Femizide in Österreich: Keine einzige weniger – aber wie?

Aventina Holzer, Infomail 1154, 15. Juni 2021

Mit bereits mindestens 14 Femiziden (Stand: 28.5.2021), also Morden an sexistisch unterdrückten Personen aufgrund von deren Unterdrückung (meistens von Frauen), schreibt Österreich im Jahr 2021 negativ Geschichte. Es ist eines der wenigen EU-Länder, wo regelmäßig mehr Frauen als Männer umgebracht werden. 2017 war es sogar das einzige. Was will uns aber jetzt dieser spezielle Fokus auf Frauenmorde sagen? Woran liegt die spezielle Situation in Österreich? Und vor allem: Was können wir dagegen machen?

Das Wort Femizid (lat.: femina; dt. Frau und lat.: caedes; dt. Tötung, Ermordung) kommt ursprünglich aus England (femicide) wurde dort aber eigentlich nur als Begriff für „Mord an einer Frau“ verwendet. Erst später kam eine dezidiert feministische Bedeutung dazu, die Diana Russell, eine US-amerikanische Soziologin, prägte: die „Hass-“ (auch frauenfeindliche/misogyne) Tötung einer Frau durch einen Mann. Es handelt sich zwar um eine frauenspezifische Situation, betrifft aber durchaus auch Leute, die nicht weiblich sind, oder bestimmte Frauen wegen Überschneidungen von Unterdrückung heftiger. Zum Beispiel kann eine nicht-binäre Person (also eine Person mit einer Geschlechtsidentität jenseits von „männlich“ oder „weiblich“) auch Opfer eines Femizids werden, wenn das Gegenüber die Person als weiblich wahrnimmt. Ähnliches gilt auch für Trans-Männer, also Männern, die bei der Geburt, als weiblich definiert wurden. Heftiger sind zum Beispiel aber auch Morde an Frauen mit nichtweißer Hautfarbe und Transfrauen, wo zu ihrer Unterdrückung als Frau auch noch andere dazukommen (in dem Fall Rassismus und Transphobie), was sich dann meistens in höheren Mordraten äußert.

Bedeutungen

Der Begriff „Femizid“ hat in moderner Verwendung fünf verschiedene Bedeutungen, wovon aber einige auch mehrere Interpretationen zulassen. Es gibt den soziologischen Ansatz, der sich primär mit der „Warum“-Frage von Frauenmorden beschäftigt und keine Unterscheidung darin macht, wer den Mord tatsächlich begangen hat, und eigentlich alle Tötungen an sexistisch unterdrückten Menschen betrachtet. Hier ist dann die Besonderheit hervorzuheben, dass Morde an Frauen am häufigsten im primären Umfeld verübt werden, was bei Männern überwiegend nicht der Fall ist. Weitergedacht wird diese Definition auch mit dem sogenannten „dekolonialen Ansatz“, der einen speziellen Fokus auf Gewaltverbrechen an Frauen aufgrund von (post-)kolonialen Machtstrukturen erforscht. Der Menschenrechts- und der kriminologische Ansatz sind der Versuch, eine Anleitung für bürgerliche Rechtsstaaten zu schaffen, um Femizide zu kategorisieren und Sanktionen dagegen zu verhängen. Die Definitionen sind hier deswegen für die politische Einschätzung relativ unbedeutend. Der letzte und vermutlich bekannteste Ansatz ist der feministische Femizidbegriff, der vor allem dazu dienen soll, die patriarchalen, systematischen Gewaltmuster unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Die bekannteste Definition dieses Ansatzes ist: „Morde an Frauen durch Männer, weil sie Frauen sind.“ Diese Definition soll möglichst alle männlichen, sexistischen Muster abdecken (der Femizid als Spitze der patriarchalen, männlichen Gewalt an Frauen) und wird auch bewusst von „female-on-female murder“ (dt. Frauen, die Frauen töten) abgegrenzt, was auf andere sexistische Muster zurückzuführen ist. Der Begriff wird auch oft für seine Breite kritisiert, die es schwierig macht, Probleme präzise zu thematisieren und zu kritisieren und auch gezielt zu lösen.

Im lateinamerikanischen Raum, aus der dort existierenden feministischen Bewegung heraus, die einen sehr starken Fokus auf Gewalt an Frauen und den Kampf gegen „machismo“ (männlich chauvinistische Sozialisierung und Gesellschaft) legt, wurde der Begriff ab den 1990er Jahren auch sehr stark verwendet. Hier gibt es sehr viele Frauenmorde. Jeden Tag werden durchschnittlich 12 Frauen in Lateinamerika getötet und unter den 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten sind 14 lateinamerikanische. Marcela Lagarde prägte den Begriff des „Feminizids“, der zusätzlich betonen soll, wieso Morde an Frauen auch ein Versagen der (staatlichen) Institutionen sind, und noch weiter auf die Systematik der Problematik hinweist. In 16 lateinamerikanischen Ländern gibt es mittlerweile eigene Straftatbestände zu Femiziden oder zumindest zu geschlechtsspezifischer Tötung. Dieser „Fortschritt“ ist aber natürlich nicht primär dem Begriff zu verdanken, sondern der starken und kämpfenden antisexistischen Bewegung in Lateinamerika, speziell auch unter dem Banner von „ni una menos“ (keine einzige weniger“), einer Bewegung, die in Argentinien ihren Anfang nahm.

Was macht den Femizidbegriff aus?

Ist er nicht etwas zu unkonkret, um als politischer Begriff nützlich zu sein? Ja und nein. Auf der einen Seite macht der Begriff, das was er machen soll, ganz gut. Es wird dadurch provokant auf einen speziellen Missstand in der Gesellschaft aufmerksam gemacht, der normalerweise, so wie viele Erfahrungen von marginalisierten Gruppen, unsichtbar bleibt – nämlich unter welchen Umständen und warum Frauen umgebracht werden.

Der Einwand, dass damit ja quasi jedem Mord ein sexistisches Handlungsmotiv unterstellt wird, ist nur begrenzt berechtigt. Sexismus (genauso wie andere Formen der gesellschaftlichen Unterdrückung) ist ein fundamentaler und systematischer Teil unserer Gesellschaft, damit also auch ein fixer Bestandteil unserer Sozialisierung sowie der gesamten sozialen Verhältnisse. Wir werden ja allesamt auch durch unsere Umstände geprägt. Das heißt aber auch im Umkehrschluss, dass in vielen Gewaltverbrechen an gesellschaftlich unterdrückten Menschen genau diese Unterdrückung eine (wenn oft auch unbewusste) Rolle spielt. Was allerdings ein Problem ist und oft in radikalfeministischen Kreisen betont wird, ist der Fokus auf Männer und männliche Gewalt. Es stimmt, dass die allermeisten Frauenmorde (und Morde insgesamt) von Männern begangen werden, ähnlich wie bei anderen Gewaltverbrechen. Zeitgleich sollte der Umkehrschluss aber nicht zugelassen werden, dass es dabei um irgendetwas inhärent Männliches geht, also „den Mann“ als den Feind „der Frau“ darzustellen. Es geht hier um ein klar systematisches, soziales Problem. Männer und Frauen werden beide von unserer systematisch sexistischen Welt geprägt. Die Auswirkungen sind aber sehr unterschiedlich und führen bei Männern strukturell viel häufiger zu Gewaltausübung. Auch das Zuschreiben des Problems an ein abstraktes, überhistorisches Patriarchat ist zu ungenau.

Es gibt patriarchale Strukturen (übrigens auch schon sehr lange in unterschiedlichster Form) in unserem Gesellschaftssystem, aber das Gesellschaftssystem, das diese konkret ausformt und reproduziert, ist der Kapitalismus und nicht die abstrakte „männliche Vorherrschaft“. Der Kapitalismus (unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem) profitiert enorm davon, Muster älterer Gesellschaften zu übernehmen und Gruppen systematisch gegeneinander auszuspielen und somit auch mehr Profit aus ihnen erwirtschaften zu können. Das macht das Aufrechterhalten von solchen Strukturen überhaupt erst möglich und (was im Kapitalismus natürlich das Wichtigste ist) profitabel.

Prinzipiell ist der Begriff des Femizids also sinnvoll und man kann ihn durchaus in die Diskussion einbringen. Klar und genau ist er aber nicht, was auch bedeutet, dass er nicht unbedingt in jeder Situation nützlich ist. Deshalb braucht es eine klarere Diskussion innerhalb der antisexistischen Bewegung, um ihn mit Leben zu füllen und auch als Instrument der Analyse verwenden zu können. Jeden Mord an Frauen als Femizid zu bezeichnen, ist plakativ (leider zwar viel zu oft richtig), aber führt auch zu einer ungenauen Verwendung einer Begrifflichkeit, die ja auch dazu beitragen soll, die Problematik, die sie beschreibt, zu bekämpfen.

Lage in Österreich

Um wieder zurückzukommen auf Österreich: Fast alle der diesjährigen Morde an Frauen sind in einer intimen (Ex-)Partnerschaft begangen worden. Das reiht sich in einen internationalen Trend ein. Laut UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime; Amt der Vereinten Nationen zu Drogen und Verbrechen – Stand 2017) liegt der weltweite Anteil an weiblichen Mordopfern bei 19 %, aber bei Morden durch Intimpartner und Familie bei 64 % und durch Intimpartner allein bei 82 %. Dazu kommt noch die Tatsache, dass die meisten Morde in intimen Partnerschaften durch Frauen in Notwehr und/bzw. nach langwieriger Gewalterfahrung in der Beziehung geschehen. Was nun in Österreich speziell ist, ist, dass es ein Land mit einer sehr geringen Mordrate und einer verschwindend niedrigen Bandenkriminalität ist (welche weltweit vermutlich die meisten Morde an Männern verursacht). Deshalb werden auch mehr Frauen als Männer getötet.

Böse (und vor allem uninformierte) Zungen würden bei diesen Zahlen behaupten, dass es sich ja nur um ein paar Morde im Jahr handle. Und wenn überhaupt, sollte man sich doch viel eher um die Morde an Männern kümmern, wenn die doch einen Großteil ausmachen. Vorneweg: Jeder Mord ist schrecklich und es ist eine zentrale Aufgabe im Kampf für eine gerechte Gesellschaft, alle Systematik (z. B. Armut) und Sozialisierung, die zu ihnen führt, abzuschaffen. Aber bei den Zahlen zu Morden an Frauen müssen wir auch ganz klar festhalten, dass Femizide „nur“ die oberste Spitze eines sehr, sehr tiefen Eisberges sind. Einen Mord zu begehen, ist logischerweise die drastischste Form der Gewalt, die Sexismus annehmen kann. Davor kommen häusliche und sexualisierte Gewalt, verbale und körperliche Belästigung und vieles mehr. Dinge, die diese Sachen „möglich“, damit auch tolerierbarer bzw. „normaler“ machen, sind Objektifizierung, Ungleichbehandlung in Ausbildung und Beruf, Doppel- und Mehrfachbelastung durch zusätzliche Hausarbeit und Kindererziehung, ökonomische Abhängigkeit, ideologische Überhöhung des Mannes, der Druck, die emotionale Last des Partners zu tragen, und vieles andere auch. Diese Zusammenhänge sind nicht zufällig, sondern haben System in der Art und Weise, wie Reproduktion im Kapitalismus stattfindet. Unter diesen Umständen ist es besonders wichtig, auf spezielle Aspekte sozialer Unterdrückung aufmerksam zu machen und dagegen anzukämpfen. Denn „nur“ weil nicht alle Beziehungen zum Mord einer Person führen, heißt es nicht, dass es nicht eine enorme Menge an Gewalt und sexistischer Unterdrückung gibt, gegen die wir kämpfen müssen. Das führt aber nun zu einer weiteren Frage: Was können wir eigentlich tun?

Kampagne

In Wien organisiert zumindest seit September das feministische, autonome Kollektiv „claim the space“ (unter anderem bestehend aus: AG Feministischer Streik, Kollektiv lauter*, Ni Una Menos Austria, Hispano feministas, Kollektiv antikoloniale Interventionen) nach jedem Femizid in Österreich eine Kundgebung. Ziel davon ist, der Opfer zu gedenken, der eigenen Wut und Trauer Luft zu machen, aber auch sich buchstäblich den Platz zu nehmen für dieses und zusammenhängende Themen und Aufmerksamkeit auf die systematische Problematik zu lenken. Das ist prinzipiell gut und wichtig und hat auch maßgeblich zu einer Veränderung der (medialen) Diskussion geführt (das Wort Femizid wird in Österreich zum Beispiel noch nicht besonders lange verwendet). Aus einem ihrer Aufrufe geht das auch nochmal klar hervor: „Wir wollen uns Raum nehmen für eine inhaltliche Auseinandersetzung über patriarchale Gewalt und darüber, wie eine weitere Politisierung von Feminiziden aussehen kann. Wir wollen unser Wissen über feministische Praktiken und Kämpfe miteinander teilen und uns gemeinsam überlegen, wie unsere gemeinsame Praxis in Wien gegen patriarchale Gewalt aussehen kann. Und wir wollen einen Raum schaffen, um über unsere Wut zu sprechen, aber auch über unsere Trauer, unsere Ohnmacht, unsere Zermürbtheit.“

Auch wenn die Arbeit des Kollektivs sehr wichtig ist, gibt es doch einige Punkte, die über diese Forderungen hinaus aufgeführt werden müssen. Ein Problem liegt in der Analyse, in der Organisierung dieses Kampfes, nur FLINTA (also Frauen, Lesben, Interpersonen, nichtbinäre Personen, Transpersonen und Agenderpersonen) Personen zuzulassen. Es ist vollkommen nachvollziehbar, dass sich Menschen mit einer spezifischen Unterdrückung oft nicht wohl in Kontexten fühlen, wo andere Menschen dabei sind, die (gesellschaftlich gesehen) von dieser Unterdrückung profitieren. Zeitgleich braucht es aber für den Kampf gegen Femizide einen gemeinsamen Kampf aller Menschen, die im Kapitalismus unterdrückt und/oder ausgebeutet werden. Das inkludiert auch Männer. Männer sind nicht die „Unterdrücker“ in diesem System, auch wenn viele sicher sexistisch unterdrückerisch sind oder davon profitieren, dass Frauen unterdrückt werden. Die UnterdrückerInnen sind die, die die Macht in diesem System ausüben, die versuchen, Menschen gegeneinander auszuspielen, um kollektive Handlungen und Kämpfe zu verhindern.

Innerhalb einer breiten Bewegung muss es natürlich den Raum geben für Menschen mit spezifischer Unterdrückung, sich gesondert treffen zu können und bestimmte Bereiche des Kampfes zu organisieren sowie eigene politische Positionen zu formulieren. Es ist auch wichtig, dafür zu sorgen, dass Menschen mit bestimmten gesellschaftlichen Privilegien nicht die gesamte Bewegung dominieren, was aus bestimmten Machtgefällen heraus häufiger passiert. Dafür braucht es demokratische Strukturen und bestimmte Mechanismen (zum Beispiel Quoten innerhalb von Bündnissen bzw. für bestimmte Gremien und Rollen) die gegensteuern und marginalisierten Menschen den Platz in der Bewegung einräumen, der ihnen zusteht. Es gibt auch ein gewisses Problem, was die Position von „claim the space“ zu Parteien und parteiförmigen Organisationen angeht. Es wird ihnen oft die Vereinnahmung von Protesten vorgeworfen, was natürlich nicht der Fall sein sollte. Zeitgleich ist die logische Ableitung daraus, nicht mit bestimmten Organisationen zusammenzuarbeiten, ein heftiger Fehlschluss. Es braucht ein starkes Bündnis, das eine Bewegung anleiten kann, die aus unterschiedlichen Gruppen zusammengesetzt ist, demokratisch legitimiert und klar positioniert. Autonome Taktiken (damit auch das Ausschließen von Parteien und parteiförmigen Organisationen), auch wenn sie nicht immer per se falsch sind, führen nicht zu dem, was der Kampf gegen Femizide braucht – einer Bewegung, die gestellte Forderungen nicht nur ansprechen kann, sondern erkämpft.

Welche Bewegung?

Wie soll aber eine solche dann eigentlich aussehen? Was für Forderungen braucht sie? Die erste Frage hängt für revolutionäre KommunistInnen klar mit dem Klassenkampf zusammen. Innerhalb des kapitalistischen Systems haben die ArbeiterInnen (also fast alle lohnabhängigen Menschen, die primär zur direkten Reproduktion des Staates und damit des kapitalistischen Systems beitragen) am meisten Macht, dadurch, dass sie mittels Arbeitsverweigerung, extremen Druck aufbauen können. Eine Bewegung unterdrückter Menschen muss auch immer einen Anschluss an die ArbeiterInnenbewegung suchen und einen Fokus auf die ArbeiterInnenklasse richten, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben möchte. Natürlich sind Forderungen nicht nur durch Arbeitskämpfe durchzuringen, aber wenn es um den langfristigen Kampf gegen Sexismus geht, ist das unerlässlich. Momentan steht die Linke allerdings an einem Punkt, wo das schwierig umzusetzen ist. Was ein erster Schritt in diese Richtung wäre, wären Bündnispolitik bzw. eine Einheitsfront zwischen unterschiedlichen (linken) Gruppierungen mit dem Ziel, auch Gewerkschaften hineinzuziehen und starke Proteste zu organisieren.

So eine Bewegung muss natürlich fordern, dass Gewaltschutzmaßnahmen ausgebaut werden. Dafür gibt es viele unterschiedliche Ansätze, die man innerhalb so einer Bewegung auch immer weiter ausarbeiten muss. Frauenhäuser und Täterberatung sind dabei nur einige wenige wichtige Konzepte und Dinge, für die viel mehr Geld ausgegeben werden muss.

Auch wenn wir solche Sachen vom Staat fordern, vertrauen wir aber nicht auf ihn. Der bürgerliche Staat ist ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse und hat eine nicht zufällige Rolle in der Untätigkeit, was Femizide angeht. Deshalb müssen wir andenken, der häufigen Gewalt gegenüber eigene Selbstverteidigungsstrukturen der Unterdrückten aufzubauen. Dabei geht es nicht um autonome Kleingruppen, die um die Häuser ziehen, um Männern Angst zu machen, sondern um einen kollektiven Zusammenschluss von sexistisch unterdrückten Leuten, die sich gemeinsam ausbilden, Schutz vor allem auch durch Masse erreichen und sich somit aktiv dort verteidigen, wo der Staat versagt und auch immer versagen wird. Dazu gibt es weltweit viele Beispiele, vor allem in Lateinamerika und Indien.

Schlussendlich muss diese Bewegung aber auch mit dem kapitalistischen System brechen. Das klingt etwas voreilig, wenn man bedenkt, wie weit wir noch von so einem Bündnis, geschweige denn einer Bewegung entfernt sind. Aber wie bereits erklärt. ist die Systematik von Gewalt an Frauen im Kapitalismus kein Zufall. Er wird diese Unterdrückungsverhältnisse immer wieder reproduzieren. Verbesserungen, die erkämpft wurden, werden ohne eine ständig kämpfende Bewegung, die sich dagegen stellt, an Tiefpunkten des Klassenkampfs wieder zurückgenommen. Es ist ein ständiges Schwimmen gegen den Strom. Wenn wir Sexismus, und damit auch Femizide, endgültig überwinden wollen, brauchen wir ein anderes Gesellschaftssystem, das auf einer anderen ökonomischen Basis wirtschaftet und damit auch eine andere Sozialisierung der Gesellschaft zulässt. Das können wir nur erreichen, wenn wir den Kapitalismus stürzen und für den Kommunismus kämpfen, wo es keine systemische Unterdrückung und Ausbeutung mehr gibt.




Türkei: Frauen wehren sich gegen Erdogans verschärfte Diktatur

Jürgen Roth, Infomail 1144, 2. April 2021

Gegen den Rückzug der Türkei aus der sogenannten Istanbul-Konvention protestierten am vorletzten Wochenende Tausende im ganzen Land.

Federstrich

Die Istanbul-Konvention war 2011 vom Europarat als europaweiter Rechtsrahmen erarbeitet worden, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und bekämpfen. Erdogan hatte damals – noch als Ministerpräsident – das Abkommen am Ort der finalen Einigung unterzeichnet. Frauenorganisationen kritisierten mehrfach, dass auf Grundlage der Konvention erlassene Gesetze von den Gerichten nicht konsequent umgesetzt wurden. Die Frauenkoalition Türkei rügte, der Ausstieg bestärke Mörder, Belästiger und Vergewaltiger. Der Europarat und der EU-Außenbeauftragte Joseph Borrell stimmten in den Chor der KritikerInnen ein. Der Chef der kemalistischen Oppositionspartei, Kemal Kiliçdaroglu, bemängelte v. a., dass Erdogan „mit einem Federstrich“ per Dekret den Austritt vollzogen habe. Auch der Abgeordnete der Deva-Partei, Mustafa Yeneroglu, kritisierte hauptsächlich die Art des Vollzugs. Ins gleiche Horn stieß sogar der AKP-Justizminister, Abdülhamit Gül, der eine Abstimmung im Parlament verlangte.

Kein Vertrauen in Staat, Parlament und Gerichte!

Frauen sind gut beraten, sich nicht auf die Justiz, den Staat und die Parlamente zu verlassen. Sie sollten ebenso wenig der Sorte „Widerständler“ vom Schlage der unsicheren Kantonisten aus AKP, CHP und Deva-Partei vertrauen. Es ist nur zu begrüßen, dass so viele spontan auf die Straßen gingen unmittelbar nach Verkündung der Entscheidung! Die türkischen Frauen brauchen die weltweite Solidarität der internationalen Frauenorganisationen und ArbeiterInnenbewegung. In Zusammenarbeit mit der ArbeiterInnenklasse sollten sie eine Massenkampagne gegen Gewalt gegen Frauen und für organisierten Selbstschutz eintreten, statt ihr Schicksal in die Hände der sexistischen Polizei zu legen. Die im Gefolge einer verheerenden Wirtschaftskrise und der Coronapandemie sind es v. a. die Frauen, die die Hauptlast tragen. Sexistische Gewalt ist „nur“ die Spitze des Eisbergs. Machtvolle Massenaktionen wie die vom vorletzten Wochenenden können im Zusammenhang mit Forderungen gegen die Auswirkungen der Krise den Auftakt bilden, um mit entsprechenden Forderungen gerüstet das Blatt in der Türkei und anderswo zu wenden:

  • Gegen Sexismus und männlichen Chauvinismus!
  • Selbstbestimmung über den eigenen Körper!
  • Gesundheitsschutz für alle!
  • Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!
  • Kampf gegen Entlassungen, Einbezug ins Berufsleben!
  • Nein zu Sozialabbau und Privatisierung – Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Erdogan krempelt die Türkei weiter um

Mit seinem Rückzug aus der Konvention bedient er den wachsenden Einfluss seiner religiös-konservativen Massenbasis. Er tauscht Führungspositionen mit seinen unmittelbaren Gefolgsleuten aus wie an der Bogaziçi-Universität. Die linke, prokurdische Partei der Völker (HDP) soll per Verbot zum Schweigen gebracht, ihr Artikulationsraum eingeschränkt werden.

Seit 2011 begibt er sich innenpolitisch immer mehr auf einen restaurativen Weg. Außenpolitisch will er das Land zu einer regionalen Hegemonialmacht formen. Zum ersten Mal seit 17 Monaten flog die Luftwaffe wieder Angriffe auf kurdische Gebiete in Syrien.

Zeitgleich mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention feuerte Erdogan den Zentralbankchef Naci Agbal. Dieser hatte den Leitzins von 17 auf 19 Prozent erhöht. Die galoppierende Inflation (im Februar 15 %, bei Nahrungsmitteln 18,4 %) will er mit niedrigeren statt höheren Zinsen bekämpfen. Unterstützung erhält er dabei von einem Konglomerat regierungsnaher Unternehmerfamilien, die von staatlichen Aufträgen profitieren. Als Halbkolonie unterliegt die Türkei einem Dilemma, ganz anders als in den imperialistischen Metropolen: Ein Absinken der eigenen Währung nutzt zwar Export und Tourismus, aber viele Unternehmen sind in Fremdwährung verschuldet, bekommen Schwierigkeiten beim Schuldendienst. Mieten und Hypotheken werden ebenfalls of in US-Dollar abgeschlossen. Schwankende Kurse führen zudem zu höheren Risikoaufschlägen bei Krediten für türkische Unternehmen. Bei Gas und Benzin spüren die Leute die Wechselkurse sofort.

Im November hatte Erdogan bereits Agbals Vorgänger entlassen, woraufhin seine Schwiegersohn, Berat Albayrak, als Finanzminister (!) zurückgetreten war. Das erneute Stühlerücken in der Zentralbank lässt Albayraks Stern wieder steigen.

Ideologisch wird diese Klientelpolitik verbrämt mit dem Rückgriff auf konservative Werte. Der neue Zentralbankpräsident, Sahap Navicioglu, steht diesem Kurs ebenso nahe wie der neue Chef des Statistikamts TÜIK, Sait Erdal Dincer. Seine beiden Vorgänger waren binnen einer guten Woche gefeuert worden. Gegen die Opposition laufen annähernd 300 Anträge auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität.

Der Protest der Frauen kann sich als Stich ins Wespennest erweisen, wenn es gelingt, ihren Kampf mit dem gegen Inflation, Pandemie, Wirtschaftskrise und für das nationale Selbstbestimmungsrecht zu verbinden. Dafür braucht es jedoch auch einen vollständigen Bruch der türkischen Linken mit ihrem stalinistischen und kemalistischen Erbe und den Kampf für eine neue, revolutionäre ArbeiterInnenpartei auf Grundlage eines Programms der permanenten Revolution.




Wir werden nie wieder schweigen! Solidarität mit Pakistans Frauenbewegung!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1142, 17. März 2021

Gewalt gegen Frauen und Fälle von Vergewaltigungen in Pakistan hatten sich in den letzten sechs Monaten des Jahres 2020 verdoppelt. Fälle von Kindesmissbrauch hatten sich gar verdreifacht. Dabei müssen wir bedenken, dass das pakistanische System notorisch dafür bekannt ist, sich durch extrem hohe Dunkelziffern auszuzeichnen. Opfer zögern oft, Anzeigen zu erstatten, da sie weiteren Missbrauch durch Polizei, RichterInnen und die Öffentlichkeit fürchten. Darüber hinaus muss in vielen solcher Fälle mit Rache oder Ehrenmorden seitens der eigenen Verwandtschaft gerechnet werden, da wie in Deutschland die meisten Missbrauchsfälle in der Familie stattfinden.

Unter diesen Umständen gingen im vierten Jahr Tausende von Frauen in den urbanen Zentren Pakistans auf die Straße, um beim so genannten Aurat March (Frauenmarsch) ihre Stimme zu erheben. Die Liga für die Fünfte Internationale sieht sich als Teil dieser Bewegung und verteidigt sie bedingungslos gegen jeden Angriff von rechts.

In der Tat war der diesjährige Frauentag eine Demonstration der Stärke und des Stolzes.  Unsere Genossinnen und Genossen, ob männlich, weiblich oder nicht-binär, nahmen überall dort teil, wo Märsche stattfanden. Der Protest war eine Bestätigung dafür, dass der Aurat March „gekommen ist, um zu bleiben“. Trotz der anhaltenden Pandemie hatten sich Tausende versammelt, um demokratische, soziale und individuelle Rechte zu fordern. Diese Forderungen beschränkten sich nicht nur auf die Frauenbewegung. Sie berührten auch die Kämpfe unterdrückter nationaler, religiöser und sexueller Minderheiten.

Selbstbestimmung!

Seit dem letzten Jahr hatten die DemonstrantInnen begonnen, den Slogan mera jism, meri marzi (Mein Körper, meine Entscheidung) zu popularisieren, einen Slogan, den wir aus tiefster Überzeugung unterstützen. Denn wir glauben, dass es die Entscheidung jeder Frau ist, ja die Entscheidung jeder einzelnen Person, einer körperlichen oder geistigen Interaktion zuzustimmen oder sie abzulehnen. Jeder Mensch muss das Recht haben, informierte Entscheidungen in Bezug auf seinen eigenen Körper und seine Handlungen zu treffen, solange sie nicht die Freiheit eines anderen einschränken. Durch die Hervorhebung dieses einfachen Konzepts der Selbstbestimmung ist der Slogan bestens geeignet, um gegen Missbrauch, Belästigung und Vergewaltigung zu kämpfen.

Denn einfach nur ein Ende des Missbrauchs zu fordern, ist zwar völlig richtig, aber eine eingeschränkte Forderung. In diesem Szenario steht immer noch die Beschneidung der Möglichkeiten des/r Missbrauchenden, in die Freiheit einer anderen Person einzugreifen, im Mittelpunkt. Der/die Missbrauchende, meist ein „Er“, bleibt das primäre Subjekt. Mera jism, meri marzi hingegen bringt klar zum Ausdruck, dass Frauen, ja alle, die mit Missbrauch konfrontiert sind wie Kinder, sexuelle Minderheiten und die Unterdrückten im Allgemeinen Subjekte in ihrem eigenen Recht sind. Nur eine Gesellschaft, die dies akzeptiert, wird Frauen als die gleichberechtigten Menschen behandeln, die sie sind. Nur eine Gesellschaft, die sich dieses Verständnis zu eigen macht, kann eine der Voraussetzungen für die Verwirklichung des vollen Potenzials der Menschheit erfüllen. Mera jism, meri marzi ist also eine zentrale demokratische Forderung. Denjenigen, die diese erheben, die Unterstützung oder den Schutz zu verweigern, stellt daher auch den demokratischen Charakter jeder Partei oder staatlichen Institution in Frage, die sich dazu entschließen sollte.

Dies ist der wahre Kontext, in dem sich der diesjährige Backlash gegen den Aurat-Marsch entfaltet hat. Pakistans rechte Mullahs, was auch immer sie behaupten, stehen Frauen keine vollen Menschenrechte zu. In ihrem Gefolge entfalteten rechte JournalistInnen und PolitikerInnen eine schändliche Hetzkampagne. Sie haben gezeigt, dass sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen und obendrein ideologisch bankrott sind.

Reaktionäre Angriffe

Anders als in den Vorjahren unterzogen sie sich in vielen Fällen nicht einmal der Mühe, reaktionäre Positionen gegen die wirklichen Argumente und Forderungen des Marsches zu formulieren. Sie starteten eine Kampagne, die in erster Linie auf Fake News und der Erstellung falscher Inhalte mit Hilfe von Deep-Fake-Technologie basierte.

Erstens: Sie behaupteten, die DemonstrantInnen hätten in Islamabad die französische Flagge getragen. Tatsächlich bezogen sie sich dabei auf die der Women Democratic Front, der Hauptorganisatorin des Aurat-Marschs in der Hauptstadt. Die Farben der Organisation sind rot, weiß und lila und stehen für Sozialismus, Frieden und Feminismus. Die Intention der Rechten war es, die Bewegung so als eine ausländische Verschwörung darzustellen.

Die Wahrheit ist jedoch, dass patriarchale Unterdrückung ein einheimisches Problem ist. Gleichzeitig ist es aber natürlich eines, das sich nicht nur auf Pakistan beschränkt. Frauenunterdrückung ist ein globales Problem und Teil des patriarchalischen Kapitalismus. Deshalb kämpfen und protestieren Frauen auf der ganzen Welt schon seit mehr als einem Jahrhundert gemeinsam gegen ihn. Das Datum des internationale Frauentags, der 8. März, geht einerseits auf einen Streik der von New Yorker Textilarbeiterinnen im Jahr 1857 zurück. Andererseits erhielt dieses Datum wegen der Februarrevolution internationale Bedeutung, nachdem russische Frauen im Jahr 1917 eine Revolution gegen Imperialismus, Ausbeutung und Krieg begonnen hatten. In den folgenden Jahren wurde der Frauentag, der bereits 1911 zum ersten Mal international begangen wurde, immer am 8. März gefeiert.

Die demokratischen Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten sind also keine westliche Verschwörung, wie es die Rechten in Pakistan darstellen. Sie sind hart erkämpfte Zugeständnisse, die den Händen der gleichen Art von mächtigen Männern und den herrschenden Klassen im Westen  entrissen wurden, die auch in Pakistan Frauen unterdrücken. Unsere Bewegung sollte nicht defensiv mit dieser Tradition des Internationalismus umgehen. Stattdessen müssen wir sowohl uns selbst als auch die pakistanische ArbeiterInnenklasse und Frauenbewegung über unsere stolzen Traditionen aufklären.

Wenn die Rechten jedoch die „ausländische“ Karte spielen, nutzen sie auf demagogische Weise  reale Gefühle des Leidens unter vergangener und gegenwärtiger imperialistischer Herrschaft aus. Dennoch wird ihre Heuchelei sofort offensichtlich, wenn wir das Schweigen dieser selbsternannten „AntiimperialistInnen“ zu Fragen des tatsächlichen Imperialismus betrachten. Diese FundamentalistInnen erhielten ihre Waffen in den 1980er Jahren von den US-Geheimdiensten, beziehen ihre Gelder von saudischen Aristokraten, schweigen zu der heutigen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorherrschaft des chinesischen und US-amerikanischen Kapitalismus in Pakistan und verteidigen gleichzeitig lauthals Gesetze wie Abschnitt 377, die von den britischen KolonialherrInnen auf den Subkontinent gebracht wurden (Red.: Abschnitt 377 ist das so genannte „Sodomie-Gesetz“). Für sie bedeutet „Antiimperialismus“, demokratische Rechte vorzuenthalten und Frauen in Fesseln zu legen.

Die Wahrheit ist also, dass die imperialistische Herrschaft durch kein rechtsnationalistisches Konzept überwunden werden kann. Dessen Politik ist immer dazu verdammt, im besten Falle antiimperialistisch in Worten zu sein, während seine tatsächliche Politik in Abhängigkeit von dem einen oder anderen imperialistischen Lager verbleibt. Der Imperialismus kann nur durch einen internationalistischen Kampf der Unterdrückten weltweit überwunden werden. In diesem Kampf spielt die pakistanische Rechte eine zerstörerische Rolle und faktisch dem Imperialismus in die Hände.

Zweitens behaupteten die Mullahs, dass die Ausstellung eines roten Tuchs mit der Aufschrift „Ich war neun, er war fünfzig. Ich wurde zum Schweigen gebracht, seine Stimme ist heute noch in der Moschee zu hören“ ein Akt der Blasphemie sei. Dies, so sagen sie, sei eine Anspielung auf den Propheten (Friede sei mit ihm) und seine (dritte) Frau Aisha. Dies ist jedoch eine Lüge. Das genannte Tuch bezog sich auf einen Qari (Red.: Schriftgelehrter), der ein junges Mädchen belästigt hatte, das zum letztjährigen Aurat March kam. Es war Teil einer Protestaktion in Lahore, bei der Opfer von Missbrauch, Belästigung und Vergewaltigung gebeten worden waren, Hemden aufzuhängen oder auf roten Schals über ihre Erfahrungen zu schreiben.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass eine große Zahl von Mullahs in Pakistan ihre Machtposition ausnutzt, um Kinder psychisch, physisch und sexuell zu missbrauchen. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von den überwiegend männlichen Geistlichen in anderen Ländern oder anderer Konfessionen. Dies ist keine Frage des Glaubens. Es ist eine Frage von mächtigen Männern, die das Vertrauen, das eine abhängige Gemeinschaft in sie setzt, ausnutzen und verletzen. Wenn jemand eine Sünde begangen hat, dann sind es diese Männer, die ihre eigenen Verbrechen gegen die Gemeinschaften, die sie zu vertreten vorgeben, zu vertuschen suchen, indem sie falsche Informationen herstellen oder verbreiten.

Drittens war ein Video des Marsches in Karatschi mit Bearbeitungsprogrammen gefälscht worden. Wo DemonstrantInnen in Wirklichkeit „Mullahs müssen auch zuhören“ riefen, hieß es nun „Allah muss auch zuhören“. Dies ist ein weiterer Versuch, die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Schuldigen abzulenken. Was der Aurat March fordert, ist, dass auch Mullahs zur Verantwortung gezogen werden müssen. Sie sind Menschen wie der Rest von uns und dürfen keine besonderen Privilegien genießen. Dass sie es wagen, sich der Rechenschaftspflicht zu entziehen, indem sie ihren Namen mit dem Allahs, subhanahu wa ta-ala, gleichsetzen, ist beschämend, geschmacklos und respektlos gegenüber den muslimischen Gemeinschaften, die sie zu vertreten vorgeben.

Doch wo Worte nichts mehr nützen, kommt Gewalt ins Spiel. Und das ist es, was diese Rechten im Sinn haben. Das ist der Grund für die Todesdrohungen der pakistanischen Taliban gegen die OrganisatorInnen des Aurat March. Unfähig, die tägliche Gewalt in ihren Häusern weiter zu verbergen, die durch die Enthüllungen, Slogans und Forderungen des Marsches offengelegt wird, drohen sie nun damit, die Gewalt auf die Straße zu bringen. Dass dies die Wahrheit ist, zeigte ein Angriff auf Mitglieder der Progressive Youth Alliance durch den fundamentalistischen Studentenflügel Islami Jamiat-e-Talaba, nur weil erstere einen Stand gegen sexuelle Übergriffe auf einem Campus in Karatschi organisiert hatten.

Perspektiven und Aufgaben

Hier müssen wir für einen Moment innehalten. Womit drohen sie uns eigentlich? Sie drohen uns, damit wir die Gewalt wieder im Geheimen ertragen. Das bedeutet aber unweigerlich, dass diese weitergeht. Das ist keine Option für uns! Wir werden nie wieder zum Schweigen gebracht werden.

Damit eröffnet sich aber ein wichtiges Szenario. Es zeigt, dass sich diese Kräfte einerseits ernsthaft bedroht fühlen. Und in der Tat, auch wenn der Aurat March heute kein sozialistisches Programm vertritt, hat es die Bewegung erfolgreich geschafft, ein wachsendes kollektives Bewusstsein von Frauen für patriarchale Unterdrückung quer durch alle Klassen zu schaffen. Dies ist eine echte Errungenschaft, die niemand leugnen kann.

Dennoch ist die Bewegung eindeutig nicht auf eine direkte Konfrontation mit rechten Kräften vorbereitet. Der ideologische Einfluss, den der Aurat March hat, ist groß, aber er muss genährt werden. Währenddessen sind die realen organisatorischen Kräfte keinesfalls vergleichbar mit jenen der Rechten. Wir dürfen zwar keine Position aufgeben, müssen aber sozusagen die Schützengräben sichern.

Praktisch bedeutet das, sich auf die Umwandlung der wachsenden Sympathien von Frauen aus der ArbeiterInnenklasse und den unterdrückten Klassen in echte Unterstützung, Beteiligung und schließlich Führung der Frauenbewegung zu konzentrieren. Das wird natürlich bedeuten, die aufgebauten Verbindungen zu den Gemeinden und Organisationen der ArbeiterInnenklasse zu vertiefen. Aber mehr als das, es wird auch bedeuten, die Probleme, Forderungen und Strategien der arbeitenden Frauen in den Vordergrund zu stellen. Aktuelle Bewegungen wie die der Gesundheitsarbeiterinnen im Punjab sind es, mit denen wir uns auseinandersetzen und letztlich verbinden müssen.

Einige haben kritisiert, dass der Aurat March nur eine eintägige Veranstaltung ist. Und ja, das ist ein Problem. Aber wir müssen diese Frage pro-aktiv begreifen. Als SozialistInnen glauben wir nicht, dass uns Kritik allein weiterbringen wird. Stattdessen rufen wir alle, die eine Bewegung arbeitender Frauen aufbauen wollen, dazu auf, unsere Kräfte, Erfahrungen und bereits bestehenden Versuche zu bündeln. Denn die einzige Kraft, auf die wir letztlich vertrauen können, ist die unsere.

Aufgrund unserer eigenen heutigen Schwäche ist es verständlich, dass Führungspersönlichkeiten und Personen des Aurat March, die zur Zielscheibe von Todesdrohungen durch die pakistanischen Taliban geworden sind, den Staat um Schutz gebeten haben. Wir erkennen an, dass sie jedes Recht haben, um rechtlichen und persönlichen Schutz zu bitten. Ebenso denken wir, dass Eröffnung von Verleumdungsklagen gegen TäterInnen, die Fake News verbreiten, um Lynchmorde zu provozieren, eine berechtigte Taktik sein kann. Nicht primär deswegen, weil so in der Zukunft derartige gestoppt werden können. Vielmehr deswegen, weil ein solcher Prozess genutzt werden kann, um der gesamten Nation medienwirksam alle Fakten darzulegen, inklusive der größten Wahrheit, dass die rechten Mullahs Lügner sind.

Wir müssen jedoch davor warnen, dass der pakistanische Staat selbst für Frauen der oberen Mittelschicht bestenfalls ein wankelmütiger Freund ist. In der Tat ist er für die breite Masse der Frauen überhaupt kein Freund. Auch wenn sich viele dessen bewusst sind, ist es wichtig, dies vollständig zu verstehen, es wirklich zu verinnerlichen, damit unsere Bewegung die richtigen Prioritäten setzen kann. Und manchmal ist das Einzige, was uns die Kraft gibt, das Richtige zu tun, uns einer beängstigenden Situation bewusst und mit aller Klarheit zu stellen.

Ungeachtet dessen ist Moral von großer Wichtigkeit. Oft entscheidet sie über den Ausgang einer Auseinandersetzung. Gemeinschaft und Solidarität zu erleben, ist das, was so vielen unserer Kämpfe Leben einhaucht. Aus diesem Grund appellieren wir an die Frauen- und ArbeiterInnenbewegung der ganzen Welt, sich mit unserer Bewegung zu solidarisieren. Wir bitten Euch, Diskussionen über unseren Kampf zu führen, Artikel über unsere Kämpfe zu veröffentlichen, Proteste zu organisieren und Botschaften der Solidarität zu senden.

Die größte Stärke unserer Bewegungen war es immer, gemeinsam zu kämpfen, in Solidarität voneinander zu lernen in unseren gemeinsamen Kämpfen gegen Unterdrückung, Kapitalismus und Imperialismus. Wir werden nicht zulassen, dass die pakistanische Rechte uns unserer größten Stärke beraubt. Wir werden nie wieder schweigen!




Geschlechterpolitischer Aufruf: Frauen für ZeroCovid

#ZeroCovid, Infomail 1142, 12. März 2021

Die Corona-Pandemie ist nicht nur eine Krise der Gesundheit. Das Virus bedroht nicht nur die Leben von Millionen von Menschen. Mit der Pandemie findet auch ein massiver Rollback in den Beziehungen der Geschlechter statt.

Darunter haben insbesondere Frauen zu leiden: sie sind überproportional stark in den Berufen vertreten, die in der Pandemie Krankenpflege und Sorgearbeit leisten. Das Maß, in dem Pflegekräfte seit einem Jahr in Verantwortung genommen worden sind, kommt einer Enteignung ihrer Körper gleich. Dass wir aufgrund des Virus vermehrt zuhause bleiben müssen, schlägt sich massiv im Bereich der häuslichen und sexuellen/sexualisierten Gewalt nieder: einer repräsentativen Studie aus Juni zufolge wurden 3,6 Prozent aller Frauen in Deutschland während der Kontaktbeschränkungen der ersten Pandemiemonate von ihrem Ehemann oder Lebensgefährten vergewaltigt – mehr als 1,5 Millionen. Eine ungeheuerliche Zahl.

Schon zu Beginn der Pandemie zeigten gesammelte Zahlen, dass Frauen berufliche Abstriche machen und unter erschwerten Bedingungen arbeiten mussten. In der Wissenschaft, zum Beispiel, lieferten sie weniger Arbeiten ab, während Männer die Krise sogar für einen Karriereschub nutzen konnten. Weil Schulschließungen zu einem wichtigen Mittel der Pandemiebekämpfung gehören, der überwiegende Teil der Verantwortung für Kinder jedoch nach wie vor an Frauen hängt, tragen sie auch hier die Last der Pandemie. Und weil Frauen sich überwiegend um die Reinigungsarbeiten im Haushalt oder um die Lebensmittelbereitung kümmern, lastet das Zuhausebleiben auch hier auf ihren Schultern.

Die Bereiche, in denen die negativen Auswirkungen der Pandemie und der bisherigen Maßnahmen vor allem von Frauen getragen werden, sind schier endlos. Sie lassen sich anekdotisch erfassen, durch empirische Studien oder statistische Wahrscheinlichkeiten, etwa derjenigen, dass Arme von Corona stärker betroffen sind, während sich der gesellschaftliche Reichtum mehrheitlich in den Händen von Männern konzentriert. Insofern sind Frauen hier Verliererinnen im doppelten Sinne. Gleichzeitig ist die individuelle Coronamoral bei Frauen oft höher als bei Männern: sie halten sich gewissenhafter an Vorgaben und Regeln, nähen und verteilen Masken und schützen durch ihre soziale Umsicht die Menschen um sich herum. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass sie als diejenigen, die hauptsächlich Kranke pflegen, einem größeren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Es ist deprimierend.

Frauen haben darum als politische Klasse ein besonderes Interesse, dass die Corona-Pandemie ein baldiges Ende findet. Sie sind nicht nur gesundheitlich bedroht: ihre Bedrohung ist psychisch, physisch, ökonomisch, sozial und sexuell. Frauen sind von einem rapiden Verlust ihres sowieso schon prekären gesellschaftlichen Status bedroht.

Alle bisherigen Maßnahmen, die Corona-Pandemie einzudämmen, folgten dem Leitgedanken, bloß die Wirtschaft nicht anzutasten. Doch konnte bislang nicht nachgewiesen werden, dass Viren an den Toren der Betriebe, Werke, Schulen und Büros halt machen. Ganz im Gegenteil: die in den letzten Monaten eingeführten, zögerlichen Maßnahmen haben keinen ausreichenden Rückgang des Infektionsgeschehens erzielt. Die Zahl der Sterbenden steigt immer weiter. Die Strategien der europäischen Regierungen verlängern die Pandemie, statt sie zu beenden. Das liegt daran, dass das Ende der Pandemie bislang niemals ernsthaft erwägt worden ist. „Flatten the curve“, also ein durch Maßnahmen kontrolliertes Infektionsgeschehens unterhalb der Schwelle des Zusammenbruchs der Gesundheitssysteme, ist gescheitert. Das gesellschaftliche, kulturelle und private Leben ist seit Monaten eingeschränkt, zulasten aller Marginalisierten und zulasten der Frauen. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Alle, die darüber hinaus aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität marginalisiert sind, leiden im Besonderen unter der Krise. Die Schließung öffentlicher Orte betrifft etwa auch queere Communities stark. Die Favorisierung der Kernfamilie denkt andere Formen des Zusammenlebens und Zusammenkommens nicht mit. Von der Schließung betroffen waren auch Unterstützungsangebote bei Gewalt und Diskriminierung.

Darum braucht es einen radikalen Strategiewechsel. Das Ziel der Maßnahmen darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen bestehen. Es muss Null lauten – andernfalls werden die Werte nach einer Lockerung der Maßnahmen wieder in die Höhe steigen. Zero Covid!

Frauen haben ein besonderes Interesse an einer solchen neuen Strategie eines solidarischen Lockdowns mit dem Ziel von 0 Infektionen. Sie gehören zu den größten Leidtragenden der endlosen, halbgaren Einschränkungen. Sie wollen, dass die Pandemie beendet wird – damit auch der Zustand ein Ende findet, in dem sie unverhältnismäßig in Verantwortung genommen werden, einen unverhältnismäßigen Preis zu zahlen haben.

Wir schließen uns aus diesen Gründen dem am 12. Januar veröffentlichten Aufruf der Initiative Zero Covid an – als Frauen, als große Leidtragende der Pandemie. Dabei ist uns bewusst, dass die Gruppe der Frauen in sich vielfältig ist. Frauen sind sehr unterschiedlich den Lasten der Pandemie ausgesetzt: solche mit geringem Einkommen, prekär beschäftigte oder von Rassismus und Ausgrenzung betroffene Frauen. Transgeschlechtliche Frauen, die auf Leistungen eines Gesundheitssystems in der Krise angewiesen wären. Frauen, insbesondere queere Frauen, deren Familienleben sich nicht in der “Kernfamilie” abspielt, die in den Maßnahmenkatalogen erwähnt sind, hatten noch stärker unter Isolation zu leiden Frauen, die in Heimen und Pflegeeinrichtungen zu leben haben, weil sie von der Gesellschaft darin behindert werden, ein eigenständiges Leben zu führen. Für Frauen in Ländern, in denen Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert sind, sind die Schließung von Grenzen und die Einschränkung der Reisemöglichkeiten ein großes Problem. Alleinerziehende Frauen, die sich nun auch noch um die private Beschulung ihrer Kinder kümmern sollen. Sie alle und viele mehr leiden aufgrund vielfältigen Marginalisierungen.

Wir sind überzeugt, dass die Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie nur mit solidarisch ausgestalteten politischen Maßnahmen gelingen kann. Darum schließen wir uns folgenden Forderungen im Rahmen einer Kampagne für eine Zero-Covid-Strategie an:

1. Gemeinsam runter auf Null: Das erste Ziel ist, die Ansteckungen auf Null zu reduzieren. Um einen Ping-Pong-Effekt zwischen den Ländern und Regionen zu vermeiden, muss in allen europäischen Ländern schnell und gleichzeitig gehandelt werden. Wenn dieses Ziel erreicht ist, können in einem zweiten Schritt die Einschränkungen vorsichtig gelockert werden. Die niedrigen Fallzahlen müssen mit einer Kontrollstrategie stabil gehalten und lokale Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden. Wir brauchen drittens auch eine gemeinsame langfristige Vision – und auf deren Basis regionale und nationale Aktionspläne. Diese beinhalten Screening- und Impfstrategien, Schutz von Risikogruppen und Unterstützung der Menschen, die besonders stark von der Pandemie betroffen sind.

Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine solidarische Pause von einigen Wochen. Shutdown heißt: Wir schränken unsere direkten Kontakte auf ein Minimum ein – und zwar auch am Arbeitsplatz! Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden. Diese Pause muss so lange dauern, bis die oben genannten Ziele erreicht sind. Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen. Mit diesem Aufruf fordern wir auch die Gewerkschaften auf, sich entschlossen für die Gesundheit der Beschäftigten einzusetzen, den Einsatz von Beschäftigten für ihre Gesundheit zu unterstützen und die erforderliche große und gemeinsame Pause zu organisieren.

2. Niemand darf zurückgelassen werden: Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig. Die Menschen, die von den Auswirkungen des Shutdowns besonders hart betroffen sind, werden besonders unterstützt – wie Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in einem gewalttätigen Umfeld, Obdachlose. Sammelunterkünfte müssen aufgelöst, geflüchtete Menschen dezentral untergebracht werden. Menschen, die im Shutdown besonders viel Betreuungs- und Sorgearbeit leisten, sollen durch gemeinschaftliche Einrichtungen entlastet werden. Kinder erhalten Unterricht online, notfalls in Kleingruppen.

3. Ausbau der sozialen Gesundheitsinfrastruktur: Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich muss sofort und nachhaltig ausgebaut werden. Dies gilt auch für Gesundheitsämter und Behörden, die für das Verfolgen der Infektionsketten zuständig sind. Das Personal muss in diesem Bereich aufgestockt werden. Die Löhne sind deutlich anzuheben. Das Profitstreben im Gesundheits- und Pflegebereich gefährdet die kollektive Gesundheit. Wir verlangen die Rücknahme bisheriger Privatisierungen und Schließungen. Die Finanzierung von Krankenhäusern über Fallpauschalen sollte durch eine solidarische Finanzierung des Bedarfs ersetzt werden.

4. Impfstoffe sind globales Gemeingut: Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen. Öffentliche und private Unternehmen müssen umgehend die erforderliche Produktion von Impfstoffen vorbereiten und durchführen. Impfstoffe sollten der privaten Profiterzielung entzogen werden. Sie sind ein Ergebnis der kreativen Zusammenarbeit vieler Menschen, sie müssen der gesamten Menschheit gehören.

5. Solidarische Finanzierung: Die notwendigen Maßnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen problemlos finanzierbar. Darum verlangen wir die Einführung einer europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen.

Unterschriften: https://zero-covid.org/geschlechterpolitischer-aufruf-frauen-fuer-zerocovid/




Corona, Krise und doppelte Belastung der Frauen

Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9

Seit mehr als einem Jahr stellt die Pandemie unser Leben auf den Kopf. Rund 110 Millionen Menschen sind (Stand: Mitte Februar 2021) offiziell am Corona-Virus erkrankt, beinahe 2,5 Millionen sind verstorben. Ausgangsbeschränkungen, Atemschutzmasken, Arbeitslosigkeit – die Liste mit Dingen, die nun zu unserem Alltag gehören, ist lang. Angst um Freund_Innen, Familie, die eigene Existenz. Gerade Letzteres stellt sich für viele Arbeitende.

Denn das Corona-Virus hat eine Wirtschaftskrise, die sich bereits vorher abzeichnete, ausgelöst und massiv verschärft. Unter anderem, da – anders als bei der Finanzkrise 2007/08 – fast alle Länder gleichzeitig erfasst wurden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht in einem Bericht davon aus, dass die Pandemie alle Fortschritte in der Bekämpfung der globalen Armut seit den 1990er Jahren zunichtegemacht hat. Die soziale Ungleichheit hat sich 2020 drastisch weiter verstärkt. Das bedeutet, dass jene, die schon vorher am Existenzminimum gelebt haben, noch weniger besitzen sowie kleinere Verbesserungen, die in den letzten Jahren errungen werden konnten, verschwinden.

Die Krise heißt Kapitalismus

Als Ergebnis der Finanzkrise 2007/08 konnten wir in den letzten Jahren eine stetige Zuspitzung von imperialistischen Konflikten wahrnehmen – ob durch Interventionen in der Ukraine, Syrien, die stetigen Drohungen gegen den Iran oder den Handelskrieg zwischen den USA und China. Gerade Letzterer stellt eine direktere Konfrontation zwischen zwei imperialistischen Mächten dar, bei der es nicht nur um ein bloßes Kräftemessen geht. Vielmehr ist es die Zuspitzung der Frage, welche Kraft den Weltmarkt in ihrem Interesse neu gestaltet – die niedergehende, über Jahrzehnte vorherrschenden USA oder China als neue, aufstrebende Macht. Die jetzige Krise wird die Verteilungskrise und den existierenden Machtkampf massiv verstärken. Die Frage der Verfügbarkeit medizinischer Versorgung, insbesondere des Impfstoffes, ist in mehrfacher Weise mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden.

Zum Ersten sichern sich alle imperialistischen Mächte einen privilegierten Zugang zu den Impfstoffen und räumen den Markt faktisch leer. Hinzu kommt, dass die großen Konzerne, die fast ausschließlich in den kapitalistischen Zentren angesiedelt sind, für Jahre enorme Monopolprofite wittern, auf Patentrechten und damit dem Ausschluss von Milliarden Menschen vom bezahlbaren Zugang zu den Impfstoffen beharren. Während die Bevölkerung der imperialistischen Staaten bis Ende 2021 geimpft werden kann, sollen in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens selbst „optimistischen“ Vorhersagen zufolge nur 20 % diesen Schutz erhalten.

Die dramatisch wachsende globale Verschuldung verschärft die Ungleichheit noch weiter. Während die USA, China oder auch die EU mit Milliardenausgaben die unmittelbaren Wirkungen der Krise kurzfristig mildern und Konjunkturprogramme auf den Weg bringen können, ist dieser Weg den meisten Ländern des globalen Südens verschlossen. Sie können allenfalls auf eine kurzfristige Aussetzung des Schuldendienstes für über den IWF oder andere Institutionen vermittelte Kredite hoffen. Diese Last wird sie noch mehr von den Zentren der Weltwirtschaft und des Finanzkapitals abhängig machen – mit extremen Folgen für Milliarden Lohnabhängige, Bauern und Bäuerinnen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass selbst wenn die imperialistischen Zentren durch Impfungen wieder versuchen, zum Regelbetrieb zurückzukehren, die Lage sich nicht von alleine entspannen wird. Während die nationalen Regierungen für größere Konzerne Rettungspakete schnüren, wird versucht werden, die entstandenen Kost auf die Arbeiter_Innenklasse abzuwälzen: Massenentlassungen, Einsparungen im sozialen Bereich neben der stetigen Gefahr von Mutationen des Virus, die gegen den Impfstoff resistent sind. Es stellt sich also die Frage: Wer zahlt für die Kosten der Krise und die Folgen der Pandemie? Und während der Machtkampf unter den Kapitalfraktionen noch läuft, ist zugleich klar, dass sie alle versuchen werden, die Kosten auf die Arbeiter_Innenklasse abzuwälzen. Im Folgenden wollen wir einen Überblick darüber geben, wie die Belastung für Frauen aus der ArbeiterInnenklasse seit Ausbruch der Pandemie zugenommen hat, welchen Problemen sie sich verschärft gegenübersehen, um dann auf die Ursachen der Unterdrückung und die Frage des Kampfes dagegen einzugehen. Schließlich stellen sie einen maßgeblichen Teil der Arbeiter_Innenklasse dar und haben aufgrund ihrer sozialen Unterdrückung mit spezifischen Angriffen zu kämpfen.

Frauen sind in vielen der am stärksten von Covid-19 betroffenen Branchen überrepräsentiert, z. B. in der Gastronomie, im Einzelhandel und in der Unterhaltungsbranche. So arbeiten 40 Prozent aller erwerbstätigen Frauen – 510 Millionen weltweit – in den am stärksten betroffenen Branchen, verglichen mit 36,6 Prozent der erwerbstätigen Männer. International stellen Frauen 70 % des Personals in sozialen und Pflegeberufen.

Kurzarbeit und Entlassungen

Auch die ersten großen Entlassungswellen betrafen vor allem Sektoren, in denen Frauen überrepräsentiert sind wie Einzelhandel, Gastgewerbe und Tourismus. Eine statistische Erhebung aus den USA zeigt, dass Frauen in verschiedenen Branchen stärker vom Arbeitsplatzverlust betroffen sind als Männer. Im Freizeit- und Gastgewerbe waren vor der Pandemie 52 % der Beschäftigten Frauen, aber 54 % der Entlassenen sind weiblich. Im Bildungs- und Gesundheitswesen stellten Frauen 77 % der Arbeitskräfte, aber 83 % der Entlassenen; im Einzelhandel 48 % der Beschäftigten, 61 % der Arbeitsplatzverluste; in den Kommunal- und Landesverwaltungen schließlich 58 % der Belegschaften, aber 63 % der Freigesetzten.

Laut Zahlen der ILO verdienten 2018 61 % der globalen Erwerbsbevölkerung (2 Milliarden Menschen) ihren Lebensunterhalt in der informellen Wirtschaft, davon sind rund 50 % Frauen. Für diese Menschen bedeutet das, dass sie über keinen einklagbaren Arbeitsvertrag, keine Arbeitslosenversicherung oder damit vergleichbare Absicherung verfügen.

Frauen stellen zwar die Hälfte der Menschen im informellen Sektor, sie sind aber vor allem im globalen Süden überrepräsentiert. So arbeiten in Südasien über 80 % aller Frauen außerhalb der Landwirtschaft im informellen Sektor, in den Ländern südlich der Sahara 74 %, in Lateinamerika und der Karibik 54 %.

Besonders betroffen von der Krise sind oft WanderarbeiterInnen. So haben in Indien mindestens 40 Millionen ArbeitsmigrantInnen von heute auf morgen ihren Job und ihre Unterkunft verloren. Sie müssen 100 – 1.000 Kilometer zurück zu ihren Familien reisen, denen sie meistens selbst Geld schicken, also die sie eigentlich finanzieren. Schätzungen gehen davon aus, dass 660.000 bis 1,5 Millionen MigrantInnen in Lagern untergebracht wurden, wo sie minimale Essensrationen erhielten.

Frauen sind jedoch nicht nur als überausgebeutete Lohnarbeiterinnen betroffen. In vielen Ländern der halbkolonialen Welt waren sie im Zuge von „Entwicklungshilfe“ oft auch Empfängerinnen sog. Mikrokredite. In Jordanien beispielsweise erhielten rund 70 % der Frauen solche. Unter den Bedingungen von Corona und der Krise können viele ihre Raten nicht mehr tilgen, sind nicht zahlungsfähig, was in manchen Ländern mit Gefängnisstrafe geahndet werden kann.

Wir sehen anhand dieser Beispiele, dass arbeitende Frauen auch ökonomisch besonders stark von der Krise betroffen sind – und diese wird so schnell nicht nachlassen.

Gesundheit

Aufgrund der Pandemie liegt der Fokus des Gesundheitssystems auf der Bekämpfung der Krankheit. Dies ist an sich sinnvoll. Aber da es ohnedies schon einen Mangel an medizinischem Personal und Einrichtungen gibt, bedeutet das auch, dass diese anderswo fehlen. So können wir aktuell in vielen Ländern einen Anstieg der Mütter- und Kindersterblichkeit beobachten.

Der Zugang zu hygienischen Produkten und Verhütungsmitteln wird durch Verdienstausfälle erschwert, deren Produktion teilweise ausgesetzt. In Indien wurden während der ersten Wochen des Lockdowns Binden nicht als essentiell betrachtet. Mädchen hatten aufgrund der Schließung von Schulen keinen Zugang. NGOs und Hilfsorganisationen schätzen, dass allein in Indien mindestens 121 Millionen Frauen keinen Zugriff auf Güter zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse hatten, wobei ländliche Regionen und Kleinstädte besonders betroffen waren.

Zusätzlich wird der ohnedies schon eingeschränkte Zugang zu Abtreibungen weiter erschwert. UN-Schätzungen zufolge könnte die Corona-Krise zu 7 Millionen ungewollten Schwangerschaften führen. Zum einen, da der Zugang zu Verhütungsmitteln erschwert ist, zum anderen, da die sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen massiv zugenommen hat und sie noch mehr an die Familie und damit an Ehemänner gebunden sind. Dort, wo Schwangerschaftsabbrüche legal sind, wurde der Zugang zu Beratungsgesprächen massiv eingeschränkt, da viele Praxen und Familienplanungszentren ihr Angebot reduzierten. In 8 US-Bundesstaaten liefen während des ersten Lockdowns Verfahren, da Abtreibungen auf die Liste der „nicht dringlichen“ medizinischen Behandlungen gesetzt worden sind.

Gewalt gegen Frauen

Zugleich verschärft sich die Lage der Frauen in Familien und Beziehungen. Der Bevölkerungsfonds der UN (United Nations Population Fund, bis 1987: United Nations Fund for Population Activities; UNFPA) rechnet mit 31 Millionen zusätzlichen Fällen von häuslicher Gewalt in 6 Monaten des Lockdowns. Wir haben es hier mit einem globalen, keinesfalls mit einem regionalen Problem zu tun.

In Frankreich nahmen mit der Ausgangssperre 2020 die Fälle häuslicher Gewalt um 30 Prozent zu. Die französische Regierung kündigte zudem an, bis zu 20.000 Zimmern in Hotels für Betroffene zu reservieren, in französischen Einkaufszentren wurden 20 Beratungsstellen eingerichtet.

Allein in den ersten beiden Aprilwochen 2020 gab es im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen 47 %igen Anstieg der Anrufe bei der spanischen Hotline für häusliche Gewalt. Die Zahl der Frauen, die sich per E-Mail oder über soziale Medien an die von der Regierung als wesentlich eingestuften Unterstützungsdienste wandten, soll um bis zu 700 % gestiegen sein. Sichtbar wird das Ausmaß des Problems, wenn man die bestehende Infrastruktur für von Gewalt betroffene Frauen betrachtet.

So mangelt es in Deutschland seit Jahren an Plätzen in Frauenhäusern. Bis heute stehen rund 6.800 Plätze zur Verfügung, obwohl sich Deutschland schon 2017 verpflichtet hat, mindestens 21.400 zu schaffen. Kurzfristig hätte hier durch Nutzung leerstehenden Wohnraums, wegen der Pandemie nicht belegter Hotels und Ferienwohnungen etwas Abhilfe geschaffen werden können – doch Fehlanzeige. Hinzu erschweren die soziale Isolierung und Quarantäne die Lage der Frauen. Mit Tätern eingeschlossen, kannst du nicht einfach verschwinden und dich um die Kinder kümmern, die ebenfalls krasser Gewalt ausgesetzt sind.

Homeoffice und unbezahlte Hausarbeit

Grundsätzlich leisten Frauen nach wie vor weit mehr unbezahlte Hausarbeit als Männer. Im Zuge von Corona wurden Schulen und Kindergärten geschlossen, ist Pflegeunterstützung im Haus oft weggefallen oder reduziert.

Hinzu kommt, dass Homeoffice und Kinderbetreuung nur schwer vereinbar sind. Das zeigt sich in Deutschland daran, dass 40 % der Personen mit Kindern unter 14 Jahren die Tätigkeit im Homeoffice als äußerst oder stark belastend einschätzen gegenüber 28 Prozent der Befragten ohne Kinder. 1,5 Millionen Alleinerziehende – davon sind 90 % Frauen – sind noch mal stärker betroffen.

Ein Teufelskreis

Viele Frauen arbeiten im Caresektor und in sog. systemrelevanten Berufen. Sie sind oft einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt, gleichzeitig aber auch von Entlassungen am stärksten betroffen. Das bindet sie ökonomisch stärker an die Familie, macht sie schutzloser gegenüber häuslicher Gewalt. Zusätzlich steigt die reproduktive Arbeit, die im Haushalt getätigt werden muss, was die Doppelbelastung der Frauen erhöht. Sie werden also unter Bedingungen einer kapitalistischen Krise, die durch die Pandemie verstärkt wird, mehr in die klassische, reaktionäre Geschlechterrolle gedrängt. Auch wenn jetzt die Kontaktverbote gelockert werden, wird es keine Rückkehr zur ohnedies zweifelhaften „Normalität“ geben. Vielmehr drohen im Zuge der Wirtschaftskrise mehr Entlassungen und massive Sozialkürzungen.

Warum ist das so?

Um die aktuelle Situation zu verändern, ist es essentiell zu verstehen, warum Corona sowie die Wirtschaftskrise Frauenunterdrückung verstärken und woher diese überhaupt kommt. Dazu gibt es zahlreiche theoretische Ansätze und diverse Lösungen von verschieden feministischen Strömungen, auf die wir an dieser Stelle nicht eingehen können. Stattdessen beschäftigen wir uns mit der Position von Revolutionär_Innen.

Frauenunterdrückung existierte schon lange vor dem Kapitalismus und nahm in allen Klassengesellschaften eine systematische Form an. So war z. B. die bäuerliche Familie im Feudalismus Produktions- und Reproduktionseinheit. Für den Kapitalismus ist freilich typisch, dass sich die Funktion von Haushalt und Familie für die unterdrückte Klasse gegenüber früheren Klassengesellschaften ändert. Im Kapitalismus werden Produktion und Reproduktion getrennt und natürlich hat die Familie/PartnerInnenschaft für die ArbeiterInnenklasse und für die besitzenden Klassen auch eine unterschiedliche Funktion. Für Erstere dient sie in erster Linie zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft, während sie für KapitalistInnen essentiell für die Vererbung der Produktionsmittel ist.

Auch wenn dieses „Ideal“ der ArbeiterInnenfamilie global betrachtet oft gar nicht der Realität entspricht, so übernimmt der Kapitalismus eine schon vorher existierende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die dadurch, dass der Lohn des Mannes als „Familienlohn“ gesetzt wird, während die Frau nur „dazuverdient“, selbst befestigt und reproduziert wird. Die bürgerliche Familie, die auch als Norm in der ArbeiterInnenklasse ideologisch und repressiv durchgesetzt wird gegenüber anderen Formen, reproduziert die geschlechtliche Arbeitsteilung und diese verfestigt wiederum die Familie als scheinbar „natürliche“ Form des Zusammenlebens.

Warum sind Frauen stärker betroffen?

Diese Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung bedeutet auch, dass Frauen oft von Krisen besonders stark betroffen sind. Gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Das heißt nicht, dass es nicht nützliche Arbeiten sind. Aber da sie sich nicht im gleichen Maßstab wie andere, z. B. industrielle, verwerten lassen, erscheint z. B. Carearbeit im öffentlichen Krankenhaus oder die Arbeit der Erzieherin in einer Kita nur als Kostenfaktor, der gefälligst reduziert oder ganz eingespart werden soll.

Daher verbleibt auch die individuelle Kindererziehung, Pflege von Alten in der Familie – und es erziehen und pflegen dabei in erste Linie Frauen. Dabei kann diese Operation durchaus widersprüchlich sein, weil eigentlich auch das gesellschaftliche Gesamtkapital unter bestimmten Bedingungen mehr weibliche Arbeitskraft und damit auch eine teilweise Vergesellschaftung der Hausarbeit (z. B. durch mehr Kindergärten, bessere Kantinen …) braucht.

In Krisenzeiten müssen aber Kosten gespart werden durch Absenkung der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit, Kurzarbeit, Entlassungen, aber auch und vor allem durch Kürzungen im sozialen Bereich insgesamt. Frauen fungieren so als „flexible“ Aufstockerinnen, besonders leicht verschiebbarer Teil der industriellen Reservearmee, die zuerst ins Private gedrängt werden und sich eher um Familie kümmern, aber bei besserer Konjunktur auch wieder leicht und schlechter bezahlt einsetzbar sind.

Wir sehen hier also auch, woher der Gender Pay Gap (geschlechtsspezifischer Lohn- und Gehaltsunterschied) kommt. Der Lohn des Mannes wird historisch als Familienlohn gesetzt (der auch die Kosten zur Reproduktion der Familie einschließt). Die Arbeit der Frau erscheint dabei nur als „Zuschuss“, als „Aufstocken“. Das Ganze bildet einen Elendskreislauf, der sich in einem gewissen Maß selbst reproduziert: Basierend auf der geschlechtlichen Arbeitsteilung geht der Mann arbeiten, weil er mehr verdient – und weil der Mann mehr verdient, bleibt die Frau zu Hause. Somit reproduziert sich die geschlechtliche Arbeitsteilung gleich mit.

Kämpfe der ArbeiterInnen- und der Frauenbewegung haben zwar wichtige Verbesserungen errungen, aber eine wirkliche Gleichheit konnte nie erreicht werden, weil die unterschiedlichen Löhne in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und im privaten Charakter der Hausarbeit wurzeln. Gerade in Krisen stehen wir immer wieder vor der Gefahr eines Rollbacks.

Forderungen

Auch wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen in den verschiedenen Ländern und Regionen sehr unterschiedlich darstellen, so gibt es doch einige gemeinsame Forderungspunkte, die für eine internationale Bewegung von großer Bedeutung sind:

Gesundheitsschutz für alle!

Kostenloser Zugang für alle, insbesondere auch Frauen aus dem „globalen Süden“, zu Gesundheitsversorgung sowie zu Corona-Impfstoffen und -Tests. Die Produktion und Verteilung der Impfstoffe muss der Kontrolle der privaten Konzerne entzogen werden. Nein zum Impfstoff-Nationalismus der imperialistischen Staaten, für die Aufhebung der Patente und einen internationalen Plan zu raschen Produktion und Verteilung. Streichung der Schulden der Länder der „Dritten Welt“ und Finanzierung der Gesundheitsversorgung und der Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung (inklusive der Versorgung bei Quarantänemaßnahmen) durch einen internationalen Plan, finanziert von den reichen Ländern und durch die Besteuerung von Vermögen und Kapital!

Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Dies beinhaltet auch Forderungen wie jene nach einem Mindestlohn oder nach Abschaffung aller Formen informeller, prekärer Arbeit durch tarifliche Löhne und Gehälter, verknüpft mit der nach Kontrolle dieser Maßnahmen durch Komitees der ArbeiterInnenklasse, insbesondere der Lohnarbeiterinnen. Keine Entlassungen und volle Bezahlung aller Beschäftigen während der Lockdowns bei Schließung aller nicht-essentiellen Wirtschaftsbereiche, um eine Zero-Covid-Strategie durchzusetzen. Anhebung der Renten, Arbeitslosenunterstützung zumindest auf Höhe des Mindestlohns. Kontrolle der Gewerkschaften und von Ausschüssen der ArbeiterInnen über diese Maßnahmen.

Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Diese muss das Recht auf Empfängnisverhütung, die kostenlose, sichere und frei zugängliche Abtreibung beinhalten. Sie inkludiert auch den Schutz vor häuslicher Gewalt, Scheidungsrecht, rechtliche Gleichheit, den massiven Ausbau von Schutzräumen wie Frauenhäusern sowie den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees gegen Gewalt und Übergriffe, die von der ArbeiterInnenbewegung unterstützt werden.

Kampf gegen Entlassungen, Einbezug ins Berufsleben!

Der Kampf gegen Entlassungen muss sich auch gegen die von Frauen richten. Alle rechtlichen Benachteiligungen, alle Formen von Sexismus und Diskriminierung im Berufsleben müssen offensiv bekämpft werden. Der Kampf gegen Entlassungen muss mit dem für eine massive Verkürzung der Arbeitszeit verbunden werden, so dass die Arbeit unter alle, Männer wie Frauen, aufgeteilt werden kann.

Nein zu Sozialabbau und Privatisierung – Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Statt weiterer Kürzungen müssen wir für den Ausbau von Schulen, Bildungseinrichtungen, öffentlichen Krankenhäusern, Kultureinrichtungen usw. unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse eintreten. Dies ist absolut notwendig, um dem weiteren Rollback und der Zunahme privater Hausarbeit entgegenzutreten. Letztlich besteht die Aufgabe darin, die gesamte Hausarbeit zu vergesellschaften, so dass lebenswichtige Aufgaben wie Kindererziehung und Sorge um Alte und Kranke nicht mehr individuelle Last von Frauen bleiben, sondern kollektiv angepackt werden.

Gegen Sexismus und Chauvinismus!

Beim Aufbau einer internationalen Bewegung gegen Pandemie und Krise müssen Frauen und ihre Forderungen eine Schlüsselrolle einnehmen. Doch ihre Unterdrückung in der Gesellschaft findet nur allzu oft ihre Fortsetzung in der reformistischen und bürokratisierten ArbeiterInnenbewegung. Daher ist es notwendig, dass sie sich gegen alle Formen des Sexismus und Chauvinismus in unserer Klasse auch organisiert zur Wehr setzen können und wie alle anderen sozial Unterdrückten in Parteien oder Gewerkschaften das Recht auf eigene Treffen (Caususes) haben. Mit den Frauen*streiks der letzten Jahre hat sich eine globale Kraft zu formieren begonnen, die das Potential besitzt, zu einer internationalen proletarischen Frauenbewegung zu werden. Diese stellt für den gemeinsamen Kampf von Männern und Frauen der ArbeiterInnenklasse kein Hindernis, sondern vielmehr eine Voraussetzung zu einem wirklichen, gemeinsamen Kampf gegen Frauenunterdrückung und Kapitalismus dar.




Neues Abtreibungsrecht in Polen – dunkle Zukunft für Frauen

Arya Wilde, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9

Der 27. Januar 2021 erwies sich als ein dunkler Tag in der polnischen Geschichte. Ein fast vollständiges Abtreibungsverbot trat in Kraft, das Frauen die Rechte über ihren Körper verweigert und dies mit dem Begriff „Pro Life“ verherrlicht. Kämpferische Proteste, die im ganzen Land nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ((Trybunał Konstytucyjny; Verfassungstribunal) vom 22. Oktober stattfanden, hatten dessen Inkrafttreten über Monate verzögert. Ende Januar veröffentlichte Staatspräsident Andrzej Duda jedoch den Gerichtsbeschluss, der somit in Kraft tritt.

Bedeutung des Gesetzes

Mit der neuen Entscheidung wurde eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft. Schon seit Jahrzehnten werden bei einer Bevölkerung von 38 Millionen höchstens 2.000 Schwangerschaftsabbrüche legal durchgeführt, im Jahr 2019 1.100. 97 % fanden aufgrund Missbildung des Fötus statt, was nun verboten ist. Die geschätzte Gesamtzahl von Abtreibungen liegt FrauenrechtlerInnen zufolge bei mindestens 150.000/Jahr. Konkret müssen also zehntausende Polinnen im Untergrund oder mit Abtreibungspillen zu Hause abtreiben bzw. nach Deutschland oder Tschechien fahren. Nun dürfen nur noch Frauen, deren Gesundheit oder Leben gefährdet ist oder die infolge einer kriminellen Handlung schwanger wurden, legal Abtreibungen vornehmen lassen. Alle anderen, Frauen mit finanziellen, sozialen Hindernissen oder jene, die einfach kein Kind wollen, haben nicht das Recht, sich zu weigern, eines auf die Welt zu bringen.

Situation in Polen

In Polen ist seit 2015 die rechtskonservative Prawo i Sprawiedliwość (kurz: PiS: dt.: Recht und Gerechtigkeit) an der Regierung und wurde damals von 37,6 % gewählt. Aufgrund des undemokratischen Wahlrechts reichte dies zur absoluten Mehrheit im Parlament. Der Erfolg der PiS ist auch Ausdruck des internationalen Rechtsrucks. Die seitdem verabschiedeten reaktionären Gesetze und unternehmensfreundliche Politik sorgten aber nicht für einen Umschwung, nicht zuletzt dank einiger Zugeständnisse auch an ärmere konservative WählerInnenschichten (Familienunterstützung). Vielmehr vollzog sich der Rechtsruck weiter und bei der Wahl 2019 gewann die PiS nochmals 6 % der Stimmen hinzu. Zum Vergleich: Lewica, das linke Wahlbündnis aus SLD, Wiosna, Razem, Polska Partia Socjalistyczna (PPS) u. a., erhielt insgesamt 12,6 %.

Im Rahmen der PiS-Legislatur wurden sehr viele Gesetze erlassen, die das öffentliche Leben sowie die Institutionen verändern. Eine der ersten Institutionen, die fundamentalen Veränderungen ausgesetzt war, war das Verfassungsgericht. Zwischen Oktober 2015 und Dezember 2016 brachte die PiS sechs Gesetze durch, die diesen Gerichtshof betrafen. Ebenso wurde in den letzten fünf Jahren seine Zusammensetzung maßgeblich verändert. Von 15 RichterInnen wurden 14 durch die aktuelle Regierungsmehrheit ernannt.

Warum werden Abtreibungen verboten?

Seit 2016 hat die PiS immer wieder Versuche unternommen, das Abtreibungsgesetz zu verschärfen. Dieses wurde aber aufgrund der massiven Gegenbewegung und Frauenstreiks nicht umgesetzt. 2019 wurde dann der Antrag eingereicht, dass das kontrollierte Verfassungsgericht die Frage der Abtreibung ein für alle Mal klären sollte. Fast ein Jahr nach Einreichung des Antrags traf der Verfassungsgerichtshof seine Entscheidung – inmitten der Corona-Pandemie. Diese aggressive reaktionäre Politik entspricht dem rechtspopulistischen Charakter der gegenwärtigen Regierung.

Mit dem faktischen Totalverbot von Abtreibungen geht es auch darum, eine reaktionäre, kleinbürgerliche Massenbasis bei der Stange zu halten und gegen eine angebliche Bedrohung von außen zu mobilisieren. Nationalismus und vor allem der Katholizismus bilden hierfür die ideologischen Anknüpfungspunkte, um eine klassenmäßig heterogene AnhängerInnenschaft – von der eigentlichen Elite und Staatsführung bis zu kleinbürgerlichen Schichten und rückständigen ArbeiterInnen in Stadt und Land – zu sammeln. Daher finden sich im Schlepptau von Kirche und PiS auch die extrem nationalistischen und faschistischen Kräfte unter den AbtreibungsgegnerInnen, die seit Jahren sexuell Unterdrückte und deren Aktionen angreifen – geduldet oder gar ermutigt von Polizei und Kirche.

Dem Volksglauben nach ist der Grund für das Abtreibungsgesetz rein religiöser Natur. Es ist aber offensichtlich, dass es beim Antiabtreibungsmythos nicht um das Wohl ungeborener Kinder geht. Vielmehr geht es um den Erhalt einer patriarchalen Ordnung. Die bürgerliche Familie muss um jeden Preis gestärkt werden. Das passiert nicht aus Liebe oder „christlichen Werten“. Das Abtreibungsverbot fesselt Frauen länger an den Herd und raubt ihnen die Entscheidung, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Davon profitiert die herrschende Klasse, dass durch die Stärkung der Familie Reproduktionskosten auf die ArbeiterInnenklasse abgewälzt werden können. Ebenso ist sie eine Garantin dafür, im nationalen Rahmen billige Arbeitskräfte für die Zukunft zu schaffen und in ihr Gehorsam und Unterordnung zu verinnerlichen.

Gleichzeitig trifft das Verbot nicht alle Frauen gleich. Für die Mehrheit der Arbeiterinnen werden Abtreibungen unter extrem unsicheren Bedingungen durchgeführt, da sie es sich oftmals nicht leisten können, medizinische Versorgung in einem anderen Land wahrzunehmen. Ebenso ist der Zugang zu Verhütungsmitteln eingeschränkter aufgrund der Kosten. Für Bourgeoisie und KleinbürgerInnen gilt das Verbot auch, sie verfügen jedoch eher über die nötigen Verbindungen und Mittel, um eine Wahl zu treffen.

Gegenproteste

Wie bereits geschrieben, konnten die vorherigen Angriffe auf das Abtreibungsrecht abgewehrt werden. 2016 wurde vom Ogólnopolski Strajk Kobiet (Allpolnischer Frauenstreik) und anderen Gruppen der „Schwarze Protest“ organisiert. Als das Gesetz zum verschärften Abtreibungsverbot debattiert wurde, mobilisierte dieser wochenlang 100.000 DemonstrantInnen, nicht nur Frauen, sondern auch unterstützende Männer und die LGBT-Gemeinschaft. Die Proteste hatten teilweise Erfolg, insofern sie eine Verzögerung der Umsetzung bewirkten.

Als im Oktober 2020 das Urteil dann erklärt wurde, löste dies erneut landesweite Proteste aus – es waren die größten seit Solidarnośćs-Streiks und Betriebsbesetzungen in den frühen 1980er Jahren. Nicht nur in Warschau, sondern in rund 150 Städten wurden Proteste organisiert. So fanden Straßenblockaden statt und am 28. Oktober gipfelten die Aktion in einem gesamtpolnischen Frauenstreik unter dem Motto: „Nie idę do roboty“ („Ich werde nicht arbeiten gehen!“). Die Proteste wurden mit schwerer Polizeibrutalität beantwortet, die im Laufe der Zeit zunahm. Demonstrantinnen wurden in Gewahrsam genommen und von konservativen ParteichefInnen als „Usurpatorinnen“ bezeichnet, da dies ein direkter Angriff auf Polen und die Kirche sei. Bis in den Dezember hinein kam es immer wieder zu größeren Demos, spontanen Blockaden und Auseinandersetzungen. Durch Polizeirepression und Maßnahmen unter dem Deckmantel des „Infektionsschutzes“ vor Covid-19 wurde versucht, den Protest zu ersticken. Am Mittwoch, dem 27. Januar, als das Urteil des Verfassungsgerichts im Gesetzblatt veröffentlicht wurde, brach er auf ein Neues aus.

Wie geht es weiter?

Zwar mag die Pandemie die Mobilisierung in gewisser Form schwächen. Doch laut Umfragen lehnen fast 70 % der polnischen Bevölkerung nicht nur die Gesetzesverschärfungen ab, sondern stimmen auch der Aussage zu, dass Frauen selbst das Recht haben sollten zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen. Es wurden Online-Plattformen geschaffen, die nicht nur auf das Abtreibungsverbot aufmerksam machen, sondern auch den Einfluss der Kirche auf die Regierung, Rechte für Menschen mit Behinderungen und den Kampf gegen Homophobie thematisieren. Ebenso hat das Bündnis des Allpolnischen Frauenstreiks am 1. November einen Konsultativrat (Rada Konsultacyjna) gebildet. Vorbild dafür ist der auf Vorschlag von Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja ausgerufene Koordinierungsrat (Kaardynacyjnaja Rada), der 2020 in Belarus nach der Präsidentschaftswahl während der Proteste gegründet worden ist. Das Ziel: unabhängig von Parteien als Mittler zwischen Regierung und Protestierenden eine Einigung zu finden.

Seine Forderungen:

(1) die Situation des Verfassungsgerichts, des Obersten Gerichtshofs und der Ombudsperson zu regeln.

(2) Mehr Mittel für den Gesundheitsschutz und die Unterstützung von UnternehmerInnen.

(3) Volle Frauenrechte – legale Abtreibung, Sexualerziehung, Empfängnisverhütung.

(4) Stopp der Finanzierung der katholischen Kirche aus dem Staatshaushalt.

(5) Ende des Religionsunterrichts an Schulen.

(6) Rücktritt der Regierung.

Welche Strategie bringen Gesetz und Regierung zu Fall?

Auch wenn der Koordinierungsrat für eine Vermittlungslösung mit der Regierung offen ist, so ist der Spielraum für einen Kompromiss mit der Regierung bei den sechs Forderungen gering. Es besteht aber die Gefahr, dass die AktivistInnen auf wahrscheinlich fruchtlose Verhandlungen vertröstet werden.

Damit der Protest nicht versandet, sondern weitergeführt wird, muss er vielmehr ausgeweitet werden. Der Frauenstreik vom 28. Oktober stellt einen wichtigen Ansatz dar. Doch er darf kein einmaliges Ereignis bleiben, sondern es muss Ziel sein, die Protestbewegung in den Betrieben und Büros zu verankern. Dort sollten Versammlungen einberufen werden, um die Arbeitsniederlegung zu organisieren und Streikkomitees zu wählen. Die Frage des Eintretens für die Rechte der Frauen und vor allem der Arbeiterinnen bedeutet in den Betrieben und in der ArbeiterInnenklasse zugleich auch einen Kampf, Lohnabhängige von den Gewerkschaften wegzubrechen, die die PiS unterstützen, und für eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung unabhängig von allen bürgerlichen Parteien einzutreten.

Der Allpolnische Frauenstreik muss Druck auf alle regierungskritischen Gewerkschaften, insbesondere auch die OPZZ, ausüben. Ziel ist es, sie dazu zu bringen, sich nicht nur mit der Bewegung zu solidarisieren, sondern offen für den Kampf einzutreten und ihre Mitglieder zu mobilisieren. Die Waffe des Streiks, also das Stocken der Profitproduktion, ist das effektivste Druckmittel gegen die PiS. Durch die Einberufung von Vollversammlungen an Unis, Schulen und in Betrieben (die auch online durchgeführt werden können), wird zusätzlich erreicht, dass mehr Menschen in ihrem direkten Alltag mit den Inhalten des Protestes konfrontiert und diese alltäglichen Orte politisiert werden. Gegen die Repressionen seitens des polnischen Staates sowie zur Abwehr drohender rechter Angriffe müssen demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees aufgestellt werden, die die Mobilisierungen schützen.

Gleichzeitig bedarf es innerhalb der Bewegung einer Debatte über die Strategie, mit welcher man die oben genannten Forderungen umsetzt. Als RevolutionärInnen unterstützen wir einige der Forderungen wie das Recht auf Abtreibung, das Ende der Finanzierung der Kirche aus dem Staatshaushalt oder des Religionsunterrichts an Schulen ohne Wenn und Aber. Jedoch hegen wir keine Illusionen darin, dass sich durch den Rücktritt einzelner MinisterInnen etwas ändert. Die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung wirft aber ebenso die Frage auf, was danach kommen soll. Würde die PiS-Regierung bei etwaigen Neuwahlen bloß durch die neoliberale Bürgerkoalition ersetzt, so würde sich für die Masse der ArbeiterInnenklasse wenig ändern.

Wenn der Protest erfolgreich ausgeweitet werden soll, muss nicht nur in Betrieben mobilisiert, es müssen ebenso klare Forderungen im Interesse der Lohnabhängigen aufgeworfen werden. Statt Unterstützung für UnternehmerInnen in der aktuellen Corona-Krise braucht es einen Kampf gegen Lohnkürzungen und Entlassungen. Neben ihrer Legalisierung sollte die Finanzierung von Abtreibung oder Verhütungsmitteln nicht auf die ArbeiterInnenklasse abgewälzt werden, dadurch dass diese sie selber zahlen oder ihre Kosten durch Steuern aufgebracht werden. Vielmehr müssen sie von jenen finanziert werden, die von der aktuellen Krise profitieren. Statt also insgesamt ein Bündnis mit liberalen Teilen der Bourgeoisie zu suchen, müssen die Forderungen klar aufzeigen, dass die herrschende Klasse die Kosten tragen soll.

Die Gründung des Rada Konsultacyjna zur Koordinierung der Proteste ist sinnvoll. Allerdings bedarf es einer stetigen Wähl- und Abwählbarkeit seiner Delegierten sowie ihrer vollständigen Rechenschaftspflicht. Wichtig ist ebenso, dass dieser Rat mit Aktions- und Betriebskomitees verbunden wird und sich aus deren AktivistInnen zusammensetzt, also sich zum ArbeiterInnenrat mit eigenen Machtbefugnissen entwickelt, weg von einer Lobby, die nur Druck auf Parlament, Regierung und Gerichte ausüben will. Ebenso klar muss sein, dass er keine „Vermittlerrolle“ zwischen Regierung und Protestierenden einnehmen darf. Er muss Ausdruck der Protestierenden sein mit dem Ziel, die sich selbst gegebenen Forderungen durchzusetzen mithilfe der ArbeiterInnenklasse, und etwaige Verhandlungen öffentlich führen. Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen im Rahmen des Protestes für den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung und einer neuen revolutionären ArbeiterInnenpartei einzutreten.




Internationaler Frauenkampftag 2021

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1141, 7. März 2021

Das Jahr 2020 wird lange in Erinnerung bleiben wegen des enormen Ausmaßes der gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Krise, die durch Covid-19 ausgelöst wurde. Es sollte auch in Erinnerung bleiben, weil es in den krassesten Ausmaßen aufdeckte, wie der Kapitalismus arbeitende Frauen unterdrückt und ausbeutet. Die Tatsache, dass Frauen in wichtigen, aber schlecht bezahlten und prekären Jobs eine große Rolle spielen, dass das familiäre Zuhause allzu oft der Ort häuslicher Gewalt ist, die während der Pandemie in die Höhe geschossen ist, und dass Regierungen und UnternehmerInnen am Ende der Krise versuchen werden, sie für die Kosten der Krise aufkommen zu lassen, zeugt davon.

Frauen haben während der Krise bereits den höchsten Preis gezahlt, sei es als Gesundheitspersonal an der Front in Krankenhäusern und Pflegeheimen oder durch die verstärkte Kinderbetreuung, einschließlich des „häuslichen Lernens“, wo Schulen geschlossen wurden. Letzteres ist natürlich unbezahlt. Schlimmer noch, sie haben schwerwiegende Einkommensverluste erlitten, wenn sie gezwungen waren, ihre Jobs im Gastgewerbe, im Einzelhandel oder in der Büroarbeit aufzugeben, alles Berufe, in denen die Belegschaften überwiegend weiblich sind. In der Zwischenzeit waren es GroßkapitalistInnen wie Jeff Bezos von Amazon, die sich bereichert haben, indem sie ihre Belegschaften extrem ausgebeutet haben, während sie ihnen in den meisten Ländern das Recht verweigerten, einer Gewerkschaft beizutreten.

In den ersten Wochen der Pandemie wurden Frauen im Gesundheitswesen und in „systemrelevanten Industrien“ von ihren ArbeitskollegInnen beklatscht, aber der einzige „Dank“, den sie von ihren Bossen bekommen werden, sind langfristige Lohneinbußen oder dauerhafte Arbeitslosigkeit. Im so genannten globalen Süden, in Fabriken und besonders ausbeuterischen Betrieben, so genannten Sweatshops, sowie in den Dörfern, sind Frauen mit gefährlicher Überbelegung und unhygienischen Bedingungen konfrontiert, was die Ausbreitung und Schwere der Pandemie fördert. Angesichts des schrecklichen Mangels an medizinischer Versorgung werden sie noch lange auf eine Impfung warten müssen. Bäuerinnen und ihre Familien in Indien sind bereits von der Enteignung ihres kleinen Landbesitzes während einer neuen Welle der Landnahme durch Großkonzerne und GroßgrundbesitzerInnen betroffen.

Wir müssen uns also darüber im Klaren sein, dass die Pandemie und die Abschottungsmaßnahmen einen gefährlichen Rückschlag für die Errungenschaften darstellen, die Frauen in den letzten Jahrzehnten am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft erreicht hatten. Sie kamen zu den Auswirkungen von Sparmaßnahmen und Privatisierungen auf öffentliche Dienstleistungen wie Kindergärten, Frauenhäuser und die Löhne und Personalausstattung derer, die in diesen Einrichtungen arbeiten, hinzu. Wenn PolitikerInnen davon sprechen, „wieder besser aufzubauen“, dann sind es diese lebenswichtigen Dienste, für deren Wiederaufbau und Erweiterung wir kämpfen müssen.

Darüber hinaus werden die bürgerlichen Regierungen, anstatt auch nur die einfachsten Lehren aus der Pandemie zu ziehen, wahrscheinlich den Pflege-, Bildungs- und Gesundheitssektor weiter privatisieren. Es besteht die reale Gefahr, dass reaktionäre Kräfte die Frauen dazu drängen werden, in das Familienheim „zurückzukehren“, um dort ein erhöhtes Maß an unbezahlter Arbeit zu verrichten, die Arbeitskraft der ArbeiterInnen zu reproduzieren und eine neue Generation heranzuziehen, die ihrerseits ausgebeutet wird. Diese Gefahr weist auf die Lösung hin, die MarxistInnen immer befürwortet haben: die Vergesellschaftung der Hausarbeit und die Einbeziehung der Frauen in das gesamte Spektrum der (gleich entlohnten) Erwerbsarbeit.

Die Kombination aus Wirtschaftskrise und Pandemie hat den klaren Zusammenhang zwischen Frauenunterdrückung und Klassenausbeutung im Kapitalismus offengelegt. Das kommende Jahr wird entscheidend dafür sein, ob dies zu einem erfolgreichen Wiederaufleben der Frauen- und Klassenkämpfe gegen die Bosse und ihre Regierungen oder zu historischen Niederlagen führen wird.

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Frauen keine passiven Opfer von Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung sind, sondern dass sie diese aufgedeckt und sich dagegen gewehrt haben. Die heroischen Kämpfe von Frauen an vorderster Front von Bewegungen wie #MeToo, Ni Una Menos, dem Frauenstreik, Black Lives Matter, aber auch die Bauern- und Bäuerinnenproteste in Indien und Bewegungen für soziale und demokratische Rechte in Weißrussland, Hongkong, Myanmar oder im Libanon zeigen, dass es guten Grund zur Hoffnung gibt. Diese Hoffnung, so denken wir, muss eine Perspektive in einem internationalen Kampf mit dem Ziel der vollständigen Vergesellschaftung der reproduktiven und produktiven Arbeit finden.

Dies kann natürlich nur mit der Wiederbelebung oder Bildung von Organisationen einer kämpferischen Klassenpolitik erreicht werden. In den letzten Jahren wurden viele wichtige Schritte zur Entwicklung solcher Organisationen unternommen. Viele kämpfende Frauen sehen sich zunehmend als Teil einer globalen Bewegung sowohl gegen das Patriarchat als auch gegen den Kapitalismus.

Wir denken, dass dies die Vorbereitung einer globalen Massenkonferenz der Frauenbewegungen erfordert, ähnlich dem Geist der frühen Kontinental- und Weltsozialforen, die die Erfahrungen der verschiedenen arbeitenden Frauenbewegungen zusammenführt, aber mehr noch, ihnen eine gemeinsame Richtung durch gemeinsam vereinbarte Aktionen gibt. Dies könnte ein starkes Signal um die ganze Welt senden.

Die Genossinnen und Genossen der Liga für die Fünfte Internationale tun ihr Bestes, um zum Aufbau einer solchen Bewegung beizutragen. Sie würden ebenfalls alles tun, um für eine alternative Vision der Gesellschaft, den Sozialismus, zu streiten, um Frauenbefreiung, ArbeiterInnenbefreiung, Befreiung für lesbische, schwule, trans- und nicht-binär geschlechtliche Menschen zu erreichen. Wenn sich Tausende von internationalen AktivistInnen persönlich und online versammeln würden, um gemeinsam den Weg vorwärts zu diskutieren, würde dies die Kämpfe, die überall auf der Welt stattfinden, stärken, indem es ihnen Solidarität und Unterstützung bringt.

Wir rufen diejenigen, die mit diesem Vorschlag einverstanden sind, auf, mit uns und untereinander Kontakt aufzunehmen, um zu besprechen, welche ersten Schritte wir gemeinsam unternehmen könnten, um mehr und größere Kräfte wie die Gewerkschaften, ArbeiterInnenparteien und ganze Frauenbewegungen, wie den Frauenstreik, für ein solches Ziel zu gewinnen.

Die Proteste am 8. März dieses Jahres sind daher besonders wichtig, da sie eine Demonstration der Stärke und des Selbstbewusstseins über die Notwendigkeit, sich in einer der größten Krisen des Kapitalismus zu wehren, darstellen werden.




Check your privileges – aber reicht das aus?

Leonie Schmidt, Revolution Deutschland, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9

„Check your privileges“/ „Check mal deine Privilegien“: ein Satz, den du bestimmt schon mal irgendwo gehört hast. Gerade im Zuge der BLM- und Antira-Proteste der letzten Jahre kam er vermehrt auf und fordert Menschen, die nicht oder weniger unterdrückt werden, dazu auf, sich ihrer Stellung in der Gesellschaft bewusst zu werden. Dafür gibt es extra Checklisten im Internet oder in Büchern. Zu den Unterdrückungsformen, die hier erforscht und verglichen werden, gehören bspw. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus (bezeichnet die Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten und ist behindertenfeindlich) und auch Klassismus (Abwertung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, insbesondere Vorurteilen gegenüber Armen, aber ungleich dem Klassenwiderspruch). Viele der Fragen auf den Checklisten beziehen sich auf strukturelle Probleme, die die Unterdrückten alltäglich erleben. Manche beziehen sich natürlich auch auf die Jobsuche und andere wichtige Bereiche wie zum Beispiel das Familienleben.

Erstmals entwickelt wurde der Begriff des „male privilege“ (männliches Privileg) von Feminist_Innen in den 1970er Jahren, wo besonders die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Vordergrund stand. Später wurde die Untersuchung aber auch intersektionaler, denn die Feministin Peggy McIntosh begann auch das „white privilege“ mit zu untersuchen. So beschrieb sie diese Privilegien als etwas, was bspw. Männer nicht direkt erkennen, da sie ihre gesellschaftliche Stellung als etwas Persönliches und Individuelles wahrnehmen. Aufgrund ihres eigenen Schicksals erkennen sie gar nicht, dass sie gewisse Privilegien gegenüber anderen Personen genießen oder aber aufgrund des bereits lange andauernden patriarchalen Systems daran gewöhnt sind, weswegen die Vorteile und Rechte als normal angesehen werden. Des Weiteren war ihr auch wichtig, dass nicht alle Männer aktiv und bewusst zur Unterdrückung beitragen, aber alle davon profitieren würden.

Das klingt ja eigentlich ganz plausibel, oder?

Sie mögen ein hilfreiches Werkzeug darstellen, um sich des Ausmaßes von Unterdrückung bewusst zu werden, jedoch zählen diese Checklisten lediglich Symptome auf und helfen uns nicht wirklich, die strukturellen Unterdrückungsmechanismen zu verstehen, und vor allem nicht, wie wir sie letztlich bekämpfen können, denn dazu gibt es keine klaren Aussagen in der „Privilege Theory“ (Privilegientheorie). Wenngleich gerade in Bezug auf „male privilege“ von einem patriarchalen System ausgegangen wird, so wird dieses doch nicht näher in einen Kontext gesetzt und schon gar nicht in den, dass es mit dem Kapitalismus und der Klassengesellschaft zusammenhängt.

Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die „Privilege Theory“ wurde ähnlich wie die heute vorherrschenden Formen der Identitätspolitik im Rahmen des Postmarxismus groß und verbreitete sich, nachdem der Marxismus als gescheitert erklärt wurde. Dementsprechend ist sie auch nicht darauf ausgelegt, Unterdrückung im gesellschaftlich-strukturellen Sinne zu erläutern, sondern fokussiert sich stattdessen lieber auf die individuelle Person. Und wenngleich tatsächlich Personen, die kaum oder gar nicht unterdrückt werden, bevorzugt werden in unserer Gesellschaft, müssen wir uns doch fragen, wer am Ende WIRKLICH profitiert.

Und das ist in der Klassengesellschaft nun mal die herrschende Klasse, im Kapitalismus die Bourgeoisie. Einerseits profitieren sie von der Spaltung der Gesellschaft, insbesondere der Arbeiter_Innenklasse, welche durch Unterdrückungsmechanismen verstärkt wird und mit dafür sorgt, dass die Unterdrückten nicht ihre gemeinsame Unterdrückung durch die Ausbeutung der Arbeitskraft erkennen. Andererseits dient die Unterdrückung besonders von Frauen und Queerpersonen der weiteren Aufrechterhaltung des Idealbilds der bürgerlichen Familie. Diese ist im Kapitalismus unter anderem dafür da, dass die Ware Arbeitskraft (also die Arbeiter_Innen) so günstig wie möglich (re)produziert werden. Das mag abstrakt klingen, aber in diesen Bereich fallen vor allem Erziehung, Haus- und Carearbeit, welche im klassischen Rollenbild den Frauen aufgetragen werden. Das lohnt sich für die Kapitalist_Innen insofern, dass sie so wenig wie möglich dafür bezahlen müssen, also einen höheren Profit erwirtschaften können.

Es ist zwar dem Kapital an sich egal, welches Geschlecht die Hausarbeit letztendlich übernimmt. Aber im Kapitalismus wird das nach wie vor den Frauen aufgetragen, nachdem eine schon vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung fortgeschrieben wird. Faktisch kümmern sich auch heutzutage mehr Frauen um die Hausarbeit. So verrichten im EU-Durchschnitt 79 % der Frauen täglich Hausarbeit, aber nur 34 % der Männer. In vielen halbkolonialen Ländern fällt das noch deutlicher aus – allerdings im Gegensatz zum klassischen Bild der bürgerlichen Familie meist zusätzlich zu der klassischen Lohnarbeit, so entsteht eine doppelte Ausbeutung. Außerdem existiert weiterhin der Gender Pay Gap (geschlechtsspezifischer Lohnunterschied; Frauen verdienen im Durchschnitt 20 % weniger als Männer). Dadurch, dass Männer mehr Lohn erhalten, manifestiert sich auch ihre Macht und das passiert auch in der Arbeiter_Innenklasse. Dadurch helfen die Privilegien auch die Klassengesellschaft zu stützen, denn viele wollen sie nicht einfach aufgeben.

Bewusstsein und Kampf

Aber letztlich ist das nicht nur eine Frage des individuellen Bewusstseins. Was z. B. den Gender Pay Gap betrifft, so lässt sich das auf individueller Ebene auch nicht so leicht bewerkstelligen. Würde sich z. B. eine proletarische Familie dafür entscheiden, dass die Frau mit geringerem Stundenlohn Vollzeit arbeitet und der Mann mit höherem teilzeitbeschäftigt ist, so müssten sie und ihre Kinder unter den bestehenden Verhältnissen signifikante Einkommenseinbußen hinnehmen. Gerade für ärmere ArbeiterInnenfamilien ist das unmöglich, da sie ohnedies schon an der Untergrenze der Reproduktionskosten leben. Um diese Unterdrückung und doppelte Ausbeutung aufzuheben, brauchen wir also kollektive Lösungen, die erkämpft werden müssen wie gleiche Löhne für gleiche Arbeit und  die Vergesellschaftung der Hausarbeit, so dass sie aus dem privaten Rahmen geholt und gesellschaftlich organisiert wird. Solange die Hausarbeit noch nicht vergesellschaftet ist, treten wir auch für die gleichmäßige Verteilung der Hausarbeit auf alle Geschlechter im privaten Bereich ein.

Auch Rassismus ist hilfreich für die herrschende Klasse, denn so kann das imperialistische System weiter aufrechterhalten werden. Er liefert auch eine „Rechtfertigung“, warum bspw. migrantische Menschen in Jobs im Niedriglohnsektor arbeiten müssen. Um Rassismus, Sexismus usw. also gänzlich abzuschaffen, müssen wir ihnen die materielle Voraussetzung nehmen: nämlich die Klassengesellschaft. Erst im Sozialismus wird es möglich sein, effektiv diese Mechanismen abzuschaffen, allerdings sind sie keine „Nebenfrage“, sondern integraler Bestandteil des Klassenkampfes. Im Hier und Jetzt müssen diese Kämpfe miteinander verbunden werden.

Wenngleich Klassismus auch eingebaut ist in der „Privilege Theory“, so wird der Klassenkampf dadurch längst doch nicht zum Dreh- und Angelpunkt der sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Die Ungleichheit der Klassen wird nur als ein gleichgeordnetes Unterdrückungsverhältnis angesehen. Des weiteren ist Klassismus in dieser Theorie auch nicht als letztlich nur revolutionär aufhebbarer Klassenwiderspruch verstanden worden, sondern bedeutet lediglich, dass (zumeist) die unteren Schichten mit negativen Vorurteilen und Nachteilen im Bildungssektor und auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen haben. Platt gesagt, soll man, nur weil man aus einer niedrigen Schicht kommt, nicht respektlos behandelt oder für unfähig erklärt werden, intellektuelle Kopfarbeit auszuführen. Das berücksichtigt allerdings keinesfalls die Klassenunterdrückung im Kapitalismus, in welcher die Bourgeoisie das Proletariat ausbeutet. Somit ist dieser Ansatz unzureichend und präsentiert als Lösung bloß, netter zu den unteren Schichten zu sein, weniger Vorurteile zu haben, aber nicht die Klassengesellschaft an sich abzuschaffen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass es, um effektiv seine Privilegien zu „checken“, schon einen gewissen Grad an Bewusstsein braucht, denn man muss ja erkennen, dass es diese Formen von Unterdrückung gibt. Außerdem ist die Einsicht, dass es Privilegien gibt, noch lange keine Garantin dafür, dass Personen ihre auch ablegen wollen. Manche wollen sie im Gegenteil eher verstärken (bspw. Konservative, die Abtreibungen verbieten wollen). Grundsätzlich geht es natürlich beim Begreifen von Ungleichheit und Unterdrückung innerhalb der eigenen Klasse immer auch um Bewusstsein und Bewusstwerdung. Aber diese sind nicht losgelöst von den materiellen Bedingungen. Das gesellschaftliche Sein bestimmt unser Bewusstsein und nicht andersherum. Demnach kann diese gedankliche, kritische Auseinandersetzung nicht alleine zu einer Lösung führen. Des Weiteren verläuft die Bewusstseinsentwicklung nicht linear und stellt auch nicht bloß ein persönliches, sondern vor allem auch ein gesellschaftliches Phänomen dar. Das Massenbewusstsein kann Sprünge machen – und zwar aufgrund gemeinsamer Kämpfe und Erfahrungen. Umgekehrt kann es auch wieder zurückfallen, bspw. durch einen Rechtsruck. Außerdem kann man bspw. in einer Reflektionsrunde viel sagen, solange man nicht auch so handelt, hat das nur wenig Gewicht und dient im schlimmsten Fall lediglich der Selbstbeweihräucherung.

Was tun?

Wir müssen den Chauvinismus und Sexismus in der Klasse bekämpfen, um die Spaltung zu überwinden und die gemeinsame Kampfkraft zu entfalten. Deshalb treten wir bspw. für das Caucusrecht von Unterdrückten in den Organisationen der Arbeiter_Innenklasse ein. Das bedeutet, dass sie das Recht haben, in einem gesonderten Raum, allein unter ihresgleichen, über ihre Unterdrückung zu sprechen, Probleme in der eigenen Organisation kollektiv aufzugreifen und Empfehlungen an das Kollektiv auszusprechen, wie diese überwunden werden können oder welche gemeinsamen Forderungen und Aktionen im Kampf vorangetrieben werden sollen.

Wir treten für den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung ein. In bestimmten Situation kann die Bildung einer kommunistischen Frauenorganisationen sinnvoll sein, sowohl, um den Chauvinismus in der Arbeiter_Innenklasse zu bekämpfen, die Arbeit unter proletarischen Frauen zu systematisieren und so Frauen, die noch nicht der revolutionären Partei (oder ihrer Vorform) beitreten wollen, auf der Basis eines revolutionären Aktionsprogramms gegen Frauenunterdrückung in einer möglichst engen Kampfgemeinschaft näher an diese heranzuführen. Des Weiteren müssen wir auch in den Organisationen dafür kämpfen, dass sich nicht nur die Unterdrückten mit ihrer eigenen Unterdrückung theoretisch auseinandersetzen, sondern auch alle anderen.

Alles in allem dürfen wir uns nicht darauf verlassen, dass wir, wenn wir uns alle nur selber genug reflektieren, die Unterdrückungsmechanismen abschaffen können. Auch die Vereinzelung der Unterdrückungsformen und Unterdrückten sind nicht hilfreich, denn wenn wir wirklich die Klassengesellschaft abschaffen wollen, ist es nötig, dass wir ein revolutionäres Programm mit gemeinsamen Forderungen aufstellen und zusammen für eine sozialistische Zukunft kämpfen, die wir nicht durch Reform des kapitalistischen Systems, sondern nur durch einen revolutionären Umsturz auf Basis einer breiten Massenbewegung unter kommunistischer Führung erreichen!




Gewalt gegen Frauen in Bolsonaros Brasilien

Raquel Silva, Liga Socialista/Brasilien, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Der erste Jahrestag der Covid-19-Pandemie verging in Brasilien ohne jegliche Feierlichkeiten. Tatsächlich gibt es in der aktuellen Situation nichts zu feiern. Wie Studien ergeben, hat die soziale Isolation, in der wir seit März 2020 leben, zu einem Anstieg der Vorfälle an häuslicher Gewalt und Femiziden geführt. Im Oktober 2020 zeigten Erhebungen, dass in Brasilien zwischen März und August 497 Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass alle neun Stunden eine Frau ermordet wurde. Die Bundesstaaten mit den höchsten Gewalt- und Mordraten sind São Paulo, Minas Gerais und Bahia. Die von sieben Journalistenteams durchgeführten Erhebungen weisen auf einen Anstieg der Zahlen während der Pandemie hin. Sie verdeutlichen auch, dass die niedrigen Zahlen gewaltbezogener Vorfälle in einigen Bundesstaaten tatsächlich auf ihre Untererfassung zurückzuführen sind. Die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Opfer schwarze und arme Frauen sind. In Minas Gerais zum Beispiel sind 61 % der Opfer schwarze Frauen.

Indigene Frauen

Seit dem Putsch gegen Dilma Rousseff von der Partido dos Trabalhadores (PT; Partei der ArbeiterInnen) hat die Intensität der Angriffe auf indigene Bevölkerungsgruppen stark zugenommen. Mit der Zerstörung von Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen für indigene Völker wie Fundação Nacional do Índio (FUNAI; wörtlich: Nationale Stiftung des Indios) sind die Dörfer nun noch verwundbarer. Indigene Gemeinden werden auch durch illegalen Bergbau, Brände und Agrobusiness angegriffen. Zudem hat die Gewalt gegen ihre VertreterInnen zugenommen. Mehrere ihrer SprecherInnen wurden in den letzten Jahren getötet.

Daten über die Situation indigener Frauen fehlen generell. Einige Berichte deuten jedoch darauf hin, dass sich ihre Situation verschlechtert hat, da häusliche Gewalt und Vergewaltigungen in den Dörfern während der Pandemie zugenommen haben. Illegaler Bergbau führt zu einer Situation der Verwundbarkeit und Gewalt in den indigenen Gemeinden. Wie eine/r der AnführerInnen berichtet, führt die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten und ihre/seine Kinder zu ernähren, oft dazu, dass indigene Frauen der gleichen oder sogar noch härteren Gewalt ausgesetzt sind als nicht-indigene Frauen der ArbeiterInnenklasse. Sie alle leiden unter einem Mangel an finanzieller und anderer Unabhängigkeit, was sie anfälliger für Verbrechen wie häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und in den schlimmsten Fällen Femizid macht.

Zurücknahme von Errungenschaften

Wir sind uns bewusst, dass nicht erst die Regierung Bolsonaro Gewalt gegen Frauen hervorgebracht hat. Der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen reicht Jahrzehnte zurück. Obwohl die Errungenschaften der letzten 30 Jahre seit der Verfassung von 1988 unzureichend waren, bedeuteten sie einen Schritt in die richtige Richtung, ebenso wie alle anderen Fortschritte, die durch den Kampf sozialer Bewegungen erreicht wurden.

Nach dem Putsch haben jedoch reaktionäre Sektoren, die mit der Rechten und rechtsextremen evangelikalen Gruppen verbunden sind, die die so genannte „Bibelbank“ (in den Parlamentskammern) bilden, versucht, den Frauen ihre Rechte und Errungenschaften zu nehmen, indem sie der großen Mehrheit der Frauen der ArbeiterInnenklasse ein reaktionäres und gewalttätiges Programm aufzwingen wollen. Dies geht einher mit der kapitalistischen neoliberalen Agenda der Angriffe auf die Rechte von Arbeiterinnen. Zusätzlich zu Gesetzesänderungen, die den ArbeiterInnen verschiedene Rechte und Garantien entzogen haben, ist der Angriff auf Frauen noch heftiger. Das liegt daran, dass Frauen, ohnehin der Doppelbelastung von Lohn- und Hausarbeit ausgesetzt, in der Arbeitswelt um ein Vielfaches mehr unter noch niedrigeren Löhnen und verlängerten Arbeitszeiten leiden. Die Rentenreform hat die Frauen der ArbeiterInnenklasse noch stärker getroffen, da sie nun mit einer Erhöhung der notwendigen Lebensarbeitszeit konfrontiert sind, um länger in die Rentenkassen einzuzahlen, wodurch der Rentenanspruch noch schwieriger zu erreichen sein wird.

Die Regierung Bolsonaro hat bereits in ihrem ersten Amtsjahr 2019 die Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen drastisch gekürzt. Sie schaffte das Sekretariat für Frauenpolitik ab und schuf stattdessen das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte (das die LGBTQ+-Agenda ausschloss). Ein Ministerium, dessen ideologische Agenda darin besteht, „Moral und gutes Benehmen“ zu bewahren, hat sogar die begrenzten verfassungsmäßigen Rechte und Garantien angegriffen wie z. B. den Zugang zur assistierten Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung, Lebensgefahr für die Mutter oder Anenzephalie (schwere Missbildung des embryonalen bzw. fötalen Gehirns).

Der reaktionäre Charakter der gegenwärtigen Regierung und derer, die sie unterstützen, wurde vor allem durch die skandalöse Behandlung eines 10-jährigen vergewaltigten Kindes im Juli 2020 entlarvt. Das Recht auf Abtreibung dieses Vergewaltigungsopfers wurde in Frage gestellt, sein Name veröffentlicht und es erlitt ein schweres psychologisches Trauma, da ExtremistInnen versuchten, eine Abtreibung zu verhindern. Ministerin Damares Alves vom Ministerium für Frauen, Familien und Menschenrechte, eine evangelikale Pastorin, erließ zwei Gesetze, die den Zugang zur assistierten Abtreibung erschweren und peinliche und restriktive Maßnahmen für weibliche Vergewaltigungsopfer schufen.

Ele Nao! Nicht er!

Unter den Bedingungen der Pandemie 2020 wurden viele der Angriffe der Regierung Bolsonaro auf Frauen und die LGBTQ+-Community massiv spürbar, da die Mobilisierung schwieriger wurde. Doch schon während des Präsidentschaftswahlkampfes 2018 ist klar geworden, dass uns im Falle eines Sieges von Bolsonaro schwere Rückschläge bevorstehen würden. Seine Aussagen als Parlamentarier zeigten bereits, dass die Angriffe auf Frauen, Schwule, Schwarze und Indigene hart ausfallen würden.

Bolsonaro widmete seine Stimmabgabe für Dilmas Amtsenthebung dem Oberst Brilhante Ustra, der während der Militärdiktatur für die Folterung inhaftierter linker, militanter Frauen verantwortlich war. Dilma war eine von ihnen gewesen. Bolsonaro griff auch eine PT-Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer an und rief: ,,Ich würde sie nicht vergewaltigen, weil sie es nicht verdient hat.“ In einer anderen Kampagne machte er deutlich, dass er die Quilombola-Schwarzen angreifen würde, womit er sich auf die Dörfer der Schwarzen bezog, die aus der Sklaverei geflohen sind, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ihr Kampf wird im rassistischen Narrativ mit Chaos gleichgesetzt. Er drohte auch damit, die Linke und die sozialen Bewegungen anzugreifen.

Im Angesicht dieser Drohungen wurde die Bewegung „Ele Nao!“ (Nicht er!) in den sozialen Medien populär, die eine beeindruckende Demonstration gegen die Wahl Bolsonaros organisieren konnte. In einem erbitterten Kampf gewann Bolsonaro die Wahl. Es war eine Wahl, die von einer Politik des Hasses gegen die PT, dem Verbot der Kandidatur Lulas und vielen Enthaltungen geprägt war.

In der neuen Regierung gingen Sparmaßnahmen gegen die ArbeiterInnen Hand in Hand mit der Weiterführung der konservativen Agenda der rechtsextremen Evangelikalen. Die Frauenbewegung hat in verschiedenen Kollektiven, die sich im ganzen Land ausbreiten, versucht, diese Angriffe zu stoppen. Aber die aktuelle Situation führte dazu, dass die Pandemie eine entmutigende Wirkung auf die Bewegungen ausübte. Die soziale Isolation hat viele Straßenbewegungen gelähmt. Viele Kollektive agieren virtuell, andere gehen in extremen Fällen auf die Straße (wie im Fall des vergewaltigten Mädchens, als RechtsextremistInnen versuchten, eine Abtreibung zu verhindern und das Frauenkollektiv das Recht des Mädchens wahrte, indem es die ExtremistInnen von der Krankenhaustür vertrieb).

Die Linke und soziale Bewegungen

Generell finden Aktionen gegen die Angriffe der Regierung Bolsonaro seit letztem Jahr über soziale Medien statt. Die soziale Isolation schafft eine sehr starke Barriere gegen Aktionen. Die Angst vor Ansteckung, aber auch die, als „Corona-LeugnerIn“ wie Bolsonaro zu erscheinen, hindert Bewegungen daran, außerhalb des Internets zu agieren.

Bei den landesweiten Kommunalwahlen 2020 (in Brasilien finden sie alle am selben Tag statt), bei denen Tausende von StadträtInnen und BürgermeisterInnen gewählt wurden, konzentrierte sich die Linke oft auf Kandidaturen, die die Unterdrückten repräsentieren – Frauen, Schwarze und Trans-Personen.

Die Webseite der Deutschen Welle Brasilien bewertet die Vielfalt in Bezug auf Geschlecht, sexuelle und ethnische Identität bei den Wahlen 2020 als Fortschritt. Der Anstieg der Kandidaturen von Unterdrückten war höher als 2016. Von den 503 Trans-KandidatInnen wurden 82 gewählt. In Hauptstädten wie Belo Horizonte (Minas Gerais) und Aracaju (Sergipe) erhielten Trans-KandidatInnen die meisten Stimmen. Die Zahl der Frauen im Allgemeinen sowie die Zahl der schwarzen Frauen, die in gesetzgebende Ämter gewählt wurden, hat ebenfalls zugenommen. In 18 Städten gibt es 16 % weibliche Abgeordnete. Parteien wie Partido Socialismo e Liberdade (PSOL; Partei für Sozialismus und Freiheit) und PT stellten die größte Anzahl von KandidatInnen aus den sozial unterdrückten Schichten auf, aber auch die konservativen und liberalen Mainstream-Parteien erhöhen die Anzahl der Kandidaturen von Frauen und rassistisch Unterdrückten. KommentatorInnen führen diese Veränderung auf eine Reaktion gegen die Wahl Bolsonaros und seine rechtsextreme Plattform zurück. Sie sehen darin einen Versuch der Reorganisation von Teilen der Linken, indem KandidatInnen der sozialen Bewegungen aufgewertet werden. Darüber hinaus wird vielen KandidatInnen zugesprochen, dass sie über die LGBTQ+- und Frauenagenda hinausgehen und sich auf Fragen des Wohnungsbaus, der Bildung und Gesundheit der ArbeiterInnen zubewegen.

Verstärkte Polarisierung

AnalystInnen weisen aber auch darauf hin, dass rechtsextreme Kandidaturen zugenommen haben und es in den gesetzgebenden Kammern zu vielen Auseinandersetzungen kommen wird.

Die Situation hat sich während der Pandemie für verschiedene Schichten verschlechtert. Die Versäumnisse, vor allem nach der Krise in Manaus (Amazonas), als PatientInnen wegen Sauerstoffmangels zu sterben begannen, sowie das Ende der Katastrophenhilfe, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit (allein die Schließung von Ford Brasilien führte zum Verlust von 55.000 direkten und indirekten Arbeitsplätzen), Korruptionsskandale und die Veruntreuung von Geldern aus der Covid-Hilfe, beginnen die Regierung Bolsonaro immer mehr zu zermürben. Angriffe auf die Presse haben Unzufriedenheit erzeugt, sogar bei Teilen, die die PT angegriffen und Bolsonaro zum Wahlsieg verholfen haben.

Viele harte Kämpfe liegen noch vor uns. Ohne Impfstoffe werden die Kämpfe jeden Tag härter, besonders jetzt, wo wir mit einer sehr starken zweiten Welle der Pandemie und der neuen Variante des Virus konfrontiert sind. Die PT und PSOL, linke Parteien mit parlamentarischer Vertretung, agieren zaghaft im Aufruf zu Protesten auf der Straße, während sie sich darauf konzentrieren, Unterstützung für „moderate“ Parteien im Rennen um die Präsidentschaft des Bundeskongresses zu sammeln (obwohl diese Parteien Teil des Putsches gegen die Linke waren!).

Gleichzeitig können wir aber auch Anzeichen für ein mögliches Wiederaufleben von Massenmobilisierungen sehen. Die 8M (Weltfrauenstreik) und Kollektive, die Teil des „World March of Women“ (Weltfrauenmarsch) sind, nehmen an den aktuellen Mobilisierungen gegen Bolsonaro teil, die in den „Carreatas“ (Autokorsos) der Gewerkschaften ihren Mittelpunkt haben. Dies sind wichtige Schritte für die Frauenbewegung, sich mit den Mobilisierungen und Kämpfen der ArbeiterInnen zu verbinden.

Nieder mit Bolsonaro!

In diesem Zusammenhang sehen wir die Notwendigkeit, den Kampf mit dem Aufbau einer Einheitsfront gegen die Regierung Bolsonaro, den rechten Flügel und die Angriffe der Bosse voranzutreiben. Die Bewegung müsste für drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und gegen die Versuche der Bosse, die ArbeiterInnen für die Krise zahlen zu lassen, kämpfen. Aber eine solche Einheit wird nur erreicht werden, wenn der Kampf für die Rechte der Frauen, gegen Gewalt im Haus und in der Öffentlichkeit und gegen Femizide ein zentraler Teil dieser Auseinandersetzung wird, der die Frauen der ArbeiterInnenklasse an die Spitze der Frauenbewegung sowie des breiteren Kampfes der ArbeiterInnenbewegung gegen den brasilianischen Kapitalismus bringt.

Versuche, eine Einheitsfront aufzubauen, sind bereits im Gange mit der Autokorso-Kampagne, die Impfstoffe für alle und die Amtsenthebung Bolsonaros fordert. Aber Autokorsos allein können diese Ziele nicht erreichen. Wir müssen mehr Autokorsos und Straßendemonstrationen organisieren, mit dem klaren Ziel, einen Generalstreik auszurufen, der ein Ende der Regierung Bolsonaro fordert.

Trotz der Untätigkeit der Führung der linken Parteien darf die Einheitsfront niemals vor echten militanten Aktionen gegen die Regierung zurückschrecken und muss die bewusstesten und kämpferischsten Schichten der sozial Unterdrückten zusammen mit den militanten Teilen der Gewerkschaftsbasis und der Linken einbeziehen.

  • Für einen Generalstreik!
  • Nieder mit Bolsonaro!
  • Für eine Regierung der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen!



Bangladesch: Massenprotest gegen Vergewaltigung

Joe Crathorne/KD Tait, Infomail 1122, 19. Oktober 2020

Die Todesstrafe wurde für Vergewaltigungsfälle in Bangladesch als Reaktion auf eine Woche von Demonstrationen gegen weit verbreitete und zunehmende sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen eingeführt.

Die Proteste brachen in der Hauptstadt Dhaka aus, nachdem Bildmaterial, das eine Gruppe von Männern zeigt, die eine Frau sexuell missbrauchen, über soziale Medien verbreitet wurde. Die Wut breitete sich schnell aus, und an mehreren Orten in ganz Bangladesch wurde zu Protesten aufgerufen.

Frauen- und StudentInnenorganisationen gehörten zu den ersten, die zu Demonstrationen aufriefen, darunter das Zentralkomitee der StudentInnengewerkschaft, das diesen Aufruf am 11. Oktober veröffentlichte:

„Die StudentInnengewerkschaft Bangladesch sendet einen internationalen Aufruf zur Solidarität an unsere FreundInnen und GenossInnen in der ganzen Welt, sich uns in diesem Kampf gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe anzuschließen. Ihre Solidarität in Form von Demonstrationen, Online-Botschaften, aufgezeichneten Erklärungen wäre ein wesentlicher Teil unseres Kampfes in Bangladesch. Die Regierung versagt dabei, ihren BürgerInnen Sicherheit und Schutz zu bieten, und mobilisiert stattdessen Polizei und Schlägertrupps, um unsere Proteste anzugreifen. Daher rufen wir alle Genossen und Genossinnen auf, sich uns anzuschließen und in diesem Kampf zusammenzustehen.“

Als Reaktion auf eine Reihe von Vergewaltigungen von Studentinnen in der Hauptstadt haben studentische Organisationen das ganze Jahr über eine herausragende Rolle bei Protesten gespielt.

Struktureller Sexismus

Der starke Anstieg der Fälle im letzten Jahr – von 942 im Jahr 2019 auf über 1.000 in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 – kann zum Teil auf die sozialen Veränderungen in einem Land zurückgeführt werden, in dem traditionelle patriarchalische Werte mit einer wachsenden Zahl von Frauen in den Bereichen Arbeit und Bildung in Konflikt geraten. Sexuelle Gewalt ist ein Mittel, um Frauen zu terrorisieren, damit sie einen den Männern untergeordneten Status akzeptieren.

Aber wie in praktisch allen Ländern schafft der systemische Sexismus im Rechtssystem eine Kultur der Straflosigkeit. Die Verurteilungsrate für angezeigte Vergewaltigungen liegt in Bangladesch unter einem Prozent, was durch institutionellen Sexismus innerhalb der Polizei und der Justiz sowie durch Gesetze aus der Kolonialzeit, die AnwältInnen dazu ermutigen, den moralischen Charakter der AnklägerInnen anzugreifen, erschwert wird.

Infolgedessen sehen sich die Überlebenden mit Stigmatisierung und Arbeitsplatzverlust konfrontiert und werden, insbesondere in ländlichen Gebieten, von den Familien oft gezwungen, ihren Vergewaltiger zu heiraten.

Die Entscheidung der Regierung von Bangladesch zur Einführung der Todesstrafe, die von vielen Protestierenden gefordert wurde, aber von der Rechtsreformkoalition in Bezug auf Vergewaltigung, einer Frauenrechtsgruppe des Landes, ausdrücklich abgelehnt wird, greift religiöse und konservative Vorurteile unter den Protestierenden auf, anstatt die von Frauenorganisationen geforderten demokratischen Reformen zu übernehmen.

Das Beispiel des benachbarten Indien, das ebenfalls Wellen von Massenprotesten gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe erlebt hat, zeigt, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die Todesstrafe von Vergewaltigung abschreckt. Tatsächlich machen Todesurteile Verurteilungen durch Geschworene weniger wahrscheinlich, und in einem Land, in dem die Einschüchterung der Opfer weit verbreitet ist, kann sie Überlebende davon abhalten, Angriffe zu melden.

Frauenorganisationen in Bangladesch setzen sich für eine Reihe demokratischer Reformen ein, die von der ArbeiterInnenbewegung aufgegriffen werden sollten, darunter der ZeugInnenschutz, die Ausweitung der Definition von Vergewaltigung, das Verbot der Verwendung von Leumundszeugnissen und die Einführung von Einwilligungspflicht und Sexualerziehung in Schulen.

So wie die Verteidigung von Frauen nicht in den Händen der Familie liegen kann, kann sie auch nicht dem Staat oder seinen Zwangsinstrumenten überlassen werden, egal wie viele Kurse zur Sensibilisierung von PolizeibeamtInnen besucht werden.

Perspektive

Auf dem Campus und in den ArbeiterInnenvierteln sollten Selbstverteidigungsgruppen aus Frauen und Männern gebildet werden, um gegen antisoziales, unterdrückendes und gewalttätiges Verhalten vorzugehen, das sich gegen Frauen und unterdrückte Gruppen richtet.

Da Vergewaltigung und sexuelle Gewalt in engem Zusammenhang mit der sozialen Stellung von Frauen stehen, muss die ArbeiterInnenbewegung den Kampf nicht nur für demokratische Reformen, den massiven Ausbau staatlich finanzierter Zufluchtsorte, öffentliche Dienste zur Entlastung der Frauen von der Bürde der Hausarbeit, sondern auch für gleiche Bezahlung, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und für die volle und gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an der Gewerkschaftsbewegung aufnehmen, einschließlich der Selbstorganisation von Frauen und anderen unterdrückten Gruppen in eigenen Abteilungen und separaten Treffen (Caucuses) zur Bekämpfung von Vorurteilen und Sexismus.

Die Proteste in Bangladesch und Indien müssen im Kontext einer wachsenden weltweiten Bewegung gegen Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gesehen werden, die den physischen Ausdruck der Unterordnung der Frauen unter die Männer in der Klassengesellschaft darstellen.

Die Tatsache, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und in zunehmendem Maße auch gegen Kinder auf dem Vormarsch ist, von der halbkolonialen Welt bis zu den imperialistischen Zentren, zeigt, dass die Unterdrückung von Frauen zwar unterschiedliche kulturelle Formen annehmen kann, ihr Wesen aber der Klassengesellschaft immanent ist. Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise untermauert die Frauenunterdrückung den Profit durch unbezahlte Arbeit im Haus und Überausbeutung am Arbeitsplatz.

Während im Westen durch begrenzte staatliche Gesundheits- und Sozialfürsorge, Bildung, Scheidungs- und Reproduktionsrechte einige Fortschritte erzielt wurden, macht die brutale Ausbeutung der halbkolonialen ArbeiterInnenklasse durch die imperialistischen Staaten solche Reformen in der sog. Dritten Welt zu einer Utopie, solange das Profitsystem und die Spaltung in antagonistische Klassen bestehen.

Die Unterdrückung der Frauen ist keine nationale, sondern eine globale Frage. Nur eine auf internationaler Ebene koordinierte Bewegung von Frauen-, ArbeiterInnen- und Jugendorganisationen, die auf sozialistischen Prinzipien der Frauenbefreiung und des Kampfes gegen den Imperialismus basiert, kann einen konsequenten Einsatz gegen patriarchalische Gewalt führen.

Der Aufruf zur internationalen Solidarität von StudentInnen aus Bangladesch zeigt einen Schritt in diese Richtung, und es ist die Pflicht der KommunistInnen und SozialistInnen in der ganzen Welt, insbesondere im Westen, diesem Aufruf nachzukommen.