Kritik des transnationalen Feminismus

Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Transnationaler Feminismus? Viele, insbesondere im deutschsprachigen Raum, haben diesen Begriff wahrscheinlich noch nicht gehört. Doch Autorinnen wie Arruza, Bhattacharya und Fraser, die „Feminismus für die 99%“ verfasst haben oder Verónica Gago, die in„How to change everything“ einen Vorschlag für eine feministische Internationale skizziert – sie alle sind  von theoretischen Konzeptionen des transnationalen Feminismus geprägt. Daher durchziehen diese Ideen auch die Frauen-/Fem*Streikbewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern am 8. März viele Personen auf die Straße bringen konnten.

Feministische Streikwelle

Die Streiks haben ihren Ursprung 2016 in Lateinamerika im Rahmen der ursprünglich argentinischen Bewegung #Ni Una Menos (Nicht eine mehr), welche sich vor allem auf die vielzähligen Femizide bezog, und breiteten sich bis 2019 weltweit aus. So gingen am 8. März 2018 in über 177 Ländern Menschen für die Rechte der Frauen auf die Straße. Allein in Spanien streikten 2018 und 2019 6 Millionen Frauen gegen sexuelle Gewalt, für gleiche Löhne und das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In der Türkei demonstrierten mehrere Tausende trotz starker Repression seitens des Erdogan-Regimes. In Pakistan beteiligten sich am Aurat-Marsch in den größeren Städten wie Lahore, Karatschi, Hyderabad und Islamabad ebenfalls Tausende an den Aufmärschen. Doch Pandemie und daraus resultierende Einschränkungen von Protestmöglichkeiten haben scheinbar zu einem Abflachen der Bewegung geführt. Es folgten Solidarisierungen mit dem Protest iranischer Frauen sowie lokale Streiks, welche über das Jahr verteilt stattfanden, wie in der Schweiz, Baskenland oder in Island (siehe Artikel dazu in dieser Ausgabe).

Doch die immense Kraft des internationaler Frauen-/ Fem*Streiks konnte auf lokaler Ebene nicht derartig reproduziert werden. Denn wenngleich sich die Organisator:innen immer wieder auch auf Frauen in anderen Ländern und deren Kämpfe bezogen, das Ausbleiben von internationaler Absprache und Koordinierung, die diese Streikbewegung auf ein höheres Level heben könnten, blieb aus.

Die Potenziale und die ursprüngliche Anziehungskraft, die die Frauen-/Fem*Streikbewegung ausübte, wurden also nicht genutzt. Im Folgenden wollen wir uns deswegen anschauen, welche Rolle der transnationale Feminismus dabei spielt. Dafür wollen wir zuerst betrachten, was diesen überhaupt ausmacht, wie er entstehen und sich etablieren konnte, und gehen dann über in eine Kritik der theoretischen Ansätze. Im letzten Teil wollen wir dann aufzeigen, was unserer Meinung nach stattdessen notwendig ist, um den Imperialismus und seine patriarchalen Strukturen weltweit zu schlagen.

Was ist überhaupt transnationaler Feminismus?

Wie bei den meisten politischen Strömungen, gibt es auch im transnationalen Feminismus unterschiedliche Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen. Den gemeinsamen Kern bildet jedoch die Ablehnung einer globalen, international zusammenhängenden und koordinierten feministischen Bewegung. Dies entspringt aus der Annahme, dass nicht alle Frauen auf die gleiche Weise und aus gleichen Gründen unterdrückt werden. Somit haben und können sie auch  keine gleichen Interessen vertreten. Die Ausmaße dieser Ablehnung sind von Theoretiker:in zu Theoretiker:in unterschiedlich stark ausgeprägt. So fordern fordern manche durchaus eine lose Zusammenarbeit, eine gegenseitige Bezugnahme und einen Erfahrungsaustausch, wie sie auch in der Frauen-/Fem*Streikbewegung stellenweise umgesetzt wurden.

Dem zugrundeliegende Idee ist die Ablehnung der „globalen Schwesternschaft“, die vom westlichen Feminismus propagiert wird. Das schließt auch ein, dass feministische Ideale oder Werte, wie sie von westlichen Feminist:innen auf Frauen aus Halbkolonien projiziert werden, als eurozentrisch, unangebracht sowie paternalistisch verstanden werden. Das Leben in der westlichen Welt solle als Ideal übergestülpt werden – obwohl es komischerweise auch dort noch Frauenunterdrückung gibt. Ein nachvollziehbares Beispiel sind Vertreter:innen wie Alice Schwarzer, die der Meinung sind, Frauen aus Halbkolonien müssten in erster Linie gegen religiöse Unterdrückung kämpfen und wären frei, sobald sie beispielsweise das Kopftuch ablegen „dürften“ – ganz egal ob diese vielleicht ganz andere Probleme für ihre Unterdrückung als Frau identifizieren (zum Beispiel imperialistische Ausbeutung und Abhängigkeiten). Oftmals geht dies damit einher, Frauen aus Halbkolinien in eine Opferrolle zu drängen. Schließlich müssen die „erstmal über ihre Rechte aufgeklärt werden“. Gleichzeitig gehen Teile des transnationalen Feminismus (z. B. Spivak, Mitbegründerin der postkolonialen Theorie) sogar von einer Kompliz:innenschaft westlicher Frauen mit dem westlichen Imperialismus aus, weswegen das Ziel von Spivak nicht darin besteht, Gemeinsamkeiten in ihrer Lage als unterdrückte Frauen zu erkennen, sondern die Verbindung („linkage“) zu begreifen. Daraus resultiert auch eine Ablehnung von  generalisierenden Theorien wie etwa der marxistischen über Imperialismus oder eines Klassenbegriffs, da diese den Blick von den spezifischen lokalen Zusammenhängen ablenken würden.

Zuerst das Positive: Eine Kritik am Begriff der „globalen Schwesternschaft“ ist mehr als notwendig und berechtigt. Es gibt zwar Probleme, die alle Frauen treffen, aber eben nicht auf die gleiche Art und Weise – sei es beim Kampf gegen Gewalt an Frauen, Selbstbestimmung über den eigenen Körper oder der Ungleichverteilung der Hausarbeit. Das erzeugt letzten Endes trotzdem die Illusion von Frauen als Gesamtheit. Nachvollziehbar ist das am besten am Beispiel der „Girlboss“-Mentalität. Während auf der ganzen Welt Frauen in schlechten, zumeist informellen Arbeitsbedingungen angestellt sind sowie der Gender Pay Gap ein reales Problem ist, wird oftmals der Fokus auf Forderungen wie „Frauenquote in Führungsetagen“ gelegt oder die Förderung von Frauen als Unternehmerinnen, ganz nach dem Motto „Representation matters“. Sind diese jedoch in der Führungsriege angekommen, liegt es – Überraschung! – nicht in ihrem Interesse, dass  Löhne steigen, denn das könnte den Profiten schaden. Sie werden nicht zugunsten der „globalen Schwesternschaft“ anfangen, höhere Löhne zu zahlen oder  unbefristete Verträge auszustellen. Das würde ihre eigene Position innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz gefährden. (Und wenn sie es tun, würden sie aufgrund dieser untergehen.) Somit hilft die Girlboss-Mentalität der Mehrheit der Frauen der Arbeiter:innenklasse sowohl in imperialistischen Staaten als auch in Halbkolonien kein Stück. Für sie ist es letzten Endes egal, wer in der Führungsetage sitzt, wenn es darum geht, ob man vom Lohn das Leben bestreiten kann. Dabei muss angemerkt werden, dass die Lage der Arbeiterinnen nicht komplett gleich ist. In den imperialistischen Staaten ist die Arbeiter:innenklasse natürlich privilegierter als die in Halbkolonien. Doch auf diese Frage wollen wir später noch einmal zurückkommen.

Herauszustellen ist, dass auch wir die Idee des bürgerlichen Feminismus ablehnen, es würde eine globale klassenübergreifende Schwesternschaft geben. Ein damit einhergehendes Problem ist nämlich auch, dass die bürgerlichen Feminismen keine Antwort darauf haben, wie Frauenunterdrückung eigentlich überwunden werden kann. Sie setzen sich nur für Reformen und somit für die Festigung ihrer eigenen Stellung ein und da sie daher den Imperialismus nicht angreifen (wollen), müssen sie sich auch umso mehr aufklärerisch und eurozentristisch gegenüber Frauen in Halbkolonien verhalten. Somit basiert der weiße bürgerliche Feminismus auch auf der Überausbeutung der Frauen in Halbkolonien. Dies entspringt jedoch nicht aus kulturellen Unterschieden, einer  „besonderen Psychologie“ der Frauen in den Halbkolonien oder einer grundsätzlichen, klassenunabhängigen Kompliz:innenschaft westlicher Frauen. Das Problem liegt woanders und zwar in der Klassengesellschaft und im Imperialismus selbst. Diese benötigen die doppelte Ausbeutung der Arbeiterin, da diese einerseits Mehrwert in der Produktion erwirtschaftet und andererseits die unentlohnte Reproduktion der Ware Arbeitskraft in der Arbeiter:innenfamilie verrichtet. Hier sehen wir also den Grund, warum es keine globale Schwesternschaft gibt: Die Interessen der Frauen verschiedener Klassen unterscheiden sich genauso wie die konkrete Lage der Frauen in imperialistischen Staaten und in Halbkolonien. Doch gleichzeitig hegen Frauen der Arbeiter:innenklasse international nicht nur ein gemeinsames objektives Interesse, die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung, den Kapitalismus, zu überwinden; sondern auch die Fähigkeit dazu aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess.

Wie ist der transnationale Feminismus entstanden und wie hat er sich entwickelt?

Verfasst wurden die Grundlagen des transnationalen Feminismus bereits in den 1970er, 1980er Jahren und stellen eine Reaktion auf das Fehlen eines internationationalistischen Programms dar, das weder bürgerliche Feminist:innen aufgrund ihres Fehlschlusses der globalen Schwesternschaft geben konnten noch die damalige Arbeiter:innenbwegung, in der Reformismus sowie Stalinismus die führenden Kräfte darstellten. So gewann diese Strömung mit dem Zusammenbruch des Stalinismus sowie  der Veränderung der Weltlage – dem Beginn der Globalisierung – schließlich mehr Relevanz in den 1990er Jahren. Diesen Prozess wollen wir im Folgenden skizzieren, um für die kommende Auseinandersetzung mit den Theoretiker:innen eine Grundlage zu schaffen.

a) Verrat und Zerfall des Stalinismus

So wie der transnationale Feminismus eine Strömung innerhalb des feministischen Spektrums ist, so der Stalinismus eine der Arbeiter:innenbewegung, die noch dazu als Marxismus auftritt. Einen vollen Abriss der Entwicklung können wir an dieser Stelle nicht geben, jedoch halten wir es für notwendig, auf eine Punkte einzugehen, um aufzuzeigen, warum einige Kritikpunkte seitens der transnationalen Feminist:innen berechtigt sind – aber letzten Endes nicht den Marxismus, wohl aber seine stalinistischen und reformistischen, verfälschenden Lesarten treffen. Dabei können wir an dieser Stelle nicht auf alle Kritikpunkte eingehen. Für den Gegenstand relevant sind jedoch vor allem zwei Punkte: Die dem Stalinismus zugrundeliegende Etappentheorie sorgte für fehlerhafte politische Außenpolitik, da sie zur illusionären Strategie der globalen „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus führt. So wurden Initiativen der Arbeiter:innenklasse wie in Griechenland oder Polen und Revolution wie in Spanien und anderen Ländern verraten, da Unterstützung nur in in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus stattfand. Zudem spielte in den 1980er Jahren die UdSSR beispielsweise in Afghanistan eine konterrevolutionäre Rolle sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus. Auch die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen Analphabetismus unter Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiss zu kommen. Doch der Stalinismus verriet die Interessen der proletarischen Frauen auch auf anderer Ebene: Während es nach der Oktoberrevolution 1917 diverse Anstrengungen gab, die Hausarbeit zu vergesellschaften und Rechte auf körperliche Selbstbestimmung umzusetzen, drängte der Stalinismus darauf, die sogenannte „neue Familie“ umzusetzen, letztendlich auch nichts anderes als das Ideal der bürgerlichen Familie mit sowjetischem Anstrich, bei dem die Mutterrolle auf eine reaktionäre Art und Weise stark unterstrichen und die Frau somit wieder in die häusliche private Reproduktionsarbeit gedrängt wurde. Auch die Mangelwirtschaft der UdSSR fiel insbesondere den Frauen zur Last, da sie nicht die Möglichkeit hatten, Küchengeräte zu nutzen, die in imperialistischen Ländern längst Einzug gehalten hatten und dort die Intensität der Hausarbeit massiv verkürzten. Auch die Nahrungsmittelknappheit fiel vor allem Frauen zur Last. Die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. blieben außerdem auch eine Domäne der Männer. Es gab zwar auch diverse Errungenschaften, aber nicht im Ansatz genügend, was notwendig gewesen wäre, um die Frauenbefreiung wirklich voranzutreiben. Im Angesicht dieser Politik ist es nicht verwunderlich, dass diese, unter dem Label des Marxismus betrieben, kein Mittel zur Befreiung sein kann – ob nun für Frauen insgesamt oder in der halbkolonialen Welt.

Die Restauration des Kapitalismus in Russland, China und Osteuropa stellt zwar auch eine Niederlage der Arbeiter:innenbewegung dar und wurde von vielen als Beweis betrachtet, dass sich gezeigt habe, dass der Marxismus nicht siegen könne und gescheitert wäre. Somit kehrten viele ihm den Rücken zu und suchten nach anderen Ideen und Theorien, die „moderner“ erscheinen sowie die Fehler des angeblichen Marxismus nicht wiederholen sollten – z. B. Theorien des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus. Auch der Queerfeminismus von Butler entspringt dieser Zeit.

b) Aufkommen der Globalisierung

Gleichzeitig kam es unter anderem aufgrund dessen, dass kein Systemantagonismus mehr bestand, zu einer Periode der Globalisierung. Die USA mussten sich als Hegemon beweisen, um der ganzen Welt eine einheitliche ökonomische Politik aufzuzwingen. Gleichzeitig mussten sie die Überakkumulation mitsamt den immer weiter fallenden Profitraten in der heimischen Wirtschaft vorerst versuchen zu kompensieren. Dafür stülpten sie ihr Wirtschaftssystem immer größeren Teilen der Welt über und dehnten ihre Konzerne ebenso in diese Regionen aus. Die Unternehmen hatten zwar bereits früher zweitrangige Niederlassungen in Halbkolonien, doch sie wurden nun wirklich multinational. Ein bedeutender Teil der Warenproduktion selbst wurde weg aus den imperialistischen Staaten in die Halbkolonien ausgelagert, da billigere Arbeitskraft und generell die geringeren Produktionskosten dort höhere Profite versprachen. Das ging auch mit dem Anspruch auf Steuererleichterungen und diverse Sonderrechte gegenüber den Regierungen der Halbkolonien einher. Die Folge davon sind „Löhne“ am absoluten Existenzminimum, hochgefährliche Arbeitsplätze (z. B. hinsichtlich des Feuer- oder Gesundheitsschutzes), Sklaverei und Kinderarbeit. Ebenso wurden Freihandelszonen errichtet. Zusätzlich wurden staatliche Vermögen von diesen Unternehmen aufgekauft und wurde Geld von ausländischen Regierungen geliehen. Somit spitzte sich auch der Imperialismus immer weiter zu, da die Arbeiter:innen der halbkolonialen Staaten nun in Teilen direkt von der westlichen Bourgeoisie ausgebeutet und auch die Regierungen und die regionale Bourgeoisie immer abhängiger vom USA-Finanzkapital wurden. Durch die sich verschärfende Situation in den Halbkolonien gewann die Idee des transnationalen Feminismus an Bedeutung und die Kämpfe bezogen sich nun explizit auf die Ausbeutung von Frauen in dortigen multinationalen Unternehmen, antikoloniale sowie Kämpfe indigener Bevölkerungen gegen Vertreibung und Zerstörung bzw. Landgrabbing ihrer Landflächen durch imperialistische Konzerne.

Zu einem besonderen Höhepunkt kam es während der Invasion der USA in Afghanistan: Durch die Instrumentalisierung von Frauenrechten im Kampf gegen die Taliban versuchten die USA, ihre geopolitischen Interessen in diesem Krieg zu verstecken. Westliche Feminist:innen beteiligten sich an dieser Stimmungsmache, wo die andere Kultur allgemein rassistisch verunglimpft wurde und sie als barbarisch im Gegensatz zur eigenen, zivilisierten dargestellt werden sollte. Ähnliches passierte beim Irakkrieg: Die Rechte der Irakerinnen wurden auf einmal zu einem wichtigen Ansatzpunkt der USA während der Invasion, während man sich davor jedoch gar nicht um sie scherte. Insbesondere diese Ereignisse verliehen der Theorie des transnationalen Feminismus mehr Bedeutung innerhalb der feministischen Debatten.

Dekonstruktivistische Elemente und Ablehnung von Generalisierungen

Im Gegensatz zur marxistischen Zielsetzung der Überwindung der materiellen Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung liegt das Ziel transnationaler Feminist:innen darin, den westlichen Feminismus auf einer postkolonialen, antiimperialistischen und intersektionalen Ebene zu kritisieren und daraus Schlüsse für das lokale Vorgehen in feministischen Kämpfen zu ziehen. Dafür bedienen sie sich in gewissem Maß des Dekonstruktivismus, wie bereits im „transnational“ zu erkennen ist: Die Vorsilbe „trans“ soll hier darauf hinweisen, dass nicht nur  nationalstaatliche Grenzen überwunden werden sollen und der Kampf auch in „Sphären“ außerhalb staatlicher Strukturen geführt werden (zum Beispiel in der Nachbarschaft, der Familie, der Freund:innengruppe), sondern auch, dass die Nation an sich als Kategorie in Frage gestellt werden soll. Somit werden Nationalstaaten nicht als „real existierende Gebilde“ angesehen, welche eine wichtige Funktion für Kapitalismus und Imperialismus erfüllen und die es natürlich durchaus zu kritisieren und zu überwinden gilt, sondern eher als Narrative, die subjektive Meinungen widerspiegeln würden und mit anderen Ideen anstatt mit tatsächlich radikalem Handeln bekämpft werden müssten.

Ein weiteres Element des Dekonstruktivismus im transnationalen Feminismus ist die bereits erwähnte Annahme, dass es keine generalisierenden Theorien geben könne. Damit einher geht die Idee, es würde keine außerhalb des Diskurses existierende, objektive Wahrheit geben. Jede Erfahrung von Unterdrückung ist somit grundsätzlich anders und die Verbindungen müssen alle berücksichtigt werden, um sie nachvollziehen zu können. In diesem Fall soll allerdings der subjektive Idealismus dieser Annahme dadurch verschleiert werden, dass es sich bei den Betroffenen nicht um Einzelpersonen handelt und sie in einem regionalen Kollektiv zusammengeschlossen werden können. Trotzdem sei diese regionale Erfahrung völlig anders als jede andere und könne nicht kategorisiert werden. Solch eine Auffassung nimmt offensichtlich den Nährboden für jegliche objektive Analyse weg und vor allem für eine gemeinsame Praxis der Unterdrückten für gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Sie ist einerseits idealistisch und andererseits rückschrittlich, da sie verhindert aufzuzeigen, woher gemeinsame, aber auch unterschiedliche  Unterdrückungserscheinungen kommen. Im Gegensatz dazu gibt es im Marxismus durchaus die Möglichkeit einer Überwindung von reiner Subjektivität: das revolutionäre Bewusstsein, welches von den geschichts- und erkenntnisstiftenden Elementen in der gesellschaftlichen Arbeit und ihren Wandlungen im historischen Materialismus getragen wird und der Anerkennung dessen, dass es durchaus eine objektive, materialistische Realität gibt, die dafür sichtbar gemacht werden muss. Warum dies notwendig ist, um kollektive Befreiung zu erreichen, wollen wir um Folgenden argumentieren, indem wir uns mit verschiedenen Theoretiker:innen näher auseinandersetzen.

Khaders Kritik am westlichen Feminismus

Die transnational-feministische Theoretikerin Serene Khader bezeichnet den westlichen Feminismus auch als missionarisch, da die westlichen Feminist:innen von ihrer ideologischen Vormacht überzeugt seien. Sie bezieht sich hierbei auf ihre folgenden Werte:

1. die westliche Überlegenheit, legitimiert durch das quasi theologische Paradigma der Aufklärung, und damit einhergehend:

2. der Unabhängigkeitsindividualismus, was bedeutet, dass es als Ideal gilt, wenn Frauen in keinerlei Abhängigkeit zur Familie und Beziehungspersonen stehen,

3. Aufklärungsfreiheit, was das Infragestellen von Traditionen und religiösen Überzeugungen zu einem Ideal macht, und

4. der Ansatz, dass Genderrollen Geschlechtergerechtigkeit verhindern und für die Befreiung von sexistischer und sexueller Unterdrückung aufgehoben werden müssen.

Diese Werte und daraus hervorgehenden Lebensarten würden imperialistische Strukturen festigen, da sie zur Idealisierung westlicher Werte und Verschleierung des Einflusses der imperialistischen Ausbeutung auf die Halbkolonien beitragen würden. Um diese Probleme zu überwinden, seien Ansätze notwendig, die Wertschätzung der Beziehungsabhängigkeiten, Tradition, Religion und Geschlechterrollen ermöglichen sollen. Deswegen sei es nötig, die spezifischen Kontexte in Betracht zu ziehen und eine konkrete Praxis anstelle idealistischer, abstrakter Moralvorstellungen zu etablieren. Denn bei einer Generalisierung könne es sonst dazu kommen, dass die Unterdrückung in den lokalen Unterschieden und nicht im imperialistischen System verortet wird. Des Weiteren solle der Widerstand gegen antifeministische Praktiken nur von den Betroffenen selber kommen und keine Intervention von außen erfolgen, um sie nicht zu entmündigen. Erstmal ist es natürlich völlig richtig, den westlichen bürgerlichen Feminismus und seinen Überlegenheitsanspruch in Frage zu stellen. Jedoch sollte hier differenziert werden, denn manche seiner Ideen und Forderungen stellen zumindest keinen falschen Ausgangspunkt dar.

a) Fortschritt und Entwicklung im historischen Materialismus

Die Grundsätze der Aufklärung wie Kritik der Kirche als Institution, Fokus auf Vernunft und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Bürger:innenrechte stellen – auch wenn sie bürgerliche Errungenschaften sind –  innerhalb der historischen Entwicklung einen Fortschritt dar. Zwar dienten sie zur Legitimation der bürgerlichen Herrschaft gegenüber dem Feudalsystem, also letztendlich des Kapitalismus, verkörperten aber gleichzeitig eine Verbesserung gegenüber dem religiös geprägten Austausch. Zudem ist die Behauptung, die Aufklärung sei eine rein westliche Erfindung bereits eine Rückkehr zum Orientalismus, den die postkolonialen Theorien, auf die sich der transnationale Feminismus bezieht, eigentlich kritisiert hatten. So gab es auch beispielsweise im Osmanischen Reich vergleichbare Ansätze und der Bezug auf Rationalität und Naturwissenschaftlichkeit ist kein rein „europäisches Phänomen“.

Wichtig ist, dass der Fortschritt einer einzelnen Gesellschaftsformation nicht als „ewig“, starr und unantastbar gelten darf, sondern im Verhältnis zu seinen eigenen Potentialen und auch Entwicklungshemmnissen beurteilt werden muss. Denn jede dieser von Widersprüchen geprägten Gesellschaftsform verliert irgendwann ihren fortschrittlichen Charakter und muss sich ihrer Fesseln entledigen (oder fällt zurück). Das heißt, dass es nur Brüche und Umwälzungen der Produktionsformen sind, die einen wirklichen Fortschritt bringen können, nicht die unaufhörliche Weiterentwicklung der jeweiligen Gesellschaftsform. Sichtbar kann das zum Beispiel werden, wenn wir die rückschrittlichen Tendenzen des Kapitalismus in seinem aktuellen Stadium betrachten: Er ist zu einer Fessel des Fortschritts und der Befreiung der Menschheit geraten.

Demnach ist es jedoch völlig richtig, im Rahmen der Imperialismustheorie die halbkolonialen Staaten als unterentwickelt zu betrachten. Das soll keine Herabwürdigung darstellen, sondern beschreibt ihr materialistisches, dialektisches Verhältnis zu den imperialistischen Staaten. Halbkolonien sind gar nicht in der Lage, sich gleichsam wie diese zu entwickeln, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit die Entwicklung nicht aufholen können. Es ist sogar ein erklärtes Ziel der imperialistischen Staaten, sie unterentwickelt zu halten, auch wenn mit „Entwicklungshilfe“ etwas anderes suggeriert werden soll. Das darf jedoch nicht in eine ideologische Vormachtstellung insofern umschlagen, als dass man die Unterdrückten selbst auch als „unterentwickelt“ einschätzt und sie somit rassistisch abwertet, ihnen die eigene Perspektive aufzwingt oder dies zur Legitimierung des bestehenden Systems nutzt.

Gleichsam darf man nicht zur Schlussfolgerung kommen, wie sie auch Stalinist:innen entwickelten, es sei erst eine bürgerliche Revolution in den Halbkolonien notwendig, um dann diese noch einmal erneut überwinden zu müssen. Sehr wohl müssen aber die bürgerlich-demokratischen Aufgaben vollendet werden, was einen wichtigen Ansatzpunkt für revolutionäre Kräfte darstellt. Dazu aber  später mehr. Erstmal stellt sich hier natürlich die Frage nach der Notwendigkeit des Bruches mit der vorkapitalistischen Ausbeuter:innenordnung: Dieser ist nicht notwendig, da die Halbkolonien bereits in das imperialistische Weltsystem und dessen grenzenlosen Drang nach Wertschöpfung integriert sind. So haben bereits gemäß Trotzkis Gesetz der kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung die fortschrittlichen Technologien in den Halbkolonien Einzug erhalten, denn die Produktivkräfte kennen den nationalen Rahmen nicht und müssen nicht in jeder Region neu erfunden werden. Das äußert sich auch darin, dass die Entwicklung in den Branchen, welche für die Kapitalbewegung interessant sind, vorangetrieben wird. Daher breitet sich zum Beispiel die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien immer weiter aus, während gleichzeitig die rückschrittlichen Produktionsformen und -techniken trotzdem weiterhin gefestigt werden, zum Beispiel in der Landwirtschaft, um die Reproduktionskosten und damit das Lohnniveau weiterhin so günstig wie möglich zu halten. Was könnte eine bürgerliche Revolution nun ändern? Vermutlich wenig. Denn die lokale Bourgeoisie kann sich aufgrund ihrer geringen Größe und ihres unbedeutenden Einflusses nicht von den internationalen Investor:innen lossagen und fürchtet die Rebellion der eigenen Bevölkerung viel mehr. Vor allem aber stellen diese rückständigeren Formen im modernen Kapitalismus im Wesentlichen keinen „störenden Überrest“ einer vorhergehenden Produktionsweise dar, sondern wurden in das kapitalistische Gesamtsystem integriert.

Auch in den Halbkolonien müssen Traditionen, kulturelle Praktiken und Religionen Kritiken unterzogen werden, um einen gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten zu können, da sie oftmals reaktionäre Elemente enthalten, die sich schon über Jahrhunderte entwickelten. So übte beispielsweise auch Marx Religionskritik aus, da er davon ausging, dass diese in jeder Klassengesellschaftsformation zur Verschleierung der materiellen Lage und Ausbeutung dient. Eine Kritik der Religion ist demnach notwendig, um die wahren Ursachen – die Klassengegensätze – zu Tage zu bringen. Das heißt, dass Religion nicht die Basis der Unterdrückung liefert, sondern ihren Überbau, der benötigt wird, um sie aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Herleitend ist es also sogar im Sinne der Bourgeoisie, diese beizubehalten, da so die imperialistischen und neokolonialen Unterdrückungsmechanismen mystifiziert werden können. Letztendlich stellt sich die Behauptung Khaders, man müsse Konzepte entwickeln, die Religion und Co wertschätzen, genau in diesen Dienst der Imperialist:innen. Da Marxist:innen erkennen, dass die Religion eine materielle Basis in den bestehenden Verhältnissen hat, jedoch auch, dass diese wie jede andere bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologie nicht „abgeschafft“ werden kann, solange die Verhältnisse weiter bestehen, die sie hervorbringen.

Daher ist es falsch, von Frauen in Halbkolonien grundsätzliche Ablehnung ihrer Religion zu fordern, um ihre antisexistische Emanzipation voranzutreiben oder es gar zu einer Bedingung für den gemeinsamen Kampf zu machen. Jedoch ist der gegen theokratischen Regime fortschrittlich, denn diese errichten i. d. R. Diktaturen zum Leidwesen von Frauen, LGBTIA*-Personen, nationalen Minderheiten sowie der gesamten Arbeiter:innenklasse. Demnach können die Forderungen im Sinne der permanenten Revolution Trotzkis nach bürgerlichen Rechten wie Demokratie, gleichen Persönlichkeitsrechten für alle, Befreiung von feudalistischen und anderen vorkapitalistischen Rückständen, Frieden und Wohlstand jedoch als revolutionäres Vehikel funktionieren. Denn es ist klar, dass sie sich eben unterm Kapitalismus für Halbkolonien nicht erfüllen lassen, sondern die Strukturen der Klassengesellschaft überwunden werden müssen, um gleiche Rechte für alle und wirkliche Demokratie gewährleisten zu können. Ebenso dürfen diese Kämpfe nicht im nationalen Rahmen stehenbleiben, sondern müssen so viele Gebiete wie möglich umfassen und zu einer Weltrevolution werden.

b) Unabhängigkeitsindividualismus und Geschlechterrollen

Auch dieser Punkt an Khaders Kritik bedarf einer näheren Betrachtung. Für sie stellt der westliche Feminismus die unabhängige Karrierefrau in den Mittelpunkt, die keine Zeit für Familie, Kinder und Haushalt hat. Daraus resultiert, dass sie die Reproduktionsarbeit, die ihr durch die Geschlechterrollen als Frau aufgehalst werden würde, anders lösen muss: nämlich, indem sie andere Frauen dafür einstellt. Somit kann man sagen, dass die Reproduktionsarbeit auch im Kapitalismus schon in einer gewissen Hinsicht vergesellschaftet ist, allerdings unter dem Vorzeichen der herrschenden Klasse. Wer sich die Auslagerung von Reproduktionsarbeit leisten kann, hat Glück. Hierbei wird vor allem deutlich: Es handelt sich nicht um „den westlichen“ Feminismus per se, sondern um bürgerlichen Feminismus. Denn auch in halbkolonialen Ländern ist diese Form der Auslagerung für Frauen aus der herrschenden Klasse und Teile der Mittelschicht möglich.

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit kann also im Kapitalismus nicht wirklich für alle Beteiligten zufriedenstellend aufgelöst werden. Es ist zwar richtig, dass durch den Kapitalismus eine Entfremdung von der Gemeinschaft, die vorher in einer gewissen Hinsicht z. B. im Feudalismus existierte, ausgelöst wurde, das kann jedoch in den jetzigen Strukturen nicht überwunden werden, da sie auf der aktuellen Produktionsweise beruht. Angebliche Konzepte vorkapitalistischer Gemeinschaft und der Abhängigkeit fördern nicht die Frauenbefreiung. Ökonomische Abhängigkeiten sorgen oftmals dafür, dass Frauen eben nicht ihrem gewalttätigen Mann entfliehen können, da sie in ihrem Job aufgrund ihrer Verpflichtungen zur Reproduktionsarbeit, die ihnen mithilfe der Geschlechterrollen auferlegt wurden, zu wenig verdienen, um wirklich unabhängig zu leben. Das trifft natürlich auch Frauen, die gar nicht berufstätig sein dürfen (sei es aufgrund des Verbots durch Mann oder Staat). Es ist aber auch so, dass zum Beispiel alleinerziehende Mütter, die keine gesellschaftliche Unterstützung erfahren, auch nicht unbedingt bessere Lebensbedingungen haben. Um ihre Kinder großziehen zu können, sind sie oftmals auf flexible Arbeitsstellen mit Schichtarbeit angewiesen, damit sie alles unter einen Hut bekommen können. Flexible Jobs sind meistens auch im Niedriglohnsektor angesiedelt. Jedoch ist ihre Lage genauso darin zu verorten, dass die Reproduktionsarbeit ins Private verschoben wurde, anstatt eine gemeinschaftliche Pflege und Erziehung von Kindern bzw. Alten zu gewährleisten. Auch die Abhängigkeit von der eigenen Verwandtschaft geht sehr wohl mit patriarchaler Unterdrückung einher, wenn es zum Beispiel um Konzepte von Familienehre oder Zwangsheirat geht.

Natürlich sollte das Ziel nicht darin liegen, ein einsames zurückgezogenes Leben zu führen, um jeglicher Abhängigkeit zu entfliehen und alleine erfolgreich zu sein oder sich zumindest gerade so über Wasser halten zu können.

Der zentrale Punkt ist jedoch, dass für die Aufhebung der Strukturen, die Frauen in die Abhängigkeit drängen, wie das Ideal der bürgerlichen Familie, die der damit einhergehenden Geschlechterrollen und der ins Private gedrängten Reproduktionsarbeit den Schlüssel darstellen und nicht eine Illusion von spirituellen Gemeinschaften und traditionsreichen Abhängigkeiten. Denn diese stellen nur den ideologischen Ausdruck (den Überbau) der Frauenunterdrückung dar. Auch eine bloße Kritik der Geschlechterrollen kann keine Befreiung herbeiführen. Erst die Überwindung des Kapitalismus und die Kollektivierung von Produktion und Reproduktion können die aktuelle Entfremdung überwinden und zu einer neuen Gemeinschaft führen, die geprägt von vielerlei zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Die Annahme, Geschlechterverhältnisse seien in Halbkolonien grundsätzlich anders und hätten auch einen anderen Ursprung als in imperialistischen Staaten, entbehrt jeder Logik. Der ideologische Überbau und der Grad der sozialen Unterdrückung können sich zwar unterscheiden, aber zum Beispiel fortschrittlichere Gesetzgebungen können in imperialistischen Staaten auch wieder zurückgenommen werden, wie man an Abtreibungsrechten in den USA oder der Aberkennung von Rechten queerer Eltern in Italien in den letzten Jahren sieht. Gleichstellung auf dem Papier heißt nicht, dass diese wirklich konsequent umgesetzt und verfolgt wird, wie man  an der Anzahl der Femizide und sexualisierter Gewalt auch in imperialistischen Staaten feststellen kann.

Es mag in Halbkolonien vielleicht Strukturen geben, wo Gemeinschaft und Hausarbeit anders gelebt und geleistet werden, als das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie suggerieren soll. Das überschreitet aber trotzdem meistens nicht den Rahmen einer Familie und beschreibt dann eher die Zusammenarbeit von Frauen aus verschiedenen Generationen innerhalb ihrer, wie es auch in feudalen und anderen vorkapitalistischen Verhältnissen üblich war. Diese Umstände werden auch in manchen Fällen von den Imperialist:innen bewusst gefördert oder zumindest unangerührt gelassen. Es mag auch indigene Völker geben, deren Gesellschaftsstruktur mehr noch der des „Urkommunismus“ ähnelt, trotzdem stellen sie eine Seltenheit dar. Somit bleibt die Hausarbeit in den Halbkolonien also trotzdem im Privaten. Des Weiteren ist die Klasse der Lohnarbeiter:innen auch mittlerweile so ausgedehnt, dass die Notwendigkeit der Reproduktion im privaten Bereich dort ebenso besteht und ausgeführt wird. Die Grundlage der Unterdrückung der Frau bleibt also dieselbe: die Klassengesellschaft.

c) Entstehung des Bewusstseins

Die Annahme, es dürfe im Kampf gegen Antisexismus keine Interventionen von „außen“ geben, geht ebenso auf die bereits erwähnte Idee zurück, dass es keine objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit geben könne und lediglich die subjektiven Wahrnehmungen der Betroffenen ihnen Erkenntnisse über ihre individuelle Situation bringen könnten. Das heißt also, ausschließlich die Frauen in der jeweiligen Halbkolonie haben die Möglichkeit zu erkennen, warum sie unterdrückt werden, da sie die Betroffenen sind.

Erst einmal kommt niemand zum Bewusstsein, nur weil die Person unterdrückt wird. Sonst würde es bereits jetzt keinen Kapitalismus mehr geben. Natürlich kann die eigene Betroffenheit eine Anregung sein, um sich tiefergehender mit Hintergründen zu beschäftigen und Ideen dagegen zu entwickeln. Aber man kann genauso auch komplett falsch in seiner Analyse liegen. Denn das Bewusstsein ist eine kollektive Frage, welche ihre Grundlage und ihren Gradmesser von Wahrheit zwar in den ökonomischen Strukturen und im gemeinsamen Kampf gegen diese hat, jedoch auch mit theoretischen Erkenntnissen verknüpft werden muss, welche von außen in die Klasse getragen werden müssen. Das gilt auch für eine proletarische Frauenbewegung. Das soll natürlich nicht heißen, dass westliche Feminist:innen alles bestimmen, jedoch, dass es neben gemeinsamen Kämpfen auch eine gemeinsame internationalde Analyse der Welt braucht, wobei Internationalismus das Fundament bilden muss, um zu gewährleisten, dass die objektive Lage auch erfasst wird und nicht von nationalistischen Ideen bzw. imperialistischem Chauvinismus geprägt ist. Darauf aufbauend kann es dann Diskussionen über die gemeinsame Ausrichtung geben. Außerdem ist es auch notwendig, dass aus Erfolgen und Misserfolgen von Arbeiter:innen- und Frauenbewegungen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. Denn wenn jede:r Unterdrückte erst einmal unbehelligt wieder denselben Fehler machen soll, nur um nicht bevormundet zu werden, sieht es für unsere klassenlose und befreite Zukunft wahrscheinlich eher düster aus. Aber das darf natürlich keineswegs eine Einbahnstraße sein. Genauso muss der westliche Feminismus mitsamt seinen neoliberalen und individualisierenden Tendenzen scharf kritisiert werden, damit eine sinnvolle klassenkämpferische Einheit gegen Frauenunterdrückung gebildet werden kann, die sich auch wirklich Antiimperialismus und Antikapitalismus auf die Fahne schreiben kann und erfolgversprechend ist.

Kritik des Marxismus von Kaplan, Grewal und Spivak

Ein Blick auf die transnationalen Feministinnen Kaplan und Grewal zeigt jedoch, dass solch ein Ansatz nicht im Sinne des transnationalen Feminismus ist. Sie stellen in ihrem Text „Transnational Feminist Cultural Studies: Beyond the Marxism/Poststructuralism/Feminism Divides (1994)“ hauptsächlich infrage, dass es ein homogenes Weltproletariat gibt, und wollen damit beweisen, dass die marxistische Theorie veraltet sei. So würde es bei Anwendung eines Klassenbegriffes zu einer Gemeinmachung von Mann und Frau kommen, sowie würden soziale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung nicht beachtet werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass das Kapital heutzutage keine Konformität mehr produziert, also kein generalisiertes revolutionäres Subjekt, sondern, es die Personen in ihrem zugrundeliegenden kulturellen Kontext anspricht. Communities anstatt Klassen produzieren Bewusstsein, insbesondere durch den Versuch, mit Diversität die Ausbeutung zu verschleiern. Mit Bezugnahme auf Spivak argumentieren sie, es würde durch die imperialistische Wertschöpfungskette nicht nur der Wohlstand für die imperialistischen Staaten, sondern auch gleich die Möglichkeit zur kulturellen Selbstrepräsentation von den Halbkolonien produziert werden. Spivak geht davon aus, dass die Marx’sche Wertschöpfungstheorie nicht genügend erklären kann, wie soziale Unterdrückung entsteht. Sie schlussfolgert, dass kulturelle Dominanz und Ausbeutung Hand in Hand gehen und sich gegenseitig formen. Daraus herleitend lehnen Kaplan und Grewal jegliche generalisierenden Theorien und Kategorien ab, da diese nicht in der Lage seien, die Komplexität zu erfassen. Sie schlagen Solidarität und Koalitionen vor, aber keinen konkreten gemeinsamen Kampf oder gar gemeinsame Organisierung.

a) Zur Frage des Weltproletariats

Zuerst einmal ist es keine falsche Annahme, dass es kein homogenes Weltproletariat gibt. Der marxistische Klassenbegriff ist keine starre Kategorie, die die Arbeiter:innenklasse an ihrem monatlichen Einkommen misst, sondern argumentiert, dass die Arbeiter:innenklasse im Verhältnis zur Kapitalist:innenklasse und zu den Produktionsmitteln existiert. Der Weltmarkt schuf internationale Wertschöpfungsketten. Im Zuge der Globalisierung wurden vor allem in Asien, aber auch in weiteren Teilen der Welt Millionen in diesen integriert – als Arbeiter:innen, Landlose oder Arbeitslose ohne Zugang zu Produktionsmitteln. Die Kapitalbewegung bestimmt hier die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse und die konkrete Form der Ausbeutung, welche in Zeiten des Aufschwungs durchaus etwas liberaler oder bequemer ausgestaltet sein kann. In Zeiten von Krisen hingegen nehmen die Unterschiede zwischen der Lage der Klasse in imperialistischen Staaten und in den Halbkolonien immer weiter massiv zu. Die Arbeiter:innen der imperialistischen Staaten sind zweifelsohne privilegiert gegenüber denen in den halbkolonialen Staaten, aber sie bleiben dennoch die Ausgebeuteten, sie werden nicht selbst zur herrschenden Klasse. Abgeleitet aus diesen Punkten muss man schon die Existenz einer internationalen Arbeiter:innenklasse an sich gegen diese Annahme sprechen. Diese ist jedoch – wie bereits geschrieben – nicht homogen und es gibt Hindernisse, die dazu führen dass sie nicht als Klasse für sich auf internationaler Ebene agiert.

Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Schicht der Arbeiter:innenklasse, die wir als Arbeiter:innenaristokratie bezeichnen. Sie stellt in den imperialistischen Kernzentren einen privilegierten Teil dar – finanziert aus den Extraprofiten, d. h. der Überausbeutung der Arbeiter:innen der halbkolonialen Welt, und ist teilweise durch Kampfkraft entstanden, teilweise weil sie an einer derartig relevanten Stelle im Wertschöpfungsprozess angesiedelt ist, dass diese Schichten aus Mitteln der imperialistischen Überausbeutung heraus sozial befriedet wurden. Bedeutend ist diese Schicht, weil sie die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft bildet, die die Politik der Sozialpartnerschaft stützt. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist historisch zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt – als politische Polizei, verlängerter Arm des Staatsapparats. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das ist der Kern der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter:innenbürokratie bindet die Klasse somit an die Lohnform, selbst verschleierter Ausdruck des Klassengegensatzes. Sie ist in diesem Sinne ein strategisches Hindernis für Revolutionär:innen, die sich der Aufgabe stellen, den alltäglichen Widerstand (von Teilen) der Arbeiter:innenklasse in unerbitterlichen Widerspruch gegen die Klassengesellschaft zu bringen. Nicht nur, weil das Programm der Sozialpartnerschaft verhindert, dass Kämpfe in imperialistischen Zentren erfolgreich geführt werden, sondern weil die Idee der „Standortlogik“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit“ eine reale Hürde für die Herausbildung eines internationalistischen Standpunkts ausmachen und die Klasse spalten. Deswegen ist es auch zentral, diesem ein politisches Programm entgegenzustellen, anstatt die Unterschiede zwischen Arbeiter:innen in imperialistischen Ländern und Halbkolonien als gegeben hinzunehmen. Dies naturalisiert letzten Endes die vorhandene Spaltung.

Denn gleichzeitig sind die Privilegien der Arbeiter:innenaristrokatie nicht automatisch dauerhaft. Während diese Schicht selbst immer kleiner wird, wie man an Ländern wie Deutschland sehen kann, findet paralell eine fortschreitende Fragmentierung der Klasse in ihrer Gesamtheit statt. Das heißt: Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors nehmen Prekarisierung sowie Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zu und der Unterschied zwischen der Arbeiter:innnenaristokratie und den Arbeiter:innen der Niedriglohnsektoren in den imperialistischen Kernzentren wird größer. Auch die doppelte Ausbeutung in Produktion und Reproduktion der Arbeiterin werden in einer marxistischen Analyse nicht unter den Teppich gekehrt.

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dass die Arbeiter:innenklasse von der Überausbeutung ihrer Kolleg:innen in den Halbkolonien profitiert, so liegt es letzten Endes nicht in ihrem objektiven Interesse, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Dies kann letztlich nur auf einer internationalen Ebene erfolgreich sein oder ist zum Scheitern verurteilt. Um das zu gewährleisten, müssen Forderungen aufgestellt werden, die sich gegen die Auswirkungen des Imperialismus stellen – sei es beispielsweise im Falle von imperialistischen Interventionen, Sanktionen, der Auslagerung umweltschädlicher Produktion oder Ausbeutung. Dies ist möglich, da die entscheidende Gemeinsamkeit in der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft besteht. Demnach vereint diese auch das objektive Interesse, diese Ausbeutung zu überwinden und ermöglicht, es gemeinsame Kämpfe zu führen. Doch die postkoloniale Tradition des transnationalen Feminismus stellt hier die Differenz zwischen Ländern anstatt zwischen Klassen in den Vordergrund.

b) Kulturelle Vorherrschaft und Mehrwertschöpfung

Auch kann nicht behauptet werden, dass die kulturelle Vorherrschaft durch die Wertschöpfungsketten gleich mitproduziert wird, so wie von Spivak behauptet. Es handelt sich hierbei um ein völlig falsches Verständnis von Mehrwertschöpfung und Kapital. Die kulturelle Vorherrschaft dient dem Imperialismus als Begründung und Verschleierung der Ausbeutung, sie bildet einen Teil des gesellschaftlichen Überbaus. Hiermit wird die Spaltung der Klasse vertieft, werden Lohndumping und Differenzen begründet und die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern im Geiste „kultureller“ oder „rassischer“ Überlegenheit erzogen.

Im Endeffekt ist es zwar überhaupt nicht im objektiven Interesse des westlichen Proletariats, aber diese reaktionäre Ideologie stellt eine extrem wichtige Waffe in den Händen der herrschenden Klasse zur Sicherung ihrer globalen Herrschaft dar. Diese wird durch die Privilegien verstärkt, die die Lohnabhängigen – hier vor allem die Arbeiter:innenaristokratie – der imperialistischen Nationen im Verhältnis zu jenen der Halbkolonien genießen. Aber längerfristig und vom historischen Interesse der Lohnabhängigen aus betrachtet, bieten diese nicht nur keine Perspektive zur Überwindung der Ausbeutung, sondern stellten vielmehr eine Fessel für die Arbeiter:innenklasse auch in den imperialistischen Ländern dar, die sie an ihre Ausbeuter:innen bindet.

Diese Annahmen der kulturellen Vorherrschaft kritisieren zwar Spivak, Kaplan und Grewal zu Recht und der Kampf gegen diesen Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus muss in der Arbeiter:innnenklasse und ihren Organisationen entschlossen geführt werden – und zwar sowohl im Hier und Jetzt wie sicher auch nach erfolgreicher Revolution, denn selbst dann werden rückständige, über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte fest verankerte Ideen und Verhaltensweisen nicht ohne bewussten Kampf dagegen verschwinden. Die Theorie kritisiert zwar reaktionäres Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder – sie kapituliert aber letztlich davor, dieses zu bekämpfen. Direkt reaktionär ist ihre Ideologisierung rückständiger Bewusstseinsformen, z. B. religiöser Ideen in der Arbeiter:innenklasse der halbkolonialen Länder. Diese sind letztlich nichts anders als Mittel, mit denen die herrschende Klasse der Halbkolonien „ihre“ Arbeiter:innen (und armen Bauern/Bäuerinnen) politisch-ideologisch an eine kapitalistische Ordnung bindet. Hier zeigt sich der Klassencharakter dieser Theorien (wie postkolonialer Theorie). Scheinbar springen sie den „rückständigen“ Massen der Halbkolonien gegen „eurozentristische“ oder „universalistische“ Kritik bei. In Wirklichkeit zementriert ihr bürgerlicher Paternalismus ideologisch die Unterordnung und Ausbeutung der Lohnabhängigen in der halbkolonialen Welt.

Gagos Vorschlag einer feministischen Internationale: nichts Halbes, nichts Ganzes

Zum Schluss wollen wir uns noch Verónica Gago als zeitgenössische Vertreterin des transnationalen Feminismus kurz näher anschauen. Sie kann als Theoretikerin der mehr oder weniger aktuellen Frauen-/Fem*streikbewegung verstanden werden. Dabei ist herauszustellen, dass die Vernetzung und eine Gleichzeitigkeit der Aktionen am 8. März einen Fortschritt darstellen. Das beweist auch der anfängliche Erfolg der Bewegung, der in der Einleitung beschrieben wurde. Allerdings sind es die theoretischen sowie strategischen Mängel, die dafür sorgten, dass es nicht so bahnbrechend weitergehen konnte, wie die Bewegung begann. In der Tradition des transnationalen Feminismus lehnt Gago natürlich jegliche Homogenisierung der Bewegung durch ein gemeinsames Programm ab. Es ist zwar richtig, dass ein solches auf die unterschiedliche Lage von imperialistischen Staaten und Halbkolonien eingehen muss, jedoch kann es dennoch zwangsläufig einen gemeinsamen Kampf und ein gemeinsames Ziel geben. Schließlich sind die Gegenspieler, die imperialistischen Kapitale, auch dieselben Feinde, die nur in der Masse geschlagen werden können. Stattdessen kann die feministische Internationale Gagos überall praktiziert werden, sei es im Bett, auf derArbeit oder Straße.

Die Annahme, dass ein Streik außerhalb der Lohnarbeit genauso effektiv sein kann, und sei er noch so klein, wie zum Beispiel auf ein Lächeln zu verzichten, geht auch aus dem neuen Klassenbegriff von Gago hervor, welcher Arbeiter:innen, das Bäuerinnen-/Bauerntum und das niedere Kleinbürger:innentum zusammenschließen will, als ob diese in irgendeiner Form wirklich ein gemeinsames objektives Klasseninteresse hätten. Natürlich sollten Marxist:innen versuchen, auch diese Klassen und Schichten auf die Seite der Arbeiter:innenklasse zu ziehen, aber dennoch formen diese oft selbstständige Zwischenklassen, da sie durchaus Produktionsmittel besitzen, sich aber selber ausbeuten müssen und Gefahr laufen, zwischen dem Hauptklassenantagonismus zerrieben zu werden. Trotzdem ist die grundsätzliche Generalisierung nicht unproblematisch und verhindert in gewisser Hinsicht auch, ein konkretes Programm aufzustellen. Denn das revolutionäre Subjekt ist weiterhin die Arbeiter:innenklasse, da nur sie das objektive Klasseninteresse hat, den Kapitalismus zu stürzen, um sich von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, und insbesondere da sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess auch die Möglichkeit hat, diese gesellschaftliche Macht als Kollektiv zu entfalten.

Die Ablehnung von Strategie, Taktik und Programm und das Setzen auf spontane Erhebungen, wie Gago es beschreibt, bezieht sich auf die Annahme, das Bewusstsein der feministischen Bewegung würde spontan entstehen können. Es stellt in gewisser Weise eine Übertragung des Ökonomismus auf Frauen- und LGBTIA* -Kämpfe dar. Aber die Geschichte hat schon oft genug bewiesen, wie zum Beispiel beim Arabischen Frühling, dass spontanes Bewusstsein eben nicht einfach so entsteht und auch kein Programm ersetzen kann, wenn der Aufstand oder die Bewegung erfolgreich sein will. Ein loser Zusammenhang ohne Diskussionen und Debatten über konkrete Forderungen, Taktiken und Strategien führt nicht zur anhaltenden Wirkung der Bewegung.

Was wir stattdessen brauchen

Es braucht eine länderübergreifende Organisierung, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame und koordinierte Handeln verfolgt. Hierbei können nicht die Unterschiede zwischen der gemeinsamen Lage im Vordergrund stehen, wie es zum Beispiel Spivak forderte. Diese müssen anerkannt werden und Raum finden, doch angesichts der globalen Krisen und des Rollbacks gegenüber Frauen (sowie LGBTIA*-Personen) und des Rechtsrucks bleibt unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbezug in den Produktionsprozess!

Auch wenn es als positiv dargestellt worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zum Mann.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine wesentliche Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Diese kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Vom Frauen-/Fem*streik zur proletarischen Frauenbewegung

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da die patriarchalen Strukturen und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße cis Frau“ geht, wie es zurecht vom transnationalen Feminismus kritisiert wurde. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrücken in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden bspw. mit der Organisierung und den Streiks in der Pflege, der Umweltbewegung oder der gegen Rassismus. Beispielsweise könnte gerade der gemeinsame Kampf mit Pflegekräften und betroffenen Frauen im Rahmen der Abtreibungsproteste relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung  ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen zu führen. Jedoch darf es nicht nur bei diesen alltäglichen Forderungen bleiben, sie müssen in ein umfangreiches Aktions- und letztendlich in ein revolutionäres Übergangsprogramm eingeschlossen werden, um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft aufweisen zu können. Für dieses müssen revolutionäre Frauen kämpfen, ebenso wie sie auch für Solidaritätsstreiks der gesamten Arbeiter:innnenklasse agitieren müssen.

Entscheidend ist demnach, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und kommunistische Führung kämpfen.

Eng damit verbunden ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Das hängt eng zusammen mit der notwendigen Zerschlagung des imperialistischen Weltsystems. Denn wer keinen Plan dafür hat und davon ausgeht, dass das sowieso dann alles spontan funktioniert, nimmt in Kauf, dass Leute sich nach dem Misserfolg der Bewegung demoralisiert abwenden, was keine Seltenheit ist. Die stalinistische Idee des „Sozialismus in einem Land“ ist im 21. Jahrhundert noch deutlich illusorischer, als sie es im 20. Jahrhundert war, und bereits hier hat der Stalinismus durch Umsetzung dieser Idee schon Millionen von Arbeiter:innen verraten und dafür gesorgt, dass der Marxismus als gescheitert angesehen wird. Gleichzeitig sind aber durch die internationalisierten Produktionsketten und aufgrund der enormen Fortschritte in der Geschwindigkeit des Austausches und der Kommunikation die Bedingungen für internationale Solidarität um einiges einfacher geworden. Antworten auf diese Fragen und, wie die Kämpfe zu gewinnen sind, können wir nur ausreichend beantworten (und vor allem umsetzen), wenn wir an allen Orten der Welt die fortschrittlichsten Arbeiter:innen, Frauen und Jugendlichen organisieren und für die Perspektive des antikapitalistischen Kampfes gewinnen. Außerdem braucht eine Bewegung nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen-/Fem*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in den Frauen-/Fem*streiks und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen. Auch jene Kräfte, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, müssen wir zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen adressieren, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen. So kann nicht nur die aktuelle Schwäche der Frauen-/Fem*streikbewegung überwunden werden.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




30. November 2023 – Feministischer Generalstreik im Baskenland

Jürgen Roth, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Am 30. November 2023 wurde im Baskenland gestreikt. Neben Gewerkschaften hatten dazu auch Feminist:innen, Rentner:innenvereinigungen und soziale Organisationen aufgerufen. Es handelte sich um eines der größten und bedeutendsten Ereignisse dieser Art weltweit. Zudem hält es für Linke etliche Lehren bereit, wirft aber auch Fragen nach weiteren Perspektiven auf.

Nicht nur bessere Arbeitsbedingungen

Zu den Streikenden gehörten die Beschäftigten der Mercedes-Autofabrik in Vitoria-Gasteiz, der U-Bahn in Bilbao, des öffentlichen Gesundheitsdienstes (Osakidetza), alle Reinigungskräfte der drei größten Reinigungsunternehmen (Eulen, Garbialdi, ISS) und die Belegschaft des größten baskischen Fernsehsenders (EITB). So blieben Bahnen und Busse stehen, in zahlreichen Ortschaften Schulen und Verwaltung geschlossen. Der Rundfunk strahlte nur ein Notprogramm aus und ein Dutzend Fabriken mussten ihre Produktion komplett einstellen. Zentrale Forderungen des Generalstreiks lauteten: Aufbau eines öffentlich-gemeinwohlorientierten Caresektors, Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften, Anhebung der Renten, Einführung der 30-Stundenwoche, mit der eine Umverteilung der Sorge- und Pflegearbeit zwischen den Geschlechtern angestoßen werden soll.

Die Mobilisierung verlief alles andere als einfach. Die spanischen Gewerkschaften Unión General de Trabajadores (UGT; Allgemeine Arbeiter:innengewerkschaft) und CC.OO. (Comisiones Obreras; Arbeiter:innenkommissionen) hatten erst gar nicht aufgerufen. Sie sind allerdings im Baskenland schwächer als die regionalen Dachverbände Eusko Langileen Alkartasuna (ELA; Arbeiter:innensolidarität) und Langile Abertzaleen Batzordeak (LAB; Komitees Patriotischer Arbeiter:innen). Die Sekretärin der LAB, Maddi Isasi Azkarraga, meinte dazu, dass CC.OO. und UGT den Streik deshalb nicht unterstützt hätten, weil er aufs Baskenland fokussiert blieb und sie generell Kämpfe nicht zuspitzen wollten. Sie stimmten aber mit den Zielen des Generalstreiks überein. Der Hauptgrund lag nicht etwa darin, dass sie Schwierigkeiten darin sahen, sich als gemischtgeschlechtliche Organisation an einem feministischen Streik zu beteiligen.

Längerer Organisierungsprozess

Ausgehend von Lateinamerika wurden seit Jahren zum 8. März Millionen Menschen mobilisiert. Auch im Baskenland fanden an diesem Datum seit 2018 feministische Streiks statt, bei denen Frauen die Pflege- und Sorgearbeit niederlegen sollten, damit deren gesellschaftliche Bedeutung sichtbar wird. Der jetzige Generalstreik richtete sich hingegen an die gesamte Gesellschaft und wurde vom feministischen Bündnis namens Denon Bizitzak Erdigunean (Das Leben in den Mittelpunkt stellen) angestoßen.

Dafür ging das Bündnis auf Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Kleinbauern- und -bäuerinnenverbände sowie die Rentner:innenbewegung zu. Letztere fordert seit Jahren eine Mindestrente von 1.080 Euro. Nach längerer Diskussion wurde ein Forderungskatalog (Sozialcharta) erstellt. Neben vom Bündnis formulierten längerfristigen Zielen wie dem Aufbau eines öffentlich-gemeinschaftlichen Pflegesystems wurden kurzfristig auszuräumende Missstände benannt wie die Arbeitsbedingungen von illegalisierten, migrantischen Frauen in Privathaushalten, die oft 7 Tage die Woche Alte betreuen. Es wurden mehr als 1.000 Versammlungen in Dörfern, Stadtteilen und Betrieben durchgeführt.

Dies wurde dadurch getragen, dass der Carebereich – Alten- und Krankenpflege sowie Kinderbetreuung – während der Coronapandemie zusehends in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte rückte. Die schlecht bezahlten und überwiegend von Frauen geleisteten Pflege- und Sorgearbeiten stellten sich als die unverzichtbarsten heraus, zudem das Baskenland an Überalterung leidet und viele Menschen Pflege benötigen. So waren die Grundforderungen des Streiks nicht schwer zu vermitteln.

Und jetzt?

Amaia Zubieta, eine der Sprecherinnen des Organisationsbündnisses, erklärte: „Ein Generalstreik ist kein Selbstzweck.“ Damit verlegt sie aber den eigentlichen „Kampf“schauplatz auf die Verhandlungen mit den Autonomieregierungen des Baskenlandes und der nordspanischen Region Navarra. In der baskischen Autonomiegemeinschaft regiert jedoch die Christdemokratie in Gestalt der Baskisch-Nationalistischen Partei EAJ – PNV. Direkt nach Streikende betonte der scheidende Ministerpräsident Urkullu, „seine Partei sei einem staatlich gelenkten öffentlichen und gemeinschaftlichen Pflege- und Sorgesystem“ verpflichtet.

Vorschneller Jubel ist allerdings unangebracht. Seine Rhetorik dient dem Gewinn der in diesem Frühjahr anstehenden Wahlen. Er will keine Angriffsfläche bieten. Die Praxis seiner Regierung spricht aber eine andere, weniger doppelzüngige Sprache, hat doch die regionale Christdemokratie in den vergangenen Jahrzehnten die Privatisierung der öffentlichen Grundversorgung massiv vorangetrieben. Und das wirft Fragen auf: Was bleibt vom Streik? Und wie können die Forderungen umgesetzt werden?

Revolutionäre Perspektive

Ohne Frage war der Streik ein eindrucksvoller politischer Massenstreik. Doch im Angesicht des drohenden Ausverkaufs blieb er durch die  bürokratische Begrenzung auf einen Tag nur ein symbolischer Protest. Natürlich ist das trotzdem ein Schritt vorwärts. Gleichzeitig gibt es jedoch die Gefahr, dass Teilnehmende demoralisiert werden, wenn man nicht klar aufzeigt, was die eigene Strategie ist, um die Forderungen zu erkämpfen. Deshalb müssen Revolutionär:innen in solchen Situationen von Anfang an argumentieren, dass der Generalstreik bis zur Erreichung seiner Ziele „befristet“ bleiben sollte. Gleichzeitig hätten sie betont, dass er mit dem Aufbau von Kontrollkomitees und Milizen zu seiner Verteidigung einhergehen müsse. Denn letzten Endes wirft ein ernsthaft geführter Generalstreik auch immer die Machtfrage auf: Also wem gehört eigentlich der Betrieb, der bestreikt wird? Was passiert, wenn sich weiter geweigert wird, die Forderungen durchzusetzen bzw. zu erfüllen?

Deswegen ist der Aufbau solcher Strukturen elementar, um vorbereitet zu sein, so einen Kampf auch ernsthaft durchzusetzen. Denn entweder man erkämpft zeitweise Verbesserungen, knickt ein und geht zum Status quo zurück oder geht einen Schritt voran und bildet eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen, um die Forderungen selber umzusetzen und das Tor zum Sturz des kapitalistischen Gesamtsystems, zur Diktatur des Proletariats, gestützt auf die werktätige Bauern-/Bäuerinnenschaft aufzusperren.

Gewerkschaftsbürokrat:innen und das feministische Organisationsbündnis hätten dem sicher entgegnet, dafür seien die Massen noch nicht reif. Aber welche Art Führung haben sie dem Kampf denn gegeben, die diese Reife beschleunigen hätte können? Natürlich hätten Revolutionär:innen auf Anhieb kaum einen Blumentopf für ihre Forderungen bei den Massen gewinnen können. Doch mindestens einem Teil der Fortgeschrittensten und Aktivsten wäre spätestens nach dem Ausgang des Streiks klar geworden, dass es mehr braucht. Kurzum: Natürlich ist die Forderung des Umsturzes des Kapitalismus nicht die, worum man den Generalstreik organisiert. Doch es ist wichtig, währenddessen die unterschiedlichen Ansätze offen zu diskutieren, vor allem, da auch viele Vertreter:innen des baskischen Feminismus sich als Antikapitalist:innen verstehen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigt die Debatte um den Umgang mit der Transformation des Caresektors:

Wie bei der „Reife“ des Klassenbewusstseins, die sich baskische und andere Reformist:innen und Zentrist:innen offensichtlich nur als Naturprozess wie beim Apfelbaum vorstellen können, so gehen sie auch an die Transformation des Caresektors heran.

Transformation des Caresektors

Elena Beloki von der linken Parteienstiftung Fundación Iratzar dazu: „Der Staat muss die Mittel für die Grundversorgung bereitstellen. Die Einrichtungen sollten genossen- oder gemeinschaftlich getragen werden.“ Dieser Aufbau eines nicht profitorientierten öffentlichen Pflegesystems sei nicht einfach „nur“ eine Verstaatlichung. Doch was ist es denn dann? Sozialismus? Leider nicht. Dieser von vielen Anarchist:innen, Zentrist:innen und Linksreformist:innen gehuldigten Transformation liegt die Vorstellung zugrunde, man könne die Ballonhülle des Systems schrittweise durch Austausch von kapitalistischem Gas mit sozialistischem füllen, ohne sie zum Platzen bringen zu müssen. Doch genossenschaftliche Inseln inmitten profitorientierter Meereswellen werden ein Laden wie jeder andere auch oder Teil eines Planes für die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen. Dieser lässt sich jedoch ohne gewaltsame Sprengung des Ballons nicht erreichen.

Deswegen reicht es nicht zu schweigen, welche und wie viele Mittel der Staat bereitstellen müsse oder wie man besagte Transformation finanzieren will. Das sind berechtigte Fragen, bei denen es gilt, eine klare Perspektive im Interesse der Arbeiter:innen und Unterdrückten zu formulieren: Das heißt beispielsweise, dafür einzutreten, dass die Finanzierung durch eine progressive Besteuerung v. a. bei den Reichen stattfindet, sowie den staatlichen wie genossenschaftlichen Sektor unter Kontrolle der Beschäftigten und Nutzer:innen zu stellen. Warum? Zum einen haben sie durch ihre Stellung im Produktionsprozess Einblick, was gebraucht wird und ob die Veränderungen in ihrem Interesse stattfinden. Zum anderen sorgt es dafür, dass Streik- und Aktionskomittees über den Streik hinaus bestehen bleiben und als Kontrollorgane fungieren können. Das ist nicht nur ein Schritt voran, wenn es darum geht, Selbstermächtigung zu erlernen, sondern erleichtert auch Mobilisierungen, wenn es darum geht, Errungenschaften zu verteidigen oder weitere Angriffe abzuwehren.

Lehren des feministischen Streiks

Was sind also die Lehren des Streiks? Der Streikkampf vom 30. November stellt einen großen Schritt nach vorne dar. Gemeinsame Mobilisierungen sind nicht Standard: Aus Angst, dass „gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften“ den Streik vereinnahmen (oder diese den Streik ablehnen, weil es „kein richtiger Streik“ wäre) kommt es häufig zu isolierten Streiks. Darüber hinaus gibt es einen Teil des feministischen Spektrums, der den gemeinsamen Kampf per se ablehnt, da die Unterdrückung der Frau in männlicher Gewalt, einer Art universellen Patriarchats, wurzelt. Historisch bezeichnet Patriarchat aber die Herrschaft männlicher Familienoberhäupter über andere Menschen, darunter auch junge und familienlose Männer. Sie konnte erst mit der Erzeugung eines stetigen Überschusses und dessen Aneignung durch die Patriarchen inkraft treten, Der Kapitalismus hat sich das zu eigen gemacht und in eine systematische Diskriminerung umgeformt. Deswegen muss sich der Kampf gegen Frauenunterdrückung auch gegen das kapitalistische System richten. Das bedeutet nicht, dass man Ersteren unterordnet, sondern beide Hand in Hand gehen sollten.

Deswegen ist der Einbezug aller Geschlechter ein positiver Schritt nach vorne. Dieser wurde von dem Bündnis aus mehreren Gründen gesetzt. So sollten gut bezahlte, meist männliche Industriebelegschaften auch deshalb streiken, weil schlecht bezahlte, meist weibliche Pflegekräfte ihre Arbeit oft erst gar nicht niederlegen können. Ein weit bedeutenderer Grund liegt unserer Meinung nach indes darin, dass die Unternehmen dann deutlichere Profiteinbußen erleiden – der eigentliche Antrieb jeden Streiks! So kann nämlich mehr Druck ausgebübt werden. Darüber hinaus bringt der gemeinsame Kampf die Möglichkeit mit sich, die Auswirkungen der sozialen Unterdrückung politisch zu diskutieren und bestehende Vorurteile zu überwinden.

Eine weitere Lehre ist die Frage der Kontrolle des Streiks. Um die Instrumentalisierung der Mobilisierung durch gemischtgeschlechtliche Gewerkschaften zu verhindern, wurde vereinbart, dass das feministische Organisationsbündnis „federführend“ bleibt. Laut Azkarraga hat es alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Die Frage ist jedoch, was das praktisch heißt?

Unserer Meinung nach muss die Kontrolle des Streiks bei den Streikkomittees und über  diese bei den Massenversammlungen der Streikteilnehmer:innen selber liegen. Nur so ist es möglich, die Entwicklung von Klassenbewusstsein und Selbsttätigkeit angemessen zu fördern. Nur so ist es möglich, Organe der Kontrolle von unten zu schaffen, die Streikführung und -ergebnis im Sinne der Masse der Klasse zu überwachen und ggf. revidieren ermöglichen. Die Streikenden – darunter auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen und anderen Bevölkerungsschichten – müssen das Streikkomitee, ihre unmittelbare Kampfesführung auf Vollversammlungen wählen und jederzeit abwählen können! Alles andere ist mit den Prinzipien der Arbeiter:innendemokratie unvereinbar.

Dieser elementare Grundsatz bedeutet, dass sich feministische wie Vertreter:innen anderer politischer Couleur dem Votum und der Kontrolle durch die Masse der Streikenden stellen müssen. Geht man diesen Weg nicht, kann auch die feministische Führung dazu führen, sich nicht von der klassischen Gewerkschaftsbürokratie zu unterscheiden, da die Kontrollmöglichkeit durch die Streikenden fehlt.

Verglichen mit Ländern wie Deutschland, wo die Gewerkschaften schon kalte Füße bekommen, wenn es darum geht, die eigenen Lohnforderungen durchzusetzen, zeigt dieser Streik, was alles möglich ist – und dass weitergehende Forderungen und Kämpfe dementsprechend auch keine Utopie bleiben müssen. So wäre es beispielsweise auch sinnvoll – neben den Elementen der Arbeiter:innendemokratie – auch dafür einzutreten, dass der Streik auf ganz Spanien ausgeweitet wird. Dort erfolgt aktuell ein massiver Angriff auf das Gesundheitssystem und statt sich mit den Ausreden der UGT und CC.OO. zufriedenzugeben, sollte man diese offen auffordern, aktiv mitzukämpfen und zu streiken – nicht nur im Interesse der Streikenden, sondern der gesamten Bevölkerung!




Schweiz: Perspektiven des feministischen Streiks

Rosa Favre, Was Tun Schweiz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Streik 2023

2019 erreichte der feministische Streik mit einer halben Million Teilnehmerinnen seinen bisherigen Mobilisierungshöhepunkt. 2023 hat der bisher letzte nicht mehr so viele Frauen angesprochen, auch wenn 300.000 am 14. Juni auf der Straße waren. Wenn man den Gewerkschaftsfunktionär:innen zuhört, war der Streik immer noch ein krönender Erfolg, da dieser radikaler als 2019 war und in einer solchen Größe überleben konnte, trotz frontaler Angriffe der Bourgeoisie, welche die Bewegung dämonisiert hat. Aber wenn wir dieser Erklärung glauben, sollten wir dann denken, dass sich die Massen arbeitender Frauen, welche 2019 präsent waren, mit den gleichen Forderungen wie 2023 (!), entradikalisiert hätten? Das wäre lächerlich.

Wenn also Frauen sich von den Männern alleingelassen fühlten, frustriert waren über die misogyne Welle, vor der sie standen, und sich bewusst waren über die Last, welche während der COVID-19-Krise auf ihre Schultern gelegt wurde, warum haben sie sich nicht in der gleichen oder größerer Zahl der Bewegung auf der Straße angeschlossen?

Französischsprachige Frauen sind in ähnlicher Stärke wie 2019 streiken gegangen. In der deutschsprachigen Schweiz hat die Bewegung an Kampfkraft verloren. Dies deshalb, da trotz einer Koordination auf nationaler Ebene jede kantonale Sektion der Gewerkschaften individuell die Bewegung aufbaut. Da es an den Aktivist:innen in allen einzelnen Kantonen liegt zu entscheiden, ob sie sich an die Aufgabe der Organisation machen wollen, gibt es viele Orte und Sektoren der Wirtschaft, an welchen fast keine Agitation vonstattengeht, wo wenig Schutz gegen Drohungen von Kündigungen gegen Streikende besteht.

Daher wurde der Streik 2023 größtenteils ein Streik der Jugend und der Student:innen. Da die Jugend sehr wenig Erfahrung am Arbeitsplatz hat, trugen die meisten Transpis Slogans gegen sexualisierte Gewalt, sexuelle Befreiung und für die Emanzipation der queeren Jugend, ob sexuell oder betreffend der Geschlechtsidentität. Eine Menge der Slogans prangerten Alltagssexismus oder unerwünschte sexuelle Kommentare an. Fast keine haben jedoch das wichtigste Ereignis des Jahres angesprochen: den Rückschlag der Frauenrechte in Form der Erhöhung des Renteneintrittsalters. Dies hat den Streik in seiner Natur größtenteils kleinbürgerlich gemacht, ein Rückschlag gegenüber 2019.

Probleme des Streiks

Der feministische Streik hat an Klassenbewusstsein verloren und die bestehende Führung der Bewegung ist dafür zu verantworten. In der Tat besteht sie aus den Gewerkschaften, welche wiederum größtenteils durch sozialdemokratische Bürokrat:innen geführt werden, welche vom Arbeitsfrieden profitieren.

Eine Ausnahme in der Organisation des Streiks ist die solidaritéS, eine Partei welche aus der trotzkistischen Tradition stammt und Beobachterin des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale (VSVI) ist. Auch sie fokussierte sich auf LGBTQ+-Anliegen und legte den Gewerkschaften ihre intersektionale Vision vor. Aber gleichzeitig passte sie sich an die Bürokratie an und gewährte Zugeständnisse bei den sozialen und ökonomischen Forderungen des Streiks, um ihre eigenen Positionen im Apparat nicht zu gefährden.

Auf der anderen Seite können wir nicht erwarten, dass ein Streik welcher nichts erreicht und nur sporadisch über die Jahre hinweg passiert, die Mobilisierungskraft in der Arbeiter:innenklasse aufrechterhalten kann. Um die Flamme des Klassenkampfes zu befeuern, reicht es nicht aus, dass eine soziale Bewegung konstant bleibt. Sie muss wachsen und neue Errungenschaften gewinnen. Die erfolgreichen Jahre waren geknüpft an siegreiche Arbeitskämpfe, internationale Bewegungen mit klaren Forderungen (wie die #MeToo-Bewegung) und das Aufhalten eines Angriffes auf die Altersvorsorge. Auch gab es nach den Streiks merkliche Auswirkungen auf Wahlen und umliegende Länder. 2023, das Jahr in welchem Frauen eine Niederlage an der Urne erlitten, weil die Schweizer Volkspartei gewann, ließ scheinbar keinen Grund zu, um an einem Streik teilzunehmen, welcher schlussendlich eher eine Feier war. Und erst kürzlich hat das Bundesgericht entschieden, dass bei „kurzen“ Vergewaltigungen eine Strafmilderung angemessen sei!

Einbezug

Damit es in einer Phase der Niederlage möglich ist, konstant zu bleiben, sind zwei Fehler der Bewegung zu umgehen: 1. Es braucht einen Einbezug von mehr und unterschiedlichen Wirtschaftssektoren in die Streiks, durch Aufbau von Aktions- und Streikkomitees. 2. Die Aktionen müssen länger und weiter gedacht werden.

Dafür darf sich die Bewegung nicht gegen mehrtägige Aktionen stellen (wie es 2019 vonseiten der Führung von solidaritéS getan wurde) und es muss auch mit dem reaktionären Arbeitsfrieden gebrochen werden. Das würde das Potenzial für einen Generalstreik langfristig eröffnen.

Neue Sektoren zu inkludieren, bedeutet auch, Männer in den Kampf einzubinden. Männer waren die großen Abwesenden in den Streiks 2019 und 2023. Dies ist symptomatisch für ein Programm, welches nicht versucht, eine Kampfeinheit unter den Proletarier:innen aufzubauen, und von Basisorganisationen einer Bewegung, welche sich zu sehr auf eine der Geschlechter fokussiert. Die Gewerkschaften brauchen daher eine marxistische Perspektive, welche gleichviel Potenzial in Frauen und Männern sieht. was die Erkämpfung von arbeitsrechtlicher Gleichstellung angeht. Natürlich ist möglich, dass nur Frauen an Streiks beteiligt sind! So war es auch in den ersten Tagen der Februarrevolution. Doch die russischen Frauen hätten 1917 nie ihre politischen Rechte erkämpfen können, hätten sie nicht gemeinsam mit Männern gekämpft. Es ist daher unabdingbar für zukünftige Aktionen, arbeitende Männer einzubinden!

Wir müssen auch große Unterschiede zwischen der französisch- und deutschsprachigen Schweiz zur Kenntnis nehmen. In Ersterer hatten radikale linke Organisationen wie die solidaritéS einen großen Einfluss auf den Lauf der Dinge. Dies war in Letzterer nicht der Fall. Die Bewegung für den Sozialismus (BFS, welche auch dem VSVI nahesteht und in den deutschsprachigen Städten Zürich und Basel viel stärker ist) wollte nicht gleich viel Zeit in den Aufbau des feministischen Streiks investieren wie solidaritéS. Daher waren die Organisator:innen vor allem im französischsprachigen Teil kämpferischer, während in der deutschsprachigen Schweiz größtenteils Sozialdemokrat:innen an der Spitze der Streikorgane standen.

Bürokratie und Arbeitsfrieden

Die Führung der Streiks durch die Gewerkschaftsbürokratie, welche wohl am meisten die Schweizer arbeitende Klasse verraten hat, stellt ein zentrales Hindernis für den feministischen Streik dar. Die Bürokratie der Gewerkschaften steht für den sog. Arbeitsfrieden, ein Abkommen, das 1937 mit den Unternehmer:innenverbänden abgeschlossen wurde und das die Gewerkschaften zur Klassenzusammenarbeit verpflichtet und faktisch das Streikrecht verbietet. Das Schweizer Proletariat wurde entwaffnet, da es die mächtigste Waffe gegen die Bourgeoisie verloren hat. Wir müssen sie um jeden Preis zurückgewinnen! Das ist der primäre Kampf, welchen alle klassenkämpferischen Kräfte in den Gewerkschaften führen müssen.

Zugleich ist die Gewerkschaftsführung eng mit der SP verbunden. Auch daher ahmen die Forderungen des feministischen Streiks die Klassenkollaboration nach. Zum Beispiel fordern sie die Erschaffung von Komitees, welche die gleiche Bezahlung in den Unternehmen überprüfen. Sie sagen jedoch nichts darüber, wer in solchen Komitees sitzen, ob es sich um Organe der Arbeiter:innenkontrolle oder der Sozialpartner:innenschaft handeln soll.

Es gibt ein weiteres Element der aktivistischen Kultur, welches verändert werden muss: Wir müssen den bürgerlichen Föderalismus ablehnen, welcher unseren Kampf lähmt. Diese föderalistische Struktur erlaubt es individuellen Gewerkschafts- und SP-Bürokrat:innen, einen bundesweiten Kampf für Befreiung auf unterer Ebene zu sabotieren, wenn sie lieber auf den Arbeitsfrieden hören wollen anstatt auf die Bedürfnisse der Basisgewerkschafter:innen. Alle Aktivist:innen müssen fest zusammenstehen und den Chauvinismus ihrer Zeit und ihres Ortes überwinden: sei es kantonal, national, ethnisch, männlich oder cisheterosexuell. Alle Gewerkschafts- und SP-Bürokrat:innen, welche die nationalen Entscheidungen nicht respektieren, müssen von ihren Positionen entlassen werden – und das durch demokratisch organisierte Wahlen innerhalb der Gewerkschaften bzw. der Bewegung als Ganzer.

Diese Diskussion knüpft natürlich an der Erschaffung eines Organs an, welches Arbeiter:innen auf dem nationalen Level mobilisieren kann. Ein solches ist essentiell für einen Generalstreik. Es ist daher wichtig, ein Organ aufzubauen, welches nicht nach jedem Streik zerlegt wird, sondern eine dauerhafte Struktur bildet. Dies wird zuerst die Involvierung von Frauen in einer konsistenten Weise ermöglichen und auf der einen Seite hoffentlich zur Ausbreitung in die Industrien führen, in welchen Frauen eine dominante Rolle einnehmen, und auf der anderen fortschreitend die Beteiligung der Männer stärken.

Diese Art der chauvinistischen Einstellung kann auch gefunden werden in der Ablehnung des 8. März als Streiktag. In der Schweiz ziehen wir es oft vor, uns an unserem Stolz nationaler Ereignisse aufzuhängen statt an der internationalistischen und kommunistischen Geschichte. Dies ist ein weiteres Element, welches die reformistische Tendenz und Richtung der Bewegung aufzeigt, welche sich lieber mit Konzessionen rühmt, welche 40 Jahre zu spät geschehen, anstatt den glorreichen Sieg der Frauen Petrograds über die zaristische Repression am 8. März, welcher die ganze Gesellschaft erfasst hat.

Aktuelle Angriffe

Wir wurden gezwungen zuzuhören, wie bürgerliche Politiker:innen uns erzählten, wir müssen ein Jahr mehr arbeiten, als das Renteneintrittsalter von 64 auf 65 angehoben wurde, da es für Männer 65 beträgt. In der Konsequenz bedingt die bösartige Sicht auf die Gleichheit unter den Geschlechtern der Bürgerlichen noch mehr unbezahlte Arbeit. Tatsächlich wurde für 2016 geschätzt, dass Frauen gratis Arbeit im Wert von 247 Milliarden CHF ausüben, ein Drittel des Schweizer BIP.

Die Überschattung der tatsächlichen Wurzeln der Ungleichheit ist klar für die proletarischen Frauen: Ungleichheit in der Aufteilung reproduktiver Arbeit, sexualisierter Gewalt etc. Das ist auch, warum Frauen massiv gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters stimmten. Aber die abstimmenden Schweizer Männer waren von einem seltenen Machismus durchdrungen.

Am 25. September 2022 stimmten 50,57 % für seine Erhöhung  für Frauen von 64 auf 65 Jahre. Am Ende war es eine Niederlage für die gesamte arbeitende Klasse. Dieses Jahr wird die Bourgeoisie uns darüber abstimmen lassen, ob es auf 66 oder noch höher angehoben werden soll – natürlich im Namen der bürgerlichen Gleichberechtigung für Frauen und Männer. Im kommenden Kampf gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters wird der feministische Streik ein unabdingbares Werkzeug sein, welches Solidarität zwischen den Geschlechtern bilden und so ein Mittel gegen die Offensive des Kapitals auf die Lebensbedingungen des Proletariats sein kann. Es ist unabdingbar, dieser Bewegung neues Leben zu geben.

Die Schaffung eines Kampforgans, welches über die kantonalen Grenzen hinausgeht, ist essenziell für den Erfolg des Kampfes um einzelne Reformen. Um uns von sexistischer Gewalt und Unterdrückung zu befreien, müssen wir gemeinsam mit FINTA+ und Männern auf der ganzen Welt kämpfen. Solidarität und Internationalismus ist unser Motto!

Wir denken, folgende Forderungen sollten in der Bewegung diskutiert werden, um in der Schweiz die Debatte um ein Programm der FINTA+- und LGBTQ+-Befreiung voranzubringen. Sie stellen aber noch nicht selber dieses Programm dar:

1. Zuallererst müssen wir das Renteneintrittsalter von Frauen verteidigen. Die Anhebung auf 65 ist nicht nur ein frontaler Angriff auf den Lebensstandard von Frauen, sondern auch ein Rammbock gegen die Arbeitsbedingungen der gesamten Arbeiter:innenklasse, angeführt von der Instrumentalisierung des Sexismus. Die Arbeiter:innenbewegung muss zusammen mit dem feministischen Streik eine militante Kampagne lancieren, um das Renteneintrittsalter zu verteidigen. Dieser Schlag gegen die Offensive der Bourgeoisie muss weiter gehen als die einfache Verteidigung vergangener Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse. Die Produktivität der Arbeiter:innen ist beständig gestiegen, aber genauso das Rentenalter. Was für eine Gesellschaft muss beides erhöhen? Weiterhin fordern wir eine Volkspension fern den Fängen des Kapitals, mit vollen Vorteilen und Renten für Teilzeitarbeit.

2. Wir können uns weder auf wohlwollende Kapitalist:innen oder männliche Partner verlassen noch können wir dem Staat vertrauen, diese lebenswichtige Arbeit, welche primär von mehrfach marginalisierten Menschen ausgeführt wird, akkurat auszuwerten und wertzuschätzen. Daher müssen wir die Arbeitszeit radikal verkürzen (7-Stundentag, 4 Tage die Woche) bei gleichbleibendem Lohn sowie eine Elternzeit fordern, welche Frauen am Arbeitsplatz nicht diskriminiert. Nur der gemeinsame Kampf der Arbeiter:innenklasse gegen Kapitalismus und Staat kann diese Forderungen durchsetzen. Und nur unter einer demokratisch geplanten Wirtschaft kann reproduktive Arbeit und deren ungleiche Verteilung langfristig angegangen werden. Soziale und ökologische Krisen wie COVID oder der Klimawandel werden die Notwendigkeit reproduktiver Arbeit nur vergrößern. Wir müssen dafür kämpfen, dass diese Krisen nicht auf Frauen, queere Menschen und PoCs abgeschoben werden.

3. Wir fordern, dass reproduktive Arbeit gesellschaftlich organisiert wird, anstatt in der Nuklearfamilie aufgeteilt zu werden. Wir wollen Komitees an den Arbeitsplätzen etablieren, welche die Arbeit der Kindererziehung (und andere reproduktive Arbeiten, welche in der Familieneinheit geschehen wie z. B. die Betreuung älterer Eltern oder kranker Verwandten) öffentlich, unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse organisieren. Die vorhandene private Hausarbeit muss gleich unter den Geschlechtern aufgeteilt werden.

4. Es ist notwendig, dass alle Arbeiter:innen demokratisch entscheiden, welche Industrien wünschenswert für das Wohl aller sind, und welche in den Mülleimer der Geschichte gehören. Wir wollen mehr reproduktive Arbeit besserer Qualität, was bedeutet: Etwas muss aufgegeben werden! Wir kümmern uns nicht um die Auto- oder Ölindustrie. Wir wollen keine fast fashion oder anderen Konsumwahn. Die Entscheidung darüber, welche Industrien am Leben erhalten werden sollen, muss demokratisch in Betriebs- und Stadtteilkomitees entschieden werden.

5. Wir wollen Delegierte von Frauen der Arbeiter:innenklasse in Organen der Arbeiter:innenkontrolle, welche in allen Betrieben garantieren, dass Lohngleichheit besteht, mit selbst bestimmten Kriterien. Frauen werden häufig schlechter bezahlt als Männer, ob aus Gründen von Diskriminierung oder wegen Teilzeitarbeit, um für ihre Familien zu sorgen. Arbeitende Frauen werden sich nichts sagen lassen von bürgerlichen Ökonom:innen, welche ihnen weismachen wollen, dass ihre Notlage ein gerechtes und rationales Produkt einer „gerechten“ und „rationalen“ Gesellschaft ist, welche sie unterdrückt. Im Gegenteil, arbeitende Frauen versuchen, die Gründe für ihr Mühsal zu verstehen, und entdecken die Irrationalität der Klassengesellschaft und ihrer patriarchalen Auwüchse – und werden sich radikal gegen alle stellen, welche dies als gegeben und als Notwendigkeit betrachten. Denn das ist es nicht: Schaut nur, wie gut es die Männer der Kapitalist:innenklasse haben! Ähnliche Methoden und Argumente können für PoCs und queere Menschen wiederholt werden.

6. Wir fordern, dass Betriebe, welche gegen die Gleichstellung verstoßen, ohne Kompensation aus den Händen der Besitzenden entrissen, verstaatlicht und unter Arbeiter:innenkontrolle weitergeführt werden.

7. Wir sind für die volle Selbstbestimmung der Frauen über ihre Körper. Sie dürfen nicht sexistischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein, ob physisch oder verbal. Sie müssen fähig sein, alle Kleidungsstücke zu tragen, welche sie wollen – einen Rock, Hidschab oder Mini-Shorts, ohne sexistische oder herablassende Sprüche über sich ergehen lassen zu müssen. Frauen, trans Personen (und auch Männer) verdienen eine gebührende Sexualerziehung, welche nicht nur heterosexuellen, sondern auch homosexuellen Sex und transgeschlechtliche Gesundheit umfasst. Das bedeutet auch eine Transformation der Gesundheitsversorgung rundum. Wir brauchen eine öffentliche Einheitskrankenkasse, welche das bedingungslose Recht auf Abtreibung, Menstruationsprodukte, Verhütung und geschlechtsbejahende Pflege umfasst, sowie einen Mechanismus, um gegen Sexismus und Rassismus im Gesundheitswesen anzukämpfen.

8. Es ist bekannt, dass die Polizei und das Militär sehr sexistisch, rassistisch und queerphob sind. Diese Institutionen sind unrettbar. Es sind ihre Merkmale unterm Kapitalismus. Frauen müssen unterdrückt werden, um sie in ihrer Rolle als unbezahlte und über-ausgebeutete Arbeiter:innen zu halten. Deshalb kann die Polizei Beschwerden sexualisierter Gewalt nicht ernst nehmen, vergewaltigen eindringende Armeen Frauen und ihre Töchter. Diese Institutionen sind faul und müssen komplett abgeschafft werden; angefangen damit, ihre Finanzierung zu kappen. Wir wollen sie ersetzen mit Körperschaften bewaffneter und organisierter Arbeiter:innen: Arbeiter:innenmilizen, welche die Herrschaft des Proletariats und aller marginalisierten Gruppen durchsetzen und damit eine offene Gegenmacht gegen die Herrschaft der bürgerlichen Polizei und Armee darstellen.

9. Der Kampf für einen feministischen Streik, der zu einem umfassenden politischen Streik gegen die Rentenreform und für andere Forderungen wird, ist ein integraler Teil des Klassenkampfes. Doch um eine solche Perspektive durchzusetzen, müssen wir in den Gewerkschaften und in der Bewegung auch für den Aufbau einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei als Alternative zu Reformismus und Bürokratie eintreten, die den Kampf für die Frauenbefreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet.




Queerfeminismus: die bunte Befreiung?

Aventina Holzer/Michael Märzen, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail1235, 25. Oktober 2023

Wer in linken Kreisen unterwegs ist, ist sicher schon mal über das Wort Queerfeminismus gestolpert. Feminismus gilt hier als selbstverständlich und immer mehr, vor allem junge Aktivist:innen, bezeichnen sich als queer. Wenn beides als progressiv gilt, dann kann die Synthese nur noch besser sein. Oder …? Wir wollen in diesem Beitrag Überlegungen anstellen, was Queerfeminismus eigentlich ist und ob er eine sinnvolle Strategie zur Frauen- und Queerbefreiung ist.

Ist jetzt aber Queerfeminismus einfach nur Feminismus, der nicht nur die Gleichberechtigung von Frauen, sondern auch die von queeren Menschen anstrebt? „Heterosexismus“ wird als System erkannt, das allen Menschen, nicht nur Frauen, innerhalb derselben Logik einer binären Geschlechterordnung Unterdrückungsmechanismen aufdrängt. Tatsächlich ist der Begriff aber nicht so einfach zu verstehen. Wenn man Aktivist:innen nach ihrer Definition von Queerfeminismus fragt, herrscht meist Unklarheit oder man bekommt eine Antwort im obigen Sinn. Tatsächlich findet man etliche linke politische Organisationen, die sich offen, wenn auch selten klar und nachvollziehbar, auf einen Queerfeminismus berufen. Eine Ausnahme finden wir bei LINKS, das sich angesichts der Wiener Gemeinderatswahlen 2020 gegründet hat und den Queerfeminismus in seinem Selbstverständnis, sowie auch statutarisch, verankert hat. Das gab uns, der Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt, auch eine Motivation, dieses politische Konzept genauer zu betrachten. Eine Definition davon, was der Begriff politisch eigentlich aussagen soll, wurde in LINKS bisher selten und wenn, doch sehr stark unterschiedlich beschrieben.

Viel öfter als den expliziten Bezug auf Queerfeminismus finden wir politische Ausrichtungen wie beim Bündnis „Take back the streets!“, welches mittlerweile in Wien die jährliche Demonstration am 8. März veranstaltet. Dabei wird ein Feminismus vertreten, welcher die Unterdrückung von homo-, bi-, intersexuellen und agender Menschen sowie solchen mit nichtbinärer, trans oder queerer Geschlechtsidentität neben die frauenspezifische stellt und sie alle quasi gleichberechtigt oder auf derselben Ebene behandelt. Ohne das an dieser Stelle bewerten zu wollen, soll damit gesagt sein, dass ein Feminismus weitere Verbreitung findet, welcher LGBTQIA+-Personen inkludiert und gleichberechtigt mit Frauen repräsentieren möchte.

Bei der Österreichischen Hochschüler:innenschaft an der Fachhochschule Campus Wien finden wir ein Referat für Queerfeminismus. Dieses kümmere sich „um alle Anliegen betreffend Genderidentität(en) und Feminismus. Es stellt Deine Anlaufstelle bei Problemen mit Diskriminierung Deiner/n Genderidentität(en) und sexueller Orientierung dar und kämpft für gleiche Studienbedingungen, unabhängig von diesen Faktoren.“

Die „feministische“ Gegenposition zu diesem „inklusiven“ Herangehen hängt sich meist an der (Nicht-)Inklusion von trans Personen auf. Durch die Integration von trans Frauen in den Feminismus und in Frauenräume würden die Stellung von Frauen und deren Anliegen unterminiert oder ihre Schutzräume gestört (so etwa bei der Debatte um die Nutzung von Frauentoiletten). Im Juni 2023 kam es zu einer aufgeregten Diskussion, als die Nationalratsabgeordnete der Grünen, Faika El-Nagashi, an einer Kundgebung der transfeindlichen Initiative „Let Women Speak“ teilnahm. Dort sah man Schilder mit „Men are not Women“ und hörte den Slogan „Keine Frau hat einen Penis!“ Danach teilte sie auch weitere transfeindliche Inhalte, anstatt sich davon zu distanzieren.

Wovon reden wir?

Worum geht es also bei diesen Debatten? Was ist Queerfeminismus? In einem Artikel des deutschen Magazins stern findet man beispielhaft eine gewisse populäre Auffassung: „Im Queerfeminismus geht man also nicht davon aus, dass es nur Mann und Frau, sondern eine breite Palette an Geschlechtern und Sexualitäten gibt. (…) Unter Queerfeminismus versteht man also auch den Kampf für Gleichheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit aller Geschlechter und Identitäten.“ Das entspricht dem Verständnis, das wir eingangs bereits beschrieben haben.

Auf Wikipedia findet man ein paar wenige, aber doch substantiellere Angaben. Dort heißt es, der Queerfeminismus gehöre zur Dritten Welle des Feminismus, genauer zum dekonstruktivistischen Feminismus, und richte sich sowohl gegen Heteronormativität als auch binäre Geschlechterordnung. Viel gesagt ist damit jedoch immer noch nicht.

Eine genauere Definition findet man auf der Website feministisch-veraendern.de. Hier heißt es: „Queerfeminismus kann insbesondere in den deutschsprachigen Auseinandersetzungen als feministische Strömung bezeichnet werden, die sich in Bezugnahme auf Queer Theory in ein akademisches (erkenntnistheoretisches) und ein politisches Projekt ausdifferenzieren lässt. (…) Die erkenntnistheoretische Dimension queerfeministischer Debatten geht davon aus, dass Sexualität, geschlechtliche Identität und Körper nur durch eine Matrix kulturellen Wissens erfahr- und verstehbar sind. (…) Queerfeministische Praxis nutzt den Modus der störenden Performanz (Butler 1995: 35), um etablierte kulturell vergeschlechtlichte Praxen und Konzepte zu »durchqueeren« und zu unterwandern, von der Sprache bis hin zu habituellen Merkmalen wie zum Beispiel Kleidungsstilen oder auch Alltagspraktiken, die geschlechtlich gelesen werden. Dominante Repräsentationen, die sich ständig reproduzieren, werden subversiv aufgebrochen.“ Das klingt schon klarer, wenn auch kompliziert.

Klärung grundsätzlicher Begriffe

Damit die Sache nicht noch komplizierter wird, wollen wir zuerst mit einer Abgrenzung des Begriffes von anderen, klarer abgesteckten beginnen, bevor wir nochmal einen Blick auf die genaue Bedeutung des Begriffes „Queerfeminismus“ werfen.

Queer: (aus dem Englischen) bedeutet ursprünglich „seltsam“ oder „eigenartig“ und wurde lange Zeit als Schimpfwort für Menschen benutzt, die von den vorherrschenden, heterosexuellen Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht abweichen, insbesondere homo-, trans- und intersexuelle Personen. Es wird seit einiger Zeit aber als positive Selbstbezeichnung verwendet.

Geschlecht: Im Feminismus begann man mit der Unterscheidung eines sozialen Geschlechts oder einer Geschlechterrolle („gender“) von einem biologischen Geschlecht („sex“), das im Zusammenhang mit der menschlichen Fortpflanzung steht. Auf diese Weise sollte die Auffassung erleichtert werden, dass weibliches Verhalten und die Aufgaben, die Frauen gesellschaftlich zugeschrieben werden, nicht mit einer weiblichen Natur gleichzusetzen sind. Dadurch konnte die Geschlechterrolle Frau als gesellschaftlich konstruiert debattiert werden. Der dekonstruktivistische Feminismus und die Queertheorie, die von Judith Butler maßgeblich geprägt wurden, gehen hier einen radikalen Schritt weiter und fassen auch das biologische Geschlecht als sozial konstruiert auf (womit nicht gemeint ist, dass es keine anatomischen Körper gibt).

Dekonstruktivismus: Eine philosophische Strömung, stark geprägt durch Jacques Derrida, in der – vereinfacht gesagt – die Bedeutung von „Text“ kritisch untersucht und seine Grundannahmen aufgedeckt und hinterfragt werden. Dabei ist Text nicht einfach das geschriebene Wort, sondern eigentlich im Sinne Derridas praktisch alles, was Bedeutung trägt.

Queertheorie: Die wohl wichtigste Vertreter:in ist Judith Butler, welche in den 1990er Jahren die Queertheorie mit dem Buch „Gender Trouble“ (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter) prägte. Butler setzt mit einer Kritik am Feminismus an, welcher sich auf das in einer binären Geschlechterordnung befangene Subjekt Frau stützt und damit Ausschließungen produziert. Butler untersucht diskursiv, wie diese binäre Geschlechterordnung aus einem heterosexuellen Zwangssystem folgt und worin eine subversive Strategie besteht.

Identitätspolitik: Die Identitätspolitik geht auf das Combahee River Collective zurück. Die Idee dabei lautet, dass eine Gruppe mit einer bestimmten Identität am besten die eigenen Interessen vertreten sollte und sie das Mittel ist, um kollektive Handlungsmacht zu stärken. Das Problem dabei ist nicht, dass Identität schlecht und ausgrenzend ist oder Betroffene nicht selbst gegen ihre Unterdrückung kämpfen sollen. Es entsteht dann, wenn Betroffene nicht über den Rahmen der eigenen Erfahrung und Betroffenheit hinausgehen und darauf aufbauend ihre Unterdrückung im Kontext der kapitalistischen Klassengesellschaft begreifen und bekämpfen wollen.

Nachdem wir diese Begriffe ungefähr geklärt haben, wollen wir einen Überblick über die Queertheorie geben, da sie den theoretischen Kern sowie praktischen Bezugspunkt des Queerfeminismus bildet. Im weiteren Verlauf wollen wir noch eine marxistische Kritik daran vorstellen sowie strategisch-programmatische Ansätze für die Frauen- sowie LGBTQIA+-Befreiung.

Zur Butlers Queertheorie

Judith Butler hat die Queertheorie maßgeblich geprägt, wenn nicht gar begründet. Dabei erstreckt sich das theoretische Werk über mehrere Bücher, angefangen in den 1990er Jahren mit dem „Unbehagen der Geschlechter“. Darin wird der Zusammenhang von Geschlecht, Körper und Macht diskutiert. Macht ist dabei, abstrakt gefasst, alles durchdringend und konstituiert Diskurs, Wirklichkeit und Wahrheit. Der Diskurs bezeichnet die mitunter sprachliche Praxis, die systematisch die Wirklichkeit bildet und ordnet. Es handelt sich hier also um eine Philosophie, die sich unter anderem an Michel Foucault anlehnt. Die Untersuchung von Diskursen und ihre Verortung in Machtprozessen nennt sich Genealogie. Sie sucht nicht nach der Wahrheit hinter den Kategorien, sondern entlarvt diese als Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen. Butler versucht eine Genealogie der Geschlechterbinarität. Darunter versteht man die Auffassung in unserer Gesellschaft, dass es zwei Geschlechter gibt, nämlich jene von Mann und Frau. Butler stellt die Frage, wie der Körper zu einem Geschlechtskörper wird und warum es dabei nur zwei Geschlechter gibt. Das ist insofern relevant, weil Butler das biologische Geschlecht selbst als sozial konstruiert betrachtet und der Zweigeschlechlichkeit die theoretische Unendlichkeit von Geschlecht entgegenhält. Dem bisherigen Feminismus unterstellt Butler, dass er die binäre Geschlechterordnung bestätigt und mit der Vorstellung einer homogenen Gruppe „Frauen“ Ausschlüsse produziert. Es geht dann nicht einfach darum, die Unterdrückung zu bekämpfen, sondern jene Begriffe zu dekonstruieren, welche die Unterdrückung erst ermöglichen.

Performativität

Wenn man Geschlechterbinarität von klein auf gewohnt ist, wenig mit Queertheorie zu tun hatte und vielleicht die klassisch-feministische Trennung von sex und gender verinnerlicht hat, mag es zunächst schwer begreiflich sein, wie Butler zu diesen Ansichten kommt. Wie schon erwähnt, ist sie von Foucault beeinflusst und stützt sich auf dessen Begriff von Macht und Genealogie. In dieser Perspektive lautet die Frage nicht, was der biologische Kern des weiblichen oder des männlichen Geschlechts ist. Sie lautet vielmehr, durch welche Mechanismen das Geschlecht als biologische Eigenschaft des Körpers erscheint. Die bedeutende Rolle kommt hier dem Begriff der Performanz (engl.: Performance = Darstellung, Inszenierung) zu. Butler lehnt sich damit an ein Konzept des Sprachphilosophen John Langshaw Austin an. Dieser bezeichnet „performative Sprechakte“ als jene, die das, was sie bezeichnen, auch in Kraft setzen bzw. erzeugen. Sprache schafft hier also Wirklichkeit. Das klassische Beispiel ist der Ausruf bei der Geburt: „Es ist ein Junge!“ oder „Es ist ein Mädchen!“ Die Wirkmächtigkeit besteht hierbei im wiederholten Zitieren von Normen bzw. in der ständig wiederholten Macht des Diskurses.

Die heterosexuelle Matrix

Butler vollzieht die Abtrennung von Geschlecht und Geschlechtsidentität vom Körper. Geschlecht wird nun am Körper über gewisse Merkmale markiert. Diese bilden aber die Wirkung von Vorgängen, welche das Geschlecht auf den Körper zurückführen. Das geschehe über eine binär organisierte, heterosexuelle Matrix, die in ihrer Entstehung auf die Erkenntnispolitik der Humanwissenschaften zurückgehe und selbst der Performanz unterliege. Vor allem Gynäkologie und Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert waren bemüht, eine Einheit zwischen dem sozialen Geschlecht und der Anatomie des Körpers herzustellen. Letztlich sei dieser Versuch aber gescheitert. Es gebe kein eindeutiges Kriterium zur Geschlechtsbestimmung, was herauskomme, sind nur die Durchschnitte männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale. Wo gender war, wird sex. Geschlecht erscheint bei Butler als Wirkung eines zwangsordnenden Regimes der Heterosexualität. Das dient letztlich einer auf Fortpflanzung ausgerichteten Körper- und Bevölkerungspolitik.

Möglichkeiten des Widerstands

Die Macht schlägt sich im Individuum und seiner Psyche nieder, wo sich dieses unbewusst selbst normativ diszipliniert (Stichwort: Gewissen). Dabei ist es nicht so, dass sich ein schon vorhandenes Subjekt erst dieser Macht unterordnet, sondern es wird mit seiner Erzeugung zeitgleich unterworfen. Die Unterwerfung ist Bedingung seiner Existenz. Die Subjektbildung ist aber nie vollständig abgeschlossen und die Anweisung zu einer bestimmten Geschlechtsidentität unterliegt Verfehlungen. In der Möglichkeit der Reflexion des Subjekts liegt das Potential zu Widerstand und Subversion. „Queer“ ist bei Butler nun der politische Ausdruck des von der Norm Abweichenden, Namenlosen, das nun benannt werden kann und die Möglichkeit eröffnet, Bereiche des Psychischen und des Gesellschaftlichen zu verschieben. Das gelingt in der Strategie der Queertheorie in einer Politik des Performativen. Sozial autorisierte Kontexte von Sprechakten können durch performative Verschiebung durchbrochen werden, indem ein Sprechakt eine nichtkonventionale Bedeutung erhält. Die Mittel dafür sind etwa Parodie, Travestie und Geschlechterinszenierung, wie das Experimentieren mit alternativen Identitätsformen. Beispielsweise unterläuft Drag (z. B. Dragqueen) die Vorstellungen von Geschlechternormen. Das politische Ziel liegt in der Vermehrung und Vervielfältigung kultureller Konfigurationen von Geschlecht.

Kritik der Queertheorie

Was ist nun das Problem an der Queertheorie? An sich klingt es ja fortschrittlich, die starren Geschlechtervorstellungen in unserer Gesellschaft aufzubrechen. Tatsächlich liegt es auch nicht in diesem Anspruch, sondern einerseits auf der theoretisch-philosophischen Ebene, andererseits auf der praktisch-politischen. Diese beiden Ebenen sind miteinander verknüpft, was man hoffentlich aus der obigen Darstellung der Theorie erkennt.

Zum Theoretischen: Butler versucht darzustellen, wie Geschlecht konstruiert wird, nämlich als Effekt einer heterosexuellen Zwangsordnung. Dabei ist es durchaus nicht uninteressant, welche Rolle performative Sprechakte spielen. Allerdings ist es problematisch, auf dieser Ebene der Analyse zu verbleiben. Was steht hinter dem Zwang zur Heterosexualität? Butlers Genealogie liefert zwar Ansätze zum Verständnis, wie die heterosexuelle Matrix zustande kommt, aber letztlich ist die historische Perspektive nur schwach ausgeprägt und ein historisch-materialistischer Zugang fehlt nicht nur, sondern wird bewusst abgelehnt. Das liegt an der diskurstheoretischen Auffassung selbst. Die Materialität des Körpers ist nicht etwas objektiv Gegebenes, das erkannt werden kann, sondern immer schon kulturell. Gesellschaft und ihre symbolische Ordnung materialisieren sich im Körper, der Diskurs erzeugt die Materie. Das ist letztlich eine philosophisch-idealistische Position, die die Bedingungen für Geschlechterbinarität nicht richtig erfasst und dadurch auch keine adäquate Strategie zur Befreiung von geschlechtlicher Unterdrückung liefert.

Zum Praktischen: Butlers Strategie verbleibt auf der Ebene des Performativen. Dabei ist es, wie gesagt, nicht verkehrt, starre Geschlechterrollen und Geschlechtsidentitäten aufzubrechen. Allerdings ist das kein geeigneter Ansatz, um das Problem an der Wurzel zu packen, welche nämlich in der sozialen Reproduktion und der bürgerlichen Familie liegt. Um hier anzusetzen, braucht es eine Strategie des ökonomischen und politischen Klassenkampfs, der mit dem Aufbrechen von Geschlechterrollen verbunden werden kann und die Grundlagen legt, diese auch wirklich abzuschaffen.

Ein marxistisches Verständnis von Geschlecht

Geschlecht hängt nicht im luftleeren Raum oder schlichtweg an einer auf Fortpflanzung ausgerichteten Bevölkerungspolitik. Es manifestiert sich historisch in Relation zur menschlichen Fortpflanzung. Damit ist nicht gesagt, dass Geschlecht biologisch und sozial nicht darüber hinausgeht, dass ein Mann ohne Hoden kein Mann sein könne, eine Frau ohne Uterus keine Frau usw. Nur weil es keinen fixen Punkt gibt, der für alle Zugehörigen eines Geschlechts gleich und für Geschlecht in seiner Totalität determinierend ist, heißt es aber auch nicht, dass es keine Grundlage hätte. Zur Reproduktion der menschlichen Spezies bestehen zwei qualitative Pole, die historisch, biologisch männlich und weiblich genannt werden und anhand derer Geschlecht sozial vermittelt ist. Wichtig ist hier, dieses zweigepolte Spektrum nicht mit einer Binarität (entweder das eine oder das andere) zu verwechseln. Auf Grundlage der Reproduktionsfähigkeit lässt sich historisch eine geschlechtliche Arbeitsteilung feststellen, die mit dem Aufkommen des Privateigentums und der Klassengesellschaft verstetigt und mit einer gesellschaftlichen Unterdrückung verbunden wurde. Daran sind soziale Vorstellung von Geschlecht und Sexualität als männlich und weiblich geknüpft. Natürlich gibt es biologisch und sozial geschlechtliche Ausprägungen dazwischen, die historisch entweder in einer gewissen Form akzeptiert oder unterdrückt sind. Im Kapitalismus ist die soziale Reproduktion zu einem großen Teil in Form der bürgerlichen Familie organisiert, also in den privaten Haushalt der Kleinfamilie gedrängt. Auch wenn diese Struktur Zerrüttungen unterworfen ist, ist es für das Kapital die ökonomisch sinnvollste Form, das Aufziehen von Kindern, die Hausarbeit und Formen physischer und psychischer Pflegearbeit der unbezahlten, vorwiegend weiblichen, Arbeitskraft aufzubürden.

Strategie zur Befreiung

Eine Strategie zur geschlechtlichen und sexuellen Befreiung muss an der geschlechtlichen Arbeitsteilung ansetzen und mit ihr die starre Form der bürgerlichen Kleinfamilie aufheben. Das geschieht durch Formen der Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit, sodass die Familie nicht mehr die „kleinste ökonomische Einheit“ in der Gesellschaft bleibt. Das bedeutet den Ausbau von Pflege, Kinderbetreuung, kollektive und kollektivierte Formen der Hausarbeit (Kantinen, Wäschereien etc.), die Stärkung der ökonomischen Unabhängigkeit von geschlechtlich und sexuell Unterdrückten und alternativen Formen des Zusammenlebens. All das kann natürlich nicht von heute auf morgen passieren und es gibt viele andere Aspekte, die nicht auf dieser politisch-ökonomischen Ebene liegen, für die es heute zu kämpfen gilt. Dazu zählt insbesondere das Recht auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung, dazu zählt immer das auf eine eigene Geschlechtsidentität. Die Kämpfe darum sind keineswegs irrelevant oder nachgeordnet, aber ohne Umgestaltung der ökonomischen Struktur unserer Gesellschaft bleiben ihre Erfolge begrenzt.

Queerfeminismus: ja oder nein?

Wie sollte man gemäß diesen Ausführungen also zum Queerfeminismus stehen? Aufgrund der schwammigen politischen Konzeption und der dekonstruktivistischen, irreleitenden theoretischen Basis lehnen wir für uns eine Selbstzuschreibung als queerfeministisch ab und tun dies auch in politischen Zusammenhängen, in denen wir aktiv sind, z. B. LINKS. Gleichzeitig wollen wir uns nicht sektiererisch oder gar unsolidarisch gegenüber Kräften und Aktivist:innen verhalten, die sich in die queerfeministische Strömung einordnen. Sofern es praktische Überschneidungen im Kampf um Frauen- oder LGBTQIA+-Befreiung gibt, und davon gibt es etliche, wird eine Zusammenarbeit auch sinnvoll sein. Somit ist es für uns selbstverständlich, dass wir uns in diese Kämpfe einreihen und sie als integralen Teil des Klassenkampfs begreifen. Dabei verteidigen wir auch die Einbeziehung von trans Frauen in die Frauenbewegung sowie die Zusammenführung von Kämpfen rund um queere Identitäten. Wir wollen, so gut es geht, miteinander in einer starken Arbeiter:innenbewegung für unser aller Rechte kämpfen. Dabei bekämpfen wir natürlich auch Exklusionen innerhalb ihrer.

Wir sind aber dagegen, die Fragen vom Kampf gegen geschlechtliche und sexuelle Unterdrückung inhaltlich zu stark zu vermischen, wie es beispielsweise bei der Verwendung des FLINTA*-Begriffs (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen) passieren kann, denn hier stehen zum Teil unterschiedliche Forderungen im Vordergrund. Beispielsweise wird der FLINTA*-Begriff häufig für Themen verwendet, wo es eigentlich klar ist, dass sich Frauen davon angesprochen fühlen sollen, was wiederum FLINTA* zu einem reinen Ersatz-Begriff für Frauen macht und die anderen Identitäten wieder in den Hintergrund rücken lässt oder umgekehrt. Darüber hinaus ist beispielsweise die Frage von Kinderbetreuung eine, die Mütter eher betrifft als homosexuelle Männer, während sich viele Frauen von der Frage eines dritten Geschlechtseintrags in offiziellen Dokumenten nicht betroffen fühlen. Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht mit den Anliegen verschiedener Gruppen (auch praktisch) solidarisieren müssen. Nur eine saubere inhaltliche Analyse erlaubt zielgerichtete Forderungen. Letztlich wollen wir diese Kämpfe gemeinsam im Sinne eines solidarischen Klassenkampfs führen, der den Zusammenhang von geschlechtlicher sowie sexueller Unterdrückung mit dem Kapitalismus erkennt und den Kampf um Befreiung mit einer revolutionären, sozialistischen Perspektive verbindet.




Guten Fragen, gute Antworten: 5 Fragen zu Frauen, Patriarchat und Krieg

Aventina Holzer / Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

1. Patriarchat schafft Krieg?

„Kriege werden von Männern ausgelöst“, „Mächtige Männer setzen ihre Interessen über die Köpfe der anderen durch“ und „Krieg ist männlich“ sind Aussagen, die einem häufig über den Weg laufen. Wenn man sich die Realität anschaut, könnte man dem auf den ersten Blick zustimmen. Die überwiegende Mehrheit der Regierungschef:innen sind Männer und auch fernab von Amtsträger:innen hat Gewalt überwiegend ein männliches Gesicht.

Das Problem an diesen Sätzen ist jedoch, dass man eine falsche Systematik oder gesellschaftliche Problematik herausarbeitet. Es scheint so, dass Kriege entstehen, da oftmals Männer Entscheidungsträger sind. Dies ist ein Ergebnis des Patriarchats, welches sich durchgesetzt und reproduziert hat durch männliche Gewalt. Damit wird einem unterschwellig suggeriert, dass es „in der Natur“ von Männern liege, gewalttätig zu sein.

Doch Kriege entstehen nicht einfach durch individuelle Willkür. Sie sind selbst ein Produkt von Klassengesellschaften. Im Kapitalismus sind sie oft Ergebnis ökonomischer Konkurrenz mit dem Ziel jeweiliger Nationen bzw. Kapitalfraktionen, sich eigene Einflusssphären zu sichern – auf Kosten anderer. Krieg scheint männlich, da eben viele Männer für die Kriegsführung und -erklärung verantwortlich sind. Das suggeriert sehr stark, dass es anders wäre, wenn Frauen in diesen Positionen sind. Annalena Baerbock oder Hillary Clinton und ihre „feministische Außenpolitik“ lassen grüßen. In der Realität schicken diese aber ebenso Waffen, um die Interessen ihrer jeweiligen herrschenden Klasse zu vertreten. Sie sind nicht freundlicher oder rationaler, nur weil sie Frauen sind. Davon auszugehen, verschleiert die tatsächlichen Verhältnisse und den realen patriarchalen Aspekt von Kriegen enorm, während man gleichzeitig tradierte Rollenbilder reproduziert.

Ähnliches gilt für männliche Gewalt an sich. Gewalt ist nicht nur eine Frage von individueller Mentalität, Erziehung oder Tendenz. Es ist nichts, was „natürlich“ in Männern existiert, sondern Ergebnis historischer Unterdrückung – von Frauen, aber auch und vor allem von Klassen oder im Kapitalismus von Kolonialvölkern und Nationen.

Somit ist die Aussage „Patriarchat schafft Krieg“ nicht nur eine sehr, sehr vereinfachte Analyse von Patriarchat als „männlicher Dominanz“ und ein Abschieben der Schuld auf „die“ Männer. Darüber hinaus vermittelt es zwei weitere problematische Ideen. Zum einen entsteht eine Diskussionsverschiebung. Es wird sich darauf konzentriert, welches Geschlecht  den Krieg führt und verwaltet. Doch eigentlich geht es dabei um die Durchsetzung von Klasseninteressen, um geopolitische und strategische Machtverschiebungen. Diese haben zwar massive negative Auswirkungen auf FLINTA-Personen, aber auch auf die männliche Arbeiter:innenklasse, die als Kanonenfutter für die herrschende Klasse eingesetzt wird.

Das zweite Problem mit der Aussage „Patriarchat schafft Krieg“ besteht darin, dass alle Kriege als reaktionär erscheinen. Das ist grundfalsch. Antikoloniale und antiimperialisische Befreiungskriege, Bürger:innenkriege oder Kriege zur Verteidigung einer sozialen Revolution tragen einen fortschrittlichen Charakter. Die Abschaffung des Kapitalismus und der Frauenunterdrückung sind letztlich ohne sozialistische Revolution, d. h. ohne gewaltsame Erhebung der Unterdrückten unmöglich. Abstrakte, ahistorische Phrasen, die den Unterdrückten einen allgemeinen Gewaltverzicht nahelegen, entwaffnen sie letztlich nur. Sie tragen ungewollt dazu bei, jene Verhältnisse – kapitalistische Ausbeutung und Frauenunterdrückung – zu verewigen, die sie zu bekämpfen vorgeben.

2. Warum gibt es Krieg im Kapitalismus?

Wer effektiv gegen Krieg kämpfen will, muss auch verstehen, was dessen Wurzel ist. Spoiler: es sind nicht einzelne, verwirrte Staatsoberhäupter oder die grundlegende „Natur“ des Menschen. Die Erklärung ist eine andere. Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Akteur:innen im Kapitalismus die Konkurrenz ist. Jede/r muss für sich selber schauen, wo er/sie bleibt, und darum kämpfen, dass er/sie nicht von anderen Kapitalist:innen abgehängt wird oder am besten sogar schneller als Elon Musk zum Mars fliegt. Dieser Konkurrenzkampf durchzieht die gesamte Gesellschaft. Somit stehen auch die Besitzer:innen der Fabriken und des Kapitals, also die Kapitalist:innen, miteinander in stetigem Kampf darum, wer die meisten Profite bekommt, um mit diesen neue Investitionen zu tätigen und somit zu wachsen und immer größere Teile der Wirtschaft in der eigenen Hand zu vereinen. Doch Profite zu machen, ist nicht so einfach in der heutigen Welt.

Unsere aktuelle Epoche zeichnet sich dadurch aus, dass jeder Winkel der Welt unter die konkurrierenden Kapitale aufgeteilt ist. Beispielsweise in Deutschland wird beinahe alles bewirtschaftet und der Bedarf an den meisten Sachen ist befriedigt. Also muss man raus aus Deutschland und in anderen Teilen der Welt investieren, wo noch was zu holen ist. Und da sich alle Imperialist:innen unter Konkurrenzdruck befinden, hat man unter Umständen auch gar keine andere Wahl, als diese Kriege um Wirtschaftswege (westafrikanische Küste), Wirtschaftsräume (Mali) oder geostrategische Einflusssphären (Ukraine, Syrien, Afghanistan) zu führen, da man ansonsten von den Kapitalist:innen in anderen Ländern bedroht wird oder vielleicht sogar abgehängt. Im Prinzip ist also Politik die zugespitzte Form der ökonomischen Konkurrenz (wie beispielsweise durch Handelsabkommen oder Troikapolitik gezeigt) und Krieg die Fortführung dieser mit anderen Mitteln.

Als revolutionäre Marxist:innen erkennen wir auch an, dass Kriege einen unterschiedlichen Charakter tragen, je nach dem der Kriegsziele der beteiligten Kräfte und Klassen. So besitzen beispielsweise solche zwischen imperialistischen Mächten einen reaktionären Charakter, während wir die unterdrückter Nationen und halbkolonialer Länder gegen imperialistische Staaten als berechtigt und unterstützenswert betrachten.

So weit eine knappe Antwort auf eine komplexe Frage.

3. Treffen Kriege Frauen stärker?

Die Antwort ist: jein. Kriege versetzen die gesamte Bevölkerung in einen Ausnahmezustand. Die Zunahme von Nationalismus, Zerstörung der Infrastruktur oder Mobilmachung haben Auswirkungen auf alle. Frauen sind dabei teilweise stärker oder spezifisch betroffen. Dies liegt darin begründet, dass der Krieg bereits vorhandene Frauenunterdrückung massiv verstärkt oder jedenfalls es tun kann. Er muss es aber nicht, wenn Frauen selbst eine aktive, ja führende Rolle in Befreiungs- oder Bürger:innenkrieg für die fortschrittliche Seite spielen.

Die Auswirkungen lassen sich dabei grob in direkte sowie indirekte einteilen. Beispielsweise fördert der Zusammenbruch der medizinischen Infrastruktur eine höhere Sterblichkeit von Geburten und die kriegsbedingte Zunahme an Frühwitwen führt meist zu schlimmerer Altersarmut von Frauen, die noch jahrelang anhält. Ein spezifisches Merkmal von Kriegen ist der Anstieg von Gewalt gegen Frauen. Herauszustellen hierbei ist, dass diese nur teilweise zunehmen, weil die Lebensbedingungen schlechter werden.

Vielmehr muss Gewalt gegen Frauen – hierbei vor allem Vergewaltigung – auch als gezielte Waffe verstanden werden zur ethnischen Säuberung und Demoralisierung. Beispielsweise wurde im Jahr 1994 Ruanda von einem Völkermord heimgesucht. Man schätzt, dass in etwas mehr als hundert Tagen fast eine Million Menschen getötet wurden. Im gleichen Zeitraum wurden schätzungsweise 250.000 bis 500.000 Tutsifrauen vergewaltigt. Insbesondere in diesem Jahrhundert gibt es zahlreiche Belege für massive Vergewaltigungen als Kriegsphänomen. Ein weiteres Beispiel finden wir 1937, wo in einem Monat 20.000 Frauen von Japanern in Nanjing (früher: Nanking; China) vergewaltigt wurden.

Auffällig ist, dass die Täter nur selten strafrechtlich verfolgt werden. In der Machel-Studie wird darauf hingewiesen, dass beispielsweise nur 8 Täter angeklagt wurden, obwohl die Zahl der Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien auf 20.000 geschätzt wird. Ziel der systematisch betriebenen Übergriffe ist es, der Gesamtbevölkerung der Gegenseite zu schaden – auch langfristig, weil die Reproduktionsfähigkeit beschädigt wird, etwa wenn in bestimmten Kulturen die Frau als Heiratspartnerin nach einer Vergewaltigung nicht mehr infrage kommt. Es wird also nicht nur der einzelnen Frau mit diesem Kriegsverbrechen geschadet, sondern der ganzen Gruppe.

4. Was ist mit der Carearbeit?

Dadurch, dass größtenteils Männer eingezogen werden sowie Haushaltseinkommen schrumpfen, gibt es starke Veränderungen in der Verteilung der Hausarbeit sowie auf dem Arbeitsmarkt. Kurzum: Frauen agieren hierbei als flexible Reservearmee von Arbeitskräften, die je nach Situation aktiv einbezogen oder isoliert werden. Der Grund dafür ist vor allem die Organisierung der Reproduktionsarbeit. Diese ändert sich ebenfalls im Rahmen des Krieges. Denn in einem Land, was angegriffen wird, wird massiv Infrastruktur zerstört. Alle Bereiche der Pflege und Kindererziehung fallen somit meist auf Frauen zurück – und das findet unter schlechteren Verhältnissen statt. Nach dem Krieg ändert sich das nicht unmittelbar, da die Zahl von Verletzten auch gestiegen ist.

Kurzum: die Doppelbelastung von Frauen, die ohnedies existiert, wird massiv verstärkt. Doch nicht nur in angegriffenen Ländern verändert sich die Situation. So hatten bspw. die USA im Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, um die Waffenproduktion am Laufen zu halten, Teile der Carearbeit zeitweise zu „sozialisieren“. Dies fand beispielsweise 1942  im Rahmen des Community Facilities Act (auch Lanham Act genannt) statt. Im Rahmen dieses Gesetzes hatten alle Familien (unabhängig vom Einkommen) Anspruch auf Kinderbetreuung, teilweise bis zu sechs Tage in der Woche, einschließlich der Sommermonate und der Ferien. So wurden die ersten Kinderbetreuungseinrichtungen der US-Regierung und sieben Einrichtungen für 105.000 Kinder gebaut. Dies scheint nach heutigen Maßstäben recht wenig zu sein, ist aber ein Ausdruck, was möglich ist: Statt die Reproduktionsarbeit ins Private zu verlagern, wurden Teilbereiche öffentlich organisiert – also verstaatlicht („vergesellschaftet“), da Frauen als Arbeitskräfte benötigt wurden. Dieses Angebot blieb natürlich nicht ewig bestehen. Nach Ende des Krieges und der Rückkehr der Männer von der Front wurden die Angebote wieder gestrichen, um Kosten zu sparen.

5. Trifft Krieg  alle gleich?

Insgesamt ist es wichtig anzuerkennen, dass wie bei Gewalt die Auswirkungen von Krieg alle Frauen treffen. Aber eben nicht gleich. Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, alle mit niedrigen Einkommen, sind den Folgen wesentlich stärker ausgesetzt, da sie keinen finanziellen Spielraum haben, Preissteigerungen auszugleichen oder zu fliehen. Dementsprechend kann auch nicht in der „Einheit“ aller Frauen die Antwort auf den Kampf gegen den Krieg bestehen. Vor allem nicht mit der Argumentation, dass Frauen friedliebender als Männer sind. Dies ist nur eine Fortführung von tradierten Rollenbildern, die auf die Müllhalde der Geschichte gehören. Wie am Anfang schon gesagt: Krieg wird nicht durch toxische Männlichkeit oder „verrückte Diktatoren“ vom Zaun gebrochen und geführt. Um Krieg effektiv zu bekämpfen, ist es aber zentral, ihn als Ergebnis von Klassengegensätzen und der internationalen Konkurrenz unterschiedlicher, nationaler Kapitalfraktionen zu verstehen. Wenn Frauen dann einfach nur dieses System mit verwalten oder glauben, dass Krieg vermeidbar sei, wenn man mehr miteinander redet, dann bietet das keine Lösung für irgendein Problem – weder zur Bekämpfung von Krieg noch dessen Auswirkungen auf die Frauenunterdrückung. Effektiver Widerstand muss aktuelle Probleme aufgreifen und deren Bekämpfung mit der Beseitigung ihrer Ursache – des Kapitalismus – verbinden, um erfolgreich zu sein.




Fünf Argumente gegen TERFS

Miel de la Rosa, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Die Erfinderin der Harry-Potter-Serie fiel in den letzten Jahren mit ihrer Transfeindlichkeit auf, indem sie auf Twitter durchblicken ließ, dass sie das binäre Geschlechtersystem für unantastbar hält. Da steht sie nicht nur in einer Reihe mit Alice Schwarzer, sondern auch vielen Konservativen und Rechten. Doch anders als diese fühlen sich viele TERFs als Teil der linken oder feministischen Bewegung. TERF ist ein Akronym für „Trans-Exclusionary Radical Feminist“ (radikaler Feminismus, der Transpersonen ausschließt).

Sie werfen ihrem Gegenüber gerne mal folgende Sätze an den Kopf:

1. Pseudoargument: „Am Ende bleibst du biologisch ein Mann, auch wenn du Hormone nimmst.“

Manche TERFs vertreten ein bioessentialistisches Weltbild: Weil eine Person einen Penis besitzt, habe sie ein innewohnendes Bedürfnis danach, „biologische Frauen“ zu unterdrücken, und stelle deshalb auch eine Gefahr für diese dar. Dies würde im Umkehrschluss aber auch bedeuten, dass Gewalt und Unterdrückung nicht nur von Geburt aus in Männern angelegt sind, sondern auch eine andere Gesellschaft nicht möglich ist. Dies ist ein äußerst deterministisches, aber auch pessimistisches Weltbild, welches Frauen als „das Gute“ und Männer als „das Böse“ stilisiert.

Darauf wollen TERFs auch hinaus, wenn sie anmerken, dass eine Transfrau immer ein „biologischer Mann“ oder eine „falsche Frau“ bleibe, egal ob sie wolle oder nicht. Denn warum ist dies so wichtig zu betonen, wenn biologische Geschlechter nicht unter einem solch deterministischen Blickwinkel betrachtet werden würden? Wir hingegen erklären Frauen- und LGBTQ+-Unterdrückung aus dem kapitalistischen System heraus. Frauen werden ökonomisch sowie politisch benachteiligt. Sie werden in Krisenzeiten zuerst entlassen und sind gleichzeitig der Part, der für die Reproduktion des herrschenden Gesellschaftssystems zuständig ist. Denn Reproduktionsarbeit wird vor allem von ihnen geleistet. In der klassischen Rollenverteilung steht ihre Rolle als Hausfrau und Mutter im Vordergrund. Diese vorherrschenden Geschlechterrollen haben sich aus diesen historischen Spezifitäten entwickelt und stützen das kapitalistische System. LGBTQ+-Personen lassen sich schwerer in die altbekannte Zweiteilung einordnen – ein Grund, weswegen diese zusätzliche Unterdrückung erfahren.

2. Pseudoargument: „Ich unterstütze, dass du trans bist, aber ich will nicht, dass du deinem Körper schadest und die Veränderungen, die du vornimmst, permanent sind, weil du deine Meinung ändern könntest.“

Jüngere Menschen werden zusätzlich mit Misstrauen konfrontiert. Man unterstellt ihnen, zu jung oder nicht reif genug zu sein. Implizit werfen TERFs Transpersonen damit vor, dass es eine Meinung wäre und nicht eine Geschlechtsidentität ist, die man sich nicht aussuchen kann. Transjugendliche müssen sich ihr Recht, Hormone zu nehmen, um ihren Körper ihrem Geschlecht anzupassen, lange und schmerzhaft erkämpfen. Ohne ärztliche sowie psychologische Unterstützung geht das nicht, weil man diese Anpassung nicht selbst vornehmen kann. Allein diese Auseinandersetzung zu führen, zeigt Reife und lässt Raum für mögliche Bedenken. Doch wenn Letztere auftreten, gehen sie TERFs einen Scheißdreck an.

3. Pseudoargument: „Du machst nicht die gleiche Erfahrung wie ,echte Frauen’, weißt nicht, wie es ist, Misogynie zu erleben.“

Natürlich überschneiden sich die Erfahrungen von Trans- und Cisfrauen nicht vollständig. Doch auch nicht alle Cis-Frauen haben einen gemeinsamen Erfahrungshaushalt. Klasse, Herkunft, Hautfarbe, Alter sowie Gesundheitszustand führen zu unterschiedlichen Leben(släufen) sowie Arten der Diskriminierung und Ausbeutung durchs kapitalistische System: So kann sich eine reiche, weiße Frau beispielsweise die Arbeitskraft einer armen migrantischen Frau kaufen, um sich vom Reproduktionsarbeitssystem zu befreien. Das heißt nicht, dass es deswegen Sinn ergeben würde, bestimmte (in gesellschaftlichen Kämpfen anerkannte) Begriffe aufzulösen. Das heißt nur, dass man die Komplexität von Begriffen wie „Frau“ einsehen und die Frage stellen kann: Was ist denn eine „echte“ Frau? Was geht mit Frausein einher?

4. Pseudoargument: „Transmenschen sollten keinen Zugang zu Schutzräumen von Frauen (bspw. Frauenhäuser) bekommen.“

Zunächst einmal: Transfrauen sind Frauen. Allerdings wird neben bioessentialistischen Ansätzen häufig Sozialisation ins Spiel gebracht: Man sei ein Mann, weil man als solcher sozialisiert worden und somit Quelle der Gewalt gegen Frauen sei. Die spezifischen Erfahrungen von Transpersonen in der Jugend lassen sich aber damit nicht aushebeln. Es ist eine spezielle Situation, wenn junge Transmenschen permanent dafür kritisiert werden, dass sie ja nicht dem Männlichkeits- oder Weiblichkeitsbild entsprechen, in das sie die Gesellschaft versucht hineinzudrängen. Das ist keine einfache Sozialisation als Mann oder Frau, sondern führt vielmehr zu eigenen Erfahrungen und spezifischer Verinnerlichung von Konzepten, die nicht männlicher oder weiblicher Sozialisierung gleichen.

Personen können zusätzlich auch später noch eine andere Sozialisierung durchlaufen. Wenn eine Transfrau auf der Straße, im Beruf und im Freundeskreis von den meisten Personen als Frau wahrgenommen wird, wird sie eben auch als solche behandelt.

Spezifisch transfeindlicher Gewalt sind sie zusätzlich ausgesetzt, wenn sie als trans „erkannt“ werden. Das Projekt „Trans Murder Monitoring“ vermerkt weltweit mindestens 327 Morde an trans- und genderdiversen Personen zwischen Oktober 2021 und September 2022, wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte. 95 % der Ermordeten waren Transfrauen oder transfeminin. Angesichts der Lebenserfahrungen, die viele Transpersonen machen müssen, wirkt es also fast schon zynisch, wenn bestimmte TERFs vorgeben, ja nur Cisfrauen vor Transpersonen schützen zu wollen.

5. Pseudoargument: „Du darfst schon trans sein, aber mach das im Privaten.“

TERFs weigern sich auffällig oft, nicht den Deadname (Name, der bei der Geburt von den Eltern vergeben wurde), sondern das gewählte Pronomen zu nutzen. Es ist heute belegt, dass es nicht nur Cismänner und -frauen gibt. Doch das Weltbild von TERFs basiert auf einer binären Geschlechtervorstellung.

Nun kann man versuchen, TERFism aus sexistischer Unterdrückung heraus zu erklären. Gerade wenn Cisfrauen unter den rigiden Erwartungshaltungen an ihr Geschlecht leiden oder für sich eine Identität als Bitchfrau (wörtlich: Schlampe, Zicke,Miststück; im übertragenen Sinn: selbstbewusste Frau) finden mussten, kann es zum Beispiel ein Dorn im Auge sein, wenn sich eine Transfrau sehr stereotyp feminin kleidet. Dass die meisten Transfrauen Feminität nicht unmittelbar mit Frau-sein gleichsetzen, sondern sich bestimmter Symbole bedienen, um gesellschaftlich als Frau erkannt zu werden und transfeindlichen Angriffen zu entgehen, wird jedoch nicht beachtet. Genauso werden Transfrauen abgelehnt, wenn sie sich maskuliner kleiden oder keine Transition vornehmen. TERFs nehmen Transpersonen hier das Recht zur freien Entfaltung und argumentieren genauso, wie Gegner_Innen von Homosexualität es lange getan haben.

Die ähnlichen Argumente und Strategien kommen nicht von ungefähr, schaut man sich an, was aus einstigen bekannten bürgerlichen Feminist_Innen wie Alice Schwarzer geworden ist, die man heutzutage wohl schlecht noch irgendeiner linken Strömung zuschreiben kann. Immer wieder aufs Neue neigen TERFs zumindest in der Frage von Geschlecht zu konservativen und rechten Kreisen. Der Angriff auf das binäre Geschlechtersystem wird als einer auf die bürgerliche Familie und den Kapitalismus selbst gesehen. Allerdings sind die einzelnen Argumentationsmuster mannigfaltig und nicht alle vertreten daneben nur rechte Positionen.

So sehr man also versucht, auf bestimmte Argumente von TERFs einzugehen, bleibt TERFism eine auf Kritik am Individuum basierende (und im Extremfall gewaltvolle) Ideologie, die die tatsächliche Wurzel von Sexismus nicht anzugreifen vermag. Doch gesellschaftliche Befreiung kann nur gemeinsam erreicht werden, weil Cisfrauen und Transpersonen vom gleichen, ausbeuterischen System unterdrückt werden. Wir müssen aber gegen die Klasse kämpfen, die uns tatsächlich ausbeutet und unsere Unterdrückung Tag für Tag möglich macht – die Kapitalist_Innen. Das Miteinbeziehen von Transpersonen in einen antisexistischen Klassenkampf untergräbt diesen nicht, sondern kann ihn nur stärker machen!

Anhang: Was, wie, wo?

TERFs hängen – stark verkürzt – einer Strömung des Second-Wave-Feminismus an. Die Unterdrückung von Frauen wird als fundamentalste gesellschaftliche verstanden und existiere seit Anbeginn des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auch wenn radikalfeministische Aktivist_Innen und Denker_Innen auf wichtige Themengebiete (beispielsweise Rape Culture) aufmerksam machen konnten, verfolgen sie keinen revolutionären, antikapitalistischen Ansatz, sondern verbleiben oftmals auf einer individualistischen Ebene. In letzter Zeit hat sich insbesondere in Onlineräumen nun eine gar nicht so kleine Schar an Radikalfeminist_Innen gebildet, die nun nicht mehr Männer, sondern Transpersonen zu Hauptfeind_Innen der eigenen Befreiung auserkoren hat. Während die meisten TERFs vor allem in „sozialen Medien“ durch Shitstorms und Hassattacken auffallen, griffen einzelne sogar Transpersonen auf Demonstrationen in Großbritannien an.




Familienrecht: Umkämpfte Schmalspurreformen

Jürgen Roth, Neue Internationale 271, Februar 2023

Schon im Koalitionspapier wurden umfassende Reformen auf dem Gebiet der Frauen-, Familien- und Queerpolitik angekündigt. Der Abschnitt des Koalitionsvertrags ist auch der mit den vergleichsweise progressivsten Absichten der Ampel. Umgesetzt wurde allerdings bisher nur die Streichung des Werbeverbotes für Abtreibungen (§ 129a) im Juni 2022.

Nun steht eine weitere Gesetzesänderung ins Haus. Beim Sorgerecht soll nach einer Trennung generell das paritätische Wechselmodell (auch Doppelresidenzmodell genannt) zum Zuge kommen. Das soll bedeuten, dass die Kinder nach einer Trennung gleich viel Zeit bei beiden Eltern verbringen. Das heißt auch: Künftig sollen Väter mit gleichem Wohnsitz das Sorgerecht ohne Einwilligung der Mutter erhalten können.

Das hört sich gut und gerecht an, ist es aber nicht. Denn das Modell abstrahiert in vielen Punkten von der Realität.

Sorge- und Erwerbsarbeit

So kann dieses dazu führen, dass Väter Rechte erhalten, ohne eine partnerschaftliche Arbeitsteilung gelebt zu haben. 90 % aller Kinder haben schon heute geteiltes Sorgerecht. Doch bei deren Betreuung klafft eine Lücke von 50 % zwischen Vätern und Müttern. Die feministischen Sozialwissenschaftlerinnen Alicia Schlender und Lisa Yashodara Haller erklären das so: „Väter beteiligen sich also weniger an der Sorgearbeit, weil es für sie gesellschaftlich schwieriger ist, Erwerbsarbeit zugunsten der Sorgearbeit zurückzuweisen.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 15.11.2022, S. 3) So weit richtig.

Dass der Zwang zur Lohnarbeit die proletarischen Männer davon abhält, sich genügend um ihre Kinder zu kümmern, ist unstrittig. Doch wirkt der nicht auch für Frauen dieser Klasse, insbesondere nach Scheidung oder Trennung?

Historisch-materialistisch betrachtet liegt die Ursache für den Care Gap im Gender Pay Gap, der selbst wiederum Resultat einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist. Doch statt diese Problematik direkt angehen, begnügen sich Haller und Schlender mit der Forderung nach staatlichen Ausgleichsleistungen.

So befürworten sie steuerliche Anreize, um weniger arbeiten zu müssen, und eine Erhöhung der verpflichtenden Elternzeit für Väter. Ihnen ist bewusst, dass die bisherige Regelung, je mehr ich verdiene, desto mehr Elterngeld bekomme ich, zu Ungerechtigkeiten führt und schlagen die Summe beider Gehälter als dessen Berechnungsgrundlage vor. Analog zum Mutterschutz soll ein Erwerbsverbot für Väter im unmittelbaren Anschluss an die Geburt gelten über die optionalen 2 Wochen hinaus, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) anstrebt. Ferner soll das Ehegattensplitting abgeschafft werden und halbe Vollzeiterwerbstätigkeit pro Elternteil bei vollem Lohnausgleich gelten. Wer das bezahlen soll, erwähnen sie nicht.

Koalitionsmodell

Das im Koalitionsvertrag bevorzugte Modell sieht diese Abfederungen im Interesse der Frauen erst gar nicht vor. Nachdem die Kinder abwechselnd bei beiden Elternteilen wohnen würden, würde für viele Mütter damit der Barunterhalt wegfallen. Dieses Wechselmodell können sich allenfalls, wie Schlender und Haller anmerken, „ökonomisch stabile Familien“ leisten. Woher soll schließlich das Geld für 2 Wohnungen plus doppelte Kinderzimmer nebst Ausstattung kommen?

Schon jetzt erhält mehr als ein Drittel der Alleinerziehenden – weit überwiegend Mütter – keinen oder nur unvollständigen Unterhalt vom anderen Elternteil. Zwar springt die Unterhaltsvorschusskasse des Jugendamts ein, wo die Mutter aber unabhängig vom Einkommen des Vaters nur den Mindestsatz erhält, von dem auch noch das Kindergeld abgezogen wird.

Doch alle strittigen Fragen rund um Kindesunterhalt bilden kein Thema für die regierende Koalition. Diese beschränkt sich ausschließlich auf eine Kindergrundsicherung. In Zeiten der Aufhübschung von Hartz IV zum Bürgergeld ist Armutskosmetik eben chic.

Kindeswohl und väterliche Gewalt

Doch das Wechselmodell sieht nicht nur von der sozialen Frage und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ab. Auch die häusliche Gewalt gegen Frauen bleibt unterbelichtet und wird tendenziell ignoriert, wie der Artikel „Streit ums Sorgerecht: Das umkämpfte Wechselmodell“ zeigt.

So wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Familie und Partner:innenschaft sind dabei die wichtigsten Tatorte. Allein für 2021 weist die Statistik des BKA 143.604 Fälle häuslicher Gewalt auf. Die Täter sind zu 80 % Männer. Und selbst das BKA fügt hinzu, dass die Dunkelziffer weit höher liegt.

Doch vor Gerichten und bei Behörden spielt häusliche Gewalt nur eine untergeordnete Rolle. So verweist die Studie „Familienrecht in Deutschland“ des Hamburger Soziologen Wolfgang Hammer vom April 2022 darauf, dass bei Priorisierung des Wechselmodells  selbst belegtes gewaltförmiges Verhalten der Väter ausgeklammert werde. Ähnliches Verhalten wird auch von Jugendämtern berichtet.

Diese Entscheidungen gehen auch mit der biologistischen Vorstellung einher, dass Kinder vor allem „beide Elternteile“ bräuchten, egal was sie zum Kindeswohl (und dem des anderen Elternteils) beigetragen haben. Der reaktionären Argumentationslinie zufolge würden auch Frauen, die gewalttätigen Männern im Interesse der Kinder das Sorgerecht streitig machen, die Kinder vom anderen Elternteil „entfremden“ – und so deren „natürliche“ Entwicklung beeinträchtigen.

Dafür macht sich seit Jahren auch die reaktionäre „Männerbewegung“ stark, deren Argumente u. a. auch die FDP in der Koalition aufgreift. Von der Gesetzesvorlage der Ampel ist daher auch in dieser Hinsicht wenig zu erwarten.

Elternschaft, Kapitalismus und Feminismus

Uns geht es hier keineswegs darum, den Wunsch nach Kindern, nach Elternschaft (und damit auch nach Sorgerechten für Väter) als solchen abzutun. Wir stimmen Schlender und Haller in folgender Aussage unbedingt zu: „Es geht nicht länger um eine Abgrenzung von Elternschaft, sondern darum, die Zustände zu kritisieren, unter denen Elternschaft zur Zumutung wird.“

Das Problem mit den Reformvorhaben der Regierungskoalition besteht nicht nur darin, dass sie diese Zustände nicht kritisiert, sondern selbst an deren Reproduktion mitwirkt. Reaktionäre Geschlechterrollen und Familienbilder werden nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse, von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern als natürliche Zustände betrachtet, die es allenfalls etwas zu dehnen gelte. Und selbst soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zum Schutz der Frauen oder zur Unterstützung ärmerer Schichten der Arbeiter:innenklasse bleiben außen vor.

Zu Recht kritisieren die beiden Feministinnen daher: „Gleichberechtigung ist im Kapitalismus nicht zu haben. Sorgearbeit ist ein zentrales Element menschlicher Existenz, aus dem auch Freiheit entsteht.“ Und sie folgern dann:

„Wenn wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben wollen, dann sollten wir Mutterschaft verallgemeinern und nicht abschaffen … Vaterschaft ist historisch allein patriarchale Herrschaft … Aus dieser philosophischen Perspektive braucht Vaterschaft heutzutage kein Mensch, aber Mutterschaft für alle ist ein hohes Gut.“

In dieser Gesellschaft aber gerade nicht, sondern oft ebenso eine Strafe wie Kindheit und Jugend! Haller und Schlender ist ihr subjektiv antikapitalistischer Wunsch zugutezuhalten. Mit der Verteidigung der Mutterschaft als „hohem Gut“ führen sie freilich ungewollt jene Naturalisierung wieder ein, die sie mit der Kritik an der Rolle von Vaterschaft angreifen.

Aufhebung der Geschlechterrollen

Beziehen wir uns unter den Begriffen Vater- und Mutterschaft allein auf das biologisch Notwendige für die Fortpflanzung, so sind sie schlecht abzuschaffen, wenn sich die Menschheit weiter reproduzieren soll.

Betrachten wir freilich die Geschlechterrollen Vater- und Mutterschaft, so sind sie nur idealisierte Vorstellungen einer angeblich natürlichen Ordnung der Geschlechter. Als Sozialist:innen wollen wir die geschlechtliche Arbeitsteilung bis auf das biologisch Unumgängliche (Gebären, Stillen, Zeugen) aufheben. Solange die Sorgearbeit mit Mutterschaft identifiziert wird, werden vom Patriarchat übernommene und überkommene soziale Geschlechterstereotype gerade nicht unterminiert, geschweige aufgehoben, sondern eher fortgeschrieben.

Darüber hinaus fassen die beiden Feministinnen die Klassenfrage ungenügend. Druckmittel und Steuerungsmechanismen versagen beim Kindesunterhalt selbst bei Trennungen von vielen Paaren, die mehr als den Durchschnitt verdienen. Schon gar kritisch wird es erst, wenn getrennte Paare wieder eine neue Familie gründen wollen. Arbeiter:innen können sich den Luxus des Wechselmodells erst recht nicht leisten. Wie für teure Schäden muss eine Art Solidarversicherung her, aber eine staatliche, keine private des Finanzmarkts.

Darum treten Kommunist:innen energisch für Sozialisierung des gesamten Reproduktionssektors ein, nicht nur für die Verwandlung der Hausarbeit in eine öffentliche Industrie, sondern auch der sonstigen Carearbeit in eine gesellschaftliche Dienstleistung mit Rechten und Pflichten für alle. Das bedeutet anzufangen, mit allen Hindernissen bei der Adoption von Kindern und sonstigen Menschen aufzuräumen, mit staatlichem Kindesunterhalt als neuem Sozialversicherungszweig, bezahlt aus progressiven Beiträgen bzw. Steuern von allen und mit Sozialversicherungspflicht (natürlich auch Kranken-, Renten und Arbeitslosenversicherung) für alle unter Kontrolle der Arbeiter:innenorganisationen. Mit solchen Forderungen würde der Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft geebnet, in der menschliche Nähe, gegenseitige Verantwortung und Zuneigung nicht allein das Werk von Blutsverwandten ausmachen.




Proteste gegen Abtreibungsverbote in den USA

Interview mit einer Aktivistin, REVOLUTION (Zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de), Infomail 1194, 28. Juli 2022

In den USA hat der Oberste Gerichtshof im Juni dieses Jahres ein Urteil erlassen, welches den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einschränken und sogar verbieten kann. Mehrere Bundesstaaten haben bereits angekündigt, die Rechte auf Abtreibungen massiv anzugreifen. Als Reaktion kam es in vielen US-amerikanischen Städten zu Massenprotesten. Wir haben in diesem Interview mit der Aktivistin Lara (Instagram @Lara.islinger) vor Ort gesprochen.

Wer bist du? Wo bist du organisiert?

Ich bin Lara (sie/ihr) und wohne eigentlich in Hamburg. Ich verbringe den Sommer damit, in New York für Shout Your Abortion (SYA) zu arbeiten. SYA ist eine Organisation, die sich für die Entstigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzt – mit kreativen Aktionen und dadurch, dass wir Menschen eine Plattform geben, um ihre Erfahrungen zu teilen. Aufgrund der aktuellen Situation, also des Urteils des Supreme Court und der Abtreibungsverbote in vielen Staaten, fokussieren wir uns aktuell auf den Zugang zu sicheren Abtreibungen insbesondere durch Abtreibungspillen – egal ob legal oder nicht.

Seit einigen Wochen, bin ich bei New York City For Abortion Rights aktiv, ein sozialistisch-feministisches Kollektiv, das Demos und sogenannte Clinic Defenses organisiert.

Inwiefern bist/warst du Teil der Proteste gegen die neuen Abtreibungsverbote? Was ist dein Ziel?

Gemeinsam mit New York City For Abortion Rights und anderen linksfeministischen Gruppen habe ich einen Protest am Tag der Supreme-Court-Entscheidung organisiert, zu dem 20.000 Leute gekommen sind. Mir ging es bei der Demo vor allem darum, Solidarität auszudrücken mit Menschen in republikanischen Bundesstaaten, in denen nun Abtreibungsverbote und Einschränkungen gelten. Abgesehen von einem erhöhten Andrang in den Abtreibungskliniken wird sich in New York durch das Urteil wenig ändern. Trotzdem spüren wir auch hier den Einfluss von Abtreibungsgegner:innen, da wir sogenannte Clinic Defenses organisieren. Das sind Proteste und Blockaden gegen Abtreibungsgegner:innen, die zu Kliniken prozessieren, eskortiert vom NYPD, und dort Patient:innen belästigen – mitten in New York City.

Am Montag, dem 4. Juli, war ich mit Shout Your Abortion in Washington DC. Wir haben vor dem Supreme Court einen Stand aufgebaut, an dem wir Limonade verschenkt und Informationen zu Abtreibungspillen verbreitet haben, die man in allen 50 Staaten über die Organisation Aid Access bestellen kann – auch ohne schwanger zu sein (sog. advanced provision). Unser Motto lautet ,Fuck SCOTUS. We’re doing it anyway’. Dieses illegitime, undemokratische Gericht kann uns nicht aufhalten.

Dazu will ich unbedingt betonen, dass das Urteil natürlich Konsequenzen hat, die grausam und ungerecht sind. Unter der Kriminalisierung von Abtreibung (und Fehlgeburten) leiden am meisten Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören – insbesondere Schwarze; Indigene und weitere People of Color; die LGBTQ+-Community; Menschen mit Behinderung; Menschen, die im ländlichen Raum leben; junge Menschen und arme Menschen.

Wie nimmst du die Proteste wahr? Welche Gruppen sind am Start?

Mir geben die Proteste Kraft. Ich finde es gut, dass wir uns den öffentlichen Raum nehmen, um unserer Wut Ausdruck zu verleihen, und als Zeichen der Solidarität mit allen Menschen, die von den Abtreibungsverboten betroffen sind. Die feministische Bewegung nehme ich als zersplittert wahr. Viele linke Aktivist:innen wenden sich vom liberalen, weißenMainstreamfeminismus ab. Andererseits spüren wir in New York eine starke Solidarität von anderen linken Gruppen sowie von den neu gegründeten Gewerkschaften (z. B. der Starbucks-Gewerkschaft), die sich unseren Protesten anschließen.

Wir distanzieren uns von Gruppen, die sogenannte die-ins organisieren, sich mit Blut beschmieren oder Kleiderbügel zu Protesten mitbringen. Unser Punkt ist ja: Wir gehen nicht zurück in die 1960er und frühen 1970er Jahre, bevor Roe entschieden wurde, und als viele Menschen aufgrund unsicherer, illegaler Abtreibungen gestorben sind. Wir wollen keine Angst schüren, sondern Hoffnung machen. Der große Unterschied ist, wir haben heute Zugang zu Abtreibungspillen und wir haben ein Netzwerk von Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung leistet. Wir werden dieses Urteil nicht befolgen. Wir werden nicht aufhören abzutreiben. Wir werden nicht aufhören, uns gegenseitig zu helfen, und wir werden nicht aufhören, für reproduktive Gerechtigkeit zu kämpfen.

Kamala Harris hat als Antwort der Demokraten dazu aufgerufen, diese Entscheidung mit der Stimmabgabe bei den Zwischenwahlen doch noch zu kippen – hältst du das für realistisch?

Die Biden-Regierung und die Demokrat:innen betonen, dass sie Abtreibungsrechte verteidigen wollen, aber ihre Bemühungen auf Bundesebene halten nicht Schritt mit dieser Rhetorik. Die Tatsache, dass die Demokrat:innen in Washington nicht in der Lage sind, Abtreibungsrechte zu stärken, obwohl sie das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses kontrollieren, hat viele Wähler:innen enttäuscht. Ich spüre deutlich die Frustration über die Untätigkeit der Demokrat:innen auf Bundesebene und höre in linken, feministischen Kreisen immer wieder das Wort ‚desillusioniert‘.

Es stimmt: Das Supreme-Court-Urteil hat das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt mehrerer wichtiger Zwischenwahlen katapultiert. Die Wahlen in den Bundesstaaten (etwa von Gouverneur:innen, Generalstaatsanwält:innen, Richter:innen und der Legislative) könnten nun darüber entscheiden, ob Millionen von Amerikaner:innen Zugang zu legalen Abtreibungen haben oder nicht. Viele haben aber das Gefühl, dass die Demokrat:innen – angesichts der hohen Inflation und der niedrigen Zustimmungsraten für Präsident Biden – den Unmut über das Urteil ausnutzen, um Wähler:innenstimmen zu erhaschen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie sie den Zugang zu Abtreibung in den USA gewährleisten und FLINTAs unterstützen werden.

Wenn aber doch noch nicht alles verloren ist: Welche Perspektive siehst du dann noch für FLINTAs in den USA?

Ich lege große Hoffnung in feministische Solidarität und Netzwerke – national und international. Anders als die Demokrat:innen haben wir uns spätestens seit dem Leak des Entwurfs im Mai darauf vorbereitet, dass Roe fallen wird. Wir verbreiten Informationen zu Abtreibungspillen, die per Post in alle 50 Staaten verschickt werden können und sehr sicher sind. Dabei hilft uns Plan C und die europäische Organisation Aid Access. Außerdem gibt es ein solides Netzwerk von regionalen Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung für Abtreibungen leistet. Ich habe auch mitbekommen, dass als letzter Ausweg Abtreibungspillen aus Mexiko geschickt werden – kostenlos von dortigen feministischen Kollektiven als Akt der Solidarität mit FLINTAs in den USA. Unser Motto lautet: ‚We will save us.‘ Wir retten uns selber.

Was wünschst du dir von der Bewegung? Und wie können wir hier in Deutschland/der EU sie unterstützen?

Ich wünsche mir von der Bewegung, dass wir uns mehr auf praktische Fragen konzentrieren. Unser Fokus sollte sein: Wie können wir Menschen dabei helfen abzutreiben? Die vollständige Legalisierung von Abtreibung ist dabei natürlich ein wichtiger Faktor – aber nicht der einzige.

Wenn ihr wen aus den USA kennt, könnt ihr Ressourcen zu Abtreibungspillen und Advanced Provision teilen, zum Beispiel Plan C oder Aid Access. Ein großes Problem ist, dass nur 1 von 5 Amerikaner:innen darüber Bescheid weiß. Wenn ihr Geld übrig habt, könnt ihr spenden. Dafür empfehle ich das National Network of Abortion Funds, das Spenden auf regionale Abortion Funds aufteilt und Aid Access bzw. die europäische Mutterorganisation Women on Web. Meine DMs sind immer offen für Fragen. Bitte nicht vergessen: Wir kämpfen in Deutschland den gleichen Kampf: Der §218 muss weg, genau wie weitere Schikanen für ungewollt Schwangere wie Pflichtberatung, Wartezeit und die Gehsteigbelästigung durch Abtreibungsgegner:innen vor Praxen. Der Zugang muss verbessert werden, insbesondere durch die Schließung von Versorgungslücken. Wir sind nicht frei und gleichberechtigt ohne den bedingungslosen und legalen Zugang zu Abtreibung.

Für eine ausführlichere Analyse des Gerichtsurteils und dessen Folgen, aber auch der Frage, warum Abtreibungsrechte eigentlich so stark umkämpft sind und wie wir sie verteidigen können, schaut gerne in unseren Artikel dazu:http://onesolutionrevolution.de/usa-wie-wir-abtreibungsrechte-wieder-zurueck-erkaempfen-koennen/ .




Spanien – Vorreiter im Abtreibungs- und Sexualstrafrecht?

Leonie Schmidt, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Die seit 2020 amtierende neoreformistische Regierung im spanischen Staat, bestehend aus sozialdemokratischer PSOE und linkspopulistischer Podemos, hat in diesem Jahr einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht, die verschiedenste Bereiche der geschlechtsspezifischen Unterdrückung betreffen und künftig für mehr reproduktive Rechte und härtere Strafen bei geschlechtsspezifischer Gewalt führen sollen.

Spanien scheint von außen oft eher konservativ und wird auch zuweilen als Macho-Land abgetan, zumal die katholische Kirche gesellschaftlich auch noch sehr präsent ist. In Sachen Antisexismus gibt es jedoch schon seit einiger Zeit ein Umdenken in den Parlamenten. Doch die fortschrittlichen Gesetze kommen nicht von irgendwo her, sie wurden erkämpft.

Was ändert sich?

Besonders auffällig ist das gelockerte Abtreibungsgesetz: So dürfen Schwangere schon ab 16 Jahren ohne elterliches Einverständnis abtreiben, Abtreibungen sind bis zur 14. Woche legal und die 3-tägige Bedenkzeit soll ebenso abgeschafft werden. Außerdem müssen öffentliche Krankenhäuser mit gynäkologischer Abteilung über fachkundiges Personal verfügen, welches einen Abort durchführen kann.

Ferner wurde das Sexualstrafrecht verschärft, und zwar gilt nun „Nur Ja heißt Ja“, was eine fortschrittlichere Regelung ist als „Nein heißt Nein“, da nun auch Täter für eine Vergewaltigung verurteilt werden können, deren Betroffene sich nicht wehren oder äußern konnten, sei es aus Schockstarre und Angst oder Bewusstlosigkeit. Dies fiel vorher lediglich unter den Straftatbestand der sexuellen Belästigung. Konkret heißt es nun im neuen Gesetzesentwurf: Alle Handlungen, die „die sexuelle Freiheit einer anderen Person verletzen“, gelten als Vergewaltigung und können für die Täter bis zu 15 Jahre Gefängnis bedeuten. Konservative kritisieren, dass es nun keine Unterscheidung mehr zwischen Übergriffen und Vergewaltigungen gebe und sehen die Unschuldsvermutung in Gefahr. Auch Catcalling wird nun strafbar insofern, als jegliche Annäherungen in Form eines Flirts von allen Beteiligten gewollt werden müssen und andernfalls als Straftatbestand gelten.

Neben diesen Verschärfungen wurde der sogenannte Periodenurlaub von bis zu 3 Tagen monatlich nun eingeführt. Wenngleich das eine gute Idee ist, ist der Name doch etwas missverständlich, denn in Spanien war es bisher erst möglich, ab 4 Tagen Krankheit eine Lohnfortzahlung vom Unternehmen zu erhalten. Daher wurde hier nur eine Lücke geschlossen. Spanien hat somit als erstes europäisches Land den Periodenurlaub eingeführt. Bisher existieren derartige Regelungen vor allem im asiatischem Raum, bspw. in Taiwan, Südkorea und China. Außerdem soll es nun endlich Verordnungen zur Prostitution in Spanien geben. Diese ist nämlich weder verboten noch legal, was vielen ein Dorn im Auge ist.

Wie kam es dazu?

Wie konnte es nun zu solchen fortschrittlichen Zugeständnissen kommen, während weltweit ein extremes Rollback gegen Frauen und LGBTIA-Personen im vollen Gange ist, insbesondere Abtreibungsrechte reihenweise verschärft werden – siehe Polen und die USA. Hierfür sind mehrere Gründe verantwortlich. Einerseits, wie bereits eingangs erwähnt, wurden die Gesetzesänderungen maßgeblich durch die Frauenbewegung in Spanien erkämpft. Diese ist ziemlich stark, zu den 8.-März-Protesten gehen landesweit Millionen Menschen auf die Straße. Alleine in Barcelona waren es 2021 über 100.000 Personen.

Die Größe der Bewegung ist insbesondere historisch bedingt, denn während in den späten 1960er und 1970er Jahren in den westlichen Industrieländern der Kampf um Gleichberechtigung und sexuelle Befreiung erstarkte, war in Spanien noch das halbfaschistische Regime Francos an der Macht, in welchem Frauen zu Kinder, Küche, Kirche verbannt waren. Erst 1978 wurde ein Gesetzantrag zur Gleichstellung von Mann und Frau erwirkt, das Recht auf Scheidung gibt es erst seit 1981. Das kollektive Trauma dieser Zeit besteht fort und sorgt auch heute noch für größeres und kämpferischeres Bewusstsein. Bereits in den späten 1990er Jahren konnte ein Gesetz durch Massenproteste ins Rollen gebracht werden.

Diese formierten sich 1997 nach einem Femizid an einer Frau, Ana Orantes, deren Mann sie ermordete, weil sie in einem Fernsehinterview über die 40 Jahre häuslichen Missbrauchs durch ihn an ihr und den gemeinsamen Kindern sprach. Sie hatte sich zuvor sogar an die Polizei gewandt, 15 Anzeigen gestellt. Doch diese wollte ihr nicht helfen, da es keine entsprechenden Gesetze gab, die Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützten. Als die Scheidung nach über 10 Jahren endlich durchkam, musste sie dennoch weiter mit ihm zusammen wohnen.

Die damals konservative Regierung unter der Partido Popular, einer rechtskonservativen Volkspartei, sprach von einem Einzelfall, was nicht unbeantwortet blieb. Unter dem Motto „ Wir sind alle Ana“ gingen damals Tausende auf die Straßen. Im Anschluss wurde 2004 ein erstes Gesetz auf die Beine gestellt, welches weitreichend gegen häusliche Gewalt ankämpfen sollte. Alleine schon die Benennung der geschlechtsspezifischen Gewalt stellte einen großen Schritt nach vorn dar. Außerdem wurden Spezialgerichte für die Verfolgung der Straftaten eingerichtet und Männer, die Frauen Gewalt antun, werden nun durch das Gesetz stärker bestraft als Frauen, die Männern etwas antun, oder Männer, die anderen Männern etwas antun. Seit 2007 wird auch jegliche geschlechtsspezifische Gewalttat statistisch erfasst, was in Deutschland bspw. erst seit 2015 der Fall ist.

Das „Ja heißt Ja“-Gesetz kam vor einem ähnlichen Hintergrund zustande: Nach einer Gruppenvergewaltigung an einer 18-Jährigen durch 5 Männer (welche ihr Opfer zusätzlich filmten) wurden die Täter nur wegen sexueller Belästigung verurteilt, da sie das Opfer nicht schlugen oder bedrohten, und sie sich nicht wehrte. Sie bekamen somit nur 9 Jahre Haft. Jedoch mobilisierten auch 2016 erneut die spanischen Feminist:innen gegen dieses milde Urteil und erzwangen somit dessen Revision. Die Täter wurden nun doch wegen Vergewaltigung verurteilt und sitzen eine 15-jährige Haftstrafe ab. Das neue Gesetz soll auch zukünftig ähnliche Gerichtsurteile ermöglichen und wurde somit de facto durch die Frauenbewegung in Spanien erkämpft. Außerdem wirkte sich positiv aus, dass auch die Gewerkschaften mit der feministischen Bewegung wahrhaft vernetzt sind und es sich bei vielen 8M-Protesten wirklich um Frauenstreiks handelte, welche mit Streikposten einhergingen und nicht wie bspw. in Deutschland einen rein symbolischen Charakter trugen.

Einige Politikerinnen und Ministerinnen der Regierung PSOE/Podemos entstammen ebenfalls einer Tradition feministischer Proteste und haben sich auch deswegen für diese Belange eingesetzt. Generell ist die reformistische Regierung natürlich auch ein Grund für die Durchsetzung. In Krisenzeiten gibt es zwar klassischer Weise Rollbacks gegen Frauen und LGBTIA-Personen, aber irgendwas muss die linke Koalition trotzdem der mobilisierten Wähler:innenschaft anbieten. Dass es im Rahmen von Krieg, Krise, Umweltkatastrophe und Pandemie nur wenig Spielraum gibt, ist klar. Denn ansonsten ist die Regierung eher weniger linksorientiert, als es eventuell scheinen mag. Die Politik, die gefahren wird, ist durchaus arbeiter:innenfeindlich. So werden bspw. Streiks im Auftrag der Regierung durch Polizei und Militär brutal niedergeschlagen. Insbesondere während der Pandemie zeigten die Politiker:innen ihr wahres Gesicht. So sperrten sie die Arbeiter:innen in ihren Stadtvierteln ein, diese durften sie nur verlassen, wenn sie zur Arbeit fuhren.

Kritik an der Gesetzesänderung

Kritik gab es einige, sowohl aus feministischen Kreisen als auch von rechts. Die Feminist:innen in Spanien sind stark beeinflusst von Andrea Dworkin, welche als Radikalfeministin insbesondere eine abolitionistische Position gegenüber der Prostitution einnahm. Sie sahen sich und das Anliegen eines Sexkaufverbots in den neuen Entwürfen nicht gehört, denn das nordische Modell wurde anfangs nicht eingeplant. Prostitution wurde 1995 in Spanien entkriminalisiert, Zuhälterei ist allerdings strafbar. Anfang Juni wurde jedoch ein Entwurf ins Rollen gebracht, der einem Sexkaufverbot gleichkommt: Das vorgeschlagene Gesetz soll diejenigen bestrafen, die Prostituierte finanziell ausbeuten, für ihre Dienste bezahlen oder wissentlich Räumlichkeiten für die Ausübung der Prostitution zur Verfügung stellen. Wenngleich die PSOE in Spanien sich für dieses, vom „nordischen Modell“ inspirierte Gesetz ausspricht, so ist es alles andere als sicher für die betroffenen Sexarbeiter:innen, denn so werden sie in noch unsicherere Arbeitsverhältnisse gedrängt (ausführlicher Artikel zur Frage siehe Neue Internationale 257, Juli/August 2021). Beibehaltung der Entkriminalisierung, die Möglichkeit für sichere und kostenlose Umschulungen zum Ausstieg sowie gewerkschaftliche Organisation der Sexarbeiter:innen wären aus einer marxistischen Perspektive die deutlich sinnvolleren Mittel gewesen.

Interessant ist auch, dass diese Frage zu einer Spaltung innerhalb der Koalition geführt hat. Die PSOE arbeitet nun bzgl. des Gesetzesentwurfs mit der rechtspopulistischen PP (Partido Popular) zusammen, während sich Podemos dagegen stellt, da er zu moralisierend wäre. Für die feministische Partei Spaniens ist der Vorschlag von PSOE und PP aber dennoch zu unkonkret, sie fordert umfassendere Maßnahmen. Außerdem gab es Proteste mit bis zu 7.000 Frauen, die sich für ein abolitionistisches Gesetz aussprachen.

Auch wenn der Gesetzentwurf ansonsten einen wichtigen Schritt darstellt, so bleibt Sexismus eine strukturelle Unterdrückung im Kapitalismus, welche sich nicht einfach durch Gesetze wegreformieren lassen kann und so auch in Spanien unter der linken Regierung bestehen bleibt: Reproduktionsarbeit wird auch hier weiterhin vornehmlich von Frauen ausgeführt.

Zugleich gibt es natürlich auch Kritik von rechts und aus konservativen Kreisen. Die rechtsradikale VOX, drittstärkste Partei im Parlament, möchte das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt aus dem Jahr 2004 schon länger abschaffen. Sie ist außerdem gegen die Legalisierung von Abtreibung. Gegen die Veränderung des Abtreibungsgesetzes gingen auch 100.000 Konservative auf die Straße, unter anderem angestachelt durch die Aufhebung von Wade vs. Roe in den USA.

Wie weiter?

Auch wenn in Spanien wichtige gesetzliche Verbesserungen errungen werden konnten, so ist der Kampf längst nicht vorbei. Einerseits findet auch innerhalb der Bewegung ein Kampf zwischen fortschrittlichen und reaktionären Richtungen (siehe die Frage der Prostitution) statt. Die PSOE, aber auch wichtige Strömungen des Feminismus schrecken dabei auch vor einer Zusammenarbeit mit den Konservativen nicht zurück. Andererseits macht die extreme und konservative Rechte gegen alle fortschrittlichen Verbesserungen weiter mobil, wie die Massendemonstrationen der VOX verdeutlichen.

Die enge Verbindung zwischen den feministischen Streiks und der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innenklasse war jedoch nicht nur entscheidend dafür, warum wichtige Verbesserungen überhaupt durchgesetzt werden konnten. Sie ist auch der einzige Weg zur Verteidigung und Ausweitung dieser Errungenschaften und zur Schaffung einer proletarischen Frauenbewegung – nicht nur in Spanien, sondern international.




Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise

Martin Suchanek (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Probleme der Erhebung

Schon diese Zahlen sind erschreckend genug. Sie geben jedoch den Umfang und damit das gesamte Ausmaß dieses extremen Ausdrucks der Unterdrückung aus mehreren Gründen nicht wieder. Erstens umfassen viele Erhebungen keine trans Personen und andere Menschen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität.

Zweitens basiert die Zuordnung zum Femizid oft auf einer relativ engen Definition, d. h. nur ein Teil der intentionalen Morde oder Todschläge an Frauen geht in die Statistik ein. Die Zahlen – so auch die oft genannte von 50.000 Femiziden im Jahr 2017 – beziehen sich in erster Linie auf eine bestimmte, in der Tat sehr bedeutende Form des Frauenmordes, den intimen (innerhalb einer Partnerschaft erfolgenden) und verwandtschaftlichen Femizid (z. B. Ehrenmord). Diese beiden Kategorien machen jedoch selbst nach den Erhebungen aus dem Jahr 2017 nur etwa die Hälfe aller vorsätzlichen Frauentötungen aus, also aller Verbrechen, wo es eine bewusste, intendierte Absicht war, eine Frau, ein Mädchen, eine trans Person wegen ihres Geschlechts oder ihrer Geschlechtsidentität umzubringen.

Intentionale Morde an Frauen oder geschlechtlich Unterdrückten, die außerhalb dieser Sphäre stattfinden und mit der Durchsetzung privatkapitalistischer, neokolonialer oder staatlicher Interessen verbunden sind, gehen in die Statistiken nicht ein. Eine Reihe linker, antikolonialer und antiimperialistischer, feministischer Autor:innen hat für solche Morde an Frauen und LGBTIAQ-Menschen den Begriffe des Feminizides geprägt, um der Verengung des Blicks auf Femizide im privaten und häuslichen Kontext entgegenzuwirken. Wir verwenden daher im folgenden Text die Begriffe Femizid und Feminizid in diesem Sinne, wohl wissend, dass eine eindeutige Zuordnung selbst problematisch ist, wie z. B. das Phänomen der Ehrenmorde verdeutlicht. Schließlich kommt hinzu, dass die Begriffe in der deutschsprachigen Literatur einfach synonym verwendet werden.

Drittens bildet die Kriminalstatistik eine Hauptquelle für länderübergreifende Vergleiche. Doch diese wird von verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich geführt und Femizide/Feminizide werden oft erst gar nicht als solche erfasst. Das Ausmaß dieser Form der intentionalen Tötung von Frauen oder LGBTIAQ-Personen lässt sich schon deshalb oft nur schätzen. Somit gehen Verbrechen erst gar nicht ein, weil sie nicht erhoben oder gar verschleiert werden oder z. B. in Kriegen und Bürgerkriegen überhaupt keine Erhebungen mehr möglich sind.

Viertens haben nur wenige Länder formale Abkommen zur Bekämpfung von Femiziden ratifiziert. So wurde z. B. das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (besser bekannt als Istanbuler Konvention) nicht nur von der Türkei spektakulär aufgekündigt. Zahlreiche europäische Länder haben es erst nach Jahren (z. B. Deutschland und die Schweiz erst 2017) ratifiziert. Andere Unterzeichnerstaaten haben dies bis heute nicht getan (Großbritannien, Lettland, Litauen, Tschechien, Ungarn, Ukraine, Moldawien, Armenien), womit das Abkommen keine Rechtsverbindlichkeit besitzt. In Bulgarien wurde es vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt. Polen hat seinen Austritt angekündigt, wenn auch noch nicht vollzogen.

Umfang und Vergleich

Trotz dieser Schwierigkeiten wollen wir im Folgenden etwas näher auf die Zahlen eingehen. Dabei gibt es in Europa noch relativ verlässliche Statistiken, was intime und verwandtschaftliche Femizide betrifft. Diese zeigen ein lang anhaltend hohes Niveau und in einigen Fällen sogar einen Zuwachs in den letzten Jahren. So stieg die Anzahl in Österreich von 18 (2014), 17 (2015) seit 2016 (28) massiv und hält sich seither über 30 pro Jahr (2017: 36, 2018: 41, 2019: 39, 2020: 31) (Quelle: https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten).

Weiter unten werden wir uns mit den Ursachen für Femizide und deren Anwachsen beschäftigen. In jedem Fall liegt eine enge Verbindung zum Rechtsruck nahe, der 2017 zur Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung und damit zu Kürzungen in der Sozialpolitik führte, aber auch mit einem staatlich sanktionierten politischen, gesellschaftlichen und ideologischen frauenfeindlichen Rollback einherging.

Für die EU insgesamt lässt sich von 2015 – 2018 ein leichtes Absinken von Morden an Frauen von 0,75 auf 0,69 je 100.000 Einwohnerinnen feststellen, allerdings mit bedeutenden Unterschieden zwischen verschiedenen Ländern (https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do). Da es auch in Europa in etlichen Staaten keine gesonderten Statistiken für Femizide gibt, muss die Entwicklung der Frauenmorde insgesamt auch als Indikator für deren Umfang und für einen Vergleich betrachtet werden. Wo Daten vorliegen, wird immer auch deutlich, dass, global betrachtet, Morde durch Partner und Verwandte einen signifikanten Anteil darstellen, oft zwischen der Hälfte und einem Drittel.

In Europa bewegen sich Länder wie Italien, Spanien, Schweden oder die Niederlande über mehrere Jahre bei rund 0,5 Frauenmorden pro 100.000 Einwohnerinnen. Selbst dieser vergleichsweise „niedrige“ Anteil darf aber nicht vergessen lassen, dass wir in beiden Staaten noch immer von weit mehr als 100 Morden pro Jahr sprechen! Länder wie Deutschland, Frankreich oder auch Österreich gehören, betrachten wir den Anteil von Frauenmorden an der Bevölkerung, zum unrühmlichen europäischen Durchschnitt mit Schwankungsbreiten um die 0,6 bis 1 Frau(en) je 100.000 Einwohnerinnen. Besonders hohe Raten weisen über Jahre hinweg Länder wie Russland, Lettland, Litauen, Ukraine auf mit 1,5 bis 4 ermordeten Frauen und Mädchen pro 100.000 Einwohnerinnen auf (siehe: https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do und https://dataunodc.un.org/content/homicide-country-data).

Weit weniger statistisches Material steht für Asien und Afrika zur Verfügung. So finden sich z. B. in der UN-Datenbank zur Kriminalität (https://dataunodc.un.org/content/homicide-country-data) keine offiziellen statistischen Berichte aus dem Iran, Pakistan oder der Volksrepublik China, um nur einige bevölkerungsreiche Staaten zu nennen. Außerdem fehlen auch hier häufig Differenzierungen zwischen Morden an Frauen im Allgemeinen und Femiziden durch Partner und Verwandte. Grundsätzlich weisen aber viele Länder hohe bis sehr hohe Zahlen auf. Eine der höchsten weltweit finden wir in Südafrika: 2018 waren es 2.771 oder 9,46 Frauen pro 100.000 Einwohnerinnen. Indien weist z. B. in den Jahren 2015 – 2020 Raten von 2,47 (2020) bis 2,81 Frauen je 100.000 auf, was rund 17.000 Morden pro Jahr entspricht.

Vergleichsweise umfangreiches Datenmaterial und eine reichhaltige Literatur existiert in Lateinamerika. Dies hat zwei Gründe. Zum einen spiegelt es das Ausmaß des Problems wider, zum anderen aber die Existenz großer und politisch dynamischer Frauenbewegungen auf dem Kontinent, die seit Jahren den Kampf gegen Gewalt an Frauen ins Zentrum ihrer Tätigkeit rücken.

Die folgende Statistik gibt die Zahl der Femizide und Feminizide (nicht aller Frauenmorde) in Lateinamerika, der Karibik und Spanien im Jahr 2020 wieder. Darin zeigt sich ein besonders hoher Anteil pro 100.000 Einwohnerinnen in den Staaten Zentralamerikas und der Karibik. In absoluten Zahlen springt das schiere Ausmaß der Verbrechen in Brasilien und Mexiko in Auge.

Lateinamerik, Karibik und Spanien (19 Länder): Feminizide und Femizide, letztes verfübares Jarh (in absoluten Zahlen und Werten pro 100.000 Frauen), Quelle: CEPALSTATS, 2020 (aus: Alejandra Santillana Ortíz, Flora Partenio und Corina Rodríguez Enríquez, Feministische Überlegungen zur Gewalt, Buenos Aires 2021, Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Die Broschüre „Feministische Überlegungen zur Gewalt“, der die Tabelle entnommen wurde, führt darüber hinaus auch an, dass die Zahl der Morde wie generell die Gewalt gegen Frauen in der Pandemie deutlich zugenommen haben: „Zwischen Januar und Juli 2020 wurden in Mexiko 2.240 Frauen ermordet, was im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr 2019 (laut dem Exekutivsekretariat des Nationalen Systems zur öffentlichen Sicherheit Mexikos) einen Anstieg von 7,7 % bedeutet; in Ecuador gab es zwischen dem 1. Januar und dem 16. November 2020 insgesamt 101 Femizide (darunter 5 Transfeminizide); in Argentinien belief sich die Zahl auf 168.“ (Feministische Überlegungen zur Gewalt, S. 46)

Als Ursachen führen die Autorinnen die Isolation der Frauen im privaten Haushalt während der Lockdowns, aber auch die zunehmende Gewalt gegen obdachlose, auf der Straße lebende Frauen, Sexarbeiterinnen und trans Menschen an.

Bemerkenswert an den Zahlen zu Femiziden und Feminziden in Lateinamerika und der Karibik ist schließlich auch ein Vergleich zur Lage in den USA. In den Jahren 2015 – 2020 fielen dort je 100.000 Einwohnerinnen 0,8 bis 0,84 Frauen einem häuslichen oder verwandtschaftlichen Femizid zum Opfer, allein 2020 waren das 1.420. Pro 100.000 Einwohnerinnen lag die Zahl der Frauenmorde in diesem Zeitraum konstant über der Zahl 2, betrug in absoluten Zahlen nie weniger als 3.333 (2015).

Auch wenn Daten bezüglich der Zunahme von Frauenmorden und Femiziden während der Pandemie bisher nur lückenhaft vorliegen, so dürften die signifikanten Zunahmen, wie sie sich in Mexiko zeigen, auch für die meisten anderen Länder und Regionen gelten, vor allem für die halbkoloniale Welt. Das legen andere Untersuchungen oder Belege für die Zunahme von häuslicher Gewalt nahe, die sich auch in der massiven Zunahmen von Notrufen ausdrückt. Zweitens haben wirtschaftliche Krise und Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 generell die Ursachen von Gewalt gegen Frauen und von Femiziden verschärft und erstere zugleich stärker an den Haushalt gefesselt.

Erklärungen und Ursachen

Zu Recht verweisen viele linke Feminist:innen und Aktivist:innen der Frauenbewegung darauf, dass die Beschränkung auf Femizide, partnerschaftliche („intime“) und verwandtschaftliche Morde zwar eine erschreckende und extreme Form häuslicher, patriarchaler Gewalt zum Vorschein bringt. Betrachten wir jedoch nur diese, verengt dies den Blick. Ein beträchtlicher Teil intentionaler Morde findet außerhalb dieser familiären Sphäre statt. Dies betrifft im Besonderen rassistisch, ethnisch oder nationale Unterdrückte und im Allgemeinen Frauen und Mädchen in den halbkolonialen, vom Imperialismus ausgebeuteten Ländern sowie Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität marginalisiert werden.

Familie, Geschlechterrollen, Akkumulation

Doch betrachten wir zunächst den intimen, partnerschaftlichen oder verwandtschaftlichen Femizid. Er findet an einem bestimmten gesellschaftlichen Ort, im Rahmen einer bestimmten Institution statt: der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung (z. B. der intimen Partner:innenschaft). Der Femizid bildet dabei häufig den Endpunkt einer langen Reihe von „partnerschaftlicher“ Gewalt und Missbrauch. Gewalt und Unterdrückung sind grundsätzlich der Familie inhärent, sei es als unmittelbares, „privates“ Verhältnis zwischen männlichen Tätern und weiblichen Opfern, sei es als Ort der Vermittlung und Rechtfertigung der Normen, Regeln, moralischen Werte und Geschlechterrollen. Doch das enthebt uns nicht der Notwendigkeit, zwischen der Ausprägung, Form und Ursache zwischen verschiedenen Klassen vor dem Hintergrund verschiedener gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gesamtlagen zu unterscheiden. Nur so können wir historisch spezifische Veränderungen begreifen und den Kampf gegen Femizide als extremsten Ausdruck von Gewalt gegen Frauen zielgerichtet führen.

Zunächst unterscheiden sich die Familien verschiedener Klassen. Jene der herrschenden genießen natürlich das Privileg, dass für sie kein Arbeitszwang existiert. Alle ihre Mitglieder leben von der Aneignung der Arbeit anderer – und können auch im privaten Haushalt andere für sich arbeiten lassen.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt sich das grundlegend anders dar. Der Mann oder Familienvater fungiert, jedenfalls dem Anspruch nach, als Ernährer, der den größten Teil des Haushalts- oder Familieneinkommens verdient. Die Frau gilt als Hausfrau. Auch wenn diese bürgerliche Familienform für das Proletariat erst im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus etabliert wurde und nie „rein“ existierte, wurde sie zur prägenden ideellen Form und damit auch zu einem Kern reaktionärer Geschlechterrollen. Die Verallgemeinerung dieser Ideologie basiert auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Um relativ friktionsfrei und dauerhaft auch in der Klasse der Lohnabhängigen weltweit etabliert und reproduziert werden zu können, ist sie aber an einen bestimmten Stand der Akkumulation des Kapitals gebunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte diese Familienform in den imperialistischen Metropolen, in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst unter den bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen in den Halbkolonien etabliert werden, wenn auch oft nur ansatzweise. Zugleich unterhöhlte die Entwicklung der Kapitalakkumulation auch schon damals die bürgerliche Familie, weil die wirtschaftliche Expansion auch Lohnarbeiterinnen erforderte.

Dies unterminierte objektiv die Rolle des Mannes und bildete eine der Ursachen für die Entstehung der zweiten Welle der Frauenbewegung und für den Kampf um rechtliche Gleichheit sowie für die Thematisierung häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder ab Ende der 1960er Jahre. Allerdings fanden diese Veränderungen vor dem Hintergrund einer expansiven kapitalistischen Akkumulation statt, die während des sog. langen Booms die Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse und Umverteilungsspielräume ermöglicht hatte. Dies betraf sowohl Lohneinkommen und Kaufkraft als auch die Ausdehnung des Soziallohnes (staatliche Dienstleistungen, Sozialversicherung, sog. Sozialstaat).

Mit der Wende zum Neoliberalismus und der kapitalistischen Globalisierung und erst recht in den letzten Jahrzehnten veränderte sich das Bild grundlegend – und das noch einmal seit der globalen Krise 2008.

Die Arbeiter:innenklasse wuchs zwar auch unter den Bedingungen der strukturellen Krise und der Überakkumulation des Kapitals weiter. Das Wachstum der Lohnabhängigen war und ist jedoch wesentlich eines in „unsicheren“, prekären Verhältnissen oder im informellen Sektor beschäftigten Teils. Das betrifft in besonderem Ausmaß den Zuwachs an lohnarbeitenden weiblichen Arbeitskräften. Zugleich ist für immer größere Teile der Klasse der Lohn so weit gesunken, dass der Mann längst nicht mehr alleine die Familien ernähren kann. Die Lohnarbeit der Frau, oft auch der Kinder wird zur Existenzbedingung der Reproduktion der Klasse – und selbst dies reicht oft nicht einmal aus.

Hierbei handelt es sich um kein konjunkturelles Phänomen, das mit Rezessionen kommt und geht. Vielmehr führten massive Veränderungen und Angriffe zu Deregulierung, Lohnsenkungen, Privatisierungen und zur Zerstörung von sozialen Sicherungssystemen, um so dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken und die Profite vor allem des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern. Dass immer größere Teile der Arbeiter:innenklasse gezwungen sind, ihre Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen, stellt ein grundlegendes Kennzeichen der aktuellen Periode dar, vor allem für Lohnabhängige im globalen Süden und für rassistisch unterdrückte und migrantische Arbeitskräfte. Diese Entwicklung bedroht jedoch längst auch die Masse der Lohnabhängigen in den Metropolen und selbst Teile der Arbeiter:innenaristokratie.

Vor diesem Hintergrund können wir verstehen, warum häusliche Gewalt und Femizide in der gegenwärtigen Periode zunehmen, warum die strukturelle Krise des Kapitalismus sowie die Ausweitung neokolonialer, imperialistischer Ausbeutung und rassistischer Unterdrückung diese extremen Ausprägungen der Unterdrückung verstärken.

Die Krise unterminiert die Rolle des Familienoberhauptes, des männlichen Ernährers. Sein Rollenversprechen, die Familie zu versorgen, kann er, unabhängig von seinem Willen, nicht länger erfüllen. Anders als in der Periode realer ökonomischer Expansion, in der die Einkommen der Familie über das bisherige Niveau und damit die ökonomische Unabhängigkeit der Frau stiegen, ist mehr und mehr Frauen aus der Arbeiter:innenklasse dieser Weg unter den Bedingungen einer strukturellen Krise verwehrt. Sie sind wirtschaftlich enger an die familiäre Hölle gekettet.

Diese Krise der Familie, aus der es aufgrund sinkender Einkommen und der Zerstörung öffentlicher und sozialer Versorgungseinrichtungen kein Entkommen gibt, bildet die strukturelle Basis für die Zunahme häuslicher Gewalt bis hin zum Femizid in der proletarischen Familie oder Partner:innenschaft. Während der Kapitalismus die ökonomischen Grundlagen der Arbeiter:innenfamilien (und auch jener der armen Bauern und Bäuerinnen und unteren Schichten des Kleinbürger:innentums) und damit auch die damit einhergehenden Geschlechterrollen, die Charaktermasken der Familienmitglieder unterminiert, in die sie hineingeboren und hinein sozialisiert werden, verunmöglicht er eine Auflösung dieses Widerspruchs. Die bürgerliche Gesellschaft selbst erweist er sich als größtes Hindernis, diese unhaltbare Form zu überwinden. Einen fortschrittlichen Ausweg bietet hier nur der Kampf der Lohnabhängigen und vor allem der proletarischen Frauen. Wo diese Perspektive fehlt, dringt der Widerspruch, in dem die Familie gefangen ist, in Form „privater“ Gewalt an die Oberfläche. Der Mord bildet die ultimative, extremste Form, worin der demoralisierte, in seiner eigenen Rolle versagende Ernährer sich selbst und seiner Frau noch einmal seine „Überlegenheit“ beweist.

Hier wird deutlich, wie eng der Kampf gegen Femizide und häusliche Gewalt mit der kapitalistischen Krise zusammenhängt – und warum dies besonders die ärmsten, am stärksten unterdrückten und ausgebeutetsten Teile der Arbeiter:innenklasse betrifft. Die barbarisierenden Tendenzen der gegenwärtigen strukturellen Krise manifestieren sich auch in der Zunahme von Femiziden. Die Krise, die wesentlich auch eine Krise der Reproduktionsbedingungen der Klasse ist, befördert natürlich die Zunahme von Gewalt und ihrer Extremform, von Chauvinismus und Sexismus. Dies stellt jedoch keinen Automatismus dar, der unabhängig von Bewusstsein, vom Organisationsgrad und der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse vor sich geht. Ob sich die reaktionären Tendenzen durchsetzen, ob sie zur Vertiefung der Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten führen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Klasse im Kampf gegen Femizide und ihre tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu vereinen.

Liberalismus und Rechtsruck

Der Kapitalismus erzeugt nicht nur die prekären Verhältnisse, er wirkt zugleich als Brandbeschleuniger – und zwar nicht nur beim Abbau sozialer Leistungen und bei der immer weiteren Durchsetzung neoliberaler Angriffe.

Für den „demokratischen“, liberalen Flügel der Bourgeoisie und große Teile des bürgerlichen, westlichen Feminismus’ erscheint die Zunahme von Femiziden und häuslicher Gewalt vor allem als ein Phänomen der Rückständigkeit der Männer. Unbestreitbar lässt sich dies bei den Motiven der einzelnen Täter erkennen. Das Problem des bürgerlichen Feminismus besteht jedoch darin, diese Rückständigkeit bis hin zum offenen Frauenhass nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, sondern als individuelle Eigenschaft und persönlichen Mangel an Bildung, Aufklärung und „Kultur“. Als Täter und Tatorte erscheinen daher vorzugsweise „verrohte“, proletarische oder subproletarische Männer und angeblich „rückständige“ Länder und Glaubensgemeinschaften.

Daher präsentieret liberaler, bürgerlicher Feminismus westliche Demokratie und Marktwirtschaft als Lösung zur Bekämpfung von Femiziden. Er individualisiert dabei im Grunde das Problem. Der Femizid erscheint als individuelle Gewalttat. Natürlich ist er auch immer eine solche. Dies leugnen weder Marxist:innen noch linke Feminist:innen. Aber der wesentliche Unterschied besteht darin, dass es diesen darum geht, nicht nur den Blick auf die einzelne Tat zu richten, sondern auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang.

Dieser wird von bürgerlich-liberalen oder selbst von bürgerlich-reformistischen Kräften allenfalls als zusätzlicher Nebenfaktor in Betracht gezogen, in der Regel ausgeblendet. Und das aus gutem Grund. Würden die gesellschaftlichen Ursachen betrachtet, so müssten auch die Profiteur:innen dieser Verhältnisse, die großen (und auch kleineren) Ausbeuter:innen, vor allem aber die großen kapitalistischen Konzerne, ihre Regierungen und Institutionen, die für die Verelendung der proletarischen Männer und Frauen verantwortlich sind, ins Visier genommen werden. Da der bürgerliche, liberale Feminismus jedoch selbst auf dem Boden dieser Ausbeutungsverhältnisse und imperialistischen Ordnung steht, also den Klassenstandpunkt des Kapitals einnimmt, muss er sich notwendig als unfähig erweisen, die tieferen Ursachen von Femiziden zu begreifen. Im Gegenteil: Er muss letztlich jene gesellschaftlichen Verhältnisse beschönigen und verteidigen, die immer wieder erst systematische Gewalt gegen Frauen und Femizide hervorbringen.

Doch damit nicht genug. Im Zuge der Krise und Unterminierung der Familien und ihrer Rollenbilder tritt auch eine reaktionäre, bürgerliche und kleinbürgerliche Gegenoffensive als Teil eines generellen Rechtsrucks auf den Plan.

Von dieser geht zwar in der Regel niemand so weit, individuelle Femizide offen zu rechtfertigen. Wohl aber verklären Rechte und reaktionäre, antifeministische Kräfte sie zur Reaktion auf die Zerstörung der angeblich natürlichen Rolle des Mannes (und der Frau). „Feminismus“, „Genderwahn“, feministische und Frauenbewegungen sowie der Queer-Aktivismus hätten gewissermaßen die natürliche Ordnung der Dinge zerstört, würden die „normalen“ Männer (und Frauen) unterdrücken und an den Rand drängen, die an ihren tradierten Normen, ihrer Arbeitsteilung, Lebensweise samt einer gewissen Dosis Machismus und Sexismus festhalten wollten.

Diese Ideologie, dieses „Narrativ“ stellt die Realität nicht nur auf den Kopf. Sie blendet zugleich auch die wirklichen Ursachen für die Unterminierung der bürgerlichen Familien durch Kapital, Markt und Konkurrenz aus. Auch das ist kein Zufall. Verschiedenste rechtspopulistische, rechtskonservative und rechtsextreme Kräfte, ob nun Trump oder Bolsonaro, AfD, FPÖ, Identitäre oder reaktionäre Islamisten, vertreten einen aggressiven Antifeminismus. Zugleich verteidigen sie die Marktwirtschaft – und sei es in einer idealisierten, kleinbürgerlichen, nationalistischen oder völkischen Version.

Die durchaus reale Krise der Familie und damit verbundene Unterhöhlung der tradierten Geschlechterrollen werden nicht als Resultat der Entwicklungslogik des Kapitalismus begriffen. Sie erscheinen vielmehr als Ausdruck des Angriffs auf das natürliche, vorgeblich harmonische Verhältnis zwischen Mann und Frau. Der Femizid wird folglich als allenfalls tragisches Resultat des „widernatürlichen“ Angriffs auf eine angeblich natürliche Ordnung verstanden, ja letztlich entschuldigt.

Die reaktionäre Kur ist auch einfach: Rückkehr zur tradierten Ordnung! Würden sich Frauen gemäß ihrer natürlichen Rolle verhalten, gebe es, dieser Sicht zufolge, auch keinen Grund mehr für Männer, auszurasten oder ihre Liebste in Rage zu bringen.

Ergänzt wird dieses Narrativ v. a. im Westen durch einen guten Schuss Rassismus, indem zwischen Femiziden von Männern der eigenen imperialistischen Nation und jenen der „rückständigeren“ Völker unterschieden wird. Unter weißen deutschen oder US-Amerikaner:innen stellt demzufolge der Femizid letztlich die Tat eines Einzeltäters, vorzugsweise aus „zerrütteten“, asozialen Verhältnissen dar. Der gute Deutsche behandelt seine Frau trotz ständigen feministischen Kulturkrieges und Genderwahns gut. Solche moralische Höhe attestiert die politische Rechte freilich nur der herrschenden Nation. Bei migrantischen Männern, Schwarzen oder Muslimen liegt die Sache anders. Sie mordeten, weil sie rückständig und letztlich Menschen 2. Klasse seien. Dieser Rassismus verträgt sich nicht nur gut mit Imperialismus und Sozialchauvinismus. Er bildet zugleich eine ideologische Brücke zu bürgerlich-feministischen Kräften.

Die rechten Strömungen begnügen sich freilich längst nicht damit, reaktionäres Gedankengut zu verbreiten und ebensolche Forderungen zu stellen. Sie verklären und verharmlosen nicht nur die Ursachen von Femiziden. Sie begünstigen diese aktiv, indem sie ein entsprechendes politisch-ideologisches Klima schaffen. Indem sie das patriarchale Familienoberhaupt, dessen reaktionäre, unterdrückerische Rolle durch den Kapitalismus selbst unterminiert wird, zu einem „Opfer“ stilisieren, proklamieren sie zugleich deren Wiederherstellung als zentrales Ziel. Damit nehmen sie nicht nur in Kauf, dass manche Männer dies als zusätzliche Rechtfertigung ansehen, die Wiederherstellung der „Ordnung“ in die eigene Hand zu nehmen. Sie agieren auch als Bewegung, die sich den Rollback von Frauenrechten auf ihre Fahnen schreibt und aggressiv durchzusetzen versucht. Darüber hinaus begünstigen etliche dieser Bewegungen direkt bestimmte Formen von Femiziden, die außerhalb der Sphäre von Partnerschaft, Familie und Verwandtschaftsbeziehungen stattfinden.

Feminizide im Herrschafts- und Kapitalinteresse

Bisher haben wir uns mit partnerschaftlichen, intimen und verwandtschaftlichen Femiziden beschäftigt. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Der Täter will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Diese Form der Frauenmorde bildet aber nur einen großen Teil aller Femizide/Feminizide. Einen zweiten, großen Bereich stellen solche dar, die zur Durchsetzung eines Ausbeutungs- und/oder Herrschaftsinteresses außerhalb der Familie, Parter:innenschaft oder Verwandtschaftsbeziehung begangen werden.

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen an andere zu senden. Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher:innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter, wenn schon nicht persönlich, so doch als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder der Mord an Frauen soll in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird, dies auch allen anderen droht. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute immer wieder in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese – in einigen Ländern Afrikas mit Zutun von evangelikalen Sektenführern – der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über, die dieses anderweitig nutzen wollen, für eine Produktion, die weniger auf Selbstversorgung, sondern einen städtischen oder globalen Markt ausgerichtet ist. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird. Er wird in der Regel öffentlich vollzogen.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen sucht oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter:innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgt.

Wie beim Mord durch die Bande ist der Feminizid hier eng mit der Etablierung der gewalttätig oder auch ideologisch abgesicherten Vorherrschaft der Täter über eine bestimmte Gemeinschaft verbunden.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Anderer Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen, z. B. an Muslima in Indien durch rechte und protofaschistische Hindufundamentalisten. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner:innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetztes Mittel im Krieg und Bürger:innenkrieg dar.

Die Verknüpfung von Feminiziden mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Die Veröffentlichung von Berichten und Zahlen ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungene/n öffentliche/n Untersuchungen. Das 2021 erschienene Buch „Feminizide and global accumulation“ dokumentiert exemplarisch wichtige Beispiele und Kämpfe, die auf einer internationalen feministischen Konferenz dargestellt und diskutiert wurden. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid im Interesse von Kapital und reaktionären Kräften politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide, ihr Ausmaß und ihre Ursachen dürfen nicht nur nicht relativiert oder weggeredet werden, sie müssen vielmehr in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter:innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter:innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, also Bau und Errichtung von Frauenhäusern, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit letzteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter:innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung um diese Kämpfe aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen (Ausbeutung bestimmter Arbeitskräfte, gewaltsame Aneignung von Ressourcen wie Grund und Boden) steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter:innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte des Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.