Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande – صوت المرأة ثورة وليس عارًا

Dilara Lorin, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2024

Tunesien, 17. Dezember 2010: Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehändler, zündet das Feuer über seinen abgemagerten und ausgebeuteten Körper an, gegen die Perspektivlosigkeit und Polizeigewalt, die er und andere erfuhren. Die Flammen verbrennen ihn, er stirbt. Doch dieses Feuer war der Funken, der in der arabischen Welt die Flammen der Revolutionen entfachte.

Der Arabische Frühling

Der Arabische Frühling, die Revolutionen von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien und in den Jemen haben Generationen von Arbeiter:innen, Jugendlichen und Frauen geprägt. Für eine gewisse Zeit schien das revolutionäre Aufbegehren unaufhaltbar zu sein. Massendemonstrationen, die sich gegen autoritäre Regime richteten und ein würdevolles Leben, Menschenrechte und demokratische Mitbestimmung forderten, sowie Streiks einer sich erhebenden Arbeiter:innenklasse ließen die Ben Alis, Assads, al-Gaddafis und Mubaraks erzittern.

In Tunesien führten örtliche Gewerkschaften, Angestellte und insbesondere die oppositionellen Kräfte im Dachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) die Proteste an, die auch stark von Jugendlichen und Arbeitslosen getragen wurden. Am 10. Januar 2011 riefen Branchengewerkschaften der UGTT, darunter die Lehrer:innen, zu einem zweitägigen Generalstreik und Massendemonstrationen im ganzen Land auf, wobei die Führung der Gewerkschaften massiv von ihrer Basis und den Protesten unter Druck gesetzt wurde.

Am 14. Januar floh Präsident Ben Ali aus dem Land. Sein Sturz befeuerte in der gesamten Region einen revolutionärer Prozess. Dabei verliefen die Proteste anfangs ähnlich. Ägypten sollte als nächstes dran sein. Dabei spielten Facebook und Social-Media-Kanäle zur Mobilisierung und Dokumentierung eine essenzielle Rolle. Obwohl die Protestierenden am 25. Januar und an den Tagen danach massiv und brutal angegriffen und zahlreiche Menschen von Regierungseinheiten ermordet wurden, konnten die Barrikaden und Einsatzkräfte von Polizei oder Armee die Massen nicht stoppen.

Atemberaubend muss der Moment gewesen sein, als von Hunderttausenden der Slogan der Revolution aus Tunesien in den Straßen Ägyptens wiederhallte: „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Vor allem der Tahrir-Platz in Kairo wird zum großen Symbolbild der Revolution in diesem Land und Monate lang besetzt gehalten und von Aktivist:innen selbstverwaltet. Auch Streiks erschüttern die Herrschenden dieses Landes. Soziale Forderungen wurden nach der Ansprache Mubaraks am 10. Februar, als er die schrittweise Übergabe seiner Amtsgeschäfte ankündigte, mit der anwachsenden Streikwelle immer stärker: Lohnerhöhung, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsrechte. Der halbe Rücktritt kommt zu spät, die Revolution weitet sich noch mehr aus und Mubarak muss am 11. Januar endgültig gehen.

In Syrien beginnt die Welle der Revolution ebenfalls blutig: Jugendliche aus Dar’a schreiben im März an ihre Schulwand, inspiriert vom Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten: „It’s your turn doctor“. (Baschar al-Assad ist Augenarzt). Sie werden inhaftiert und gefoltert, einer stirbt. Aber Massen gehen auf die Straßen. Die Massenproteste mit mehreren 100.000 Teilnehmer:innen in ihrer Höchstphase fanden schnell Unterstützung von Soldat:innen, welche dem Regime und dessen bewaffnetem Arm den Rücken kehrten und zurück in ihre Stadtteile gingen. Dort beschützten diese anfänglich die Demonstrationen gegen Angriffe des Staates. Im gleichen Zeitraum entstehen Stadtkomitees und eine Organisierung von Arbeiter:innen mit basisdemokratischen Strukturen. Die noch zum Teil unkoordinierte Organisierung der bewaffneten Teile verteidigt bald schon ganze Stadtteile und drängt Armee und regimetreue Milizen zurück. Dies sind nur einige kurze Ausführungen über die Massenproteste und ihre allgemeinen Auswirkungen.

Außerdem sind dies Teile der „1. Welle“ des Arabischen Frühlings, als sich die Regime in der Defensive befanden, Diktatoren wie Ben Ali und Mubarak gestürzt wurden. In dieser Phase spielten Frauen eine wichtige Rolle, da auch sie an vorderster Front gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpften. Sie übernahmen wichtige und notwendige Rollen während der Proteste, welche von Sanitätsaufgaben, über journalistische Arbeit bis hin zur Mobilisierung und Organisierung reichten. Dabei muss angemerkt werden, dass vor allem in dieser Phase geschlechtsspezifische Forderungen keine essenzielle Rolle spielten. Denn egal ob männlich oder weiblich, alt oder jung, der Schrei gegen Unterdrückung, nach sozialen Forderungen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnten, und für den Sturz der Regime und Demokratie betraf alle.

Doch die weitere Entwicklung des Arabischen Frühlings – sowohl seine Ausweitung in andere Länder wie auch die Reaktionen der Staatsapparate, die weiter bestanden, und der herrschenden Klassen, die sich auf sie stützen – veränderte auch die Forderungen. Darin wurden auch mehr geschlechtsspezifische Fragen laut. In einigen Ländern übernahmen auch weibliche Personen wichtigere Rollen. Dabei konnten z. B. im Libanon Frauenorganisationen an Masse gewinnen und im Sudan wurden Videos von protestierenden jungen Frauen in weißen Hidschabs immer verbreiteter. Doch die Konterrevolution – egal in welcher Welle des Arabischen Frühlings und in welcher Form, ob durch offene brutale Repression und Bürger:innenkrieg oder durch eine Mischung aus Repression und Inkorporation – rief überall nach der Einschränkung von Frauenrechten und der Rolle der Frauen, die in den Revolutionen sichtbar wurde. Wir wollen diese exemplarisch in einigen Ländern genauer betrachten.

Wir kämpfen – wir sind nicht Opfer

Sehen wir in den westlichen Medien etwas über den Arabischen Frühling, scheinen fast ausschließlich nur männliche Personen vor die Linse der Kamera zu treten. Beim Lesen von vor allem liberalen Berichten und Analysen zum Arabischen Frühling werden weibliche Personen oft als Opfer von Gewalt und Vergewaltigungen dargestellt. Und auch wenn dies leider tragische Wahrheit ist, so ist dies nicht das Einzige, welches die Rolle der Frauen in den Revolutionen widerspiegelt.

So spielten Frauen als Aktivist:innen und Medienschaffende eine große Rolle: Asmaa Mahfuz in Ägypten, Arwa Othman im Jemen, Lina Ben Mhenni in Tunesien, um nur einige Namen zu nennen. Durch die gewerkschaftliche Organisierung von Frauen in Tunesien konnte hier eine starke Präsenz von weiblichen Personen verzeichnet werden. Dabei waren sie nicht nur Journalistinnen, sie waren Teil von Volkskomitees, welche tunesische Wohnviertel schützten, vor allem in Phasen, als der Staat kollabierte.

Nach dem Sturz von Bin Ali wählte Tunesien 2011 die verfassunggebende Versammlung, in welcher mehr als 20 % der Abgeordneten aus Frauen bestanden. Dies zeigt die allgemeine Tendenz, welche von den Aufständen verursacht und errungen wurde, dass sich Frauen vermehrt an öffentlichen Debatten und Entscheidungen beteiligten. Es entstehen viele neue NGOs, Organisationen, und viele Frauen lassen sich in unterschiedlichen Ländern zur Wahl aufstellen.

Es wurden zum Teil Räume und Möglichkeiten geschaffen, in welchen das Bild der Frau, ihre Rolle und die Frage der Sexualität immer mehr Gegenstand der Debatten wurden.

Dabei mussten Frauen für diese kleinen Errungenschaften viel leisten: In praktisch allen Ländern wandten die Kräfte des alten, erschütterten, aber letztlich nicht gestürzten Regimes systematisch sexuelle Gewalt gegen protestierende Frauen an. Dadurch sollte ihre Moral gebrochen werden, um ihre Präsenz und die Bewegung insgesamt zu schwächen. So gibt es Berichte darüber, dass in den Truppen in Libyen, welche loyal zum Diktator al-Gaddafi standen, Viagra verteilt wurde.

In Ägypten versammeln sich am 8. März 2011 Frauen auf dem Tahrir-Platz, um den Frauenkampftag zu feiern. Sie werden von Gegendemonstrant:innen eingekreist und brutal angegriffen. Am darauffolgenden Tag erfolgt die systematische Schikane seitens der Armee. Diese stürmt zusammen mit Polizei und bezahlten Schlägertrupps den Platz. Von den Protestierenden werden 18 Frauen inhaftiert und bei 7 von ihnen wurden im Gefängnis „Jungfräulichkeitstest“ durchgeführt. Die Gewalt gegenüber Frauen nahm am 17.12.2011 eine neues Höchstmaß an, beim „Vorfall mit dem blauen BH“, bei welchem das ägyptische Militär eine protestierende Frau verprügelte. Videos wurden veröffentlicht, in welchem man die ohnmächtige Frau erkennt, wie sie an ihren Armen durch die Straße gezerrt wird, ihre Abaya (Überkleid) zerrissen und ihr nackter Körper mit einem blauen BH wird deutlich. Daraufhin versammelten sich am 20.12.2011 Tausende Frauen und Männer auf dem Tahrir-Platz. Dies wird als einer der größten Frauenproteste der vergangenen Jahre in die Geschichte eingehen.

Die systematische sexualisierte Gewalt durch staatliche und reaktionäre Kräfte führte dazu, dass Frauen einheitlicher auftraten, Frauenorganisationen gegründet wurden und diese eine Koalition aufbauten. Frauen waren notwendige Akteur:innen der Proteste, welches ihnen Legitimität und Aufmerksamkeit verlieh. Dies versuchten Diktatoren wie Salih im Jemen zu unterbinden. In einer Ansprache am 15.04.2011 versuchte er durch den Satz „Der Islam verbietet die Vermischung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit“, die großen Sit-ins und Platzbesetzungen zu diskreditieren.

Oftmals kämpften Aktivistinnen auch gegen ihre eigenen Familien und Verwandtschaftskreise, da diese sich gegen ihren Aktivismus stellten. Ein Beispiel hierfür ist die bekannte syrische Schauspielerin Fadwa Soliman. Trotz Gefahr von Tod oder Gefängnis wollte sie an den Protesten teilnehme, um die ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinung zu widerlegen, dass alle Mitglieder der alawitischen Gemeinschaft, die etwa 10 % der syrischen Bevölkerung ausmachen, die Regierung ihres alawitischen Landsmanns Baschar al-Assad unterstützen. Sie wollte auch die Darstellung der Regierung widerlegen, dass diejenigen, die an den Protesten teilnahmen, entweder Islamist:innen oder bewaffnete Terrorist:innen seien. Dabei wurde sie jedoch von ihrer Familie ausgeschlossen und exkommuniziert.

Es ist nicht unüblich, dass in solchen spontan auftretenden Protesten Forderungen nach Würde, Regimewechsel, Freiheit vordersten Rang einnehmen. Dabei kämpften überall Frauen und Männer Seite an Seite für den Sturz „ihrer“ Regime. Auch wenn sich die patriarchale Unterordnung von Frauen in der Region allein durch den Arabischen Frühling nicht auflösen konnte, ermöglichte er ein Aufsprengen und Hinterfragen vieler traditionelle patriarchaler Gedanken, Ideologien und Geschlechterrollen. Dabei sitzen diese tief und lassen sich nicht durch einen Regimewechsel und einige demokratische Gesetze überwinden.

Mit dem Eintreten der Welt in die imperialistische Epoche kämpften die Massen in den Kolonien gegen ihre Unterordnung, Ausbeutung und Fremdherrschaft. Antikoloniale Kämpfe führten jedoch nicht zu einer kompletten Unabhängigkeit dieser Länder. Es entstanden Halbkolonien, Staaten, die zwar formal politisch unabhängig sind, aber wirtschaftlich und letztlich auch politisch abhängig von imperialistischen Staaten und ihrer Weltordnung. Diese Abhängigkeit führte dazu, dass halbkoloniale Länder systematisch unterentwickelt gehalten wurden, sich Ungleichheit im Rahmen der globalen Arbeitsteilung verfestigte, wenn nicht sogar verstärkte. Vorkapitalistische Herrschaftsformen und patriarchale Strukturen wurden nicht zerschlagen, sondern vielmehr in den halbkolonialen Kapitalismus und den Weltmarkt integriert. Wir erinnern daran, dass die USA unter anderem an Stammesführer in Afghanistan, Irak oder Syrien Waffen lieferten und diese als Partner eher akzeptierte als andere, wodurch sie auch den Fortbestand dieser Strukturen unterstützten. Während des Arabischen Frühlings konnte beobachtet werden, dass für viele Frauen der Aktivismus von ihren Familien und Freund:innen ungern gesehen war und ihnen viele Steine in den Weg gelegt wurden.

Forderungen, die vermehrt genderspezifisch aufgeworfen wurden, wurden vor allem in den Nachwehen des Arabischen Frühlings populär. So spielten Aktivistinnen 2019 in den Oktoberprotesten im Irak eine wesentliche Rolle. Aktivistin Amira Al-Jaber erzählt in einem Interview mit Al Jazeera (Al Dschasira), dass die Präsenz von Frauen in den Protesten dazu beigetragen hat, die von der Gesellschaft auferlegten Beschränkungen, unsere Stimme nicht zu zeigen, zu brechen. Wir haben den Slogan: „Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande“ erhoben.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die objektive Lage von Frauen sich nicht verbessert hat, sondern konterrevolutionäre Parteien und Regime, Bürgerkrieg und, im Extremfall, der Aufmarsch von Daesch (Islamischer Staat) immer mehr ihre Rechte einschränkten. Aber der Arabische Frühling verlieh zugleich vor allem Frauen Erfahrungen, Kampfgeist und Sichtbarkeit in öffentlichen Räumen.

Wie kämpfen wir für einen neuen Arabischen Frühling? Wie tragen wir den Kampf gegen Frauenunterdrückung in die Massen?

Der Arabische Frühling, egal ob in Tunesien, Bahrain, Irak oder Sudan war eine fortschrittliche Erhebung der Massen, welche sich gegen Verarmung und repressive Regime richtete. Dabei darf die Rolle von imperialistischen Mächten, die die Region systematisch in Abhängigkeit halten, um die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und Natur zu garantieren, und die deshalb blutige Regime unterstützen, nicht vergessen werden. In vielen Raps, die in Phasen der Massenproteste aus dem Untergrund als Ausdruck der Wut der Jugend bekannter wurden, tritt eine Imperialismuskritik immer mehr in den Vordergrund.

Die Forderung nach grundlegenden demokratischen Rechten ist eine wichtige, kann jedoch nur durch Revolutionen umgesetzt werden, welche die Diktatoren und ihre Milizen und Armeen zerschlagen. Auch wenn die Revolutionen in vielen dieser Länder als „demokratische“ beginnen, so können sie ihre Ziele nur erreichen, wenn sie auch die Grundstrukturen der Gesellschaft, Kapitalismus und Imperialismus, infrage stellen, mit einer sozialistischen Umwälzung verbunden werden. Die Revolution muss permanent werden – oder sie wird nicht fähig sein, die alten Regime und ihre Grundstrukturen vollständig zu beseitigen.

Der Arbeiter:innenklasse kommt dabei eine Schlüsselrolle hinzu. Die aufkommenden Streiks bis hin zu Generalstreiks waren wichtige und notwendige Mittel, um die aufgeworfenen Forderungen umsetzen zu können. Jedoch können uns demokratische Systeme keine Sicherheit geben, und ein Rückfall in autoritäre Regime mit ihren Diktator:innen kann immer wieder erfolgen und hat immer wieder mit Unterstützung der Imperialistischen Mächte stattgefunden. Wir müssen die Revolution in eine soziale umwandeln, welche die Machtverhältnisse umstürzt und die Klassenverhältnisse, welche zur Ausbeutung und Anhäufung des Reichtums einiger weniger beitragen, zerschlägt. Dabei war es einer der großen Fehler im Arabischen Frühling, dass die Massen und Streikenden keine Organe der Doppelmacht errichteten.

Damit die Revolution siegreich sein kann, muss sie in den Streiks, Massenaufständen und Erhebungen eigene demokratische Kampfstrukturen – Streik- und Aktionskomitees – aufbauen, die sich zur Räten entwickeln können und landesweit zentralisiert werden. Nur so können sie dem zentralisierten Staats- und Machtapparat die gebündelte Kraft der Revolution entgegenstellen und damit auch Organe einer neuen, revolutionären Ordnung schaffen, die den alten Staatsapparat zerschlägt und an seine Stelle tritt.

Um diese Streiks, Demonstrationen, Versammlungen, Räte, Gewerkschaften und Parteien der Unterdrückten zu verteidigen, braucht es auch eine eigene, von Komitees der Arbeiter:innen und Unterdrückten kontrollierte Miliz. Um die einfachen Soldat:innen, die sich nicht in den Dienst der Reaktion stellen wollen, zu gewinnen, braucht es den Aufbau von Soldat:innenräten, die sich mit jenen der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern verbinden.

Damit eine solche Perspektive Fuß fassen und erfolgreich umgesetzt werden kann, braucht die Revolution eine politische Kraft, die sie anführen kann, eine revolutionäre Partei. Diese muss die kämpfenden und fortschrittlichsten Teile der Unterdrückten und Arbeiter:innen sowie Frauen und Jugendlichen organisieren. Es braucht dabei das Recht von geschlechtlich Unterdrückten, Caucusse zu bilden, welches ihnen ermöglicht, sich in den eigenen Reihen unabhängig vom anderen Geschlecht zu treffen. Dabei soll einerseits ein Ort geschaffen werden, an welchem über den Sexismus in den eigenen Reihen geredet werden kann und Forderungen und Analysen in die Partei zurückgetragen werden können. Die revolutionäre Partei muss dabei Taktiken für den Kampf diskutieren und entwickeln, ein Programm erarbeiten, welches den Kampf für eine Revolution bündelt. Essentiell ist für das Überleben dieser revolutionären Partei die Verbindung mit Revolutionär:innen in den anderen halbkolonialen Ländern sowie den imperialistischen Staaten.

Die Unterdrückung der Frau kann zwar letztlich nur aufgehoben werden, wenn der Kapitalismus zerschlagen ist. Dies bedeutet aber nicht, dass in Revolutionen und Aufständen weibliche Aktivist:innen keine wesentliche Rolle spielen. Sie sind Speerspitzen kommender Proteste, welches die Frauenrevolution in Iran aufgezeigt hat. Der Kampf um demokratische Rechte und für soziale Forderungen muss immer zusammen mit dem gegen die Unterdrückung von Frauen gedacht werden. Die aktuelle Situation in den beschriebenen Ländern schreit nach einem 2. Aufflammen des Arabischen Frühlings. Die Zeit ist reif. Lasst uns dabei nicht nur lose Bewegungen aufbauen, sondern organisiere dich schon jetzt für den Aufbau revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale!




Der Kampf der Belutsch:innen gegen staatliche Morde und Ausbeutung

Minerwa Tahir, Gruppe Arbeiter:innemacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Ihr Land ist besetzt und Militärkontrollpunkte kontrollieren ihre Bewegungsfreiheit. Das Land ist reich an Gas, Mineralien und Öl, aber ihre Ressourcen werden ohne Entschädigung geplündert. Ihnen werden die grundlegenden sozialen und demokratischen Rechte vorenthalten. Sie werden häufig als „Terrorist:innen“ gebrandmarkt und entmenschlicht. Ähnlich wie die Palästinenser:innen sind die Belutsch:innen nicht länger bereit, ihr gewaltvolles Schicksal hinzunehmen.

Das Volk der Belutsch:innen lebt in der Region Belutschistan, die zwischen Pakistan und Iran aufgeteilt ist. Dies ist die Provinz mit der größten Fläche und der kleinsten Bevölkerung. Sie grenzt an den Iran und Afghanistan. In der Region gibt es seit Langem eine Aufstandsbewegung, die von Separatist:innen angeführt wird, die die Unabhängigkeit von Pakistan fordern. Andere Teile der nationalen Bewegung fordern eine größere Autonomie und/oder mehr Rechte innerhalb des pakistanischen Staatsgefüges.

Die jüngste Auseinandersetzung zwischen Belutsch:innen und pakistanischem Staat wurde durch die Ermordung des 24-jährigen Balach Mola Bakhsh und dreier weiterer Personen am 23. Oktober 2023 in der Stadt Turbat im Distrikt Kech in Belutschistan ausgelöst. Es kam zu einer Welle von Protesten, da die Belutsch:innen den Staat dafür anklagen, dass Bakhsh ein weiteres Opfer außergerichtlicher Tötungen sei. Die Proteste gipfelten in dem „Langen Marsch der Belutsch:innen“, eines über 1.000 Meilen durchgeführten Protestmarsches, der von Familienangehörigen, Freund:innen und anderen Aktivist:innen zu Fuß unternommen wurde. Während dessen gesamter Dauer führten die pakistanischen Behörden eine Desinformationskampagne gegen die Demonstrant:innen und setzten sie wiederholt Einschüchterungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen aus.

Hintergrund

Am 23. November 2023 meldete die pakistanische Abteilung für Terrorismusbekämpfung (CTD), dass sie in einer geheimdienstlichen Operation vier „Terrorist:innen“ getötet habe. Einer von ihnen wurde als Bakhsh identifiziert, nachdem die Leichen der örtlichen Polizei übergeben worden waren. Unterdessen begann die Familie von Bakhsh mit dem Leichnam eine Sitzdemonstration. Sie berichteten, dass Bakhsh vor einem Monat von der CTD verhaftet und dem örtlichen Gericht vorgeführt worden war, das ihn für 10 Tage in Polizeigewahrsam nahm.

Die Demonstrant:innen forderten die Verhaftung der CTD-Beamt:innen und die Einsetzung einer gerichtlichen Kommission zur Untersuchung der Morde. Nach Angaben der Familie wurden alle vier Opfer in Gewahrsam getötet. Ein Richter am Gericht von Turbat hatte die örtliche Polizei daraufhin sogar angewiesen, eine Anzeige gegen den für die Morde verantwortlichen Beamten zu erstatten. Doch das verläuft seither im Sand.

BLM: Langer Marsch der Belutsch:innen

Der Lange Marsch der Belutsch:innen (BLM) begann am 6. Dezember 2023, wird vom Baloch Yakjehti Committee (Baloch-Solidaritätskomitee) organisiert und von unbewaffneten Frauen und Kindern aus Belutschistan angeführt, die auf ihrem Weg von dort nach Islamabad schweren Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt waren. Diese Frauen haben jahrzehntelang unter Schmerzen und Ängsten gelitten, denn ihre Väter, Ehemänner, Brüder und Söhne sind „gewaltsam verschwunden“. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist eine jahrzehntelange Praxis, gegen die die Belutsch:innen immer wieder protestieren. Männer werden Berichten zufolge von staatlichen Behörden wegen Terrorismusverdachts festgenommen und „verschwinden“ dann. Am 16. Januar 2024 berichtete die Untersuchungskommission für gewaltsames Verschwindenlassen, dass sie seit 2011 insgesamt 10.078 Fälle registriert hat, davon 3.485 in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa und 2.752 in Belutschistan.

Zu den Forderungen der BLM gehörten nicht nur Gerechtigkeit für die vier Opfer der Morde vom Oktober, sondern auch ein Ende der barbarischen und undemokratischen Praktiken des Verschwindenlassens und Tötens.

Am 17. Dezember wurden 20 belutschische Demonstrant:innen verhaftet, als der lange Marsch über Dera Ghazi Khan in die Provinz Punjab (Pandschab) zu gelangen versuchte.

Als die unbewaffneten Demonstrant:innen in der Nähe von Islamabad ankamen, ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen sie vor, unter anderem mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern. Um ihnen den Weg nach Islamabad zu versperren, errichtete die Polizei Barrikaden rund um die Hauptstadt, schlug und verhaftete eine Reihe von Teilnehmer:innen. Gegen ältere Menschen und Minderjährige wurde brutale Gewalt angewandt, während Frauen von Männern in Uniform weggezerrt wurden.

Belutschische Frauen führen internationale Solidarität an

Der von Frauen angeführte Protest der Belutsch:innen musste aufgrund verschiedener Faktoren, die von extremer Kälte bis hin zu schweren staatlichen Repressionen reichten, abgebrochen werden. Dennoch bedeutet das nicht auf ein Ende der Bewegung hin. Es scheint vielmehr der Beginn der nächsten Phase der Bewegung zu sein, d. h. einer, die die Unterdrückten der Region zusammenführt. Am 21. Januar 2024 organisierte das Baloch Yakjehti Committee trotz aller staatlichen Hindernisse die erste Internationale Konferenz der Unterdrückten in Islamabad. Diese wurde mit dem Ziel organisiert, die Unterdrückten der Region zu vereinen und den „Völkermord an den Belutsch:innen“ aufzuklären. Dies ist natürlich eine positive Entwicklung, die der Bewegung gegen nationale Unterdrückung helfen wird, aus ihrer Isolation auszubrechen und Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung zu werden.

Der pakistanische Staat behauptet, die Vorwürfe über einen Völkermord an den Belutsch:innen seien übertrieben. Die Menschenrechtsaktivistin Mahrang Baloch verwies jedoch auf die Einrichtung eines Friedhofs mit unbekannten verstümmelten Leichen, auf Kinder, die auf der Straße nach ihren Vätern suchen, auf kollektive Tötungen und Massengräber als Beweis für den Ernst der Lage und forderte die internationale Gemeinschaft auf, diese Gräueltaten als eine Form des Völkermords anzuerkennen. Im Jahr 2014 wurden beispielsweise im Bezirk Khuzdar Massengräber gefunden.

Frauen wie Mahrang sind sich bewusst, dass sie nicht allein leiden. Auf der Internationalen Konferenz für unterdrückte Völker in Islamabad erhob sie ihre Stimme nicht nur gegen den  „Völkermord an den Belutsch:innen“, sondern auch gegen die Herausforderungen, mit denen Hazara, Sindhi, Muhajir, Paschtun:innen, Schiit:innen, Hindi, Christ:innen und andere unterdrückte Nationalitäten, aber auch religiöse Minderheiten in Pakistan zu kämpfen haben.

Das anhaltende Massaker an den Palästinenser:innen und die darauffolgende internationale Solidaritätsbewegung haben auch dazu geführt, dass es zumindest in einigen Staaten schwerer wird, die eigenen Gräueltaten zu vertuschen.

Es wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, die Ignoranz vieler Pakistaner:innen gegenüber dem Leiden der Belutsch:innen zu brechen. Das scheint jedenfalls ein Stück weit gelungen zu sein, was sich daran zeigt, dass die Mainstreammedien über den von Frauen geführten BLM berichtet haben wie nie zuvor.

Wir sehen, dass die Lehren, die die Bewegung der Belutsch:innen gegen die nationale Unterdrückung aus ihren Erfahrungen mit verschiedenen politischen Strömungen gezogen hat, ihnen mehr und mehr bewusst gemacht haben, dass ihre Befreiung mit der anderer unterdrückter Nationen zusammenhängt, einschließlich derer, die unter der indischen Besatzung in Dschammu und Kaschmir unter ähnlicher Unterdrückung leiden.

Wir solidarisieren uns klar mit dem Volk von Belutschistan in seinem Kampf gegen die nationale Unterdrückung. Das Volk der Belutsch:innen hat ebenso wie die Palästinenser:innen und die Kaschmiris das Recht auf Selbstbestimmung. Wir stehen an ihrer Seite, so wie wir an der Seite der Palästinenser:innen, der Kurd:innen, der Iraner:innen, der Afghan:innen, der Armenier:innen, der Kaschmiris, der Dalits und der Rom:nja und Sinti:zze stehen. Wir rufen die Arbeiter:innen und Unterdrückten der Welt auf, sich die Sache der Belutsch:innen zu eigen zu machen. Schließlich ist niemand von uns frei, solange wir nicht alle frei sind.

Letztendlich besteht die Bedeutung des BLM und der oft von Frauen geführten neu entstehenden Massenbewegung auch darin, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung selbst einer politischen und strategischen Neuausrichtung bedarf. Historisch ist er stark vom Gueriallismus und von einer Etappentheorie der Befreiung geprägt, derzufolge das strategische Ziel des Kampfes die Errichtung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse – entweder in Form eines eigenen Staates oder von mehr demokratischen Rechten für die Provinz im Rahmen des pakistanischen Staates – sein solle. In beiden Fällen wären jedoch die kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse davon nicht berührt.

Genau darin liegt eine entscheidende Schwäche der bisherigen Bewegung. In Wirklichkeit ist die Unterdrückung der Belutsch:innen eng mit Kapitalismus und Imperialismus verbunden. Belutschistan ist reich an Rohstoffen, die von der pakistanischen und imperialistischen Bourgeoisie ausgebeutet werden. Es hat eine wichtige geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung für die „Neue Seidenstraße“ Chinas (CPEC). Dies sind nur einige Beispiele dafür. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, eine Perspektive zu weisen, wie der Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem gegen die Ausbeutung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verbunden werden kann – in Belutschistan und ganz Pakistan. Nur eine Einheitsfront aller Organisationen unterdrückter Ethnien und Arbeiter:innen kann den pakistanischen Staat effektiv unter Druck setzen und ihn zwingen, das Morden zu stoppen. Die Nation der Belutsch:innen muss mithilfe demokratischer Rechte in der Lage sein, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden. Die führende Rolle von Frauen bei der Organisierung, Durchführung und öffentlichen Vertretung des BLM verweist darüber hinaus darauf, dass diese nicht nur eine führenden Rolle im Kampf für nationale Befreiung und sozialistische Umwälzung, sondern auch für den Kampf gegen das Patriarchat spielen können und werden.




Frauenbewegung in den USA und die Abtreibungsfrage

Jan Hektik, Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Seit Jahrzehnten stehen die Abtreibungsrechte im Fokus der Frauenbewegung in den USA – nicht erst seit dem 24.06.2022, als der Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof) die Grundsatzentscheidung „Roe vs. Wade” kippte (Entscheidung Dobbs vs. Women’s Health Organization). Dabei stellen sie nicht nur die Frage der Selbstbestimmung über den eigenen Körpers, des Lebens und der Gesundheit von Frauen auf die Tagesordnung. Der Stand der Bewegung zeigt auch auf, welchen Problemen die Frauenbewegung sich im Kampf gegen die (meist fanatisch christliche) Rechte gegenübersieht.

Rechtliche Situation

„Roe vs. Wade” wurde 1973 gefällt und garantierte seitdem Frauen grundsätzlich das Recht, über den Abbruch von Schwangerschaften selbst zu bestimmen – bis zum Juni 2022. In den Monaten nach dem Urteilsspruch  wurde der Zugang zu Abtreibungs- und Reproduktionsdienstleistungen in fast der Hälfte des Landes drastisch eingeschränkt oder verboten. Viele Kliniken bieten in den betroffenen Bundesstaaten keine Dienstleistungen mehr an, da die Rechtslage unberechenbar geworden ist, mit einer breiten Palette an staatlichen Maßnahmen, die nach dem Urteil eingeführt wurden – einschließlich Verboten, die vor Roe galten (einige davon stammen aus den 1800er Jahren), neuen Gesetzen und mehreren laufenden Gerichtsverfahren. Diese Unvorhersehbarkeit hat in vielen Staaten zu einer abschreckenden Wirkung geführt, so dass Anbieter:innen von Abtreibungen aus Angst vor rechtlichen Schritten ihre Dienste vorsorglich eingestellt haben. Die Lage gestaltet sich nun wie folgt:

In 14 Bundesstaaten ist Abtreibung bis auf wenige Ausnahmen illegal (Alabama, Arkansas, Idaho, Indiana, Kentucky, Louisiana, Mississippi, Missouri, North Dakota, Oklahoma, South Dakota, Tennessee, Texas, West Virginia). Dies bedeutet, auch bei sexualisierter Gewalt, psychischen Folgen oder unmittelbarer Gefahr für die Gesundheit der Mutter und unabhängig von den Überlebenschancen des Kindes ist ein Abbruch der Schwangerschaft in diesen Staaten nicht erlaubt. So verbot jüngst ein texanisches Gericht einer 31-jährigen die Abtreibung ihres höchstwahrscheinlich nicht lebensfähigen Fötusses, die einen Notfallschwangerschaftsabbruch beantragt hatte. Weitere 13 stehen Abtreibung generell feindlich gegenüber und planen entweder die Illegalisierung oder starke Einschränkungen. In 11 wurden der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen vereinfacht und besonders geschützt (Kalifornien, Connecticut, Hawaii, Illinois, Maryland, Minnesota, New York, Oregon, Vermont, Washington).

In den restlichen Staaten ist die Frage nicht so einfach zu beantworten. Beispielsweise versucht die Legislative in Florida, immer wieder Angriffe auf das Abtreibungsrecht durchzuführen, das oberste Gericht Floridas verhindert dies jedoch regelmäßig. Dabei ist herauszustellen: Die rechtliche Lage alleine gibt nicht wieder, wie der Zugang zu Kliniken, die Finanzierung des Eingriffs oder die Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten aussehen. Das heißt, selbst keine oder lediglich partielle Einschränkungen bedeuten nicht automatisch, dass Selbstbestimmung über den eigenen Körper so einfach möglich ist.

Seit dem Urteil des Supreme Court hat rund die Hälfte der Gesetzgeber:innen in den Vereinigten Staaten insgesamt mehr als 500 neue Gesetze zu Abtreibungen erlassen, die zu einer Verschärfung oder einem absoluten Verbot von Abtreibungen geführt haben, drohen allen, die Frauen helfen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, hohe Haft- und empfindliche Geldstrafen und als Arzt/Ärztin auch der Entzug der Berufslizenz. Die krassesten Forderungen der Abtreibungsgegner:innen sind die nach Verhängung der Todesstrafe (South Carolina), Verbot der Zulassung für die Abtreibungspille Mifepriston  und Streichung der Ausnahmen bei Vergewaltigung und Inzest (Texas).

Auswirkung

Schon vor Einschränkung der Selbstbestimmung war in keiner Industrienation die Müttersterblichkeit so hoch wie in den USA. Die Tendenz nimmt aktuell zu. Dabei zeigt die Realität, dass die Auswirkungen der Einschränkungen je nach Klassenlage unterschiedlich ausfallen: Der  Flickenteppich aus verschiedenen Regelungen, der eingeschränkte Zugang zu Krankenversicherungen sowie allgemein schlechte medizinische Versorgung in den USA führen dazu, dass vor allem proletarische Schichten ungleich stärker getroffen werden. Die emotionale Belastung, ungewollt schwanger zu sein, sowie die Ablehnung durch das Umfeld treffen zwar alle, es macht jedoch einen massiven Unterschied, ob man es sich leisten kann, nach Kalifornien zu fliegen, um dort eine Abtreibung durchzuführen, oder dies schlichtweg nicht bezahlen kann. Diesen bleibt dann nur übrig, Abtreibung illegal oder durch Freund:Innen vornehmen zu lassen – oder das Kind zu bekommen.

Dabei weisen viele der Bundesstaaten mit Abtreibungsverbot bereits jetzt die schlechtesten wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen für Frauen und Familien in den USA auf wie keinen garantierten, bezahlten Urlaub aus familiären und medizinischen Gründen, keine Ausweitung der MedicAid-Deckung auf 12 Monate nach der Geburt und schon jetzt höhere Armutsquoten von Frauen und Kindern als im Landesdurchschnitt. Diese Entscheidung sorgt letzten Endes dafür, dass die wirtschaftliche Stellung von Frauen sich weiter verschlechtert, und drängt sie in die Abhängigkeit von Beziehungen – und setzt sie auch der Situation aus, partnerschaftliche Gewalt aushalten zu müssen. Ebenso ist herauszustellen, dass nicht-weiße Frauen, insbesondere Schwarze, besonders davon getroffen werden, da sie schon jetzt überproportional in Gegenden mit schlechter medizinischer Infrastruktur leben, im Kindbett sterben und von rassistischen Übergriffen und Benachteiligungen im Gesundheitssystem betroffen sind.

Und der Widerstand?

Immer wieder kommt es zu größeren Protesten, zumeist angeführt von den Demokrat:innen wie zum 50. Jahrestag der „Roe vs. Wade”-Entscheidung, bei der Tausende auf die Straße gingen. Jedoch hat der Widerstand mehrere Probleme: Die sporadischen Proteste sind kaum miteinander koordiniert, was ihre Ausweitung erschwert. Vor allem ist jedoch die Strategie der Führung der Proteste – der bürgerlichen Demokratischen Partei – fehlerhaft. Hier zeigt sich sehr anschaulich, welche Probleme mit dem klassenübergreifenden Kampf für Unterdrückte verbunden sind.

Das Motto der Demokrat:innen lautet: wählen, bilden und überzeugen. Ganz nach dem Motto: „Wir müssen nur gut genug darlegen, warum es wissenschaftlich und gesundheitlich richtig ist, Menschen, die die das Recht auf Abtreibung anerkennen, in Positionen wählen, wo sie Entscheidungen treffen können, dann werden sich Gesetze und Gerichte danach richten. Schließlich haben doch auch die Rechten über Gesetzgebung und den Supreme Court diese Änderung bewirkt.“

Diese Überlegung krankt jedoch an zwei Denkfehlern: Zum einen vertauscht sie Ursache und Wirkung. Die US-amerikanische Rechte stellt eine Bewegung dar, welche durch Demonstrationen, Verbreiten von Propaganda und Angriffen ihre Ziele durchsetzt, damit die Republikanische Partei vor sich hertreibt und ihre Ziele umsetzt. Die Gesetzgeber:innen und Richter:innen im Supreme Court sind nämlich dabei nicht das Mittel, sondern Ergebnis einer kämpfenden Bewegung, welche auch nicht davor zurückschreckt, faschistoide Elemente zu verwenden. Dass sie Teile der Bevölkerung ansprechen kann, liegt auch nicht an mangelnder Aufklärung dieser, sondern entweder daran, dass diese ihre gesellschaftliche Stellung halten wollen oder sich bereits in einer schlechten ökonomischen Situation befinden und keine andere Alternative aufgezeigt bekommen, außer gegen marginalisierte Gruppen zu kämpfen.

Gerade deswegen ist zum anderen der Weg der Überzeugung fehlerhaft. Über 2/3 der US-Bevölkerung stehen dem Abtreibungsrecht grundsätzlich positiv gegenüber. Es gilt nicht, das letzte Drittel zu überzeugen, sondern sich zu fragen, weshalb 1/3 über 2/3 entscheiden kann und wie dies zu beheben ist. Wenn 70 % Mehrheit nicht reichen, warum sollten es 80 % tun? Wenn die Demokrat:innen seit den 1970er Jahren keine ihrer Mehrheiten genutzt haben, um Abtreibungsrechte gesetzlich zu verankern, warum sollten sie es in Zukunft tun?

Warum eigentlich?

Die Republikaner:innen und Rechten mit der gesellschaftlichen Dynamik über ein Werkzeug, ihre Position durchzusetzen. Die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung über weibliche Körper zementiert die Herrschaft von Männern über Frauen in Beziehungen, stärkt die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie und bietet Männern eine Ablenkung von der Krise (und individuell ein Gefühl ihrer Abschwächung), während es gleichzeitig Frauen bindet und daran hindert, dagegen zu kämpfen. Natürlich gibt es nicht irgendwo eine geheime Verschwörung rechter Köpfe, die einen Masterplan über die Stärkung der bürgerlichen Familie ausgeheckt haben, sondern es sind gesellschaftliche Kräfte und Tendenzen, die bestimmte Verhaltensweisen, Organisationen und Bewegungen stärken und andere schwächen.

Die Republikaner:innen und die Rechte profitieren gewissermaßen davon, dass ihre Ziele weniger widersprüchlich sind. Wer sich auf das religiös motivierte Verbot von Abtreibungen, Enthaltsamkeit als Verhütungsmethode und den Segen der bürgerlichen Familie beruft, kommt nicht nur gut bei religiösen Fundamentalist:Innen und konservativen Traditionalist:Innen an, sondern fördert auch nebenbei ein Umfeld, in welchem Frauen noch einfacher entlassen, unterbezahlt, teilzeitbeschäftigt und in die Reproduktionsarbeit getrieben werden können. Dies ist ein großes Plus für Unternehmer:innen – insbesondere in Krisenzeiten –,  welche Lohn- und Reproduktionskosten senken und nebenbei einen psychologischen Effekt der Überlegenheit bei ihren Arbeitern erzielen können, welcher sie ruhigstellt.

Die Demokrat:innen können sie sich in manchen Fragen zwar liberaler positionieren, kämpfen gegen offenen Sexismus, die Wurzel der Unterdrückung (die bürgerliche Familie) wollen sie jedoch nicht angreifen. Denn das würde bedeuten, dass sie mit ihrer Politik zugunsten der Profite der Unternehmen brechen müssten.

Wie kann die Bewegung Erfolg haben?

Um eine erfolgreiche Bewegung für Selbstbestimmung über den eigenen Körper auf die Beine zu stellen, bedarf es mehrerer Schritte:

Gemeinsame Forderungen, Slogans und koordinierte Proteste bilden einen ersten Schritt, um den bestehenden Aktivitäten einen gemeinsamen Deckel zu geben sowie mehr Ausstrahlung zu erreichen. Dies kann Ergebnis von Absprachen zwischen Organisationen sein, jedoch braucht es eine Strategiekonferenz, bei der Aktivist:innen zusammenkommen können und verbindliche Beschlüsse und Aktivitäten verabschieden. Dort muss diskutiert werden, wie die Bewegung aufgebaut werden kann – und wie ihr Weg verlaufen soll, ihre Forderungen zu erreichen. Unserer Meinung nach hat die Vergangenheit gezeigt, dass die Demokrat:innen sich zwar gerne an den Protesten beteiligen dürfen, ihre Strategie ist jedoch unzureichend und kann nicht als Grundlage genommen werden.

Wenn eine Bewegung Erfolg haben will, darf sie nicht nur Massendemonstrationen organisieren, sondern muss sich an Schulen, Universitäten sowie in Betrieben verankern und vor Ort präsent sein. Um das zu erreichen, ist es nicht nur wichtig, Aktivitäten vor Ort zu organisieren. Es ist auch notwendig, nicht nur gegen das Abtreibungsverbot zu kämpfen, sondern für konkrete Verbesserungen. Die Realität zeigt: Arme Schichten sowie insbesondere Nicht-Weiße sind besonders von den Abtreibungsverboten betroffen. Es müssen also Forderungen entworfen werden, die den Kampf um Selbstbestimmung mit dem für breitere Verbesserungen der Arbeiter:innenklasse insgesamt verbinden helfen. Ziel muss es sein, Druck auf die Gewerkschaften auszuüben, sodass diese sich aktiv an den Protesten beteiligen, selber mobilisieren und gemeinsam mit der Bewegung den politischen Streik als Waffe zur Durchsetzung der Forderungen lancieren können:

  • Reproduktive Gerechtigkeit jetzt: Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung!
  • Menschen statt Profite: Für ein staatliches Gesundheitssystem, in das alle einzahlen und welches alle Gesundheitsleistungen inklusive Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Geburten ohne Zusatzleistungen abdeckt (Single Payer HealthCare System)!
  • Schluss mit Abhängigkeit: Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Flächendeckender Ausbau von Schutzräumen für Betroffene von sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter, sowie LGBTIA+!
  • Für Aufklärungskampagnen an Schulen, Universitäten und in Betrieben durch Gewerkschaften zu Sexismus, sexuellem Konsens und Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

In so einer Bewegung ist es wichtig, dass Sozialist:innen eine revolutionäre Perspektive hereintragen. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass diese Probleme einer systematischen Umwälzung mindestens des US-Gesundheits-, Justiz-, Regierungs- und Polizeisystems bedürfen. Solange es einen Flickenteppich aus privaten Krankenkassen und Gesundheitseinrichtungen gibt, wird die Gesundheit (und werden damit sichere Abtreibungen, Schwangerschaften und Geburten) ein Privileg der Reichen sein! Das heißt: Wir unterstützen den Kampf für Reformen und Verbesserungen. Gleichzeitig muss dieser damit verbunden werden, dass Elemente von Arbeiter:innenkontrolle in die Forderungen mit eingebunden werden, um sicherzustellen, dass diese im Interesse der Klasse umgesetzt werden und aufzeigen, wie der Kapitalismus überwunden werden kann. Das kann beispielsweise so aussehen:

  • Versorgung garantieren: Verstaatlichung des Gesundheitssektors unter Kontrolle der Arbeiter:innen! Flächendeckender Ausbau von Kliniken, insbesondere in ländlichen Regionen, sowie massive Aufstockung des Personals!
  •  Schluss mit Diskriminierung in der Medizin: Für Sensibilisierungskampagnen gegen sexistische und rassistische Vorurteile!
  • Armut stoppen: Anhebung des Mindestlohns auf 15 USD/Stunde und Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Finanzierung durch die Besteuerung der Reichen und verbindliche Offenlegung der Geschäftskonten gegenüber den Gewerkschaften!

Bewegung alleine reicht nicht

Das zeigt die Richtung, in die es gehen muss. Die Aufgabe von Revolutionär:innen in den USA ist letzten Endes eine dreifache: a) der Aufbau einer Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit; b) Bildung eines Pols in dieser Bewegung, der eine revolutionäre Perspektive aufzeigt; und c) der Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, die es schafft, unterschiedliche Bewegungen zu sammeln und mit einer Perspektive, einem realen Programm zum Erfolg zu führen – also das kapitalistische System zu zerschlagen. Ihre Aufgabe besteht  somit nicht primär darin, zu Wahlen anzutreten, sondern die Kämpfe zu organisieren, planen und aktiv zuzuspitzen. Dabei muss sie als Bindeglied zwischen den verschiedenen kämpfenden Gruppen (People of Colour, Frauen, Gewerkschaften, LGBTIA+, Umweltbewegung) fungieren und den offenen Kampf gegen die Politik der Mitverwaltung des Kapitalismus seitens Demokrat:innen und Gewerkschaftsführung in diese tragen. Nur so kann letzten Endes gesichert werden, dass reproduktive Gerechtigkeit nicht nur als Wahlkampfslogan benutzt, sondern aktiv umgesetzt wird. Dabei ist essentiell, dass in Gewerkschaften oder politischen Organisation der Arbeiter:innenbewegung gesellschaftlich unterdrückte Gruppen das Recht haben, einen Caucus zu bilden, sich gesondert nur unter sich zu treffen, um die eigene Unterdrückung in einem Schutzraum diskutieren zu können!




Kritik des transnationalen Feminismus

Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Transnationaler Feminismus? Viele, insbesondere im deutschsprachigen Raum, haben diesen Begriff wahrscheinlich noch nicht gehört. Doch Autorinnen wie Arruza, Bhattacharya und Fraser, die „Feminismus für die 99%“ verfasst haben oder Verónica Gago, die in„How to change everything“ einen Vorschlag für eine feministische Internationale skizziert – sie alle sind  von theoretischen Konzeptionen des transnationalen Feminismus geprägt. Daher durchziehen diese Ideen auch die Frauen-/Fem*Streikbewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern am 8. März viele Personen auf die Straße bringen konnten.

Feministische Streikwelle

Die Streiks haben ihren Ursprung 2016 in Lateinamerika im Rahmen der ursprünglich argentinischen Bewegung #Ni Una Menos (Nicht eine mehr), welche sich vor allem auf die vielzähligen Femizide bezog, und breiteten sich bis 2019 weltweit aus. So gingen am 8. März 2018 in über 177 Ländern Menschen für die Rechte der Frauen auf die Straße. Allein in Spanien streikten 2018 und 2019 6 Millionen Frauen gegen sexuelle Gewalt, für gleiche Löhne und das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In der Türkei demonstrierten mehrere Tausende trotz starker Repression seitens des Erdogan-Regimes. In Pakistan beteiligten sich am Aurat-Marsch in den größeren Städten wie Lahore, Karatschi, Hyderabad und Islamabad ebenfalls Tausende an den Aufmärschen. Doch Pandemie und daraus resultierende Einschränkungen von Protestmöglichkeiten haben scheinbar zu einem Abflachen der Bewegung geführt. Es folgten Solidarisierungen mit dem Protest iranischer Frauen sowie lokale Streiks, welche über das Jahr verteilt stattfanden, wie in der Schweiz, Baskenland oder in Island (siehe Artikel dazu in dieser Ausgabe).

Doch die immense Kraft des internationaler Frauen-/ Fem*Streiks konnte auf lokaler Ebene nicht derartig reproduziert werden. Denn wenngleich sich die Organisator:innen immer wieder auch auf Frauen in anderen Ländern und deren Kämpfe bezogen, das Ausbleiben von internationaler Absprache und Koordinierung, die diese Streikbewegung auf ein höheres Level heben könnten, blieb aus.

Die Potenziale und die ursprüngliche Anziehungskraft, die die Frauen-/Fem*Streikbewegung ausübte, wurden also nicht genutzt. Im Folgenden wollen wir uns deswegen anschauen, welche Rolle der transnationale Feminismus dabei spielt. Dafür wollen wir zuerst betrachten, was diesen überhaupt ausmacht, wie er entstehen und sich etablieren konnte, und gehen dann über in eine Kritik der theoretischen Ansätze. Im letzten Teil wollen wir dann aufzeigen, was unserer Meinung nach stattdessen notwendig ist, um den Imperialismus und seine patriarchalen Strukturen weltweit zu schlagen.

Was ist überhaupt transnationaler Feminismus?

Wie bei den meisten politischen Strömungen, gibt es auch im transnationalen Feminismus unterschiedliche Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen. Den gemeinsamen Kern bildet jedoch die Ablehnung einer globalen, international zusammenhängenden und koordinierten feministischen Bewegung. Dies entspringt aus der Annahme, dass nicht alle Frauen auf die gleiche Weise und aus gleichen Gründen unterdrückt werden. Somit haben und können sie auch  keine gleichen Interessen vertreten. Die Ausmaße dieser Ablehnung sind von Theoretiker:in zu Theoretiker:in unterschiedlich stark ausgeprägt. So fordern fordern manche durchaus eine lose Zusammenarbeit, eine gegenseitige Bezugnahme und einen Erfahrungsaustausch, wie sie auch in der Frauen-/Fem*Streikbewegung stellenweise umgesetzt wurden.

Dem zugrundeliegende Idee ist die Ablehnung der „globalen Schwesternschaft“, die vom westlichen Feminismus propagiert wird. Das schließt auch ein, dass feministische Ideale oder Werte, wie sie von westlichen Feminist:innen auf Frauen aus Halbkolonien projiziert werden, als eurozentrisch, unangebracht sowie paternalistisch verstanden werden. Das Leben in der westlichen Welt solle als Ideal übergestülpt werden – obwohl es komischerweise auch dort noch Frauenunterdrückung gibt. Ein nachvollziehbares Beispiel sind Vertreter:innen wie Alice Schwarzer, die der Meinung sind, Frauen aus Halbkolonien müssten in erster Linie gegen religiöse Unterdrückung kämpfen und wären frei, sobald sie beispielsweise das Kopftuch ablegen „dürften“ – ganz egal ob diese vielleicht ganz andere Probleme für ihre Unterdrückung als Frau identifizieren (zum Beispiel imperialistische Ausbeutung und Abhängigkeiten). Oftmals geht dies damit einher, Frauen aus Halbkolinien in eine Opferrolle zu drängen. Schließlich müssen die „erstmal über ihre Rechte aufgeklärt werden“. Gleichzeitig gehen Teile des transnationalen Feminismus (z. B. Spivak, Mitbegründerin der postkolonialen Theorie) sogar von einer Kompliz:innenschaft westlicher Frauen mit dem westlichen Imperialismus aus, weswegen das Ziel von Spivak nicht darin besteht, Gemeinsamkeiten in ihrer Lage als unterdrückte Frauen zu erkennen, sondern die Verbindung („linkage“) zu begreifen. Daraus resultiert auch eine Ablehnung von  generalisierenden Theorien wie etwa der marxistischen über Imperialismus oder eines Klassenbegriffs, da diese den Blick von den spezifischen lokalen Zusammenhängen ablenken würden.

Zuerst das Positive: Eine Kritik am Begriff der „globalen Schwesternschaft“ ist mehr als notwendig und berechtigt. Es gibt zwar Probleme, die alle Frauen treffen, aber eben nicht auf die gleiche Art und Weise – sei es beim Kampf gegen Gewalt an Frauen, Selbstbestimmung über den eigenen Körper oder der Ungleichverteilung der Hausarbeit. Das erzeugt letzten Endes trotzdem die Illusion von Frauen als Gesamtheit. Nachvollziehbar ist das am besten am Beispiel der „Girlboss“-Mentalität. Während auf der ganzen Welt Frauen in schlechten, zumeist informellen Arbeitsbedingungen angestellt sind sowie der Gender Pay Gap ein reales Problem ist, wird oftmals der Fokus auf Forderungen wie „Frauenquote in Führungsetagen“ gelegt oder die Förderung von Frauen als Unternehmerinnen, ganz nach dem Motto „Representation matters“. Sind diese jedoch in der Führungsriege angekommen, liegt es – Überraschung! – nicht in ihrem Interesse, dass  Löhne steigen, denn das könnte den Profiten schaden. Sie werden nicht zugunsten der „globalen Schwesternschaft“ anfangen, höhere Löhne zu zahlen oder  unbefristete Verträge auszustellen. Das würde ihre eigene Position innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz gefährden. (Und wenn sie es tun, würden sie aufgrund dieser untergehen.) Somit hilft die Girlboss-Mentalität der Mehrheit der Frauen der Arbeiter:innenklasse sowohl in imperialistischen Staaten als auch in Halbkolonien kein Stück. Für sie ist es letzten Endes egal, wer in der Führungsetage sitzt, wenn es darum geht, ob man vom Lohn das Leben bestreiten kann. Dabei muss angemerkt werden, dass die Lage der Arbeiterinnen nicht komplett gleich ist. In den imperialistischen Staaten ist die Arbeiter:innenklasse natürlich privilegierter als die in Halbkolonien. Doch auf diese Frage wollen wir später noch einmal zurückkommen.

Herauszustellen ist, dass auch wir die Idee des bürgerlichen Feminismus ablehnen, es würde eine globale klassenübergreifende Schwesternschaft geben. Ein damit einhergehendes Problem ist nämlich auch, dass die bürgerlichen Feminismen keine Antwort darauf haben, wie Frauenunterdrückung eigentlich überwunden werden kann. Sie setzen sich nur für Reformen und somit für die Festigung ihrer eigenen Stellung ein und da sie daher den Imperialismus nicht angreifen (wollen), müssen sie sich auch umso mehr aufklärerisch und eurozentristisch gegenüber Frauen in Halbkolonien verhalten. Somit basiert der weiße bürgerliche Feminismus auch auf der Überausbeutung der Frauen in Halbkolonien. Dies entspringt jedoch nicht aus kulturellen Unterschieden, einer  „besonderen Psychologie“ der Frauen in den Halbkolonien oder einer grundsätzlichen, klassenunabhängigen Kompliz:innenschaft westlicher Frauen. Das Problem liegt woanders und zwar in der Klassengesellschaft und im Imperialismus selbst. Diese benötigen die doppelte Ausbeutung der Arbeiterin, da diese einerseits Mehrwert in der Produktion erwirtschaftet und andererseits die unentlohnte Reproduktion der Ware Arbeitskraft in der Arbeiter:innenfamilie verrichtet. Hier sehen wir also den Grund, warum es keine globale Schwesternschaft gibt: Die Interessen der Frauen verschiedener Klassen unterscheiden sich genauso wie die konkrete Lage der Frauen in imperialistischen Staaten und in Halbkolonien. Doch gleichzeitig hegen Frauen der Arbeiter:innenklasse international nicht nur ein gemeinsames objektives Interesse, die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung, den Kapitalismus, zu überwinden; sondern auch die Fähigkeit dazu aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess.

Wie ist der transnationale Feminismus entstanden und wie hat er sich entwickelt?

Verfasst wurden die Grundlagen des transnationalen Feminismus bereits in den 1970er, 1980er Jahren und stellen eine Reaktion auf das Fehlen eines internationationalistischen Programms dar, das weder bürgerliche Feminist:innen aufgrund ihres Fehlschlusses der globalen Schwesternschaft geben konnten noch die damalige Arbeiter:innenbwegung, in der Reformismus sowie Stalinismus die führenden Kräfte darstellten. So gewann diese Strömung mit dem Zusammenbruch des Stalinismus sowie  der Veränderung der Weltlage – dem Beginn der Globalisierung – schließlich mehr Relevanz in den 1990er Jahren. Diesen Prozess wollen wir im Folgenden skizzieren, um für die kommende Auseinandersetzung mit den Theoretiker:innen eine Grundlage zu schaffen.

a) Verrat und Zerfall des Stalinismus

So wie der transnationale Feminismus eine Strömung innerhalb des feministischen Spektrums ist, so der Stalinismus eine der Arbeiter:innenbewegung, die noch dazu als Marxismus auftritt. Einen vollen Abriss der Entwicklung können wir an dieser Stelle nicht geben, jedoch halten wir es für notwendig, auf eine Punkte einzugehen, um aufzuzeigen, warum einige Kritikpunkte seitens der transnationalen Feminist:innen berechtigt sind – aber letzten Endes nicht den Marxismus, wohl aber seine stalinistischen und reformistischen, verfälschenden Lesarten treffen. Dabei können wir an dieser Stelle nicht auf alle Kritikpunkte eingehen. Für den Gegenstand relevant sind jedoch vor allem zwei Punkte: Die dem Stalinismus zugrundeliegende Etappentheorie sorgte für fehlerhafte politische Außenpolitik, da sie zur illusionären Strategie der globalen „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus führt. So wurden Initiativen der Arbeiter:innenklasse wie in Griechenland oder Polen und Revolution wie in Spanien und anderen Ländern verraten, da Unterstützung nur in in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus stattfand. Zudem spielte in den 1980er Jahren die UdSSR beispielsweise in Afghanistan eine konterrevolutionäre Rolle sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus. Auch die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen Analphabetismus unter Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiss zu kommen. Doch der Stalinismus verriet die Interessen der proletarischen Frauen auch auf anderer Ebene: Während es nach der Oktoberrevolution 1917 diverse Anstrengungen gab, die Hausarbeit zu vergesellschaften und Rechte auf körperliche Selbstbestimmung umzusetzen, drängte der Stalinismus darauf, die sogenannte „neue Familie“ umzusetzen, letztendlich auch nichts anderes als das Ideal der bürgerlichen Familie mit sowjetischem Anstrich, bei dem die Mutterrolle auf eine reaktionäre Art und Weise stark unterstrichen und die Frau somit wieder in die häusliche private Reproduktionsarbeit gedrängt wurde. Auch die Mangelwirtschaft der UdSSR fiel insbesondere den Frauen zur Last, da sie nicht die Möglichkeit hatten, Küchengeräte zu nutzen, die in imperialistischen Ländern längst Einzug gehalten hatten und dort die Intensität der Hausarbeit massiv verkürzten. Auch die Nahrungsmittelknappheit fiel vor allem Frauen zur Last. Die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. blieben außerdem auch eine Domäne der Männer. Es gab zwar auch diverse Errungenschaften, aber nicht im Ansatz genügend, was notwendig gewesen wäre, um die Frauenbefreiung wirklich voranzutreiben. Im Angesicht dieser Politik ist es nicht verwunderlich, dass diese, unter dem Label des Marxismus betrieben, kein Mittel zur Befreiung sein kann – ob nun für Frauen insgesamt oder in der halbkolonialen Welt.

Die Restauration des Kapitalismus in Russland, China und Osteuropa stellt zwar auch eine Niederlage der Arbeiter:innenbewegung dar und wurde von vielen als Beweis betrachtet, dass sich gezeigt habe, dass der Marxismus nicht siegen könne und gescheitert wäre. Somit kehrten viele ihm den Rücken zu und suchten nach anderen Ideen und Theorien, die „moderner“ erscheinen sowie die Fehler des angeblichen Marxismus nicht wiederholen sollten – z. B. Theorien des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus. Auch der Queerfeminismus von Butler entspringt dieser Zeit.

b) Aufkommen der Globalisierung

Gleichzeitig kam es unter anderem aufgrund dessen, dass kein Systemantagonismus mehr bestand, zu einer Periode der Globalisierung. Die USA mussten sich als Hegemon beweisen, um der ganzen Welt eine einheitliche ökonomische Politik aufzuzwingen. Gleichzeitig mussten sie die Überakkumulation mitsamt den immer weiter fallenden Profitraten in der heimischen Wirtschaft vorerst versuchen zu kompensieren. Dafür stülpten sie ihr Wirtschaftssystem immer größeren Teilen der Welt über und dehnten ihre Konzerne ebenso in diese Regionen aus. Die Unternehmen hatten zwar bereits früher zweitrangige Niederlassungen in Halbkolonien, doch sie wurden nun wirklich multinational. Ein bedeutender Teil der Warenproduktion selbst wurde weg aus den imperialistischen Staaten in die Halbkolonien ausgelagert, da billigere Arbeitskraft und generell die geringeren Produktionskosten dort höhere Profite versprachen. Das ging auch mit dem Anspruch auf Steuererleichterungen und diverse Sonderrechte gegenüber den Regierungen der Halbkolonien einher. Die Folge davon sind „Löhne“ am absoluten Existenzminimum, hochgefährliche Arbeitsplätze (z. B. hinsichtlich des Feuer- oder Gesundheitsschutzes), Sklaverei und Kinderarbeit. Ebenso wurden Freihandelszonen errichtet. Zusätzlich wurden staatliche Vermögen von diesen Unternehmen aufgekauft und wurde Geld von ausländischen Regierungen geliehen. Somit spitzte sich auch der Imperialismus immer weiter zu, da die Arbeiter:innen der halbkolonialen Staaten nun in Teilen direkt von der westlichen Bourgeoisie ausgebeutet und auch die Regierungen und die regionale Bourgeoisie immer abhängiger vom USA-Finanzkapital wurden. Durch die sich verschärfende Situation in den Halbkolonien gewann die Idee des transnationalen Feminismus an Bedeutung und die Kämpfe bezogen sich nun explizit auf die Ausbeutung von Frauen in dortigen multinationalen Unternehmen, antikoloniale sowie Kämpfe indigener Bevölkerungen gegen Vertreibung und Zerstörung bzw. Landgrabbing ihrer Landflächen durch imperialistische Konzerne.

Zu einem besonderen Höhepunkt kam es während der Invasion der USA in Afghanistan: Durch die Instrumentalisierung von Frauenrechten im Kampf gegen die Taliban versuchten die USA, ihre geopolitischen Interessen in diesem Krieg zu verstecken. Westliche Feminist:innen beteiligten sich an dieser Stimmungsmache, wo die andere Kultur allgemein rassistisch verunglimpft wurde und sie als barbarisch im Gegensatz zur eigenen, zivilisierten dargestellt werden sollte. Ähnliches passierte beim Irakkrieg: Die Rechte der Irakerinnen wurden auf einmal zu einem wichtigen Ansatzpunkt der USA während der Invasion, während man sich davor jedoch gar nicht um sie scherte. Insbesondere diese Ereignisse verliehen der Theorie des transnationalen Feminismus mehr Bedeutung innerhalb der feministischen Debatten.

Dekonstruktivistische Elemente und Ablehnung von Generalisierungen

Im Gegensatz zur marxistischen Zielsetzung der Überwindung der materiellen Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung liegt das Ziel transnationaler Feminist:innen darin, den westlichen Feminismus auf einer postkolonialen, antiimperialistischen und intersektionalen Ebene zu kritisieren und daraus Schlüsse für das lokale Vorgehen in feministischen Kämpfen zu ziehen. Dafür bedienen sie sich in gewissem Maß des Dekonstruktivismus, wie bereits im „transnational“ zu erkennen ist: Die Vorsilbe „trans“ soll hier darauf hinweisen, dass nicht nur  nationalstaatliche Grenzen überwunden werden sollen und der Kampf auch in „Sphären“ außerhalb staatlicher Strukturen geführt werden (zum Beispiel in der Nachbarschaft, der Familie, der Freund:innengruppe), sondern auch, dass die Nation an sich als Kategorie in Frage gestellt werden soll. Somit werden Nationalstaaten nicht als „real existierende Gebilde“ angesehen, welche eine wichtige Funktion für Kapitalismus und Imperialismus erfüllen und die es natürlich durchaus zu kritisieren und zu überwinden gilt, sondern eher als Narrative, die subjektive Meinungen widerspiegeln würden und mit anderen Ideen anstatt mit tatsächlich radikalem Handeln bekämpft werden müssten.

Ein weiteres Element des Dekonstruktivismus im transnationalen Feminismus ist die bereits erwähnte Annahme, dass es keine generalisierenden Theorien geben könne. Damit einher geht die Idee, es würde keine außerhalb des Diskurses existierende, objektive Wahrheit geben. Jede Erfahrung von Unterdrückung ist somit grundsätzlich anders und die Verbindungen müssen alle berücksichtigt werden, um sie nachvollziehen zu können. In diesem Fall soll allerdings der subjektive Idealismus dieser Annahme dadurch verschleiert werden, dass es sich bei den Betroffenen nicht um Einzelpersonen handelt und sie in einem regionalen Kollektiv zusammengeschlossen werden können. Trotzdem sei diese regionale Erfahrung völlig anders als jede andere und könne nicht kategorisiert werden. Solch eine Auffassung nimmt offensichtlich den Nährboden für jegliche objektive Analyse weg und vor allem für eine gemeinsame Praxis der Unterdrückten für gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Sie ist einerseits idealistisch und andererseits rückschrittlich, da sie verhindert aufzuzeigen, woher gemeinsame, aber auch unterschiedliche  Unterdrückungserscheinungen kommen. Im Gegensatz dazu gibt es im Marxismus durchaus die Möglichkeit einer Überwindung von reiner Subjektivität: das revolutionäre Bewusstsein, welches von den geschichts- und erkenntnisstiftenden Elementen in der gesellschaftlichen Arbeit und ihren Wandlungen im historischen Materialismus getragen wird und der Anerkennung dessen, dass es durchaus eine objektive, materialistische Realität gibt, die dafür sichtbar gemacht werden muss. Warum dies notwendig ist, um kollektive Befreiung zu erreichen, wollen wir um Folgenden argumentieren, indem wir uns mit verschiedenen Theoretiker:innen näher auseinandersetzen.

Khaders Kritik am westlichen Feminismus

Die transnational-feministische Theoretikerin Serene Khader bezeichnet den westlichen Feminismus auch als missionarisch, da die westlichen Feminist:innen von ihrer ideologischen Vormacht überzeugt seien. Sie bezieht sich hierbei auf ihre folgenden Werte:

1. die westliche Überlegenheit, legitimiert durch das quasi theologische Paradigma der Aufklärung, und damit einhergehend:

2. der Unabhängigkeitsindividualismus, was bedeutet, dass es als Ideal gilt, wenn Frauen in keinerlei Abhängigkeit zur Familie und Beziehungspersonen stehen,

3. Aufklärungsfreiheit, was das Infragestellen von Traditionen und religiösen Überzeugungen zu einem Ideal macht, und

4. der Ansatz, dass Genderrollen Geschlechtergerechtigkeit verhindern und für die Befreiung von sexistischer und sexueller Unterdrückung aufgehoben werden müssen.

Diese Werte und daraus hervorgehenden Lebensarten würden imperialistische Strukturen festigen, da sie zur Idealisierung westlicher Werte und Verschleierung des Einflusses der imperialistischen Ausbeutung auf die Halbkolonien beitragen würden. Um diese Probleme zu überwinden, seien Ansätze notwendig, die Wertschätzung der Beziehungsabhängigkeiten, Tradition, Religion und Geschlechterrollen ermöglichen sollen. Deswegen sei es nötig, die spezifischen Kontexte in Betracht zu ziehen und eine konkrete Praxis anstelle idealistischer, abstrakter Moralvorstellungen zu etablieren. Denn bei einer Generalisierung könne es sonst dazu kommen, dass die Unterdrückung in den lokalen Unterschieden und nicht im imperialistischen System verortet wird. Des Weiteren solle der Widerstand gegen antifeministische Praktiken nur von den Betroffenen selber kommen und keine Intervention von außen erfolgen, um sie nicht zu entmündigen. Erstmal ist es natürlich völlig richtig, den westlichen bürgerlichen Feminismus und seinen Überlegenheitsanspruch in Frage zu stellen. Jedoch sollte hier differenziert werden, denn manche seiner Ideen und Forderungen stellen zumindest keinen falschen Ausgangspunkt dar.

a) Fortschritt und Entwicklung im historischen Materialismus

Die Grundsätze der Aufklärung wie Kritik der Kirche als Institution, Fokus auf Vernunft und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Bürger:innenrechte stellen – auch wenn sie bürgerliche Errungenschaften sind –  innerhalb der historischen Entwicklung einen Fortschritt dar. Zwar dienten sie zur Legitimation der bürgerlichen Herrschaft gegenüber dem Feudalsystem, also letztendlich des Kapitalismus, verkörperten aber gleichzeitig eine Verbesserung gegenüber dem religiös geprägten Austausch. Zudem ist die Behauptung, die Aufklärung sei eine rein westliche Erfindung bereits eine Rückkehr zum Orientalismus, den die postkolonialen Theorien, auf die sich der transnationale Feminismus bezieht, eigentlich kritisiert hatten. So gab es auch beispielsweise im Osmanischen Reich vergleichbare Ansätze und der Bezug auf Rationalität und Naturwissenschaftlichkeit ist kein rein „europäisches Phänomen“.

Wichtig ist, dass der Fortschritt einer einzelnen Gesellschaftsformation nicht als „ewig“, starr und unantastbar gelten darf, sondern im Verhältnis zu seinen eigenen Potentialen und auch Entwicklungshemmnissen beurteilt werden muss. Denn jede dieser von Widersprüchen geprägten Gesellschaftsform verliert irgendwann ihren fortschrittlichen Charakter und muss sich ihrer Fesseln entledigen (oder fällt zurück). Das heißt, dass es nur Brüche und Umwälzungen der Produktionsformen sind, die einen wirklichen Fortschritt bringen können, nicht die unaufhörliche Weiterentwicklung der jeweiligen Gesellschaftsform. Sichtbar kann das zum Beispiel werden, wenn wir die rückschrittlichen Tendenzen des Kapitalismus in seinem aktuellen Stadium betrachten: Er ist zu einer Fessel des Fortschritts und der Befreiung der Menschheit geraten.

Demnach ist es jedoch völlig richtig, im Rahmen der Imperialismustheorie die halbkolonialen Staaten als unterentwickelt zu betrachten. Das soll keine Herabwürdigung darstellen, sondern beschreibt ihr materialistisches, dialektisches Verhältnis zu den imperialistischen Staaten. Halbkolonien sind gar nicht in der Lage, sich gleichsam wie diese zu entwickeln, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit die Entwicklung nicht aufholen können. Es ist sogar ein erklärtes Ziel der imperialistischen Staaten, sie unterentwickelt zu halten, auch wenn mit „Entwicklungshilfe“ etwas anderes suggeriert werden soll. Das darf jedoch nicht in eine ideologische Vormachtstellung insofern umschlagen, als dass man die Unterdrückten selbst auch als „unterentwickelt“ einschätzt und sie somit rassistisch abwertet, ihnen die eigene Perspektive aufzwingt oder dies zur Legitimierung des bestehenden Systems nutzt.

Gleichsam darf man nicht zur Schlussfolgerung kommen, wie sie auch Stalinist:innen entwickelten, es sei erst eine bürgerliche Revolution in den Halbkolonien notwendig, um dann diese noch einmal erneut überwinden zu müssen. Sehr wohl müssen aber die bürgerlich-demokratischen Aufgaben vollendet werden, was einen wichtigen Ansatzpunkt für revolutionäre Kräfte darstellt. Dazu aber  später mehr. Erstmal stellt sich hier natürlich die Frage nach der Notwendigkeit des Bruches mit der vorkapitalistischen Ausbeuter:innenordnung: Dieser ist nicht notwendig, da die Halbkolonien bereits in das imperialistische Weltsystem und dessen grenzenlosen Drang nach Wertschöpfung integriert sind. So haben bereits gemäß Trotzkis Gesetz der kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung die fortschrittlichen Technologien in den Halbkolonien Einzug erhalten, denn die Produktivkräfte kennen den nationalen Rahmen nicht und müssen nicht in jeder Region neu erfunden werden. Das äußert sich auch darin, dass die Entwicklung in den Branchen, welche für die Kapitalbewegung interessant sind, vorangetrieben wird. Daher breitet sich zum Beispiel die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien immer weiter aus, während gleichzeitig die rückschrittlichen Produktionsformen und -techniken trotzdem weiterhin gefestigt werden, zum Beispiel in der Landwirtschaft, um die Reproduktionskosten und damit das Lohnniveau weiterhin so günstig wie möglich zu halten. Was könnte eine bürgerliche Revolution nun ändern? Vermutlich wenig. Denn die lokale Bourgeoisie kann sich aufgrund ihrer geringen Größe und ihres unbedeutenden Einflusses nicht von den internationalen Investor:innen lossagen und fürchtet die Rebellion der eigenen Bevölkerung viel mehr. Vor allem aber stellen diese rückständigeren Formen im modernen Kapitalismus im Wesentlichen keinen „störenden Überrest“ einer vorhergehenden Produktionsweise dar, sondern wurden in das kapitalistische Gesamtsystem integriert.

Auch in den Halbkolonien müssen Traditionen, kulturelle Praktiken und Religionen Kritiken unterzogen werden, um einen gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten zu können, da sie oftmals reaktionäre Elemente enthalten, die sich schon über Jahrhunderte entwickelten. So übte beispielsweise auch Marx Religionskritik aus, da er davon ausging, dass diese in jeder Klassengesellschaftsformation zur Verschleierung der materiellen Lage und Ausbeutung dient. Eine Kritik der Religion ist demnach notwendig, um die wahren Ursachen – die Klassengegensätze – zu Tage zu bringen. Das heißt, dass Religion nicht die Basis der Unterdrückung liefert, sondern ihren Überbau, der benötigt wird, um sie aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Herleitend ist es also sogar im Sinne der Bourgeoisie, diese beizubehalten, da so die imperialistischen und neokolonialen Unterdrückungsmechanismen mystifiziert werden können. Letztendlich stellt sich die Behauptung Khaders, man müsse Konzepte entwickeln, die Religion und Co wertschätzen, genau in diesen Dienst der Imperialist:innen. Da Marxist:innen erkennen, dass die Religion eine materielle Basis in den bestehenden Verhältnissen hat, jedoch auch, dass diese wie jede andere bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologie nicht „abgeschafft“ werden kann, solange die Verhältnisse weiter bestehen, die sie hervorbringen.

Daher ist es falsch, von Frauen in Halbkolonien grundsätzliche Ablehnung ihrer Religion zu fordern, um ihre antisexistische Emanzipation voranzutreiben oder es gar zu einer Bedingung für den gemeinsamen Kampf zu machen. Jedoch ist der gegen theokratischen Regime fortschrittlich, denn diese errichten i. d. R. Diktaturen zum Leidwesen von Frauen, LGBTIA*-Personen, nationalen Minderheiten sowie der gesamten Arbeiter:innenklasse. Demnach können die Forderungen im Sinne der permanenten Revolution Trotzkis nach bürgerlichen Rechten wie Demokratie, gleichen Persönlichkeitsrechten für alle, Befreiung von feudalistischen und anderen vorkapitalistischen Rückständen, Frieden und Wohlstand jedoch als revolutionäres Vehikel funktionieren. Denn es ist klar, dass sie sich eben unterm Kapitalismus für Halbkolonien nicht erfüllen lassen, sondern die Strukturen der Klassengesellschaft überwunden werden müssen, um gleiche Rechte für alle und wirkliche Demokratie gewährleisten zu können. Ebenso dürfen diese Kämpfe nicht im nationalen Rahmen stehenbleiben, sondern müssen so viele Gebiete wie möglich umfassen und zu einer Weltrevolution werden.

b) Unabhängigkeitsindividualismus und Geschlechterrollen

Auch dieser Punkt an Khaders Kritik bedarf einer näheren Betrachtung. Für sie stellt der westliche Feminismus die unabhängige Karrierefrau in den Mittelpunkt, die keine Zeit für Familie, Kinder und Haushalt hat. Daraus resultiert, dass sie die Reproduktionsarbeit, die ihr durch die Geschlechterrollen als Frau aufgehalst werden würde, anders lösen muss: nämlich, indem sie andere Frauen dafür einstellt. Somit kann man sagen, dass die Reproduktionsarbeit auch im Kapitalismus schon in einer gewissen Hinsicht vergesellschaftet ist, allerdings unter dem Vorzeichen der herrschenden Klasse. Wer sich die Auslagerung von Reproduktionsarbeit leisten kann, hat Glück. Hierbei wird vor allem deutlich: Es handelt sich nicht um „den westlichen“ Feminismus per se, sondern um bürgerlichen Feminismus. Denn auch in halbkolonialen Ländern ist diese Form der Auslagerung für Frauen aus der herrschenden Klasse und Teile der Mittelschicht möglich.

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit kann also im Kapitalismus nicht wirklich für alle Beteiligten zufriedenstellend aufgelöst werden. Es ist zwar richtig, dass durch den Kapitalismus eine Entfremdung von der Gemeinschaft, die vorher in einer gewissen Hinsicht z. B. im Feudalismus existierte, ausgelöst wurde, das kann jedoch in den jetzigen Strukturen nicht überwunden werden, da sie auf der aktuellen Produktionsweise beruht. Angebliche Konzepte vorkapitalistischer Gemeinschaft und der Abhängigkeit fördern nicht die Frauenbefreiung. Ökonomische Abhängigkeiten sorgen oftmals dafür, dass Frauen eben nicht ihrem gewalttätigen Mann entfliehen können, da sie in ihrem Job aufgrund ihrer Verpflichtungen zur Reproduktionsarbeit, die ihnen mithilfe der Geschlechterrollen auferlegt wurden, zu wenig verdienen, um wirklich unabhängig zu leben. Das trifft natürlich auch Frauen, die gar nicht berufstätig sein dürfen (sei es aufgrund des Verbots durch Mann oder Staat). Es ist aber auch so, dass zum Beispiel alleinerziehende Mütter, die keine gesellschaftliche Unterstützung erfahren, auch nicht unbedingt bessere Lebensbedingungen haben. Um ihre Kinder großziehen zu können, sind sie oftmals auf flexible Arbeitsstellen mit Schichtarbeit angewiesen, damit sie alles unter einen Hut bekommen können. Flexible Jobs sind meistens auch im Niedriglohnsektor angesiedelt. Jedoch ist ihre Lage genauso darin zu verorten, dass die Reproduktionsarbeit ins Private verschoben wurde, anstatt eine gemeinschaftliche Pflege und Erziehung von Kindern bzw. Alten zu gewährleisten. Auch die Abhängigkeit von der eigenen Verwandtschaft geht sehr wohl mit patriarchaler Unterdrückung einher, wenn es zum Beispiel um Konzepte von Familienehre oder Zwangsheirat geht.

Natürlich sollte das Ziel nicht darin liegen, ein einsames zurückgezogenes Leben zu führen, um jeglicher Abhängigkeit zu entfliehen und alleine erfolgreich zu sein oder sich zumindest gerade so über Wasser halten zu können.

Der zentrale Punkt ist jedoch, dass für die Aufhebung der Strukturen, die Frauen in die Abhängigkeit drängen, wie das Ideal der bürgerlichen Familie, die der damit einhergehenden Geschlechterrollen und der ins Private gedrängten Reproduktionsarbeit den Schlüssel darstellen und nicht eine Illusion von spirituellen Gemeinschaften und traditionsreichen Abhängigkeiten. Denn diese stellen nur den ideologischen Ausdruck (den Überbau) der Frauenunterdrückung dar. Auch eine bloße Kritik der Geschlechterrollen kann keine Befreiung herbeiführen. Erst die Überwindung des Kapitalismus und die Kollektivierung von Produktion und Reproduktion können die aktuelle Entfremdung überwinden und zu einer neuen Gemeinschaft führen, die geprägt von vielerlei zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Die Annahme, Geschlechterverhältnisse seien in Halbkolonien grundsätzlich anders und hätten auch einen anderen Ursprung als in imperialistischen Staaten, entbehrt jeder Logik. Der ideologische Überbau und der Grad der sozialen Unterdrückung können sich zwar unterscheiden, aber zum Beispiel fortschrittlichere Gesetzgebungen können in imperialistischen Staaten auch wieder zurückgenommen werden, wie man an Abtreibungsrechten in den USA oder der Aberkennung von Rechten queerer Eltern in Italien in den letzten Jahren sieht. Gleichstellung auf dem Papier heißt nicht, dass diese wirklich konsequent umgesetzt und verfolgt wird, wie man  an der Anzahl der Femizide und sexualisierter Gewalt auch in imperialistischen Staaten feststellen kann.

Es mag in Halbkolonien vielleicht Strukturen geben, wo Gemeinschaft und Hausarbeit anders gelebt und geleistet werden, als das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie suggerieren soll. Das überschreitet aber trotzdem meistens nicht den Rahmen einer Familie und beschreibt dann eher die Zusammenarbeit von Frauen aus verschiedenen Generationen innerhalb ihrer, wie es auch in feudalen und anderen vorkapitalistischen Verhältnissen üblich war. Diese Umstände werden auch in manchen Fällen von den Imperialist:innen bewusst gefördert oder zumindest unangerührt gelassen. Es mag auch indigene Völker geben, deren Gesellschaftsstruktur mehr noch der des „Urkommunismus“ ähnelt, trotzdem stellen sie eine Seltenheit dar. Somit bleibt die Hausarbeit in den Halbkolonien also trotzdem im Privaten. Des Weiteren ist die Klasse der Lohnarbeiter:innen auch mittlerweile so ausgedehnt, dass die Notwendigkeit der Reproduktion im privaten Bereich dort ebenso besteht und ausgeführt wird. Die Grundlage der Unterdrückung der Frau bleibt also dieselbe: die Klassengesellschaft.

c) Entstehung des Bewusstseins

Die Annahme, es dürfe im Kampf gegen Antisexismus keine Interventionen von „außen“ geben, geht ebenso auf die bereits erwähnte Idee zurück, dass es keine objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit geben könne und lediglich die subjektiven Wahrnehmungen der Betroffenen ihnen Erkenntnisse über ihre individuelle Situation bringen könnten. Das heißt also, ausschließlich die Frauen in der jeweiligen Halbkolonie haben die Möglichkeit zu erkennen, warum sie unterdrückt werden, da sie die Betroffenen sind.

Erst einmal kommt niemand zum Bewusstsein, nur weil die Person unterdrückt wird. Sonst würde es bereits jetzt keinen Kapitalismus mehr geben. Natürlich kann die eigene Betroffenheit eine Anregung sein, um sich tiefergehender mit Hintergründen zu beschäftigen und Ideen dagegen zu entwickeln. Aber man kann genauso auch komplett falsch in seiner Analyse liegen. Denn das Bewusstsein ist eine kollektive Frage, welche ihre Grundlage und ihren Gradmesser von Wahrheit zwar in den ökonomischen Strukturen und im gemeinsamen Kampf gegen diese hat, jedoch auch mit theoretischen Erkenntnissen verknüpft werden muss, welche von außen in die Klasse getragen werden müssen. Das gilt auch für eine proletarische Frauenbewegung. Das soll natürlich nicht heißen, dass westliche Feminist:innen alles bestimmen, jedoch, dass es neben gemeinsamen Kämpfen auch eine gemeinsame internationalde Analyse der Welt braucht, wobei Internationalismus das Fundament bilden muss, um zu gewährleisten, dass die objektive Lage auch erfasst wird und nicht von nationalistischen Ideen bzw. imperialistischem Chauvinismus geprägt ist. Darauf aufbauend kann es dann Diskussionen über die gemeinsame Ausrichtung geben. Außerdem ist es auch notwendig, dass aus Erfolgen und Misserfolgen von Arbeiter:innen- und Frauenbewegungen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. Denn wenn jede:r Unterdrückte erst einmal unbehelligt wieder denselben Fehler machen soll, nur um nicht bevormundet zu werden, sieht es für unsere klassenlose und befreite Zukunft wahrscheinlich eher düster aus. Aber das darf natürlich keineswegs eine Einbahnstraße sein. Genauso muss der westliche Feminismus mitsamt seinen neoliberalen und individualisierenden Tendenzen scharf kritisiert werden, damit eine sinnvolle klassenkämpferische Einheit gegen Frauenunterdrückung gebildet werden kann, die sich auch wirklich Antiimperialismus und Antikapitalismus auf die Fahne schreiben kann und erfolgversprechend ist.

Kritik des Marxismus von Kaplan, Grewal und Spivak

Ein Blick auf die transnationalen Feministinnen Kaplan und Grewal zeigt jedoch, dass solch ein Ansatz nicht im Sinne des transnationalen Feminismus ist. Sie stellen in ihrem Text „Transnational Feminist Cultural Studies: Beyond the Marxism/Poststructuralism/Feminism Divides (1994)“ hauptsächlich infrage, dass es ein homogenes Weltproletariat gibt, und wollen damit beweisen, dass die marxistische Theorie veraltet sei. So würde es bei Anwendung eines Klassenbegriffes zu einer Gemeinmachung von Mann und Frau kommen, sowie würden soziale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung nicht beachtet werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass das Kapital heutzutage keine Konformität mehr produziert, also kein generalisiertes revolutionäres Subjekt, sondern, es die Personen in ihrem zugrundeliegenden kulturellen Kontext anspricht. Communities anstatt Klassen produzieren Bewusstsein, insbesondere durch den Versuch, mit Diversität die Ausbeutung zu verschleiern. Mit Bezugnahme auf Spivak argumentieren sie, es würde durch die imperialistische Wertschöpfungskette nicht nur der Wohlstand für die imperialistischen Staaten, sondern auch gleich die Möglichkeit zur kulturellen Selbstrepräsentation von den Halbkolonien produziert werden. Spivak geht davon aus, dass die Marx’sche Wertschöpfungstheorie nicht genügend erklären kann, wie soziale Unterdrückung entsteht. Sie schlussfolgert, dass kulturelle Dominanz und Ausbeutung Hand in Hand gehen und sich gegenseitig formen. Daraus herleitend lehnen Kaplan und Grewal jegliche generalisierenden Theorien und Kategorien ab, da diese nicht in der Lage seien, die Komplexität zu erfassen. Sie schlagen Solidarität und Koalitionen vor, aber keinen konkreten gemeinsamen Kampf oder gar gemeinsame Organisierung.

a) Zur Frage des Weltproletariats

Zuerst einmal ist es keine falsche Annahme, dass es kein homogenes Weltproletariat gibt. Der marxistische Klassenbegriff ist keine starre Kategorie, die die Arbeiter:innenklasse an ihrem monatlichen Einkommen misst, sondern argumentiert, dass die Arbeiter:innenklasse im Verhältnis zur Kapitalist:innenklasse und zu den Produktionsmitteln existiert. Der Weltmarkt schuf internationale Wertschöpfungsketten. Im Zuge der Globalisierung wurden vor allem in Asien, aber auch in weiteren Teilen der Welt Millionen in diesen integriert – als Arbeiter:innen, Landlose oder Arbeitslose ohne Zugang zu Produktionsmitteln. Die Kapitalbewegung bestimmt hier die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse und die konkrete Form der Ausbeutung, welche in Zeiten des Aufschwungs durchaus etwas liberaler oder bequemer ausgestaltet sein kann. In Zeiten von Krisen hingegen nehmen die Unterschiede zwischen der Lage der Klasse in imperialistischen Staaten und in den Halbkolonien immer weiter massiv zu. Die Arbeiter:innen der imperialistischen Staaten sind zweifelsohne privilegiert gegenüber denen in den halbkolonialen Staaten, aber sie bleiben dennoch die Ausgebeuteten, sie werden nicht selbst zur herrschenden Klasse. Abgeleitet aus diesen Punkten muss man schon die Existenz einer internationalen Arbeiter:innenklasse an sich gegen diese Annahme sprechen. Diese ist jedoch – wie bereits geschrieben – nicht homogen und es gibt Hindernisse, die dazu führen dass sie nicht als Klasse für sich auf internationaler Ebene agiert.

Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Schicht der Arbeiter:innenklasse, die wir als Arbeiter:innenaristokratie bezeichnen. Sie stellt in den imperialistischen Kernzentren einen privilegierten Teil dar – finanziert aus den Extraprofiten, d. h. der Überausbeutung der Arbeiter:innen der halbkolonialen Welt, und ist teilweise durch Kampfkraft entstanden, teilweise weil sie an einer derartig relevanten Stelle im Wertschöpfungsprozess angesiedelt ist, dass diese Schichten aus Mitteln der imperialistischen Überausbeutung heraus sozial befriedet wurden. Bedeutend ist diese Schicht, weil sie die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft bildet, die die Politik der Sozialpartnerschaft stützt. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist historisch zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt – als politische Polizei, verlängerter Arm des Staatsapparats. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das ist der Kern der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter:innenbürokratie bindet die Klasse somit an die Lohnform, selbst verschleierter Ausdruck des Klassengegensatzes. Sie ist in diesem Sinne ein strategisches Hindernis für Revolutionär:innen, die sich der Aufgabe stellen, den alltäglichen Widerstand (von Teilen) der Arbeiter:innenklasse in unerbitterlichen Widerspruch gegen die Klassengesellschaft zu bringen. Nicht nur, weil das Programm der Sozialpartnerschaft verhindert, dass Kämpfe in imperialistischen Zentren erfolgreich geführt werden, sondern weil die Idee der „Standortlogik“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit“ eine reale Hürde für die Herausbildung eines internationalistischen Standpunkts ausmachen und die Klasse spalten. Deswegen ist es auch zentral, diesem ein politisches Programm entgegenzustellen, anstatt die Unterschiede zwischen Arbeiter:innen in imperialistischen Ländern und Halbkolonien als gegeben hinzunehmen. Dies naturalisiert letzten Endes die vorhandene Spaltung.

Denn gleichzeitig sind die Privilegien der Arbeiter:innenaristrokatie nicht automatisch dauerhaft. Während diese Schicht selbst immer kleiner wird, wie man an Ländern wie Deutschland sehen kann, findet paralell eine fortschreitende Fragmentierung der Klasse in ihrer Gesamtheit statt. Das heißt: Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors nehmen Prekarisierung sowie Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zu und der Unterschied zwischen der Arbeiter:innnenaristokratie und den Arbeiter:innen der Niedriglohnsektoren in den imperialistischen Kernzentren wird größer. Auch die doppelte Ausbeutung in Produktion und Reproduktion der Arbeiterin werden in einer marxistischen Analyse nicht unter den Teppich gekehrt.

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dass die Arbeiter:innenklasse von der Überausbeutung ihrer Kolleg:innen in den Halbkolonien profitiert, so liegt es letzten Endes nicht in ihrem objektiven Interesse, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Dies kann letztlich nur auf einer internationalen Ebene erfolgreich sein oder ist zum Scheitern verurteilt. Um das zu gewährleisten, müssen Forderungen aufgestellt werden, die sich gegen die Auswirkungen des Imperialismus stellen – sei es beispielsweise im Falle von imperialistischen Interventionen, Sanktionen, der Auslagerung umweltschädlicher Produktion oder Ausbeutung. Dies ist möglich, da die entscheidende Gemeinsamkeit in der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft besteht. Demnach vereint diese auch das objektive Interesse, diese Ausbeutung zu überwinden und ermöglicht, es gemeinsame Kämpfe zu führen. Doch die postkoloniale Tradition des transnationalen Feminismus stellt hier die Differenz zwischen Ländern anstatt zwischen Klassen in den Vordergrund.

b) Kulturelle Vorherrschaft und Mehrwertschöpfung

Auch kann nicht behauptet werden, dass die kulturelle Vorherrschaft durch die Wertschöpfungsketten gleich mitproduziert wird, so wie von Spivak behauptet. Es handelt sich hierbei um ein völlig falsches Verständnis von Mehrwertschöpfung und Kapital. Die kulturelle Vorherrschaft dient dem Imperialismus als Begründung und Verschleierung der Ausbeutung, sie bildet einen Teil des gesellschaftlichen Überbaus. Hiermit wird die Spaltung der Klasse vertieft, werden Lohndumping und Differenzen begründet und die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern im Geiste „kultureller“ oder „rassischer“ Überlegenheit erzogen.

Im Endeffekt ist es zwar überhaupt nicht im objektiven Interesse des westlichen Proletariats, aber diese reaktionäre Ideologie stellt eine extrem wichtige Waffe in den Händen der herrschenden Klasse zur Sicherung ihrer globalen Herrschaft dar. Diese wird durch die Privilegien verstärkt, die die Lohnabhängigen – hier vor allem die Arbeiter:innenaristokratie – der imperialistischen Nationen im Verhältnis zu jenen der Halbkolonien genießen. Aber längerfristig und vom historischen Interesse der Lohnabhängigen aus betrachtet, bieten diese nicht nur keine Perspektive zur Überwindung der Ausbeutung, sondern stellten vielmehr eine Fessel für die Arbeiter:innenklasse auch in den imperialistischen Ländern dar, die sie an ihre Ausbeuter:innen bindet.

Diese Annahmen der kulturellen Vorherrschaft kritisieren zwar Spivak, Kaplan und Grewal zu Recht und der Kampf gegen diesen Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus muss in der Arbeiter:innnenklasse und ihren Organisationen entschlossen geführt werden – und zwar sowohl im Hier und Jetzt wie sicher auch nach erfolgreicher Revolution, denn selbst dann werden rückständige, über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte fest verankerte Ideen und Verhaltensweisen nicht ohne bewussten Kampf dagegen verschwinden. Die Theorie kritisiert zwar reaktionäres Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder – sie kapituliert aber letztlich davor, dieses zu bekämpfen. Direkt reaktionär ist ihre Ideologisierung rückständiger Bewusstseinsformen, z. B. religiöser Ideen in der Arbeiter:innenklasse der halbkolonialen Länder. Diese sind letztlich nichts anders als Mittel, mit denen die herrschende Klasse der Halbkolonien „ihre“ Arbeiter:innen (und armen Bauern/Bäuerinnen) politisch-ideologisch an eine kapitalistische Ordnung bindet. Hier zeigt sich der Klassencharakter dieser Theorien (wie postkolonialer Theorie). Scheinbar springen sie den „rückständigen“ Massen der Halbkolonien gegen „eurozentristische“ oder „universalistische“ Kritik bei. In Wirklichkeit zementriert ihr bürgerlicher Paternalismus ideologisch die Unterordnung und Ausbeutung der Lohnabhängigen in der halbkolonialen Welt.

Gagos Vorschlag einer feministischen Internationale: nichts Halbes, nichts Ganzes

Zum Schluss wollen wir uns noch Verónica Gago als zeitgenössische Vertreterin des transnationalen Feminismus kurz näher anschauen. Sie kann als Theoretikerin der mehr oder weniger aktuellen Frauen-/Fem*streikbewegung verstanden werden. Dabei ist herauszustellen, dass die Vernetzung und eine Gleichzeitigkeit der Aktionen am 8. März einen Fortschritt darstellen. Das beweist auch der anfängliche Erfolg der Bewegung, der in der Einleitung beschrieben wurde. Allerdings sind es die theoretischen sowie strategischen Mängel, die dafür sorgten, dass es nicht so bahnbrechend weitergehen konnte, wie die Bewegung begann. In der Tradition des transnationalen Feminismus lehnt Gago natürlich jegliche Homogenisierung der Bewegung durch ein gemeinsames Programm ab. Es ist zwar richtig, dass ein solches auf die unterschiedliche Lage von imperialistischen Staaten und Halbkolonien eingehen muss, jedoch kann es dennoch zwangsläufig einen gemeinsamen Kampf und ein gemeinsames Ziel geben. Schließlich sind die Gegenspieler, die imperialistischen Kapitale, auch dieselben Feinde, die nur in der Masse geschlagen werden können. Stattdessen kann die feministische Internationale Gagos überall praktiziert werden, sei es im Bett, auf derArbeit oder Straße.

Die Annahme, dass ein Streik außerhalb der Lohnarbeit genauso effektiv sein kann, und sei er noch so klein, wie zum Beispiel auf ein Lächeln zu verzichten, geht auch aus dem neuen Klassenbegriff von Gago hervor, welcher Arbeiter:innen, das Bäuerinnen-/Bauerntum und das niedere Kleinbürger:innentum zusammenschließen will, als ob diese in irgendeiner Form wirklich ein gemeinsames objektives Klasseninteresse hätten. Natürlich sollten Marxist:innen versuchen, auch diese Klassen und Schichten auf die Seite der Arbeiter:innenklasse zu ziehen, aber dennoch formen diese oft selbstständige Zwischenklassen, da sie durchaus Produktionsmittel besitzen, sich aber selber ausbeuten müssen und Gefahr laufen, zwischen dem Hauptklassenantagonismus zerrieben zu werden. Trotzdem ist die grundsätzliche Generalisierung nicht unproblematisch und verhindert in gewisser Hinsicht auch, ein konkretes Programm aufzustellen. Denn das revolutionäre Subjekt ist weiterhin die Arbeiter:innenklasse, da nur sie das objektive Klasseninteresse hat, den Kapitalismus zu stürzen, um sich von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, und insbesondere da sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess auch die Möglichkeit hat, diese gesellschaftliche Macht als Kollektiv zu entfalten.

Die Ablehnung von Strategie, Taktik und Programm und das Setzen auf spontane Erhebungen, wie Gago es beschreibt, bezieht sich auf die Annahme, das Bewusstsein der feministischen Bewegung würde spontan entstehen können. Es stellt in gewisser Weise eine Übertragung des Ökonomismus auf Frauen- und LGBTIA* -Kämpfe dar. Aber die Geschichte hat schon oft genug bewiesen, wie zum Beispiel beim Arabischen Frühling, dass spontanes Bewusstsein eben nicht einfach so entsteht und auch kein Programm ersetzen kann, wenn der Aufstand oder die Bewegung erfolgreich sein will. Ein loser Zusammenhang ohne Diskussionen und Debatten über konkrete Forderungen, Taktiken und Strategien führt nicht zur anhaltenden Wirkung der Bewegung.

Was wir stattdessen brauchen

Es braucht eine länderübergreifende Organisierung, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame und koordinierte Handeln verfolgt. Hierbei können nicht die Unterschiede zwischen der gemeinsamen Lage im Vordergrund stehen, wie es zum Beispiel Spivak forderte. Diese müssen anerkannt werden und Raum finden, doch angesichts der globalen Krisen und des Rollbacks gegenüber Frauen (sowie LGBTIA*-Personen) und des Rechtsrucks bleibt unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbezug in den Produktionsprozess!

Auch wenn es als positiv dargestellt worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zum Mann.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine wesentliche Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Diese kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Vom Frauen-/Fem*streik zur proletarischen Frauenbewegung

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da die patriarchalen Strukturen und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße cis Frau“ geht, wie es zurecht vom transnationalen Feminismus kritisiert wurde. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrücken in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden bspw. mit der Organisierung und den Streiks in der Pflege, der Umweltbewegung oder der gegen Rassismus. Beispielsweise könnte gerade der gemeinsame Kampf mit Pflegekräften und betroffenen Frauen im Rahmen der Abtreibungsproteste relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung  ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen zu führen. Jedoch darf es nicht nur bei diesen alltäglichen Forderungen bleiben, sie müssen in ein umfangreiches Aktions- und letztendlich in ein revolutionäres Übergangsprogramm eingeschlossen werden, um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft aufweisen zu können. Für dieses müssen revolutionäre Frauen kämpfen, ebenso wie sie auch für Solidaritätsstreiks der gesamten Arbeiter:innnenklasse agitieren müssen.

Entscheidend ist demnach, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und kommunistische Führung kämpfen.

Eng damit verbunden ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Das hängt eng zusammen mit der notwendigen Zerschlagung des imperialistischen Weltsystems. Denn wer keinen Plan dafür hat und davon ausgeht, dass das sowieso dann alles spontan funktioniert, nimmt in Kauf, dass Leute sich nach dem Misserfolg der Bewegung demoralisiert abwenden, was keine Seltenheit ist. Die stalinistische Idee des „Sozialismus in einem Land“ ist im 21. Jahrhundert noch deutlich illusorischer, als sie es im 20. Jahrhundert war, und bereits hier hat der Stalinismus durch Umsetzung dieser Idee schon Millionen von Arbeiter:innen verraten und dafür gesorgt, dass der Marxismus als gescheitert angesehen wird. Gleichzeitig sind aber durch die internationalisierten Produktionsketten und aufgrund der enormen Fortschritte in der Geschwindigkeit des Austausches und der Kommunikation die Bedingungen für internationale Solidarität um einiges einfacher geworden. Antworten auf diese Fragen und, wie die Kämpfe zu gewinnen sind, können wir nur ausreichend beantworten (und vor allem umsetzen), wenn wir an allen Orten der Welt die fortschrittlichsten Arbeiter:innen, Frauen und Jugendlichen organisieren und für die Perspektive des antikapitalistischen Kampfes gewinnen. Außerdem braucht eine Bewegung nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen-/Fem*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in den Frauen-/Fem*streiks und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen. Auch jene Kräfte, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, müssen wir zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen adressieren, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen. So kann nicht nur die aktuelle Schwäche der Frauen-/Fem*streikbewegung überwunden werden.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Geschichte des feministischen Streiks in der Schweiz

Rosa Favre, Was Tun Schweiz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

In der Schweiz wurden Frauenrechte immer etwas später errungen als in anderen europäischen Ländern. Wir haben das Wahlrecht auf nationaler Ebene erst 1971 erhalten, während es in Deutschland und Österreich 1918 und in Italien 1945 eingeführt wurde. Dies sind sechs Jahre, nachdem selbst die USA das Wahlrecht ohne Diskriminierung verallgemeinerten, also endlich schwarzen Frauen erlaubten zu wählen.

Hintergrund

Diese Schweizer Verzögerung kann durch unzählige komplementäre Faktoren erklärt werden. Während der imperialistischen Kriege mussten die kriegführenden Länder massenhaft weibliche Arbeit anstellen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Es gab wegen der Schweizer Neutralität nicht denselben erzwungenen Einbezug in den Arbeitssektor. Der Widerspruch zwischen ihrer erhöhten Ausbeutung und dem Mangel an bürgerlichen Rechten trat so in der Schweiz weniger und später ins Massenbewusstsein und wurde auch nicht aufgelöst. Ein anderer Faktor ist, dass sich wegen der föderalen Struktur des Landes viele Aktivist:innen für das Frauenwahlrecht auf die kantonale Ebene fokussiert haben. Daher haben drei Kantone, alle in der französischsprachigen Schweiz (Waadt, Neuenburg und Genf), schon 1960 das Frauenwahlrecht eingeführt. Bevor weitere Kantone nachzogen, mussten allerdings noch sechs Jahre vergehen.

In ähnlicher Weise wurde die Gleichheit zwischen Männern und Frauen erst am 14. Juni 1981 in der Verfassung verankert. In den Nachbarländern geschah dies schon 1946 in Frankreich bzw. 1949 in Deutschland. Wie es jedoch bei solchen Gesetzen üblicherweise der Fall ist, scheitern sie an der wirklichen Umsetzung. Am schockierendsten ist dabei, wie manche Kantone es geschafft haben, Frauen bis 1991 das Wählen de facto zu verbieten. Erst 20 Jahre, nachdem das Wahlrecht auf nationaler Ebene errungen und 10 Jahre nachdem die Gleichheit unter den Geschlechtern gesetzlich verankert worden war, erzwang die Eidgenossenschaft die Umsetzung auch im Kanton Appenzell Innerrhoden.

Geschichte des Frauenstreiks

1991, zehn Jahre nach der Einführung der Gleichheit unter den Geschlechtern in der Verfassung, organisierte der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) zum Jahrestag einen Streik namens „Frauenstreik“. Der Slogan lautete „Zehn Jahre der Gleichheit … auf dem Papier!“ Die Wirkungslosigkeit der Autoritäten, das Gesetz konkret umzusetzen, wurde verurteilt und es wurden einige Lösungen vorgeschlagen: Lohnungleichheit verbieten, Frauen vor sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz schützen, bezahlbare Kinderbetreuung und Männer zur Teilnahme an reproduktiver Arbeit im gleichen Maße zwingen, wie sie Frauen ausüben. Da der Aufruf zum Generalstreik der Frauen weit über einen einfachen Umzug während der Freizeit hinausging, wurde er von den bürgerlichen Ideolog:innen in Medien und Parlament vehement bekämpft. Sie bezeichneten die Aktion als „exzessiv“. Ein Mitglied des Parlaments maßte sich sogar an, den Aufruf als „dumm“ zu bezeichnen. Aber es waren nicht nur Männer, die gegen einen Streik waren: Auch liberale und konservative sogenannte Feministinnen hatten keine Solidarität oder Empathie für die Sache übrig.

Der Grund für die erfolgreiche Mobilisierung, die nur von zwei anderen Aktionen in der Schweizer Geschichte übertrumpft werden konnte, liegt in der Arbeiter:innenbewegung. Ausgangspunkt war der Streik von Uhrenarbeiter:innen in Vallée de Joux, einem abgeschlossenen Hochtal im Jura, die sich gegen die exorbitanten Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern einsetzen wollten und unterschiedliche Gewerkschafter:innen für ihr Anliegen begeistern konnten, unter ihnen zentral Christiane Brunner. Die Erfolge davon waren aber nicht nur abhängig von dieser erfolgreichen gewerkschaftlichen Mobilisierung, sondern die Bewegung schaffte es, in einen sehr speziellen internationalen Kontext zu treten, wo auch in Amerika und Europa große Streiks stattfanden und die Aktionen und Mentalitäten ineinander überschwappten.

Der 14. Juni 1991 markiert noch immer einen der größten Tage für soziale Bewegungen in der Schweiz. Denn 100.000 Frauen streikten für die Gleichheit unter den Geschlechtern, und insgesamt 500.000 beteiligten sich in der einen oder anderen Weise. Es war die größte Arbeitsniederlegung, die die Schweiz seit dem Generalstreik 1918 gesehen hatte. Die Schockwelle spürt man bis heute noch in der Arbeiter:innengeschichte nach und die bloße Erwähnung des Streiks sorgt für Angst und Schrecken in der Bourgeoisie, obwohl er von der Sozialdemokratischen Partei (SP) und den sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften koordiniert wurde, die ja auch gut eingebettet ins bürgerliche System sind, und unmittelbar letztlich sehr wenige Forderungen durchgesetzt werden konnten.

Kritischer Überblick über den Status des feministischen Streiks

Obwohl sich der kämpferische Streik 1991 gegen das bürgerliche Anti-Streik-Dogma stellte, wurden nur wenige Forderungen formuliert. Für tatsächliche Rechte zu kämpfen, die der Staat einer unterdrückten Gruppe zu gewähren vorgibt, ist zwar eine großartige Taktik für Bürger:innnenrechtsaktivist:innen, hat aber seine Grenzen. Es trabt nämlich dem Kapitalismus auf seinem Terrain hinterher.

Ein prägnantes Argument ist, dass der Kapitalismus unfähig ist, uns die Rechte zu gewähren, welche er uns verspricht. Tatsächlich ist die geschlechtsspezifische Unterdrückung in die grundsätzliche Funktionsweise des kapitalistischen Systems eingewoben, welches es sich beispielsweise nicht leisten kann, die Hausarbeit und damit die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen der privaten Sphäre zu entreißen. Daher kann im Kapitalismus zwar die formale, rechtliche Gleichheit der Geschlechter errungen werden, aber keine faktische Gleichstellung. Für ein tatsächliches Ende der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, für wahrhaftige Gleichstellung, muss daher die kapitalistische Produktionsweise überhaupt gestürzt werden!

Die Forderungen des Streiks von 1991 waren alle inhaltlich gut und wichtig, allerdings nicht ausreichend, und die Organisator:innen glaubten, Forderungen nach Abtreibungsrechten und Mutterschaftsurlaub wären zu ehrgeizig für die Bewegung! Außerdem wurden keine Anstalten unternommen, die spezifischen Bedürfnisse von People of Colour oder LGBTQ+-Personen aufzunehmen. Ihr Feminismus war daher nicht nur reformistisch, sondern auch ausschließend. Es ist daher auch nicht überraschend, dass einige der prominentesten Führerinnen des Streiks 1991, wie Martine Chaponnière, später immer islamophober wurden.

Neuauflage

2011 wurde eine Neuauflage des Streiks initiiert, die jedoch eine starke Einbuße an Kampfkraft zu verzeichnen hatte. Die Frauen der bürgerlichen Parteien, welche 1991 die Idee eines Streiks verabscheut hatten, haben die Notwendigkeit eines Streiks nun verteidigt. Dieses Mal waren aber nur einige tausend Frauen auf den Straßen.

Als Reaktion auf die #MeToo-Bewegung entschied sich der SGB 2019, eine erneute Version des Streiks zu organisieren, wieder am 14. Juni. Dieser wurde sowohl „Frauenstreik“ als auch „feministischer Streik“ genannt. In der deutschsprachigen Schweiz war er größtenteils unter ersterer Bezeichnung bekannt. Dieses Mal waren 500.000 Menschen auf der Straße. Im Gegensatz zu 1991 fokussierten sich die Forderungen auf den intersektionalen Feminismus. Spezifische Forderungen für rassifizierte Frauen wie auch für LGBTQ+-Personen wurden aufgestellt. Der Aufruf, diesen Streik zu organisieren, war aus der Frauenversammlung des SGB entstanden, durch den Impuls von Frauen aus dem Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). Nach einem Aufruf über Facebook trafen sich im Juni 2018 ca. 200 Frauen, nicht alle davon gewerkschaftlich oder anderweitig organisiert, um den Streik 2019 zu initiieren. Im Anschluss bauten diese in der ganzen Schweiz Strukturen zu seiner Organisation auf.

Am Streiktag schließlich fanden viele spontane Aktionen statt: Manifeste wurden geschrieben und spezifische Forderungen für gewisse Wirtschaftssektoren (vor allem im öffentlichen Dienst) wurden erhoben. Frauen, die im privaten Sektor arbeiteten, hatten es grundsätzlich schwieriger zu streiken, wegen der noch größeren Gefahr von Repressionen seitens des Kapitals. Dies hielt Frauen im öffentlichen Dienst aber nicht davon ab, Solidarität zu bekunden und Forderungen für ihre Schwestern im privaten Sektor aufzustellen. Zum Beispiel stellten Angestellte und Student:innen der Universität Lausanne Forderungen für das Reinigungs- und Cafeteriapersonal auf, welches von privaten Firmen angestellt war.

Folgen

Eine solche Masse an arbeitenden Frauen auf der Straße zu sehen, war eine Inspiration für arbeitende Frauen in anderen westlichen Ländern. Der Streik war in den Nachrichten in Großbritannien, Deutschland, Österreich, in den USA und in weiteren Ländern, stets begleitet von einem Kommentar zur Geschichte des außergewöhnlichen Tages, an welchem die Schweizer Frauen streik(t)en.

Wie in Spanien bildeten diese Streiks ein Beispiel dafür, wie der Kampf um Frauenbefreiung die Grenzen des kleinbürgerlichen und bürgerlichen Aktivismus überwinden kann. Tatsächlich ist der Streik voll und ganz eine Kampfform des Proletariats. Auch wenn nicht jede so betitelte Aktion auch wirklich ein Streik ist, so waren die Aktionen in der Schweiz stark verbunden mit betrieblichen Aktionen und standen unter gewerkschaftlicher Anleitung.

Wie bereits erwähnt, stellen sich bürgerliche Frauen gegen das Kampfmittel des Streiks. Dieselben Frauen aber schämen sich nicht, den Feminismus als Werkzeug zu missbrauchen, um ihre Dominanz über arbeitende Frauen zu verstärken. Vor allem anderen kämpfen sie für Quoten in Spitzen- und Führungspositionen und gegen alltägliche sexistische Handlungen, während die permanente strukturelle Unterdrückung von Frauen im Kapitalismus unangetastet bleibt.

Dieser liberale Feminismus stellt Männer gegen Frauen und erlaubt es proletarischen Frauen in keinster Weise, die Kontrolle über ihre eigene Emanzipation zu erhalten. Daher wird er auch von den meisten proletarischen Frauen abgelehnt. Was die Streiks in der Schweiz und Spanien Frauen auf der ganzen Welt gezeigt haben, ist, dass es eine Verbindung gibt zwischen dem Kampf für mehr Frauenrechte und dem für bessere Arbeitssituationen, kurz,  dass die Frage nach Gleichberechtigung eben auch eine Klassenfrage ist.

Daher war der Streik 2019 ein realer Erfolg, welcher fähig war, arbeitende Frauen zu mobilisieren. Daher hat er das Vertrauen der Arbeiter:innen erhalten und eine Plattform für Veränderung geboten. Logischerweise sollten wir also erwarten, dass die Bewegung deswegen anwächst. Doch die Führungsrolle des Reformismus der SP und Gewerkschaftsbürokratie sowie der Einfluss des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Feminismus sollten sich in den folgenden Jahren als Barriere erweisen, die zu Stagnation und Rückschlägen der Bewegung führte.




Widerstand: Aber wie?

Leonie Schmidt / Katharina Wagner, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

In den letzten Jahren haben die weltweiten Krisen immer mehr zugenommen. Seien es zum einen die Auswirkungen der Coronapandemie, Umweltzerstörung und zunehmender Klimawandel oder zum anderen der derzeit stattfindende Ukrainekrieg mit einhergehender Inflation und Energiekrise. Ursache von alle dem: der Kapitalismus. Die Kosten und Konsequenzen werden natürlich auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse ausgetragen. Zusätzlich kommen rechtskonservative Kräfte  in vielen Ländern an die Regierung oder rechte Bewegungen erlangen mehr Relevanz. Oftmals wollen diese Kräfte traditionelle, reaktionäre Rollenbilder vertreten und das Kapital stärken.

Die Wirtschaftskrise 2007/08 hatte bereits für einen starken Rollback gegen Frauen gesorgt und die Coronapandemie diesen zusätzlich verstärkt: erstens aufgrund einer neuen Wirtschaftskrise, welche durch die zugespitzte Lage katalysiert wurde; zweitens durch die Lockdowns, welche häusliche Gewalt verstärkten, sowie die Überlastung der Pflege, in welcher ebenfalls mehrheitlich Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen nun noch der seit Februar 2022 geführte Ukrainekrieg und die damit einhergehende Energiekrise, was zusammen genommen zu weltweiter Inflation und enormen Preissteigerungen geführt hat.

Auch diesmal leisten Frauen weltweit massiven Widerstand dagegen. So zum Beispiel im Iran, wo sie seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini nach ihrer Verhaftung durch die „Sittenpolizei“ im September 2022 weiterhin ihren Protest unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadi“ (kurdisch für „Frauen, Leben, Freiheit“) gegen das religiöse, unterdrückerische Regime und die herrschende Diktatur auf die Straße tragen. Und das trotz enormer Repression, zahlreicher Verhaftungen, Folter und bereits vollstreckter Todesurteile. Mittlerweile konnten sie eine breite gesellschaftliche Unterstützung quer durch alle Altersgruppen und Geschlechter für ihren Kampf erreichen und damit enormen Druck auf das Regime ausüben.

Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November gingen ebenfalls weltweit Frauen auf die Straße, um gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen. Eine weiterer großer Aktionstag unter dem Slogan „One Billion Rising“ fand am Valentinstag statt, an dem sich weltweit rund 1 Milliarde Frauen an dem Flashmob beteiligten, um gegen Gewalt an Frauen und für Gleichberechtigung einzutreten.

Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren immer wieder große Proteste: Ob nun im Rahmen der letzten Sommer stattfindenden Verschärfungen des Abtreibungsrechts in den USA oder anlässlich des Austritts der Türkei aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen im Juli 2021  – überall auf der Welt demonstrierten Millionen Frauen für ihre Rechte.

Des Weiteren spielen Frauen auch im Kampf gegen den derzeitigen Ukrainekrieg eine zentrale Rolle. So organisieren sie in Russland beispielsweise innerhalb der Bewegung „feministischer Widerstand gegen den Krieg“ (Feminist Anti-War Resistance; FAR) vielfältige Proteste gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine.

Was all diese feministischen Proteste eint, ist, dass sie meist (spontan) um aktuelle  Vorfälle entstehen und spezifische Forderungen aufstellen. Sie werden allerdings meist nicht mit anderen bestehenden Bewegungen wie z. B. der Klimabewegung oder Kämpfen gegen Preissteigerungen und Inflation koordiniert. Daher bleiben sie häufig national isoliert und stark hinter ihren Mobilisierungsmöglichkeiten zurück.

Was brauchen wir?

Für eine internationale, erfolgreiche Frauenbewegung müssen wir anerkennen, dass der Kampf um Frauenbefreiung (und die Befreiung anderer geschlechtlich Unterdrückter) eng mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft sein muss, denn die Frauenunterdrückung wurzelt in der Klassengesellschaft und ihre materiellen Ursachen müssen abgeschafft werden, um diese selber vollständig verschwinden zu lassen.

Einen Fokus stellt dabei die Reproduktionsarbeit in der Arbeiter:innenfamilie dar, in welcher die Ware Arbeitskraft (re)produziert wird, also durch Hausarbeit, Erziehung, Carearbeit etc. Diese ist  wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus und wird vornehmlich von Frauen ausgeführt. Es ist dabei wesentlich, deren Vergesellschaftung und gleiche Verteilung auf alle selbst als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, als Kampf der gesamten Arbeiter:innenklasse.

Entgegen den bürgerlichen Vorstellungen einer alle Klassen umfassenden Frauenbewegung muss berücksichtigt werden, dass es auch unter Frauen gegensätzliche Klasseninteressen gibt und diese in einer solchen Bewegung nicht einfach „ausgeglichen“ werden können. So verfolgen Frauen des (höheren) Kleinbürgertums und der Bourgeoisie andere Interessen, wie bspw. Frauenquoten und Plätze in der Chefetage, während das für proletarische Frauen nicht relevant ist. Während letztere um existenzsichernde und gleiche Löhne kämpfen müssen, wollen bürgerliche „Schwestern“ und jene aus den gehobenen Mittelklassen diese möglichst gering halten, um die Profite und Einkommen ihrer eigenen Klasse zu sichern.

Ähnlich wie kleinbürgerliche Ideologien erkennen sie den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Privateigentum mit der Frauenunterdrückung nicht, von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ganz zu schweigen. Sie erblicken vielmehr in deren ideologischen Ausdrucksformen (Stereotypen, Geschlechterrollen, sexuellen Vorurteilen, Heterosexismus … ) die Ursache der Unterdrückung. Ihre Strategie erschöpft sich in verschiedenen Formen des liberalen, radikalen oder reformistischen Feminismus, was ihre relativ privilegierte Stellung als Kleineigentümer:innen oder Akademiker:innen (Bildungsbürger:innen) gegenüber der Masse der werktätigen Frauen widerspiegelt. Dementsprechend ist eine klare antikapitalistische Ausrichtung relevant sowie die Verknüpfung von Kämpfen der Frauenbewegung und der Arbeiter:innenklasse.

Angesichts des globalen Rechtsrucks ist es dabei unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den Produktionsprozess!

Auch wenn gefeiert worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zu dem des Mannes.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und der politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist diese Forderung für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine essentielle Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Dies kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung!

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da das Patriarchat und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße Cisfrau“ geht. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrückten in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden. So bspw. mit der Organisierung von Streiks im öffentlichen Dienst, der Umweltbewegung oder der Bewegung gegen Rassismus. Beispielsweise könnte auch der gemeinsame Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen oder den Ukrainekrieg relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen führen.

Entscheidend ist jedoch, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und Führung kämpfen.

Eng damit verbunden damit ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Eine Bewegung braucht nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in aktuellen feministischen Bewegungen und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen.  Wir müssen uns auch in aktuelle Tarifauseinandersetzungen beispielsweise im öffentlichen Dienst einschalten. Auch die Unterstützung von Klimaaktivist:innen oder Aktionen zum Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen sind eine wichtige Aufgabe von Revolutionärinnen. Zudem müssen wir unter jenen Kräften, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen ansprechen, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Indiens reaktionäres Regime und die Lage von Frauen

Jonathan Frühling, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

1,4 Milliarden Menschen zählt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Laut Prognosen des IWF könnte Indien bereits im Jahr 2027 auf Rang vier aufzurücken – und damit Deutschland überholen. Doch Größe allein bedeutet nicht Reichtum. Indien ist ein Land voller Widersprüche, ein extremes Beispiel für die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems. So entsteht das Bild einer aufstrebenden Macht, die zwischen Hightechindustrie und massiver Armut der Bevölkerung hin- und herpendelt. Im Folgenden wollen wir uns dabei die Lage von Frauen genauer anschauen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Regierung und ihres Regimes geben.

Das Regime der BJP

Seit 2014 wird das Land von der Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), einer der rechtesten Regierungsparteien der Welt, regiert. Die BJP hängt einer Ideologie an, die als Hindutva (hinduistischer Nationalismus, kurz Hindunationalismus) bezeichnet wird. Der Hinduismus wird als einzig legitime Kultur im indischen Staat angesehen. Alle anderen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Indigene und untere Kasten gelten als feindliche und schädliche oder jedenfalls als untergeordnete Elemente, die oder deren Widerstand bekämpft werden müssen. Das betrifft vor allem Muslim:innen, Kashmiri, Sikhs, Dalits (unterste Kaste) und Adivasi (Indigene).

Sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik werden als Kulturkampf inszeniert. Nach außen werden die Kulturen anderer Staaten als Gefahr angesehen, im Inneren werden die anderen Religionen, d. h. vor allem der Islam, Ziel der Hetze des Hindunationalismus. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, Feindbilder zu schaffen, um gleiche Hindu verschiedener Klassen bzw. Kasten an den Staat und seine kapitalistische und neoliberale Politik zu binden.

Denn es ist gerade die neoliberale Politik, die den Premierminister Narendra Modi Zustimmung unter den Kapitalist:innen einbringt. Während wichtige Teile des indischen Großkapitals lange in der Kongresspartei ihre politische Vertretung sahen, schwenkten in den letzten 10 – 15 Jahren fast alle Großkonzerne zur BJP um. Und diese agiert ganz in deren Interesse.

So erfolgten während der ersten Amtszeit Modis massive Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitsschutzgesetze wie die Aufhebung des Rechtsschutzes für Festanstellungen und von Arbeitszeitbeschränkungen. Doch das ist nicht alles. Im Zuge von Modis Amtszeit hat sich das politisch-gesellschaftliche Klima extrem nach rechts verschoben.

Aufrufe zum Mord an Menschen muslimischen Glaubens durch hohe hinduistische Kleriker waren nur die Spitze des Eisberges an Volksverhetzung. Diese politische Stimmung hat auch bereits schon zu Pogromen geführt, wie z. B. 2020 in Delhi. Damals griff ein hinduistischer Mob muslimische Viertel an, um Protest gegen ein antimuslimisches Gesetz zu verhindern. Es starben dabei 26 Muslim:innen und 15 Hindus.

Bei der BJP handelt es sich zwar nicht um eine genuin faschistische Organisation, aber sie stützt sich sehr wohl auf rechte faschistoide Milizen wie die Bajrang Dal (Brigade Hanuman; Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad; VHP. Diese ist wiederum auf dem rechten Flügel der Sammlungsbewegung Sangh Parivar angesiedelt) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS). Die RSS ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete hindunationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager besitzt. Sie wurde in den 1920er Jahren als antibritische, aber auch streng hinduistische und antimuslimische Organisation gegründet. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute zwischen 5 bis 6 Millionen Mitglieder zählen. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hinduorganisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP eng mit ihr verbunden ist, sich auf sie stützt und ihre Agenda bedient.

Anders als ein faschistisches Regime kamen Modi und die BJP nicht infolge der Machteroberung einer kleinbürgerlich-reaktionären Massenbewegung an die Regierung. Sie zerschlugen auch nicht die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Aber unter Modi etablierten sie einen parlamentarisch-demokratisch legitimierten Bonapartismus. Die rechten Verbände wie die RSS stellen zwar nicht den Kern der Regierungsmacht und des Staatsapparates dar, wohl aber organisierte kleinbürgerliche Hilfstruppen, vor allem gegen religiöse und nationale Minderheiten.

Während Modis Regime den großen Kapitalen enorme Zugewinne brachte und versucht, Indien in deren Interesse als Machtfaktor zu etablieren, so ist seine Regierung auch für die Masse der Frauen in Indien eine Kampfansage.

Die Lage von Frauen

Die widersprüchliche Situation innerhalb Indiens wird deutlich, wenn man die Lage von Frauen betrachtet. Aus dem Artikel „Why Indian women may lead the tech world of tomorrow“, von  Times of India am 4. Mai 2020 veröffentlicht, geht hervor, dass Frauen fast 50 % aller Studierenden im MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Bereich umfassen und Indien mit 42 % den höchsten Anteil an weiblichen MINT-Absolvent:innen auf der ganzen Welt hat.

Ihr Anteil an den Beschäftigten in Wissenschaft, Technik und technologischen Forschungsinstituten liegt aber bei nur 14 % und zeigt damit ein zentrales Problem des Landes auf. Denn sieben Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Indien noch immer gering, teilweise sogar rückläufig.

1990 waren noch 35 % aller Frauen beschäftigt. Heute sind es nur noch 25 %, womit Indien auf Platz 145 von 153 Ländern liegt. Hierbei ist anzumerken, dass diese Zahl vor allem so gering ist, da Frauen wesentlich häufiger im informellen Sektor arbeiten, also keine offiziellen Verträge (und damit einhergehenden Arbeitsschutz) haben. Interessant ist jedoch, dass der Anteil der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Städten geringer ist als in den ländlichen Gebieten, obwohl es dort eigentlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne gibt. Der entscheidende Grund dafür ist aber, dass die Familien von Kleinbauern/-bäuerinnen und Arbeiter:innen in diesen Regionen ohne weibliche Erwerbsarbeit nicht überleben könnten.

Ein ähnliches Szenario ist auch bei den alphabetisierten Frauen zu beobachten. 35,5 % aller Frauen sind Analphabetinnen (und nur 19,1 % aller Männer). Obwohl die Alphabetisierung die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, ist in den meisten Bundesstaaten nur ein geringer Anteil der gebildeten Frauen in der Stadt erwerbstätig. Auf der anderen Seite ist der Anteil der alphabetisierten Frauen auf dem Lande in verschiedenen Bereichen der bezahlten Arbeit viel höher als in den Städten.

Auch wenn keine offiziellen Zahlen verfügbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie die Situation nochmal drastisch verschlechtert hat. Mit einem Minus von 7,7 % hat die Wirtschaft in Indien deutlichere Einbußen hinnehmen müssen als in anderen Ländern. Allein der Tourismusbereich ist um rund 58 % eingebrochen. Die Arbeitslosenquote stieg von 5,3 auf 8,0 %. Die Inflationsrate ist von zuvor 3,7 auf nun 6,6 % angestiegen und extrem viele Jobs im informellen Sektor sind weggefallen.

Das zeigt schon mal eines: Frauen in Indien sind keine homogene Masse, sondern ihre Situation ist stark von ihrer Herkunft geprägt, von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit, ihrer Nationalität oder Religion. Dies kann man auch an der Frage der häuslichen Gewalt nachvollziehen. Laut Regierungsumfragen ist jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt. Besonders betroffen sind dabei Dalitfrauen, die ungefähr 16 % aller Frauen ausmachen. Sie haben beispielsweise einen sehr eingeschränkten Zugang zur Justiz und in Fällen, in denen der Täter einer dominanten Kaste angehört, herrscht für diesen weitgehende Straffreiheit. Dalitfrauen gelten daher als leichte Zielscheibe für sexuelle Gewalt und andere Verbrechen, da die Täter fast immer ungestraft davonkommen. So zeigen beispielsweise Studien, dass in Indien die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen von Dalitfrauen unter 2 % liegt, während sie bei Vergewaltigungen aller Frauen in Indien 25 % beträgt.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme: Frauen und besonders Mädchen leiden auch deutlich öfter an Mangelernährung, da es üblich ist, dass Frauen erst nach den männlichen Teilen der Familie essen und für diese oft nicht mehr genug übrig bleibt. Frauen werden massiv für ihre Menstruation diskriminiert, die als unrein angesehen wird und zum Teil sogar dazu führt, Tempel nicht mehr betreten zu können. Die Folge dieses Tabus und natürlich der Armut ist eine katastrophale Menstruationshygiene, auf die 70 % aller Unterleibserkrankungen bei Frauen zurückzuführen sind. Nur ca. 18 % aller Menstruierenden haben ausreichend Zugang zu Hygieneprodukten.

Arrangierte Ehen sind bis heute die Regel in Indien. Manche Quellen gehen von bis zu 90 % aus. Arrangiert werden die Heiraten traditionell von den Familien und Angehörigen, in den letzten Jahren aber auch zunehmend von Daitingseiten (im Auftrag beider Partner:innen), um so eine standes- und statusgemäße Heirat zu erzielen. So sind Hochzeiten von Angehörigen verschiedener Kasten bis heute mit nur rund 5 % eine Rarität, Heiraten über religiöse Grenzen hinaus sind mit nur 2 % noch seltener.

Die Lage unter der BJP

Trotz gesetzlicher Verbote wird die Gabe einer Mitgift (Geld und/oder teure Geschenke, die die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams zahlen muss) bei der Verheiratung einer Frau gesellschaftlich erwartet. Wird die Mitgift als zu niedrig angesehen, läuft die Braut Gefahr, ermordet zu werden. Ca. 25.000 Mädchen und Frauen erleiden jedes Jahr dieses Schicksal. Die Geburt vieler Mädchen kann deshalb eine Familie finanziell ruinieren. Zum Teil müssen die Frauen auch selbst jahrelang arbeiten, um die Mitgift an die Familie des Mannes selbst bezahlen zu können.

Die Folge dieses Umstandes ist, dass Mädchen häufig abgetrieben oder geborene getötet werden. 52,1 % aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sind Jungen. Dieses Problem versuchte die Modi-Regierung, seit 2015 mit der Kampagne „Beti Bachao, Beti Padhao“ (Rettet die Tochter, erzieht die Tochter) zu adressieren. Dass dies jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, zeigen die Daten der Regierung selber. Mehr als 56 % der Gelder wurden von 2014/15 bis 2018/19 für „medienbezogene Aktivitäten“ ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden weniger als 25 % der Mittel an die Bezirke und Staaten ausgezahlt und über 19 % von der Regierung gar nicht erst freigegeben.

Dies fasst die Politik der BJP recht gut zusammen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob in Modis Regime Frauen einen Platz haben. So wurden in seiner Amtszeit auch teilweise Gesetze verabschiedet, die ihre Situation punktuell verbessern. 2021 wurde das Gesetz über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch (MTP) abgeändert. Zwar sind Abtreibungen in Indien seit 1971 legal, allerdings nur unter bestimmten Vorraussetzungen. Diese wurden im Rahmen der Reform abgeändert. Beispielsweise ist es nun auch für unverheiratete Frauen möglich, legal abzutreiben. Ebenso wurden die Beratungsbedingungen angepasst, sodass es nun möglich wäre, dass Frauen statt nur bis zur 20. bis zur 24. Schwangerschaftswoche abtreiben können. 2017 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den bezahlten Mutterschaftsurlaub von 12 auf 26 Wochen für Beschäftigte aller Unternehmen, die mehr als 10 Mitarbeiter:innen beschäftigen, verlängert. Dies gilt jedoch nur für die ersten beiden Kinder, danach verkürzt sich die Elternzeit wieder auf 12 Wochen.

Doch fundamental verbessern diese Gesetze die Situation von Frauen nicht. Anrecht auf Kinderbetreuung haben beispielsweise nur Frauen, die in Betrieben mit 50 oder mehr Beschäftigten arbeiten. In einem Land, in dem ein großer Teil der weiblichen Erwerbstätigen entweder selbstständig ist oder im informellen Sektor arbeitet, führen diese Bedingungen zwangsläufig dazu, dass viele Frauen von den Leistungen (wie auch bei MBAA, der Reform zum Mutterschaftsurlaub) ausgeschlossen werden.

In der Praxis führt das jedoch dazu, dass laut einer Umfrage von India Today-Axis My India (das Meinungsforschungsinstitut, das die Ergebnisse der nationalen Wahlen im Mai 2019 am genauesten vorhersagte) 46 % der Frauen für die BJP und ihre Verbündeten stimmten, 27 % für den Kongress und seine Verbündeten und 27 % für andere Parteien. Im Vergleich dazu stimmten 44 % der Männer für die BJP und ihre Verbündeten. Bei der letzten Wahl stimmten also mehr Frauen als Männer für die BJP, auch wenn es nur 2 % waren.

Die BJP inszeniert sich also bewusst als „frauenfreundliche“ Kraft, macht Zugeständnisse, wo sie kann, und schafft es so, Wählerinnen zu mobilisieren. Gleichzeitig macht sie aber nicht Politik im Interesse „aller“ Frauen, sondern konzentriert sich überwiegend (nicht ausschließlich) auf wachsende Mittelschichten und agiert im Interesse der herrschenden Klasse.

Vor allem aber wendet sich das Modi-Regime an die Frau als Hindu. Ideologisch bezieht sie sich auf das tradierte Bild der Hindufrau als Mutter, Fürsorgerin und Göttin. So forderte beispielsweise der BJP-Abgeordnete Sakshi Maharaj im Jahr 2015 alle Hindufrauen auf, mindestens vier Kinder zu gebären, um die hinduistische Religion zu schützen (India Today, 2015). Mehrere Bundesstaaten haben auch Antikonversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindufrauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden. Darüber hinaus sind Parteiführer häufig wegen frauenfeindlicher Äußerungen in den Schlagzeilen und einige ihrer Landesregierungen haben wegen der schlechten Behandlung von Vergewaltigungsfällen weltweit Schlagzeilen gemacht.

Veränderung ist möglich

Trotz aller Hindernisse sind Frauen in Indien eine wesentliche Kraft bei Protesten. 2019 wurde bei einem symbolischen Protest eine 620 km lange Menschenkette gebildet, an der mehrere Millionen Frauen teilnahmen oder beispielsweise beim Kampf um sauberes Trinkwasser oder bei den Protesten gegen das CAA (neues Staatsbürgerschaftsgesetz), bei dem vor allem muslimische Frauen präsent waren.

Dabei muss klar sein: Gesetze und Urteile von Gerichten können Aufmerksamkeit schaffen, ändern werden sie die Situation von Frauen aber nur marginal, wenn der bürgerliche Staat sich weigert, die Gesetze umzusetzen oder schlichtweg nicht das Interesse hat, die Wurzel der Frauenunterdrückung anzugreifen. Frauen schützen, patriarchale Strukturen vernichten und eine reale Verbesserung erzwingen können wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren: auf der Straße, in den Betrieben, an den Schulen, Unis und auch im Haushalt! Gegen die massive Gewalt gegen Frauen bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die beispielsweise auch für demokratisch-organisierte Selbstverteidigungskomitees eintritt. Sie muss in den Betrieben und Stadtteilen verankert sein und auch die Gewerkschaften zur Organisierung und Unterstützung auffordern.

Eine erfolgreiche Bewegung muss auf den Interessen der Arbeiter:innenklasse basieren und darf sich nicht der herrschende Klasse und deren Parteien unterordnen – natürlich nicht der BJP, aber auch nicht der Kongresspartei.

Das bedeutet auch, offen für die Rechte von Unterdrückten wie Muslim:innen, Dalits, Kaschmiris oder LGBTIA-Personen einzustehen und gemeinsame Kämpfe zu organisieren. Besonders braucht es aber auch einen gewerkschaftlichen Kampf gegen die miserablen Arbeitsbedingungen im informellen Sektor. Frauen können hier eine wichtige Rolle spielen und so ihre Situation verbessern und außerdem Mut und Motivation für weitere Kämpfe erlangen.

All dies erfordert nicht nur den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung, sondern auch eine politischen Alternative zum Reformismus der Communist Party of India (CPI): eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Internationaler Frauenkampftag: Vereint die Kämpfe der Frauen mit denen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1216, 8. März 2023

Frauen standen im letzten Jahr an der Spitze der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und für Demokratie.

  • Im Iran bildeten sie die erste Reihe eines Massenaufstandes gegen Unterdrückung und die Herrschaft der klerikalen Diktatur.

  • In den USA und vielen anderen Ländern wehrten sie sich gegen Angriffe auf Abtreibungsrechte.

  • In der Ukraine und in Russland stehen sie an vorderster Front im Kampf gegen die imperialistische Invasion Putins.

  • In Großbritannien, Deutschland und Frankreich stehen sie im Mittelpunkt von Streiks für Lohnerhöhungen zur Bekämpfung der steigenden Inflation und von Massenmobilisierungen zur Verteidigung des Gesundheitswesens und der Rentenansprüche.

  • Frauen formieren sie sich im Zentrum des Kampfes gegen rechtsextreme und reaktionäre populistisch-bonapartistische Regime wie die von Bolsonaro in Brasilien und Modi in Indien.

  • In der halbkolonialen Welt haben sie sich gegen Armut, Hunger, Klimakatastrophen, reaktionäre Kriege und die Verweigerung ihrer Grundrechte mobilisiert.

Oft sind es junge Frauen, Studentinnen, Frauen aus der Arbeiter:innenklasse und der armen Bevölkerung, die in Massen auf die Straße gehen und den Kern dieser Bewegungen bilden. Es ist nicht verwunderlich, dass Frauen bei solchen Kämpfen an vorderster Front stehen. Oft sind sie am stärksten von den zahlreichen Krisen betroffen, die unser Leben in den letzten Jahren heimgesucht haben.

In vielerlei Hinsicht scheint sich die Situation im Vergleich zu vor einem Jahr kaum verändert zu haben: Der Krieg in der Ukraine hat den Konflikt zwischen den Weltmächten verschärft und eine neue Phase im Kampf um die Neuaufteilung der Welt eingeleitet. Der Krieg und die von beiden Seiten verhängten Sanktionen haben weltweit eine neue wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst mit einer Inflation, wie sie in den imperialistischen Zentren seit 50 Jahren nicht mehr aufgetreten ist, und einer Hyperinflation, die den globalen Süden wie ein Tsunami trifft.

Die sich entwickelnde Katastrophe

Die Pandemie beherrscht nach wie vor alle Aspekte der Herausforderungen für Frauen. Ihre Auswirkungen haben zu einem Anstieg der Krankheits- und Sterblichkeitsraten der Menschen weltweit geführt. Für die Frauen bedeutet dies im besten Fall eine mehrfache Belastung durch Haus- und Sorgearbeit, im schlimmsten Fall den Verlust ihrer Existenz. Sie haben oft ihren Arbeitsplatz und die damit verbundene elementare Sicherheit verloren. Schließungen ohne funktionierendes soziales Sicherheitsnetz führten dazu, dass Frauen gezwungen waren, sich um ihre Familien zu kümmern und von ihren Arbeitsplätzen verdrängt wurden. Die häusliche Gewalt gegen Frauen hat deutlich zugenommen und vor allem ärmere Teile der Arbeiter:innenklasse mussten ihre mageren Ersparnisse aufbrauchen, um zu überleben.

In halbkolonialen Ländern führt dies zu noch schlimmeren Folgen. Da das Gesundheitswesen für die Menschen nicht leicht zugänglich ist und die imperialistischen Länder Impfstoffe und Medikamente horten, war die Zahl der Todesopfer viel höher als in den imperialistischen Zentren.

Abgesehen von den direkten Auswirkungen von Krankheiten und Kriegen werden die Rechte der Frauen in einer Vielzahl von Ländern ständig angegriffen. Der Eingriff in die reproduktiven Rechte in den USA und der Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention über Gewalt gegen Frauen sind offensichtliche Beispiele dafür. Das Gleiche gilt für die Aufdeckung von Morden, Vergewaltigungen und Frauenfeindlichkeit, begangen durch Polizeibeamte in Großbritannien.

Dies alles wurde 2022 durch den massiven Anstieg der Inflation und den Beginn eines weiteren wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. Dies ergab sich nicht nur aus den Problemen, die dem Produktionsanstieg nach der Pandemie folgten. Lieferketten- und Ressourcenprobleme bleiben weiterhin ungelöst. Auch die Energiekrise infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der westlichen Sanktionen trug ihren Teil zur Erschwerung der Lage bei. All dies trifft die Frauen am härtesten, zeigt aber auch, dass Fortschritte bei den Frauenrechten weder unvermeidlich noch unumkehrbar sind. Wir müssen unermüdlich und kontinuierlich kämpfen, um unsere Errungenschaften zu verteidigen, nicht nur gegen die unverhohlenen Attacken von rechts, sondern gegen die dem kapitalistischen System insgesamt innewohnenden Tendenzen.

Kämpfe rund um die Welt

Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini durch die sog. Sittenpolizei im September 2022 befindet sich der Iran in Aufruhr. Millionen von Menschen sind auf die Straße gegangen, um für die Emanzipation der Frauen von den grausamen Einschränkungen und damit gegen das Regime der Mullahs selbst zu protestieren. Die Regierung hat mit verschiedenen Formen der Unterdrückung hart reagiert. Es wurden nicht nur mehr als 20.000 Personen verhaftet, sondern auch über 500 Menschen getötet. Das Regime hat damit begonnen, Menschen hinzurichten, um eine Ausbreitung der Proteste zu verhindern und die Bewegung insgesamt zu unterdrücken. Doch trotz dieser massiven Repression hat der Kampf im Iran einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, um das Regime zu schwächen und den Kämpfen der Frauen in der ganzen Welt neue Impulse zu geben.

Auch im Widerstand gegen den russischen Krieg in der Ukraine spielen Frauen eine besondere Rolle. In Russland versucht der feministische Antikriegswiderstand, unter äußerst repressiven Bedingungen Unterstützung gegen Putins Invasion zu mobilisieren. In der Ukraine hingegen stellen Frauen rund 20 % der Streitkräfte, sorgen für die Unterstützung der Flüchtlinge und die Aufrechterhaltung der notwendigen Infrastruktur.

Auch in Afghanistan kommt es nach der Machtübernahme durch die Taliban zu einer zunehmenden Unterdrückung der Frauen. Junge Frauen protestieren dort gegen das Verbot ihrer Ausbildung, und ihre Proteste müssen illegal organisiert werden. Dies könnte der Beginn eines ernsthaften Widerstands gegen das Regime sein, auch wenn die Medienberichterstattung im Westen „weitergezogen“ ist und die Aufmerksamkeit vernachlässigt hat.

In Ländern auf der ganzen Welt kommt es immer wieder zu Streiks im Gesundheitssektor. Die Krise war schon seit einiger Zeit bekannt, trat aber mit der Pandemie in den Vordergrund. In Großbritannien und Deutschland gibt es erhebliche Streiks des Gesundheitspersonals – ein Sektor, der überwiegend von Frauen getragen wird.

Internationaler Frauenkampftag

Am 8. März dieses Jahres ist es umso wichtiger, den weltweiten Kampf für die demokratischen Grundrechte der Frauen zu unterstützen und die unterschiedlichen Auseinandersetzungen miteinander zu verbinden. Ob mit Protesten, Flashmobs oder Frauenstreiks, wir müssen uns einig sein in unserem Ziel, den Kapitalismus zu beenden. Das heißt, wir müssen an der Seite der internationalen Arbeiter:innenklasse kämpfen, gleich welchen Geschlechts, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig ist es wichtig, den Kampf mit national oder rassistisch unterdrückten Menschen zu verbinden.

Am Internationalen Frauenkampftag ist es wichtig, die Menschen nicht zu vergessen, die unter Sexismus, Homophobie und der Auferlegung patriarchalischer und binärer Geschlechterrollen leiden. Nicht-binäre Menschen, Transmenschen im Allgemeinen sowie andere Menschen aus der LGBTQIA+-Gemeinschaft leiden vielleicht nicht genau unter der gleichen Unterdrückung, aber es ist sonnenklar, dass ihr Einsatz für ihre Rechte Teil desselben Kampfes ist. Wenn wir den Sexismus überwinden und eine Gesellschaft haben wollen, in der jeder in Frieden und als der Mensch leben kann, der er/sie ist, müssen wir den Kapitalismus stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Es ist kein Zufall, dass die extreme Rechte in vielen Ländern Themen wie die Ablehnung der Homoehe und der Transrechte aufgreift.

Doch während wir die Notwendigkeit der kämpferischen Einheit, des gemeinsamen koordinierten Handelns betonen müssen, müssen wir uns auch der Tatsache stellen, dass die internationalen Frauenmobilisierungen seit einigen Jahren in einer Strategie- und Richtungskrise stecken. Die Massenstreiks der Frauen, inspiriert durch die Bewegungen in Lateinamerika gegen häusliche und institutionelle Gewalt, die Frauenbewegung in den USA und die Streiks von Millionen von Arbeiterinnen in Ländern wie Spanien waren eine Inspiration und der Beginn einer neuen internationalen Bewegung. Den bisherigen Höhepunkt stellt der revolutionäre Kampf im Iran dar.

Programm und Strategie

Jeder Kampf, der an den Grundlagen der Frauenunterdrückung im Kapitalismus rüttelt, steht auch vor der Frage, wie der Kampf weitergeführt werden kann. Dies zeigt, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung, gegen patriarchale Strukturen und Sexismus kein vom Klassenkampf getrennter Prozess sein kann. Er muss ein integraler Bestandteil davon sein.

Im Fall des Iran hat der Kampf der Frauen gezeigt, dass das islamistische Regime nur durch eine Massenbeteiligung der Arbeiter:innenklasse erfolgreich gestürzt werden kann – kurz gesagt, durch einen Generalstreik, der auch für die Masse der arbeitenden Frauen ein fortschrittliches Ergebnis bringt. So ist der Kampf gegen die Unterdrückung und die Mullahs mit dem entschlossenen Eintreten für eine sozialistische Revolution und deren Ausbreitung auf die gesamte Region verbunden.

Das Gleiche gilt nicht nur für die wirtschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen, sondern auch für die Kämpfe gegen nationale Unterdrückung, Imperialismus, Umweltzerstörung, Krieg und wachsenden Militarismus, Rassismus, Faschismus und Diktaturen.

Daher stehen wir vor zwei miteinander verknüpften Aufgaben. Erstens müssen wir uns für eine internationale Bewegung einsetzen, für eine koordinierte Aktion rund um eine Reihe von brennenden Forderungen und Themen, die die große Mehrheit der Frauen betreffen. Wir müssen alle Frauenorganisationen sowie die Gewerkschaften und die Parteien der Arbeiter:innenklasse auffordern, sich an einer solchen gemeinsamen Aktion zu beteiligen. Und wir müssen diese Notwendigkeit am Internationalen Frauenkampftag zur Sprache bringen.

  • Gleiche Rechte für Frauen! Abschaffung aller frauenfeindlichen und diskriminierenden Gesetze! Volles Recht auf Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben!

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Dies sind nur einige der Forderungen, die die Bedürfnisse der Frauen weltweit ansprechen. Sie sind wichtig, um Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bäuer:innenschaft, der Armen, junge und alte Menschen weltweit zu vereinen. Um den Kampf zu gewinnen, müssen die Frauen der Arbeiter:innenklasse an vorderster Front stehen, aber sie müssen von allen Lohnabhängigen aufgegriffen werden.

Wir müssen uns auch mit der Frage der Richtung, der Strategie und dem Ziel der Frauenbewegung auseinandersetzen, die wir aufbauen müssen. Soll es einfach nur ein Netzwerk und ein loses Bündnis sein – oder eine Einheitsfront, die auf Einigkeit und Engagement für die Verwirklichung vereinbarter gemeinsamer Ziele beruht? Soll es eine klassenübergreifende Bewegung sein, die effektiv von Frauen aus der Mittelschicht, der Intelligenz und einigen wohlwollenden bürgerlichen Frauen geführt wird – oder eine Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse?

Um einer globalen Frauenbewegung eine Führungsrolle zu geben, brauchen die Frauen der Arbeiter:innenklasse ihr eigenes Programm, ihre eigene Strategie – ein Aktionsprogramm, das die Kämpfe für die Befreiung von der Unterdrückung der Frauen mit dem  für eine globale sozialistische Revolution verbindet. Dafür benötigen wir eine internationale proletarische Frauenbewegung und eine neue, revolutionäre Fünfte Internationale, die für diese Rechte kämpft, nicht nur für heute, sondern als Schritt in eine Zukunft, in der sie nicht länger der scheinbar unveränderlichen Profitlogik des kapitalistischen Systems ausgeliefert sind.




Historische Kämpfe gegen den Krieg

Romina Summ, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Vietnamkrieg

Beginnend mit dem offiziellen Eintritt der USA in den Vietnamkrieg im August 1964 kam es international zu breiten Protesten, auch in Deutschland. Entstanden war die Bewegung zunächst durch Student:innenorganisationen. Die bekannteste war sicherlich die SDS (Students for a Democratic Society), welche sich aus radikalen pazifistischen Gruppen der Antiatombewaffnungsbewegung heraus entwickelte. Angeschlossen hatten sich neben Hippies, liberalen Bürgerrechtler:innen, Akademiker:innen auch Kunstschaffende. Wesentlich beteiligt und um einiges militanter als die „Make Love Not War“-Bewegung waren Frauenorganisationen wie die „Women Strike for Peace (WSP)“, welche sich zunächst erfolgreich gegen Atombombentests einsetzte. Gegründet wurde diese nach einem am 1. November 1961 stattgefundenen eintägigen Streik unter dem Slogan „End The Arms Race Not The Human Race“, an dem schätzungsweise 50.000 Frauen in 60 US-Städten teilgenommen hatten. Der Streik verlief sehr erfolgreich und löste in weiterer Folge eine große Dynamik aus. Die WSP wurde ins Leben gerufen und zog noch mehr Frauen in den Kampf gegen die Bedrohung durch Atomkriege und zur sofortigen Beendigung von Atomtests. Als die WSP bereits nach knapp zwei Jahren mit dem Inkrafttreten des Vertrags über das begrenzte Verbot von Atomtests einen bedeutenden Sieg verbuchen konnte, wurde der Vietnamkrieg zum Hauptanliegen der Bewegung. Initiativen wie „The Jeannette Rankin Brigade“ (1968) brachten Aktivisten:innen zusammen, die sich für Frauenbefreiung, Antirassismus, Armutsbekämpfung und Antikriegspolitik einsetzten. Einige Mitglieder der WSP nahmen sogar an Treffen mit dem Vietkong (Nationale Front für die Befreiung Südvietnams; NFB) in Nordvietnam teil. Sie trugen durch die Organisation dieser Proteste und der daraus entstandenen gesellschaftlichen Ablehnung entscheidend dazu bei, dass die US-Regierung in Nordvietnam keine Atomwaffen einsetzte und sich das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Vietkong verschob.

Innerhalb der Antikriegsbewegung gab es allerdings eine große Zersplitterung und keine gemeinsame Dachorganisation. So hatte man zwar ein gemeinsames Ziel, es wurde aber heftig über die anzuwendenden Mittel diskutiert. Die Bewegung, welche von bürgerlichen Kräften dominiert war, konnte jedoch durch den breiten gesellschaftlichen Protest enormen innenpolitischen Druck auf die damalige US-Regierung aufbauen. Diese sah sich 1969 gezwungen, die Zahl ihrer Bodentruppen in Nordvietnam zu minimieren, von rund 480.000 auf 335.000, bis sie 1973 nach dem Abschluss eines Waffenstillstandes (Pariser Abkommen) mit Nordvietnam komplett abgezogen wurden. Zusätzlich wurden eine Reform des Einzugsverfahrens ins Militär durchgesetzt sowie die Wehrpflicht aufgehoben. Dies alles führte zu einer der verheerendsten Niederlagen des US-Imperialismus und einem Sieg der vietnamesischen Befreiungsarmee.

Irakkrieg

Bald 20 Jahre ist es her, als die bis dahin größte Antikriegsbewegung ihren Höhepunkt erreichte. Am 15. Februar 2003 gingen in mindestens 650 Städten weltweit zwischen 25 und 30 Millionen Menschen auf die Straße, um gegen den durch die USA geführten Irakkrieg zu protestieren. Diese Bewegung zeichnete sich besonders durch das Ausmaß der Beteiligung in den westlichen Staaten aus, wo Regierungen den Krieg entweder duldeten oder die USA sogar direkt unterstützten. Getragen wurde die Bewegung von Friedensgruppen, Kirchen, NGOs und Gewerkschaften. Ebenso gab es an Schulen zahlreiche Streiks gegen den Krieg. Auch innerhalb dieser Antikriegsbewegung spielten Frauen wieder eine zentrale Rolle. So hatten beispielsweise am 8. März 2003, dem Internationalen Frauentag, tausende in verschiedenen US-Städten gegen den Irakkrieg demonstriert. Aufgerufen hatte die Organisation „Code Pink: Women for Peace“.

Die Bewegung versuchte, in den einzelnen Ländern durch Proteste und zivilen Ungehorsam (wie Sitzblockaden auf dem Stützpunkt der US-Airbase in Frankfurt) innenpolitischen Druck auf die nationalen Regierungen auszuüben, um damit eine Kriegsbeteiligung zu verhindern. Die Bewegung erreichte, dass sich viele Länder nicht aktiv am Krieg beteiligten, da sie den Widerstand innerhalb der Gesellschaft gegen den Krieg kannten und weitere Proteste befürchteten. Auch verfolgte die Europäische Union unter Führung von Deutschland und Frankreich andere geopolitische Interessen. Dennoch wollte sie keine Eskalation mit den USA riskieren. So gewährleistete Deutschland beispielsweise Transporte und den Schutz von US-Militär. Auch genehmigte sie der NATO sogenannte Überflugrechte über dem Bundesgebiet.

Erster Weltkrieg und Beginn der Februarrevolution

Nachdem in Russland viele Männer für den ersten Weltkrieg von 1914 – 1917 eingezogen wurden, waren Frauen gezwungen, in den Fabriken zu arbeiten, um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen. Gleichzeitig wurden die Arbeitsbedingungen schlechter. Die Preise stiegen und es herrschte ein Mangel an Waren. Am internationalen Frauentag, dem 23. Februar/8. März 1917 organisierten Arbeiterinnen einen großen Streik mit rund 90.000 Teilnehmer:innen in den Fabriken von St. Petersburg, um gegen den imperialistischen Krieg und seine verheerenden Folgen zu protestieren. Obwohl Streiks verboten waren und die Arbeiter:innenbewegung starker Repression ausgesetzt war, organisierten Arbeiterinnen aus dem Wyborger Bezirk in den dort ansässigen Textilfabriken illegale Treffen unter den Thema „Krieg, hohe Preise und die Situation der Arbeiterin“. Sie entschieden sich zu streiken, zogen zu tausenden auf die Straßen und forderten unter den Slogans „Brot, Land, Frieden“ sowie „Gebt uns unsere Männer zurück“ weitere Arbeiterinnen und Männer in nahegelegenen Fabriken zur Teilnahme auf. Diese Aktion war äußerst erfolgreich. Bereits um 10 Uhr waren rund 27.000 Arbeiter:innen am Streik beteiligt. Diese Zahl stieg im Verlauf des Tages auf über 50.000 Menschen an. In den darauffolgenden Tagen umfasste die Streikwelle gar 240.000 Arbeiter:innen. Die Februarrevolution war ausgebrochen.

Dabei spielte die SDAPR-Frauenzeitung „Rabotniza“ und deren Redaktion, welche aus den Organisatorinnen des Streiks bestand, eine wesentliche Rolle. Unter ihnen die Revolutionärin Alexandra Kollontai, die deutlich machte, dass der Krieg, welcher auf dem Rücken der Arbeiter:innen geführt wird, mit Mitteln des Klassenkampfes bekämpft werden muss und es dafür eine Partei der Arbeiter:innenklasse mit einem Kampfprogramm gegen den Kapitalismus braucht. Entsprechend traten sie für Forderungen ein, die sich nicht auf nationale Interessen beschränkten, sondern im Interesse der Klasse waren, wie der 8-Stunden-Tag, die Vergesellschaftung der Wäschereien und höhere Löhne.




Guten Fragen, gute Antworten: 5 Fragen zu Frauen, Patriarchat und Krieg

Aventina Holzer / Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

1. Patriarchat schafft Krieg?

„Kriege werden von Männern ausgelöst“, „Mächtige Männer setzen ihre Interessen über die Köpfe der anderen durch“ und „Krieg ist männlich“ sind Aussagen, die einem häufig über den Weg laufen. Wenn man sich die Realität anschaut, könnte man dem auf den ersten Blick zustimmen. Die überwiegende Mehrheit der Regierungschef:innen sind Männer und auch fernab von Amtsträger:innen hat Gewalt überwiegend ein männliches Gesicht.

Das Problem an diesen Sätzen ist jedoch, dass man eine falsche Systematik oder gesellschaftliche Problematik herausarbeitet. Es scheint so, dass Kriege entstehen, da oftmals Männer Entscheidungsträger sind. Dies ist ein Ergebnis des Patriarchats, welches sich durchgesetzt und reproduziert hat durch männliche Gewalt. Damit wird einem unterschwellig suggeriert, dass es „in der Natur“ von Männern liege, gewalttätig zu sein.

Doch Kriege entstehen nicht einfach durch individuelle Willkür. Sie sind selbst ein Produkt von Klassengesellschaften. Im Kapitalismus sind sie oft Ergebnis ökonomischer Konkurrenz mit dem Ziel jeweiliger Nationen bzw. Kapitalfraktionen, sich eigene Einflusssphären zu sichern – auf Kosten anderer. Krieg scheint männlich, da eben viele Männer für die Kriegsführung und -erklärung verantwortlich sind. Das suggeriert sehr stark, dass es anders wäre, wenn Frauen in diesen Positionen sind. Annalena Baerbock oder Hillary Clinton und ihre „feministische Außenpolitik“ lassen grüßen. In der Realität schicken diese aber ebenso Waffen, um die Interessen ihrer jeweiligen herrschenden Klasse zu vertreten. Sie sind nicht freundlicher oder rationaler, nur weil sie Frauen sind. Davon auszugehen, verschleiert die tatsächlichen Verhältnisse und den realen patriarchalen Aspekt von Kriegen enorm, während man gleichzeitig tradierte Rollenbilder reproduziert.

Ähnliches gilt für männliche Gewalt an sich. Gewalt ist nicht nur eine Frage von individueller Mentalität, Erziehung oder Tendenz. Es ist nichts, was „natürlich“ in Männern existiert, sondern Ergebnis historischer Unterdrückung – von Frauen, aber auch und vor allem von Klassen oder im Kapitalismus von Kolonialvölkern und Nationen.

Somit ist die Aussage „Patriarchat schafft Krieg“ nicht nur eine sehr, sehr vereinfachte Analyse von Patriarchat als „männlicher Dominanz“ und ein Abschieben der Schuld auf „die“ Männer. Darüber hinaus vermittelt es zwei weitere problematische Ideen. Zum einen entsteht eine Diskussionsverschiebung. Es wird sich darauf konzentriert, welches Geschlecht  den Krieg führt und verwaltet. Doch eigentlich geht es dabei um die Durchsetzung von Klasseninteressen, um geopolitische und strategische Machtverschiebungen. Diese haben zwar massive negative Auswirkungen auf FLINTA-Personen, aber auch auf die männliche Arbeiter:innenklasse, die als Kanonenfutter für die herrschende Klasse eingesetzt wird.

Das zweite Problem mit der Aussage „Patriarchat schafft Krieg“ besteht darin, dass alle Kriege als reaktionär erscheinen. Das ist grundfalsch. Antikoloniale und antiimperialisische Befreiungskriege, Bürger:innenkriege oder Kriege zur Verteidigung einer sozialen Revolution tragen einen fortschrittlichen Charakter. Die Abschaffung des Kapitalismus und der Frauenunterdrückung sind letztlich ohne sozialistische Revolution, d. h. ohne gewaltsame Erhebung der Unterdrückten unmöglich. Abstrakte, ahistorische Phrasen, die den Unterdrückten einen allgemeinen Gewaltverzicht nahelegen, entwaffnen sie letztlich nur. Sie tragen ungewollt dazu bei, jene Verhältnisse – kapitalistische Ausbeutung und Frauenunterdrückung – zu verewigen, die sie zu bekämpfen vorgeben.

2. Warum gibt es Krieg im Kapitalismus?

Wer effektiv gegen Krieg kämpfen will, muss auch verstehen, was dessen Wurzel ist. Spoiler: es sind nicht einzelne, verwirrte Staatsoberhäupter oder die grundlegende „Natur“ des Menschen. Die Erklärung ist eine andere. Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Akteur:innen im Kapitalismus die Konkurrenz ist. Jede/r muss für sich selber schauen, wo er/sie bleibt, und darum kämpfen, dass er/sie nicht von anderen Kapitalist:innen abgehängt wird oder am besten sogar schneller als Elon Musk zum Mars fliegt. Dieser Konkurrenzkampf durchzieht die gesamte Gesellschaft. Somit stehen auch die Besitzer:innen der Fabriken und des Kapitals, also die Kapitalist:innen, miteinander in stetigem Kampf darum, wer die meisten Profite bekommt, um mit diesen neue Investitionen zu tätigen und somit zu wachsen und immer größere Teile der Wirtschaft in der eigenen Hand zu vereinen. Doch Profite zu machen, ist nicht so einfach in der heutigen Welt.

Unsere aktuelle Epoche zeichnet sich dadurch aus, dass jeder Winkel der Welt unter die konkurrierenden Kapitale aufgeteilt ist. Beispielsweise in Deutschland wird beinahe alles bewirtschaftet und der Bedarf an den meisten Sachen ist befriedigt. Also muss man raus aus Deutschland und in anderen Teilen der Welt investieren, wo noch was zu holen ist. Und da sich alle Imperialist:innen unter Konkurrenzdruck befinden, hat man unter Umständen auch gar keine andere Wahl, als diese Kriege um Wirtschaftswege (westafrikanische Küste), Wirtschaftsräume (Mali) oder geostrategische Einflusssphären (Ukraine, Syrien, Afghanistan) zu führen, da man ansonsten von den Kapitalist:innen in anderen Ländern bedroht wird oder vielleicht sogar abgehängt. Im Prinzip ist also Politik die zugespitzte Form der ökonomischen Konkurrenz (wie beispielsweise durch Handelsabkommen oder Troikapolitik gezeigt) und Krieg die Fortführung dieser mit anderen Mitteln.

Als revolutionäre Marxist:innen erkennen wir auch an, dass Kriege einen unterschiedlichen Charakter tragen, je nach dem der Kriegsziele der beteiligten Kräfte und Klassen. So besitzen beispielsweise solche zwischen imperialistischen Mächten einen reaktionären Charakter, während wir die unterdrückter Nationen und halbkolonialer Länder gegen imperialistische Staaten als berechtigt und unterstützenswert betrachten.

So weit eine knappe Antwort auf eine komplexe Frage.

3. Treffen Kriege Frauen stärker?

Die Antwort ist: jein. Kriege versetzen die gesamte Bevölkerung in einen Ausnahmezustand. Die Zunahme von Nationalismus, Zerstörung der Infrastruktur oder Mobilmachung haben Auswirkungen auf alle. Frauen sind dabei teilweise stärker oder spezifisch betroffen. Dies liegt darin begründet, dass der Krieg bereits vorhandene Frauenunterdrückung massiv verstärkt oder jedenfalls es tun kann. Er muss es aber nicht, wenn Frauen selbst eine aktive, ja führende Rolle in Befreiungs- oder Bürger:innenkrieg für die fortschrittliche Seite spielen.

Die Auswirkungen lassen sich dabei grob in direkte sowie indirekte einteilen. Beispielsweise fördert der Zusammenbruch der medizinischen Infrastruktur eine höhere Sterblichkeit von Geburten und die kriegsbedingte Zunahme an Frühwitwen führt meist zu schlimmerer Altersarmut von Frauen, die noch jahrelang anhält. Ein spezifisches Merkmal von Kriegen ist der Anstieg von Gewalt gegen Frauen. Herauszustellen hierbei ist, dass diese nur teilweise zunehmen, weil die Lebensbedingungen schlechter werden.

Vielmehr muss Gewalt gegen Frauen – hierbei vor allem Vergewaltigung – auch als gezielte Waffe verstanden werden zur ethnischen Säuberung und Demoralisierung. Beispielsweise wurde im Jahr 1994 Ruanda von einem Völkermord heimgesucht. Man schätzt, dass in etwas mehr als hundert Tagen fast eine Million Menschen getötet wurden. Im gleichen Zeitraum wurden schätzungsweise 250.000 bis 500.000 Tutsifrauen vergewaltigt. Insbesondere in diesem Jahrhundert gibt es zahlreiche Belege für massive Vergewaltigungen als Kriegsphänomen. Ein weiteres Beispiel finden wir 1937, wo in einem Monat 20.000 Frauen von Japanern in Nanjing (früher: Nanking; China) vergewaltigt wurden.

Auffällig ist, dass die Täter nur selten strafrechtlich verfolgt werden. In der Machel-Studie wird darauf hingewiesen, dass beispielsweise nur 8 Täter angeklagt wurden, obwohl die Zahl der Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien auf 20.000 geschätzt wird. Ziel der systematisch betriebenen Übergriffe ist es, der Gesamtbevölkerung der Gegenseite zu schaden – auch langfristig, weil die Reproduktionsfähigkeit beschädigt wird, etwa wenn in bestimmten Kulturen die Frau als Heiratspartnerin nach einer Vergewaltigung nicht mehr infrage kommt. Es wird also nicht nur der einzelnen Frau mit diesem Kriegsverbrechen geschadet, sondern der ganzen Gruppe.

4. Was ist mit der Carearbeit?

Dadurch, dass größtenteils Männer eingezogen werden sowie Haushaltseinkommen schrumpfen, gibt es starke Veränderungen in der Verteilung der Hausarbeit sowie auf dem Arbeitsmarkt. Kurzum: Frauen agieren hierbei als flexible Reservearmee von Arbeitskräften, die je nach Situation aktiv einbezogen oder isoliert werden. Der Grund dafür ist vor allem die Organisierung der Reproduktionsarbeit. Diese ändert sich ebenfalls im Rahmen des Krieges. Denn in einem Land, was angegriffen wird, wird massiv Infrastruktur zerstört. Alle Bereiche der Pflege und Kindererziehung fallen somit meist auf Frauen zurück – und das findet unter schlechteren Verhältnissen statt. Nach dem Krieg ändert sich das nicht unmittelbar, da die Zahl von Verletzten auch gestiegen ist.

Kurzum: die Doppelbelastung von Frauen, die ohnedies existiert, wird massiv verstärkt. Doch nicht nur in angegriffenen Ländern verändert sich die Situation. So hatten bspw. die USA im Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, um die Waffenproduktion am Laufen zu halten, Teile der Carearbeit zeitweise zu „sozialisieren“. Dies fand beispielsweise 1942  im Rahmen des Community Facilities Act (auch Lanham Act genannt) statt. Im Rahmen dieses Gesetzes hatten alle Familien (unabhängig vom Einkommen) Anspruch auf Kinderbetreuung, teilweise bis zu sechs Tage in der Woche, einschließlich der Sommermonate und der Ferien. So wurden die ersten Kinderbetreuungseinrichtungen der US-Regierung und sieben Einrichtungen für 105.000 Kinder gebaut. Dies scheint nach heutigen Maßstäben recht wenig zu sein, ist aber ein Ausdruck, was möglich ist: Statt die Reproduktionsarbeit ins Private zu verlagern, wurden Teilbereiche öffentlich organisiert – also verstaatlicht („vergesellschaftet“), da Frauen als Arbeitskräfte benötigt wurden. Dieses Angebot blieb natürlich nicht ewig bestehen. Nach Ende des Krieges und der Rückkehr der Männer von der Front wurden die Angebote wieder gestrichen, um Kosten zu sparen.

5. Trifft Krieg  alle gleich?

Insgesamt ist es wichtig anzuerkennen, dass wie bei Gewalt die Auswirkungen von Krieg alle Frauen treffen. Aber eben nicht gleich. Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, alle mit niedrigen Einkommen, sind den Folgen wesentlich stärker ausgesetzt, da sie keinen finanziellen Spielraum haben, Preissteigerungen auszugleichen oder zu fliehen. Dementsprechend kann auch nicht in der „Einheit“ aller Frauen die Antwort auf den Kampf gegen den Krieg bestehen. Vor allem nicht mit der Argumentation, dass Frauen friedliebender als Männer sind. Dies ist nur eine Fortführung von tradierten Rollenbildern, die auf die Müllhalde der Geschichte gehören. Wie am Anfang schon gesagt: Krieg wird nicht durch toxische Männlichkeit oder „verrückte Diktatoren“ vom Zaun gebrochen und geführt. Um Krieg effektiv zu bekämpfen, ist es aber zentral, ihn als Ergebnis von Klassengegensätzen und der internationalen Konkurrenz unterschiedlicher, nationaler Kapitalfraktionen zu verstehen. Wenn Frauen dann einfach nur dieses System mit verwalten oder glauben, dass Krieg vermeidbar sei, wenn man mehr miteinander redet, dann bietet das keine Lösung für irgendein Problem – weder zur Bekämpfung von Krieg noch dessen Auswirkungen auf die Frauenunterdrückung. Effektiver Widerstand muss aktuelle Probleme aufgreifen und deren Bekämpfung mit der Beseitigung ihrer Ursache – des Kapitalismus – verbinden, um erfolgreich zu sein.