Der Kampf gegen soziale Unterdrückung

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 6, Sommer 1989

Alle ausgebeuteten Klassen sehen sich Unterdrückung gegenüber. Die systematische Verweigerung von wirklicher politischer und wirtschaftlicher Gleichheit und persönlicher Freiheit ist sowohl ein Ausdruck als auch eine Verstärkung der Ausbeutungsverhältnisse zwischen der herrschenden Klasse und den direkten Produzenten. Zusätzlich zu dieser Klassenunterdrückung aber gibt es andere systematische wirtschaftliche, soziale, gesetzliche und politische Ungleichheiten, die speziell Frauen, Jugendliche, verschiedene rassistisch unterdrückte und nationale Gruppen sowie Lesben und Schwule betreffen.

Diese spezifischen Formen der sozialen Unterdrückung sind ein grundlegendes Merkmal der Klassengesellschaften und in den sozialen Strukturen der Familie und des Nationalstaates verwurzelt. Die Unterdrückung der Frauen war die erste Form systematischer Unterdrückung und entstand im Zusammenhang mit der Herausbildung von Klassen. Sie bleibt die grundlegendste Form der sozialen Unterdrückung. Aber die jeweiligen Formen der sozialen Unterdrückung wurden mit jeder Produktionsweise verändert. Sie erreichten ihre entwickeltste und in mancher Weise unverhüllteste Form in der imperialistischen Epoche.

Die gesellschaftlichen Strukturen, auf denen die soziale Unterdrückung aufbaut, sind für den Kapitalismus wesentlich. Ihre Funktionen sind innig und untrennbar mit dem Prozeß der Ausbeutung verbunden, aber sie schaffen eine Unterdrückung, die nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt ist. Frauen aller Klassen sehen sich Diskriminierung und Benachteiligung gegenüber, und zwar als Resultat der Rolle, die sie innerhalb der Familie ihrer Klasse einnehmen. Aber es sind die Frauen der Arbeiterklasse, und ebenso Jugendliche, Schwarze und Lesben und Schwule aus dem Proletariat, die sich der stärksten sozialen Unterdrückung gegenübersehen.

Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse mit dem entscheidenden Interesse und der Kraft zur Überwindung jenes Systems, das alle diese Formen der Unterdrückung aufrechterhält. Nur unter der Führung der Arbeiterklasse können besonders unterdrückte Sektionen der ausgebeuteten Klassen in den Kampf für die Diktatur des Proletariats gezogen werden, der die Voraussetzung für eine Beendigung aller Unterdrückung ist. Die Arbeiterklasse muß daher jederzeit an der vordersten Front des Kampfes gegen alle Ungleichheiten, gegen Unterdrückung und Ausbeutung stehen.

Dennoch versagen die existierenden Arbeiterorganisationen, den Kampf gegen die soziale Unterdrückung aufzunehmen. Tatsächlich ist es häufig der Fall, daß die reformistischen Bürokraten, die die Arbeiterbewegung beherrschen, aktiv zu feindlicher Haltung unter den Massen gegenüber den Bedürfnissen und der Notlage der Unterdrückten ermutigen. Die Unterdrückten sind in einem solchen Ausmaß Opfer von Sexismus, Rassismus und Heterosexismus, daß ihre Teilnahme in Gewerkschaften und am politischen Leben blockiert wird. Die Aufgabe der revolutionären Avantgarde liegt in der Bekämpfung dieser Vorurteile und darin, die Massenorganisationen der Arbeiterklasse in die Vorderfront des Kampfes gegen Unterdrückung zu bringen.

Die Unterdrückten selbst sind nicht notwendigerweise schon allein deswegen, weil sie die unterdrücktesten Sektionen der Gesellschaft bilden, in der Avantgarde der Kämpfe. Die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung erzeugt nicht nur revolutionäre Kämpfer und Kämpferinnen, sondern auch rückständige und gehorsame Schichten. Vieles ist der Ausdruck reaktionärer Ideen oder des Rückzugs ins Privatleben. Nur die klassenbewußtesten Elemente der Unterdrückten werden in der Avantgarde der Kämpfe für ihre eigene Befreiung zu finden sein. Diese Teilnahme der Avantgarde innerhalb des gesamten Klassenkampfes gibt die Möglichkeit, daß ihre Interessen aktiv von der Arbeiterklasse aufgegriffen werden.

Spezielle Methoden der Agitation und der Propaganda sowie besondere Arbeitsformen müssen verwendet werden, um die sozial Unterdrückten für das kommunistische Programm zu gewinnen. Es können aber auch spezielle Organisationsformen notwendig sein, um die Unterdrückten sowohl dazu zu mobilisieren, ihre eigene Unterdrückung zu bekämpfen, als ihnen auch zu ermöglichen, auf einer gleichberechtigten Basis mit allen anderen Arbeitern und Arbeiterinnen in die Reihen der organisierten Arbeiterbewegung einzutreten. Innerhalb der Bewegung des Proletariats müssen Revolutionäre das Recht der Unterdrückten verteidigen, sich zu organisieren und sich gesondert zusammenzuschließen, um Druck dafür zu erzeugen, daß ihre Forderungen von der ganzen Klasse aufgegriffen werden. Unter bestimmten Bedingungen waren auch eigene Arbeiterorganisationen der Unterdrückten notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Solche speziellen Methoden und Organisationsformen haben nichts mit Separatismus gemeinsam. Sie sind ein Mittel, um die Kampfeinheit in der Arbeiterklasse zu erleichtern und abzusichern, daß die Arbeiterbewegung als ganzes den Kampf der Unterdrückten anführt.

An erster Stelle hat die revolutionäre Partei die Pflicht sicherzustellen, daß sie in ihrer Tagesarbeit und in ihrer internen Organisation gegenüber den Bedürfnissen der Unterdrückten aufgeschlossen ist. Wenn revolutionäre Massenparteien existieren, können für diese daher Parteisektionen oder parteigeführte Bewegungen gebildet werden. Diese Sektionen werden die Unterdrückten für den kommunistischen Kampf als Parteimitglieder organisieren und den Kampf gegen die Unterdrückung in das Herz der Arbeiterbewegung tragen.

Wenn revolutionäre Kommunistinnen und Kommunisten noch eine kleine Minderheit in der Arbeiterbewegung sind, müssen an die Stelle der Bildung von Massensektionen der Partei, die die Ausübung von speziellen Arbeitsformen organisiert, andere Formen der Einheitsfront treten. In vielen Ländern führte die gemeinsame Erfahrung der Unterdrückten zur Entwicklung von Bewegungen und Kampagnen unter Frauen, Lesben und Schwulen, Jugendlichen und rassistisch Unterdrückten. Die Partei kann nicht die Führung dieser Bewegungen den kleinbürgerlichen Utopisten, den Sozialdemokraten oder den Stalinisten überlassen.

Wir unterstützen die Bildung von kämpfenden Einheitsfronten gegen die Unterdrückung und argumentieren, daß sie sich auf das Proletariat stützen, von diesem geführt und auf der Verwendung der Methoden des Klassenkampfes aufbauen müssen. In bestimmten Fällen können diese Einheitsfronten die Form von vollständig entwickelten Bewegungen (mit regionalen Gruppen, Kongressen und Exekutivkomitees etc.) annehmen. Aber in jedem Fall muß die Organisationsform mit den konkreten Umständen in Verbindung gesetzt werden. Wie lange solche Organisationen benötigt werden, hängt vom Grad ab, in dem wir erfolgreich sind, die Arbeiterbewegung als ganzes für unser Programm zu gewinnen. Außerdem werden wir, wenn unsere zeitlich begrenzten Verbündeten den Kampf zu spalten oder auszuverkaufen versuchen, nicht davor zurückschrecken, auch selbst zum Mittel der Spaltung dieser Einheitsfronten zu greifen.

Wir stellen diese Taktik allen Formen der autonomen und klassenkollaborationistischen Bewegungen der Unterdrückten gegenüber. Wo bürgerliche Kräfte in Bewegungen der Unterdrückten involviert sind, versucht die revolutionäre Avantgarde die Arbeiterklasse und andere Unterdrückte von jedem Bündnis mit ihnen wegzubrechen. In der Tat bekämpfen wir durch den Aufbau von proletarischen Bewegungen und durch den schonungslosen Kampf für die kommunistische Führung innerhalb dieser die Tendenzen des Separatismus und der Volksfront, die unter den Unterdrückten auftreten. Unser Ziel ist der Aufbau kommunistischer Bewegungen, obwohl nicht alle an einer solchen Bewegung Teilnehmenden Mitglieder, und damit unter der Disziplin der revolutionär-kommunistischen Partei, sein werden.

Der Kampf gegen Diskriminierung

Andere Sektionen der Gesellschaft sind, auch wenn sie nicht sozial unterdrückt sind, trotzdem im Kapitalismus das Opfer von Diskriminierung. Die Alten, die Behinderten und die Kranken, die nicht die Voraussetzungen des Kapitalismus für die Lohnarbeit erfüllen, werden ausgestoßen und als Belastung für die Gesellschaft behandelt. Bedeutende Teile der Armen werden für Handlungen stigmatisiert und kriminalisiert, die sie nur unternehmen, um zu überleben. Andere werden als geistig krank bezeichnet und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Die bürgerliche Gesellschaft nutzt die Marginalisierung dieser Gruppen, um ihr Konzept von „Normalität“ und ihren moralischen Kodex der ganzen Arbeiterklasse aufzuerlegen und ihre Strategie des teile und herrsche fortzusetzen.

Zum Beispiel macht die erzwungene Isolation der Alten sie zu einer Beute des Konservativismus, die Menschen mit Behinderungen aufgezwungenen Beschränkungen erlauben es, sie als nicht gewerkschaftlich organisierte billige Arbeitskräfte zu verwenden. Revolutionärinnen und Revolutionäre müssen den Kampf der Alten, Kranken und Behinderten gegen die Diskriminierung, von der sie betroffen sind, unterstützen. Dies wird ihre Integration in die Arbeiterklasse erleichtern und damit den Kampf gegen den gemeinsamen Feind stärken. Revolutionäre sollen für die Sicherstellung kämpfen, daß die Arbeiterbewegung allen Mitgliedern der Arbeiterklasse den größtmöglichen Zugang zu ihren Organisationen, Treffen und zu ihrem sozialen Leben gewährleistet. Die revolutionäre Partei sollte dabei ein Beispiel für den Rest der Arbeiterbewegung geben.

Revolutionärinnen und Revolutionäre versuchen, die militanten Kämpfer und Kämpferinnen aus den Reihen jener, die von der Diskriminierung betroffen sind, zu gewinnen. Während sie alle Kämpfe für Reformen und Verbesserungen unter dem Kapitalismus unterstützen, versuchen Kommunistinnen und Kommunisten zu erklären, daß das Profitmotiv es dem Kapitalismus unmöglich macht, die Bedürfnisse jener zu erfüllen, die er auf den Müllhaufen wirft. Außerdem schafft sein gieriger Charakter Krankheit und Behinderung. Nur eine sozialisierte und geplante Produktion kann die notwendigen Ressourcen freisetzen, um diese Gruppen vollständig in die Gesellschaft zu integrieren und die Grundlage für ihre Befreiung zu legen.

Frauen

In der imperialistischen Epoche sind Millionen Frauen in der ganzen Welt dazu verurteilt, die Misere des Kinderaufziehens und der Haushaltsführung unter Bedingungen enormer Entbehrungen zu erleiden. Frauen tragen weltweit die Hauptlast unzulänglicher Wohnverhältnisse, ungenügender Lebensmittelversorgung und des Kampfes zur Abwehr bzw. der Bewältigung der Auswirkungen von Krankheiten. Für die Mehrheit von ihnen ist Überausbeutung in der Fabrik und auf den kapitalistischen oder kleinbäuerlichen Landwirtschaftsbetrieben ebenfalls die Norm.

Den Frauen aller Klassen wird die ökonomische, soziale, rechtliche und politische Gleichheit mit den Männern verwehrt. Der globale Charakter der Unterordnung der Frauen läßt diese als natürliche Folge ihrer Rolle in der Fortpflanzung erscheinen. Doch die systematische gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen begann erst mit der Geburt der Klassengesellschaft und der Schaffung der patriarchalen Familie als grundlegende Einheit, in der die Reproduktion, das Aufziehen der Kinder und der Kampf um das tagtägliche Überleben stattfinden. In den verschiedenen Formen der Klassengesellschaft veränderten sich zwar auch die speziellen Merkmale der Frauenunterdrückung, doch in ihrem Innersten beinhalteten sie alle die privatisierte Hausarbeit, also einen Lebensbereich, der die wesentlichste oder ausschließliche Verantwortung der Frauen ist.

In der imperialistischen Epoche verrichten Frauen einen großen Anteil der Arbeit am Land und in den Fabriken, doch bleibt ihre erste Verantwortung die gegenüber ihrem Haushalt und ihrer Familie. Das bedeutet, daß die Geschlechter ein ungleiches Verhältnis zur bezahlten Arbeit haben, was die Wurzel der fortgesetzten Frauenunterdrückung darstellt. In vielen Halbkolonien behält die Familie die Funktion einer produktiven Einheit, wobei Frauen und Kinder integraler Bestandteil der kollektiven Produktion sind. Doch noch immer sind Frauen hauptsächlich für Hausarbeit und Kinderaufziehen verantwortlich und nehmen daher eine den männlichen Haushaltsvorständen untergeordnete Position ein.

Der Kapitalismus hat sich als unfähig und unwillig erwiesen, die im Haushalt verrichtete Arbeit systematisch zu vergesellschaften. Er ist daher unfähig, die Unterdrückung der Frauen zu beenden. Die Bereitstellung vergesellschafteter Wäschereien, von Kinderbetreuungseinrichtungen und Kantinen hat sich als zu großer Abfluß vom Mehrwert der Bosse erwiesen, als daß sie es sich außer in der Ausnahmesituation eines Krieges leisten würden.

Für die Frauen, die nicht der Arbeiterklasse angehören, nimmt die Unterdrückung eine stark verschiedene Form an. Sogar in manchen herrschenden Klassen werden den Frauen die vollen Rechte über Eigentum und Erbe verweigert und sie werden von ihren Ehemännern als dekorative Besitztümer und Produzentinnen der Nachkommen gehalten. Auch wenn ihre fortgesetzte Unterdrückung weit von der Plackerei und dem Elend der Arbeiterinnen dieser Welt entfernt ist, ist sie doch ebenso eine Folge ihrer Rolle in der Familie. Die Produktion von Nachkommen bedarf der striktesten Beibehaltung der Monogamie der Ehefrauen. Die Frauen aus der herrschenden Klasse können jedoch viele der schlimmsten Aspekte ihrer Unterdrückung durch die Beschäftigung von Frauen aus der Arbeiterklasse ausgleichen, die deren Hausarbeit und das Aufziehen von deren Kindern verrichten. Außerdem können sie niemals wirkliche Verbündete der Frauen aus der Arbeiterklasse sein, da ihr Platz in der bürgerlichen Gesellschaft ihre vollständige Bindung an eben jene Gesellschaft bedeutet, die die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung ist.

In den imperialistischen Ländern erhöhte sich seit dem Zweiten Weltkrieg die Zahl der Frauen, die in einem Lohnarbeitsverhältnis stehen, beträchtlich. In vielen Ländern geht nun die Mehrheit der verheirateten Frauen einer bezahlten Beschäftigung nach. Während diese Entwicklung Tendenzen in Richtung der Unterminierung der wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit der Frauen in sich trägt, erwiesen sich die Umstände, unter denen dies geschah, als zweischneidig. Nun müssen sie in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit sowohl die Arbeit in Büro oder Fabrik als auch die Hausarbeit verrichten. Da es nur einen kleinen Anstieg im Ausmaß der Hausarbeit, die von den Männer verrichtet wird, gab, müssen Frauen nun sogar mehr Stunden für die Errungenschaft, nun selbst lohnabhängig zu sein, arbeiten. Und da Frauen noch immer wesentlich geringere Löhne als Männer erhalten, bleibt auch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit weitgehend eine Fiktion. In den meisten imperialistischen Ländern verstärken gesetzliche Beschränkungen die anhaltende Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern oder Vätern.

Zusätzlich zu ihrer Rolle im Bereich der Reproduktion der Arbeitskraft hat die Familie auch eine wesentliche Funktion bei der Erhaltung der sozialen Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Familie handelt als Verstärkerin der vorherrschenden Ideen der herrschenden Klasse, indem sie die jeweiligen Rollen der Männer, Frauen und Kinder erhält sowie Gehorsam und Unterwürfigkeit einprägt. Sogar dann, wenn die Kernfamilie wie in vielen imperialistischen Ländern aufgehört hat, die häufigste Form des Haushalts zu sein, liegt ihre Stärke immer noch darin, als „Ideal“ jeden Aspekt des Lebens der Frauen zu beeinflussen. Angefangen von der Art der Ausbildung der Mädchen über die von Frauen ausgeübten Berufe bis zu den von ihnen angestrebten Beziehungen – all dem drückt die „Norm“ der bürgerlichen Familie ihren Stempel auf. Diese Familie baut auf Monogamie und Heterosexualität auf und übt einen starken Anpassungsdruck auf Frauen und Mädchen aus. Die Rollen von Frauen und Männern in der Familie beschränken die Entwicklung beider Geschlechter, doch haben sie besonders repressive Auswirkungen auf Frauen.

Die Familie führt zu einer Spaltung in der Arbeiterklasse, die durch die Ideologie des Sexismus erhalten wird. In der Arbeiterbewegung ist das nicht nur eine Frage von rückständigen Ideen über die Rolle von Frauen, sondern schließt ein, daß beim Ausschluß von Frauen aus vielen Gewerkschaften mitgewirkt oder dieser entschuldigt wird. Dieser Sexismus führt zu einem Versagen im Kampf für gleichen Lohn und zu einer Weigerung, Frauen im Kampf zu unterstützen. Obwohl die Frauenunterdrückung nicht durch die Einstellung männlicher Arbeiter verursacht wird, wird sie beständig durch ihren Sexismus befestigt. Dies zeigt sich oft in brutalster Form durch häusliche Gewalt und Mißbrauch.

Die männlichen Arbeiter genießen in Folge der Frauenunterdrückung wirkliche Vorteile. Sie haben einen höheren Status im Haushalt und im gesellschaftlichen Leben. Sie sichern sich bessere Jobs und Löhne und tragen eine geringere Last bei der Hausarbeit. Diese Privilegien helfen mit, sexistische Vorstellungen und Verhaltensweisen in der Arbeiterklasse zu bestärken. Jedoch werden die Männer der Arbeiterklasse bei weitem wichtigere Errungenschaften von der endgültigen Befreiung der Frauen erhalten – die kollektive Verantwortung für Wohlfahrt, Freiheit in den Beziehungen, sexuelle Befreiung und die wirtschaftlichen Errungenschaften des Sozialismus. All dies bedeutet, daß – historisch betrachtet – die Männer der Arbeiterklasse keinen entscheidenden Nutzen aus der Frauenunterdrückung ziehen, sondern bei der Verwirklichung ihrer grundlegenden Klasseninteressen behindert werden. Denn es ist die herrschende Klasse, unterstützt von ihren Agenten in der Arbeiterbürokratie, die aus der zwischen Männern und Frauen geschaffenen Spaltung ihren Nutzen zieht.

Der Kampf gegen Frauenunterdrückung in den Halbkolonien

Von frühester Kindheit an sind proletarische Frauen gezwungen, für erbärmliche Löhne zu arbeiten, und müssen nach einem extrem langen Arbeitstag die Hausarbeit erledigen oder noch zusätzliche Arbeit auf sich nehmen, um ein Auskommen für die Familie zu gewährleisten. Nicht besser ergeht es armen Bäuerinnen, die oft zusätzlich zur Hausarbeit das Land bearbeiten müssen, da ihre Männer gezwungen sind, in den Städten zu arbeiten. Armut, miserable Arbeitsbedingungen und Arbeitslosigkeit zwingen viele Frauen in die Prostitution.

Der Imperialismus untergrub zwar die ökonomische Grundlage für traditionelle, patriarchale Systeme in diesen Ländern, doch blieben alte Formen der Frauenunterdrückung, wie Mitgift, Brautpreis, Klitorisbeschneidung und Polygamie, erhalten. Die Witwenverbrennung in Indien ist ein brutales Bespiel dafür. Unter den Frauen in den Halbkolonien ist der Analphabetismus noch größer als unter den Männern. Trotz medizinischer Fortschritte hat die Masse der Frauen in den Halbkolonien keine Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit. In Afrika und Asien sterben jedes Jahr eine halbe Million Kinder bei der Geburt. Nur eine sehr dünne gesellschaftliche Oberschicht kann Nutzen aus den Vorteilen des Kapitalismus, wie z.B. Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, ziehen.

Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, daß tausende Frauen an den antiimperialistischen Kämpfen in Vietnam, Nikaragua, Palästina und auf den Philippinen teilgenommen haben und einen hohen Preis, oft sogar mit ihrem Leben, bezahlen mußten. Doch ihre Interessen wurden immer verraten. Die kleinbürgerlichen und stalinistischen Bewegungen haben sich bei der Durchführung der Frauenbefreiung als völlig unfähig erwiesen. Die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen den Analphabetismus unter den Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiß zu kommen.

Gegen solchen Verrat setzen wir den Kampf für die Frauenbefreiung als untrennbaren Bestandteil der proletarisch-revolutionären Strategie. Proletarische und bäuerliche Frauen müssen um ökonomische Forderungen ebenso organisiert werden wie für Schutzmaßnahmen gegen Vergewaltigung, erzwungene Sterilisierung, Frauenhandel und für eine zwangsweise Beschränkung des Sextourismus.

Auch wenn Frauen aus den Halbkolonien dieser Misere entkommen, werden Millionen Immigrantinnen und Wanderarbeiterinnen in das Arbeitskräftepotential der imperialistischen Kernländer hineingezogen. Dort erfüllen sie die niedrigsten Aufgaben für sehr geringen Lohn und unter miserablen Arbeitsbedingungen.

Einwanderungskontrollen und Beschränkungen für Visa und Arbeitsbewilligungen stellen eine andauernde Bedrohung für Wanderarbeiterinnen dar. Insbesondere wird ihnen der Zugang zu vielen Arbeiten verwehrt, und sie werden so in Arbeitsbedingungen hineingezwungen, die sie von den anderen Arbeiterinnen und Arbeitern, den Gewerkschaften, ja der Arbeiterbewegung überhaupt isolieren. Sie werden oft für häusliche Dienste bei reichen Familien eingestellt, wo sie unorganisiert bleiben und stark ausgebeutet werden. Oft haben sie keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung oder auf Schutz vor willkürlichen Entlassungen. Außerdem werden ihnen politische Rechte und Sozialleistungen verwehrt. In allen Ländern fordern wir das Recht der häuslichen Angestellten und Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter auf gewerkschaftliche Organisierung, einen Achtstundentag, einen Leben ermöglichenden Mindestlohn und das Recht auf Sozialleistungen. Von der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung fordern wir, daß sie spezielle Maßnahmen zur Organisierung dieses Teils der Arbeiterklasse setzt.

Für eine proletarische Frauenbewegung!

Um die Frauenunterdrückung zu beenden, muß die grundlegende Trennung der Hausarbeit von der Gesamtheit der gesellschaftlichen Produktion abgeschafft werden. Nur wenn Frauen voll und gleich in die Produktion einbezogen sind und die Hausarbeit in einer sozialistischen Planwirtschaft kollektiv organisiert ist, können Frauen von Unterdrückung frei sein. Allein das sozialistische Programm garantiert die Vergesellschaftung der Hausarbeit und der Kindererziehung. Doch können wir sogar unter dem Kapitalismus diesem Ziel näher kommen, indem wir für das Recht der Frauen auf Lohnarbeit kämpfen. Wo die Bosse behaupten, daß es keine Arbeit für Frauen gibt, argumentieren wir für eine gleitende Skala der Arbeitsstunden, also eine Aufteilung der vorhandenen Arbeit ohne Lohnverlust. Die Teilzeitarbeit für Frauen wird von den Bossen verwendet, die Ausbeutung von Arbeiterinnen durch niedrigen Lohn und mangelnde Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen, während diese Frauen ein flexibles Arbeitskräftepotential darstellen. Wir fordern volle Arbeitsplatzsicherheit für Teilzeitarbeit, verbunden mit einem Kampf für die Verringerung der Arbeitszeit für alle Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Lohnverlust. Wir fordern die Bereitstellung vergesellschafteter Betreuung von Kindern und anderen Abhängigen, um Frauen die gleiche Teilnahme mit den Männern an der gesellschaftlichen Produktion zu ermöglichen.

Sogar dort, wo Frauen in großem Ausmaß in die Lohnarbeit hineingezogen worden sind, wurden sie nicht ökonomisch unabhängig. Es muß ihnen gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit garantiert werden, um sie vor der gegenwärtig erlittenen Überausbeutung zu schützen. Dies ist im Interesse der gesamten Arbeiterklasse. Denn weit entfernt davon, einen Schutz für die Löhne der Männer darzustellen, wie es viele reformistische Gewerkschaftsführer behauptet haben, haben die niedrigen Löhne der Frauen eine Tendenz zur Untergrabung der Lohnraten der Männer und damit auch des Lebensstandards der gesamten Klasse. Für einen gleichen Mindestlohn für Männer und Frauen, dessen Höhe durch die Arbeiterklasse bestimmt wird. Das Einkommen der Frauen muß daher durch eine gleitende Lohnskala, durch die steigende Preise an steigende Löhne gekoppelt sind, geschützt werden. Die Frauen der Arbeiterklasse werden in den Komitees zur Festsetzung der Preissteigerungen und der Lohnforderungen wesentliche Teilnehmerinnen sein. Für die Frauen in den Halbkolonien gibt es ein zusätzliches dringendes Bedürfnis nach gleichen Rechten auf Landbesitz und -eigentum.

Die Ungleichheit, die Frauen und Mädchen in Erziehung und Ausbildung erfahren, verunmöglicht es ihnen, dieselben Arbeiten wie Männer zu bekommen. Frauen müssen aber durch Aus- und Weiterbildung gleiche Möglichkeiten erhalten – von den Bossen bezahlt und unter der Kontrolle der Gewerkschaften, der Arbeiterinnen und Lehrlinge. Mädchen müssen gleichen Zugang zur Bildung haben, und in Ländern mit weitverbreitetem weiblichen Analphabetismus müssen Alphabetisierungsprogramme für Frauen eingerichtet werden.

Da Frauen noch immer die Hauptverantwortung in der Kindererziehung tragen, ist eine kostenlose Kinderbetreuung für alle unter der Kontrolle der Arbeiterinnen und Gewerkschaften und voller Lohn für die Karenzzeit notwendig, damit Frauen die gleiche Möglichkeit haben, Lohnarbeit anzunehmen. Weiters sollte eine Karenzierung auch für Väter möglich sein. Wir fordern, daß der Staat volles Arbeitslosengeld in einer Höhe, die von der jeweiligen nationalen Arbeiterbewegung bestimmt wird, all den Frauen bezahlt, denen es aufgrund der Unfähigkeit des Kapitalismus, soziale Unterstützung für abhängige Kinder und andere Verwandte zu leisten, nicht möglich ist, eine entlohnte Arbeit anzunehmen. Diese Forderung muß mit dem Kampf der Arbeiterklasse für soziale Einrichtungen, die es Frauen mit Kindern, kranken oder behinderten Verwandten ermöglichen zu arbeiten, verbunden werden. Wir treten für die kollektive Bereitstellung von Wäschereien und Restaurants ein, subventioniert vom Staat und unter Arbeiterkontrolle.

Die reproduktive Rolle der Frauen bedeutet auch, daß es verschiedene Arten von Arbeit gibt, die ihre Gesundheit oder die ihrer Kinder gefährden. Um dadurch entstehenden Schaden zu verhindern, müssen Schutzbestimmungen eingeführt werden. Wo diese vom bürgerlichen Staat gewährt wurden, geschah das einerseits aufgrund des Drucks der Arbeiterklasse, andererseits aufgrund der Einsicht von Teilen der herrschenden Klasse, daß die ungezügelte Ausbeutung zwar kurzfristigen Profitinteressen dient, aber langfristig die Reproduktion der Arbeiterklasse – und somit die Basis der Profitwirtschaft selbst – gefährdet. Zusätzlich erkannten die großen Kapitalisten, daß diese Gesetze mithelfen, kleinere Konkurrenten aus dem Geschäft zu werfen. Die Arbeiterklasse muß jedoch die Einhaltung der Schutzgesetze überwachen, da sonst die Bosse das Proletariat betrügen und immer wieder Wege finden werden, die Gesetze zu umgehen, um die Ausbeutung der Frauen zu maximieren. Die Arbeiteraristokratie und die Gewerkschaftsführer haben die Idee einer Schutzgesetzgebung dazu verwendet, Frauen aus bestimmten qualifizierten Berufen auszuschließen, um die Standesinteressen in ihrem Bereich zu schützen. Frauen dürfen aus keinem Beruf oder Gewerbe ausgeschlossen werden. Arbeiterinnenkomitees, nicht die Gewerkschaftsbürokraten, müssen entscheiden, welche Aufgaben eines jeweiligen Berufs den Frauen schaden könnten.

Den Frauen wird die Kontrolle über ihre eigenen Körper systematisch verwehrt. Sie werden gezwungen, ungewollte Kinder zu gebären, oder gehindert, Kinder auf die Welt zu bringen, die sie wollen. Weiters werden Frauen zu arrangierten Eheschließungen gezwungen und an Scheidungen gehindert. Kurz gesagt: Den Frauen wird die Kontrolle über ihre eigene Fruchtbarkeit verweigert. Die Frauen müssen wählen können, ob sie ein Kind gebären oder nicht, um gleichberechtigt mit den Männern in der Produktion, am sozialen und politischen Leben teilnehmen zu können. Die Bereitstellung von kostenloser Verhütung und Abtreibung für alle Frauen auf Wunsch ist unbedingt notwendig. In weiten Teilen der halbkolonialen Welt erleiden Frauen Unterdrückung, die das Ergebnis vorkapitalistischer Produktionsweisen und der Präsenz religiöser Ideologien ist. Wir sind gegen die Zwangsbeschneidung von Frauen, die ein Teil dieser Unterdrückung ist. Die Halbkolonien leiden auch unter dem Druck des Imperialismus, ihr sogenanntes „Bevölkerungsproblem“ auf Kosten der Rechte der Frauen zu lösen. Keine Frau darf zwangssterilisiert werden. Frauen werden von der Teilnahme am sozialen Leben durch rechtliche, soziale und religiöse Normen ausgeschlossen und werden oft psychisch und physisch mißbraucht. Zwangsheirat, Verkauf und Handel mit Frauen müssen gesetzlich verboten und diese Gesetze von der Arbeiterklasse durchgesetzt werden. Die vollen gesetzlichen Rechte und Sozialleistungen müssen für alle Frauen unabhängig von Alter und Familienstand zugänglich sein. Nieder mit dem Schleierzwang für Frauen und ihrem Ausschluß von jedem Teil des öffentlichen Lebens.

Die Frauen können nur befreit werden, wenn diese Forderungen für ihre unmittelbaren Interessen einen Teil des Programms für die proletarische Machtergreifung bilden. In den vereinten Kampf der Arbeiter für dieses Ziel können die proletarischen und bäuerlichen Frauen durch den Kampf für unmittelbare Ziele und Übergangsforderungen gezogen werden. Wenn die Frauen für diesen vereinten proletarischen Kampf nicht gewonnen werden, können sie ein passiver oder gar rückständiger Teil der Klasse bleiben, der für den Einfluß bürgerlicher Propaganda, im besonderen der Religion, offen ist. Werden Frauen jedoch für diese Aktionen gewonnen, können sie die männlichen Arbeiter von der sexistischen Ideologie, die die Arbeiterbewegung spaltet und schwächt, wegbrechen und gleichzeitig wirkliche Errungenschaften für sich auf dem Weg zu den Zielen der sozialistischen Revolution und der Frauenbefreiung sichern.

Die Frauen müssen für die Gewerkschaften gewonnen und dort organisiert werden, um ihren Forderungen gegenüber den Gewerkschaftsführern Nachdruck zu verleihen. In Industrien, wo Frauen mit Männern zusammenarbeiten, lehnen wir die Forderung nach einer eigenen Frauengewerkschaft ab, selbst wenn der Sexismus der Gewerkschaftsbürokraten die Teilnahme von Frauen sehr schwer macht. Der Kampf für die Vereinigung von Arbeiterinnen und Arbeitern muß geführt werden, während wir das Recht der Frauen auf gesonderte Treffen, auf Organisierung in den Gewerkschaften und auf allen Ebenen der Arbeiterbewegung verteidigen. Wir müssen fordern, daß die Gewerkschaftsführer Kampagnen für die Rekrutierung von Frauen (unter Einschluß der Teilzeitarbeiterinnen, die die vollen Mitgliedsrechte erhalten und reduzierte Mitgliedsbeiträge zahlen sollten) finanzieren und unterstützen.

Wir anerkennen, daß das Erbe der kapitalistischen Rolle der Frauen als die hauptsächlichen Pflegerinnen und Kindererzieherinnen bedeutet, daß viele Frauen durch die Organisierung der Versorgung in Zeiten scharfer Klassenkämpfe und revolutionärer Krisen in die Auseinandersetzung gezogen werden. Aber die revolutionäre Partei muß für spezielle Maßnahmen agitieren, die sicherstellen, daß Frauen eine vollwertige Rolle in allen Bereichen des Kampfes spielen und von keiner Art der politischen Betätigung wegen ihrer Versorgungsrolle zurückgehalten werden.

Eine proletarische Frauenbewegung ist von zentraler Bedeutung, wenn die Frauen eine positive und wesentliche Rolle im revolutionären Kampf spielen sollen. Sie muß außerdem von Revolutionärinnen geführt werden, die mit einem Programm für die proletarische Diktatur bewaffnet sind. Eine Bewegung, die breite Arbeiterinnenschichten umfaßt, ist ein unentbehrliches Mittel zur Organisierung jener Frauen, die von der Produktion ausgeschlossen sind, das heißt der Hausfrauen, der arbeitslosen und behinderten Frauen. Eine solche Bewegung, die auf den Frauen aufgebaut ist, die in Fabriken, in Büros, in der Landwirtschaft, in den Gemeinden und in den Gewerkschaften organisiert sind, kann gleichzeitig für die Interessen der Frauen, gegen die Vorurteile männlicher Arbeiter und für den revolutionären Sturz des Kapitalismus kämpfen. In entscheidenden Schlachten des Klassenkampfes organisieren sich Frauen oft in eigenen Komitees und Gruppen. Welche Form diese Frauenorganisationen anfänglich auch annehmen: Revolutionäre müssen für ihre Umwandlung in eine proletarische Bewegung eintreten, die die Frauen aller Schichten der Arbeiterinnen, der armen Bauernschaft und der unterdrückten Teile des Kleinbürgertums in die Bewegung hineinzieht.

In der gegenwärtigen Periode, wo Revolutionäre nicht die Führung der großen Masse der Arbeiterinnen stellen, stellt sich dennoch die Aufgabe eine solche Bewegung zu organisieren. Wir fordern von den sozialdemokratischen und stalinistischen Führerinnen und Führern des Proletariats, daß sie die Mittel und die Unterstützung für den Aufbau solch einer Bewegung zu Verfügung stellen. Auf diese Art können wir in eine Einheitsfront mit den militantesten Teilen der proletarischen Frauen eintreten und versuchen, diese durch gemeinsame Aktionen und kommunistische Propaganda von ihren falschen Führern loszureißen und schließlich zu gewinnen.

Die Frauen aus anderen Klassen, vor allem die Bäuerinnen, aber auch die städtischen Kleinbürgerinnen besonders der imperialisierten Länder, werden unter der Führung der proletarischen Frauen in diesen Kampf gezogen werden. Der feministischen Linie einer klassenübergreifenden Bewegung zu folgen, würde die Preisgabe der Interessen der Arbeiterinnen bedeuten. Ein zeitweiliges Bündnis mit Teilen der bürgerlichen Frauenbewegung ist nur in einigen halbkolonialen Ländern möglich. Aber dazu müssen diese Bewegungen für zumindest bürgerlich-demokratische Rechte kämpfen und mobilisieren (z.B. der Kampf der Kongreß-Partei in Indien gegen die Witwenverbrennung). Weiters muß für eine Einheitsfront die Propaganda- und Organisationsfreiheit aller zum Kampf bereiten Tendenzen gegeben sein. Es darf keine Beschränkungen für Trotzkisten und Trotzkistinnen in ihrer revolutionären Arbeit geben.

Wir lehnen die Vorstellung einer „autonomen“ Frauenbewegung ab, da diese die Möglichkeit einer Gewinnung der Frauenbewegung für das revolutionäre Programm ausschließt und die Intervention kommunistischer Frauen als disziplinierte Mitglieder ihrer Organisation zu verhindern sucht. Kommunistinnen versuchen die Mehrheit der proletarischen Frauenbewegung dafür zu gewinnen, das revolutionäre Programm zu unterstützen und Kommunistinnen in ihre Führung zu wählen.

Die Losung der „Autonomie“ beinhaltet auch den Ausschluß der Männer von den Organisationen (und oft auch den Veranstaltungen) der Frauen. Die proletarischen Frauen können weder den Kapitalismus zerstören, noch ihre eigene Unterdrückung beenden, ohne sich im Kampf mit dem Rest ihrer Klasse, den Männern, zu vereinen. Der Ausschluß der Männer von den Aktivitäten einer Frauenbewegung erzeugt eine unnötige Barriere auf dem Weg des Kampfes gegen den Sexismus, der auch die Erziehung der Arbeiter im Prozeß des gemeinsamen Kampfes mit den Frauen beinhalten muß.

Kinder und Jugendliche

Die Söhne und Töchter der Arbeiter und Bauern erfahren die schärfsten Formen der kapitalistischen Ausbeutung und des Mißbrauchs. Den Jugendlichen werden die elementarsten Rechte auf Unabhängigkeit verwehrt. Die Jugendlichen haben keine gesetzlich garantierten Rechte, über ihre Löhne zu verfügen, keinen unabhängigen Zugang zu staatlichen Unterstützungen und de facto kein Recht zu wählen, wo und wie sie ihr Leben leben wollen. Trotzdem werden Jugendlich für reif genug gehalten, in die bewaffneten Streitkräfte zwangseingezogen zu werden, um dort zu Millionen für die militärische Verteidigung der bürgerlichen Ordnung geopfert zu werden.

Die soziale Struktur, die die Unterdrückung der Jugend erzeugt und aufrechterhält, ist die Familie. Diese Unterordnung ist wie bei der Unterdrückung der Frauen kein Kennzeichen des menschlichen Lebens schlechthin, sondern ein Produkt der Klassengesellschaft. In den einzelnen Familien werden die Kinder und Jugendlichen aufgezogen und grundlegende Kenntnisse erlernt. Zusätzlich dient sie dazu, den Jugendlichen jene Regeln einzuimpfen, mit denen sie sich im Erwachsenenalter halten sollen. Die proletarischen Kinder werden aufgezogen, um gehorsame Arbeiter zu sein. Die männlichen Kinder der Bourgeoisie werden gelehrt, erfolgreiche Industriekapitäne und Generäle der Streitkräfte zu sein, und die Mädchen dazu herangezogen, gehorsame Hausfrauen oder Produzentinnen zukünftiger Erben zu sein.

Die Jugendlichen der Arbeiterklasse und der armen Bauernschaft sind der schärfsten Unterdrückung ausgesetzt: Die Unterdrückung in der Familie geht mit der Überausbeutung in der Produktion und einem geringen Bildungsniveau einher. Diese Jugendlichen sind das Rückgrat der Billiglohnindustrien. Das spiegelt die Lage der Jugend in der Familie wider: Bei ihren Löhnen ist generell die Zugehörigkeit zu einer größeren ökonomischen Einheit vorausgesetzt. Das verstärkt umgekehrt die Abhängigkeit der Jugendlichen von den Eltern. Die proletarischen Jugendlichen an den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen erhalten wenig oder kein Einkommen, eine qualitativ schlechte Ausbildung und eine Erziehung, die bestimmt ist, den Interessen der Bourgeoisie zu dienen.

In ihrer extremsten Form ist die Stellung der Jugend- und Kinderarbeit eine Form der Sklaverei, bei der alle Löhne an das Familienoberhaupt, normalerweise den Vater, bezahlt werden. Wo die Kinderarbeit üblich ist, wie in vielen Halbkolonien, kümmern sich die Bosse überhaupt nicht um das Wohl der heranwachsenden Kinder, sondern treiben sie in Krankheit und frühen Tod. Die Armut der Eltern ist so drückend, daß sie keine Alternative dazu sehen, ihre Kinder in die Hölle der Überausbeutung zu schicken. Die Gesetze zum Schutz der Kinder werden sowohl von den Unternehmern als auch von den Eltern ignoriert. Das bestätigt die Marx’sche Erkenntnis, daß das Recht in einer Gesellschaft niemals höher als ihre ökonomische Basis sein kann.

Eine andere Konsequenz dieser wirtschaftlichen und rechtlichen Abhängigkeit ist die Unterdrückung des Sexuallebens der jungen Menschen. In der Klassengesellschaft ist das ein notwendiger Ausgangspunkt, um den Jugendlichen Konformität und Unterordnung einzuimpfen. Den Kindern wird die Bildung eines rationalen Verständnisses ihrer sexuellen Gefühle bzw. deren Verbindung mit sozialer Verantwortung nicht gestattet. Der kindlichen Sexualität wird jeder freie Ausdruck verwehrt; selbst jene Gefühle werden unterdrückt, die mit der heterosexuellen Norm, die die bürgerliche Gesellschaft vorschreibt, nicht widersprechen. Statt dessen werden die jungen Leute moralischen und religiösen Tabus unterworfen, die zur Vernebelung ihres Bewußtseins mit irrationalen Ängsten dienen. Das ganze Seelenleben des Kindes wird dazu gezwungen, sich um seine Eltern zu konzentrieren und an diese zu binden. Dadurch werden die bürgerlichen Vorstellungen des Individuums und der Privatheit gegen jedes kooperative und kollektive Ideal anerzogen.

Um die Jugendlichen von ihrer ökonomischen, sozialen, rechtlichen und sexuellen Unterordnung zu befreien, bedarf es der Umwälzung der Gesellschaft, um sicherzustellen, daß der individuelle Familienhaushalt nicht länger der ausschließliche Ort zur Durchführung der Hausarbeit und der Kindererziehung bleibt. Dies würde es zugleich mit der Herausbildung der Bedingungen für die Frauenbefreiung auch den Jugendlichen ermöglichen, unabhängig von ihren Eltern zu sein, mit soviel oder sowenig Kontakt zu ihnen, wie sie wollen, aber mit von der Gesellschaft bereitgestellter Wohnung, Reinigungsdienst, Nahrung, Kleidung, Freizeiteinrichtung und Kinderbetreuung für alle.

Wirtschaftliche Unabhängigkeit, angemessene Ausbildung und Freiheit von Überausbeutung sind Schlüsselforderungen für die Jugend. Für all jene in Lohnarbeitsverhältnissen muß gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit unter Arbeiterkontrolle erreicht werden, um die gewaltigen Lohndifferenzen zwischen jugendlichen und erwachsenen Arbeitern zu überwinden. Jugendliche, die erstmals ins Erwerbsleben eintreten, sollten nur eine verringerte Stundenzahl arbeiten und das Recht auf längeren Urlaub als erwachsene Arbeiter haben. Bis zum Ende der Schulpflicht müssen für Jugendliche und Kinder die Arbeitsstunden streng begrenzt und die Arbeitsbedingungen durch die Arbeiterklasse und Komitees von jugendlichen Arbeitern überwacht werden. Schutzgesetze sind notwendig, die Nachtarbeit, lange Arbeitszeit und andere Tätigkeiten, die für die Entwicklung und Gesundheit der Jugendlichen schädlich sein könnten, verbieten. Diese müssen von den Arbeitern und Jugendlichen kontrolliert werden.

Erziehung und Ausbildung der Jugend ist eine Sache der ganzen Arbeiterklasse. Die Bosse müssen gezwungen werden, Ganztagsschulen und finanzielle Unterstützung, zuerst für die Familien und dann für die Schüler selbst, bereitzustellen. Bildung muß kostenlos sein, alle Ausgaben sollen vom Staat bezahlt werden. Es sollte eine allen zugängliche Gesamtschule sein, die bis zu einem von der Arbeiterbewegung festgesetzten Alter verpflichtend zu besuchen ist. Wir kämpfen für die Abschaffung von Tests und Prüfungen, die zur Aufnahmebeschränkung in den Bildungsinstitutionen geschaffen wurden. Allen, die nach dem schulpflichtigen Alter in Ausbildung stehen, muß ein ausreichendes Stipendium in einer Höhe, die von Komitees der Studenten, Arbeiter und Lehrer festgesetzt und gegen die Inflation geschützt ist, gezahlt werden.

Bildung muß für Mädchen und Buben gleichermaßen zugänglich sein, und die Arbeiterbewegung muß für die Integration der schulischen Ausbildung (Koedukation) der Buben und Mädchen kämpfen. Diese muß weltlich sein – keine religiöse Propaganda in Schulen, keine staatlichen Mittel für religiöse Schulen! Wir kämpfen gegen bürgerliche Vorurteile in den Lehrplänen, für Unterricht über die Geschichte der Arbeiterbewegung und das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung. In den Schulen und anderen Bildungsstätten kämpfen wir für die Integration von Schulbildung und Erfahrung in der Produktion, und zwar mit dem Ziel, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit – ein Kennzeichen bürgerlicher Erziehung – zu überwinden. Gleichzeitig muß die Arbeiterbewegung dagegen kämpfen, daß die Kapitalisten Studenten und Lehrlinge als billige Arbeitskräfte verwenden. Wir kämpfen für angemessene kulturelle und sportliche Ausstattung und für eine freie Diskussion über sexuelle, soziale und politische Fragen an den Schulen. Wir fordern die Ausbildung der Jugendlichen im Gebrauch von Waffen, wobei wir jedoch jede Anwesenheit der Polizei oder der Armee an den Schulen, Fachschulen und Universitäten ablehnen.

Wir kämpfen dafür, alle Erziehungsmittel unter die Kontrolle der Arbeiterklasse, der Studenten und Schüler zu stellen. Während wir gegen private Ausbildungsinstitutionen und für die Nationalisierung der Universitäten kämpfen, kämpfen wir für die Unabhängigkeit der Erziehungsinstitutionen vom kapitalistischen Staat. Die Führung der Ausbildungsinstitutionen muß unter die direkte Kontrolle der dortigen Arbeiter, Studenten und Lehrer und der Vertreter der Arbeiterbewegung gestellt werden. Diese müssen auf Massenversammlungen aller Beteiligten nach dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“ gewählt werden. Wir treten für das Recht der Schüler und Studenten ein, Gewerkschaften und politische Organisationen zu bilden, und für das Zutrittsrecht von Arbeitervertretern zu Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Vertreibt die Faschisten von den Schulen, Fachschulen und Universitäten! Die Kontrollorgane der Arbeiter, Studenten und Schüler müssen für das Recht kämpfen, ein Veto gegen die Ernennung reaktionärer Lehrer aussprechen zu können.

Die Studenten und Studentinnen als ganzes sind nicht automatisch natürliche Verbündete der Arbeiterklasse. Viele Studenten kommen aus den höheren und mittleren Klassen. Studenten, die nicht arbeiten müssen, sind in einer privilegierten Position, da sie nicht dem Tagesablauf der Arbeiterklasse unterworfen sind. Weiters haben viele Studenten und Studentinnen aufgrund ihrer Ausbildung Privilegien. Trotzdem können und müssen viele Studenten – zukünftige Wissenschafter, Techniker, Rechtsanwälte und Künstler – auf die Seite der revolutionären Arbeiterbewegung gewonnen werden und sie dadurch stärken. Seit der Zeit von Marx und Engels wurden die besten Elemente der Intelligenz jeder Generation für die Sache des Proletariats gewonnen. Die Massenkämpfe der Studenten und Studentinnen zeigen – in den degenerierten Arbeiterstaaten ebenso wie in den kapitalistischen Ländern -, daß die Studenten und Studentinnen im Kampf für den Sozialismus, Schulter an Schulter mit der proletarischen Avantgarde, eine wichtige Rolle spielen.

Wir kämpfen daher für die Einheit der Arbeiter und Studenten, ausgedrückt in permanenten Verbindungen zwischen der Arbeiterbewegung und den Studentenorganisationen. Dadurch können Studenten und Studentinnen auf die Seite der Arbeiterklasse gewonnen werden. Der Enthusiasmus und Idealismus der Studenten und Studentinnen wiederum können den Arbeitermilitanten helfen, ihre bürokratischen und konservativen Führer zu vertreiben. Die Studenten sollten sich der Taktiken des Klassenkampfes bedienen – Streik und Besetzung -, um ihre Forderungen durchzusetzen. Sie sollten für die Kontrolle der Studentengewerkschaften durch die Basis und gegen staatliche Einmischung und Kontrolle kämpfen. In einigen Ländern existiert eine Studentenbürokratie, die, obwohl sie kein Teil der Gewerkschaftsbürokratie ist, aktiv dieselbe Ideologie und politische Methode wie diese propagiert. Diese Führungen müssen gestürzt und die Studentenorganisationen für die Unterstützung der wirklichen Kämpfe der Arbeiter gewonnen werden.

Arbeitslose Jugendliche müssen für eine gründliche Bildung und Ausbildung, volle wirtschaftliche Unterstützung und für eine gleitende Arbeitszeitskala zur Aufteilung der Arbeit auf alle Hände unter Arbeiterkontrolle kämpfen. All jene, die aus den Bildungsinstitutionen entlassen werden und keine Arbeit finden, müssen volle Arbeitslosenunterstützung erhalten, um sicherzustellen, daß die Arbeitslosigkeit nicht zur vollständigen wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Familie führt.

In der Familie sind es die Eltern, die für die Unterdrückung ihrer Kinder unmittelbar verantwortlich sind. Das trifft selbst dort zu, wo die Eltern fortschrittliche Ideen vertreten. Öfter allerdings unterdrücken die Eltern ihre Kinder auf brutale Art, bestrafen Ungehorsam mit Gewalt und Mißbrauch. Die Jugend benötigt daher volle gesetzliche und politische Rechte in der Familie und anderswo als Hilfe zur Brechung der Herrschaft und Macht, die die Eltern über sie ausüben. Die sozialen Einschränkungen, die die Familie auf die Jugendlichen oft in Verbindung mit der Religion ausüben, unterdrücken viele junge Männer und Frauen aufs Schärfste. Da ihnen die Familie das Recht auf die Ausübung der von ihnen gewählten sozialen und sexuellen Aktivitäten verwehrt, müssen soziale Zentren zur Verfügung gestellt werden, wo alle Einrichtungen für diese Aktivitäten frei zugänglich sind. In diesen sozialen Zentren sollten Information und Aufklärung über Sexualität zusammen mit kostenlosen Verhütungsmitteln und Hinweisen auf Abtreibungsmöglichkeiten erhältlich und zugänglich sein. Das gesetzliche (sexuelle) Mündigkeitsalter leistet nichts, um Jugendliche vor sexuellem Mißbrauch zu schützen. Es straft nur beidseitig gewollte sexuelle Beziehungen von Individuen unter einem bestimmten Alter. Schafft daher das (sexuelle) „Mündigkeitsalter“ ab!

Die Jugendlichen müssen volle politische und gesetzliche Rechte auch in der öffentlichen Sphäre erlangen. Wenn die Jugend reif genug ist, in die Armee der Bosse zwangseingezogen zu werden, um deren Ausbeutungssystem zu verteidigen, dann sind sie auch reif genug, um verantwortliche Entscheidungen in Friedenszeiten zu treffen. Das Wahlrecht sollte bei einem gesetzlichen Minimum von maximal 16 fixiert werden und darunter von der jeweiligen nationalen Arbeiterbewegung bestimmt werden. Das Recht, gesetzlich bindende Entscheidungen in finanziellen und öffentlichen Angelegenheiten zu treffen, muß ab demselben Alter garantiert werden.

Die Jugend, vor allem die männliche, ist das Kanonenfutter der bürgerlichen Armeen. Hunderttausende Jugendliche beiderlei Geschlechts wurden im Dienste der Reaktion zynisch geopfert, sei es für den US-Imperialismus in Vietnam oder durch das Fortführen eines Ablenkungskrieges im Iran. Es ist notwendig, die Jugend im Geist des proletarischen Anti-Imperialismus und Anti-Militarismus zu erziehen. Der Pazifismus stumpft nur den Geist ab und bereitet zukünftigen Schlächtereien den Weg. Die Jugend muß unter Anleitung der Arbeiterbewegung in militärischen Techniken trainiert werden. Sie wird das Rückgrat der Verteidigungseinheiten der Streikposten und den Kern der zukünftigen Arbeitermilizen darstellen.

In Zeiten akuter Krisen und Klassenkämpfe können arbeitslose Jugendliche, die keinerlei Erfahrung in der Produktion und mit Solidarität haben, zur Unterstützung faschistischer Banden oder als Streikbrecher mobilisiert werden. Um dieser Gefahr zu begegnen, muß die organisierte Arbeiterklasse die Jugend in die Gewerkschaften ziehen. Für junge Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich den Gewerkschaften anschließen, muß es reduzierte Mitgliedsbeiträge, aber vollständige Mitgliedsrechte geben. Die Jugendlichen müssen eigene Gewerkschaftssektionen organisieren, um ihre Forderungen voranzutreiben, sich zu schulen und andere junge Arbeiter und Arbeiterinnen zu rekrutieren.

Es gibt sehr große Möglichkeiten zur Gewinnung der Jugend für die revolutionäre Vorhut der Arbeiterklasse. Da sie natürlich mehr als jede andere Generation um die Zukunft besorgt ist, kann sie schnell für einen revolutionären bzw. sozialistischen Standpunkt gewonnen werden. Die Jugend ist in der Regel frei von dem Konservatismus, der den Geist von so manchem älteren Arbeiter gebrochen hat. Sie wurde nicht durch die jahrelange Erfahrung der reformistischen (Irre-) Führung und des Verrats zermürbt.

Eine revolutionäre Jugendbewegung muß aufgebaut werden. Sie ist ein Schlüssel zur Organisation des Kampfes für die Macht der Arbeiterklasse und die Befreiung der Jugend. Bewaffnet mit dem revolutionären Übergangsprogramm, wird diese Bewegung die Jugendlichen anderer Klassen, besonders der armen Bauern und der städtischen Kleinbourgeoisie, in sich hineinziehen. Die revolutionäre Jugendbewegung sollte auf jeder Ebene der Arbeiterbewegung repräsentiert sein. Dieses Prinzip gilt mit doppelter Kraft auch für die revolutionäre Partei, die damit der gesamten Arbeiterbewegung ein Beispiel geben soll.

Lesben und Schwule

Sexuelle Unterdrückung ist ein Merkmal aller Klassengesellschaften. Die Durchsetzung der Monogamie für die Frauen begleitete die Entstehung von Privateigentum und Klassen bzw. war wesentlich mit ihr verbunden. Im Kapitalismus existiert noch immer eine allgemeine sexuelle Unterdrückung, insbesondere der Frauen und Jugendlichen. Der Kapitalismus hat aber auch die systematische Unterdrückung von Lesben und Schwulen hervorgerufen. Welcher liberalen Gesten sich die kapitalistische Gesellschaft auch immer in Zeiten des Aufschwungs fähig gezeigt hat, sie bleibt doch an sich anti-homosexuell.

Da die Familie für den Kapitalismus ideologisch und wirtschaftlich sehr zentral ist, wird jede Gruppe, die die monogame, heterosexuelle „Norm“ der bürgerlichen Familie unterwandert, als äußerste Gefahr für die Gesellschaft gesehen und dementsprechend gebrandmarkt. Lesben und Schwule stellen eine Gefahr für den ideologischen Unterbau der Familie und für ihre ideale Kernstruktur dar, indem sie aufzeigen, daß Sexualität weder eine bloß auf die Schaffung von Nachwuchs gerichtete Aktivität, noch ein Mittel zur Zementierung der monogamen heterosexuellen Ehe ist. Sie bezeugen die Tatsache, daß Sexualität selbst ein Vergnügen darstellt. Das Faktum, daß lesbische und schwule Sexualität eindeutig nicht-reproduktiv ist, stellt eine Bedrohung für die Legitimität der bürgerlichen Familie dar.

Im Kapitalismus werden Lesben und Schwule systematisch denunziert, mißbraucht und kriminalisiert. Dies führt zu sexuellem Elend für Millionen Individuen und schürt schädliche Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse. Durch die Manipulation von Erziehung, Medien, Religion und Rechtssystem und durch die stillschweigende Duldung der Gewerkschaftsbürokratie, fördert die Bourgeoisie die Idee, daß Homosexualität „unnatürlich“ sei.

In den 80er Jahren verwendete die Bourgeoisie in den imperialistischen Ländern die Entwicklung der AIDS-Epidemie zur Verfolgung der Homosexuellen, insbesondere der Schwulen, die beschuldigt wurden, die Überträger der Krankheit zu sein. Innerhalb der Arbeiterklasse sind diese Argumente allgemein akzeptiert worden, und eine tief verwurzelte Angst vor Homosexualität (Homophobie) ist die Norm. Diese Homophobie schafft oft die Grundlage für einen aktiven, häufig gewaltsamen, Fanatismus gegen Lesben und Schwule in der Arbeiterklasse. Dennoch hat das Proletariat kein materielles oder fundamentales Interesse an der Aufrechterhaltung der lesbischen oder schwulen Unterdrückung oder in der Verewigung des anti-lesbischen und anti- schwulen Fanatismus.

Lesben und Schwule erleiden Unterdrückung in allen Bereichen, bis hin zu gesetzlichen Sanktionen. Während Lesben und Schwule aller gesellschaftlichen Klassen von ihr betroffen sind, ist sie doch für die Angehörigen der Arbeiterklasse am stärksten. Die Unterdrückung hat ihre Auswirkung auf die beruflichen Möglichkeiten. Männer und Frauen, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, bekommen schwerer Arbeit, werden am Arbeitsplatz isoliert und mißbraucht und verlieren leichter ihre Arbeit, ihre Unterkunft und ihre Kinder. Im Gegensatz zu unterdrückten Mitgliedern der herrschenden Klasse haben aber Lesben und Schwule der Arbeiterklasse keine andere Alternative, als Arbeit zu suchen. Folglich sind sie oft gezwungen, ihre Sexualität zu verleugnen und erleiden durch diese Verleugnung und Unterdrückung psychischen Schaden.

Die Arbeiterklasse muß für die Beendigung jeglicher Diskriminierung von Lesben und Schwulen kämpfen. Die Homosexualität ist ein grundlegendes demokratisches Recht. Der Staat soll keine Rechte haben, dort in die Sexualität von Menschen einzugreifen, wo eine freiwillige Zustimmung der Beteiligten besteht. Die Abschaffung des Mündigkeitsalters ist notwendig, um der Polizei und den Gerichten eine weitere Waffe, junge Lesben und Schwule zu schikanieren, aus der Hand zu schlagen. Die Diskriminierung muß in jedem Bereich, einschließlich des Arbeitsplatzes, der Unterkünfte und des Sorgerechtes für Kinder, bekämpft werden. Gesetzlich verankerte Rechte sollen von der Arbeiterklasse erkämpft und verteidigt werden. Der Staat muß gezwungen werden, in den Schulen Aufklärung über Sexualität anzubieten, ohne die Homosexualität zu verurteilen, wie es heute gang und gäbe ist. Die religiöse, anti- homosexuelle Engstirnigkeit muß aus den Klassenräumen verbannt werden.

Millionen von Lesben und Schwulen sind Teil der Arbeiterklasse. Die große Mehrheit bekennt sich nicht zu ihrer Sexualität – aus Angst vor Schikanen und Verfolgung. Jene, die es getan haben, erlitten infolge ihrer Offenheit Nachteile. Die Organisationen der Arbeiterklasse müssen für die Unterstützung der Rechte aller Homosexuellen – offen zu ihrer Sexualität stehen zu können, Widerstand gegen polizeiliche Schikanen oder faschistischen Terror zu leisten, das Recht auf Arbeit zu verteidigen und einen Mindestlohn zu erhalten – gewonnen werden. Eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts für Leute mit verschiedenen sexuellen Orientierungen muß die sexistische und heterosexistische Engstirnigkeit, die momentan in der Arbeiterklasse der ganzen Welt vorherrscht, ersetzen.

Die Lesben und Schwulen der Arbeiterklasse müssen das Recht auf eigene Treffen innerhalb der Organisationen der Arbeiterklasse haben, um gegen die Homophobie und für volle politische und soziale Gleichheit zu kämpfen. Um den Kampf über bestimmte Anliegen des eigenen Bereichs oder der unmittelbaren Umgebung hinauszutragen, müssen solche Zirkel mit denjenigen Einheitsfronten und Kampagnen verbunden werden, die ein Teil der proletarischen Bewegung für eine lesbische und schwule Befreiung sein könnten. Revolutionäre und Revolutionärinnen werden um die politische Führung in solchen Einheitsfrontorganisationen kämpfen, um Lesben und Schwule für ein Programm ihrer Befreiung und für den revolutionären Sozialismus zu gewinnen.

Die systematische Unterdrückung von Lesben und Schwulen wird nicht aufhören, solange die bürgerliche Familie als Modell für das gesellschaftliche Leben gefördert und verteidigt wird. Das ist ein Grund, warum der Kampf für die Beendigung dieser Form der Unterdrückung mit dem Programm für die Macht der Arbeiterklasse verbunden werden muß. Eine solche Revolution wird fähig sein, die lesbischen und schwulen Proletarier von den materiellen Entbehrungen, die ihnen als direktes Ergebnis ihrer Unterdrückung und Ausbeutung durch den Kapitalismus auferlegt sind, zu befreien. Und sie kann auch dem sexuellen Elend, das das Leben von Millionen zunichte macht, ein Ende bereiten.

Rassistische Unterdrückung

Moderne Nationen können nicht mit sogenannten Rassen gleichgesetzt werden. Rassistische Unterdrückung ist das Produkt des Entstehens der bürgerlichen Nation. In der merkantilistischen Periode des frühen Kapitalismus war in gewissen Ländern die Sklaverei eine Grundlage für die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Die Ausdehnung der kapitalistischen Kolonialreiche brachte für die Eingeborenenbevölkerung die systematische Verweigerung einfacher Menschenrechte und sogar Völkermord mit sich. Aber der Rassismus nahm in der imperialistischen Epoche seine gehässigste Form an: Wirtschaftliche Katastrophen, Revolutionen und Kriege haben einen modernen, pseudo-wissenschaftlichen Rassismus ins Leben gerufen. Er existiert sowohl als fieberhaftes Hirngespinst des Kleinbürgertums als auch als bewußtes Werkzeug der imperialistischen Bourgeoisie.

In unserem Jahrhundert ist das „Rassen“-Problem nicht ein Problem angeblicher rassischer Unterschiede, sondern es ist eine Funktion des Rassismus: die Unterdrückung von Menschen ihrer (angeblichen) „Rasse“ wegen. Die Opfer dieses systematischen Rassismus sind zahlreich. An vorderster Front stehen die Juden, die im Zweiten Weltkrieg einen Völkermord erleiden mußten, und die Schwarzen aus Afrika, aus der Karibik, aus den USA und die, die nach Europa emigriert sind. In Südafrika schuftet die schwarze Mehrheit schon lange unter der barbarischen Unterdrückung durch die Apartheid. Zusätzlich sog der Nachkriegsboom Millionen von Arbeitern aus den Halbkolonien in die imperialistischen Kernländer, aus einer Halbkolonie in die andere und aus weniger entwickelten in höher entwickelte imperialistische Länder. Diese Wanderarbeiter und eingewanderten Arbeiter sind auch rassisch unterdrückt.

Den Opfern rassistischer Unterdrückung werden systematisch demokratische Rechte verweigert. Der Rassismus von Polizei und Staat stürzen auf sie ein. Dies dient im weiteren dazu, gewalttätige Angriffe von einzelnen Rassisten, von Banden und organisierten Faschisten zu ermutigen. Die rassistisch Unterdrückten erleiden Diskriminierung in der Ausbildung und in allen Bereichen der sozialen Vorsorge. Sie sind bei der Arbeit einer Überausbeutung ausgesetzt. Wann immer der Kapitalismus in die Rezession gerät, leiden rassistische unterdrückte Minderheiten am meisten unter Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen.

Für die arbeitenden Massen der rassistisch Unterdrückten gibt es keine kapitalistische Lösung für ihre Unterdrückung. Die Tendenz des Kapitalismus, Immigrantengemeinden zu integrieren und in verschiedene Schichten zu spalten, begünstigt immer die kleinbürgerlichen und bürgerlichen Schichten auf Kosten der ärmsten Massen. Und selbst diese Tendenz wurde wiederholt in ihr Gegenteil verkehrt, wenn der Kapitalismus in seinen Krisenperioden auf ungeschminkten Rassismus und Nationalchauvinismus zurückgreift. Die Schlachtung von sechs Millionen Juden unter Hitler zeigt das barbarische Potential der Epoche. Egal welches Niveau von „Chancengleichheit“ oder „bejahendem Handeln“ erreicht ist, die scharfen Wendungen des Imperialismus in Politik und Wirtschaft machen die Unterdrückten potentiell zu Opfern der völkermordenden „Endlösung“ des verzweifelten Finanzkapitals.

Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen betreiben innerhalb der unterdrückten Gemeinden Agitation und Propaganda für die strikteste Trennung der Klasseninteressen der Arbeiter von denen der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums und den Interessen des Klerus. Zu diesem Zweck kann die revolutionäre Partei spezielle Organisationen schaffen, aber sie wendet sich entschieden gegen den Ruf nach einer separaten politischen Partei irgendeiner rassistischen Gruppe, egal welchen ultra-radikalen politischen Inhalt sie hat. Separatismus und Nationalismus führen vom Gesichtspunkt des Kampfes zur Beendigung der Unterdrückung in eine Sackgasse.

Die Erfahrungen der Kämpfe der Schwarzen in den USA zeigen sowohl die Fallgruben als auch das revolutionäre Potential der Kämpfe gegen rassistische Unterdrückung auf. Während des langen Nachkriegsbooms lebten die Schwarzen unter einer „demokratischen“ Verfassung, und die formale Abschaffung der Sklaverei lag ein Jahrhundert hinter ihnen. Doch sogar in diesen Jahrzehnten des „Wohlstandes“ wurden die Schwarzen massiv entrechtet, überausgebeutet und in den Südstaaten einer Form von Apartheid ausgesetzt. Ausgehend vom passiven Protest, der von schwarzen Geistlichen und der Intelligenz geführt wurde, entwickelte sich der Widerstand der Schwarzen zu einer Massenrevolte und zu bewaffneten Zusammenstößen mit der Polizei und der National Guard.

Aber der Massenaufstand war mit einer massiven Führungskrise gekoppelt. Auf der einen Seite war das integrationistische Kleinbürgertum dazu bereit, zugunsten von Reformen und größerem Zugang zu lokalen und bundesstaatlichen Regierungen die Massenrevolte zu demobilisieren. Andererseits war die radikale Opposition zu diesem Ausverkauf – die Black Panthers, Malcolm X – nicht in der Lage, einen kompletten Bruch mit Separatismus und Guerillaismus zu vollziehen. Von der Masse der weißen Arbeiter und den Massen der schwarzen Gemeinden abgeschnitten, wurde die Avantgarde vom US-Staat zermalmt. Nachdem der US-Imperialismus diesen Sieg errungen hatte, verleibte er sich eine schwarze Bourgeoisie und eine Kaste professioneller Politiker ein und ließ die erdrückende Mehrheit in Amerikas zerrütteten Innenstädten verkommen.

Nur die Überwindung des Imperialismus, die Befreiung der Produktivkräfte von den Ketten des nationalen Kapitalismus, kann die materiellen Wurzeln der rassischen Unterdrückung beseitigen. Der Kampf gegen Rassismus muß daher einen integralen Bestandteil des Programms und der Aktivität der revolutionären Partei in jeder Periode bilden. Diese muß ihr Übergangsaktionsprogramm um die alltäglichen Kämpfe der rassistisch Unterdrückten konzentrieren, die sich gegen die Diskriminierung in Ausbildung, Löhnen, Beschäftigung und Arbeitsbedingungen wenden. Die Partei kann und muß unter den Männern, Frauen und Jugendlichen der rassistisch Unterdrückten Massen heldenhafter Kämpfer und Kämpferinnen finden und um dieses Programm versammeln.

Weil sie von Klassenkollaborateuren und Sozialchauvinisten geführt werden, spiegeln die offiziellen Arbeiterbewegungen der imperialistischen Kernländer den Rassismus und Chauvinismus der herrschenden Klasse wider und sind häufig ein Instrument der Herrschenden. Aber es gibt für die Unterdrückten keinen anderen Weg zur Befreiung, als durch einen Kampf die Mehrheit der Arbeiterklasse für gemeinsame Aktionen gegen den Rassismus zu gewinnen.

Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen kämpfen innerhalb der Arbeiterbewegung für gemeinsame Aktionen gegen alle rassistischen Angriffe und Gesetze, sowie für Arbeiterverteidigungstrupps gegen rassistische und faschistische Attacken. Wir kämpfen für volle Staatsbürgerschaft und demokratische Rechte für alle rassistisch unterdrückten und nationalen Minderheiten, für alle Immigranten- und Wanderarbeiter. Wir kämpfen für die Abschaffung aller Einwanderungskontrollen in den imperialistischen Ländern. In den Halbkolonien gilt unser Kampf den kolonialen Niederlassungen, und wir unterstützen die Einführung von zeitlichen und anderen Einschränkungen der Staatsbürgerschaft für weiße Siedler. Wir sind gegen alle neuen kolonialen Niederlassungen von Kapitalisten und reichen Farmern. Dies ist die einzige Ausnahme, die wir, und zwar in halbkolonialen Ländern, von unserer allgemeinen Opposition gegenüber Einwanderungskontrollen machen.

Es ist skandalös vorzuschlagen, daß die rassistisch Unterdrückten passiv ausharren und den Rassismus geduldig ertragen sollten, bis die Masse der weißen Arbeiter und ihre Organisationen für eine anti-rassistische Perspektive gewonnen worden sind. Wir fordern Unterstützung der Arbeiterbewegung für die Selbstverteidigung gegen rassische Angriffe. Um den rassistisch Unterdrückten zu helfen, sich innerhalb der Arbeiterbewegung gegen den Rassismus zu organisieren und vollständig an den Kämpfen der ganzen Arbeiterklasse teilzunehmen, sind wir für das Recht der Unterdrückten auf eigene Treffen und auf ihre Vertretung auf allen Ebenen der Arbeiterbewegung; das gilt auch für die revolutionären Partei selbst.

Der Klassenkampf und das vollständige System von Übergangsforderungen werden innerhalb der unterdrückten Gemeinschaften nicht außer Kraft gesetzt, egal unter welcher akuten gemeinsamen Unterdrückung sie auch leiden. Während die Möglichkeit besteht, mit nicht-proletarischen Organisationen innerhalb der Gemeinschaften begrenzte taktische Übereinkommen zu schließen, müssen diese auf gemeinsamer Aktion und striktester Trennung der Programme basieren. Zu jeder Zeit muß die Arbeiterklasse der unterdrückten Gemeinschaften gegen ihre eigenen Unterdrücker, welcher Nationalität oder ethnischer Herkunft auch immer, und für die Befreiung der Frauen, der Jugendlichen, der Lesben und der Schwulen mobilisiert werden.




Zum Todestag von Jina Mahsa Amini: Ein Jahr, das den Iran veränderte

Martin Suchanek, Infomail 1231, 15. September 2023

Am 16. September 2022 starb die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini an den Folgen der Verletzungen, die ihr die sog. Sittenpolizei bei ihrer Festnahme und in der Haft durch brutale Misshandlung zufügte. Doch sie sollte nicht ein weiteres Opfer eines verbrecherischen, despotischen Regimes bleiben, auf dessen Mord durch die Staatsorgane ein zweiter Tod durch das öffentliche Vergessen folgte. Er blieb nicht ungesühnt und auch nicht folgenlos.

Er entfachte eine Welle der Massenproteste und des Widerstandes, wie sie der Iran seit 2009, der sog. grünen Revolution gegen massiven Wahlbetrug des Regimes, nicht gesehen hatte. Nachdem der Tod Jina Mahsa Aminis bekanntgeworden war, gingen in Teheran und zahlreichen anderen Städten Tausende und Abertausende auf die Straße.

Ausbreitung der Bewegung

In den ersten beiden Monaten breitete sich die Bewegung über das gesamte Land und weite Bevölkerungsschichten aus. In den kurdischen Regionen legte sogar ein befristeter Generalstreik das öffentliche Leben lahm. In zahlreichen Städten bildeten die Universitäten ein Zentrum des Widerstandes, mit dem sich die Masse der Bevölkerung, insbesondere auch die Arbeiter:innenklasse solidarisierte. Von Beginn an standen die Frauen und die Jugend im Zentrum der Bewegung, bildeten ihre treibende Kraft, offenbarten den tief sitzenden Hass gegen das Regime. Millionen schlossen sich den Protesten an – trotzten der massiven Repression durch Polizei, Sondereinheiten und paramilitärische Schergen des Regimes.

Doch trotz extremer Brutalität, tausender Festnahmen, Verhaftungen und der Ermordung zahlreicher Demonstrant:innen auch in den ersten Wochen der Protestbewegung ließen sich die Massen nicht einschüchtern. Die Mullahs befanden sich eindeutig in der Defensive. Zu spät und zögerlich wurde eine Auflösung und „Reform“ der verhassten Sittenpolizei ins Spiel gebracht. Vom Regime inszenierte Gegenkundgebungen zu den Protesten blieben viel kleiner als die Massenaktionen der Opposition, offenbarten, wie gering die soziale Basis, wie verhasst die Mullahdiktatur und die politische und soziale Ordnung, die sie mit allen Mitteln verteidigt, waren und sind.

Die Bewegung erschütterte die herrschende Klasse und deren iranische Spielart des Kapitalismus. Aber sie vermochte trotz eines unglaublichen Heroismus nicht, das Regime zu stürzen. Der Staatsapparat und die Repressionsorgane wurden zwar erschüttert, aber ihr innerer Zusammenhalt und ihre Einsetzbarkeit gegen die Bewegung wurden nicht gebrochen. Das betraf nicht nur die direkten, professionellen inneren Repressionsorgane und paramilitärische Stützen des Regimes, sondern vor allem auch die Armee samt ihren rund 220.000 Wehrpflichtigen.

Die Reaktion schlägt zurück

Dies ermöglichte dem Regime, ab Ende 2022 immer massiver und zielgerichteter gegen die Bewegung vorzugehen. Es ertränkte sie geradezu in Blut und Gewalt. Weit mehr als 500 Demonstrierende wurden im letzten Jahr getötet. Insgesamt sollen rund 20.000 Menschen verhaftet worden sein. Außerdem wurden Dutzende aufgrund ihrer Beteiligung an der Bewegung oder als angebliche Rädelsführer:innen in Schauprozessen und Schnellverfahren zum Tode verurteilt und exekutiert. Insgesamt wurden seit September 2022 rund 500 Hinrichtungen vollstreckt. Die sog. Sittenpolizei verblieb in Amt und Würden.

Auch wenn die Bewegung zurückgedrängt und das Regime wieder konsolidiert wurde, so wurde bis heute die alte Ordnung nicht vollständig wiederhergestellt. Noch immer gehen Frauen mit offenen Haaren auf die Straße und brechen öffentlich die reaktionären Bekleidungsvorschriften des Regimes – trotz verschärfter Repression und drakonischer Strafen. Auch wenn diese Heldinnen gewissermaßen die Speerspitze der Entschlossenheit darstellen, so ist es nach wie vor gerade in den Städten kein Randphänomen und ihre Taten werden von vielen in der Bevölkerung mehr oder minder offen unterstützt. Dieser Widerstandswille blieb trotz des Rückgangs der Bewegung ungebrochen.

Doch was sind die Ursachen dafür?

Erstens haben sich die Menschen selbst verändert. Das gilt nicht nur für die Protestbewegung seit dem September 2022, die teilweise vorrevolutionäre Züge annahm. Im Grunde stehen das iranische Regime und die wirtschaftliche Elite seit 2019, dem Beginn einer vor allem von der Arbeiter:innenklasse getragenen ökonomischen und regimefeindlichen Bewegung, immer neuen Mobilisierungen gegenüber. Diese wurden von den Lohnabhängigen, von der städtischen und ländlichen Armut, ja selbst von großen Teilen der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums getragen. 2022 spielten die Frauen eine zentrale Rolle, aber auch die Jugend und die unterdrückten Nationen und Nationalitäten. Viele Aktive aus der Bewegung berichten davon, dass das Bewusstsein für verschiedene Formen gesellschaftlicher Unterdrückung in der Oppositionsbewegung deutlich gestiegen sei.

Hinzu kommt aber auch, dass die Streiks ab dem Jahr 2019 wie auch Massenproteste seit 2022 nicht nur mit Mobilisierungen das Regime erschütterten. Sie führten auch dazu, dass sich eine Schicht von gewerkschaftlich und politisch engagierten Aktivist:innen und Führungskernen bildete, von halblegaler und illegaler Organisation, die einer Bewegung auch in der Repression eine gewisse Kontinuität verleihen können.

Zweitens wurde die Herrschaftsbasis des Regimes dünner. Zweifellos konnten und können sich die Mullahs weiter auf einen aufgeblähten und parasitären Staats- und Repressionsapparat stützen. Sie verfügen auch über ein weitgehendes Monopol über die Medien und mit dem Klerus über einen zusätzlichen zentralen ideologischen Apparat. Sie stützen sich außerdem trotz der ökonomischen Krise nach wie vor auf eine Mehrheit der herrschenden kapitalistischen Klasse, die ihrerseits vom Regime nicht nur begünstigt wird, sondern auf deren parasitäre Sonderinteressen letztlich die Wirtschaftspolitik Teherans ausgerichtet ist.

Doch die Allianz von Bourgeoisie und Theokratie sowie angelagerten Staatsfunktionär:innen und kleinbürgerlichen Schichten, die eng mit dem Staat verbunden sind, verteidigt ihre eigenen Privilegien vor dem Hintergrund einer chronischen Stagnation und Krise, von massiver Inflation, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Massen. Auch wenn Teheran seine internationale Isolierung durch Verbindungen mit China, Russland und das Abkommen mit Saudi-Arabien ein Stück weit durchbrechen kann, so ändert das an der wirtschaftlichen und sozialen Misere wenig. Anders als noch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vermag das Regime längst nicht mehr die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen durch ökonomische Erfolge und Verbesserungen des Konsumniveaus zu befrieden.

Im Gegenteil. Auch das tägliche, „normale“ Leben wird immer schwieriger, immer unerträglicher. Das schlechte Leben fürchten viele mittlerweile mehr als Repression und Todesgefahr. Daher halten so viele trotz der Brutalität des Regimes an ihrem Widerstand oder jedenfalls an ihrer Sympathie dafür fest. Denn nur dieser verspricht Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben.

Diese chronische Krise, ja Sackgasse, in der das politisch-ökonomische Gesamtsystem des Iran steckt, hat zu einer extremen Entfremdung der Mehrheit der Bevölkerung geführt, aller, die nicht über Privilegien, Profite und Klientelismus mit dem Regime verbunden sind. Dessen Herrschaft muss sich mehr und mehr auf Gewalt und Repression stützen. Damit ist auch die nächste Revolte, der nächste gesellschaftliche Ansturm vorprogrammiert. Am Jahrestag der Proteste, die Jina Mahsa Aminis Tod entfacht hat, wird es sicher wieder zu Aktionen und Demonstrationen im ganzen Land kommen. Auch wenn es leider unwahrscheinlich ist, dass diese die Bewegung neu entfachen werden, so sollten wir nicht vergessen, dass zwischen den Massenmobilisierungen 2019 und 2022 nur drei Jahre lagen. Auch wenn wir nicht überoptimistisch sein dürfen und damit rechnen müssen, dass es einige Zeit dauert, bis sich die Aktivist:innen und die Bewegung von 2022 neu und möglicherweise auch um einen neuen Fokus wieder formiert, so ist eine nachhaltige politische, soziale und ökonomische Konsolidierung des Regimes nahezu ausgeschlossen.

Umso wichtiger ist es, die Lehren daraus zu ziehen, warum die Bewegung 2022 das Regime nicht stürzen und ihre Ziele nicht erreichen konnte. Dies ist unerlässlich, wenn wir uns darauf vorbereiten wollen, bei einem nächsten Ansturm erfolgreich zu sein.

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und die Bildung von Soldat:innenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder musste sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit denen ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des westlichen „demokratischen“ Imperialismus). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung gipfelt, entstehen nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Сексизмът убива, власта прекрива! Sexismus tötet, Macht korrumpiert!

… und die Regierung vertuscht das Problem: Protestwelle in Bulgarien gegen Gewalt gegen Frauen

Leonie Schmidt, Infomail 1230, 5. September 2023

Nach einem versuchten Femizid im Juni 2023 in Bulgarien, bei welchem eine 18-Jährige von ihrem Ex-Freund mit 21 Wunden durch ein Teppichmesser zugerichtet und mit Knochenbrüchen übersät wurde, flammte eine Protestwelle gegen Gewalt gegen Frauen auf. Besonders schockierend für die Protestierenden: Der mutmaßliche Täter kam einige Tage später wieder auf freien Fuß und wurde wegen angeblich „leichter“ Verletzungen des Opfers freigesprochen!

Seitdem gehen die Menschen auf die Straße. Das ist gerade für dieses Land etwas Ungewöhnliches, denn wie Organisator:innen des 8. März berichteten, kamen in den vergangenen Jahren nur wenige Personen zu ihren Kundgebungen. Jedoch begann die Entwicklung, dass es mehr und mehr Leute auf Proteste für Frauenrechte zog, bereits 2018, nachdem ein Schulmädchen mit Säure überkippt wurde. Auf den aktuellen Protesten sind vor allem junge Akivist:innen anzutreffen. Veranstaltet wird das Ganze unter anderem von der Organisation Feminist Mobilization. Sie fordert in erster Linie eine Verschärfung der Gesetzeslage, denn zum Zeitpunkt der Tat gab es noch nicht einmal einen Paragraphen, welcher häusliche Gewalt im Strafgesetzbuch definierte. Aber in ihren Reihen finden sich auch Personen, die einen Kampf gegen Kapital und patriarchale Strukturen fordern.

Druck auf die Regierung wirkt – oder?

Mittlerweile hat sich die europaorientierte rechte Regierung Bulgariens dazu bequemt, einige Gesetzesänderungen durchzuführen. Täter und Betroffene müssen nun nicht mehr zusammenwohnen, damit es sich um häusliche Gewalt handelt. Eine zweite Reform wurde trotz Sommerpause durchgebracht: Künftig gilt es als Beziehungstat, wenn Täter und Opfer seit mindestens 60 Tagen in einer „intimen Beziehung“ zueinander stehen. Das ist offensichtlich ein Gesetz, das viele Schlupflöcher für die Täter beinhaltet. Die Tat ist nicht weniger schlimm, wenn sie am 40. Tag oder 1. Tag passierte. Der Nachweis, wann die Beziehung begann und ob es sich wirklich um eine intime (also sexuelle) Beziehung handelt, ist unfassbar schwierig. Wenn man als Betroffene vor Gericht eine Chance haben will, braucht man also einen guten anwaltlichen Beistand, den sich besonders Frauen der Arbeiter:innenklasse wohl kaum leisten können.

Aber dass es nun zu so einer Laissez-faire-Reform kommt, ist leider nicht verwunderlich: In Bulgarien richten sich Politiker:innen nicht erst seit heute gegen Frauen und explizit Betroffene häuslicher Gewalt. Seit Jahren mobilisieren rechte Parteien, aber auch die sog. sozialistische Partei Bulgariens, die linksnationalistisch und linkspopulistisch einzuordnen ist, gegen die Istanbul Konvention (ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), da damit die Grundlage zur Einführung für die „Ehe für alle“ geschaffen werden würde.

Warum es zu häuslicher Gewalt kommt

Um einen effektiven Weg zur Bekämpfung häuslicher Gewalt zu finden, muss erst einmal geklärt werden, wie es überhaupt dazu kommt. Kleinbürgerliche Feminist:innen versuchen, das entweder mit der Natur des Mannes oder der Rückschrittlichkeit der Kultur oder Klasse zu erklären, in welchen die Gewalt stattfindet. Als Marxist:innen ist uns bewusst, dass häusliche Gewalt nur mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse erklärt werden kann. Denn sie findet nicht außerhalb der Gesellschaft statt, das Private ist nicht einfach unpolitisch, im Gegenteil: Häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter:innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche Waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter:innenklasse als Ganze neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter:innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Betrachten wir Bulgarien, so geht es vor allem um die Auswirkungen der Krise. Die Frauen müssen auch Lohnarbeit nachgehen, um die Existenz der Familie abzusichern, während gleichzeitig der Lohn des Mannes nicht mehr zu deren Ernährung ausreicht. Hinzu kommen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innnenklasse und die sozialen Absicherungen wie Sozialleistungen oder Krankenkassen, um die Profite des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern und dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken. Solche Krisen sind ein Kennzeichen für die Periode, in welcher wir uns aktuell befinden.

Die Krise der Familie bildet also die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter:innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage dringt. Somit kann sich der Täter noch ein letztes Mal über das Opfer stellen.

Durch diese Analyse wird also auch klar, warum die herrschende Klasse gar kein Interesse hat, grundlegend gegen häusliche Gewalt vorzugehen, denn auf der einen Seite gehört die Einsparung im Sozialsicherheitssystem schließlich zum Rettungsschirm des Finanzkapitals und auf der anderen Seite müsste sie sonst die Institution der bürgerlichen Familie angreifen, welche zu den Grundfesten des kapitalistischen Systems gehört. Des Weiteren ist es auch im Sinne des herrschenden Klasse, wenn Frauen auch in ihrer Familie unterdrückt bleiben und sich nicht von ihren Geschlechterrollen zu befreien versuchen. Diesen Punkt kann man gut erkennen an den Teilen der herrschenden Klasse Bulgariens, welche an der bürgerlichen Familie festhalten wollen, indem sie sich gegen die Istanbuler Konvention stellen. Diese Analyse macht auch klar, warum besonders die Ärmsten und am stärksten unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse von jener Gewalt betroffen sind.

Lage in Bulgarien

Schauen wir uns nun die Lage in Bulgarien an. Tatsächlich gilt dies als ärmstes Land der EU. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei der Hälfte des EU-weiten Durchschnitts. 2022 betrug das jährliche  BIP/Kopf 13.079 Euro gegenüber 25.650 in der EU und 29.180 in der Euro-Zone. Des weiteren stagnieren die Löhne und Gehälter auf einem niedrigen Niveau. Interessant ist diesbezüglich auch, dass der Dienstleistungssektor dominiert: Vor allem outgesourcter Kundendienst in Form von Callcentern für imperialistische Staaten ist hier ansässig, welcher die Lohnabhängigen hier noch mehr ausbeuten kann. Dementsprechend müssen die Löhne auch auf einem derartig niedrigen Niveau bleiben, damit sich das Outsourcing für die Imperalist:innen der EU überhaupt lohnen kann.

Über 2,2 Millionen Lohnabhängige (mehr als die Hälfte!) verkaufen ihre Arbeitskraft in anderen EU-Ländern. Viele Frauen, welche aus Bulgarien emigrieren, übernehmen in reichen imperialistischen EU-Staaten Carearbeit im Niedriglohnsektor, also als Putzkräfte, Krankenpflegerinnen und so weiter. Auch hier sind sie vor ökonomischer Abhängigkeit, Gewalt und Ausbeutung nicht sicher, im Gegenteil. All das verdeutlicht die halbkolonialen Verhältnisse in Bulgarien.

Hinsichtlich der Gewalt gegen Frauen in Bulgarien kann festgehalten werden, dass jede 3. Frau laut Befragungen bereits Opfer partnerschaftlicher Gewalt wurde. Des Weiteren wurden dieses Jahr bereits 14 Frauen Oper von Femiziden (Stand: August 2023). Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken, dass dies keine offiziellen Zahlen sind, da in Bulgarien diese von niemandem/r erhoben werden. Lediglich Frauenrechtsorganisationen sammeln sie. Dementsprechend ist also auch klar, dass die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte. Denn wie bereits eingangs erwähnt, gab es vor der aktuellen Protestwelle noch nicht einmal eine Definition im Strafgesetzbuch hinsichtlich häuslicher Gewalt!

Außerdem ist die sozialstaatliche Absicherung in Bulgarien besonders prekär, was Frauen am meisten trifft. Es fehlt an Kindergartenplätzen, was dazu führt, dass sie gezwungen sind, sich entweder unbezahlt „freizunehmen“, um ihre Kinder zu betreuen, oder flexiblere Arbeitsverhältnisse inklusive besonders schlechter Bezahlung anzunehmen. So oder so werden sie damit umso mehr an ihre Familie und ihre potentiell gewalttätigen Oberhäupter gebunden.

Perspektive der Proteste

Obwohl die Regierung versucht, durch Reformen die Protestierenden ruhigzustellen, gehen diese weiterhin auf die Straße und bringen auch antipatriarchale und antikapitalistische Forderungen mit ein, werfen die Frage auf, wem es am Ende nützt, dass Gewalt gegen Frauen herrscht und diese nur mehr als unzureichend vom bürgerlichen Staat bekämpft wird. Klar ist, die Proteste dürfen nicht bei dieser einen Frage stehen bleiben. Es gilt, eine breite Massenbewegung aus Frauen, Lohnabhängigen, und sozial Unterdrückten aufzubauen, welche für klare Forderungen und ein klares Programm hinsichtlich der Unterdrückung von Frauen und LGBTIA+-Personen eintritt. Hierbei müssen auch die Gewerkschaften aufgefordert werden, sich zu beteiligen. Des Weiteren darf diese Bewegung auch nicht im nationalen Rahmen stehen bleiben, sondern muss international aufgebaut werden. Diese Forderungen könnten sein:

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben. Frauenhäuser müssen vom Staat finanziert, aber von den Frauen selbst verwaltet werden.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Natürlich dürfen wir uns aber auch keine Illusion machen, dass wir patriarchale Gewalt im Kapitalismus einfach wegreformieren könnten. Es gilt, den Kapitalismus mitsamt seinen Institutionen zur Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Arbeiter:innenklasse zu zerschlagen und für eine solidarische Gesellschaft auf Basis von vergesellschafteter und demokratisch geplanter Produktion und Reproduktion sowie Rätemacht einzutreten. Das heißt auch, dass das Ideal der bürgerlichen Familie dann das Zeitliche gesegnet hat und sich Rollenbilder auflösen werden dadurch, dass die Reproduktionsarbeit bspw. durch gemeinsame Mensen und Waschküchen vergesellschaftet wird. Dazu braucht es mehr als Bewegungen – eine politische Kraft, die gegen alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung führt, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




USA: Angriffe auf Frauen und LGBTIAQs

Resa Ludivien, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Danke, Trump! Doch auch unter Biden wird’s nicht besser. Ganz im Gegenteil. Das Urteil Roe vs. Wade letztes Jahr wurde unter der Biden-Regierung außer Kraft gesetzt, dank der durch Trump nominierten Richter:innen der Obersten Gerichtshofs. Doch auch überall im Land gibt es nicht nur betroffene Frauen, die bangen, sondern auch eine reaktionäre Basis, die das Urteil als Erfolg feierte.

Derzeit läuft der Wahlkampf für die nächste Präsidentschaftswahl wieder heiß an. Donald Trumps republikanischer Mitbewerber Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, will mit einer noch radikaleren Abtreibungspolitik punkten. Erst kürzlich unterzeichnete er einen „sex weeks abortion ban“ – eine Zeitspanne, in der Frauen vielleicht noch nicht einmal gemerkt haben, dass sie schwanger sind, geschweige denn eine gut durchdachte Entscheidung hätten treffen und eine/n der wenigen Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen, finden können.

My body, my choice

Keine Frauenkörper heißt keine Kinder. Wer außer „der Frau“, wer außer gebärfähigen Menschen, sollte dann über Schwangerschaft oder einen Abbruch entscheiden? Laut der US-Rechten alle – Männer und der bürgerliche Staat – alle außer sie selbst. Im Bundesstaat Arkansas können Ehemänner und Lebenspartner sogar gegen die schwangere Frau rechtliche Schritte einleiten, wenn sie eine Abtreibung plant.

Wer keine Kinder möchte oder sich nicht in der Lage fühlt, sie zu bekommen und großzuziehen, hat hierfür mannigfaltige Gründe: Krankheit, Suchtprobleme, eine Gewaltbeziehung und … und … und. So lange Frauen von der Zeugung an – denken wir an Vergewaltigungen, Babytrap oder Druck – über die Entscheidung bis hin in die (un)gewollte Mutterschaft bevormundet und diskriminiert werden, werden sie wie Menschen zweiter Klasse behandelt.

Während selbsternannte „Lebensschützer:innen“ die Rechte des Ungeborenen beschwören, erlöschen diese in einer Gesellschaft, in der Kinderziehung wesentlich Privatsache ist, mit der Geburt. Selbst wenn formale Gleichheit herrscht, macht sich die Ungleichheit von Klasse und Herkunft umso deutlicher bemerkbar.

Auch hier zeigt sich die Doppelmoral. Kinder sind kein Statussymbol oder Objekt und haben ein Recht darauf, geliebt und gut behandelt zu werden. Warum also eine Frau zwingen, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn sie sich nicht sicher ist, ob sie das kann und möchte? So viel zum moralischen Gebrabbel.

Doch dieser Angriff hat System. Antifeministische Akteur:innen – vor allem männlichen Geschlechts – sind in den letzten Jahren auf dem Vormarsch. Der Krisenmodus, der seit 2008 anhält, hat soziale und politische Unsicherheit mit sich gebracht – auch für die Mittelschichten –, die Rechtsströmungen zu einer politischen Agenda verdichten und so davon profitieren. In ihren extremsten Ausformungen sehen wir das bei rechtspopulistischen oder gar protofaschistischen Regierungen, aber auch antifeministischen, queerfeindlichen und rechtsextremen Anschlägen.

Angriffsziel Flintas

Parallel zu dem massiven Angriff auf Frauenrechte stehen queere Menschen in den USA unter Beschuss. Die Devise „My body, my choice“ (Mein Körper, meine Entscheidung) wird hier ebenso mit Füßen getreten, wenn wir an die Möglichkeiten von trans Personen denken in einem System, welches sie von der Schule bis ins Krankenhaus bekämpft.

Zusätzlich sind es die enormen Gesundheitskosten, die eine Extrahürde darstellen. Arbeiter:innen sind hiervon im Allgemeinen betroffen, doch Frauen und queere Menschen im Besonderen. Durch die ökonomische Diskriminierung und gesellschaftliche Marginalisierung gepaart mit einer fundamentalistischen Ablehnung, die in den USA besonders stark ist, ist ihre ökonomische Beschränktheit in den USA noch viel stärker ausgeprägt als in anderen imperialistischen Ländern, z. B. in Europa.

Wer sind denn nun die Träger:innen an der Basis?

Jede dumme Idee braucht noch „Dümmere“, die sie tatsächlich umsetzen. Oder besser gesagt diejenigen, die das Leben für Frauen jetzt immer weiter zur Hölle machen, sind die radikalen Bauernopfer einer populistischen, letztlich nicht minder kapitalistischen Politik.

Sicherlich gibt es auch den Typ „klassischer“ Frauenschläger, der seinen Frust an ihnen rundum auslässt und, ohne groß darüber nachzudenken, sexistische Sprüche klopft. Allerdings hat es in den letzten Jahren einen weltweiten Backlash gegeben, der zu einer starken Politisierung des Frauenhasses geführt hat. Sicherlich ist geschlechtliche Diskriminierung der Frau dem Kapitalismus inhärent. Das hängt, wie Engels es einst beschrieb, mit patriarchalen Strukturen und der bürgerlichen Familie zusammen. Derzeit jedoch spitzt sich dieses Phänomen zu und wird unter dem Sammelbegriff „Antifeminismus“ gefasst. Hierbei geht es nicht nur gegen Vertreter:innen einer bürgerlichen oder radikal-kleinbürgerlichen Frauenbewegung, sondern gegen sämtliche Errungenschaften der Frauenrechte und Frauen per se.

Die Erosion und Krise der bürgerlichen Kernfamilie – selbst Resultat der Entwicklung des Kapitalismus – unterminiert natürlich auch die scheinbar natürliche Vorherrschaft des (weißen) Mannes. Ideologisch wird dieser Zusammenhang gleich mehrfach auf den Kopf gestellt. Erstens wird die bürgerliche Kleinfamilie selbst als überhistorisches Phänomen idealisiert. Damit werden auch gleich die Stellung des Mannes, die reaktionären Geschlechterrollen und binäre Geschlechtsidentitäten naturalisiert. Zweitens wird daraus gefolgt, dass jeder „Angriff“, jede Reform im Interesse von Frauen, trans Personen, aber im Grunde auch aller unterdrückten Klassen ein Anschlag auf eine natürliche Ordnung wäre, an deren Spitze der weiße Cismann stünde. Auch wenn dieser im globalen Kapitalismus gegenüber den wirklich Herrschenden nicht viel zu melden hat, so kann er wenigstens noch „privat“ nach unten treten.

Gruppierungen des radikalen Antifeminismus

Diese ohnmächtige, aber umso rabiatere und brutalere Wut zeigen auch die Hauptströmungen dieses Antifeminismus in den USA: Extreme Rechte, religiöse Fundamentalist:innen und Incels. Als rechte Populist:innen bis hin zu Faschist:innen sind erstere die radikalste Ausprägung des Kleinbürger:innentums. Eine Schicht, die ständig in der Angst lebt abzurutschen, in der Konkurrenz an die Wand gedrückt zu werden, zugleich aber besonders starr am Privateigentum klebt. Die dazugehörige Ideologie ist dementsprechend radikal frauenfeindlich, gepaart mit einer rassistischen und völkischen Konnotation.

Dabei wird die „Marginalisierung“ und angebliche „Diskriminierung“ der weißen Bevölkerung durch Afroamerikaner:innen, Latinas und Menschen aus Asien herbeiphantasiert. Dies fällt in den USA aufgrund der Sklaverei und Migration auf fruchtbaren Boden, wobei die Geschichte der weißen europäischen Kolonisation ausgeblendet wird. Die rassistische Vorstellung des „großen Austausches“, die sich vor allem gegen Muslime/a richtet – bildet das „europäische“ Gegenstück zu den Vorstellungen der US-Rechten.

Damit erscheinen Antidiskriminierungsgesetze in den USA als Mittel zur Zurückdrängung der „weißen Rasse“. Wie wirkmächtig diese Vorstellung mittlerweile ist, zeigen die jüngsten Urteile des Obersten Gerichts in den USA.

Eine andere radikale, männliche Ausprägung sind sog. Incels (ungewollt zölibatär lebende Männer), die sich in den letzten Jahren u. a. in Internetforen radikalisiert haben. Sie sehen es als ihr Recht an, Sex mit Frauen zu haben, inszenieren sich als Opfer von Frauenrechten und schrecken auch vor Gewalt nicht zurück. Attentate wie das in Atlanta haben das gezeigt. Auch der Trend hin zu Femiziden und die Glorifizierung von sog. „Pickup-Artists“ macht das (Über-)Leben von Frauen und Queers immer schwieriger.

Diese Entwicklungen verbinden sich mit dem wachsenden Einfluss von fundamentalistischen evangelikalen Gruppierungen. Ideologisch begründen sie ihren reaktionären Wahn mit einer biblisch vorgeschriebenen Unterordnung der Frau und faseln vom „Schutz ungeborenen Lebens“. Der Einfluss dieser Gruppe in den USA ist viel zu groß, als dass man sie unterschätzen könnte. An ihnen hängen Kapital und Infrastruktur vom Krankenhaus bis zur Universität und enormer politischer Einfluss.

Das Thema Abtreibung zeichnet in diesen Kreisen eine besonders bittere Note. Von jungen Menschen bzw. allen, die unverheiratet sind, wird oft erwartet, keusch bis zur Ehe zu leben. Gelingt das doch nicht, muss vorher muss geheiratet werden, um den Schein aufrechtzuerhalten. Doch auch ohne dass bereits ein Kind unterwegs ist, ist Sex ein Grund zur Heirat. Kein Wunder also, dass die Menschen früh heiraten und das, ohne wahrscheinlich je aufgeklärt worden zu sein über konsensualen Sex.

Nicht in allen US-Staaten gilt eine Altersgrenze fürs Heiraten. So ist es möglich, dass Mädchen mit Einwilligung der Eltern bereits verheiratet werden. UNICEF hat zwischen 2000 und 2015 mindestens 200.000 Kinderehen in den USA gezählt. Noch schlimmer für die Mädchen ist, dass Gesundheitsrechte in fundamentalistischen Kreisen oft noch eingeschränkter sind oder ihnen ganz verwehrt werden. Der Einfluss der evangelikalen Gruppierungen ist besonders stark im sog. Bible Belt, dessen Kern die ehemaligen Südstaaten bilden.

Der Sturm auf das Kapitol 2021 hat gezeigt, wie präsent, laut und gewaltbereit die US-amerikanische Rechte ist, wie gut vernetzt und wie breit ihr Spektrum. Es ist wahrscheinlich schwer auszumachen, wer genau zu welcher dieser drei Hauptgruppen gehört, da die Überschneidung der Ideologie zu einer Mainstreambewegung geführt hat, v. a. in den USA.

Warum es erstmal schlimmer wird, bevor es vielleicht besser werden kann

Der bürgerliche Liberalismus und die Demokratische Partei Bidens wollen die bürgerliche Familie durch Reform „modernisieren“ und geben sich so als Verteidiger:innen der Frauenrechte, ohne jedoch die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Unterdrückung anzutasten.

Die US-amerikanische Rechte will hingegen das Rad der Geschichte zurückdrehen. Der Kampf gegen das Recht auf Abtreibung und andere Frauenrechte erscheint als „Kulturkampf“, hinter dem sich ein Erzwingungs- und Überlebenskampf des Patriarchats in extremer Ausprägung verbirgt.

Erzwingung insofern, als es den radikalsten Männern schon lange egal ist, ob eine Frau wirklich Interesse an ihnen zeigt oder nicht. Desinteresse wird als Niederlage angesehen – eine, die der weiße Cismann nicht ertragen kann und die es daher eigentlich gar nicht gibt. Kein Wunder also, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur weit verbreitet ist, sondern diese auch zunehmend – in Deutschland jüngst von einem Drittel der befragten Männer – gerechtfertigt wird.

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung wird gleichzeitig zum Überlebenskampf von Frauen. Es geht um Selbstbestimmung und ihren Platz in der Gesellschaft. Der Kampf um Abtreibung bildet dabei auch einen zur Verteidigung bzw. Rückeroberung weiblicher Selbstbestimmung.

Zum Kampf gegen Angriffe auf Frauenrechte braucht es allerdings eine Massenbewegung von Frauenorganisationen, der LGBTIAQ- und antirassistischen Bewegung, von Linken und Gewerkschaften. Um konservativen, rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international.

  • Schluss mit den Angriffen auf Flintas!

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!

  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung!

  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!

  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



Interview zur Lage in Kurdistan

Interview mit Gulistan, Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland, Infomail 1223, 27. Mai 2023

Morgen, am 28. Mai, findet die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Das folgende Interview wurde bereits vor der ersten Runde gemacht. Es kann daher nicht auf den Ausgang des ersten Wahlgangs eingehen, wirft aber ein deutliches Licht auf das Erdogan-Regime, seine Verbindungen zum westlichen Imperialismus und die Lage in Kurdistan. Auch wenn wir nicht alle Positionen der Interviewten teilen, so halten wir es für notwendig, authentische Berichte auch auf dieser Seite zu verbreiten.

Wir haben Gulistan von YJK-E (Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland) zu einem Gespräch getroffen. Sie ist in München geboren, aber ihre Wurzeln liegen in den von der Türkei besetzen Gebieten in Nordkurdistan.

Sie bezeichnet sich selbst als Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte.

arbeiter:innenmacht: Was ist es für eine Struktur, in der du aktiv bist? Welchen Austausch gibt es mit Kurd:innen international?

Gulistan: Unser vollständiger Name lautet „Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland e. V.“. Wir kurdischen Frauen sind bundesweit mit lokalen Vereinen in jeder größeren Stadt als YJK-E vertreten. International gehören wir der Dachorganisation „Kurdische Frauenbewegung in Europa“ an. Als Verein sind wir außerdem Teil der TJK-E.

Unsere Frauenstrukturen sind zwar größtenteils kurdisch, aber auch offen für Frauen türkischer Herkunft und alle, die sich einbringen möchten.

In München haben wir etwa 20 aktive Mitglieder, die kurdische Community ist jedoch wesentlich größer. Unser Verein ist hier gut vernetzt und beteiligt sich u. a. an Bündnissen zum 8. März oder 25. November (Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen), aber auch an weiteren Aktionen mit Bezug zu frauenpolitischen Themen.

Einmal im Jahr treffen sich unsere lokalen bzw. nationalen Verbände zu einer internationalen Konferenz. Dieses Jahr fand sie in Hamburg statt und fast die ganze Welt war zugegen, was uns wegen der teils schwierigen Lage vor Ort besonders freut.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet unsere Öffentlichkeitsarbeit mit Fokus auf Kurdistan und hier insbesondere Rojava.

arbeiter:innenmacht: Rojava ist vielen Aktivist:innen in Deutschland ein Begriff. Bitte schildere uns aus deiner Sicht, durch was es sich auszeichnet!

Gulistan: In Rojava, bestehend aus den 3 Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê, wird Basisdemokratie gelebt!

Die Schriften Abdullah Öcalans bilden die Grundlage unserer politischen Arbeit. Die von ihm formulierten Thesen zu (Basis-)Demokratie und Alternativen zum Kapitalismus, Frauenbefreiung und Ökologie bilden auch die 3 Säulen, die beim Aufbau und im Kampf um Rojava eine zentrale Rolle einnehmen.

Trotz des anhaltenden Krieges der Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ gegen den IS und den türkischen Staat ist eine autonome Region entstanden, die als eine Art Räterepublik konzipiert und nach dem Prinzip des demokratischen Konföderalismus aufgebaut ist. Das bedeutet, dass jede/r stimmberechtigt ist, um die jeweilige Kommune nach seinen/ihren Bedürfnissen aufzubauen, frei von jeder Machtherrschaft. Die Menschen stimmen z. B. über Wasserversorgung oder Weizenanbau ab, was in dieser Region (über)lebenswichtigen Entscheidungen gleichkommt.

Im täglichen Leben der Menschen vor Ort zeigt sich dabei auch die Verbindung politischer und ökologischer Fragestellungen. Efrîn z. B. verfügt über mediterranes Klima und ist daher besonders für den Anbau von Oliven geeignet. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, dort Kooperativen zu gründen. Die vorhandenen Ressourcen werden mit Rücksicht auf die Natur genutzt, nach den Bedürfnissen der Menschen anstatt wie in der kapitalistischen Verwertungslogik durch Ausbeutung von Mensch und Natur unter Profitzwang.

In Sachen Frauenbefreiung hat unsere Revolution schon früh begonnen. Bereits in den 1980er Jahren, kurz nach Gründung der PKK, haben sich Mädchen, die nicht wie vorgesehen verheiratet werden wollten, dem Kampf angeschlossen. Es entstand eine Bewegung, die wiederum eine eigene Dynamik entwickelt und Frauen dazu gebracht hat, Forderungen nach Selbstbestimmung zu formulieren. Schon Öcalan hat dazu formuliert und aufgerufen, dass Frauen sich eigenständig organisieren. Zusätzlich zu den eigenen Strukturen haben wir kurdischen Frauen uns auch in Seminaren ideologisch gebildet und führen nun seit mehr als 40 Jahren den Kampf weiter, den unsere Schwestern begonnen haben.

Uns ist es wichtig, Sichtbarkeit zu schaffen und zu verdeutlichen, warum dieser Kampf Menschen und besonders Frauen weltweit betrifft und deshalb interessieren sollte.

Im Kampf der Frauen in Iran wird deutlich, was auch Öcalan bereits formuliert hat: „Jin – Jiyan – Azadi“ ist für uns nicht nur ein Slogan, sondern eine Lebensweise, Lebenseinstellung, eine grundsätzliche Haltung.

Der Befreiungskampf in und um Rojava steht für uns deshalb stellvertretend für alle emanzipatorischen Bewegungen und soll ein Exempel statuieren, indem er Aufmerksamkeit für die gesamte Weltregion erzeugt.

arbeiter:innenmacht: Welche Auswirkungen hatte das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien? Es gab eine große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, auch aus Deutschland.

Gulistan: ANF (kurdischer Nachrichtendienst) Deutsch berichtet von 250.000 Toten, die türkische Regierung hingegen gibt offizielle Zahlen um die 50.000 heraus. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele der nicht geretteten und gestorbenen Menschen weiterhin unter Trümmern begraben liegen und bisher keine Bergung stattgefunden hat.

Es gab zusätzlich viele Tote durch Erfrierungen. Sofern sie konnten, sind die Menschen zu Verwandten in andere Metropolen oder Nachbarstädte geflohen.

Als Sofortmaßnahmen sind zwar Zeltstädte entstanden, diese sind aber keine Dauerlösung, da es dort keinen stabilen Zugang zu Wasser, Strom, Medikamenten und Nahrung gibt.

Von der AFAD (türkische Katastrophenschutzbehörde) als zuständiger und dem Innenministerium beigeordneter Organisation kam nicht die erforderliche Hilfeleistung.

Stattdessen hat die Zivilbevölkerung Nothilfe geleistet. Auch viele Menschen aus Deutschland mit Familie oder Verbindungen vor Ort haben hier Menschen bei sich aufgenommen und eine enorme Solidarität gezeigt.

Dies ist umso wichtiger, da das AKP-Regime Konvois daran gehindert hat zu passieren und Hilfsgüter beschlagnahmt hat. Um diesen Kontrollen zu entgehen, haben einige Konvois die türkische Fahne angebracht, um auf diese Weise getarnt durchgewunken zu werden.

Mehr als eine Woche lang kam keine Hilfe an, was nur zum Teil der korrupten AKP-Regierung geschuldet ist. Seit dem letzten schweren Beben 1999 wird zwar speziell für solche Fälle eine Steuer erhoben, die Kassen sind aber leer und es wurden keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen. Es gibt auch viel zu wenig Personal, welches schlecht geschult ist. Die Gelder sind versickert und vermutlich zu einem großen Teil in die türkische Kriegsmaschinerie sowie die Unterstützung des IS geflossen.

Aus diesem Grund hat die kurdische Community gezielte Spendenaufrufe für Medico International, Ärzte ohne Grenzen und den Kurdischen Roten Halbmond gestartet. Letzterer wurde 1993 als kurdische Nichtregierungsorganisation bewusst unabhängig vom türkischen Staat gegründet. Bisher sind weltweit allein dort rund 2 Millionen Euro an Spenden eingegangen.

Das Ausmaß an Korruption und die zynische Skrupellosigkeit der türkischen Regierung zeigen sich auch daran, dass Spenden an DITIB-Moscheen und andere türkische Institutionen bei Erdogan gelandet sind anstatt bei den Menschen, die dringend Hilfe benötigen (DITIB: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.).

Das Erdbeben am 6. Februar 2023 war eine Naturkatastrophe, aber eine korrupte Regierung ist keine Naturkatastrophe. Man kann und muss etwas gegen sie unternehmen.

arbeiter:innenmacht: Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die türkischen Präsidentschaftswahlen?

Gulistan: Für mich ist klar, dass diese Wahlen weder demokratisch noch frei sind.

Interessant im Vergleich zu früheren Wahlen ist aber, dass durch das schwere Erdbeben viele Menschen die Verlogenheit und Korruption des Regimes erkannt haben. Sie haben die oben beschriebene Selektion bei der Vergabe von Hilfen bemerkt, wodurch die Spaltung zwischen Kurd:innen und Türk:innen sichtbarer denn je wurde. Die Menschen selbst waren untereinander solidarischer als die Politik, die selektiert und in großen Teilen versagt hat.

Eine wichtige Rolle spielt auch das Parteiverbot der HDP (Demokratische Partei der Völker; linksgerichtete Partei in der Türkei, die sich für Minderheitenrechte insbesondere der Kurd:innen einsetzt). Dies ist raffiniert, weil ein Vorgespräch bei Gericht und die Verhandlung erst nach den Wahlen angesetzt sind. Wegen anhaltender Repression wurde schon vor einigen Jahren die Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei; YSP) als Alternative zur HDP gegründet. Diese grüne Linkspartei ist zur Wahl zugelassen und konnte antreten, unabhängig vom Ausgang des Gerichtsverfahrens gegen die HDP. Es gab daher den Aufruf an alle Kurd:innen, diese Partei zu wählen.

Aus den genannten Gründen wird dieses Mal ein knapper Wahlausgang prognostiziert. Erdogan wird aber sicher alle Hebel in Bewegung setzen, um durch Manipulationen das Ergebnis zu seinen Gunsten zu drehen. Er wird seinen Posten nicht einfach räumen.

Erwähnenswert ist noch, dass die YSP international um unabhängige Wahlbeobachter:innen gebeten hatte, dies aber vom EU-Parlament abgelehnt wurde. Leider zeigt sich auch hier der Einfluss des Erdogan-Regimes und seine Verflechtungen auf internationaler Ebene. Die Türkei wollte dies schlicht nicht. Doch auch ohne unabhängige Wahlkommission sind solidarische Menschen als Delegation ins Land gereist und haben diese Aufgabe übernommen.

arbeiter:innenmacht: Die kurdische Geschichte ist stark von Krieg und Vertreibung geprägt. Inwiefern sind auch Deutschland, die EU und die NATO daran beteiligt?

Gulistan: Man darf die Interessen der einzelnen Länder untereinander nicht vergessen. Noch im Osmanischen Reich, schon vor dem Genozid an den Armenier:innen, gab es enge Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei. An der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wird dies am deutlichsten: Rund 7.000 deutsche Unternehmen profitieren von Steuervorteilen in der Türkei.

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Zugeständnisse der Vergangenheit durch die EU als Ganzes sowie einzelne europäische Staaten Erdogan erst dazu verhalfen, der Autokrat und Diktator zu werden, der er heute ist.

Der sogenannte Flüchtlingsdeal zwischen Deutschland und der Türkei sowie der Krieg gegen kurdische Gebiete, den die Türkei mit ihren NATO-Verbündeten führt, zeigen deutlich, dass es nicht Erdogan alleine ist, der Politik gegen uns Kurd:innen und andere Gruppen oder Minderheiten betreibt. Er ist vielmehr Mittel zum Zweck: Erdogan und seine AKP sind gewissermaßen die Türsteher:innen des Nahen Ostens. Erdogan hat eine Schlüsselfunktion darin, was er zulässt und was nicht.

Daher wird der völkerrechtswidrige Krieg von Erdogan gegen kurdische Gebiete nicht von Deutschland kritisiert. Vielmehr lässt man ihn gewähren.

Wir Kurd:innen in der Diaspora merken das sehr: Angela Merkel oder Olaf Scholz z. B. können sich ja schlecht hinstellen und sagen, dass sie Blut an ihren Händen kleben haben. Trotz vermeintlichen Stopps von Waffenlieferungen gab und gibt es diese weiterhin. Dies wurde nicht zuletzt durch die Recherchearbeit kurdischer Aktivist:innen und Politiker:innen aufgedeckt.

Allgemein kommen kurdische Anliegen sehr wenig in deutschen Medienberichten vor, hauptsächlich dann, wenn es wirklich schwerwiegende Angriffe in der Region gibt. Es müsste ein wesentlich größeres Politikum sein, wenn Menschen in Iran und auch im Nordirak bei Drohnenangriffen getötet werden.

Im Schatten des Kriegs Russlands gegen die Ukraine und mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen hat Erdogans korruptes und faschistisches Regime das Gebiet um Rojava unter Beschuss genommen. Dabei kommen nachweislich auch Chemiewaffen zum Einsatz, die teilweise von Deutschland bzw. deutschen Rüstungsfirmen geliefert wurden.

Unser Anliegen ist daher auch, gezielte Kriegsgewalt gegen Zivilist:innen überall auf der Welt sichtbar zu machen und zu versuchen, sowohl Femizide als auch Ekozide, also Verbrechen an Natur und Umwelt, zu stoppen.

arbeiter:innenmacht: Wie beurteilst du die Bedingungen für eure politische Arbeit?

Gulistan: Bundesweit erleben wir Kurd:innen allgemein und wir Aktivist:innen im Besonderen eine Verstärkung von Repression. Dies ist aber nur die Fortsetzung einer anhaltend strikten Vorgehensweise gegen uns Kurd:innen.

In München gab es Probleme mit der Präsidentschaftswahl, da das türkische Konsulat uns Kurd:innen vielfach als nicht wahlberechtigt anerkannt hat. Wahllokale wurden nicht geöffnet und Menschen, die als Aktivist:innen bekannt sind, wurden aktiv am Wählen gehindert.

Wenn kurdische Personen z. B. die Versammlungsleitung bei Demonstrationen übernehmen, kommt es immer wieder vor, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung oder der Pass nicht verlängert wird. Dadurch werden wir Kurd:innen in Deutschland illegalisiert. Das türkische Regime setzt die deutsche Regierung über seine Konsulate stark unter Druck.

Auslieferungen eben auch politischer Gefangener zwischen Deutschland und der Türkei finden regelmäßig statt. Die Zusammenarbeit deutscher mit türkischen Geheimdiensten ermöglicht erst die bundesweite Repression gegen Kurd:innen.

Menschen, die mutig sind und sich zeigen, setzen sich der Gefahr aus, dass neben dem türkischen Staat auch die Bundesrepublik mit Ablehnung und, schlimmer, Repressalien reagiert.

Dies dient eindeutig der Einschüchterung der kurdischen Bewegung als Ganzer und soll unseren Widerstand klein halten oder gar brechen.

arbeiter:innenmacht: Was sind angesichts der vielen Brandherde in der Welt eure aktuellen Schwerpunkte? Was hoffst du persönlich, mit deinem politischen Engagement zu bewirken? Was ist dein wichtigster Appell?

Gulistan: Aktuell liegt unser Fokus auf unseren gemeinsamen Kämpfen mit „Women Defend Rojava“. Wir sind außerdem Teil der Initiative „Defend Kurdistan“. Vor kurzem begann im Rahmen unserer internationalen Konferenz auch unsere Kampagne „1.000 Gründe, den Diktator anzuklagen“. Anlässlich der Wahlen in der Türkei haben wir u. a. nochmals kritisiert, dass Erdogan verfügt hat, aus der internationalen Istanbulkonvention für Frauenrechte auszutreten.

Unser Anliegen ist, die Vernetzung sowohl kurdischer Frauen untereinander als auch den gemeinsamen Kampf für unsere Ziele mit anderen Organisationen voranzutreiben. Für uns als Internationalist:innen bedeutet das, weltweit unsere Forderungen zu vertreten und ein Bewusstsein für unsere Themen zu schaffen. Ein wichtiger Schritt für uns Kurd:innen ist dabei, an politischem Einfluss zu gewinnen und dadurch die Möglichkeit zu bekommen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Ich persönlich wünsche mir für alle Menschen ein würdevolles Leben in Freiheit, Gleichberechtigung und eine Welt ohne Kriege.

Wir haben eine einzige Welt, machen wir das Beste daraus!

arbeiter:innenmacht: Wir danken dir für das Gespräch und freuen uns über die weitere solidarische Zusammenarbeit.




Skizze der Weltlage

Emilia Sommer, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Nach der Pandemie Luft holen? Kaum möglich. Das letzte Jahr bot ein breites Repertoire an kapitalistischen Krisensymptomen. Angefangen mit dem noch immer anhaltenden Krieg in der Ukraine über große Aufstände wie im Iran oder in Sri Lanka, die mit massiver und gewaltsamer Repression bekämpft wurden und immer noch werden, bis hin zur Inflation und damit einhergehenden massiven Preissteigerungen. Als ob das nicht genug wäre, so merken wir schon jetzt sehr deutlich die Auswirkungen des Klimawandels wie beispielsweise bei der Flut in Pakistan, die im Spätsommer 2022 ein Drittel der Landesfläche überflutete. Es scheint, als würde eine Krise die nächste jagen, und dazwischen gibt es keine Zeit zum Aufatmen. Doch warum ist das so? Woher kommt das und wie wirkt es sich auf die ohnehin prekäre Lage von Frauen aus?

Es herrscht Krise – aber warum?

Ökonomische betrachtet, besteht der zentrale Grund für die gegenwärtige Krisenperiode darin, dass die Ursachen der Finanzkrise 2007/08 nie gelöst wurden. Die Regierungen haben nur deren Auswirkungen im Zaum gehalten. Im Kapitalismus erfordern Krisen eigentlich die Vernichtung von überschüssigem Kapital, um einen neuen Wachstums- und Expansionszyklus einzuleiten. Doch das hätte auch die Vernichtung von industriellem und Finanzkapital aus den imperialistischen Metropolen in großem Stil erfordert.

Stattdessen wurden sie mit der Politik des „billigen Geldes“ und massiven Schulden gerettet. Die Krisenkosten wurden durch soziale Kürzungen, steigende Preise und die Ausdehnung prekärer Arbeit (wie zum Beispiel Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse) auf den Rücken der Arbeiter:innenklasse abgewälzt – und natürlich auch auf die bäuerlichen Massen im globalen Süden.

Die Niedrigzinspolitik, die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, eine massive globale Verschuldung und viele weitere „Maßnahmen gegen die Krise“ schafften es nicht, eine neue ökonomische Dynamik zu entfachen, und die Wirtschaft stagnierte. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass nun der Spielraum, die aktuelle Situation abzufedern, wesentlich geringer ist.

Durch die Coronapandemie wurde die sich vorher schon anbahnende erneute Wirtschaftskrise ausgelöst und massiv verschärft. Denn durch das Virus haben sich die Finanz- und die Gesundheitskrise synchronisiert. Im Zuge dessen stieg die Verschuldung auf das Dreifache des Welt-BIP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder). Die Verwertung des Kapitals stagniert und es kommt zu einer zunehmenden Blasenbildung (Ausdehnung des spekulativen und fiktiven Kapitals).

Das Ergebnis: massiv steigende Konkurrenz zwischen imperialistischen Kräften im Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Denn niemand verfolgt das Interesse, als „Krisenopfer“ von anderen übertrumpft zu werden. In diesem Zusammenhang muss auch die reaktionäre russische Invasion in der Ukraine betrachtet werden. Die Karten der internationalen Beziehungen werden neu gemischt und zugleich haben sie erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung.

Dabei konnte die NATO unter Führung der USA ihre eigenen Interessen stärken und beispielsweise den Block der EU dazu bringen, die Wirtschaftsbeziehungen gegenüber dem russischen Imperialismus auf Eis zu legen. Durch den Krieg sowie die Sanktionen der G7 sind die Folgen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung weit über Europa spürbar. Insbesondere die Inflation befeuert die aktuelle Lage.

Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES), internationalen Wirtschaftsexpert:innen, bis 2026 anhalten könnte. Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. In 50 asiatischen und afrikanischen Ländern ist die Ernährungssicherheit gefährdet. Infolge der erneut gestiegenen Lebensmittelpreise sind Hungersnöte und Hungerkrisen neben Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse weltweit zu erwarten, was wiederum Regierungskrisen wie in Sri Lanka befeuert.

Konkrete Verschlechterung

Wie bereits geschrieben, hat die Coronapandemie  eine weltweite Krise ausgelöst, die die Situation der Frauen massiv verschlechterte. Dabei haben sie beispielsweise in  informellen Beschäftigungsverhältnissen schon während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Weltweit ging die Beschäftigung von Frauen zwischen 2019 und 2020 um 4,2 % zurück, während sie bei Männern um „nur“ 3 % sank, so ein Kurzbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2021. Darüber hinaus haben die Doppelbelastung durch Carearbeit und die Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen.

Das Problem an der aktuellen Lage besteht darin, dass vielerorts der Stand vor der Pandemie nicht wieder erreicht worden ist. Der Krieg in der Ukraine, der die Preissteigerungen befeuert, verschärft also die Situation erneut. Der Zustand einzelner Bereiche wie die Belastung in der häuslichen Carearbeit hat sich zwar gebessert, dennoch gibt es viele, in denen es zu einer Überlappung der Krisenfolgen kommt oder die Auswirkungen sich erst später bemerkbar machen wie beispielsweise bei der Frage der Altersarmut.

Beschäftigung und Armut

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gibt in ihren Trends für 2023 an, dass Frauen und junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter dastehen als der Durchschnitt der Lohnabhängigen. Weltweit lag die Erwerbsquote der Frauen im Jahr 2022 bei 47,4 Prozent, während sie bei den Männern 72,3 Prozent betrug. Dieser Unterschied von 24,9 Prozentpunkten bedeutet, dass auf einen nicht erwerbstätigen Mann zwei nicht erwerbstätige Frauen kommen. Konkret bedeutet das, dass mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden und nun einen schwereren Einstieg haben.

Längerfristig verstärkt dies die kaum verwunderliche Tendenz, dass weltweit Frauen  häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Hinzu kommt eine generelle verstärkte Altersarmut bei Frauen, die dadurch begünstigt wird, dass sie weniger im gleichen Beruf verdienen, durch Schwangerschaften teilweise aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und danach meist für weniger Geld wieder integriert werden und generell häufiger in Teilzeitbeschäftigung gedrängt werden und somit weniger verdienen, um die Reproduktionsarbeit im Haushalt verrichten zu können.

Inflation und Energiepreise

Die aktuelle Lage mit der Teuerung von Lebensmitteln sowie Energiepreisen bedeutet, dass Frauen zum einen verstärkter in Armut leben. Im April 2022 publizierten die Vereinten Nationen den Bericht „Global Gendered Impacts of the Ukraine Crisis on Energy Access and Food Security and Nutrition“. Hieraus geht eindeutig hervor, dass der Ukrainekrieg global die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie massiv verschlechtert hat. Dies liegt an der Schlüsselrolle Russlands und der Ukraine auf den globalen Märkten für Energie und Grundnahrungsmittel.

So sind die Lebensmittelpreise seit Januar 2022 um über 50 Prozent gestiegen, während Rohöl um über 33 Prozent teurer geworden ist. Über 90 Prozent des Weizens in Armenien, Aserbaidschan, Eritrea, Georgien, der Mongolei und Somalia wurden aus Russland und der Ukraine importiert. Dadurch sind diese Länder in hohem Maße von Ernährungsunsicherheit bedroht. Außerdem bildet die Ukraine eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm (WFP), das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt. Dabei ist zu betonen, dass dieser Engpass langfristig auftreten wird. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 Prozent der ukrainischen landwirtschaftlichen Flächen aufgrund des Krieges nicht mehr nutzbar sind. Hinzu kommen schlechtere Ernten durch fehlende Kapazitäten, Felder instand zu halten, was die Situation perspektivisch verschärfen könnte.

Carearbeit – bezahlt und unbezahlt

Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegesektor ein wichtiges Beschäftigungsfeld für Frauen dar. Das wird auch deutlich, wenn man sich die Studie der ILO „The gender pay gap in the health and care sector: A global analysis in the time of COVID-19” aus dem Jahr 2022 genauer ansieht. Ihr zufolge liegt der Anteil der Arbeitskräfte im Gesundheits- und Pflegesektor an der weltweiten Gesamtbeschäftigung bei 3,4 % und ca. 67 % aller Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Herauszustreichen ist dabei, dass der Durchschnittsverdienst in diesem Sektor niedriger ausfällt als in anderen Segmenten des Arbeitsmarktes. Hinzu kommt, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle mit 24 % im Durchschnitt höher ist als in anderen Sektoren, was darin begründet liegt, dass auch hier Frauen wesentlich stärker in den schlecht bezahlten Bereichen arbeiten sowie miesere Bedingungen für den Wiedereinstieg nach einer Schwangerschaft vorfinden. Betont sei, dass die Pandemie die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Situation in Krankenhäusern spitzt sich weiter zu.

Ebenso angespannt war sie bezüglich der unbezahlten Reproduktionsarbeit. Besonders betroffen waren hierbei Eltern sowie jene, die Angehörige zu Hause pflegen, durch den Wegfall von Schulen, Kitas und weiteren Unterstützungsangeboten. Dabei gaben  Mütter fast dreimal so häufig wie Väter an, dass sie den Großteil oder die gesamte zusätzliche unbezahlte Betreuungsarbeit aufgrund Schließung von Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen übernommen haben: 61,5 % der Mütter von Kindern unter 12 Jahren geben an, dass sie den größten Teil oder die gesamte zusätzliche Betreuungsarbeit übernommen haben, während nur 22,4 % der Väter tun. So ist es kaum verwunderlich, dass besonders diese Mütter die Gruppe verkörpern, die zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem dritten Quartal 2020 im Durchschnitt der OECD-Länder am ehesten von der Erwerbstätigkeit in die Nichterwerbstätigkeit wechselten. Zwar hat sich die Situation unmittelbar durch die Öffnung der Betreuungsangebote wieder erholt. Doch die Pandemie hat die bereits existierende Kluft in der unbezahlten Reproduktionsarbeit verstärkt und durch die schlechtere Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig verschlechtert.

Warum eigentlich?

Wie wir an diesen Beispielen sehen, trifft es Frauen in Krisensituation wesentlich stärker. Denn gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Diese Arbeiten sind zwar gesellschaftlich notwendig und letztlich auch für die Reproduktion des Gesamtkapitals erforderlich, aber sie werfen meistens keinen Profit für Einzelkapitale ab. Daher drängen diese darauf, dass die staatlichen Kosten dafür als erste gekürzt oder Leistungen ausgelagert und privatisiert werden. Diese werden also „eingespart“ oder teurer und somit für die ärmeren Schichten unerschwinglich.

Statistisch trifft dies daher Frauen besonders, da sie häufiger prekäre Arbeitsplätze wie Leiharbeits- und Teilzeitstellen besetzen oder im informellen Sektor arbeiten und so Schwankungen des Arbeitsmarkts stärker ausgesetzt sind. Dies findet häufig unter dem Deckmantel von mehr Zeit für die Familie statt. In Wirklichkeit nehmen Frauen aber häufiger diese Angebote an, da sie weniger Geld als ihr Partner verdienen. und wenn es dann darum geht, wer zu Hause bleibt und Reproduktionsarbeit verrichten soll, ist das praktische Ergebnis, dass es den Part trifft, der weniger verdient. So wird die geschlechtliche Arbeitsteilung weiter reproduziert, bedeutet aber auch, dass Frauen stärker von Krisen getroffen werden.

Die Ursache des Problems liegt also in der unbezahlten Reproduktionsarbeit, die versucht wird, ins Private hineinzudrängen, sowie in der geschlechtlichen Arbeitsteilung an sich. Das Sinnbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren Stereotypen verkörpern der Mann, als Hauptverdiener und Versorger; die Frau, die sich um die Kinder kümmert.

Perspektiven

Die aktuelle Weltlage spitzt sich immer weiter zu, die Krise breitet sich aus, die Fronten der imperialistischen Mächteblöcke verhärten sich und das offene Aufrüsten derer lässt vermuten, dass sich auch in Zukunft kriegerische Auseinandersetzungen häufen könnten. Die Ausbeutung und Unterdrückung halbkolonialer Länder nimmt stetig zu und die Klimakrise scheint mit aktuellen Taktiken der Regierungen unabwendbar. Damit einhergehend verstärken sich die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und damit auch allen voran auf Frauen. Die Auswirkungen der Krise, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückung der Frau, stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich teils gegenseitig. Um gegen kommende Krisen kämpfen zu können, braucht es ein Antikrisenprogramm, mit welchem in aktuelle ökonomische und soziale Kämpfe interveniert werden muss. Doch der Kampf gegen Frauenunterdrückung, Krisen und für die Umwelt kann nur Hand in Hand mit dem gegen den Kapitalismus erfolgen.




Widerstand: Aber wie?

Leonie Schmidt / Katharina Wagner, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

In den letzten Jahren haben die weltweiten Krisen immer mehr zugenommen. Seien es zum einen die Auswirkungen der Coronapandemie, Umweltzerstörung und zunehmender Klimawandel oder zum anderen der derzeit stattfindende Ukrainekrieg mit einhergehender Inflation und Energiekrise. Ursache von alle dem: der Kapitalismus. Die Kosten und Konsequenzen werden natürlich auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse ausgetragen. Zusätzlich kommen rechtskonservative Kräfte  in vielen Ländern an die Regierung oder rechte Bewegungen erlangen mehr Relevanz. Oftmals wollen diese Kräfte traditionelle, reaktionäre Rollenbilder vertreten und das Kapital stärken.

Die Wirtschaftskrise 2007/08 hatte bereits für einen starken Rollback gegen Frauen gesorgt und die Coronapandemie diesen zusätzlich verstärkt: erstens aufgrund einer neuen Wirtschaftskrise, welche durch die zugespitzte Lage katalysiert wurde; zweitens durch die Lockdowns, welche häusliche Gewalt verstärkten, sowie die Überlastung der Pflege, in welcher ebenfalls mehrheitlich Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen nun noch der seit Februar 2022 geführte Ukrainekrieg und die damit einhergehende Energiekrise, was zusammen genommen zu weltweiter Inflation und enormen Preissteigerungen geführt hat.

Auch diesmal leisten Frauen weltweit massiven Widerstand dagegen. So zum Beispiel im Iran, wo sie seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini nach ihrer Verhaftung durch die „Sittenpolizei“ im September 2022 weiterhin ihren Protest unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadi“ (kurdisch für „Frauen, Leben, Freiheit“) gegen das religiöse, unterdrückerische Regime und die herrschende Diktatur auf die Straße tragen. Und das trotz enormer Repression, zahlreicher Verhaftungen, Folter und bereits vollstreckter Todesurteile. Mittlerweile konnten sie eine breite gesellschaftliche Unterstützung quer durch alle Altersgruppen und Geschlechter für ihren Kampf erreichen und damit enormen Druck auf das Regime ausüben.

Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November gingen ebenfalls weltweit Frauen auf die Straße, um gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen. Eine weiterer großer Aktionstag unter dem Slogan „One Billion Rising“ fand am Valentinstag statt, an dem sich weltweit rund 1 Milliarde Frauen an dem Flashmob beteiligten, um gegen Gewalt an Frauen und für Gleichberechtigung einzutreten.

Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren immer wieder große Proteste: Ob nun im Rahmen der letzten Sommer stattfindenden Verschärfungen des Abtreibungsrechts in den USA oder anlässlich des Austritts der Türkei aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen im Juli 2021  – überall auf der Welt demonstrierten Millionen Frauen für ihre Rechte.

Des Weiteren spielen Frauen auch im Kampf gegen den derzeitigen Ukrainekrieg eine zentrale Rolle. So organisieren sie in Russland beispielsweise innerhalb der Bewegung „feministischer Widerstand gegen den Krieg“ (Feminist Anti-War Resistance; FAR) vielfältige Proteste gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine.

Was all diese feministischen Proteste eint, ist, dass sie meist (spontan) um aktuelle  Vorfälle entstehen und spezifische Forderungen aufstellen. Sie werden allerdings meist nicht mit anderen bestehenden Bewegungen wie z. B. der Klimabewegung oder Kämpfen gegen Preissteigerungen und Inflation koordiniert. Daher bleiben sie häufig national isoliert und stark hinter ihren Mobilisierungsmöglichkeiten zurück.

Was brauchen wir?

Für eine internationale, erfolgreiche Frauenbewegung müssen wir anerkennen, dass der Kampf um Frauenbefreiung (und die Befreiung anderer geschlechtlich Unterdrückter) eng mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft sein muss, denn die Frauenunterdrückung wurzelt in der Klassengesellschaft und ihre materiellen Ursachen müssen abgeschafft werden, um diese selber vollständig verschwinden zu lassen.

Einen Fokus stellt dabei die Reproduktionsarbeit in der Arbeiter:innenfamilie dar, in welcher die Ware Arbeitskraft (re)produziert wird, also durch Hausarbeit, Erziehung, Carearbeit etc. Diese ist  wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus und wird vornehmlich von Frauen ausgeführt. Es ist dabei wesentlich, deren Vergesellschaftung und gleiche Verteilung auf alle selbst als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, als Kampf der gesamten Arbeiter:innenklasse.

Entgegen den bürgerlichen Vorstellungen einer alle Klassen umfassenden Frauenbewegung muss berücksichtigt werden, dass es auch unter Frauen gegensätzliche Klasseninteressen gibt und diese in einer solchen Bewegung nicht einfach „ausgeglichen“ werden können. So verfolgen Frauen des (höheren) Kleinbürgertums und der Bourgeoisie andere Interessen, wie bspw. Frauenquoten und Plätze in der Chefetage, während das für proletarische Frauen nicht relevant ist. Während letztere um existenzsichernde und gleiche Löhne kämpfen müssen, wollen bürgerliche „Schwestern“ und jene aus den gehobenen Mittelklassen diese möglichst gering halten, um die Profite und Einkommen ihrer eigenen Klasse zu sichern.

Ähnlich wie kleinbürgerliche Ideologien erkennen sie den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Privateigentum mit der Frauenunterdrückung nicht, von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ganz zu schweigen. Sie erblicken vielmehr in deren ideologischen Ausdrucksformen (Stereotypen, Geschlechterrollen, sexuellen Vorurteilen, Heterosexismus … ) die Ursache der Unterdrückung. Ihre Strategie erschöpft sich in verschiedenen Formen des liberalen, radikalen oder reformistischen Feminismus, was ihre relativ privilegierte Stellung als Kleineigentümer:innen oder Akademiker:innen (Bildungsbürger:innen) gegenüber der Masse der werktätigen Frauen widerspiegelt. Dementsprechend ist eine klare antikapitalistische Ausrichtung relevant sowie die Verknüpfung von Kämpfen der Frauenbewegung und der Arbeiter:innenklasse.

Angesichts des globalen Rechtsrucks ist es dabei unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den Produktionsprozess!

Auch wenn gefeiert worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zu dem des Mannes.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und der politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist diese Forderung für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine essentielle Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Dies kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung!

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da das Patriarchat und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße Cisfrau“ geht. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrückten in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden. So bspw. mit der Organisierung von Streiks im öffentlichen Dienst, der Umweltbewegung oder der Bewegung gegen Rassismus. Beispielsweise könnte auch der gemeinsame Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen oder den Ukrainekrieg relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen führen.

Entscheidend ist jedoch, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und Führung kämpfen.

Eng damit verbunden damit ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Eine Bewegung braucht nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in aktuellen feministischen Bewegungen und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen.  Wir müssen uns auch in aktuelle Tarifauseinandersetzungen beispielsweise im öffentlichen Dienst einschalten. Auch die Unterstützung von Klimaaktivist:innen oder Aktionen zum Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen sind eine wichtige Aufgabe von Revolutionärinnen. Zudem müssen wir unter jenen Kräften, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen ansprechen, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Indiens reaktionäres Regime und die Lage von Frauen

Jonathan Frühling, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

1,4 Milliarden Menschen zählt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Laut Prognosen des IWF könnte Indien bereits im Jahr 2027 auf Rang vier aufzurücken – und damit Deutschland überholen. Doch Größe allein bedeutet nicht Reichtum. Indien ist ein Land voller Widersprüche, ein extremes Beispiel für die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems. So entsteht das Bild einer aufstrebenden Macht, die zwischen Hightechindustrie und massiver Armut der Bevölkerung hin- und herpendelt. Im Folgenden wollen wir uns dabei die Lage von Frauen genauer anschauen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Regierung und ihres Regimes geben.

Das Regime der BJP

Seit 2014 wird das Land von der Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), einer der rechtesten Regierungsparteien der Welt, regiert. Die BJP hängt einer Ideologie an, die als Hindutva (hinduistischer Nationalismus, kurz Hindunationalismus) bezeichnet wird. Der Hinduismus wird als einzig legitime Kultur im indischen Staat angesehen. Alle anderen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Indigene und untere Kasten gelten als feindliche und schädliche oder jedenfalls als untergeordnete Elemente, die oder deren Widerstand bekämpft werden müssen. Das betrifft vor allem Muslim:innen, Kashmiri, Sikhs, Dalits (unterste Kaste) und Adivasi (Indigene).

Sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik werden als Kulturkampf inszeniert. Nach außen werden die Kulturen anderer Staaten als Gefahr angesehen, im Inneren werden die anderen Religionen, d. h. vor allem der Islam, Ziel der Hetze des Hindunationalismus. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, Feindbilder zu schaffen, um gleiche Hindu verschiedener Klassen bzw. Kasten an den Staat und seine kapitalistische und neoliberale Politik zu binden.

Denn es ist gerade die neoliberale Politik, die den Premierminister Narendra Modi Zustimmung unter den Kapitalist:innen einbringt. Während wichtige Teile des indischen Großkapitals lange in der Kongresspartei ihre politische Vertretung sahen, schwenkten in den letzten 10 – 15 Jahren fast alle Großkonzerne zur BJP um. Und diese agiert ganz in deren Interesse.

So erfolgten während der ersten Amtszeit Modis massive Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitsschutzgesetze wie die Aufhebung des Rechtsschutzes für Festanstellungen und von Arbeitszeitbeschränkungen. Doch das ist nicht alles. Im Zuge von Modis Amtszeit hat sich das politisch-gesellschaftliche Klima extrem nach rechts verschoben.

Aufrufe zum Mord an Menschen muslimischen Glaubens durch hohe hinduistische Kleriker waren nur die Spitze des Eisberges an Volksverhetzung. Diese politische Stimmung hat auch bereits schon zu Pogromen geführt, wie z. B. 2020 in Delhi. Damals griff ein hinduistischer Mob muslimische Viertel an, um Protest gegen ein antimuslimisches Gesetz zu verhindern. Es starben dabei 26 Muslim:innen und 15 Hindus.

Bei der BJP handelt es sich zwar nicht um eine genuin faschistische Organisation, aber sie stützt sich sehr wohl auf rechte faschistoide Milizen wie die Bajrang Dal (Brigade Hanuman; Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad; VHP. Diese ist wiederum auf dem rechten Flügel der Sammlungsbewegung Sangh Parivar angesiedelt) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS). Die RSS ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete hindunationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager besitzt. Sie wurde in den 1920er Jahren als antibritische, aber auch streng hinduistische und antimuslimische Organisation gegründet. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute zwischen 5 bis 6 Millionen Mitglieder zählen. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hinduorganisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP eng mit ihr verbunden ist, sich auf sie stützt und ihre Agenda bedient.

Anders als ein faschistisches Regime kamen Modi und die BJP nicht infolge der Machteroberung einer kleinbürgerlich-reaktionären Massenbewegung an die Regierung. Sie zerschlugen auch nicht die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Aber unter Modi etablierten sie einen parlamentarisch-demokratisch legitimierten Bonapartismus. Die rechten Verbände wie die RSS stellen zwar nicht den Kern der Regierungsmacht und des Staatsapparates dar, wohl aber organisierte kleinbürgerliche Hilfstruppen, vor allem gegen religiöse und nationale Minderheiten.

Während Modis Regime den großen Kapitalen enorme Zugewinne brachte und versucht, Indien in deren Interesse als Machtfaktor zu etablieren, so ist seine Regierung auch für die Masse der Frauen in Indien eine Kampfansage.

Die Lage von Frauen

Die widersprüchliche Situation innerhalb Indiens wird deutlich, wenn man die Lage von Frauen betrachtet. Aus dem Artikel „Why Indian women may lead the tech world of tomorrow“, von  Times of India am 4. Mai 2020 veröffentlicht, geht hervor, dass Frauen fast 50 % aller Studierenden im MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Bereich umfassen und Indien mit 42 % den höchsten Anteil an weiblichen MINT-Absolvent:innen auf der ganzen Welt hat.

Ihr Anteil an den Beschäftigten in Wissenschaft, Technik und technologischen Forschungsinstituten liegt aber bei nur 14 % und zeigt damit ein zentrales Problem des Landes auf. Denn sieben Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Indien noch immer gering, teilweise sogar rückläufig.

1990 waren noch 35 % aller Frauen beschäftigt. Heute sind es nur noch 25 %, womit Indien auf Platz 145 von 153 Ländern liegt. Hierbei ist anzumerken, dass diese Zahl vor allem so gering ist, da Frauen wesentlich häufiger im informellen Sektor arbeiten, also keine offiziellen Verträge (und damit einhergehenden Arbeitsschutz) haben. Interessant ist jedoch, dass der Anteil der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Städten geringer ist als in den ländlichen Gebieten, obwohl es dort eigentlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne gibt. Der entscheidende Grund dafür ist aber, dass die Familien von Kleinbauern/-bäuerinnen und Arbeiter:innen in diesen Regionen ohne weibliche Erwerbsarbeit nicht überleben könnten.

Ein ähnliches Szenario ist auch bei den alphabetisierten Frauen zu beobachten. 35,5 % aller Frauen sind Analphabetinnen (und nur 19,1 % aller Männer). Obwohl die Alphabetisierung die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, ist in den meisten Bundesstaaten nur ein geringer Anteil der gebildeten Frauen in der Stadt erwerbstätig. Auf der anderen Seite ist der Anteil der alphabetisierten Frauen auf dem Lande in verschiedenen Bereichen der bezahlten Arbeit viel höher als in den Städten.

Auch wenn keine offiziellen Zahlen verfügbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie die Situation nochmal drastisch verschlechtert hat. Mit einem Minus von 7,7 % hat die Wirtschaft in Indien deutlichere Einbußen hinnehmen müssen als in anderen Ländern. Allein der Tourismusbereich ist um rund 58 % eingebrochen. Die Arbeitslosenquote stieg von 5,3 auf 8,0 %. Die Inflationsrate ist von zuvor 3,7 auf nun 6,6 % angestiegen und extrem viele Jobs im informellen Sektor sind weggefallen.

Das zeigt schon mal eines: Frauen in Indien sind keine homogene Masse, sondern ihre Situation ist stark von ihrer Herkunft geprägt, von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit, ihrer Nationalität oder Religion. Dies kann man auch an der Frage der häuslichen Gewalt nachvollziehen. Laut Regierungsumfragen ist jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt. Besonders betroffen sind dabei Dalitfrauen, die ungefähr 16 % aller Frauen ausmachen. Sie haben beispielsweise einen sehr eingeschränkten Zugang zur Justiz und in Fällen, in denen der Täter einer dominanten Kaste angehört, herrscht für diesen weitgehende Straffreiheit. Dalitfrauen gelten daher als leichte Zielscheibe für sexuelle Gewalt und andere Verbrechen, da die Täter fast immer ungestraft davonkommen. So zeigen beispielsweise Studien, dass in Indien die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen von Dalitfrauen unter 2 % liegt, während sie bei Vergewaltigungen aller Frauen in Indien 25 % beträgt.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme: Frauen und besonders Mädchen leiden auch deutlich öfter an Mangelernährung, da es üblich ist, dass Frauen erst nach den männlichen Teilen der Familie essen und für diese oft nicht mehr genug übrig bleibt. Frauen werden massiv für ihre Menstruation diskriminiert, die als unrein angesehen wird und zum Teil sogar dazu führt, Tempel nicht mehr betreten zu können. Die Folge dieses Tabus und natürlich der Armut ist eine katastrophale Menstruationshygiene, auf die 70 % aller Unterleibserkrankungen bei Frauen zurückzuführen sind. Nur ca. 18 % aller Menstruierenden haben ausreichend Zugang zu Hygieneprodukten.

Arrangierte Ehen sind bis heute die Regel in Indien. Manche Quellen gehen von bis zu 90 % aus. Arrangiert werden die Heiraten traditionell von den Familien und Angehörigen, in den letzten Jahren aber auch zunehmend von Daitingseiten (im Auftrag beider Partner:innen), um so eine standes- und statusgemäße Heirat zu erzielen. So sind Hochzeiten von Angehörigen verschiedener Kasten bis heute mit nur rund 5 % eine Rarität, Heiraten über religiöse Grenzen hinaus sind mit nur 2 % noch seltener.

Die Lage unter der BJP

Trotz gesetzlicher Verbote wird die Gabe einer Mitgift (Geld und/oder teure Geschenke, die die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams zahlen muss) bei der Verheiratung einer Frau gesellschaftlich erwartet. Wird die Mitgift als zu niedrig angesehen, läuft die Braut Gefahr, ermordet zu werden. Ca. 25.000 Mädchen und Frauen erleiden jedes Jahr dieses Schicksal. Die Geburt vieler Mädchen kann deshalb eine Familie finanziell ruinieren. Zum Teil müssen die Frauen auch selbst jahrelang arbeiten, um die Mitgift an die Familie des Mannes selbst bezahlen zu können.

Die Folge dieses Umstandes ist, dass Mädchen häufig abgetrieben oder geborene getötet werden. 52,1 % aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sind Jungen. Dieses Problem versuchte die Modi-Regierung, seit 2015 mit der Kampagne „Beti Bachao, Beti Padhao“ (Rettet die Tochter, erzieht die Tochter) zu adressieren. Dass dies jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, zeigen die Daten der Regierung selber. Mehr als 56 % der Gelder wurden von 2014/15 bis 2018/19 für „medienbezogene Aktivitäten“ ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden weniger als 25 % der Mittel an die Bezirke und Staaten ausgezahlt und über 19 % von der Regierung gar nicht erst freigegeben.

Dies fasst die Politik der BJP recht gut zusammen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob in Modis Regime Frauen einen Platz haben. So wurden in seiner Amtszeit auch teilweise Gesetze verabschiedet, die ihre Situation punktuell verbessern. 2021 wurde das Gesetz über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch (MTP) abgeändert. Zwar sind Abtreibungen in Indien seit 1971 legal, allerdings nur unter bestimmten Vorraussetzungen. Diese wurden im Rahmen der Reform abgeändert. Beispielsweise ist es nun auch für unverheiratete Frauen möglich, legal abzutreiben. Ebenso wurden die Beratungsbedingungen angepasst, sodass es nun möglich wäre, dass Frauen statt nur bis zur 20. bis zur 24. Schwangerschaftswoche abtreiben können. 2017 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den bezahlten Mutterschaftsurlaub von 12 auf 26 Wochen für Beschäftigte aller Unternehmen, die mehr als 10 Mitarbeiter:innen beschäftigen, verlängert. Dies gilt jedoch nur für die ersten beiden Kinder, danach verkürzt sich die Elternzeit wieder auf 12 Wochen.

Doch fundamental verbessern diese Gesetze die Situation von Frauen nicht. Anrecht auf Kinderbetreuung haben beispielsweise nur Frauen, die in Betrieben mit 50 oder mehr Beschäftigten arbeiten. In einem Land, in dem ein großer Teil der weiblichen Erwerbstätigen entweder selbstständig ist oder im informellen Sektor arbeitet, führen diese Bedingungen zwangsläufig dazu, dass viele Frauen von den Leistungen (wie auch bei MBAA, der Reform zum Mutterschaftsurlaub) ausgeschlossen werden.

In der Praxis führt das jedoch dazu, dass laut einer Umfrage von India Today-Axis My India (das Meinungsforschungsinstitut, das die Ergebnisse der nationalen Wahlen im Mai 2019 am genauesten vorhersagte) 46 % der Frauen für die BJP und ihre Verbündeten stimmten, 27 % für den Kongress und seine Verbündeten und 27 % für andere Parteien. Im Vergleich dazu stimmten 44 % der Männer für die BJP und ihre Verbündeten. Bei der letzten Wahl stimmten also mehr Frauen als Männer für die BJP, auch wenn es nur 2 % waren.

Die BJP inszeniert sich also bewusst als „frauenfreundliche“ Kraft, macht Zugeständnisse, wo sie kann, und schafft es so, Wählerinnen zu mobilisieren. Gleichzeitig macht sie aber nicht Politik im Interesse „aller“ Frauen, sondern konzentriert sich überwiegend (nicht ausschließlich) auf wachsende Mittelschichten und agiert im Interesse der herrschenden Klasse.

Vor allem aber wendet sich das Modi-Regime an die Frau als Hindu. Ideologisch bezieht sie sich auf das tradierte Bild der Hindufrau als Mutter, Fürsorgerin und Göttin. So forderte beispielsweise der BJP-Abgeordnete Sakshi Maharaj im Jahr 2015 alle Hindufrauen auf, mindestens vier Kinder zu gebären, um die hinduistische Religion zu schützen (India Today, 2015). Mehrere Bundesstaaten haben auch Antikonversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindufrauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden. Darüber hinaus sind Parteiführer häufig wegen frauenfeindlicher Äußerungen in den Schlagzeilen und einige ihrer Landesregierungen haben wegen der schlechten Behandlung von Vergewaltigungsfällen weltweit Schlagzeilen gemacht.

Veränderung ist möglich

Trotz aller Hindernisse sind Frauen in Indien eine wesentliche Kraft bei Protesten. 2019 wurde bei einem symbolischen Protest eine 620 km lange Menschenkette gebildet, an der mehrere Millionen Frauen teilnahmen oder beispielsweise beim Kampf um sauberes Trinkwasser oder bei den Protesten gegen das CAA (neues Staatsbürgerschaftsgesetz), bei dem vor allem muslimische Frauen präsent waren.

Dabei muss klar sein: Gesetze und Urteile von Gerichten können Aufmerksamkeit schaffen, ändern werden sie die Situation von Frauen aber nur marginal, wenn der bürgerliche Staat sich weigert, die Gesetze umzusetzen oder schlichtweg nicht das Interesse hat, die Wurzel der Frauenunterdrückung anzugreifen. Frauen schützen, patriarchale Strukturen vernichten und eine reale Verbesserung erzwingen können wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren: auf der Straße, in den Betrieben, an den Schulen, Unis und auch im Haushalt! Gegen die massive Gewalt gegen Frauen bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die beispielsweise auch für demokratisch-organisierte Selbstverteidigungskomitees eintritt. Sie muss in den Betrieben und Stadtteilen verankert sein und auch die Gewerkschaften zur Organisierung und Unterstützung auffordern.

Eine erfolgreiche Bewegung muss auf den Interessen der Arbeiter:innenklasse basieren und darf sich nicht der herrschende Klasse und deren Parteien unterordnen – natürlich nicht der BJP, aber auch nicht der Kongresspartei.

Das bedeutet auch, offen für die Rechte von Unterdrückten wie Muslim:innen, Dalits, Kaschmiris oder LGBTIA-Personen einzustehen und gemeinsame Kämpfe zu organisieren. Besonders braucht es aber auch einen gewerkschaftlichen Kampf gegen die miserablen Arbeitsbedingungen im informellen Sektor. Frauen können hier eine wichtige Rolle spielen und so ihre Situation verbessern und außerdem Mut und Motivation für weitere Kämpfe erlangen.

All dies erfordert nicht nur den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung, sondern auch eine politischen Alternative zum Reformismus der Communist Party of India (CPI): eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Zur politischen Ökonomie der Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer / Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Die gegenwärtige Krise ist auch eine der sozialen Reproduktion. Die Angriffe auf das Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung und Altersvorsorge und die damit verbundene Ausdehnung privater, nach wie vor allem von Frauen geleisteter privater Hausarbeit rücken auch ins Zentrum des Klassenkampfes. Beschäftige in den Krankenhäusern, Erzieher:innen und Lehrer:innen streiken, spielen eine größere, mitunter sogar eine Vorreiter:innenrolle im Klassenkampf. Millionen gehen gegen Angriffe auf die Renten auf die Straße. Die Frauen*streiks der letzten Jahre thematisieren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Kein Wunder also, dass die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von kapitalistischer Mehrwertproduktion und Reproduktionsarbeit auch wieder ins Zentrum theoretischer Diskussion und Theoriebildung gerückt ist. Im Folgenden wollen wir grundlegende Momente einer marxistischen Analyse darlegen.

Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird vom radikalen wie auch sozialistischen Feminismus als wunder Punkt der Marx’schen Theorie angesehen. Marx und Engels hätten dazu allenfalls Ansätze geliefert, wären aber letztlich blind für die  Unterdrückung der Frauen sowie andere Unterdrückungsverhältnisse gewesen. Seit der zweiten Welle des Feminismus beschäftigen sich verschiedene Theoretiker:innen mit der Reproduktionssphäre und sie versuchen dabei, Alternativen aufzuzeigen, die Marx vernachlässigt hätte.

Feministische Kritiken

So bestimmen Mariarosa Dalla Costa und Selma James das Verhältnis der proletarischen Frau zum proletarischen Mann als Ausbeutungsverhältnis. Die unbezahlte Arbeit im Haushalt betrachten sie als produktive Arbeit, als Produktion von Mehrwert, womit sie auch ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit begründen.

An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie anknüpfend, betrachteten die Autorinnen der Bielefelder Schule (Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof) Haus- und Subsistenzarbeit als fortdauerndes Äußeres der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Hausfrauen und Bäuerinnen wird für sie zur Voraussetzung für die Kapitalakkumulation selbst. Daher erscheinen nicht die Lohnarbeiter:innen, sondern die in diesen „Produktionsweisen“ Tätigen, die Opfer einer permanenten ursprünglichen Akkumulation, als das revolutionäre Subjekt. Bis heute fließt diese Vorstellung in die feministische Diskussion ein, z. B. bei Silvia Federici, die einen Teil ihrer theoretischen Grundlagen aus dieser Tradition, vor allem von Maria Mies, übernimmt.

Diese Konzeptionen blieben innerhalb der marxistisch orientierten Frauenforschung und selbst im sozialistischen Feminismus keineswegs unwidersprochen. So weisen z. B. Ursula Beer in „Geschlecht, Struktur, Geschichte“ oder Lise Vogel in „Marxismus und Frauenunterdrückung“ nach, dass viele der radikal- und sozialistisch feministischen Kritiken den Marx’schen Kategorien einen anderen Sinn unterschieben – und diesen dann kritisieren – oder überhaupt nicht erst versuchen, an der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich anzuknüpfen.

Autor:innen wie Lise Vogel versuchen hingegen, eine „einheitliche Theorie“ der Produktion und Reproduktion zu entwickeln. Sie gehen dabei mit Marx davon aus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise geschichtlich wie logisch die Produktion die Reproduktion bestimmen muss. Ihre Theorie scheitert dabei nicht am Bezug auf Marx, wohl aber an ihrer strukturalistischen Lesart des Marxismus und damit einhergehend an Zugeständnissen an die Vorstellung einer klassenübergreifenden Bewegung aller Frauen, der proletarischen, kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen.

Die von Vogel mitbegründete Social Reproduction Theory (Theorie der sozialen Reproduktion) stellt heute einen wichtigen Begründungszusammenhang für den linken Flügel des Feminismus dar, wie z. B. die Autorinnen von „Feminismus der 99 %“ (Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser). Im Vergleich zu Vogel leisten sie auf theoretischem Gebiet allerdings Rückschrittliches. Wie frühere Autor:innen werfen sie dem Marxismus vor, die Bedeutung der Reproduktion zu unterschätzen.

Ihm wird ein angeblich verkürzter Klassenbegriff unterschoben. Zugleich wird die Sphäre der Reproduktion (im Gegensatz zu Vogel) faktisch als eigene Produktionsweise begriffen, die als gleichwertig oder sogar übergeordnet zum Verhältnis Kapital – Arbeit aufgefasst wird. Wie schon bei früheren feministischen Kritiken fällt diese begrifflich oft sehr unpräzise und moralisierend aus (z. B. wenn es um die Bestimmung von notwendiger und Mehrarbeit oder produktiver und unproduktiver Arbeit geht).

In früheren Beiträgen in der Zeitschrift Fight und im Revolutionären Marxismus haben wir uns mit oben genanten Theorien beschäftigt. Im Folgenden wollen wir, an Marx anknüpfend, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion analysieren, seine historische Entwicklung nachzeichnen und auf die aktuellen krisenhaften Tendenzen der Reproduktion eingehen.

1. Wert- und gebrauchswertseitige Vermittlung der Reproduktionsarbeit

Insbesondere in den Kapiteln über den Akkumulationsprozess im Kapital Band I verweist Marx darauf, dass in jeder Gesellschaftsformation Produktion und Reproduktion eng verzahnt sind, sie im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen.

„Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z. B., verbrauchten Produktionsmittel, d. h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird.“ (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 591)

Marx bestimmt hier einerseits grundlegende Bedingungen der Reproduktion, die für alle Gesellschaftsformationen gelten, nämlich dass Arbeit verrichtet werden muss, um Produktionsmittel (PM) zu erneuern und die Arbeitskraft (AK) wiederherzustellen. Wollen wir jedoch die jeweiligen Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion verstehen, reicht es nicht, bei dieser abstrakten, allgemeinen Vorstellung zu verbleiben, sondern es muss das Verhältnis betrachtet werden, das diese beiden Sphären in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen annehmen. Marx betrachtet Reproduktion dabei von zwei Seiten:

a) Reproduktion des Kapitals (Kapitalkreislauf)

Alle Bedingungen der Produktion (PM und AK) müssen als Waren gekauft werden.

Im Produktionsprozess P werden sie genutzt, um neue Ware (W‘) herzustellen. Dabei übertragen die PM einen Wertanteil an das Produkt, die Arbeitskraft konsumiert die PM, indem es sie in Bewegung setzt und umformt. Sie verrichtet Arbeit und überträgt dabei nicht nur Neuwert auf das Produkt, das dem Wert der Ware AK entspricht, sondern zusätzlichen Wert – Mehrwert –, den sich der/die Kapitalist:in aneignet. Die AK produziert und reproduziert also im Akkumulationsprozesses das Kapital.

In der von Marx zuerst betrachteten einfachen Reproduktion eignet sich der/die Kapitalist:in den Mehrwert zur Gänze an und verausgabt ihn für seine/ihre eigenen Bedürfnisse, also unproduktiv, weil er nicht zur Vermehrung das Kapitals verwendet wird.

Der eigentlich typische Fall für den kapitalistischen Produktionsprozess ist natürlich, dass möglichst viel Mehrwert angeeignet wird, um als zusätzliches Kapital verwertet zu werden, die sog. erweiterte Reproduktion. Dieser Prozess kann als Kreislauf des Kapitals dargestellt werden, als dessen Produktions- und Reproduktionsprozess, weil am Ende das in Geldform G in den Prozess eingetretene Kapital diesen erneut und auf erweiterter Stufenleiter, als G’, durchlaufen kann:

G – W (PM/AK) – P – W‘ – G‘

Legende: AK: Arbeitskraft; PM: Produktionsmittel; W: Ware; W´: Neue, im Produktionsprozess geschaffene Ware; C: Kapital (konstantes + variables); M: Mehrwert; P: Produktion bzw. Produktionsprozess, G: Geld

Arbeit, die in einem solchen Prozess verwertet wird, also einen Mehrwert fürs Kapital schafft, nennt Marx produktive Arbeit (im Gegensatz zur unproduktiven). Sie ist produktiv, weil sie nicht nur bestehenden Wert ersetzt, sondern Mehrwert für ein Kapital schafft, also zu einer erweiterten Reproduktion beiträgt.

b) Doppelte Art der Konsumtion der Arbeitskraft

Marx verdeutlicht, dass das Kapital im Produktionsprozess die Arbeitskraft konsumiert. Dabei wird das Kapital beständig reproduziert als Produkt der entfremdeten, vom Kapitalist angeeigneten Arbeit. Zugleich wird so beständig auch die Arbeitskraft produziert.

„Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23, S. 596)

Mit anderen Worten: Sobald sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat, müssen die Lohnarbeiter:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überhaupt die Mittel für ihre Reproduktion kaufen zu können. Geschichtlich geht dem ein gewaltsamer, blutiger Prozess der ursprünglichen Akkumulation voraus, indem Verhältnisse durchgesetzt werden, die den Lohnsklav:innen jede andere Form der Sicherung ihrer Existenz verunmöglichen. Doch einmal etabliert, bringt das Kapitalverhältnis auch die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse hervor, während Männer wie Frauen der herrschenden Klasse von der Ausbeutung der Arbeit anderer leben. Daher unterscheidet sich auch ihre Reproduktion grundlegend von der der lohnabhängigen Klasse. Die Reproduktionsarbeit für die herrschende Klasse muss nicht von den Frauen dieser Klasse erledigt werden, sondern wird von Frauen (oder auch Männern) aus der Arbeiter:innenklasse verrichtet.

Jedenfalls ist die Konsumtion des/der Lohnarbeiter:in doppelter Art:

1. Produktive Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert im Produktionsprozess Produktionsmittel und produziert so Mehrwert, vermehrt das Kapital.

2. Individuelle Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert Lebensmittel, die mit dem Arbeitslohn gekauft werden.

In der Analyse betont Marx zuerst die Verschiedenheit der beiden Prozesse. Betrachten wir nämlich die beiden Formen der Konsumtion als individuelle Verhältnisse zwischen Arbeiter:in und Kapitalist:in, so scheint es sich um sehr verschiedene, voneinander getrennte Bereiche zu handeln:

„In der ersten handelt er (der Arbeiter; Anm. der Redaktion) als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (MEW 23, S. 596 f.)

Marx geht aber weiter. Die Sache sieht sehr viel anders aus, wenn wir nicht einzelne Kapitalist:innen – Arbeiter:innen, sondern das Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten.

Betrachten wir die individuelle Konsumtion vom Standpunkt Einzelner, so erscheint diese als gänzlich verschieden von der produktiven Konsumtion. In der Produktion muss die Arbeitskraft für andere schuften, im privaten Bereich, der individuellen Konsumtion, kann sie frei über ihr Geld verfügen, scheinbar kaufen, was sie will. Es herrscht Freiheit. Dies wird durch die Geldform des Arbeitslohns, im Grunde durch den Geldfetisch, noch zusätzlich verstärkt, weil es so scheint, als ob’s eine beliebige, freie Entscheidung des einzelnen Arbeiter/der einzelnen Arbeiterin wäre, ob er/sie dies oder jenes für sein/ihr Entgelt kauft.

Betrachten wir jedoch den Gesamtprozesse, so erweist sich dies als Ideologie, als Fiktion, wenn auch eine sehr wirkmächtige Apologie der verallgemeinerten Warenproduktion.

In Wirklichkeit reproduziert jene Freiheit selbst noch das Kapitalverhältnis. Betrachten wir nämlich die individuelle Konsumtion in ihrer Gesamtheit, also als Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit, so erweist sich die Reproduktion der Arbeitskraft als sich ständig reproduzierender Teil des Gesamtprozesses der Produktion und Reproduktion des Kapitals.

Dies ist unvermeidlich, weil Letztere immer über den Kauf/Verkauf von Waren vermittelt und so an den Akkumulationsprozess des Kapitals gebunden und diesem untergeordnet bleiben muss.

„Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht.“ (MEW 23, S. 597)

Ferner: „Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ (MEW 23, S. 597 f.)

An dieser Stelle setzt die feministische Kritik ein, weil Marx diesen Aspekt nicht weiter ausgeführt hätte. Das stimmt zwar zu einem gewissen Grad. Die Kritik verkennt jedoch, dass Marx hier nicht etwas abbricht, sondern vielmehr zu einer Schlussfolgerung kommt, die sich aus dem Obigen und den Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft ableitet.

Die Arbeiter:innen sind zur eigenen Reproduktion gezwungen, weil sie selbst Lohnarbeiter:innen sind, ihre Arbeitskraft aus „Selbsterhaltungstrieb“ verkaufen müssen. Das Kapital kann daher getrost die Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft externalisieren.

Die Reproduktion kann als „frei“ erscheinen, was durch die „freie“ Arbeit, Arbeitskontrakt usw. bestärkt wird. In Wirklichkeit ist diese Freiheit jedoch gesellschaftlicher Schein, Ideologie. Oder in Marx’ Worten:

„Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebenso Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“ (MEW 23, S. 598)

Es ist also ein Fehler, dabei stehen zu bleiben, die produktive und individuelle Konsumption nur aus individueller und nicht aus gesellschaftlicher Sicht zu betrachten. Das führt nämlich unweigerlich zu einer mechanischen, unvermittelten Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre, die so nicht existiert.

c) Produktions- und Reproduktionskreislauf

Die Unterordnung von Konsum/Reproduktionskreislauf der Arbeitskraft unter den des Kapitals wird auch deutlich, wenn wir diese einander gegenüberstellen. Erinnern wir uns zuerst an den Produktionskreislauf des Kapitals:

G – W (PM, AK) – P – W‘ – G‘

Dieser stellt das Wesen, weil Zweck der Produktion im Kapitalismus dar. Es findet also Anhäufung von Kapital, von kapitalistischem Reichtum statt; der Zweck der Produktion besteht in der Produktion von Mehrwert.

Die Reproduktion der Arbeitskraft lässt sich knapp so darstellen:

G (Arbeitslohn in Geldform) – W (Konsumgüter) – Reproduktion – W’ (AK) – G

Der Arbeitslohn, den die Arbeitskraft als Geld erhält, muss in Waren W (Konsumgüter, Mittel zum Lebensunterhalt ausgegeben werden). Es wird sodann konsumiert, verzehrt (inkl. stofflicher Umwandlung durch Hausarbeit wie Kochen, … ). Am Ende wird die Ware W’ (Arbeitskraft) reproduziert, die wieder zu ihrem Wert/Preis verkauft wird.

Es entsteht hier kein zusätzlicher Wert, sondern es werden nur Wertbestandteile reproduziert. Die Arbeitskraft geht durch den Reproduktionsprozess und verlässt ihn so, wie sie in ihn hineintritt, um wieder ihre Haut zu Markte tragen zu können, um also erneut die Summe G, die ihren Reproduktionskosten entspricht, erhalten zu können. Die Reproduktionsarbeit (ob nun private Hausarbeit oder öffentliche Arbeit wie an Schulen) erhält nur die Arbeitskraft, sie schafft aber unter diesen Bedingungen keinen Mehrwert.

Das trifft auch auf die Arbeiter:innenklasse insgesamt zu, denn der gesamte Lohnfonds (Gesamtsumme aller Löhne wie auch aller staatlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen, des „Soziallohns“, usw.) entspricht im Grunde nur den Reproduktionskosten der Gesamtklasse, also aller ihrer Mitglieder (lohnarbeitende Männer und Frauen, Teilbeschäftigte, im Haushalt Tätige, Kinder, Rentner:innen, Kranke, … ).

Bei der Bestimmung des Werts der Ware Arbeitskraft betrachtet Marx auch alle diese Personen als Teil der Gesamtklasse. Allein das zeigt, wie albern die Kritik an ihm ist, dass er nur die produktiven Arbeiter:innen in der Fabrik betrachten würde. Der gesamte Lohnfonds inkludiert wie die Preisbestimmung der Ware Arbeitskraft selbst (im Unterschied zu anderen Waren) auch eine historische, „moralische“ Komponente, die selbst vom Klassenkampf modifiziert wird.

Wichtig ist aber, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit/-kosten dazu da ist, die Arbeitskraft zu erhalten (gesamtes Gesundheitswesen, Kosten, Wohnung, Heizung, … ). Während diese relativ konstant bleiben, so erhöhen sich mit Entwicklung des Kapitalismus die Bildungskosten, also Kosten zur Erhöhung des Arbeitsvermögens der Arbeitskraft, so dass diese statt Träger einfacher gesellschaftlicher Arbeit zu sein, auch solche zusammengesetzter, komplizierter wird.

Arbeiten im öffentlichen Reproduktionsbereich gehen natürlich in den Durchschnittswert der Ware Arbeitskraft ein. Die Kosten für Gebäude, Arbeitsmittel usw. sowie für die Bezahlung der Arbeitskräfte in diesem Bereich führen zu einer Erhöhung oder Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft (z. B. wenn die Kosten für Erziehung, Bildung, Lebensmittel usw.) steigen oder fallen. Aber im staatlich/öffentlich organisierten Reproduktionssektor wird keine Mehrarbeit verrichtet, die sich das Kapital in Form von Mehrwert aneignet. Erst recht findet das nicht in der privaten Hausarbeit statt.

Anders verhält es sich, wenn Teile des Reproduktionsprozesses privatkapitalistisch organisiert werden, beispielsweise wenn Krankenhäuser oder Schulen privatisiert und zum Zweck der Profitmaximierung, als stinknormales Geschäft betrieben werden. Lassen wir einmal die Probleme beiseite, den Wert der Waren genau zu bestimmen, festzulegen, wie verschiedene „Produkte“ im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor vergleichbar und bepreist werden können, so besteht nun der entscheidende Zweck der Reproduktionsarbeit für den/die Kapitalist;in darin, Profit zu erwirtschaften, was, wie wir alle aus Erfahrung wissen, bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitkraft (z. B. von Patient:innen) steht.

Doch zurück zur Wertbildung der Arbeitskraft und zu deren Reproduktion.

Jede Arbeitskraft, die im privaten Haushalt oder im staatlichen Caresektor reproduktiv tätig wird, muss ihrerseits reproduziert, erhalten werden. Das heißt, diese Kosten gehen wie die zur Herstellung jeder anderen Arbeit in den Wert der Arbeitskraft ein.

D. h., auf die private Hausarbeit bezogen, geht diese im gesellschaftlichen Durchschnitt in den Wert der Ware Arbeitskraft ein (resp. auch in den Wert zukünftiger Arbeitskraft und die Reproduktion des gesamten Haushaltes).

Die Erhaltungskosten zur Reproduktion gehen ebenso in die Reproduktionskosten der Arbeitskraft ein wie die Kosten der Lebensmittel, der Haushaltsgeräte usw. Das heißt umgekehrt auch, die Reproduktionskosten für die Hausarbeit (ob nun mehr oder minder gerecht verteilt oder auf die Frau abgewälzt) müssen bestritten werden. Ebenso trifft das auch auf die (noch) nicht arbeitenden Familienmitglieder zu.

Der entscheidende Unterschied zum Kapitalkreislauf besteht darin, dass hier kein Mehrprodukt, damit auch kein Mehrwert geschaffen wird, den sich jemand außerhalb der Familie aneignen würde.

Im Grunde trifft das auch zu, wenn größer werdende Teile der Reproduktionsarbeit staatlich oder gesellschaftlich organisiert werden („Soziallohn“), also für staatliche Schulen, Kitas, Unis, Krankenhäuser, Altersheime. Solange die für diese Tätigkeiten aufgewandten Mittel nicht als Kapital fungieren, also nicht investiert werden, um Profit abzuschöpfen, sondern als staatlicher/sozialer Dienst, werden sie aus Lohnbestandteilen (z. B. Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) oder über Steuern (mit historisch wechselnden Anteilen verschiedener Klassen), also staatlich finanziert.

Dem Kapital erscheint daher diese gesellschaftlich notwendige Arbeit immer als faux frais, als überschüssige Kosten der Produktion, als Abzug vom Gesamtprofit. Sie können nie knapp genug bemessen sein. Genau genommen ist dies der Standpunkt des konkurrierenden Einzelkapitals.

Vom Standpunkt der Gesamtkapitals und seiner Reproduktionsbedingungen sind sie keineswegs unnütz, ja essentiell. Das wissen auch einzelne Kapitalist:innen, wenn ausnahmsweise die Arbeiter:innen in einer günstigen Position sind oder wenn Mangel an Arbeitskraft droht. Dann wird nach Maßnahmen zur Überwindung solcher Arbeitsmarktkrisen gerufen.

In jedem Fall sind die Reproduktionskosten der Gesamtklasse bei einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus für ein bestimmtes gesellschaftliches Gesamtkapital mehr oder weniger gegeben.

d) Erweiterte Reproduktion

Ihre Entwicklung ist grundsätzlich bestimmt von der Akkumulationsbewegung des Kapitals.

Diese beinhaltet aber nicht nur eine Bestimmung für eine Phase der Entwicklung, sondern auch ein dynamisches Element.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals bedeutet schließlich nicht einfach eine quantitative Erweiterung, sondern geht, vermittelt über die Konkurrenz, mit einer stetigen Erneuerung des Produktionsapparates, eine Revolutionierung der technischen Basis der Produktion einher. Diese führt nicht nur zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einem tendenziellen Fall der Profitrate.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals wirkt auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurück, sobald und sofern der Wert der Konsumgüter der Arbeiter:innenklasse infolge von Produktivitätssteigerungen sinkt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln oder Haushaltsgeräten und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs (Elektronik), die Verringerung von Transportkosten oder Massenverkehrsmitteln führen zur Reduktion des Werts der Ware Arbeitskraft. Infolge von Wertsenkungen der Konsumgüter ermöglichen sie in bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung (z. B. im sog. langen Boom), dass die Menge der Gebrauchswerte/Güter, die die Arbeiter:innen konsumieren können, konstant bleibt oder sogar zunimmt, obwohl der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt.

Diese Form der Erhöhung des (relativen) Mehrwerts und ihre Verstrickung mit den Reproduktionskosten verdeutlichen, dass die Bestimmung der Reproduktion durch die Produktion nicht nur ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus darstellt, sondern diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung auch immer mehr um sich greift, immer totaler wird.

Zugleich führt diese Verbindung dazu, dass, historisch betrachtet, auch die Reproduktionsarbeit immer mehr vergesellschaftet wird, wenn auch für private, bornierte Zwecke. In Krisen gestaltet sich dieser Prozess insofern prekärer, als erreichte Stadien von Vergesellschaftung selbst in Frage gestellt werden, also sich eine Tendenz zur Regression manifestiert.

e) Reproduktion und geschlechtliche Ungleichheit

Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann dabei nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt werden. Sie muss grundsätzlich aus der historischen Entwicklung begriffen werden, wo die kapitalistische Produktion ihr vorausgehende Formen der Unterdrückung der Frau aufgreift und funktional, dem Wertgesetz unterworfen, umformt.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung natürlich mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden, also dem biologischen Fakt, dass nur sie Kinder auf die Welt bringen können. Damit entsteht auf der einen Seite eine Form der Reproduktionsarbeit, die nicht auslagerbar oder auf Männer übertragbar ist, andererseits schafft es auch einen Widerspruch. Schwanger sein ist notwendig für die Reproduktion der Menschheit, hat aber auch den Nachteil, dass die Arbeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten phasenweise eingeschränkt wird. Speziell im Kapitalismus mit seinem Fokus auf Profitmaximierung mündet das in sehr bestimmten Arten der Organisierung von reproduktiver Arbeit und reproduziert diese.

Für die kapitalistische Produktionsweise folgt grundsätzlich die Scheidung von produktiver Konsumtion und individueller Konsumtion der Arbeiter:innenklasse aus der Scheidung von Arbeitsprodukt und Arbeitenden, der Trennung von Arbeitskraft und Produktionsmitteln (Eigentumsmonopol des Kapitals). Das Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion nimmt eine neue, historisch spezifische Form an. Hier sieht man auch den Unterschied zur feudalen Ausbeutung, die Marx hervorhebt, in der Produktion und Reproduktion wesentlich weniger getrennt waren. Es gab zu dieser Zeit eine viel stärkere Einheit im bäuerlichen Haushalt, wo Produktion und Reproduktion zugleich stattfanden und die Familie genauso Produktions- wie Lebenseinheit war.

Die vorgefundene Unterdrückung der Frau führt zur Herausbildung und Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, in der der Mann als „Oberhaupt“ und Ernährer tätig, die Frau für die Hausarbeit zuständig ist (sofern sich ein proletarischer Haushalt überhaupt herausbilden kann).

Im Lohn der männlichen Arbeitskraft werden daher die Reproduktionskosten des Haushalts mit gesetzt, daher die höhere  Bezahlung der männlichen Arbeitskraft (es gibt daraus resultierend auch eine historisch-moralische Einwirkung auf den Arbeitslohn).

Im privaten Haushalt wird dadurch eine vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung reproduziert und produziert. Die historisch moralischen Einwirkungen sind unter anderem struktureller Sexismus, der abseits von dieser besseren Entlohnung für Männer auch ideologisiert, dass die Arbeit von Frauen generell weniger wert ist als die von Männern.

Die bürgerliche Familie entspricht diesem Reproduktionszusammenhang, sie erscheint als Reich der „Freiheit“, des Rückzugs, des privaten Glücks und der Selbstbestimmung gegenüber der Fabrik, der Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Despotie des Kapitals.

Individuell betrachtet, scheint sich der Mensch in der Privatsphäre zu verwirklichen, auch wenn diese, wie Marx zeigt, letztlich vom Kapital bestimmt ist. Aber der/die Warenbesitzer:in der AK scheint hier wirklich sich zu gehören (resp. auch seine/ihre Familie).

Die Familie, Partnerschaft (selbst in ihrer patriarchalen Form) scheint daher ein Rückzugsraum, eine sicherer Hafen vor der Unbill der Arbeit in der Fabrik, im Produktionsprozess. Aber dies ist weitgehend Fiktion, wie Marx hervorhebt:

„Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert.“ (MEW 23, S. 591)

2. Historische Entwicklungsdynamik der Reproduktionsarbeit

Nachdem wir Grundzüge des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion umrissen haben, wollen wir uns dessen historischer Entwicklung zuwenden. So wie das Lohnarbeitsverhältnis keineswegs „rein“ hervortritt, sondern geschichtliche Modifikationen durchläuft wie auch aufgrund der imperialistischen Weltordnung sehr verschieden in imperialistischen und halbkolonialen oder kolonialen Ländern in Erscheinung tritt, so durchläuft auch die kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeitskraft Entwicklungsstufen. Diese dürfen dabei keineswegs als strenge Abfolge betrachtet werden, die für alle Länder gleichermaßen gelten würde. Vielmehr gilt auch dafür das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, wo im Rahmen einer reaktionären imperialistischen Ordnung relativ weit vergesellschaftete Formen der Produktion und Reproduktion gleichzeitig und verwoben mit extrem rückständigen auftreten, ja diese im Rahmen eines globalen Ausbeutungsverhältnisses sogar immer wieder hervorbringen.

Im Folgenden wollen wir grob einige Entwicklungsphasen skizzieren – und wir sehen dabei auch, dass Formen, die zuerst im Frühkapitalismus entstehen, heute noch in extrem ausgebeuteten Ökonomien weit verbreitet, ja prägend sein können.

a) Übergang, Entstehung des Kapitalismus

Die Fesselung der Frau an den Haushalt hat der Kapitalismus nicht erfunden, wohl aber die Trennung von Produktion und Reproduktion. Um kapitalistische Verhältnisse auch in der Reproduktion zu erzwingen, muss also einerseits die Fesselung an den Haushalt aufrechterhalten, andererseits dieser als Produktionseinheit (die die Güter ihrer eigenen Reproduktion ganz oder in wesentlichen Teilen herstellt) zerschlagen werden.

D. h. die Arbeiter:innenklasse muss gezwungen werden, ihre Lebensmittel als Waren bei Dritten (kapitalistischen Produzent:innen oder Händler:innen) gegen Geld (Arbeitslohn) zu kaufen.

Dies ist funktional wichtig und muss gewaltsam hergestellt werden, weil, ansonsten die Arbeitskraft selbst nicht in vollem Maß zum Verkauf als Ware gezwungen wäre.

Hier zeigt sich zugleich, dass es – trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der Subsistenz- und der kleinen Warenproduktion – im Grunde irreführend ist, die private Hausarbeit als eine eigene Produktionsweise zu bestimmen. Dies verschleiert vielmehr den spezifisch kapitalistischen Charakter der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse. Wir haben es bei der (privaten) Reproduktion im Haushalt nicht mit einer oder gar mehreren Produktionsweisen außerhalb des Kapitals zu tun, sondern mit einer – so unsere These – spezifisch kapitalistischen Form der Reproduktion im Kapitalismus.

Gerade in ihrer Bestimmtheit durch die Produktion liegt ihr Wesenskern. Dass dies leicht anders erscheinen mag, hängt mit verschiedenen Faktoren, die zu einer ideologischen Fetischisierung führen, zusammen.

1. Erscheint der Haushalt, die Privatsphäre als Gegenteil der betrieblichen, sachlichen Despotie (selbst die Despotie des Haustyrannen ist unterschieden, weil wesentlich persönlich, patriarchal, Herrschaft des Vaters, im engen Wortsinn).

2.  Kapitalistische Reproduktion existiert nicht rein, sondern in mehr oder weniger krassen Hybridformen.

Davon einige wichtige:

  • Die Haushaltsformen des Kleinbürgertums (z. B. der Bauern-/Bäuerinnenschaft) setzen die Einheit von Produktion und Reproduktion fort.

  • In den halbkolonialen Ländern dauert der Prozess der ursprünglichen Akkumulation an. Dies führt zur Bildung von wichtigen, prekären Formen der Reproduktion für beachtliche Teile der Bevölkerung des globalen Südens.

  • Für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist, global betrachtet, bis heute eine „normale“ Reproduktion in der Familie nicht oder nur bedingt möglich. Die Ausweitung der Teile der Klasse, die unter ihren Reproduktionskosten Lohnarbeit verrichten müssen, bedeutet auch, dass der proletarische Haushalt seine Reproduktionsfunktion nicht oder jedenfalls nicht voll erfüllen kann.

  • Umgekehrt wird aber der „Rückzug“ zu einer vorkapitalistisch funktionierenden Form der Reproduktion verunmöglicht.

  • Umso stärker wird die Tendenz zur Barbarisierung der Verhältnisse im Haushalt (Hunger, Armut, Aufteilung des Mangels, aber auch Gewalt gegen Frauen und Kinder).

Für die frühe kapitalistische Entwicklung wie auch für bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse stellt die Familie keineswegs eine historische Selbstverständlichkeit dar. Im Gegenteil! Die Überausbeutung verunmöglichte diese weitgehend für die neue entstehende Klasse (siehe auch urspr. Akkumulation, Ausdehnung des Arbeitstages, Sklaverei, … ).

Für deren unterste Schichten nimmt soziale Vorsorge – sofern vorhanden – die Form des Armenhauses, von Waisenhäusern samt despotischem Regime an. Die Kriminalisierung anderer Einkommensarten (Betteln, Verbot des Zugriffs auf vormaliges Gemeineigentum) stellen unerlässliche Mittel dar, den Zwang zur Lohnarbeit durchzusetzen. Dieses Regime muss gewährleisten, dass die „Armenversorgung“ unter dem Niveau des extrem geringen Arbeitslohns liegt. Daher auch die fast ungebrochene Tendenz zur absoluten Verelendung im Frühkapitalismus – eine Tendenz, die wir in der halbkolonialen Welt, teilweise sogar unter den marginalisierten (oftmals zugleich migrantischen und/oder rassistisch unterdrückten) Schichten der Klasse auch in den imperialistischen Zentren vorfinden.

b) Entstehung und Durchsetzung der proletarischen Familie

Die „klassische“ bürgerliche Familie (Vater als Ernährer, Frau als Hausfrau, Kinder) ist in der Arbeiter:innenklasse auch immer ein zwiespältiges historisches Produkt. Ihre Verwirklichung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Der Arbeitslohn des Mannes muss die Reproduktionskosten der gesamten Familie real abdecken können (Frau, Kinder, Alte), damit die Frau Hausfrau sein kann, die Kinder nicht gegen Lohn arbeiten müssen und die Alten versorgt werden können. Daher müssen auch der Ausbeutung gewisse Schranken gesetzt werden, also Grenzen der absoluten Mehrwertabpressung durchgesetzt werden. Um diese Reproduktionsfähigkeit der Familien überhaupt herzustellen, müssen die Löhne dem Wert der Arbeitskraft (A) entsprechen, muss der Arbeitstag begrenzt werden, müssen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit und staatliche Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Dies ist nur möglich auf Basis von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, die reale Errungenschaften durchsetzen (z. B. den 10-Stundentag). Diese werden oft auch begünstigt dadurch, dass ein Teil der herrschenden Klasse (bzw. deren politischen Personals) erkennt, dass eine gewisse Grenze der Ausbeutung notwendig ist, um die Reproduktion des Ausbeutungsmaterials zu sichern (ob dies aus Einsicht oder Furcht vor Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse erfolgt, ist hier zweitrangig).

Die Bildung der proletarischen Familie setzt also eine gewisse materielle Besserstellung der Klasse voraus. Wenigstens signifikante Teile müssen in der Lage sein, den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu oder über ihren Reproduktionskosten durchzusetzen.

Dies stellt gegenüber dem Frühkapitalismus oder extremen Formen der Ausbeutung eine Errungenschaft der gesamten Klasse, von Mann und Frau dar. Aber sie geht zugleich einher mit einer Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeiter:innenklasse. Die Frau kann jetzt auch „nur“ Hausfrau, der Mann kann real alleiniger „Ernährer“ der Familie sein. Für die Frau bedeutet dies aber zugleich eine Fessel, eine Befestigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, den Zwang, die Hausarbeit zu leisten, die keinen Mehrwert generiert, die Festigung der Abhängigkeit vom Mann (als Einkommensquelle) und ihrer Vereinzelung und Unterdrückung. Damit einher geht auch die Entstehung des proletarischen Haushaltes (eigene, kleine Mietwohnung, eigener Herd, … ).

Die Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstärkt darüber hinaus durch rechtliche Ungleichheit und reaktionäre Ideologien und Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse die soziale Unterdrückung.

Ökonomisch wird diese zusätzlich befestigt, indem der Lohn des Mannes als Familienlohn gesetzt ist. Der Wert der Arbeitskraft ist wesentlich der der männlichen. Der Wert der weiblichen Arbeitskraft wird so auf einen Bruchteil der männlichen fixiert, da ihre Reproduktionskosten in diesem System geringer sind, weil das Lohneinkommen der Familienmitglieder vom Mann, nicht der Frau bestritten werden soll/muss.

Wir haben es hier also mit einer systematischen Ungleichheit des Werts der Arbeitskraft zu tun, die das spezifisch kapitalistische System der Reproduktion schafft bzw. von diesem geschaffen wird.

Dies drückt sich einerseits in der Last der Hausarbeit aus, die den Frauen aufgebürdet wird. Zweitens aber auch in einer beruflichen Arbeitsteilung. Frauen werden aus industriellen Branchen verdrängt (oder erst gar nicht reingelassen), auf zeitweilige, schlechter bezahlte Tätigkeiten verwiesen.

Dieses „Modell“ wird zum vorherrschenden in den kapitalistischen Zentren mit Expansion des Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der imperialistischen Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird auch auf Halbkolonien mit der Expansion des Kapitalverhältnisses und der Entstehung einer, wenn auch kleineren Arbeiter:innenaristokratie ausgeweitet, aber verbleibt dort bis heute eine Form, die nie die gesamte Klasse umfasst.

Nicht minder wichtig ist, dass dieses Modell bis heute, wenn auch modifiziert und, was die Frage der Lohndifferenzen betrifft, etwas gerechter die vorherrschende ideologischen Form darstellt.

Bei den erzreaktionären bürgerlichen Kräften tritt das ganz klar und unverhüllt hervor. Aber auch dem Liberalismus, dem Mainstreamfeminismus und dem Reformismus liegt dieses Modell zugrunde. Es wird jedoch seiner „unschönen“ Seiten bereinigt. Die gleiche Verteilung der Hausarbeit und gleiche Löhne/Einkommen werden propagiert. Ein mehr oder weniger großer privater, quasi familiär organisierter Teil der Reproduktionsarbeit wird aber als erstrebenswert oder unverzichtbar und eigentlich menschlich betrachtet. (Dies kann natürlich auch auf gleichgeschlechtliche oder Transpartner:innenschaften erweitert werden, gewissermaßen als flexiblere, anpassungsfähigere Formen der bürgerlichen Familie).

Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion gerät aber mit dieser engen Form der kapitalistischen Reproduktionsarbeit in Widerspruch bzw. Letztere stellt auch eine Schranke für die Expansion des Kapitals ab einer bestimmten Stufe dar.

c) Ausdehnung der Lohnarbeit der proletarischen Frauen

Das zeigte sich zuerst im Ersten Weltkrieg. Aber die Ausdehnung der Frauenarbeit in der Produktion für diesen Krieg war nur vorübergehend, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, der Zerrüttung des Weltmarktes, der Massenarbeitslosigkeit und der ungelösten Probleme der globalen Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten.

Anders im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frauen kehren nicht in den Haushalt zurück. Dies hat zwar auch historisch spezifische Gründe in manchen Ländern (Mangel an männlicher Arbeitskraft wegen Kriegsgefangenschaft und toter Soldaten). Vor allem aber erfordern die veränderten, günstigen Akkumulationsbedingungen (Zerstörung und Ersetzung von Kapital, massive Ausdehnung der Produktion und hohe Profitraten, Ablösung des Kolonialsystems und Ausdehnung des Weltmarktes, USA als Demiurgin des Weltmarktes, Dollar als Weltgeld, Erhöhung des relativen Mehrwerts erlaubt hohe Profite und gleichzeitige Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse) auch eine massive Expansion der weiblichen Lohnarbeit.

Proletarische Frauen (wie die gesamte Klasse) werden als Konsumentinnen wie als Lohnarbeiterinnen wichtiger. Die Expansion weiblicher Lohnarbeit wird außerdem am Beginn durch Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern begünstigt. Frauen werden als billigere, oft nur „vorübergehende“ Arbeitskraft in bestimmen Sektoren massenhaft beschäftigt. Männer gelten am Beginn weiter als Vollzeitarbeiter. Dies entspricht einem geschlechtlich extrem segregierten Arbeitsmarkt, auf dem in der ersten Phase der Nachkriegsperiode Männer- und Frauenberufe klar getrennt sind.

In dieser ersten Phase der Expansion geht diese noch ohne große Erschütterung der proletarischen Familien wie des Oberhaupts der Familienform mit ihrer ideologisierten Selbstverständlichkeit einher. Diese wird am Beginn sogar eher stabilisiert, auch weil das Proletariat ab Mitte der 1950er Jahre stetige ökonomische Verbesserungen verspüren kann. Politisch-ideologisch sind die 1950er und frühen 1960er Jahre restaurativ, extrem miefig, reaktionär. Es ist daher auch kein Wunder, dass von einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen in den meisten Ländern nicht die Rede sein kann.

Zugleich entwickeln sich jedoch die inneren und gesellschaftlichen Widersprüche.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit, die Ausdehnung des Bedarfs an qualifizierter Arbeitskraft und höhere Lebenserwartung erfordern auch eine Ausdehnung der Reproduktion, die gesellschaftlich geleistet wird und nicht privat. Das wiederum bedarf eines Ausbaus des Bildungswesens und sozialstaatlicher Leistungen (Gesundheitssystem, Altersvorsorge) sowie von Einrichtungen, die Frauen Vollzeitarbeit ermöglichen (Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeheime).

Mit der Expansion geht außerdem auch eine Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit im Bereich Bildung und Gesundheit einher.

Die Expansion macht aber auch die fest etablierte Ungleichheit, die patriarchalen Verhältnisse in Ehe und Familie immer fragwürdiger, ja unhaltbarer. Ihre gesellschaftliche Legitimation erodiert zusehends.

All das legt auch die Grundlage für die 2. Welle der Frauenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Das Auftreten des radikalen und sozialistischen Feminismus führt dazu, dass Forderungen der Bewegung von der Gesellschaft insgesamt aufgegriffen oder jedenfalls zu einem Kampffeld für Millionen Menschen werden.

Es ist auch kein Zufall, dass die Frage der Hausarbeit/Reproduktion und der politischen Ökonomie mehr Beachtung findet in dieser Zeit und zu einem wichtigen Gegenstand der Diskussion in der Linken und Frauenbewegung gerät.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit ist in praktisch allen Ländern enorm, v. a. in imperialistischen Staaten, oft noch mehr in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten, aber auch in vielen Halbkolonien.

Mit der Ausdehnung einer gesellschaftlich organisierter Reproduktionssphäre, die über Steuern, Sozialabgaben, also über Lohnbestandteile oder die Revenue des Kapitals finanziert wird, verringert sich tendenziell das reale Lohndifferential zwischen Männern und Frauen, zwischen besser und schlechter bezahlten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Ein größerer Bestandteil des Lohnfonds insgesamt wird über staatliche Leistungen oder Sozialversicherungen umverteilt und kommt so als Anspruch auch weniger hohe Steuern oder Beiträge zahlenden Lohnabhängigen zugute.

Das Lohndifferential (Gender Pay Gap) sowie die geschlechtsspezifische Struktur der Arbeitswelt verlieren ihre offizielle gesellschaftliche Legimitation, werden ihres scheinbar natürlichen Charakters entkleidet.

Dennoch wirken sie massiv fort, ebenso die ungleiche Verteilung der privaten Hausarbeit und der überproportionale Anteil von Frauen an der Reproduktionsarbeit.

Die Ausdehnung des Soziallohns sowie der Druck der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung wirken bei aller Zähigkeit auf eine Angleichung der Löhne/Entgelte von männlicher und weiblicher Lohnarbeit.

Die Ausdehnung der weiblichen Lohnarbeit, also direkte Beteiligung der Frau an wenn auch indirekter, „blinder“ vergesellschafteter Produktion drängt auch auf eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit.

Dieser Prozess stößt aber im Kapitalismus an innere Grenzen wegen des Warencharakter der Arbeitskraft, der inneren Anarchie der Produktionsweise und der bornierten, kapitalistischen Zwecke der Produktion. Zugleich bleibt die Familie weiter ein wichtiges bürgerliches Integrations- und Herrschaftsinstrument, so dass sie aus gutem Grund von konservativer und reaktionärer Seite auch dann besonders eifrig verteidigt wird, wenn sie eigentlich gesellschaftlich ersetzbar wäre. Hinzu kommt, dass sie gerade während und wegen ökonomischer Krisen weiter eine wichtige Rolle spielt: Denn gesellschaftliche Reproduktion ist wesentlich unproduktive Arbeit fürs Einzelkapital, daher Abzug von seinem Profit, tritt als unnötige Kosten in Erscheinung, die möglichst reduziert werden müssen.

3. Krise, Klassenkampf, Vergesellschaftung

Mit dem Ende des langen Booms und Einsetzen der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mit prägt, wird auch diese Widersprüchlichkeit deutlicher. Die Sphäre der Reproduktion stürzt selbst in eine tiefe Krise.

Deren Hintergrund und Ursache bildet die strukturelle Überakkumulation. Das Kapital stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, eine ausreichend hohe Profitrate aufrechtzuerhalten, weil die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und der Mehrwert schaffende Teil des Kapitals (also das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten) immer kleiner wird. Es gibt also nicht nur einen Drang dazu, sich andere Anlagesphären (und -gebiete) zu suchen, sondern auch, die Ausbeutungsrate zu erhöhen (also die Kosten fürs variable Kapital zu senken). Das bedeutet auf der einen Seite, dass es zu mehr Privatisierungen des Caresektors kommt, um neue Bereiche zu erschließen. Es heißt aber auf der anderen auch, dass Menschen (vor allem Frauen), die stark in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, zusätzlich auch wieder stärker in die Lohnarbeit gedrängt werden, ohne sie von der Zusatzarbeit zuhause zu entlasten.

Vor allem in imperialistischen Ländern ist viel Reproduktionsarbeit staatlich geregelt. Sie stellt zwar einen essenziellen Beitrag zum Erhalt des Systems dar, wird aber aufgrund ihrer nicht Mehrwert schaffenden Rolle immer stärker eingespart. Viele der Probleme in unseren jetzigen Gesundheitssystemen ergeben sich aus Rentabilitätskalkülen. Nachdem ein System niedergespart wurde, kommt oft ein guter Moment für Privatisierungswellen. Die organische Zusammensetzung in diesen Bereichen liegt oft unter dem Durchschnitt und es gibt einen leichten Eintritt in den Markt, wenn die Leistungen des öffentlichen Sektors nicht mehr mithalten können (solange staatlich keine Regelungen dagegen getroffen werden). Damit wird also die vorher „nichtproduktive“ (nicht Mehrwert schaffende) zu profitmaximierender Arbeit oder zumindest darauf vorbereitet.

Je teurer dann aber wiederum privatisierte Institutionen werden und je mehr an Löhnen in krisenhaften Situationen gespart wird, umso mehr werden Leistungen der Reproduktionsarbeit (Kindergarten, Krankenhäuser usw.) unbezahlbar für die Arbeiter:innenklasse oder jedenfalls für die schlechter entlohnten Teile. Das wiederum drängt Leute wieder zurück in die Familie, um reproduktive Aufgaben vermehrt selbst zu übernehmen. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur bei Privatisierungen, sondern auch staatlichen Angeboten, die nicht kostenlos oder an viele Bedingungen geknüpft sind (z. B. Staatsbürger:innenschaft) oder eine bestimmte Familienkonstellation). Es nimmt aber nicht dasselbe Ausmaß an. Speziell trifft diese Dynamik auf Halbkolonien zu.

Kürzungen beim Soziallohn, also dem Anteil an Sozialabgaben und damit der Finanzierung von reproduktiven Leistungen, bedeuten auch einen Rückgang im gesamten Lohnfonds. Diese Unterfinanzierung steht für mehr soziale Ungleichheit und führt damit zu immer reaktionäreren Tendenzen. Mit zusammenbrechenden Sozialsystemen, verschärfter Ungleichheit und einem Zurückdrängen von reproduktiven Arbeiten in Familie und Haushalt erfolgt eigentlich ein gesellschaftlicher Rückschritt. Obwohl die technischen und organisatorischen Möglichkeiten da wären und auch das Kapital davon profitiert, über Arbeiter:innen zu verfügen, die voll ausbeutbar sind, führen inhärente Tendenzen des Kapitalismus zu einer barbarischen Situation. Diese zementieren auch die bürgerliche Kleinfamilie und ketten sowohl Frauen als auch Kinder und alte Menschen noch heftiger an sie als ohnehin schon.

Doch diese Entwicklungen passieren nicht ohne Widersprüche. Streiks in Bereichen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind (Pflege, Kindergarten, etc.), handeln immer wieder neu aus, wie die Reproduktionsarbeit organisiert wird, und in vielen Ländern bilden sich dabei auch neue kämpferische Sektoren der Arbeiter:innenklasse.

Die krisenhaften Entwicklungen im Reproduktionsbereich dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es nur eine Tendenz weg von der wenn auch naturwüchsigen Vergesellschaftung hin zur privaten Hausarbeit gebe.

Im Gegenteil, für bedeutende Sektoren der lohnabhängigen Mittelschichten wie auch der Arbeiter:innenklasse können wir ein Fortschreiten einer wenn auch privatkapitalistisch organisierten Vergesellschaftung der Hausarbeit konstatieren.

Wir wollen das am Beispiel der sog. Plattformökonomie verdeutlichen. In den letzten Jahren erleben wir eine große Ausbreitung von Dienstleistungen, die über solche Onlinedienste Teile von Reproduktionstätigkeiten anbieten. Das umfasst Lieferdienste für Essen und Nahrungsmittel, die mittlerweile von fast allen Schichten der Arbeiter:innenklasse zumindest gelegentlich genutzt werden.

Für größere Teile der Lohnabhängigen werden diese zum Standard für ihre Reproduktion. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass die ständige Intensivierung der Arbeit, deren Verdichtung, die durch Homeoffice oft noch einen neuen Schub erhält, die Menschen während der Arbeit so sehr auslaugt, dass sie kaum noch die Kraft haben, für sich selbst zu kochen oder zu putzen.

Daher bietet die Plattformökonomie längst mehr als Mahlzeiten oder Fertiggerichte. Darüber werden auch Reinigungskräfte, Pfleger:innen oder Kinderbetreuung vermittelt.

Diese Inanspruchnahme von privat angebotenen und über größere Kapitale organisierten Diensten, die nun auch Teil der produktiven, Mehrwert schaffenden Arbeit werden, ist natürlich nicht für die gesamte Arbeiter:innenklasse möglich und erfordert, um unter den gegenwärtigen Konkurrenzbedingungen profitabel funktionieren zu können, dass die Beschäftigten der über die Plattformökonomie organisierten Lieferdienst oder Caresektoren selbst für geringe, unterdurchschnittliche Löhne und unter ungesicherten Arbeitsbedingungen tätig sind. Pointiert könnte man sagen, dass bei diesen Unternehmen vor allem jene Arbeiter:innen angestellt werden, die sich diese Dienste nicht oder nur gelegentlich leisten können. Hinzu kommt, dass, solange diese Dienste vergleichsweise billig angeboten werden, sie auch zu einer Erhöhung des relativen Mehrwerts führen.

Natürlich gibt es ähnliche Phänomene auch im bislang ganz oder halbstaatlich organisierten Reproduktionsbereich – bei Krankenhäusern, Schulen, Kitas, … Diese sind bereits, wenn auch zum Zweck der Reproduktion des Gesamtkapitals, vergesellschaftet. Nun werden bereits gesellschaftlich organisierte Bereiche der Reproduktion zerlegt, privatisiert oder im ersten Schritt einer privaten, profitorientierten Kostenrechnung und Kalkulation unterworfen.

Neben Tendenzen zur Privatisierung finden wir also auch in der aktuellen Krise solche zur Vergesellschaftung. Doch diese folgen keinem bewussten gesamtgesellschaftlichen Plan, sondern finden auf privater Basis oder durch den Staat statt. Das Zurückdrängen der Hausarbeit in die Familien und Abwälzen auf die Frauen bildet also nur eine Tendenz in der aktuellen Krisenperiode. Diese wird durch eine andere, nämlich die Ausdehnung privat organisierter Reproduktionstätigkeit ergänzt.

Während in der Phase der Ausdehnung des Reproduktionssektors in den 1960er und 1970er Jahren diese mit einem weitgehend allgemeinen Zugang zu Grundleistungen einherging, so geht die aktuelle Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit damit einher, dass verschiedene Schichten der Arbeiter:innenklasse weit unterschiedlicheren Zugang zu diesen haben als bisher.

So wie die inneren Differenzen der Klasse in einem Land und erst recht international zunehmen, wie die Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen Arbeiter:innenaristokratie, der Masse der Klasse und der wachsenden Schicht der prekär Beschäftigten größer werden – und dies noch viel mehr auf globaler Ebene – , so werden auch die Reproduktionsbedingungen unterschiedlicher, vergrößert sich die Kluft innerhalb der Arbeiter:innenklasse.

Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass diese Tendenzen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen, so dass Frauen von der Krise des Reproduktionssektors besonders stark betroffen sind.

Wir können aus all diesen Gründen ihre „Lösung“ nicht dem bürgerlichen Staat oder dem Markt überlassen. Der Kampf um die Verteidigung bestehender Errungenschaften um die Reorganisation der Reproduktionsarbeit bildet zugleich ein zentrales Feld des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode. Die widersprüchlichen Tendenzen zur Vergesellschaftung, zur Privatisierung und zur Ausdehnung der privaten Hausarbeit sind im Kapitalismus letztlich unlösbar, zumal die Erhöhung der Mehrwertrate ein zentrales Element der Krisenbewältigungsstrategien der herrschenden Klasse bildet, ja bilden muss.

Im Sinne eines Programms von Übergangsforderungen gilt es, an bestehenden Kämpfen anzusetzen und diese mit dem für eine planmäßige Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle zu verbinden:

  • Ausbau und Einführung von Großkantinen und Restaurants unter Arbeiter:innenkontrolle als Alternative zu isolierter Hausarbeit. Entschädigungslose Enteignung der großen Handelsketten und Lieferdienste unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Kommunalisierung aller Kindergärten und Schulen. Diese müssen kostenlos und für alle zugänglich sein. Für ein massives Investitionsprogramm zur Erneuerung und zum Ausbau und zur Einstellung fehlender Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und anderer Beschäftigter zu vollen tariflichen Löhnen. Kontrolle über die Einrichtungen durch Ausschüsse von Beschäftigten, Schüler:innen und Eltern!

  • Enteignung von Wohnungskonzernen und von Grund und Boden. Kontrolle der Mieten durch Ausschüsse der Mieter:innen und Gewerkschaften.

  • Verstaatlichung und Ausbau des gesamten Caresektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient:innen, und Gewerkschaften, finanziert durch die Besteuerung des Kapitals und der Reichen!

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse auf 30 Stunden pro Arbeitswoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, damit die Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit. Gleichmäßige Aufteilung der übrig bleibenden privaten Tätigkeiten unter Männern und Frauen!

Die Vergesellschaftung der Hausarbeit kann im Kapitalismus nie vollständig erreicht werden, ganz so, wie die planmäßige und bewusste Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht durchgeführt werden kann, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschaft prägt. Daher ist der Kampf um sie mit dem für die Enteignung des Kapitals, mit der sozialistischen Revolution untrennbar verbunden.




Internationaler Frauenkampftag: Vereint die Kämpfe der Frauen mit denen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1216, 8. März 2023

Frauen standen im letzten Jahr an der Spitze der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und für Demokratie.

  • Im Iran bildeten sie die erste Reihe eines Massenaufstandes gegen Unterdrückung und die Herrschaft der klerikalen Diktatur.

  • In den USA und vielen anderen Ländern wehrten sie sich gegen Angriffe auf Abtreibungsrechte.

  • In der Ukraine und in Russland stehen sie an vorderster Front im Kampf gegen die imperialistische Invasion Putins.

  • In Großbritannien, Deutschland und Frankreich stehen sie im Mittelpunkt von Streiks für Lohnerhöhungen zur Bekämpfung der steigenden Inflation und von Massenmobilisierungen zur Verteidigung des Gesundheitswesens und der Rentenansprüche.

  • Frauen formieren sie sich im Zentrum des Kampfes gegen rechtsextreme und reaktionäre populistisch-bonapartistische Regime wie die von Bolsonaro in Brasilien und Modi in Indien.

  • In der halbkolonialen Welt haben sie sich gegen Armut, Hunger, Klimakatastrophen, reaktionäre Kriege und die Verweigerung ihrer Grundrechte mobilisiert.

Oft sind es junge Frauen, Studentinnen, Frauen aus der Arbeiter:innenklasse und der armen Bevölkerung, die in Massen auf die Straße gehen und den Kern dieser Bewegungen bilden. Es ist nicht verwunderlich, dass Frauen bei solchen Kämpfen an vorderster Front stehen. Oft sind sie am stärksten von den zahlreichen Krisen betroffen, die unser Leben in den letzten Jahren heimgesucht haben.

In vielerlei Hinsicht scheint sich die Situation im Vergleich zu vor einem Jahr kaum verändert zu haben: Der Krieg in der Ukraine hat den Konflikt zwischen den Weltmächten verschärft und eine neue Phase im Kampf um die Neuaufteilung der Welt eingeleitet. Der Krieg und die von beiden Seiten verhängten Sanktionen haben weltweit eine neue wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst mit einer Inflation, wie sie in den imperialistischen Zentren seit 50 Jahren nicht mehr aufgetreten ist, und einer Hyperinflation, die den globalen Süden wie ein Tsunami trifft.

Die sich entwickelnde Katastrophe

Die Pandemie beherrscht nach wie vor alle Aspekte der Herausforderungen für Frauen. Ihre Auswirkungen haben zu einem Anstieg der Krankheits- und Sterblichkeitsraten der Menschen weltweit geführt. Für die Frauen bedeutet dies im besten Fall eine mehrfache Belastung durch Haus- und Sorgearbeit, im schlimmsten Fall den Verlust ihrer Existenz. Sie haben oft ihren Arbeitsplatz und die damit verbundene elementare Sicherheit verloren. Schließungen ohne funktionierendes soziales Sicherheitsnetz führten dazu, dass Frauen gezwungen waren, sich um ihre Familien zu kümmern und von ihren Arbeitsplätzen verdrängt wurden. Die häusliche Gewalt gegen Frauen hat deutlich zugenommen und vor allem ärmere Teile der Arbeiter:innenklasse mussten ihre mageren Ersparnisse aufbrauchen, um zu überleben.

In halbkolonialen Ländern führt dies zu noch schlimmeren Folgen. Da das Gesundheitswesen für die Menschen nicht leicht zugänglich ist und die imperialistischen Länder Impfstoffe und Medikamente horten, war die Zahl der Todesopfer viel höher als in den imperialistischen Zentren.

Abgesehen von den direkten Auswirkungen von Krankheiten und Kriegen werden die Rechte der Frauen in einer Vielzahl von Ländern ständig angegriffen. Der Eingriff in die reproduktiven Rechte in den USA und der Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention über Gewalt gegen Frauen sind offensichtliche Beispiele dafür. Das Gleiche gilt für die Aufdeckung von Morden, Vergewaltigungen und Frauenfeindlichkeit, begangen durch Polizeibeamte in Großbritannien.

Dies alles wurde 2022 durch den massiven Anstieg der Inflation und den Beginn eines weiteren wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. Dies ergab sich nicht nur aus den Problemen, die dem Produktionsanstieg nach der Pandemie folgten. Lieferketten- und Ressourcenprobleme bleiben weiterhin ungelöst. Auch die Energiekrise infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der westlichen Sanktionen trug ihren Teil zur Erschwerung der Lage bei. All dies trifft die Frauen am härtesten, zeigt aber auch, dass Fortschritte bei den Frauenrechten weder unvermeidlich noch unumkehrbar sind. Wir müssen unermüdlich und kontinuierlich kämpfen, um unsere Errungenschaften zu verteidigen, nicht nur gegen die unverhohlenen Attacken von rechts, sondern gegen die dem kapitalistischen System insgesamt innewohnenden Tendenzen.

Kämpfe rund um die Welt

Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini durch die sog. Sittenpolizei im September 2022 befindet sich der Iran in Aufruhr. Millionen von Menschen sind auf die Straße gegangen, um für die Emanzipation der Frauen von den grausamen Einschränkungen und damit gegen das Regime der Mullahs selbst zu protestieren. Die Regierung hat mit verschiedenen Formen der Unterdrückung hart reagiert. Es wurden nicht nur mehr als 20.000 Personen verhaftet, sondern auch über 500 Menschen getötet. Das Regime hat damit begonnen, Menschen hinzurichten, um eine Ausbreitung der Proteste zu verhindern und die Bewegung insgesamt zu unterdrücken. Doch trotz dieser massiven Repression hat der Kampf im Iran einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, um das Regime zu schwächen und den Kämpfen der Frauen in der ganzen Welt neue Impulse zu geben.

Auch im Widerstand gegen den russischen Krieg in der Ukraine spielen Frauen eine besondere Rolle. In Russland versucht der feministische Antikriegswiderstand, unter äußerst repressiven Bedingungen Unterstützung gegen Putins Invasion zu mobilisieren. In der Ukraine hingegen stellen Frauen rund 20 % der Streitkräfte, sorgen für die Unterstützung der Flüchtlinge und die Aufrechterhaltung der notwendigen Infrastruktur.

Auch in Afghanistan kommt es nach der Machtübernahme durch die Taliban zu einer zunehmenden Unterdrückung der Frauen. Junge Frauen protestieren dort gegen das Verbot ihrer Ausbildung, und ihre Proteste müssen illegal organisiert werden. Dies könnte der Beginn eines ernsthaften Widerstands gegen das Regime sein, auch wenn die Medienberichterstattung im Westen „weitergezogen“ ist und die Aufmerksamkeit vernachlässigt hat.

In Ländern auf der ganzen Welt kommt es immer wieder zu Streiks im Gesundheitssektor. Die Krise war schon seit einiger Zeit bekannt, trat aber mit der Pandemie in den Vordergrund. In Großbritannien und Deutschland gibt es erhebliche Streiks des Gesundheitspersonals – ein Sektor, der überwiegend von Frauen getragen wird.

Internationaler Frauenkampftag

Am 8. März dieses Jahres ist es umso wichtiger, den weltweiten Kampf für die demokratischen Grundrechte der Frauen zu unterstützen und die unterschiedlichen Auseinandersetzungen miteinander zu verbinden. Ob mit Protesten, Flashmobs oder Frauenstreiks, wir müssen uns einig sein in unserem Ziel, den Kapitalismus zu beenden. Das heißt, wir müssen an der Seite der internationalen Arbeiter:innenklasse kämpfen, gleich welchen Geschlechts, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig ist es wichtig, den Kampf mit national oder rassistisch unterdrückten Menschen zu verbinden.

Am Internationalen Frauenkampftag ist es wichtig, die Menschen nicht zu vergessen, die unter Sexismus, Homophobie und der Auferlegung patriarchalischer und binärer Geschlechterrollen leiden. Nicht-binäre Menschen, Transmenschen im Allgemeinen sowie andere Menschen aus der LGBTQIA+-Gemeinschaft leiden vielleicht nicht genau unter der gleichen Unterdrückung, aber es ist sonnenklar, dass ihr Einsatz für ihre Rechte Teil desselben Kampfes ist. Wenn wir den Sexismus überwinden und eine Gesellschaft haben wollen, in der jeder in Frieden und als der Mensch leben kann, der er/sie ist, müssen wir den Kapitalismus stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Es ist kein Zufall, dass die extreme Rechte in vielen Ländern Themen wie die Ablehnung der Homoehe und der Transrechte aufgreift.

Doch während wir die Notwendigkeit der kämpferischen Einheit, des gemeinsamen koordinierten Handelns betonen müssen, müssen wir uns auch der Tatsache stellen, dass die internationalen Frauenmobilisierungen seit einigen Jahren in einer Strategie- und Richtungskrise stecken. Die Massenstreiks der Frauen, inspiriert durch die Bewegungen in Lateinamerika gegen häusliche und institutionelle Gewalt, die Frauenbewegung in den USA und die Streiks von Millionen von Arbeiterinnen in Ländern wie Spanien waren eine Inspiration und der Beginn einer neuen internationalen Bewegung. Den bisherigen Höhepunkt stellt der revolutionäre Kampf im Iran dar.

Programm und Strategie

Jeder Kampf, der an den Grundlagen der Frauenunterdrückung im Kapitalismus rüttelt, steht auch vor der Frage, wie der Kampf weitergeführt werden kann. Dies zeigt, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung, gegen patriarchale Strukturen und Sexismus kein vom Klassenkampf getrennter Prozess sein kann. Er muss ein integraler Bestandteil davon sein.

Im Fall des Iran hat der Kampf der Frauen gezeigt, dass das islamistische Regime nur durch eine Massenbeteiligung der Arbeiter:innenklasse erfolgreich gestürzt werden kann – kurz gesagt, durch einen Generalstreik, der auch für die Masse der arbeitenden Frauen ein fortschrittliches Ergebnis bringt. So ist der Kampf gegen die Unterdrückung und die Mullahs mit dem entschlossenen Eintreten für eine sozialistische Revolution und deren Ausbreitung auf die gesamte Region verbunden.

Das Gleiche gilt nicht nur für die wirtschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen, sondern auch für die Kämpfe gegen nationale Unterdrückung, Imperialismus, Umweltzerstörung, Krieg und wachsenden Militarismus, Rassismus, Faschismus und Diktaturen.

Daher stehen wir vor zwei miteinander verknüpften Aufgaben. Erstens müssen wir uns für eine internationale Bewegung einsetzen, für eine koordinierte Aktion rund um eine Reihe von brennenden Forderungen und Themen, die die große Mehrheit der Frauen betreffen. Wir müssen alle Frauenorganisationen sowie die Gewerkschaften und die Parteien der Arbeiter:innenklasse auffordern, sich an einer solchen gemeinsamen Aktion zu beteiligen. Und wir müssen diese Notwendigkeit am Internationalen Frauenkampftag zur Sprache bringen.

  • Gleiche Rechte für Frauen! Abschaffung aller frauenfeindlichen und diskriminierenden Gesetze! Volles Recht auf Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben!

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Dies sind nur einige der Forderungen, die die Bedürfnisse der Frauen weltweit ansprechen. Sie sind wichtig, um Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bäuer:innenschaft, der Armen, junge und alte Menschen weltweit zu vereinen. Um den Kampf zu gewinnen, müssen die Frauen der Arbeiter:innenklasse an vorderster Front stehen, aber sie müssen von allen Lohnabhängigen aufgegriffen werden.

Wir müssen uns auch mit der Frage der Richtung, der Strategie und dem Ziel der Frauenbewegung auseinandersetzen, die wir aufbauen müssen. Soll es einfach nur ein Netzwerk und ein loses Bündnis sein – oder eine Einheitsfront, die auf Einigkeit und Engagement für die Verwirklichung vereinbarter gemeinsamer Ziele beruht? Soll es eine klassenübergreifende Bewegung sein, die effektiv von Frauen aus der Mittelschicht, der Intelligenz und einigen wohlwollenden bürgerlichen Frauen geführt wird – oder eine Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse?

Um einer globalen Frauenbewegung eine Führungsrolle zu geben, brauchen die Frauen der Arbeiter:innenklasse ihr eigenes Programm, ihre eigene Strategie – ein Aktionsprogramm, das die Kämpfe für die Befreiung von der Unterdrückung der Frauen mit dem  für eine globale sozialistische Revolution verbindet. Dafür benötigen wir eine internationale proletarische Frauenbewegung und eine neue, revolutionäre Fünfte Internationale, die für diese Rechte kämpft, nicht nur für heute, sondern als Schritt in eine Zukunft, in der sie nicht länger der scheinbar unveränderlichen Profitlogik des kapitalistischen Systems ausgeliefert sind.