämpfen
international, gegen Krise, Krieg und Kapital“ an den Treppen über der
Kundgebung positioniert. Unsere GenossInnen beteiligten sich an der
Demonstration.

Wir glauben aber
auch, dass die Teilnehmerinnenzahl durch diesen Entschluss deutlich kleiner
ausgefallen ist, als sie es beispielweise letztes Jahr war. Dort hat die Praxis,
zwei Demonstrationen durchzuführen, eine FLINT- und eine gemischte
Demonstration, zu deutlich größerem Anklang geführt, als es dieses Jahr der
Fall war. Auch für Männer sollte die Möglichkeit bestehen, gegen die
Unterdrückung aufgrund von Geschlecht und Sexualität auf die Straße zu gehen.
Dies beinhaltet auch alle Menschen, die außerhalb der FLINT-Demonstration
teilnehmen möchten.

Dieser Tag hat
somit eines deutlich offenbart: Die restlichen politischen Gruppen Hamburgs
haben versäumt, eine zweite Demonstration zu organisieren, welche für alle
TeilnehmerInnen offen gewesen wäre. Für 2021 sollte dies erklärtes Ziel für
einen erfolgreichen 8. März sein. Nach außen wäre klar gewesen, dass jeder
erwünscht ist. In Absprache miteinander hätten die Routen wieder abgestimmt
werden können, was größere Teile der Stadt erreicht hätte. Wir würden in diesem
Zusammenhang auch eine Zusammenführung der Demonstration befürworten, was in
symbolischer Weise die Zusammengehörigkeit dieses Kampfes verdeutlicht – „one
struggle, one fight“, wir können ihn nur gemeinsam gewinnen. Dieses Gefühl
spiegelte sich 2019 im Moment der Zusammenführung wider. Mehrere kämpferische
Züge vereinten sich zu einer großen Demonstration, die Wirkung davon war in
allen Belangen beeindruckend!




Frauen und Krise – Great crisis rises up

Leonie Schmidt, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Welt ist in Aufruhr. In vielen Ländern wie zum Beispiel
in Chile, im Libanon oder im Irak existieren Volksbewegungen, die sich
Angriffen auf die Arbeiter_Innenklasse oder korrupten Regierungen widersetzen.
Das Wachstum der Weltwirtschaft verlangsamt sich und die
Angst vor einer erneuten weltweiten Rezession steigt an. Des Weiteren steigen
die Spannungen zwischen großen imperialistischen Mächten wie, besonders
zwischen den USA und China, und drücken sich durch Schutzzölle auf Stahlteile
und Einzelteile für Smartphones etc. aus.

 Politisch-ökonomische Weltlage

2019 befand sich die Weltwirtschaft kurz vor einer Phase der
Rezession. Rückgang bzw. Stagnation des Profits im Vergleich zu vorherigen
Jahren waren allgegenwärtig. Nur wenige Branchen schafften es, eine
Profitsteigerung zu erzielen. 11 Jahre seit Ende des letzten globalen
Wirtschaftsabschwungs 2008 deutet eine Kombination von Faktoren wie
stagnierende oder sinkende Profite, schwache oder rückläufige
Investitionstätigkeit in Kapitalausrüstung, zunehmende Firmenverschuldung,
Protektionismus und Handelskriege darauf hin, dass ein erneuter
Konjunktureinbruch nicht mehr fern ist.

Besonders hart traf es das verarbeitende Gewerbe
(Baugewerbe, Industrie und Handwerk) deren Geschäftsmanagerindex (PMI) weltweit
unter 50 fiel. Dieser gilt als Schwellenwert zwischen Expansion und
Kontraktion. In Deutschland lag dieser bei 40, in den USA und China knapp über
50. Der Dienstleistungssektor hingegen schaffte es, weiterhin seinen Profit zu
steigern. So verhalf dieser Griechenland, das BIP immerhin um 2 % zu
steigern. Laut Analyst_Innen von JP Morgan verlangsamte sich das gesamte
Wachstum der Weltwirtschaft in 2019 aber stark, alle 10 Wirtschaftssektoren waren
davon betroffen. Des Weiteren sank die Mehrwertrate, da die Lohnkosten nicht
durch Gewinne kompensiert werden konnten.

Das Wachstum der Industrieländer als Gruppe dürfte bis 2020
auf 1,4 % sinken, was auch auf die anhaltende Schwäche des verarbeitenden
Gewerbes zurückzuführen ist. Das Wachstum in Schwellen- und Entwicklungsländern
dürfte sich in diesem Jahr auf 4,1 % beschleunigen. Es wird aber nur von
einer verbesserten Leistung einer kleinen Gruppe großer Volkswirtschaften
ausgegangen, von denen einige aus einer Phase erheblicher Schwäche hervorgehen.

Etwa ein Drittel der Schwellen- und Entwicklungsländer (wir
bezeichnen diese als Halbkolonien) wird in diesem Jahr voraussichtlich
zurückfallen, da sich Exporte und Investitionen schwächer entwickeln. Es wird
erwartet, dass sich das US-Wachstum in diesem Jahr auf 1,8 % verlangsamt,
was die negativen Auswirkungen früherer Zollerhöhungen und der erhöhten
Unsicherheit widerspiegelt. Das Wachstum des Euroraums dürfte im Jahr 2020
aufgrund der schwachen industriellen Produktivität auf 1 % nach unten
fallen. Die Erwerbslosenzahlen 2019 in der EU liegen bei 16 Millionen
(6,3 %) und haben damit erst gerade das Vorkrisenniveau 2007 (7,1 %)
unterschritten Die BRD weist zwar das höchste Erwerbstätigkeitsniveau seit der
Wiedervereinigung auf), doch diese Jobs werden immer unsicherer und prekärer.

Allerdings beruhen diese Zahlen auf ungewissen Faktoren und
können sich auch noch verschlechtern, besonders relevant sind hier
Wirtschaftskriege und Spannungen oder ein stärkerer Einbruch des Profits in den
bedeutenden Volkswirtschaften, der auf andere überschwappt.

Vorhersagen

Die Vorhersagen der großen Wirtschaftsanalyst_Innen für 2020
fallen aber allesamt recht positiv aus. Zumindest soll sich die Weltwirtschaft
stabilisieren und etwas erholen, Risiken bleiben aber weiterhin vorhanden. Es
wird vom IMF mit einem Weltwirtschaftswachstum von 3,5 % gerechnet, also
einem leichten Anstieg im Gegensatz zu 2019, welcher mit 3,2 %
vorhergesagt wurde. Die Weltbank hingegen geht nur von einem Wachstum bis 2,5
 % aus.

Die mild optimistischen Vorhersagen der Analyseinstitute für
2020 berufen sich auf der negativen Entwicklungskurve der Weltwirtschaft
entgegenwirkende Faktoren. So konnte ein rezessiver Einbruch der größten
Volkswirtschaften bei Produktion und Investitionen 2019 vermieden werden – zum
Preis niedrigen BIP- und Produktivitätswachstums. Die globalen
Finanzierungskosten befinden sich auf historischem Tiefstand teils aufgrund der
Zentralbankpolitik des „billigen Geldes“ (Nullzins, Quantitative Easing), aber
auch aufgrund geringer Kreditnachfrage durch Staat und Kapital als Folge
ausbleibenden Investments. Aktien- und Wertpapiermärkte erreichen dagegen ein
ungeahntes Hoch. Die Arbeitslosenzahlen bleiben im Gegensatz zur Großen Depression
der 1930er Jahre niedrig.

Der zugrunde liegende tendenzielle Fall der Profitrate muss
über kurz oder lang die entgegenwirkenden Ursachen übertrumpfen. Der Ausbruch
einer neuen Krise wird umso sicherer erfolgen, weil die Geldpolitik darin
versagt hat, die Wachstumsraten von vor 2007 wiederherzustellen. Die letzte
Dekade sah die längste Zeit ohne Rezession, aber auch die mit dem schwächsten
Wirtschaftsaufschwung nach einer solchen. Keynesianisches Gegensteuern durch
gesteigerte Staatsinvestitionen (und –schulden) hatte bereits in den
Konjunkturkrisen zuvor versagt und wird diesmal auf die Barriere der
schwindelerregend gestiegenen Budgetverschuldung stoßen.

Handelskrieg USA-China

Die größten Sorgen bereitet den Analyst_Innen der
Handelskrieg zwischen den USA und China. Dieser war 2019 stark eskaliert und
führte zu Abstürzen auf beiden Seiten. China haben die Sanktionen und
Strafzölle auf Importwaren in die USA bereits 35 Milliarden US-Dollar gekostet.
Für die USA erhöhten sich die Produktionskosten massiv und es wurden zwar neue
Jobs in der Stahlindustrie erschaffen, wie von Trump versprochen, allerdings zu
viel schlechteren Bedingungen und für viel weniger Lohn.

Trumps Ziel war also nie, die US-amerikanische
Stahlproduktion zu stärken, sondern von Anfang an, der Konkurrenz eine Warnung
zu verpassen. Denn Chinas Wirtschaft ist in den letzten Jahren massiv gewachsen
und stellt die größte Gefahr dar. Gerade im Bereich von IT und Hochtechnologien
ist es Vorreiter und mit vielen anderen Wirtschaften vernetzt. So lag Chinas
Wirtschaftswachstum 2018 bei 6, 57 %, das der USA nur bei 2,93 %. Berichten
zufolge hatte China zugestimmt, landwirtschaftliche Waren der USA im Wert von
50 Mrd. USD zu kaufen, während die USA anboten, die bestehenden Zölle für
chinesische Waren um bis zu 50 % zu senken. Der Konflikt ist somit also
keinesfalls beigelegt, allerhöchstens kurzzeitig entschärft. Eine erneute
Verschärfung kann aber zu massiven Einstürzen im Welthandel führen.

Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Der Handelskrieg zwischen den USA und China trägt allerdings
auch noch ein geopolitisches, militärisches Markenzeichen, denn als neu
wachsender Imperialist muss China natürlich die Vormachtstellung des
US-Imperialismus global angreifen. Die chinesische Armee hat sich in einen
Rüstungswettlauf mit den USA gestürzt. Die Eskalation im Konflikt zwischen den
USA und dem Iran, einer zunehmend selbstsicheren Regionalmacht, verkörpert eine
weitere drohende Gefahr.

Beide hängen miteinander zusammen, denn der Iran und China
führen eine gute Handelsbeziehung. So gingen 27,4 % der Exporte des Irans
nach China, 27,8 % der Einfuhren kommen daher. Öl, Gas und auch die
Relevanz des Irans in Chinas „Seidenstraßenprojekt“ spielen dabei eine
entscheidende Rolle.

Der Rückgang des Welthandels und der Investitionstätigkeit
hat besonders die sog. aufstrebenden Ökonomien getroffen. Deren Wachstum war in
den letzten 6 Jahren fast überall niedriger als in den 6 Jahren vor Ausbruch
der letzten Rezession. In Brasilien, Russland, Argentinien, Südafrika und der
Ukraine gab es gar keines.

Von 2010–2018 nahm das Verhältnis von Auslandsverschuldung
zum BIP der Entwicklungsländer um mehr als die Hälfte auf 168 % zu – ein
schnellerer jährlicher Anstieg als während der Schuldenkrise Lateinamerikas.
Laut Schuldenreport der Weltbank 2020 befinden sich 124 von 154 erfassten
Ländern im kritischen Bereich kurz vor der Staatspleite, 2 mehr als im Vorjahr.
60 % dieser Länder stehen vor einer schlimmeren Situation als 2014.

Entscheidend für die Weltordnung wird also die Konkurrenz
zwischen der aufstrebenden imperialistischen Großmacht China und den USA um die
Weltherrschaft werden. Ihr Ringen wird den regionalen Auseinandersetzungen
immer mehr ihren Stempel aufdrücken. Die Gefahr des Ausbruchs eines III.
Weltkriegs wächst.

Wen trifft es besonders hart?

Es ist „natürliche“ kapitalistische Logik, dass in Zeiten
der Rezession die sinkenden Profite durch Entlassungen, Kürzungen von
Arbeitszeit und Lohn und andere Angriffe auf die Arbeiter_Innenklasse wie
beispielsweise Rentenreformen aufgefangen werden sollen. So zum Beispiel
aktuell in Frankreich, wo Macron mit seinen neoliberalen Reformen das
Renteneintrittsalter auf 64 anheben möchte oder in Chile, wo die Regierung eine
Erhöhung der Preise für öffentliche Verkehrsmittel durchsetzen wollte, aber
daraufhin mit Massenprotesten konfrontiert wurde.

Die Krise wird auf dem Rücken der Arbeiter_Innenklasse
ausgetragen. Jedoch trifft es hier besonders Frauen. Mit der Krise 2007/08
wurden Teilzeitjobs und Leiharbeit stark ausgebaut, damit die Kapitalist_Innen
ihren Profit dennoch weiter vermehren können und zur Not ohne viel Aufwand die
Arbeiter_Innen entlassen können, wenn die nächste Rezession einsetzt.

In den imperialistischen Ländern sind sie häufig von
Arbeitslosigkeit und unsicheren, prekären Beschäftigungsverhältnissen geplagt.
So arbeiten in Deutschland 2019 30,5 % Frauen in solchen „atypischen“
Verhältnissen, aber nur 12,2 % der Männer. Das wird als freiwillige
Entscheidung für mehr Familien- oder Freizeit beispielsweise vom Bundesamt für
politische Bildung gewertet, ist aber reine Ideologie, denn die unentgeltliche
Reproduktionsarbeit fällt überwiegend den Frauen zu. So wird auch
ausschließlich von Frauen erwartet, Job und Familie zu verbinden, und sie sind
gezwungen, Teilzeit oder unsichere Jobs zu akzeptieren, wenn sie Kinder
großziehen.

Auch Frauen in Halbkolonien (wie bspw. Indien oder Pakistan)
sind oft im prekären Bereich beschäftigt. Hier variieren die Zahlen je nach
Land zwischen 45 %-76 %. Die Beschäftigung findet hier auch oft im
informellen Bereich statt, wo angemessene Bezahlung, Schwangerschaftsurlaub,
eine sichere Arbeitsumgebung oder gar gewerkschaftliche Organisierung zurzeit
undenkbar sind. Viele dieser Frauen arbeiten in Textilfabriken (in welchen für
H&M, Primark und Co produziert wird), in sogenannten
Sonderwirtschaftszonen, in denen sie für einen Hungerlohn ausgebeutet,
teilweise eingesperrt und zur Arbeit gezwungen werden. Auf Sicherheit wird kaum
geachtet. Oftmals kommt es zu Gebäudeeinstürzen oder Fabrikbränden neben dem
Umgang mit gefährlichen Chemikalien ohne wirkliche Schutzkleidung.

Weltweit sind Frauen besonders von Armut betroffen. Demnach
leben 5 Millionen mehr Frauen als Männer in extremer Armut. Des Weiteren sind
mehr Frauen von Altersarmut betroffen. In Deutschland sind es 20 % der
Frauen, aber nur 15 % der Männer. Das erklärt sich durch geringeren Lohn
während der Arbeitszeit und Unterbrechungen zum Großziehen der Kinder.

Noch immer ist es Frauen laut UNO in 104 Ländern nicht
erlaubt, bestimmte Berufe auszuüben. In 18 Ländern können Männer ihren
Ehefrauen grundsätzlich verbieten zu arbeiten. So müssen Frauen in
Saudi-Arabien beispielsweise für die Ausübung bezahlter Arbeit generell die
Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen. So spiegelt sich auch die
finanzielle Abhängigkeit der Frauen wider, da sie sowohl in imperialistischen
als auch in halbkolonialen Ländern nach wie vor weniger Lohn erhalten als
Männer. In Deutschland sind es beispielsweise 21 %, 17,3 % in
Großbritannien, in Pakistan hingegen 34 %.

Der Kampf um finanzielle Gleichstellung ist also weltweit
keineswegs abgeschlossen. Aber selbstverständlich gibt es auch andere Bereiche,
in denen Frauen strukturell benachteiligt werden. So kam es mit der Krise
2007/08 auch zu einem Anstieg nationalistischer Gefühle, da die Mittelschichten
der imperialistischen Länder sich vor einem sozialen Absturz und dem Verlust
ihrer Privilegien fürchteten. Um reaktionäre Angriffe und die Stärkung der
nationalen Wirtschaft zu fördern, wurden fremdenfeindliche und chauvinistische
Ideologien geschürt.

Diese sorgten auch für ein Rollback bei Frauen- und
LGTBIA-Rechten. So beispielsweise der Versuch der weiteren Illegalisierung von
Abtreibungen, aber auch das Aufbegehren der Rechten gegen das
„Gendermainstreaming“ (die Integration der Gendergleichstellungsperspektive in
politische Prozesse, wie von der Weltfrauenkonferenz in Nairobi 1985
festgelegt).

Dadurch kam es auch zu vermehrten gewalttätigen und
sexualisierten Angriffen auf Frauen sowie auch auf die körperliche und sexuelle
Selbstbestimmung. So erleben auch mehr Frauen Gewalt in Beziehungen als Männer
und werden auch häufiger von ihrem (Ex-)Partner ermordet. Voruntersuchungen zu
einer Studie der WHO zeigen, dass 35 % der weltweiten Morde an
Frauen von Intimpartnern begangen werden, aber nur 5 % aller Morde an
Männern von ihren Partnerinnen. Gemeinsamer Kampf gegen Ausbeutung und für
Frauenbefreiung

Gemeinsamer Kampf gegen Ausbeutung und für Frauenbefreiung

Die Auswirkung der Krise, die Ausbeutung der Arbeiter_Innenklasse
und die Unterdrückung der Frau stehen also in einem engen Verhältnis zueinander
und bedingen sich teils gegenseitig. Um genug Widerstand aufbauen zu können,
ist es daher wichtig, auch die männlichen Proletarier für den Kampf zur
vollständigen Frauenbefreiung zu gewinnen. Gegen die kommende Krise muss sich
die Gesamtklasse in Stellung bringen, ein revolutionäres Antikrisenprogramm
annehmen. Um unsere Stärke und Fähigkeit zu steigern, müssen wir in alle
ökonomischen und sozialen Kämpfe intervenieren, um ihre Vorhut für unsere
Reihen zu gewinnen. Dieses Aktionsprogramm muss auch Antworten auf das Rollback
gegen die Rechte der arbeitenden Frauen geben.

Gleichzeitig muss es aber eigene Strukturen (sog. Caucuses)
innerhalb der Arbeiter_Innenbewegung (z. B. in Gewerkschaften) für Frauen
geben, da sie einer doppelten Unterdrückung und spezifischen Formen
sexistischer Diskriminierung unterliegen Das Gleiche trifft auf ebenso auf
andere Unterdrückte (Jugendliche, MigrantInnen usw.) zu. Denn so revolutionär
eine Bewegung oder eine Partei auch sein mag, niemand ist frei von im
Kapitalismus erlernten Unterdrückungsmechanismen und auch in den eigenen
Strukturen müssen diese diskutiert und bekämpft werden.

 Dennoch kann
aber nur ein gemeinsamer internationaler Kampf der gesamten
Arbeiter_Innenklasse für eine Befreiung aller Unterdrückten sorgen, der sich
gegen den Kapitalismus stellt und für eine sozialistische Revolution eintritt,
da die Abschaffung der unbezahlten Reproduktionsarbeit, welche unüberwindbar
mit dem Kapitalismus vereint ist, ihre vollständige Sozialisierung und
Aufteilung auf alle Geschlechter im Interesse der gesamten ArbeiterInnenschaft
liegt, auch wenn unterm Kapitalismus ihr weiblicher Teil jene weit überwiegend
verrichtet.

Wir als Marxist_Innen treten daher für eine internationale
multi-ethnische, proletarische Frauenbewegung ein mit dem Recht auf gesonderte
Treffen in Arbeiter_Innenorganisationen wie Gewerkschaften. Deshalb müssen
diese auch massiv unter den prekär Beschäftigten rekrutieren und dürfen sich
nicht auf die Verteidigung der relativ privilegierten, ausgebildeten und
sicherer beschäftigten (arbeiter_innenaristokratischen) Schichten beschränken.

Daher fordern wir:

  • Gleiche Rechte für Frauen bei Wahlen, auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, an allen öffentlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen!
  • Für ein Programm gemeinnütziger öffentlicher Arbeiten mit Vollzeitstellen und auskömmlichen Tariflöhnen für Frauen, bezahlt aus Unternehmerprofiten und Vermögensbesitz!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Mindestlohn für alle Frauen, um ein Mindesteinkommen zu sichern, das die Reproduktionskosten deckt und ein Leben ohne Abhängigkeit vom (männlichen) Partner erlaubt!
  • Arbeitsschutz in allen Produktionsstätten! Für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung, wo es bisher verboten ist!
  • My Body, my Choice: Für das vollständige Recht auf Abtreibung ohne Fristen und Mindestalter, sexuelle Selbstbestimmung und das Prinzip des sexuellen Konsenses! Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln!
  • Kostenloser Zugang zu Gesundheitsversorgung, Pflegeeinrichtungen, Krankenversorgung und gesicherte Renten für alle Frauen! Wir fordern kostenlose und bedarfsorientierte Kinderbetreuung, öffentliche Kantinen und Wäschereien – um eine gesellschaftliche Gleichverteilung der Reproduktionsarbeiten auf alle Geschlechter sicherzustellen!
  • Um Frauen aufgrund ihrer Doppelbelastung durch Erwerbstätigkeit und Reproduktionsarbeit eine politische Teilnahme zu erleichtern, treten wir zudem für eine Vergesellschaftung sämtlicher Haushalts-, Sorge- und Reproduktionsarbeiten ein!
  • Recht auf Scheidung auf Wunsch! Ausbau und Sicherstellung von Schutzräumen für Frauen (wie z. B. Frauenhäuser)!
  • Kostenlose, kollektive Selbstverteidigungsstrukturen, um es Frauen zu ermöglichen, sich selbst vor Übergriffen zu schützen, unterstützt von Frauen- und Arbeiter_Innenbewegung!



Frauen in China: die Verliererinnen des Aufschwungs?

Resa Ludivien, Unterstützerin Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Situation von und für Frauen in China hat sich in den
letzten Jahren sehr verändert, was vor allem daran liegt, dass es eine
Neuorientierung der chinesischen Politik mit der Wahl Xi Jinpings zum
Staatspräsidenten gab. Doch schaut man sich die Entwicklungen der letzten 100
Jahre an, erscheinen die Veränderungen –Kämpferinnen im Krieg, wichtiger Teil
der chinesischen Planwirtschaft, zurück an den Herd verdammt – besonders
gravierend.

Gerade Frauen, die nach der neuen chinesischen Politik nicht
(mehr) ins Weltbild passen, haben es in China immer schwerer. Dazu gehören
nicht nur weiterhin Aktivist_Innen für Frauenrechte, solche, die der
heteronormativen Norm entsprechen, sondern auch zunehmend muslimische Frauen
sowie Frauen, die selbst über ihre Zukunft entscheiden wollen und deswegen
keine Familie oder Kinder anstreben oder selbst einen Anteil am chinesischen
Aufschwung einfordern. Man könnte daher glatt die Frage in den Raum stellen, ob
sie nicht die „Verlierinnen“ des Aufschwungs und der
Politik Xi Jinpings sind und zukünftig auch sein werden.

Doch zunächst muss geklärt werden, woher die heutigen
Besonderheiten Chinas herrühren. Genauso wie in anderen (Groß-)Reichen, vor
allem in Asien, gab es in China eine andere Form der vorkapitalistischen
Wirtschaft als Antike bzw. Feudalismus. Marx und Engels nannten sie asiatische
Produktionsweise, doch kam sie auch in anderen Erdteilen vor (z. B.
Mittel- und Südamerika). Auffällig ist, dass der „Staat“, sprich der jeweilige
Herrscher und seine Beamten, eine wichtige Rolle in Produktion und Handel
spielte. Gründe für diese starke Stellung waren die Größe der damaligen
Flächenstaaten, aber auch klimatische Verhältnisse, die stets zwischen Dürre
und Überschwemmungen schwankten und deshalb eine zentrale
Bewässerungswirtschaft erforderten. Um Anbau von Nahrung und Produktion anderer
Güter zu ermöglichen, brauchte man zuverlässige Verantwortliche, die sich
u. a. um das Bewässerungssystem des Landes kümmern. Kein Wunder also, dass
sich in diesen Ländern eine starke bürokratische Elite entwickelt hat, die die
Produktionsmittel verwaltete. Im alten Ägypten waren es die Pharaonen und die
Priesterkaste und im vormodernen China der Kaiser und seine Beamten
(Mandarine). Allerdings konnten dies nur Männer werden, genauer gesagt Männer
aus reichen Familien. Ein solcher Posten bedeutete nicht nur sozialer Aufstieg,
sondern natürlich auch Macht. In den Quellen aus der Vormoderne spielen Frauen
in China nur eine geringe Rolle, weswegen wir heute vor allem die erniedrigende
Praxis des Füße Bindens mit ihrer Stellung in Verbindung bringen. Allerdings
ist gewiss, dass trotz des patriarchalen Systems Frauen aus der Klasse der
Bäuerinnen und Bauern stark am Produktionsprozess in Haus und Hof sowie auf den
Feldern beteiligt waren.

Zwischen Fortschritt
und Rückschritt

Als 1949 die Volksrepublik China gegründet wurde, wurde die
Gleichheit zwischen Männern und Frauen in der Verfassung niedergeschrieben.
Nicht nur, weil jene, die sich selbst als Kommunist_Innen sehen, wissen, dass
ein Sozialismus nur mit Frauenbefreiung einhergehen kann, sondern auch, weil
sie beim Aufbau des neuen Staates gebraucht wurden. Natürlich war auch damals
die Frau gesellschaftlich noch nicht gleichgestellt, sodass in der Verfassung
mehr ein Ziel formuliert wurde, als es je unter der Herrschaft der KP Chinas
Wirklichkeit wurde. Doch 70 Jahre später und nach der ab Ende der 1970er Jahre
eingeleiteten wirtschaftlichen Neuorientierung, die zwar den Lebensstandard
insgesamt gehoben hat, hat sich die Lage der Frau in den letzten Jahren
verschlechtert.

Ab dieser Zeit wurde die Restauration des Kapitalismus in
der VR China eingeleitet. Dieser spielte ab Beginn der 1990er Jahre wieder die
bestimmende Rolle im Land. Schon vor der letzten Weltwirtschaftskrise war China
in die Reihen der imperialistischen Großmächte aufgerückt, was sich heute im
Hauptkonflikt zwischen China und den USA niederschlägt. Davor, seit dem
Korea-Krieg, war die VR China ein von Beginn an bürokratisch degenerierter
ArbeiterInnenstaat ähnlich der UdSSR, Osteuropa, Nordkorea und Kuba. Die
Mehrheit der Bevölkerung stellte aber bei Weitem die Bauern- und
Bäuerinnenschaft.

„Gender Pay Gap“, die Lohnschere zwischen Männern und Frauen,
spielt auch in China eine Rolle. War China 2008 noch auf Platz 57, was diese
Ungleichheit angeht, lag sie im Jahr 2017 nur noch auf Platz 100. Noch
schlechter schnitten Frauen mit Kind in China ab. Ist der Negativmaßstab 42 %
weniger Lohn für Mütter, beträgt er für kinderlose Frauen immerhin 37 %.
Und dies, obwohl es mittlerweile eine Vielzahl von sehr gut ausgebildeten
Frauen in China gibt. Diese Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt führt dazu,
dass Frauen entweder in die ökonomische Abhängigkeit von ihrem Ehepartner
gedrängt werden, der sie aufgrund fehlenden Geldes nur schwer wieder entfliehen
können, oder aber in die Schwarzarbeit, zu menschenunwürdigen Bedingungen. Letzteres
trifft gerade auf arme Frauen und den Großteil der weiblichen Landbevölkerung
zu – eine Gruppe, die, wenn sie in die Städte geht, um Arbeit zu suchen, in
China sowieso schon unabhängig vom Geschlecht kriminalisiert ist.

Die Restauration des Kapitalismus seit Mitte der 1970er
Jahre hat sich also negativ ausgewirkt. Die Bestrebungen Xi Jinpings, China zur
weltweit dominierenden imperialistischen Macht zu machen, also den USA ihren
Rang abzulaufen, haben ihr Weiteres dazu getan. Sein nationalistisches und
militärisches Programm ist dabei ebenso zu nennen wie seine neue
Wirtschaftspolitik. Die chinesische Wirtschaft wird heute vor allem von
Industrie und vom Dienstleistungsgewerbe dominiert. Allerdings verlagert China
seine Produktion zunehmend in afrikanische Länder und nach Südostasien, nicht
nur weil es dort lukrativer ist, sondern auch, um im Kampf um die Neuaufteilung
der Welt sein Einflussgebiet zu vergrößern. Mittelfristig wird dies gerade jene
Frauen treffen, die durch die Restaurationspolitik eine Arbeit in der kapitalistisch
umstrukturierten Industrie annehmen mussten und deren Arbeitsplätze in China
wegfallen werden.

Frauenbewegung in
der VR China

Schaut man sich ein Bild vom letzten Parteitag der
chinesischen Kommunistischen Partei an, sieht man…..Männer. Dieses Bild steht
sinnbildlich für die Rolle der Frau in den Augen der KP im Jahr 2019.

Auch die offizielle Frauenorganisation kann dieses
Missverhältnis nicht aufheben und möchte es auch nicht. Doch eine unabhängige
Organisierung in China ist schwierig, da es weder Presse- noch
Versammlungsfreiheit gibt, geschweige denn das Recht, sich legal zu
organisieren.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Proteste von Frauen. Insbesondere die Themen häusliche und sexualisierte Gewalt spielten dabei eine wichtige Rolle. Im Jahr 2017 rangierte China auf einem der letzten Plätze, wenn es um „Überleben und Gesundheit“ von Frauen geht. Kein Wunder, dass es die #Me-Too-Bewegung sogar bis nach China geschafft hat. Über Tausende beteiligten sich und Hunderte Millionen Menschen (Vergleich: Deutschland hat nicht einmal 100 Millionen Einwohner_Innen) teilten die Beiträge von Frauen, die über ihr Erlebtes berichteten. Über 70 % der chinesischen Frauen gaben an, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. Dennoch geht man von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Nach einer solchen Umfrage musste das zuständige Institut in Guangzhou (Kanton), das zu Gleichberechtigung forschte, seine Arbeit einstellen. Außerdem wurden in sozialen Medien die Accounts von Aktivist_Innen gesperrt. Daran erkennt man ,wie sehr dem Staat dieses Thema ein Dorn im Auge ist.

Auch die 37-tägige Inhaftierung der sog. „Feminist Five” Li
Maizi, Zheng Churan, Wei Tingting, Wu Rongrong und Wang Man im Jahr 2015
bestätigt dies. Man versucht, durch solche Aktionen die Aktivist_Innen nicht
nur zum Schweigen zu bringen, sondern auch durch das Abschneiden von der
Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten zu lassen. Doch gerade Aktivist_Innen
wie Li Maizi macht man nicht so leicht mundtot. Sie engagiert sich nicht nur
für Frauenrechte in China, sondern stellt auch ein Bindeglied zur
kriminalisierten LGBTIQ-Community her. Diese wiederum hat viele weibliche
Aktivist_Innen und nicht nur solche, die selbst Teil der Community sind. Auch
viele Mütter, die sich gegen die Entkriminalisierung ihrer Kinder einsetzen,
beteiligen sich am Protest.

Was tun die Gewerkschaften für chinesische Frauen?

Im Grunde kann man sagen, dass die einzige legale
Gewerkschaft (Allchinesischer Gewerkschaftsbund; ACGB) mit über 300 Millionen
offiziellen Mitgliedern keine Gewerkschaft im eigentlichen Sinne darstellt. Sie
ist weder in den Betrieben verankert noch vertritt sie die Interessen der Arbeiter_Innen.
Auch ist ihre Führung durch den Staat eingesetzt und somit nicht frei gewählt.
Insgesamt besteht die Strategie Pekings darin, Protest zu entpolitisieren.

Dennoch gab es einen Anstieg von Arbeitskämpfen in China in den
letzten 30 Jahren, was mit seiner Entwicklung zu einem wichtigen Player des
kapitalistischen Systems zusammenhängt. Gerade der Südosten Chinas hat viele
Kämpfer_Innen hervorgebracht. So gab es bspw. seit 2008 immer wieder Streiks im
Reinigungsbereich. Angeführt wurden diese von Frauen. Auch in China ist dies
ein Sektor, in dem gerade Menschen arbeiten, die sonst keine bessere
Jobperspektive haben wie Alte, Arme, Migrant_Innen und Frauen. Im Jahr 2014
wurde das Guangzhou’s Higher Education Mega Center, das 200.000 Studierende
umfasst, von den Arbeiter_Innen der Putzfirma bestreikt. Von Anfang an
verbanden sie Migrant_Innen und Frauen durch Selbstorganisierung. Sie wählten
sogar 18 Vertreter_Innen, von denen 5 zugelassen waren, für Gespräche mit der
Firma. Ebenso solidarisierten sich Hunderte Studierende. Diese Arbeitskämpfe
bilden einen wichtigen Pol, um den herum sich der Aufbau vom Staat
unabhängiger, klassenkämpferischer und antibürokratischer Gewerkschaften
vollziehen kann, die überdies weit mehr Schichten als die
ArbeiterInnenaristokratie organisieren müssen und können.

Innere Widersprüche
und die Stellung der Frau in China

Wie in allen anderen Kulturkreisen gibt es auch in China
historische Begebenheiten und Vorstellungen, die die Stellung von Frauen sowie
das Miteinander der Gesellschaft bis heute prägen. In Ostasien ist das u. a.
die Philosophie des Konfuzianismus.

Allerdings war eines der einschneidendsten Erlebnisse für
Frauen in der jüngeren Vergangenheit vor allem die Ein-Kindpolitik ab 1979, die
vor ein paar Jahren abgeschafft wurde. Familien durften nur ein Kind bekommen
(mit Ausnahmen u. a. auf dem Land, da dort die Arbeitskraft benötigt
wurde) und Mädchen wurden in großer Zahl getötet. Gründe dafür sind  nicht nur das Prestige, dass ein Junge
und späterer Erbe mit sich brachte, sondern auch die Tatsache, dass Mädchen, um
zu heiraten, ihre Familien verlassen würden und sich somit nicht um die Eltern
kümmern könnten. Heute kommen ca. 100 Frauen auf 121 Männer. Die Auswirkungen
hiervon sind Raub an jungen Mädchen in China und angrenzenden Ländern sowie
eine Konzentration unverheirateter Männer in armen Provinzen.

Am Beispiel Hongkong kann man viele Widersprüche innerhalb
der chinesischen Gesellschaft ab der Phase der Restauration erkennen und
beschreiben. Hier ist der Konflikt zwischen kapitalistischen Bestrebungen und
Frauenbefreiung täglich sichtbar, die Probleme der doch nicht so
gleichgestellten Frau treten offen zu Tage.

Hongkong ist für viele Chines_Innen das Ziel ihrer Träume.
Die ehemalige britische Kronkolonie, heutige bedeutender Finanzstandort, verspricht
der armen Bevölkerung auf dem Land Arbeit und ein besseres Leben. Doch kann die
Stadt dieses Versprechen nicht halten. Dennoch ist dies eine Frage, die nur
wenige von den immer wieder aufkeimenden und aktuell stattfindenden Protesten
aufgreifen. Etwa die Hälfte aller Demonstrant_Innen bei den weiterhin
anhaltenden Protesten sind Frauen. Unabhängige Frauengruppen- und -initiativen
haben sich herausgebildet. Dennoch: Veraltete Rollenbilder von Frauen, die
schweigen und sich gefälligst mit nichts außerhalb des privaten Raums
beschäftigen sollen, gibt es natürlich nicht nur in Europa, sondern auch in
Ostasien. Um Frauen daran zu erinnern, wo aus patriarchaler Sicht ihr Platz
ist, greifen Polizist_Innen in Hongkong zu einer ganz besonderen Form der
Gewalt: sexualisierter Gewalt. Ungefähr jede fünfte Frau, die festgenommen
wurde, berichtet von sexueller Belästigung und Gewalt durch die Polizei. Die
Bewegung reagierte mit Demonstrationen dagegen, die von Tausenden besucht
wurden. Und nicht nur Frauen solidarisieren sich, auch Männer. Ein kleiner
Anfang.

Proletarische Frauenbewegung
jetzt!

Die #Me-Too-Bewegung hat den Bedarf, den es auch in China
gibt, gezeigt. Jetzt gilt es, praktische Maßnahmen zu ergreifen. Es braucht
nicht nur eine Selbstorganisierung, sondern aufgrund der hohen Zahlen an
häuslicher und sexualisierter Gewalt organisierten Selbstschutz. Doch eine Organisierung
der Frauen ist nur möglich, wenn man einerseits trotz all der Repression immer
wieder Öffentlichkeit für die Themen schafft und andererseits die
Herausforderung angeht, trotz überwachter sozialer Medien, Frauen über größere
Entfernungen hinweg zu organisieren, egal ob in der Stadt oder auf dem Land.
Hier kann allerdings von der Queerbewegung gelernt werden, die es seit Jahren
immer wieder erfolgreich schafft, sich zu organisieren und auch Treffen zu abzuhalten.
Der Gebrauch von dafür genutzten Tarninternetseiten sollte aber dabei dem
Verkehr über WeChat vorgezogen werden.

Die Perspektive, die eine chinesische Frauenbewegung braucht
sind nicht nur praktische Antworten auf Diskriminierung, sexualisierte Gewalt
und Repression, sondern auch eine Verbindung der Kämpfe mit anderen Betroffenen
der chinesischen Politik, sprich eine internationalistische Perspektive. Ebenso
darf man nicht vergessen, dass derzeit viele der Aktivist_Innen aus der
gebildeten Schicht in den Großstädten stammen. Auf die Interessen von proletarischen
Frauen muss daher dringend eingegangen werden. Eine Verbindung einer
chinesischen Frauenbewegung mit der von Peking stillgehaltenen Arbeiter_Innenbewegung
ist unabdinglich. Alles andere als eine solche proletarische Frauenbewegung würde
auch darüber hinwegtäuschen, dass die Auswirkungen der neuen Politik und der
patriarchalen Gesellschaft Chinas gerade Arbeiterinnen trifft. Sie werden von
ihren Familien getrennt und kriminalisiert, weil sie versuchen, in den Städten
Arbeit zu finden. Sie sind es, die aufgrund schlechter Ausbildung und Jobs der
häuslichen Gewalt nicht entfliehen können und auch zunehmend ihre Jobs
verlieren werden, wenn China die Produktion weiter ins Ausland verlagert.
Gleichzeitig sind nur sie zahlenmäßig und von ihrer Klassenstellung her im
Unterschied zu (bildungs-)bürgerlichen und Mittelschichten dazu in der Lage,
durch Streiks, v. a. gemeinsame mit ihren männlichen Kollegen, und weitere
Mittel die chinesische Gesellschaft in Bewegung zu setzen und für die Befreiung
der Frau einzutreten.

Kommunistinnen müssen an vorderster Front in den
Massenorganisationen ihrer Klasse arbeiten, v. a. in Gewerkschaften und
Frauenbewegung, um sie für revolutionär-sozialistische Ziele zu gewinnen, eine
neue revolutionäre kommunistische Massenpartei und kommunistische
Frauenorganisation aufzubauen.

  • Für eine internationale, proletarische Frauenbewegung und -internationale!
  • Für Frauenselbstorganisierung- und -selbstverteidigungsgruppen!
  • Bildet unabhängige Gewerkschaften!
  • Für den Aufbau einer revolutionären Fünften ArbeiterInneninternationale!



Feminismus in Pakistan

Minerwa Tahir, Democratic Women’s Front Lahore, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

In den letzten Jahren ist der Aurat-Marsch zu einem der sichtbarsten Ausdrücke der Frauenbewegung in Pakistan geworden. „Aurat“ bedeutet Frau in der Urdusprache. Seit 2018 ist in den großen Städten Pakistans das Phänomen des Aurat-Marsches zu beobachten – Frauen, geschlechtsspezifische Minderheiten, Männer und Kinder gehen auf die Straße und marschieren am Internationalen Tag der arbeitenden Frauen am 8. März.

Wer beteiligt sich?

In zwei großen städtischen Zentren – Karatschi und Lahore – wurde der Aurat-Marsch von einem Bündnis hauptsächlich radikal-feministischer und liberal-feministischer Kräfte organisiert, darunter führende Persönlichkeiten von NGOs, die sich bereit erklärten, die Fahnen ihrer NGOs hinter sich zu lassen und sich unter dem einen Banner des Aurat-Marsches zu vereinen. Eine Organisatorin aus Karatschi sagte: „Bei den Themen, mit denen Frauen heute konfrontiert sind, geht es um Gleichberechtigung im öffentlichen Raum, das Recht auf Arbeit, Sicherheit am Arbeitsplatz und vor allem um die Unterstützung durch eine Infrastruktur, während die vorherige Generation für politische Rechte kämpfte“ (Chughtai, 2019). In anderen Teilen wie Hyderabad und Islamabad organisierte die Demokratische Frauenfront (1), eine sozialistisch-feministische Organisation, die arbeitende Frauen aus städtischen und ländlichen Gebieten organisiert, den Aurat-Azadi-Marsch (2).

Einige der Forderungen dieses Marsches waren ein Ende der Gewalt gegen Frauen; eine Gesetzgebung, die die Rechte von Frauen und Transgender-Personen schützt; ein Mindestlohn und andere rechtliche Schutzmaßnahmen für den informellen Sektor; ein Ende der Privatisierung von und größere Investitionen in Gesundheit und Bildung, insbesondere für Frauen; Frauenwohnheime und Kindertagesstätten für die Kinder von arbeitenden Frauen; der Bau von Wohnungen für Leute mit niedrigen Einkommen und ein Ende der Kampagne gegen informelle Siedlungen; ein Ende der militärischen Operationen; die Rückkehr der vermissten Personen und eine politische Lösung des Belutschistan-Problems (Today, 2019). Auch ArbeiterInnenorganisationen und -verbände wie die Vereinigung weiblicher Arbeitskräfte im Gesundheitswesen (Chughtai, 2019) und die pakistanische Gewerkschaftsschutzkampagne  (Today, 2019) unterstützten den Marsch und nahmen daran teil. Mit Ausnahme von Hyderabad war der Klassencharakter der Frauenmärsche in den großen städtischen Zentren Pakistans weitgehend mittelständisch. Während ein Teil der Gründe für das Fehlen von Führung der ArbeiterInnenklasse in der Frauenbewegung mit dem Versagen der Linken und dem Aufstieg der Rechten sowie alternativen antimarxistischen Diskursen zu tun hat, liegt ein weiterer wichtiger Grund dafür, dass so viele Frauen aus der Mittelschicht sich für die Teilnahme an diesen Märschen entschieden haben, darin, dass der Status der Frauenrechte in Pakistan selbst für Frauen aus Nicht-ArbeiterInnenklassen-Hintergrund erbärmlich ist.

Lage der Frauen

Vergewaltigung, Ehrenmorde, Säureangriffe, Zwangsheiraten, erzwungene Bekehrungen nicht-muslimischer Mädchen zum Islam, Kinderehen, sexueller Missbrauch und Belästigung sowie allgemeine geschlechtsspezifische Diskriminierung sind in der Gesellschaft weit verbreitet (HRW, 2019). Inzwischen gibt es weder nationale Gesetze, die geschlechtsspezifische Diskriminierung bei der Einstellung noch die geschlechtsspezifische Lohnunterschiede verbieten (Kirton-Darling, 2018). In ähnlicher Weise sind auch die Arbeitsgesetze in Pakistan diskriminierend gegenüber Frauen (Tribune, 2014). Im Allgemeinen hegt die Gesellschaft eine diskriminierende Einstellung gegenüber Frauen. Der jüngste Fall, in dem die nationale Universität für Wissenschaft und Technologie die Vergewaltigung einer Studentin leugnete, ist ein Zeugnis für diese Haltung (Dawn.com, 2019).

Sexualität

Ein wichtiges Thema, um das sich der Aurat-Marsch dreht, sind Fragen der Sexualität. „Mein Körper, meine Wahl“ war ein beliebter Slogan. Während man davon ausgehen kann, dass diese Frage in einigen demokratischen Ländern schon lange Teil des öffentlichen Diskurses ist, war und ist sie in Pakistan ein Tabuthema. Wie die gesellschaftliche Haltung sie geprägt hat, bleibt Sexualität eine Angelegenheit, die sich auf die privaten Grenzen des Schlafzimmers beschränkt und über die man, vor allem eine Frau, nicht spricht. Qandeel Baloch (Geburtsname: Fouzia Azeem), ein Star in den Sozialen Medien, die sexy Videos von sich selbst für den öffentlichen Konsum veröffentlichte, wurde schließlich von ihrem Bruder im Namen der „Ehre“ getötet. Wie Zoya Rehman schreibt, „markiert der Aurat-Marsch einen wichtigen Moment in der Entwicklung des feministischen Widerstands im Land, in dem jetzt für eine neue Art von feministischer Praxis gekämpft wird, die in Fragen der sexuellen Autonomie und Handlungsfähigkeit ,das Schweigen bricht’ (John und Nair, 1998)“ (Rehman, 2019). Sexualität, ein Thema, über das aufgrund seines „privaten“ Charakters nie in der Öffentlichkeit gesprochen wurde, wurde durch den Marsch – vor allem im Jahr 2019 – aus der Enge des häuslichen und privaten Lebens herausgebracht und für die Öffentlichkeit offengelegt. Folglich startete der rechte Flügel Angriffe gegen die OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen in den Massen- und sozialen Medien. Es wurden Todes- und Vergewaltigungsdrohungen ausgesprochen (Reuters, 2019). Unterdessen griffen reaktionäre Schichten innerhalb der pakistanischen Linken zu einem ähnlichen Ansatz, wobei die Belutschistan-Sektion der Awami-ArbeiterInnenpartei (AWP) den Aurat-Marsch ablehnte (Jafri, 2019). In ähnlicher Weise tauchte die Politik der Reaktion innerhalb der feministischen Bewegung in Form der bekannten feministischen Dichterin Kishwar Naheed auf, die die radikalen Botschaften bezüglich der Sexualität kritisierte, die auf den Plakaten des Aurat-Marsches standen. Sie sagte, dass „Feministinnen ihre Kultur und Traditionen im Auge behalten sollten, um nicht wie ,Dschihadis’ auf Abwege zu geraten“ (Images, 2019).

Sadia Khatri kritisierte Frauen, die sich gegen die radikalen Plakate aussprachen, und schrieb, dass diese Art von Vorwürfen „verwirrender, ja sogar verletzend ist, wenn sie von anderen Frauen kommt“ (Khatri, 2019). Ich kann das Gefühl zwar nachempfinden, aber der Vorwurf überrascht mich wirklich nicht. Es ist schließlich die Politik der Menschen, nicht ihr Geschlecht oder andere Identitäten, die ihre Einstellung zu einem gesellschaftlichen Phänomen bestimmt. Auch der Gegenmarsch zum Aurat-Marsch wurde von rechten Frauen angeführt, nicht von Männern.

Die Sexualität während des Frauenmarsches aus der privatisierten Sphäre des Hauses herauszuholen, stellte eine radikale Errungenschaft der Frauenbewegung in Pakistan dar. Die Belutschistan-Sektion der Awami Workers Party lehnte den Aurat-Marsch mit der Begründung ab, dass die auf dem Marsch erhobenen Parolen nichts mit den Frauen der ArbeiterInnenklasse oder ihrem Kampf zu tun hätten. Diese Aussage spiegelt nicht nur eine Abtrennung von der Frauenbewegung wider, sondern zeigt auch, wie isoliert die Sektion der AWP in Belutschistan von den Kämpfen der Arbeiterfrauen in Pakistan ist. Wenn man mit berufstätigen Frauen in der Realität interagiert, erzählen sie uns davon, dass „nicht jede aus Freude und Entscheidung die vollverschleiernde Burka trägt“.

Natürlich kann es vorkommen, dass Schichten der Klasse, die aufgrund der zusätzlichen Belastung durch die reproduktive Arbeit atomisiert bleiben, der Interaktion und Organisation mit ihrer Klasse beraubt werden und somit den Vorstellungen der Reaktion zum Opfer fallen. Aber mit der sich zunehmend vertiefenden Wirtschaftskrise in Pakistan, insbesondere nach dem IWF-Deal, können es sich Frauen, die mit Männern aus der Arbeiterklasse verheiratet sind, nicht mehr leisten, nur reproduktive Arbeit zu leisten. Sie werden aus dem Haus gedrängt, um Arbeit zu finden, um die ArbeiterInnenfamilie zu ernähren. Während dies schon seit langem der Fall ist, da die Wirtschaft des halbkolonialen Landes weitgehend instabil geblieben ist, haben die Klauseln des IWF zu schlechteren Bedingungen für die arbeitenden Armen geführt (Arshad, 2019). Selbst wenn es sich bei diesen Jobs um niedere Tätigkeiten handelt, wie z. B. die Arbeit als Haushaltshilfe in Haushalten der Mittelschicht, bieten sie diesen Frauen eine gewisse Möglichkeit, sowohl mit ihrer eigenen Klasse als auch mit dem/r KlassenfeindIn zu interagieren. Es überrascht daher nicht, dass eine Hausangestellte, die eine halbverschleiernde Niqab trägt, bei einem Treffen mit anderen berufstätigen Frauen sagte, dass „nicht jede die Burka aus Freude und Entscheidung trägt“.

Diejenigen pakistanischen Linken, die Sexualität und andere Aurat-Marsch-Themen immer noch nicht als wichtige Themen für das Leben arbeitender Frauen sehen, sollten sich einige grundlegende Fragen stellen. Wenn die arbeitende Frau die Freiheit, Zeit und Geld hätte, sich wie Frauen der Mittelschicht zu kleiden, würde sie das nicht tun? Wenn sie die Freiheit, die Zeit und das Geld hätte, würde sie sich nicht romantischen/sexuellen Affären hingeben wollen, wie es Frauen aus privilegierten Schichten in diesem Land tun? Wenn es für sie keine Frage mehr wäre, jeden Tag etwas „Khana“ [Essen] für ihre Familie zu bekommen, wie es für Frauen aus der Mittelschicht der Fall ist, würde sie sich dann nicht auch wünschen, dass ihr männlicher Partner gleichberechtigt an der Zubereitung dieser Mahlzeiten teilnimmt? Diese Fragen machen deutlich, wie arbeitende Frauen durch die wirtschaftlichen Bedingungen gezwungen sind, bestimmte Themen als Hauptanliegen zu behandeln. Dies spiegelt jedoch keineswegs wider, dass arbeitende Frauen nicht an Fragen der sexuellen Befreiung interessiert sind.

Was für eine Bewegung brauchen wir?

Unterdessen ist eine andere Idee, die in bestimmten radikalen Schichten der Frauenbewegung in Pakistan vorherrscht, dass wir eine klassenübergreifende feministische Bewegung brauchen. Die Befürworterinnen dieser Ansicht argumentieren, dass dies ein „inklusiver“ Ansatz sei, da er es Frauen aus allen Klassen ermöglicht, sich zusammenzufinden, um gegen einen gemeinsamen Feind, nämlich das Patriarchat, zu kämpfen und die Gleichberechtigung zu erlangen. Nehmen wir eine der Forderungen, die von radikalen Feministinnen erhoben wurden. „Gleichheit beim Zugang zu öffentlichen Räumen“.

Nehmen wir an, dass diese Forderung nun gewonnen ist. Die Frau aus der ArbeiterInnenklasse wird die formale Gleichheit beim Zugang zu öffentlichen Räumen haben, aber genau wie ihr männlicher Kollege aus der ArbeiterInnenklasse hat sie diese Freiheit als jemand, der immer noch 12 Stunden am Tag arbeitet, dessen Kinder unterernährt sind und denen es an guter Bildung mangelt, der der Zugang zu guter Gesundheitsversorgung verwehrt wird und deren Familie an neun von zehn Tagen immer noch hungrig schläft. In der Praxis bedeutet dies eine Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse und der Organisation der unabhängigen Klassenpolitik, die eine wesentliche Schwäche der feministischen, antirassistischen und ökologischen Bewegungen in der ganzen Welt darstellt.

Außerdem, was bedeutet eine „klassenübergreifende Bewegung“ überhaupt? Dass sie die Interessen aller Klassen vertritt? Würde sie dann auch ein „klassenübergreifendes Programm“ haben? Ob so etwas jemals praktisch durchführbar ist oder nicht, sicher ist, dass eine klassenübergreifende Bewegung kein Programm für die ArbeiterInnenklasse haben wird. Und das liegt daran, dass die Interessen der ArbeiterInnenklasse mit denen anderer Klassen unvereinbar sind. Die ArbeiterInnenklasse verfügt über kein Privateigentum an den Produktionsmitteln. Unabhängig davon, ob diese Klasse sich dessen schon subjektiv bewusst ist oder nicht, liegt ihr objektives Interesse in der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und seiner Ersetzung durch gesellschaftliches Eigentum. Dieses Interesse steht offensichtlich im Widerspruch zu dem der Klassen, deren Quelle von Reichtum und sozialem Status das Privateigentum bildet. Wie Clara Zetkin prägnant zusammenfasst:

„Es gibt eine Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, der Bourgeoisie, der Intelligenz und der oberen Zehntausend. Sie nimmt je nach der Klassensituation jeder dieser Schichten eine andere Form an“ (Zetkin, 1896).

Wie beeinflusst dies die Bewegung?

Wie beeinflusst dies die Bewegungen dann? In der bürgerlichen Gesellschaft ist jede klassenübergreifende Bewegung verpflichtet, die Interessen der ArbeiterInnenklasse (die mit der strategischen Aufhebung der unterdrückenden Arbeitsteilung im Hinblick auf die produktive und reproduktive Arbeit verbunden ist) den begrenzten Zielen der bürgerlichen Feministinnen unterzuordnen. Das bestmögliche Ergebnis einer klassenübergreifenden Bewegung ist, dass die begrenzten Forderungen nach formaler Gleichheit zwischen Männern und Frauen erfüllt werden. Berufstätige Frauen werden formell gleichberechtigt sein wie ihre bürgerlich-feministischen Kolleginnen, aber sie werden es als Frauen sein, die immer noch 12 Stunden am Tag arbeiten und keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Sozialleistungen haben. Sie werden formellen Zugang zu allen Bereichen des öffentlichen Lebens haben ebenso wie ihre männlichen Partner aus der ArbeiterInnenklasse, die ebenfalls kein Geld oder keine Zeit haben, um diese Bereiche faktisch zu betreten. Diese arbeitenden Frauen werden im Namen einer klassenübergreifenden Bewegung für die individuellen Rechte und Freiheiten der bürgerlichen Feministinnen kämpfen. Um noch einmal Zetkin zu zitieren: „Wir dürfen uns nicht von sozialistischen Tendenzen in der bürgerlichen Frauenbewegung täuschen lassen, die nur so lange anhalten, wie sich die bürgerlichen Frauen unterdrückt fühlen“ (Zetkin, 1896).

Was braucht es?

Dieser Ansatz „klassenübergreifender“ Bewegungen versäumt es, die Wurzel der geschlechtsspezifischen Unterdrückung zu untersuchen. In der heutigen Klassengesellschaft verortet der revolutionäre Marxismus die Ursprünge der geschlechtsspezifischen Unterdrückung in der öffentlich-privaten Kluft, in der der Mann in der öffentlichen „produktiven“ Sphäre arbeitet, während die Frau für die „reproduktive“ Arbeit verantwortlich ist. Diese Kluft ist notwendig, damit der Kapitalismus sich selbst erhalten kann, weshalb unsere Bewegungen antikapitalistischer Natur sein müssen. Um effektiv zu sein, müssen sie auch die Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse überwinden. Und diese Krise kann solange nicht überwunden werden, bis und wenn die ArbeiterInnenklasse der radikalen Kleinbourgeoisie die Throne streitig macht, an denen sie seit Ewigkeiten festhält.

In einer Zeit, in der Identitätspolitik, Postmoderne und alle Arten von Ideologien, die nicht zum Sturz des kapitalistischen Systems führen, auf der ganzen Welt vorherrschen, gibt es einen Hoffnungsschimmer in bestimmten Schichten der pakistanischen Frauenbewegung. Die Demokratische Frauenfront (DFF), eine unabhängige Organisation, die arbeitende Frauen in städtischen und ländlichen Gebieten Pakistans organisiert, hat einige revolutionäre Forderungen, deren wichtigste die Forderung nach einer Vergesellschaftung der reproduktiven Arbeit ist. Während die derzeitige Führung in den meisten Sektionen aus der mittleren/unteren Mittelschicht stammt, bemüht sich die Organisation darum, arbeitende Frauen in die Führung zu bringen. In Lahore, wo ich die Vorsitzende bin, wurde vor kurzem eine Sektion der DFF gegründet, die hart daran arbeitet, ihre Wurzeln in den ArbeiterInnenvierteln zu stärken, um die Entstehung eines weiblichen Kaders aus diesen Gebieten vorzubereiten.

Wir arbeiten in den Vierteln der Hausangestellten und HeimarbeiterInnen und versuchen, sie zu organisieren. Diese Frauen erzählten uns, wie sich die steigende Inflation auf ihr Leben auswirkt und sie darum kämpfen, ihre Familien zu ernähren. Eine wichtige revolutionäre Forderung in diesem Szenario könnte die Einrichtung von Preiskomitees unter der Leitung von Frauen sein. Es besteht Hoffnung und Potenzial für die Entstehung einer weiblichen Führung der ArbeiterInnenklasse, wenn sich die DFF konsequent einer solchen Aufgabe widmet. Sie ist besonders entscheidend in einer Zeit, in der Kämpfe in verschiedenen frauenzentrierten Sektoren wie dem Gesundheits- und Bildungswesen auftauchen. Lahore, eines der städtischen Zentren Pakistans, birgt das Potenzial der Entstehung einer ArbeiterInnenbewegung. Ebenso birgt es das Potenzial für kleinbürgerlichen Radikalismus, gewerkschaftlichen Opportunismus und Reformismus sowie Zentrismus. Wenn es der DFF ernst damit ist, eine Führung der arbeitenden Frauen in der größeren ArbeiterInnenbewegung zu installieren, wird sie sich darauf vorbereiten müssen, solche Übel zusammen mit dem Kampf gegen den/die KlassenfeindIn und das Patriarchat zu bekämpfen.

Endnoten

(1) Die Demokratische Frauenfront (DFF) wurde ursprünglich von der Awami-ArbeiterInnenpartei (AWP) als ihre „Frauenfront“ gegründet. Die AWP ist bei Weitem die mitgliederstärkste linke Partei in Pakistan. Die DFF ist jetzt eine unabhängige Organisation. Die AWP spielt weder eine Rolle noch übt sie Einfluss auf Entscheidungen oder Strukturen der DFF aus. Natürlich sind Doppelmitglieder vertreten, die sowohl in DFF wie AWP organisiert sind. Die Autorin ist ein solches.

(2) Azadi heißt auf Urdu Freiheit.




Warum sind die Rechten so reaktionär gegenüber Frauen?

Saskia Wolf, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Ob nun in den USA durch Trump, Duterte auf den Philippinen, Modi in Indien, Le Pen in Frankreich oder die AfD in Deutschland, seit mehreren Jahren erleben wir international ein Erstarken der Rechten. Dies geht einher mit Asylgesetzverschärfungen, Abschiebekampagnen, Angriffen auf Geflüchtete und Migrant_Innen. Aber nicht nur Nationalismus und Rassismus nehmen zu. Auch Angriffe auf demokratische Grundrechte und fortschrittliche Gesetze für Frauen und die Frauenbewegung gehen damit einher. Wir schreiben also das Jahr 2020. Anstatt dass wir der Befreiung aus der sexuellen Unterdrückung näherkommen, gibt es ein Rollback für Frauen, ein Zurückwerfen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau.

Ursachen

Aber warum haben rechte und konservative Kräfte es auf die Freiheit der Frauen abgesehen? Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 hat sich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalist_Innen und ihren Staaten verschärft. Es kam zu einer massiven Konzentration von Kapital. Gerade die größeren Monopole konnten davon profitieren, während kleinere Unternehmen nicht mithalten konnten.

Kleinere UnternehmerInnen, auch gerne als Mittelstand
bezeichnet, haben Angst, ihre Stellung zu verlieren und pleitezugehen.
Getrieben von der Angst des sozialen Abstieges fangen sie an, laut herumzubrüllen:
Protektionismus, Nationalchauvinismus, Standortborniertheit, das sind ihre
Argumente, um sich zu schützen. Kurz gesagt: Sie wollen das Rad der Geschichte
zurückdrehen, um nicht ihren Reichtum zu verlieren. Sie wollen den globalen
Kapitalismus also auf reaktionäre Art bekämpfen.

Mit der Fokussierung auf Nationalstaat und
Protektionismus geht auch einher, dass das Ideal der „bürgerlichen Familie“
gestärkt werden muss. Denn im Kapitalismus ist die Arbeiter_Innenfamilie der
Ort, wo unbezahlte Reproduktionsarbeit stattfindet. Ob nun Kindererziehung,
Altenpflege, Waschen oder Kochen – all das reproduziert die Arbeitskraft der
einzelnen Arbeiter_Innen und sorgt gleichzeitig dafür, dass dem Kapital die
Produktivkraft nicht ausgeht. Oftmals wird diese unbezahlte Hausarbeit von
Frauen verrichtet. Diese Arbeitsteilung wird dadurch gefestigt, dass Frauen
weniger Lohn als Männer bekommen und sie somit nach einer Schwangerschaft eher
zu Hause bleiben. So verdienen beispielsweise Frauen im Schnitt 22 % weniger
als Männer, machen 75 % der Beschäftigten in sozialen Berufen aus und
arbeiten immer noch doppelt so lang im Haushalt wie Männer. Im Kontrast dazu
stehen erkämpfte Rechte von Frauen und LGBTIAs. Ob nun Legalisierung von
Homosexualität, die Gleichstellungsgesetze, das Selbstbestimmungsrecht über den
eigenen Körper – all das lehnen die Reaktionär_Innen mit aller Macht ab. Denn
diese Errungenschaften greifen das Idealbild der Familie an, auf das sie stark
angewiesen, sind damit ihre protektionistische Vorstellung der Nation
Wirklichkeit wird.

Warum sind sie erfolgreich?

Um erfolgreich gegen rechts zu kämpfen, müssen wir
verstehen, warum diese überhaupt so stark geworden sind. Ein zentraler Grund
dabei ist die Führungskrise der Arbeiter_Innenklasse. Nach der Finanzkrise
stieg nicht nur die Konkurrenz unter den Kapitalist_Innen. Große Teile der
Krisenkosten wurden auf die Arbeiter_Innenklasse abgewälzt in Form von
Sparmaßnahmen, Entlassungen und dem Ausbau des Niedriglohnsektors. Das sorgte
dafür, dass große Teile der Klasse in Armut abrutschten. Dabei konnten weder
Sozialdemokratie noch Gewerkschaften die Lage verbessern. Vielmehr verwalteten
sie diese Politik im Interesse des Kapitals mit. Die desillusionierten Teile
der Arbeiter_Innenklasse wenden sich daraufhin den Versprechungen der
Populist_Innen zu.

Was tun?

Gegen Rechtspopulist_Innen und Reaktionär_Innen bedarf es
einer antirassistischen Arbeiter_Inneneinheitsfront, nicht nur gemeinsamen
Kampfs mit den Bürgerlichen gegen rechtliche Einschränkungen. So nennen wir
einen Zusammenschluss zwischen Organisationen der Arbeiter_Innenklasse für
Klassenziele, die z. B. die liberalen Elemente nicht teilen, und mit
Kampfmitteln wie Streiks, über die andere Klassen nicht verfügen. Im Zuge
dessen bedarf es zentraler Aktionstage, bei denen alle Beteiligten
mobilisieren. Dabei ist es wichtig, nicht nur formal zu einer Demo aufzurufen,
sondern klar zu fordern, dass die Basis der Organisationen in die Mobilisierung
einbezogen wird. Das bedeutet, dafür einzutreten, dass es Vollversammlungen und
Aktionskomitees  an Schulen, Unis
und in Betrieben gibt, die sich im Rahmen der Mobilisierungen mit der aktuellen
Politik auseinandersetzen und sich fragen: Wie kann hier konkret eine fortschrittliche
Politik aussehen? Das sorgt dafür, dass an den Orten, an denen wir uns
tagtäglich bewegen müssen, eine bewusste politische Auseinandersetzung anfängt
und zeitgleich mehr Leute erreicht werden als jene, die sich eh schon für
Antirassismus und Antifaschismus interessieren. Zentral ist es, Kämpfe
miteinander zu verbinden und nicht nur aktuelle Angriffe abzuwehren, sondern
auch für konkrete Verbesserungen, um aus der Defensive herauszukommen. Um die
Situation von Geflüchteten unmittelbar zu verbessern, müssen Revolutionär_Innen
für offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle eintreten. Darüber
hinaus müssen wir die Integration in die Gewerkschaften verlangen, um gemeinsam
der Spaltung entgegenzutreten, besser gemeinsame Kämpfe führen zu können wie
beispielsweise für einen höheren gesetzlichen Mindestlohn, aber auch das
Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper.

Wenn wir erfolgreich dem Rechtsruck entgegentreten wollen,
müssen wir aktiv gegen rassistische, sexistische Spaltung und für
Verbesserungen der Klasse kämpfen. Nur so können wir die Reaktionär_Innen
aufhalten!




Flucht und Sexismus

Lydia Humphries, Sympathisantin Red Flag, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Reisen von Frauen, intersexuellen und nichtbinären
Menschen, die nach Großbritannien einwandern, werden durch die Bedrohung durch
sexuelle Übergriffe, Ausbeutung und Gewalt erschwert und gefährlich. Wenn sie
in Großbritannien ankommen, sehen sie sich den rassistisch-frauenfeindlichen, -homophoben
und -transphoben Strukturen des britischen Einwanderungssystems gegenüber.

Die unmenschlichen Praktiken der Inhaftierung in Abschiebezentren für EinwanderInnen (IRCs) werden durch die institutionell vorherrschenden sexuellen Übergriffe verstärkt. Viele der Personen in den IRCs fliehen bereits vor Missbrauch, was ihre Inhaftierung nach britischem Recht illegal macht. Aber eine gut dokumentierte „Kultur des Unglaubens“, die in der „feindlichen Umgebung“ Großbritanniens eingebettet ist, lässt MigrantInnen, die sexuelle Übergriffe überlebt haben, oft schutzlos zurück. Eine solche Ungläubigkeit konfrontiert LGBTQI+-Menschen, die vor Verfolgung wegen ihrer Sexualität oder geschlechtlichen Identität fliehen, wobei viele gezwungen sind, ihre Unterdrückung vor Berufungsgerichten zu „beweisen“, und ihnen diese dennoch immer noch nicht geglaubt wird.

Der Kampf dagegen

Die AktivistInnen arbeiten gegen die volle Kraft des
rassistischen und chauvinistischen britischen Staates, um auf die
Entmenschlichung von MigrantInnen aufmerksam zu machen. Im Jahr 2018 traten 120
Menschen in Yarl’s Wood in den Hungerstreik, um gegen die unbefristete Haft,
ausbeuterische Arbeit, den Mangel an angemessener medizinischer Versorgung und
die nicht freiwillige Abschiebung zu protestieren, neben
geschlechtsspezifischeren Themen wie der Inhaftierung von
Missbrauchsüberlebenden. Im Jahr 2016 enthüllten Stonewall und die Lesben- und
Schwulen-Immigrationsgruppe des Vereinigten Königreichs den fehlenden Zugang zu
Medikamenten, Schutz und „sicherer Zuflucht“ für LGBTQI+-Personen in Haft.

An anderer Stelle protestierte der Südost-Londoner Zweig der
feministischen Direktaktionsgruppe Sisters Uncut gegen die Anstellung von
EinwanderungsbeamtInnen in den örtlichen Diensten für häusliche Gewalt und
beleuchtete, wie zwischenmenschliche und staatliche Gewalt ineinandergreifen,
so dass Frauen und nichtbinäre MigrantInnen aus Angst vor Abschiebung ihre Täter
nicht verlassen können. Diese Kampagne lenkte auch die Aufmerksamkeit auf die
Auswirkungen von No Recourse to Public Funds (Kein Rückgriff auf öffentliche
Gelder; NRPF), einer Bedingung für den Einwanderungsstatus aus
Nicht-EU-Ländern, die MigrantInnen und Asylsuchenden den Zugang zu sozialen
Ressourcen wie Flüchtlingsbetten verwehrt, wogegen die sich die Labour-Kampagne
für Freizügigkeit wendet.

Reaktion der PolitikerInnen

Während solche Kampagnen diese Themen weiter ins politische Rampenlicht gerückt haben, waren die Reaktionen der PolitikerInnen frustrierend unzulänglich. In ihrem Manifest für 2019 verpflichtete sich die Labour Party zur Schließung der berüchtigten, gewalttätigen Gefangenenlager Yarl’s Wood und Brook House, ohne sich jedoch unmissverständlich gegen die Einwanderungshaft auszusprechen.

Darüber hinaus lösen PolitikerInnen oft die Probleme, mit
denen Migrantinnen konfrontiert sind, von dem „feindlichen Umfeld“ und den
damit verbundenen Sparmaßnahmen ab, in die sie eingebettet sind. Ein Beispiel
für diese Praxis ist der Fokus liberaler feministischer Abgeordneter auf den
Sexhandel. Wie die Autorinnen von „Revolting Prostitutes“, Molly Smith und Juno
Mac, argumentieren, stellen Kampagnen gegen den Menschenhandel ihn oft so dar,
als ob einzelne Männer die Frauen in eine böse Sexindustrie entführen, und
leugnen die Tatsache, dass der Menschenhandel oft dann stattfindet, wenn
diejenigen, die bereits migrieren wollen, aufgrund des Mangels an sicheren,
erschwinglichen und legalen Wegen, über die sie sich bewegen können, der
Ausbeutung ausgesetzt werden.

Solche Kampagnen führen oft zu Forderungen nach der
Kriminalisierung von Sexarbeit als Lösung für den Menschenhandel. Die
Labour-Abgeordneten Jess Phillips und Sarah Champion, prominente Mitarbeiterinnen
des parteiübergreifenden parlamentarischen Ausschusses „Prostitution und
weltweiter Sexhandel“, spiegeln diesen Gedankengang wider. Sie verknüpfen
routinemäßig Menschenhandel mit Sexarbeit und nutzen ihre Unterstützung für die
Opfer des Menschenhandels, um für das nordische Modell zu werben, eine Politik,
für die Jeremy Corbyn ebenfalls vage Lippenbekenntnisse abgegeben hat, die
Käufer von Sexarbeit und Dritte, die mit dieser in Verbindung stehen,
kriminalisieren würde.

Wie SexarbeiterInnen in aller Welt argumentieren, würde jede
Form der Kriminalisierung das Überleben von SexarbeiterInnen grundlegend
erschweren. Dazu gehören auch migrantische SexarbeiterInnen, die sich
möglicherweise für Sexarbeit entscheiden, weil sie keine gesetzlichen Rechte
auf Arbeit oder den Zugang zu Sozialleistungen haben, Aspekte eines „feindlichen
Umfelds“, die tief mit denselben gewaltsam rassistischen Grenzen verflochten
sind, die andere für MenschenhändlerInnen anfällig machen.

So übersieht die Verschmelzung von Sexarbeit und
Menschenhandel – die Schuld für beides wird der männlichen Gewalt zugeschoben –
die Art und Weise, in der beide als unterschiedliche geschlechtsspezifische
Manifestationen der rassistischen und migrantenfeindlichen Strukturen der
Klassengesellschaft angesehen werden können, die zu überleben versucht wird.
Sie ignoriert auch die Realität, dass die Wege in die Sexarbeit, auch für
MigrantInnen, oft durch einen Mangel an gut bezahlten alternativen
Beschäftigungsmöglichkeiten und durch Kürzungen der Sozialleistungen, die den
Schwächsten schaden, genährt werden. Eine solche Rhetorik verschleiert also die
gemeinsamen Unterdrückungen zwischen MigrantInnen und anderen Menschen aus der
ArbeiterInnenklasse, was den Aufbau von Solidarität zwischen den Gruppen
erschwert.

Dieser Fokus auf den Menschenhandel trägt auch dazu bei, dass die gewalttätigen patriarchalischen Kräfte in den halbkolonialen Ländern vereinfacht mit dem Vereinigten Königreich kontrastiert werden, das als liberaler sicherer Hafen für Frauen und LGBTQI+- Menschen dargestellt wird. PolitikerInnen aller Couleur haben diese Rhetorik wiedergekäut. Wie die Schriftstellerin Maya Goodfellow argumentiert, verschleiert die Förderung Großbritanniens als ein einladender, fortschrittlicher Staat seine gewaltsam kolonialistische Geschichte und seine bewusst „feindliche“ Gegenwart.

Was fordern?

Jede linke oder sozialistische Alternative muss diese
Rhetorik grundlegend in Frage stellen. Wir müssen erkennen, dass die
miteinander verflochtene Einwanderungs- und Sparpolitik Großbritanniens
entscheidend zur gewaltsamen Unterdrückung von Frauen und nichtbinären MigrantInnen
beiträgt. Dies muss ein Engagement für offene Grenzen und die Bereitstellung
sicherer Migrationsrouten durch Europa und darüber hinaus einschließen, wobei
das „feindliche Umfeld“ in Frage gestellt werden muss, das Frauen und
LGBTQI+-Asylsuchende weiter dem Missbrauch aussetzt und sie dann zwingt, diesen
Missbrauch erneut zu erleben, um Zuflucht zu finden. Es gibt keine „humanen“
Gefangenenlager, und der Kampf für Frauenrechte muss den für die Beendigung der
unbefristeten Haft und die Schließung von IRCs für EinwanderInnen einschließen.
Die Unterstützung für die Opfer von Menschenhandel muss mit der Unterstützung
der Rechte von SexarbeiterInnen einhergehen, wobei die entscheidenden Unterschiede
zwischen Menschenhandel und Sexarbeit anerkannt werden müssen. Dennoch muss man
verstehen, wie beide mit einem Kontext von Grenzen, Sparmaßnahmen und dem
Mangel an sicheren, legalen Alternativen zusammenhängen. Grundsätzlich müssen
wir anerkennen, dass die Rechte von Frauen und MigrantInnen Klassenfragen und
ein integraler Bestandteil des Kampfes für den Sozialismus sind.